Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung: Rechtsprechungskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken [1. Aufl.] 9783662614419, 9783662614426

Dieses Buch analysiert grundlegend die Rechtsprechung nationaler und supranationaler Verfassungsgerichte in Mehrebenenor

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German Pages XXVII, 646 [663] Year 2020

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Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung: Rechtsprechungskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken [1. Aufl.]
 9783662614419, 9783662614426

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXVII
Kapitel 1: Einleitung (Andrej Lang)....Pages 1-16
Front Matter ....Pages 17-18
Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung (Andrej Lang)....Pages 19-63
Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur (Andrej Lang)....Pages 65-121
Kapitel 4: Eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen den Rechtsordnungen (Andrej Lang)....Pages 123-150
Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte Weltordnung (Andrej Lang)....Pages 151-165
Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk (Andrej Lang)....Pages 167-191
Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung (Andrej Lang)....Pages 193-204
Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte Weltordnung (Andrej Lang)....Pages 205-227
Front Matter ....Pages 229-233
Kapitel 9: Inkorporationsfunktion (Andrej Lang)....Pages 235-246
Kapitel 10: Kontrollfunktion (Andrej Lang)....Pages 247-258
Kapitel 11: Übertragungsfunktion (Andrej Lang)....Pages 259-267
Front Matter ....Pages 269-272
Kapitel 12: Inkorporation inter- und supranationaler Normen (Andrej Lang)....Pages 273-293
Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile (Andrej Lang)....Pages 295-328
Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand (Andrej Lang)....Pages 329-367
Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand (Andrej Lang)....Pages 369-396
Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit in Kadi um den „richtigen“ Kontrollmaßstab (Andrej Lang)....Pages 397-407
Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der Verfassung, zu Verfassungsprinzipien, zur „Verfassungsidentität“ (Andrej Lang)....Pages 409-426
Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen (Andrej Lang)....Pages 427-522
Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen (Andrej Lang)....Pages 523-545
Kapitel 20: Schlussfolgerung (Andrej Lang)....Pages 547-570
Back Matter ....Pages 571-648

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Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293

Andrej Lang

Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

12 3

Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Begründet von Viktor Bruns

Herausgegeben von Armin von Bogdandy • Anne Peters

Band 293

Andrej Lang

Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung Rechtsprechungskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken Constitutional Adjudication in the Networked World Order – Structures of Judicial Lawmaking in Inter-Order Judicial Networks (English Summary)

ISSN 0172-4770     ISSN 2197-7135  (electronic) Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht ISBN 978-3-662-61441-9    ISBN 978-3-662-61442-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-­ Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Für Katharina

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung ist bis Ende 2019 eingearbeitet. Ich danke Prof. Dr. Dr. h.c. Philip Kunig herzlich für die Betreuung der Arbeit. Ebenso herzlich danke ich Prof. Dr. Christian Calliess für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Armin von Bogdandy und Prof. Dr. Anne Peters für die Aufnahme zur Publikation in die „Schwarze Reihe“ des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Zudem danke ich herzlich der European Law Faculties Association (ELFA), die mir für meine Dissertation den ELFA Proxime Accessit Award 2019 verliehen hat. Die Arbeit hat eine lange Geschichte, die mit einer tiefen Faszination mit und wissenschaftlicher Neugierde an der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie dem Verhältnis zwischen dem nationalen und dem übernationalen Recht begann. Das Nachdenken und Schreiben über dieses Thema wurden durch mein Master-­Studium an der New York University School of Law, Forschungsaufenthalte an der Yale Law School und an der Harvard Law School sowie meine Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin geprägt und bereichert. Meine Gespräche über die Arbeit mit Aharon Barak, Gráinne de Búrca, Dieter Grimm, David Kennedy, Benedict Kingsbury, Mattias Kumm, Frank Michelman, Christoph Möllers, Alec Stone Sweet und Joseph Weiler waren eine Quelle der Inspiration, für die ich sehr dankbar bin. Die Fertigstellung der Arbeit wurde ermöglicht durch die freundschaftliche und herzliche Unterstützung von ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, Freunden und Familie, die mich ermutigt, mir wertvollen Rat gegeben und die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens auf sich genommen haben. Dafür gilt mein tief empfundener Dank Nicolaj Armgardt, Hannes Bethge, Ferry Bühring, Karl-Heinz Fleischhacker, Andrea und Luise Hermann, Kristian Hinrichs, meinem Vater Uwe Lang, Sabine Müller-Mall, Alexander Tischbirek, Simon Velten, Tim Wihl, Thomas Wischmeyer und Daniel Wolf. Herzlich danken möchte ich auch Markus Berger, Julian Leonhard, Franka Nodewald und Robin Westphal für die sorgfältige Unterstützung bei der Korrektur der Druckfahnen. VII

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Vorwort

Von Herzen danke ich meiner Familie für die liebevolle und unbedingte Förderung und den Rückhalt, die ich während meines gesamten Lebens und auch im Zuge des Schreibens dieser Arbeit erfahren durfte, meinen Großeltern Käthe und Günther Lang sowie Costel und Hedwig Martis, von denen nur letztere die Fertigstellung der Arbeit erleben konnte, meinen Eltern und meiner Schwester, die immer für mich da waren, und meiner geliebten Tochter Sophia, die mir in der langen Zeit, nachdem die erste Fassung bereits geschrieben war, Mut, Zuversicht und Freude gegeben hat. Die Arbeit ist meiner Frau, Katharina Hermann, gewidmet – der Liebe meines Lebens. Sie hat das Abenteuer Doktorarbeit von Anfang bis Ende begleitet, mein Vertrauen in meine Fähigkeiten gestärkt, mir auch in schwierigen Zeiten Rückhalt gegeben und mich geistig durch schlaue Ratschläge und hingebungsvolles Redigieren unterstützt. Berlin, Deutschland Dezember 2019

Andrej Lang

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Einleitung������������������������������������������������������������������������������������������   1 A. Problemstellung����������������������������������������������������������������������������������������   1 B. Begriffsklärung������������������������������������������������������������������������������������������   5 I. Das Verständnis von „Verfassungsgerichtsbarkeit“ ��������������������������   5 1. Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution������������������������������������   6 2. Verfassungsgerichtsbarkeit als allgemeine Analysekategorie������  10 II. Das Verständnis von der „vernetzten Weltordnung“��������������������������  12 C. Gang der Untersuchung����������������������������������������������������������������������������  15 Teil I  Grundlegung einer Konzeption der vernetzten Weltordnung Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung ��������  19 A. Der Prozess der Globalisierung����������������������������������������������������������������  20 B. Die Transformation des Nationalstaats ����������������������������������������������������  23 C. Die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation ����������������  25 I. Die Ausbreitung institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ����������������������  27 II. Der verselbstständigte Wille inter- und supranationaler Institutionen��������������������������������������������������������������������������������������  29 D. Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen����������������������������������������������������������������������������������������������  32 I. Der Prozess der Verrechtlichung ������������������������������������������������������  33 II. Die Proliferation inter- und supranationaler Gerichte als Triebfeder der Verrechtlichung����������������������������������������������������������  35 E. Die Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnungen��������������������������������������������������������������������������������������  42 F. Die Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts ��������������������  48

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Inhaltsverzeichnis

G. Die konstitutionellen Defizite im inter- und supranationalen Recht ��������  52 I. Defizite der demokratischen Legitimation����������������������������������������  53 II. Defizite im Grundrechtsschutz����������������������������������������������������������  55 H. Europäisierung und Internationalisierung nationaler Rechtsordnungen��������������������������������������������������������������������������������������  58 I. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������  62

Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur ������������������������������������������������  65 A. Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatz ������������������������������  66 I. Rekonstruktion der Hauptaussagen ��������������������������������������������������  68 II. Kritische Betrachtung������������������������������������������������������������������������  71 B. Mehrebenen-Ansatz����������������������������������������������������������������������������������  74 I. Überwindung des Föderalismus-­IntergouvernementalismusGegensatzes ��������������������������������������������������������������������������������������  76 II. Der politikwissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz����������������������������  76 III. Der rechtswissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz ����������������������������  78 1. Rekonstruktion der Hauptaussagen����������������������������������������������  78 a. Ebenenbegriff��������������������������������������������������������������������������  79 b. Verhältnis der Ebenen zueinander��������������������������������������������  80 2. Kritische Betrachtung ������������������������������������������������������������������  80 a. Die konzeptionelle Geschlossenheit des Ebenenbegriffs��������  81 b. Die begrenzte konzeptionelle Leistungsfähigkeit des Mehrebenen-­Ansatzes��������������������������������������������������������������  83 C. Verfassungspluralismus����������������������������������������������������������������������������  84 I. Rekonstruktion der Hauptaussagen der einzelnen Konzeptionen������  85 1. Die Konzeption Neil MacCormicks����������������������������������������������  87 2. Kumms Universeller Best Fit-­Konstitutionalismus����������������������  88 3. Walkers Epistemischer Meta-­Konstitutionalismus ����������������������  91 4. Maduros harmonisch-diskursiver Konstitutionalismus����������������  97 II. Kritische Betrachtung������������������������������������������������������������������������  99 D. Netzwerktheorie���������������������������������������������������������������������������������������� 101 I. Die sozialwissenschaftliche Netzwerktheorie ���������������������������������� 102 1. Rekonstruktion der Hauptaussagen���������������������������������������������� 102 2. Kritische Betrachtung ������������������������������������������������������������������ 106 II. Der Netzwerkansatz Anne-Marie Slaughters������������������������������������ 108 1. Rekonstruktion der Hauptaussagen���������������������������������������������� 108 2. Kritische Betrachtung ������������������������������������������������������������������ 111 III. Der systemtheoretische Netzwerkansatz ������������������������������������������ 112 1. Rekonstruktion der ­Hauptaussagen���������������������������������������������� 112 a. Die privatrechtliche Netzwerkkonzeption �������������������������������� 113 b. Fischer-Lescanos und Teubners Konzeption des globalen Rechts������������������������������������������������������������������������ 115 2. Kritische Betrachtung ������������������������������������������������������������������ 117 E. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 119

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Kapitel 4: Eine pluralistisch-­heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen den Rechtsordnungen������������������������������ 123 A. Die normative Dimension ������������������������������������������������������������������������ 125 I. Das normative Argument für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation�������������������������������������������������������������� 126 1. Kompensation der begrenzten Regelungskapazität des Nationalstaats�������������������������������������������������������������������������������� 127 2. Kompensation der konstitutionellen Defizite des Nationalstaats�������������������������������������������������������������������������������� 128 II. Das normative Argument für eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion�������������������������������������������������������������������������������������� 133 B. Die rechtstheoretische Dimension������������������������������������������������������������ 139 I. Monismus, Dualismus oder Pluralismus und die Frage nach der Anzahl der Rechtsordnungen������������������������������������������������������ 139 II. Kriterien für Rechtsordnungsqualität und -identität�������������������������� 142 III. Zurückweisung eines modifizierten Monismus und Dualismus�������� 144 IV. Herleitung einer pluralistisch-heterarchischen Konzeption�������������� 147 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 149 Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte Weltordnung�������������������������������������������������������������� 151 A. Von der „Hohen Politik“ zur „Weltinnenpolitik“: Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Akteur in der vernetzten Weltordnung���������������������������������������������������������������������������� 152 B. Der Konstitutionalismus als normative Richtschnur�������������������������������� 156 C. Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Akteur in der vernetzten Weltordnung���������������������������������������������������������������������������������������������� 160 D. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 165 Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk�������������������������������������������������������������������������������������� 167 A. Die Begründung von rechtsordnungsübergreifenden Richterbeziehungen���������������������������������������������������������������������������������� 169 I. Formen der Kommunikation in Richternetzwerken�������������������������� 170 II. Gründe für rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion���������� 173 B. Heterarchie und Informalität im Richternetzwerk������������������������������������ 177 C. Iterative Kooperationsprozesse in Richternetzwerken������������������������������ 181 D. Die Verständigungslogik in Richternetzwerken���������������������������������������� 183 E. Das netzwerkinterne institutionelle Arrangement im Richternetzwerk���������������������������������������������������������������������������������������� 187 F. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 190

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Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung������������������������������������������������������������������������������������ 193 A. Network Power: Die sozialen Mechanismen der dezentralen Anerkennung globaler Standards�������������������������������������������������������������� 195 B. Gerichtliche Normbildungsprozesse in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen ������������������������������������������������������������������������������������ 197 C. Das Ringen um rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen���������� 200 D. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 204 Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte Weltordnung�������������������������������������������������������������� 205 A. Das Bedürfnis nach rechtsordnungsübergreifenden Normen: Die Grenzen von Netzwerkansätzen und streng pluralistischen Konzeptionen�������������������������������������������������������������������������������������������� 206 B. Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Normen in verfassungspluralistischen Konzeptionen ������������������������������������������������ 208 I. Walkers Ansatz���������������������������������������������������������������������������������� 208 II. Kumms Ansatz ���������������������������������������������������������������������������������� 209 III. Maduros Ansatz �������������������������������������������������������������������������������� 214 C. Eigener Ansatz: Prozedurale Meta-Prinzipien und die Entwicklung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen���������������������������������� 217 I. Die prozeduralen Meta-Prinzipien der holistischen und der institutionellen Reflexion������������������������������������������������������������������ 218 II. Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen�������������������������� 219 1. Sunsteins Konzeption von Hintergrundnormen���������������������������� 220 2. Was sind rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen?������ 222 3. Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen und rechtsordnungseigene Rechtstraditionen�������������������������������������� 224 D. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 226 Teil II Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung Kapitel 9: Inkorporationsfunktion ������������������������������������������������������������������ 235 A. Nationale Verfassungsgerichte������������������������������������������������������������������ 236 I. Das Erfordernis der Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts������������������������������������������������������������������������������������������������ 237 1. Die Bedeutung der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation aus nationaler Perspektive ������������ 237 2. Die Bedeutung der Inkorporation durch nationale Stellen aus der Perspektive inter- und supranationaler Organisationen���������� 238 II. Die Rolle nationaler Verfassungsgerichte bei der Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts ���������������������������������������������� 240 1. Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen verfassungsrechtlichen Integrationsklauseln und politischen Gewalten�������������������������������������������������������������� 240

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2. Die institutionelle Eignung der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Wahrnehmung der Inkorporationsfunktion und ihre Grenzen���������������������������������������������������������������������������������������� 242 B. Inter- und supranationale Gerichte������������������������������������������������������������ 245 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 246

Kapitel 10: Kontrollfunktion���������������������������������������������������������������������������� 247 A. Nationale Verfassungsgerichte ������������������������������������������������������������������ 248 I. Das strukturelle Dilemma aus den konstitutionellen Defiziten des inter- und supranationalen Rechts und der fortschreitenden Europäisierung und Internationalisierung ���������������������������������������� 249 II. Gewaltenspezifische Unterschiede aus einer Weltinnenperspektive������������������������������������������������������������������������ 251 III. Die Dammbruch-Rhetorik föderalistischer Vertreter������������������������ 253 B. Inter- und supranationale Gerichte ������������������������������������������������������������ 256 C. Zusammenfassung�������������������������������������������������������������������������������������� 257 Kapitel 11: Übertragungsfunktion ������������������������������������������������������������������ 259 A. Nationale Verfassungsgerichte������������������������������������������������������������������ 260 I. Der Zusammenhang zwischen Übertragungs- und Kontrollfunktion�������������������������������������������������������������������������������� 260 II. Übertragungsmechanismen �������������������������������������������������������������� 262 III. Die Übertragungsfunktion und der Fragmentierungsprozess������������ 263 B. Inter- und supranationale Gerichte������������������������������������������������������������ 264 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 266 Teil III Die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen Kapitel 12: Inkorporation inter- und supranationaler Normen�������������������� 273 A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen �������������� 274 I. Die Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts durch nationale Verfassungsgerichte in der EU ������������������������������������������ 275 II. Der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung und die Beschränkung der lex posterior-Regelung���������������������������������� 281 B. Analyse: Differenzierende Vorrangvermutung zugunsten des inter- und supranationalen Rechts ������������������������������������������������������������ 286 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������ 292 Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile. . . . . 295 A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen��������������  296 I. Inkorporation der Urteile des EGMR����������������������������������������������  298 1. Überblick über die Inkorporationspraxis nationaler Verfassungsgerichte in Europa����������������������������������������������������� 299 2. Die Inkorporation durch das Bundesverfassungsgericht�������������� 301 a. Der Görgülü-Beschluss vom 14.10.2004��������������������������������  301

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b. Das Sicherungsverwahrungs-Urteil vom 04.05.2011 ������������  304 c. Das Beamtenstreik-Urteil vom 12.06.2018 ����������������������������  306 II. Inkorporation der Entscheidungen des IGH������������������������������������  308 1. Die Urteile des U.S. Supreme Court in Sanchez-Llamas vom 28.06.2006 und in Medellín vom 25.03.2008 ������������������������������ 309 2. Der IGH-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.09.2006���������������������������������������������������������������������������� 311 3. Das Urteil der italienischen Corte Costituzionale vom 22.10.2014 zur Staatenimmunität ������������������������������������������������ 312 4. Das Alfei Menashe-Urteil des Supreme Court of Israel vom 15.09.2005������������������������������������������������������������������������������������ 316 5. Die Entscheidung des ICTY in Tadic vom 15.07.1999���������������� 318 III. Zwischenfazit����������������������������������������������������������������������������������  320 B. Analyse: Differenzierende Präjudizvermutung zugunsten rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Gerichtsurteile��������  322 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������  327

Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen��������������  331 I. Die Herausbildung der Kontrolle des Vertragsrechts zur rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm����������������������������  332 1. Kontrolle der europäischen Verträge durch nationale Verfassungsgerichte���������������������������������������������������������������������� 333 2. Kontrolle völkerrechtlicher Gründungs- und Beitrittsverträge durch den EuGH �������������������������������������������������������������������������� 338 3. Fälle der Vertragskontrolle außerhalb Europas���������������������������� 341 II. Mechanismen der Vertragskontrolle������������������������������������������������  343 1. Die Mechanismen der Europa-Urteile nationaler Verfassungsgerichte���������������������������������������������������������������������� 343 a. Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ohne Feststellung der Verfassungswidrigkeit������������������������������������������������������������  343 b. Die Zielrichtung des Vertragsurteils: Abstecken der Grundlagen des Verhältnisses zwischen dem rechtsordnungseigenen und dem rechtsordnungsfremden Recht����������  348 2. Die Mechanismen der Vertragskontrolle des EuGH�������������������� 353 B. Analyse: Das Vertragsurteil als Medium für das Einspeisen rechtsordnungseigener Belange in rechtsordnungsfremde Entscheidungsprozesse����������������������������������������������������������������������������  355 I. Die funktionalen Grenzen der Vertragskontrolle ����������������������������  356 II. Die Vertragskontrolle durch den EuGH als Sonderkonstellation����  359 III. Entgrenzte Verfassungsgerichte? ����������������������������������������������������  362 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������  366 Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand. . . . . . . . . . . . . . . 369 A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen��������������  369 I. Die Herausbildung der Kontrolle des abgeleiteten Rechts zur rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm����������������������������  370

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1. Kontrolle des unionsrechtlichen Sekundärrechts durch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte�������������������������������������� 371 2. Kontrolle der gezielten Sanktionen des UN-­Sicherheitsrats�������� 374 a. Hintergrund: Das „kafkaeske“ Sanktionsregime des UN-­ Sicherheitsrats������������������������������������������������������������������������  374 b. Die Reaktionen des EuG, des EuGH und nationaler Gerichte����������������������������������������������������������������������������������  376 3. Kontrolle inter- und supranationaler Organisationen durch den EGMR������������������������������������������������������������������������������������ 379 a. Kontrolle der EU ��������������������������������������������������������������������  379 b. Bereichsausnahme für Militäreinsätze unter dem Dach einer internationalen Organisation? ��������������������������������������  381 4. Zwischenfazit�������������������������������������������������������������������������������� 383 II. Mechanismen der Kontrolle des abgeleiteten Rechts: Das ­engagement-­Modell und das Modell der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts������������������������������  384 1. Das engagement-­Modell �������������������������������������������������������������� 385 2. Das Modell der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts���������������������������������������������������� 387 B. Analyse: Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts als echter Kontrollmechanismus������������������������������������������������������������������������������  389 I. Keine Ausübung von öffentlicher Gewalt ohne gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten ������������������������������������������������������������  389 II. Das Modell der harmonisierenden Auslegung und das Problem des institutionellen Bias����������������������������������������������������  393 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������  395

Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit in Kadi um den „richtigen“ Kontrollmaßstab���������������������������������������������������������������������������� 397 A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen��������������  399 I. Rechtsordnungsfremdes ius cogens als Kontrollmaßstab����������������  399 1. Das Kadi-Urteil des EuG vom 21.09.2005 ���������������������������������� 399 2. Das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts in Nada v. SECO vom 14.11.2007���������������������������������������������������� 400 II. Das Kadi-Urteil des EuGH vom 03.09.2008: Rechtsordnungseigenes Recht als Kontrollmaßstab������������������������  401 B. Analyse: Die komparativen Vorzüge eines rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstabs������������������������������������������������������������������������������������  402 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������  406 Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der Verfassung, zu Verfassungsprinzipien, zur „Verfassungsidentität“������������������������������������������������������������������ 409 A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen��������������  410 I. Verfassungsrechtliche Strukturprinzipien����������������������������������������  410 II. Verfassungsidentität������������������������������������������������������������������������  414

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B. Analyse: Verfassungsidentität als angemessener Kontrollmaßstab im EU-Kontext ��������������������������������������������������������������������������������������������  419 C. Zusammenfassung������������������������������������������������������������������������������������  425 Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen. . . . . . . . . . . . 427 A. Der Solange-Grundsatz����������������������������������������������������������������������������  428 I. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen������������������������������������������������������  430 1. Die Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts���������������������������������������������������������� 430 2. Die Solange-Rechtsprechung anderer nationaler Verfassungsgerichte in der EU������������������������������������������������������ 435 a. Das Fragd-Urteil der Corte Costituzionale vom 21.04.1989�����������������������������������������������������������������������������  436 b. Die Arcelor-Entscheidung des Conseil d’État vom 08.02.2007�����������������������������������������������������������������������������  436 c. Die Supronowicz-Entscheidung des Trybunal Konstytucyjny vom 16.11.2011 ��������������������������������������������  438 3. Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ������������������������������������������������ 440 4. Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Kadi �������������������������������������������������������������������� 443 5. Zwischenfazit�������������������������������������������������������������������������������� 445 II. Analyse: Der Solange-Mechanismus als Baustein für die vernetzte Weltordnung��������������������������������������������������������������������  446 1. Die Idee von „Solange“: Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien nach der „Zuckerbrot und Peitsche“-Methode������������ 447 2. Der Solange-Mechanismus in der Praxis: Der Prozess der Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien���������������������������� 449 a. Die Auswirkungen des Solange-Mechanismus auf rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Institutionen ��������������������������������������������������������������������������  451 aa. Die Reaktion europäischer Institutionen auf den Solange I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts����  452 bb. Die Reaktion des UN-Sicherheitsrats auf die Kadi-Urteile des EuGH und des EuG����������������������������  459 b. Die Frage der verfassungsgerichtlichen Erwiderung auf Änderungen der inter- und supranationalen Entscheidungspraxis��������������������������������������������������������������  464 c. Zwischenfazit��������������������������������������������������������������������������  466 3. Die Ausgestaltung des Solange-Mechanismus ���������������������������� 467 III. Zusammenfassung ��������������������������������������������������������������������������  472 B. Die Ultra-vires-Kontrolle ������������������������������������������������������������������������  475 I. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen ����  476 1. Die Ultra-vires-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts���������������������������������������������������������� 476

Inhaltsverzeichnis









XVII

a. Die Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts im Maastricht-Urteil vom 12.10.1993����������������������������������������  476 b. Vom ausbrechenden Rechtsakt zur Ultra-vires-Kontrolle im Lissabon-­Urteil vom 30.06.2009 ������������������������������������������  479 c. Die Einhegung der Ultra-vires-Kontrolle im Honeywell-Beschluss vom 06.07.2010����������������������������������  480 d. Die Ultra-vires-Kontrolle der EZB ����������������������������������������  482 2. Die Ultra-vires-Rechtsprechung anderer nationaler Verfassungsgerichte in der EU������������������������������������������������������ 487 a. Das Cohn-Bendit-Urteil des französischen Conseil d’État vom 22.12.1978����������������������������������������������������������  488 b. Die Ultra-vires-Entscheidungen des dänischen Højesteret ����  489 aa. Das Urteil in der Rs. Carlsen v. Rasmussen vom 06.04.1998����������������������������������������������������������������������  489 bb. Die Ajos-Entscheidung vom 06.12.2016��������������������������  490 c. Das Holubec-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts vom 14.02.2012���������������������������������������������������������������������  492 3. Zwischenfazit�������������������������������������������������������������������������������� 495 II. Analyse: Die Grenzen der Ultra-vires-Kontrolle als Übertragungsmechanismus für die vernetzte Weltordnung������������  496 1. Die Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle�������������������������������� 496 2. Der rechtsordnungsfremde Kontrollmaßstab als Problem der Ultra-vires-Kontrolle�������������������������������������������������������������������� 499 a. Die Verwendung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs ������������������������������������������������������������������  499 b. Die Probleme der Ultra-vires-Kontrolle����������������������������������  500 III. Zusammenfassung ��������������������������������������������������������������������������  505 C. Identitätskontrolle������������������������������������������������������������������������������������  506 I. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen�����  506 1. Die Ausübung der Identitätskontrolle durch den Conseil constitutionnel������������������������������������������������������������������������������ 507 2. Die Ausübung der Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht������������������������������������������������������������ 508 3. Die Ausübung der Identitätskontrolle durch die Corte Costituzionale in der Taricco-Sage���������������������������������������������� 513 II. Analyse: Möglichkeiten und Grenzen der Identitätskontrolle��������  516 1. Identitätskontrolle vs. Solange-Grundsatz������������������������������������ 517 a. Die Ablösung des Solange-Grundsatzes durch die Identitätskontrolle������������������������������������������������������������������  517 b. Die Flexibilitäts- und Differenzierungsvorzüge des Solange-­Mechanismus ����������������������������������������������������������  519 2. Identitätskontrolle vs. Ultra-vires-Kontrolle�������������������������������� 521 III. Zusammenfassung ��������������������������������������������������������������������������  522

XVIII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen: Der Wandel in der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte im EU-Kontext����������������������������������������������������������������������������������������  525 B. Analyse: Das Vorlageverfahren als adäquater Dialogmechanismus für die vernetzte Weltordnung����������������������������������������������������������������������������  535 I. Das normative Argument für die Nutzung des Vorlageverfahrens aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte����������������  535 II. Gründe für die Nichtvorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte 539 III. Eine pluralistisch-heterarchische Konzeption des Vorlageverfahrens������������������������������������������������������������������������������ 541 C. Zusammenfassung�������������������������������������������������������������������������������������� 543 Kapitel 20: Schlussfolgerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 A. Zusammenfassung in Thesen �������������������������������������������������������������������� 547 B. Schlussbetrachtung ������������������������������������������������������������������������������������ 567 English Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Entscheidungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609

Abkürzungsverzeichnis

a.A. anderer Ansicht a.F. alte Fassung Abs. Absatz abw. Meinung abweichende Meinung ACHPR African Charter on Human and Peoples’ Rights/Afrikanische Charta der Menschenrechte und die Rechte der Völker AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AfrGMR Afrikanischer Gerichtshof für Menschenrechte Afr. J. Int’l & Comp. L. African Journal of International & Comparative Law AJIL American Journal of International Law AJS American Journal of Sociology Am. Anth. American Anthropologist Am. J. Comp. L. American Journal of Comparative Law Am. Pol. Sci. Rev. American Political Science Review AMR Academy of Management Review AMRK Amerikanische Menschenrechtskonvention AMU Arab Maghreb Union/Maghreb-Union AöR Archiv des öffentlichen Rechts APEC Asia Pacific Economic Cooperation/ Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Art. Artikel

XIX

XX

ASEAN

Abkürzungsverzeichnis

Association of Southeast Asian Nations/ Verband Südostasiatischer Nationen AU African Union/Afrikanischen Union Austr. Yb. Int’l L. Australian Year Book of International Law AVR Archiv des Völkerrechts Bd. Band BDGVR Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Beschl. Beschluss Bl. Dt. & Internat. Pol. Blätter für deutsche und internationale Politik BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bzw. beziehungsweise CACJ Central American Court of Justice/ Zentralamerikanischer Gerichtshof Cal. L. Rev. California Law Review CYELS Cambridge Yearbook of European Legal Studies CAN Comunidad Andina de Nacionas/Andean Community/Andengemeinschaft Cardozo L. Rev. Cardozo Law Review CARICOM Caribbean Community and Common Market/Karibische Gemeinschaft Cath. U. L. Rev. Catholic University Law Review CC Conseil constitutionnel CCJ Caribbean Court of Justice/Karibischer Gerichtshof CCJA Common Court of Justice and Arbitration for the OHADA CEMAC Economic and Monetary Community of Central Africa/Zentralafrikanische Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft CETA Comprehensive Economic and Trade Agreement/Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada CIS Commonwealth of Independent States/ Gemeinschaft unabhängiger Staaten CJEL Columbia Journal of European Law CML Rev. Common Market Law Review Colum. J. Transnat’l L. Columbia Journal of Transnational Law Colum. L. Rev. Columbia Law Review COMESA Common Market for East African States

Abkürzungsverzeichnis

Comp. Polit. Stud. Conn. J. Int’l L. Cornell L. Rev. Cost.

XXI

Comparative Political Studies Connecticut Journal of International Law Cornell Law Review Costituzione della Repubblica Italiana/ Verfassung Italiens ders. derselbe dies. dieselbe/dieselben DÖV die öffentliche Verwaltung dt. Übers. deutsche Übersetzung Duke L. J. Duke Law Journal DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EAC East African Community/Ostafrikanische Gemeinschaft Ebd. Ebenda ECOWAS Economic Community of West African States/Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft E. Eur. Const. Rev. East European Constitutional Review EFTA European Free Trade Area Court/ Europäische Freihandelsassoziation EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EJIL European Journal of International Law EJIR European Journal of International Relations EJLS European Journal of Legal Studies ELJ European Law Journal E.L.Rev. European Law Review EMRK Europäische Menschenrechtskonvention engl. Übers. englische Übersetzung Entsch. Entscheidung Erkl. Erklärung EuConst European Constitutional Law Review EuG Gericht der Europäischen Union EuGH Europäischer Gerichtshof EuGöD Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union EuGVVO Verordnung Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen EuR Europarecht

XXII

EURATOM Eur. Pub. L. EUV EuZW EWG EZB FAO

Abkürzungsverzeichnis

Europäische Atomgemeinschaft European Public Law Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäische Zentralbank Food and Agriculture Organization of the United Nations/Welternährungsorganisation FLR Federal Law Review Fordham Int’l L. J. Fordham International Law Journal FS Festschrift GATT General Agreement on Tariffs and Trade/ Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen GedS Gedenkschrift gem. gemäß Glob. Con. Global Constitutionalism GG Grundgesetz GLJ German Law Journal GRC Charta der Grundrechte der Europäischen Union GYBIL German Yearbook of International Law Harv. Hum. Rts. J. Harvard Human Rights Law Journal Harv. Int’l L. J. Harvard International Law Journal Harv. J.L. & Pub. Pol’y Harvard Journal of Law & Public Policy Harv. L. Rev. Harvard Law Review Hastings L. J. Hastings Law Journal Herv. Verf. Hervorhebung des Verfassers Hum. Rts. & Int’l L. Discourse Human Rights & International Legal Discourse Hum. Rts. L. J. Human Rights Law Journal Hum. Rts. L. Rev. Human Rights Law Review IAGMR Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte ICANN Internet Corporation for Assigned Names and Numbers ICAO International Civil Aviation Organization/ Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICL-Journal Vienna Online Journal on International Constitutional Law I.C.L.Q. International and Comparative Law Quarterly ICLR International Community Law Review ICON International Journal of Constitutional Law

Abkürzungsverzeichnis

ICSID Review

XXIII

ICSID Review: Foreign Investment Law Journal ICTR International Criminal Tribunal for Rwanda/ Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda ICTY International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia/Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien IGH Internationaler Gerichtshof ILO International Labour Organization/ Internationale Arbeitsorganisation IMF International Monetary Fund/Internationaler Währungsfond Ind. J. Global Legal Stud. Indiana Journal of Global Legal Studies insb. insbesondere Int’l L. Theory International Legal Theory Int. Stud. Q. International Studies Quarterly IO International Organization IOLR International Organizations Law Review IPbpR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte i.S. im Sinne ISGH Internationale Seegerichtshof ISO International Organization for Standardization/Internationale Organisation für Normung IStGH Internationaler Strafgerichtshof i.V.m. in Verbindung mit JCMS Journal of Common Market Studies J. Confl. Resolut. Journal of Conflict Resolution J. East Asian Stud. Journal of East Asian Studies J. Eur. Integrat. Journal of European Integration J. Hum. Rts. Journal of Human Rights JICJ Journal of International Criminal Justice JIP Journal of International Peacekeeping JITE Journal of Institutional and Theoretical Economics J. Law & Soc. Journal of Law and Society JMS Journal of Management Studies JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts JOPP Journal of Political Philosophy JURA Juristische Ausbildung JWT Journal of World Trade

XXIV

Abkürzungsverzeichnis

JZ Juristenzeitung King’s L. J. King’s Law Journal KrVJSchr Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie LAP Latin American Policy Law & Contemp. Probs. Law and Contemporary Problems Law & Prac. Int’l Cts. & Tribunals Law & Practice of International Courts and Tribunals Lfg. Lieferung LJIL Leiden Journal of International Law Loy. L.A. Int’l & Comp. L. Rev. Loyola of Los Angeles International and Comparative Law Review Loy. L.A. L. Rev. Loyola of Los Angeles Law Review L. & Phil. Law and Philosophy Maastricht J. Eur. & Comp. L. Maastricht Journal of European and Comparative law Max Planck UNYB Max Planck Yearbook of United Nations Law MERCOSUR Mercado Común del Sur Mich. J. Int’l L. Michigan Journal of International Law Mich. L. Rev. Michigan Law Review Minn. L. Rev. Minnesota Law Review MJIL Melbourne Journal of International Law Mod. L. Rev. Modern Law Review Nachdr. Nachdruck NAFTA North American Free Trade Agreement/ Nordamerikanisches Freihandelsübereinkommen Nat’l Int. The National Interest NATO North Atlantic Treaty Organization/ Organisation des Nordatlantikvertrags n.F. neue Folge NJ Neue Justiz NJIL Nordic Journal of International Law NJW Neue Juristische Wochenschrift NVwZ Neue Zeitschrift fürVerwaltungsrecht NW Univ. L. Rev. Northwestern University Law Review N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. New York University Journal of International Law and Politics N.Y.U. L. Rev. New York University Law Review OAPEC Organization of Arab Petroleum Exporting Countries

Abkürzungsverzeichnis

OAS

XXV

Organization of American States/ Organisation Amerikanischer Staaten OAU Organization of African Unity/Organisation für Afrikanische Einheit OECD Organization for Economic Cooperation and Development OHADA Organisation pour l’Harmonisation en Afrique du Droit des Affaires/Organisation zur Harmonisierung des Wirtschaftsrechts in Afrika Ohio N.U. L. Rev. Ohio Northern University Law Review OMT Outright Monetary Transaction Organ. Dyn. Organizational Dynamics OSZE Organisation für Sicherheit und Zusamenarbeit in Europa Oxford J. Legal Stud. Oxford Journal of Legal Studies Pace Y.B. Int’l L. Pace Yearbook of International Law Philos. Public Aff. Philosophy & Public Affairs P.L. Public Law Polit. Stud. Political Studies Proc. Am. Phil. Soc. Proceedings of the American Philosophical Society PVS Politische Vierteljahresschrift RabelsZ Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RCEEL Review of Central and East European Law RdC Recueil des Cours Res. Organ. Beh. Research in Organizational Behavior RFDA Revue française de droit administratif RFDC Revue française de droit constitutionnel RMC Revue du marché commun et de l’Union Européenne Rn. Randnummer Rs. Rechtssache RTDH Revue trimestrielle des droits de l’homme RuP Recht und Politik RW Rechtswissenschaft – Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung S. Satz oder Seiten SADC Southern Africa Development Community/ Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft Scand. Pol. Stud. Scandinavian Political Studies SCSL Special Court for Sierra Leone/ Sondergerichtshof für Sierra Leone

XXVI

Abkürzungsverzeichnis

sog. sogenannt SMJ Strategic Management Journal Stan. L. Rev. Stanford Law Review STL Special Tribunal for Lebanon/Sondertribunal für den Libanon Sydney L. Rev. Sydney Law Review Tex. L. Rev. Texas Law Review Tex. Rev. L. & Pol. Texas Review of Law & Politics Theoretical Inq. L. Theoretical Inquiries in Law TzBfG Teilzeit- und Befristungsgesetz u. a. unter anderem/und andere UEMOA Union économique et monétaire ouest africaine/West African Economic and Monetary Union/Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft UMAP Journal Undergraduate Mathematics and Its Applications Journal UN United Nations/Vereinte Nationen UNEP United Nations Environment Programme/ Umweltprogramm der Vereinten Nationen U. Pa. L. Rev. University of Pennsylvania Law Review Urt. Urteil v. vom Va. J. Int’l L. Virginia Journal of International Law Va. L. Rev. Virginia Law Review VerfBlog Verfassungsblog VerfEU Verfassung der Europäischen Union VerwArch Verwaltungsarchiv Vgl. Vergleiche VRÜ Verfassung und Recht in Übersee VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wash. & Lee L. Rev. Washington and Lee Law Review Wash. U. L. Rev. Washington University Law Review WEP West European Politics WHO World Health Organization/ Weltgesundheitsorganisation WTO World Trade Organization/ Welthandelsorganisation WÜK Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen WVRK Wiener Vertragsrechtskonvention Yale J. Int’l L. Yale Journal of International Law. Yale L. J. Yale Law Journal YB Eur. L. Yearbook of European Law

Abkürzungsverzeichnis

YPES ZaöRV

Yearbook of Polish European Studies Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht z. B. zum Beispiel ZfV Zeitschrift für Verwaltung ZG Zeitschrift für Gesetzgebung Ziff. Ziffer ZÖR Zeitschrift für Öffentliches Recht

XXVII

Kapitel 1: Einleitung

A. Problemstellung Ende des 19. Jahrhunderts hat ein großer deutscher Jurist einen Traum: Er stirbt und seine Seele erscheint an der Pforte des „juristischen Begriffshimmels“.1 An diesem wundersamen Ort, dem „Reich der abstrakten Gedanken und Begriffe“,2 herrscht „nur die reine Wissenschaft, die Rechtslogik“.3 Hier kann er sich vollends auf die eigentümliche Aufgabe der Jurisprudenz besinnen, „die Reinheit der Begriffe zu wahren und alles Begriffswidrige fern zu halten“.4 Er kann sich in „die Regionen des idealen Denkens“ erheben, „unbekümmert um die reale Welt, die tief unter ihm liegt und seinen Blicken entrückt ist“.5 Rudolf von Jhering schildert uns einen Traum – und verübt damit gleichsam einen polemisch-pointierten Angriff auf die sogenannte „Begriffsjurisprudenz“.6

 Rudolf von Jhering, Im juristischen Begriffshimmel, in: Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1975 (1924), 247 ff. 2  Ebd., 250. 3  Ebd., 259. 4  Ebd., 298. 5  Ebd., 274. 6  Jhering führte den Begriff der „Begriffsjurisprudenz“ als Kampfbegriff gegen die „Historische Rechtslehre“ ein, die für ein formalistischeres Rechtsverständnis als Jhering eintrat. Allerdings hat die rechtsgeschichtliche Forschung mittlerweile aufgearbeitet, dass es sich bei der Charakterisierung der damals herrschenden Rechtswissenschaft als „Begriffsjurisprudenz“ vorwiegend um ein historisches Konstrukt handelt. Siehe etwa Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl., 2012, 268 ff. 1

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_1

1

2

Kapitel 1: Einleitung

Mit der Realität der Strukturen und Prozesse, die hier als vernetzte Weltordnung – und von anderen als „Mehrebenensystem“7 oder „postnationale Konstellation“8 – konzipiert werden, hat der Traum vom juristischen Begriffshimmel wenig gemein. Diese im Entstehen begriffene vernetzte Weltordnung ist komplizierter, chaotischer und vielschichtiger. Sie ist nicht zuletzt geprägt von einer tief greifenden Ambivalenz zwischen dem Erfordernis inter- und supranationaler Institutionen zur Überwindung der mangelnden Handlungsfähigkeit territorial begrenzter staatlicher Institutionen einerseits und dem Bedürfnis nach Bewahrung der demokratisch-­ rechtsstaatlichen Standards des Nationalstaats andererseits. Zum einen wird eine Vielzahl unterschiedlicher Institutionen eingesetzt, um für grenzüberschreitende Politikprobleme kollektive Regelungen jenseits des territorial organisierten Nationalstaats zu treffen. Zum anderen wird Legitimation nach wie vor überwiegend in den Strukturen und Prozessen des Nationalstaats generiert. Aus der Ambivalenz des Regierungsmodells der vernetzten Weltordnung resultiert daher eine verwirrende Vielfalt nationaler, internationaler und supranationaler Institutionen, die überlappende Entscheidungskompetenzen nach territorialen, funktionalen oder sektoralen Gesichtspunkten ausüben, ohne dass ihr Verhältnis zueinander durch eine zentrale legislative Instanz geregelt ist. In Europa ringen der Europäische Gerichtshof und nationale Verfassungsgerichte um Fragen der Letztentscheidungsbefugnis, ohne dass sich dieser Streit mit juristischer Methodik befriedigend lösen ließe. Hier herrschen – anders als im juristischen Begriffshimmel – weder reine Rechtslogik noch Begriffsreinheit noch Widerspruchsfreiheit, sondern es stehen sich rivalisierende Vorrangansprüche von Gerichten verschiedener Rechtsordnungen und konkurrierende gerichtliche Interpretationen derselben Rechtsnormen und -begriffe unaufgelöst gegenüber. Das wirft das folgende Puzzle auf: Wie kann die Koordination der Rechtsprechung verschiedener Verfassungsgerichte gelingen, wenn jedes Gericht das letzte Wort zugunsten seiner Rechtsordnung beansprucht? Wie lässt sich ein „guerre des juges“9 verhindern, wenn jedes Verfassungsgericht das Verhältnis seiner Rechtsordnung zum Verhältnis einer anderen Rechtsordnung auf Grundlage der Rang- und Öffnungsklauseln seiner eigenen Verfassung bestimmt, zumal sich diese Bestimmungen teilweise deutlich voneinander unterscheiden? Wenn wir die Rechtsprechung von Verfassungsgerichten aus einer rechtsvergleichenden Perspektive näher betrachten, dann lassen sich beachtliche Konvergenzen erkennen, die auf strukturelle Zusammenhänge hindeuten, die über einzelne Rechtsordnungen hinausreichen. Verfassungsgerichte reagieren auf vergleichbare Problemlagen, formulieren die gleichen Bedenken und verständigen sich auf gemeinsame Lösungsmechanismen, obwohl sie sich jeweils die Letztentscheidungsbefugnis vorbehalten und aus  Exemplarisch: Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008; Kristin Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2009. 8  Siehe Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation, 1998, 91 ff. 9  Zum Begriff: Monica Claes, The National Courts’ Mandate in the European Constitution, 2006, 452. 7

A. Problemstellung

3

der Perspektive und auf der Grundlage der Prinzipien und Wertungen ihrer eigenen Rechtsordnung entscheiden. Nehmen wir den Wandel in der Vorlagepraxis mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte in der EU als Beispiel: Während sich viele dieser Gerichte über Jahrzehnte hinweg beharrlich weigerten, dem EuGH auch nur eine Vorlagefrage zu übermitteln, legen die Verfassungsgerichte Lettlands, Italiens, Spaniens, Frankreichs, Deutschlands und Sloweniens dem EuGH nun plötzlich, innerhalb eines Zeitraums von sieben Jahren, von 2007 bis 2014, nach und nach jeweils erstmals eine Vorlagefrage vor.10 In ganz vergleichbarer Weise verwendet seit dem Vertrag von Lissabon eine Vielzahl mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte den Begriff der Verfassungsidentität, um dem Unionsrecht Grenzen zu ziehen, wobei sie sich gegenseitig zitieren und auf ihre Rechtsprechung Bezug nehmen.11 Verfassungsgerichte in Europa, aber auch in anderen Teilen der Welt, berücksichtigen die Entscheidungen rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Gerichte zu derselben Sachfrage, ohne dabei eine schematische Bindungswirkung anzunehmen.12 Sie nutzen die Kontrolle der Ratifizierung inter- und supranationaler Gründungsverträge als Medium, um rechtsordnungseigene konstitutionalistische Belange in die Entscheidungsprozesse rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Institutionen einzuspeisen.13 Sie verwenden den Solange-Grundsatz als Rechenschaftspflicht-Mechanismus, um Anreize für rechtsordnungsfremde Institutionen zu schaffen, rechtsordnungseigene Verfassungsprinzipien stärker zu berücksichtigen.14 Selbst von dem Mandat des UN-Sicherheitsrats zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit lassen sie sich nicht abschrecken, um konstitutionalistische Defizite im UN-­ Sanktionsregime zu monieren und die Inkorporation der gezielten Sanktionen von Reformen im Verfahren des Sanktionskomitees abhängig zu machen.15 Diese Beispiele deuten auf die Bedeutung der hinter dem positiven Recht und dem Kontext einer einzigen Rechtsordnung liegenden sozialen Prozesse und Strukturen hin, die die rechtsordnungsübergreifende Interaktion zwischen verschiedenen Gerichten maßgeblich beeinflussen.16 Sie fordern dazu auf, sich in systematischer, rechtsordnungsübergreifender Weise mit diesen tieferen Zusammenhängen auseinanderzusetzen.17

 Im Einzelnen zu diesem Rechtsprechungswandel unten Dritter Teil, Kap. 19, A.  Siehe Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (716 ff.); Mattias Wendel, Richterliche Rechtsvergleichung als Dialogform: Die Integrationsrechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in gemeineuropäischer Perspektive, Der Staat 52 (2013), 339 (365 ff.). Zu dieser Entwicklung eingehend unten Dritter Teil, Kap. 17, A., II. 12  Unten Dritter Teil, Kap. 13. 13  Unten Dritter Teil, Kap. 14. 14  Unten Dritter Teil, Kap. 18, A. 15  Unten Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2. und Kap. 18, A., I., 4. 16  Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (447 f.). 17  So schon Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (435). 10 11

4

Kapitel 1: Einleitung

Ziel dieser Arbeit ist es vor diesem Hintergrund, einen rechtsordnungsübergreifenden Analyserahmen zu entwickeln, in dem diese Rechtsprechung von Verfassungsgerichten im Kontext der vernetzten Weltordnung verstanden, eingeordnet und angeleitet werden kann. Anne-Marie Slaughter hat in ihrem bahnbrechen Werk „A New World Order“ aufgezeigt, wie die Herausbildung lose und heterarchisch organisierter exekutiver, judikativer und legislativer Regierungsnetzwerke die Entstehung einer neuen Weltordnung signalisiert.18 Daran anknüpfend soll im Rahmen dieser Arbeit spezifisch mit Blick auf Verfassungsgerichte herausgearbeitet werden, wie nationale, internationale und supranationale Gerichte zusammenwirken und sich gegenseitig ergänzen, um – in Abwesenheit eindeutiger Hierarchien und Kollisionsregeln – durch die schöpferische Bildung kontextadäquater richterrechtlicher Normen die vernetzte Weltordnung mitzugestalten.19 Den Untersuchungsgegenstand der Abhandlung bildet vornehmlich die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte zum Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem inter- und supranationalen Recht, ergänzend werden darüber hinaus bestimmte Aspekte der Rechtsprechung inter- und supranationaler Gerichte zum Verhältnis ihrer Rechtsordnung zu einer anderen nationalen, internationalen oder supranationalen Rechtsordnung in den Blick genommen. In allen diesen Konstellationen stehen regelmäßig dieselben Fragen im Vordergrund, nämlich inwieweit die rechtsordnungsfremden Normen und die dahinter stehenden Belange in der eigenen Rechtsordnung berücksichtigt und inwieweit konkurrierende rechtsordnungseigene Prinzipien und Normen gewährleistet werden sollen.20 Daher erscheint es einerseits geboten, die unterschiedlichen, meist nur in miteinander unverbundenen akademischen Parallelwelten existierenden Diskursstränge zur Verfassungsgerichtstheorie, die sich auf nationale Gemeinwesen konzentriert, zum Verhältnis des nationalen Rechts zum Europa- und Völkerrecht, sowie zum Verhältnis verschiedener internationaler Regime und Gerichte zusammenzuführen, um übergreifende Zusammenhänge zu erschließen. Andererseits ist die Entwicklung eines theoretisch angeleiteten, interdisziplinär ausgerichteten, den Blick über einzelne Rechtsordnungen hinauswerfenden Ansatzes erforderlich, in dem normative und analytische, rechtswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Elemente ihren Platz haben.21 Diese Arbeit nimmt einen analytischen und einen normativen Blickwinkel ein. Zum einen will sie identifizieren, welche Regelungen und Arrangements Verfassungsgerichte in rechtsordnungsübergreifender Interaktion für das Regierungsmo-

 Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004.  Zu dieser gestalterischen richterlichen Rolle in Hinsicht auf internationale Gerichte, siehe Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014, 30, die internationale Gerichte zutreffend als „gestaltungsmächtige Akteure globalen Regierens“ bezeichnen. Diese Einordnung trifft auch auf nationale Verfassungsgerichte zu. 20  Siehe dazu näher unten Zweiter Teil. 21  Für eine interdisziplinär und theoretisch informierte Rechtswissenschaft plädiert Armin von Bogdandy, Deutsche Rechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum, JZ 66 (2011), 1 (5). Instruktiv auch Andreas von Arnauld, Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität: Erscheinungsformen, Chancen, Grenzen, VVDStRL 74 (2015), 39 ff. 18 19

B. Begriffsklärung

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dell der vernetzten Weltordnung herausbilden.22 Aus analytischer Perspektive zielt dieses Modell damit darauf ab, den zu beobachtenden Pluralismus der Rechtsordnungen, der sich durch rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion in Form von rivalisierenden Letztentscheidungsansprüchen sowie wechselseitigen Zitierungen und Bezugnahmen äußert, adäquat zu erfassen.23 Es soll die Eigenart der rechtsordnungsübergreifenden Interaktion zwischen Verfassungsgerichten herausgearbeitet24 und die Herausbildung bestimmter globaler bzw. regionaler Normbildungsprozesse aufgezeigt werden.25 Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Verfassungsgerichte mit ihrer Rechtsprechung das Verhältnis verschiedener Rechtsordnungen zueinander unter pluralistisch-heterarchischen Bedingungen koordinieren. Zum anderen will diese Arbeit aus normativer Perspektive zur Entwicklung von Entscheidungsmaßstäben und -kriterien für die Rechtsprechung von Verfassungsgerichten in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen beitragen. Hier gilt es, aus rechtsvergleichender Perspektive verschiedene Lösungsansätze zu diskutieren, um zu evaluieren, wie Verfassungsgerichte das konstitutionalistische Potenzial der vernetzten Weltordnung ausschöpfen und wie sie die Risiken und potenziellen Konflikte dieses pluralistischen Arrangements reduzieren können.26

B. Begriffsklärung Die vorliegende Arbeit führt mit der „vernetzten Weltordnung“ einen neuen Begriff in die verfassungsrechtliche Debatte ein, der der begrifflichen Vorklärung bedarf (II.). Darüber hinaus erscheint es auch geboten, das zugrunde gelegte Verständnis des Begriffs der „Verfassungsgerichtsbarkeit“ kurz darzulegen (I.).

I. Das Verständnis von „Verfassungsgerichtsbarkeit“ Der Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine zentrale Kategorie für diese Abhandlung. Damit liegt der Arbeit eine institutionelle Perspektive zugrunde, die da­ rauf abzielt, die distinktiven institutionellen Merkmale verfassungsgerichtlichen Entscheidens zu charakterisieren. Dieser spezifische Blick auf die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist der Perspektive anderer Abhandlungen vorzuziehen, die  die Rolle des Staats im Rahmen der inter- und supranationalen Kooperation 22  Vgl. unten Dritter Teil, Kap. 12, A.; Kap. 13, A.; Kap. 14, A.; Kap. 15, A.; Kap. 16, A.; Kap. 17, A.; Kap. 18., A., I.; B., I. und C., I. sowie Kap. 19 A. 23  Unten Dritter Teil, Kap. 12, B.; Kap. 13, B.; Kap. 14, B.; Kap. 15, B.; Kap. 16, B.; Kap. 17., B.; Kap. 18., A., II.; B., II.; C., II. und Kap. 19, B. 24  Siehe unten Erster Teil, Kap. 6. 25  Unten Erster Teil, Kap. 7 und Kap. 8. 26  Unten Dritter Teil.

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Kapitel 1: Einleitung

­thematisieren.27 Denn der Staat ist ein Konstrukt,28 das für die Vielzahl verschiedener öffentlicher Institutionen steht, die kollektiv-verbindliche Entscheidungen im nationalen Gemeinwesen treffen. Diese Institutionen aber erfüllen unterschiedliche Funktionen und sind dementsprechend institutionell unterschiedlich ausgestaltet. Im Kontext der vernetzten Weltordnung nehmen diese Institutionen daher ganz unterschiedliche Perspektiven ein, die durch die Verwendung des „Staats“ als Untersuchungsgegenstand nur verwischt werden.29 Im Folgenden soll das zugrunde gelegte Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit in zwei Schritten erläutert werden: Zunächst wird der Begriff des Verfassungsgerichts definiert, indem verschiedene verfassungsgerichtliche Erscheinungsformen kurz vorgestellt werden (1.), anschließend wird begründet, warum die Entwicklung eines einheitlichen, rechtsordnungsübergreifenden Ansatzes, der diese verschiedenen Erscheinungsformen umfasst, sinnvoll ist (2.). 1. Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution Die hybride Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit ist wesentlich der Judikative zugeordnet. Sie soll die Bindung der Staatsgewalt an die Verfassung durch die Modi und Instrumente des Rechts gewährleisten. Sie geht damit auf die im Europa des 18. Jahrhunderts entwickelte Gewaltenteilungslehre Lockes und Montesqieus zurück, wonach sich Staatsgewalt in die Trias der rechtssetzenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt gliedert. Eine der Prämissen des Grundsatzes der Gewaltenteilung besteht darin, dass sich die funktional ausdifferenzierten, miteinander verschränkten und aufeinander bezogenen Gewalten im Rahmen eines Systems der „checks and balances“ gegenseitig begrenzen und ergänzen. Eine der zentralen Aufgaben der Judikative in diesem Modell der Gewaltenteilung ist es, die Bindung politischer Macht im Gemeinwesen an Recht und Gesetz zu gewährleisten.30  Exemplarisch: Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1993, § 183, 855 ff.; Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; Udo Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001. 28  Thomas Biersteker/Cynthia Weber (Hrsg.), State Sovereignty as Social Construct, 1996. Vgl. auch Christoph Möllers, Staat als Argument, 2011 (2001). 29  Mit einer institutionellen Perspektive im Hinterkopf spricht Slaughter in „A New World Order“ vom „disaggregated state“ und propagiert einen Wandel im Blickwinkel vom Nationalstaat als Einheit zu seinen funktionalen Einheiten und deren Interaktionen und Verbindungen mit ihren Gegenparts in anderen Nationalstaaten oder in supranationalen Organisationen aus. Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 162: „The core of the vision of a disaggregated world order is a concept of an international order in which the principal actors are not states, but part of states; not international organizations, but parts of international organizations.“ Nach ihrer Überzeugung handelt es sich bei dem unitarischen Staat um eine Fiktion, deren Nutzen einst darin bestand, die Komplexität internationaler Beziehungen zu reduzieren und in eine übersichtliche Landkarte umzuzeichnen. Ebd., 32. 30  Im deutschen Grundgesetz findet diese Prämisse ganz allgemein im Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ihren Ausdruck, in Frankreich im Begriff des état de droit, im angelsächsischen Rechtskreis 27

B. Begriffsklärung

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Zur Bindung der Staatsgewalt an die Verfassung verfügen Verfassungsgerichte grundsätzlich über die Kompetenz zur letztverbindlichen Auslegung der Verfassung, zur Prüfung von Rechtsakten der anderen Gewalten, einschließlich formeller Gesetze, am höherrangigen Maßstab der Verfassung und zur Aufhebung verfassungswidriger Rechtsakte, die dem verfassungsrechtlichen Maßstab nicht entsprechen.31 Im angelsächsischen Rechtskreis wird diese verfassungsrechtliche Prüfungskompetenz gemeinhin als judicial review bezeichnet, im deutschen Sprachraum nennt man sie Normenkontrolle. Bei der Ausübung dieser Kompetenz ist dabei für Verfassungsgerichte kennzeichnend, dass sie im Wesentlichen wie Gerichte operieren, also ihre Entscheidungen in gerichtstypischer Zusammensetzung, in gerichtstypischen Verfahren und auf Grund gerichtstypischer Erwägungen treffen.32 Denn Verfassungsgründer und Institutionendesigner weltweit haben die Verfassungsgerichtsbarkeit institutionell nach dem Vorbild eines Gerichts ausgestaltet: Verfassungsgerichte sind unabhängig und unparteilich; sie entscheiden auf der Grundlage vorgegebener Normen über Streitigkeiten in relativer Abgeschiedenheit von den politischen Institutionen anhand der Modi und Verfahren des Rechts. Eine Eigenart der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis im Vergleich zu der Entscheidungspraxis ordentlicher Gerichte liegt allerdings in dem besonderen Charakter der Verfassung als relativ offene rechtliche und politische Rahmenordnung.33 Verfassungsinterpretation beruht auf dem ideengeschichtlichen Fundus des im Grundsatz der rule of law. Siehe grundlegend zu den Verbürgungen, die mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland assoziiert werden: Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986. 31  Stone Sweet definiert constitutional review wie folgt: „Constitutional review is the authority of an institution to invalidate the acts of government – such as legislation, administrative decisions, and judicial rulings – on the grounds that these acts have violated constitutional rules, including rights“. Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, 21. 32  Zwar war der Gründungsvater des europäischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit, Hans Kelsen, keineswegs überzeugt davon, dass die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit notwendig bei der Judikative angesiedelt sein muss. In der Debatte um den „Hüter der Verfassung“ zu Zeiten der Weimarer Republik, entgegnet Kelsen seinem Kritiker Carl Schmitt, dem zufolge die mit der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit einhergehende „Politisierung“ unvereinbar mit der Tätigkeit der Justiz ist, Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, 22, dass ein Verfassungsgericht als „negativer Gesetzgeber“ fungiere, strikt von der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu trennen sei und auch problemlos als „Organ der gesetzgebenden Gewalt“ charakterisiert werden könne. Siehe Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), 30 (53 f.). Allerdings plädierte Kelsen dafür, die Verfassungsgerichtsbarkeit im Wesentlichen als Gericht auszugestalten. Siehe Victor Ferreres Comella, Constitutional Courts and Democratic Values, 2009, 18: „Kelsen himself regarded the court’s function as ‚jurisdictional‘ […]. [H]e believed that what the court does, basically, is enforce the constitution. From this perspective, it is not really a ‚legislature‘, he asserted, but a ‚jurisdictional’ body.“ 33  Der U.S. Supreme Court hat die Eigenart der Verfassung durch die eindringliche Warnung zum Ausdruck gebracht: „[W]e must never forget that it is a Constitution we are expounding.“ US Supreme Court, Urt. v. 06.03.1819 – McCulloch v. Maryland, 17 U.S. 316 (1819), 407. In diesem Sinne auch Chief Justice Dixon vom kanadischen Supreme Court: „The task of expounding a constitution is crucially different from that a construing a statute. A statute defines present rights

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Konstitutionalismus und ist geprägt durch einen bestimmten Denk- und Argumentationsstil, bei dem das Abwägen von erwarteten Folgen, das wertende Bedenken von Wirkungen eine zentrale Rolle einnimmt und Recht und Politik untrennbar miteinander verknüpft sind.34 Der Prototyp eines Verfassungsgerichts sind die – überwiegend in Rechtssystemen des civil law bestehenden – kontinentaleuropäischen Verfassungsgerichte, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht, die italienische Corte Costituzionale, der österreichische Verfassungsgerichtshof, der französische Conseil constitutionnel oder das polnische Trybunal Konstytucyjny.35 Denn diese Institutionen sind von der ordentlichen Gerichtsbarkeit getrennt und auf die Interpretation der Verfassung spezialisiert; für nichtverfassungsrechtliche Fragen sind sie regelmäßig schon nicht zuständig.36 In der vergleichenden Verfassungsrechtsliteratur wird neben diesem kontinentaleuropäischen, spezialisierten Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit auch das US-amerikanische, diffuse Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit unterschieden. Auch die – überwiegend in common law-Systemen institutionalisierten – Su­ preme Courts und obersten Gerichtshöfe in Rechtssystemen mit diffuser Verfassungsgerichtsbarkeit, wie der US-amerikanische, der indische und der israelische Supreme Court sind in der Regel Verfassungsgerichte, obwohl sie auch für nichtverfassungsrechtliche Streitigkeiten zuständig sind. Denn sie haben die Befugnis zur letztverbindlichen Verfassungsinterpretation und zur Prüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung, also die Kompetenz des constitutional review.37 and obligations. It is easily enacted and as easily repealed. A constitution, by contrast, is drafted with an eye to the future. Its function is to provide a continuing framework for the legitimate exercise of governmental power and, when joined by a Bill or Charter of rights, for the unremitting protection of individual rights and liberties. Once enacted, its provisions cannot easily be repealed or amended. It must, therefore, be capable of growth and development over time to meet new social, political and historical realities often unimagined by its framers. The judiciary is the guardian of the constitution and must, in interpreting its provisions, bear these considerations in mind.“ Supreme Court of Canada, Entsch. v. 17.09.1984, Hunter v. Southam Inc., [1984] 2 S.C.R. 145, 155. 34  Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl., 2013, 398. 35  Weitere Beispiele sind das spanische Tribunal Constitucional und das tschechische Verfassungsgericht. Für einen Querschnitt durch die Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum: Armin von Bogdandy/Christoph Grabenwarter/Peter Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum. Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, Bd. VI, 2016. Trotz der Zuordnung zu einem bestimmten Typus der Verfassungsgerichtsbarkeit bestehen zwischen den verschiedenen spezialisierten Verfassungsgerichten teilweise erhebliche Unterschiede. Zu den Unterschieden zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Conseil constitutionnel: Matthias Jestaedt, Verfassungsgericht ist nicht gleich Verfassungsgericht. Vergleichende Beobachtungen zum französischen Conseil constitutionnel und zum deutschen Bundesverfassungsgericht, JZ 74 (2019), 473 ff. 36  Nicht-europäische spezialisierte Verfassungsgerichte sind der Constitutional Court of South Africa, die Corte Constitucional de Colombia, sowie die Verfassungsgerichte der Mongolei, Taiwans und Sükoreas. 37  Zweifelhaft ist die Einordnung des japanischen Supreme Courts als Verfassungsgericht. Zwar ist der Supreme Court nach Art. 81 der Verfassung Japans „the court of last resort with power to determine the constitutionality of any law, order, regulation or official act.“ Allerdings hat der Gerichtshof bislang hinsichtlich der Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten sehr vorsichtig und zurückhaltend agiert. Kritisch: Shigenori Matsui, Why is the Japanese Supreme Court so Conservative?, Wash. U. L. Rev. 88 (2011), 1375.

B. Begriffsklärung

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Daneben erscheint es auch angemessen, neuartige Formen verfassungsgerichtlicher Kontrolle, wie die Supreme Courts in Kanada und in Großbritannien,38 die dem „New Commonwealth Model of Constitutionalism“ zuzurechnen sind,39 sowie supranationale Gerichte wie den EuGH und den EGMR, die die von den ­ ­Mitgliedstaaten verabschiedeten völkerrechtlichen Gründungsverträge durch ihre Rechtsprechung „konstitutionalisiert“ haben,40 unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsgerichtsbarkeit zu betrachten. Der Vielfalt verfassungsgerichtlicher ­ ­Erscheinungsformen wird man nicht gerecht, wenn man die mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten US-amerikanischen und kontinentaleuropäischen Verfassungsgerichte als Maßstab nimmt und jedem institutionellen Arrangement, das hinter diesem Maßstab zurückbleibt, die Qualität als Verfassungsgericht abspricht.41 Solange letztinstanzliche Gerichte die Tätigkeit staatlicher oder supranationaler Institutionen mit den Mitteln und Modi des Rechts effektiv kontrollieren und  Seit 2009 hat Großbritannien einen letztinstanzlichen Supreme Court, der als eine dem US Su­ preme Court vergleichbare Superrevisionsinstanz konzipiert ist. Zur Gründung des UK Supreme Courts: Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreform, ZaöRV 64 (2004), 65 ff. 39   Zu den Besonderheiten der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle in den Commonwealth-Staaten: Stephen Gardbaum, The New Commonwealth Model of Constitutionalism, Am. J. Comp. L. 49 (2001), 707 ff.; Stephen Gardbaum, Reassessing the new Commonwealth model of constitutionalism, ICON 8 (2010), 167 ff.; Roman Kaiser/Daniel Wolff, „Verfassungshütung“ im Commonwealth als Vorbild für den deutschen Verfassungsstaat? Zugleich ein Beitrag zur Legitimation verfassungsgerichtlicher Normenkontrollrechte, Der Staat 56 (2017), 39 (56 ff.). Hiebert bevorzugt stattdessen den Begriff „parliamentary bill of rights model“, siehe Janet Hiebert, Parliamentary Bills of Rights: An Alternative Model?, Mod. L. Rev. 67 (2006), 7. 40  Zum Verständnis des EuGH und des EGMR als Verfassungsgerichte: Alec Stone Sweet, Constitutionalism, Legal Pluralism, and International Regimes, Ind. J. Global Legal Stud. 16 (2009), 621 (642 ff.). Spezifisch zum EGMR: Alec Stone Sweet, On the Constitutionalisation of the Convention: The European Court of Human Rights as a Constitutional Court, Yale Law School Faculty Scholarship Series, Paper No. 71 (2009); Helen Keller/Daniela Kühne, Zur Verfassungsgerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZaöRV 76 (2016), 245 ff.; Catherine Van De Heyning, Constitutional Courts as Guardians of Fundamental Rights, in: Patricia Popelier/ Armen Mazmanyan/Werner Vandenbruwaene (Hrsg.), The role of constitutional courts in multilevel governance, 2013, 21 (39 ff.); Andrea Edenharter, Der EGMR als Verfassungsgericht der EU?, in: Dominik Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 187 (189  ff.). Kritisch Jean-Françoise Flauss, La Cour Européenne des droits de l’homme est-elle une cour constitutionnelle?, RFDC 36 (1999), 711  ff. Spezifisch zum EuGH: Tanja Hitzel-Cassagnes, Geltung und Funktion: Supranationale Gerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Praktischer Rationalität, Recht und Demokratie, 2004, 107 ff.; Marcus Höreth, Der Europäische Gerichtshof: Verfassungsgericht oder nur ein „Agent“ der Mitgliedstaaten?, in: Frank Decker/ Marcus Höreth (Hrsg.), Die Verfassung Europas, 2009, 165 ff.; Jens Rinze, The role of the European Court of Justice as a Federal Constitutional Court, P.L. 1993, 426 ff. Für einen instruktiven Vergleich zwischen dem EuGH und dem U.S.  Supreme Court: Michel Rosenfeld, Comparing Constitutional Review by the European Court of Justice and the US Supreme Court, in: Ingolf Pernice/Juliane Kokott/Cheryl Saunders (Hrsg.), The Future of the European Judicial System, 2006, 33 ff.; Astrid Hauser, Der Europäische Gerichtshof und der U.S. Supreme Court, 2008; Bo Vesterdorf, A constitutional court for the EU?, ICON 4 (2006), 607 ff. 41  Näher zu diesem Punkt unten Einleitung, B., I., 2. 38

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b­ egrenzen, Grundrechtsbestimmungen letztverbindlich auslegen, die Vereinbarkeit von Gesetzen oder vergleichbaren Rechtsakten am Maßstab dieser Bestimmungen prüfen und die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit diesen feststellen, können diese Gerichte grundsätzlich als Verfassungsgerichte betrachtet werden. 2. Verfassungsgerichtsbarkeit als allgemeine Analysekategorie Von der Frage zu unterscheiden, welches Gericht als Verfassungsgericht aufgefasst werden kann, ist die Frage, ob es sinnvoll ist, einen einheitlichen Analyserahmen für die Verfassungsgerichtsbarkeit (im Singular) zu entwickeln. Kritisch formuliert: Ist der politisch-kulturelle Kontext, in den ein Verfassungsgericht eingebettet ist, nicht so speziell, dass sich ein rechtsordnungsübergreifender Ansatz, der mehrere Verfassungsgerichte umfasst, notwendig zu pauschal sein muss? Obwohl Verfassungsgerichte nicht überall auf der Welt gleich ausgestaltet sind, sondern diese, wie gezeigt, in unterschiedlichen institutionellen Erscheinungsformen auftreten, bestehen dennoch gewichtige sachliche und konzeptionelle Gründe, um einen einheitlichen Analyserahmen für die Verfassungsgerichtsbarkeit zu entwickeln. Zum einen verdeckt die taxonomische Unterscheidung zwischen den verschiedenen Modellen der Verfassungsgerichtsbarkeit, dass Verfassungsgerichte in sachlicher Hinsicht trotz unterschiedlicher institutioneller Mechanismen und Wirkungsweisen in verschiedenen Rechtssystemen und -kulturen mit vergleichbaren strukturell-funktionalen Herausforderungen konfrontiert werden und vergleichbare Funktionen erfüllen.42 Zum anderen spricht auch in konzeptioneller Hinsicht viel für die Entwicklung eines einheitlichen, rechtsordnungsübergreifenden Begriffs der Verfassungsgerichtsbarkeit, der, wie auch einige andere Schlüsselbegriffe dieser Arbeit, wie Kon­ stitutionalismus, Supranationalität und Netzwerk, nicht kriteriell verstanden, sondern offen und inklusiv interpretiert werden soll.43 Das bedeutet, dass zur Definition dieser Begriffe nicht unabdingbare Kriterien entwickelt werden sollen, bei deren Fehlen dann nicht mehr von Verfassungsgerichtsbarkeit, Konstitutionalismus oder Supranationalität gesprochen werden kann. Vielmehr sollen der Konstitutionalismus nationalstaatlicher Verfassungen und die Supranationalität der Europäischen Union als Idealtypen für verwandte Arrangements verstanden werden, die die­ sen  Begriffen Kontur und Identität verleihen und an denen sich die Diskussion

 Das erkennt auch Cappeletti an: „For the sake of clarity, a dichotomy has been drawn between centralized and decentralized forms of judicial review, a dichotomy which in fact exaggerates the differences between the two systems.“ Mauro Cappelletti, The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989, 146. 43  Die Arbeit mit dem positivem Recht beruht wesentlich darauf, Abgrenzungskriterien zu entwickeln, um zu unterscheiden, ob etwa jemand einen Anspruch gegen einen anderen hat oder nicht, oder ob jemand seine Entscheidungsbefugnis überschritten hat oder nicht. Hier ist es erforderlich, vorab zu definieren, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um anschließend zu prüfen, ob diese Voraussetzungen vorliegen. 42

B. Begriffsklärung

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o­ rientieren kann, ohne dabei kategorische Grenzen zu ziehen.44 Der Hintergedanke ist dabei folgender: Es verfehlt den Punkt von Konzepten, wenn sie miteinander vergleichbare Erscheinungsformen und Realitäten auseinanderdividieren. In der komplexen und vielschichtigen vernetzten Weltordnung aber werden kategorisch formulierte Konzepte und Begriffe der Vielfalt der Organisationsformen und der Dynamik der Prozesse regelmäßig nicht gerecht.45 Soweit man Beschreibungsmodelle für eine bestimmte soziale Praxis entwickelt, droht die Verwendung kriterieller, statischer Konzepte, bestimmte soziale Phänomene definitorisch auszuschließen.46 Wenn man etwa die Verfassungsgerichtsbarkeit auf die nationalstaatliche Verfassung, den Konstitutionalismus auf den Nationalstaat und die Supranationalität auf die Europäische Union beschränkt, fehlen Konzepte und Begrifflichkeiten, um zahlreiche institutionelle Erscheinungsformen adäquat zu erfassen.47 Es erscheint daher sinnvoll, nicht-positivrechtliche Konzepte, wie Verfassungsgerichtsbarkeit, Konstitutionalismus, Supranationalität und Netzwerk, offen und inklusiv zu interpretieren, um unterschiedliche Graduierungen, Modi und Entwicklungszusammenhänge erkennen und einordnen zu können,48 die sich sinnvoll rechtsordnungsübergreifend konzipieren lassen. Das bedeutet auch, dass im Rahmen dieser Arbeit vereinzelt Entscheidungen nationaler, internationaler und supranationaler Gerichte berücksichtigt werden, die sich nicht oder nur schwerlich als Verfassungsgerichte kategorisieren lassen, soweit diese Entscheidungen von konstitutioneller Bedeutung sind und typischerweise von Verfassungsgerichten  Für die Verwendung des Begriffs der Supranationalität im Kontext der Öffnung der Verfassungen einer Vielzahl lateinamerikanischer Staaten gegenüber dem Völkerrecht: Mariela Morales Antoniazzi, Protección supranacional de la democracia en Suramérica, 2015; James Cavallaro/Emily Schaffer, Less as More: Rethinking Supranational Litigation of Economic and Social Rights in the Americas, Hastings L. J. 56 (2004), 217 ff. 45  Damit soll nicht die grundlegende Bedeutung kategorialer Unterscheidungen im Recht infrage gestellt werden. Es besteht aber ein wichtiger Unterschied zwischen der Arbeit mit dem positiven Recht und der Entwicklung von Beschreibungsmodellen für eine bestimmte soziale Praxis. 46  Zur Unterscheidung zwischen kriteriellen und interpretatorischen Konzepten aus rechtsphilosophischer Perspektive: Ronald Dworkin, Justice for Hedgehogs, 2011, 157 ff. 47  Ein Beispiel: Man kann das Konzept des Konstitutionalismus an die Existenz eines Demos koppeln und der EU mit dem Argument der Abwesenheit eines europäischen Volks Konstitutionalität absprechen. Wenn diese Schlussfolgerung aber dazu führt, sich einer konstitutionellen Perspektive auf die europäische Integration zu verschließen, dann droht man, viele relevante soziale Phänomene im Zusammenhang mit der EU aus dem Blick zu verlieren. Wenn man beispielsweise beobachtet, wie sich herkömmliche Formen internationaler Kooperation zwischen den Staaten in konstitutioneller Weise weiterentwickeln und sich einen relativ autonomen Raum politischer Organisation herausarbeiten, dann erscheint es auch sinnvoll, Fragestellungen und Analyseinstrumente des Konstitutionalismus im Hinblick auf diese inter- und supranationalen Einheiten und Prozesse zu verwenden, auch wenn der Konstitutionalismus dem Nationalstaat entstammt. So schon überzeugend Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002) 317 (324). In gleicher Weise erscheint es auch problematisch, den Begriff der Supranationalität ausschließlich auf die EU zu beziehen und alle institutionellen Arrangements, die nicht im Wesentlichen der EU entsprechen, sich aber erkennbar an dem EU-Modell der Supranationalität orientieren, als nicht vergleichbar abzutun. 48  Für ein solches anspruchsvolles Konstitutionalismus-Verständnis: Neil Walker, ebd., 340 ff. 44

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g­ etroffen werden. Denn das Anliegen der Abhandlung ist es, die Typik verfassungsgerichtlichen Entscheidens unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung herauszuarbeiten; nicht dagegen, alle nicht-verfassungsgerichtlichen Entscheidungen kategorisch aus der Betrachtung auszuschließen.

II. Das Verständnis von der „vernetzten Weltordnung“ Die „vernetzte Weltordnung“ ist ein Schlüsselbegriff dieser Arbeit, der als Analyserahmen für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung49 und als Bezugspunkt für die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit50 dient. Der Begriff knüpft an Anne-­ Marie Slaughters Buch „A New World Order“ an, in dem diese eine neue, kooperativere Weltordnung entwirft, in der exekutive, judikative und legislative Regierungsnetzwerke der „blueprint for the international architecture of the 21st century“ sind.51 An Slaughters Entwurf beeindruckt, wie sie unterschiedliche Entwicklungsstränge zusammenführt und eine zukunftsgewandte Perspektive auf das entstehende, netzwerkartige Regierungsmodell für eine globalisierte Welt entwickelt. Der von Slaughter gewählte Begriff der neuen Weltordnung, an den die „vernetzte Weltordnung“ anknüpft, wird im 20. Jahrhundert insbesondere im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen und dem Ende des Kalten Krieges als Topos für die Neuausrichtung der internationalen Beziehungen verwendet.52 Er steht für die Abwendung von einer kriegerischen Machtpolitik und die Hinwendung zu einer kooperativen, friedlichen Ausgestaltung der internationalen Beziehungen. Der Begriff enthält damit eine zukunftsgerichtete, normative Komponente, die auch in Slaughters Begriffsverständnis sichtbar wird, wenn sie die Weltordnung defi­ niert  als ein „system of global governance that institutionalizes cooperation and  Unten Dritter Teil.  Unten Zweiter Teil. 51  Anne-Marie Slaughter, The Real New World Order, Foreign Affairs 76 (No. 5, 1997), 183 (197). 52  In Reaktion auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs spricht sich Wells in seinem Buch „The New World Order“ für die Formierung einer Weltregierung aus, die den Krieg beendet. Siehe Herbert Wells, The New World Order, 1940. Im Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges plädieren Michail Gorbatschow und George H. W. Bush in Grundsatzreden für eine neue Weltordnung. Gorbatschow spricht von der „Fortbewegung zu einer neuen Weltordnung“ und davon, wie „[d]ie Idee von der Demokratisierung der gesamten Weltordnung […] zu einer gewaltigen sozialpolitischen Kraft“ wurde. Siehe Rede von Michail Gorbatschow vor der 43. UNO-Generalversammlung am 07.12.1988 in New York, in: Bl. Dt. & Internat. Pol. 34 (1989), 234 ff. Knapp zwei Jahre später im Zusammenhang mit der Golf-Krise verkündet George H. W. Bush seine Vision für die Ära nach dem Kalten Krieg: „Out of these troubled times, our fifth objective – a new world order – can emerge: a new era – freer from the threat of terror, stronger in the pursuit of justice, and more secure in the quest for peace.“ Rede von George H. W. Bush vor dem US-amerikanischen Kongress am 11.09.1990 in Washington D.C., abrufbar unter: usa.usembassy.de/etexts/ speeches/rhetoric/gbaggres.htm (30.12.2019). Murphy diskutiert die grotianische Vision vom Völkerrecht vor dem Hintergrund der Erfahrung des Dreißigjährigen Kriegs als Vision für eine neue Weltordnung. Cornelius Murphy, The Grotian Vision of World Order, AJIL 76 (1982), 477 ff. 49 50

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s­ufficiently contains conflict such that all nations and their peoples may achieve greater peace and prosperity, improve their stewardship of the earth, and reach minimum standards of human dignity“.53 Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis ist das Modell der „vernetzten Weltordnung“ eine  – über den europäischen Raum hinausblickende  – normativ-­ analytische Konzeption der Strukturen, Prozesse und Institutionen jenseits des Nationalstaats und deren Zusammenwirken mit nationalstaatlichen Strukturen, Prozessen und Institutionen.54 Dem Begriff liegt eine Governance-Perspektive zugrunde, die kategoriale Modelle der Über- und Unterordnung überwindet und stattdessen die Perspektive vom Staat auf die wechselseitige Regierungs- und Koordinationstätigkeit einer Vielzahl nationaler, internationaler und supranationaler Institutionen zur kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte lenkt.55 Der Prototyp, nicht aber die einzige Erscheinungsform dieses Modells, ist die Europäische Union. Zwar kann man sich die Frage stellen, ob die mit dem Begriff der vernetzten Weltordnung umschriebenen Zusammenhänge, wie etwa die als „europäischer Verfassungsgerichtsverbund“56 bezeichnete Interaktion zwischen den europäischen Gerichtshöfen EuGH und EGMR und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten, wirklich ein globales Phänomen oder nur eine europäische Eigentümlichkeit sind. Unzweifelhaft sind der Umfang und die Dichte der Integration in Europa einzigartig. Die institutionelle Praxis im Rahmen der EU und der EMRK beruht auf besonderen historischen und kulturellen Voraussetzungen, die in anderen Teilen der Welt nicht in gleicher Weise bestehen. Dennoch folgt daraus im Umkehrschluss nicht, dass es sich bei der rechtsordnungsübergreifenden Interaktion verschiedener nationaler sowie inter- und supranationaler Institutionen ausschließlich um ein europäisches Phänomen handelt. Wie im Zuge dieser Arbeit aufgezeigt werden soll, lassen sich solche Formen der Interaktion in Grundzügen auch in anderen Teilen der Welt erkennen.57 Deshalb soll mit dem Begriff der vernetzten ­Weltordnung  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 15.  Der Begriff der Konzeption knüpft an die u. a. von Dworkin verwendete Unterscheidung zwischen „concept“ und „conception“ an. Siehe Ronald Dworkin, Law’s Empire, 1986, 70. Dworkin zufolge ist ein „concept“, hier: Konzept, hinreichend abstrakt und unumstritten, um einen allgemeinen Bezugsrahmen darzustellen. Ebd. „Conceptions“, hier: Konzeptionen, hingegen sind divergierende Sichtweisen und Interpretation, die darauf ausgerichtet sind, den ursprünglichen, unumstrittenen Rahmen des „concepts“ auszufüllen und auszudifferenzieren. Ebd. Die Unterscheidung zwischen Konzept und Konzeption lässt sich am Beispiel der rule of law illustrieren, die Jeremy Waldron zufolge, der Dworkins Unterscheidung aufgreift, ein Konzept ist, in Bezug auf das es unterschiedliche Konzeptionen der rule of law gibt. Jeremy Waldron, Is the Rule of Law an Essentially Contested Concept (in Florida)?, L & Phil 21 (2002), 137 (150). 55  Mit einem interdisziplinär angeleiteten Governance-Ansatz: Armin von Bogdandy/Philipp Dann/Matthias Goldmann, Völkerrecht als öffentliches Recht: Konturen eines rechtlichen Rahmens für Global Governance, Der Staat 49 (2010), 23 ff. 56  Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff.; ders., Multilevel cooperation of the European Constitutional Courts: Der Europäische Verfassungsgerichtsverbund, EuConst 6 (2010), 175 ff. 57  Kumm zufolge bestehen „striking structural similarities between contemporary international law and European law that go right to the legitimacy issue“. Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (916 f.).

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der verbreiteten Europa-Introvertiertheit des europäischen Diskurses begegnet und ein konzeptioneller Rahmen entwickelt werden, in dem vergleichbare Phänomene in anderen Teilen der Welt identifiziert, eingeordnet und angeleitet werden können. Auch wenn Europa eine Vorreiterrolle in der Proliferation der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation sowie der Verfassungsgerichtsbarkeit einnimmt,58 lassen sich vergleichbare institutionelle Phänomene in anderen Teilen der Welt beobachten, von Verfassungsgerichten in Südafrika, Kanada, Israel oder Kolumbien, hin zu am europäischen Modell der supranationalen Gerichtsbarkeit ausgerichteten Gerichten regionaler Integrationsgemeinschaften, wie die Gerichtshöfe der Andengemeinschaft, der Karibischen Gemeinschaft oder der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Aus dem Erfahrungshorizont der europäischen Integration lassen sich für diese institutionellen Arrangements wertvolle Rückschlüsse ziehen.59 Die Konzeption der vernetzten Weltordnung hat eine deskriptive, eine prognostische und eine normative Dimension: Erstens beschreibt sie einen wesentlichen Ausschnitt des empirisch beobachtbaren Phänomens institutionalisierter Formen der Kooperation jenseits des Nationalstaats, zweitens wird auf dieser Grundlage erörtert, in welcher Form und in welche Richtung sich diese Praxis weiterentwickeln könnte und drittens repräsentiert sie aus normativer Sicht ein erstrebenswertes Zukunftsmodell für eine globalisierte Welt, das einen normativen Standpunkt ge­ genüber der gegenwärtigen institutionellen Praxis einnimmt. Dabei erhebt die ­Kon­zeption der vernetzten Weltordnung nicht den Anspruch, alle Aspekte der ­internationalen Beziehungen und des internationalen Rechts zu beschreiben. Denn wie beim Begriff der neuen Weltordnung, an den hier angeknüpft wird, ist eine Unterscheidung zwischen der noch – zumindest in Teilen – bestehenden alten Weltordnung und der entstehenden neuen Weltordnung implizit. Dementsprechend existiert parallel zu der vernetzten Weltordnung auch die Welt der power politics, in der die USA ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats im Irak intervenieren, Russland die Halbinsel Krim annektiert,60 Syrien ungeachtet des Leidens der Bevölkerung zum Spielball regionaler und globaler Machtinteressen verkommt und die Weltmächte  Slaughter zufolge dient die Europäische Union als Paradebeispiel für Regierungsnetzwerke in anderen Teilen der Welt: „The European Union is pioneering governance through government networks in its internal affairs.“ Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 264. Kritisch aber zur Zukunftsfähigkeit des europäischen Modells: Walter Laqueur, After the Fall: The End of the European Dream and the Decline of a Continent, 2012. 59  Exemplarisch: Karen Alter/Laurence Helfer/Osvaldo Saldias, Transplanting the European Court of Justice: The Experience of the Andean Tribunal of Justice, Am. J. Comp. L. 60 (2012), 709 ff.; Karen Alter/Laurence Helfer, Nature or Nurture: Lawmaking in the European Court of Justice and the Andean Tribunal of Justice, IO 64 (2010), 563 ff. 60  Der Economist charakterisiert die Krim-Annexion in seinem Titel besorgt als „The new world order“ und fragt die Staaten „what kind of a world order they want to live under […] one in which states by and large respect international agreements and borders? Or one in which words are bent, borders ignored and agreements broken at will?“ Siehe The Economist v. 22.03.2014, The new world order, 2. 58

C. Gang der Untersuchung

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USA und China ihre Interessen jenseits der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation zu verwirklichen suchen. Die Existenz dieser entgegengesetzten Phänomene wird durch die Konzeption der vernetzten Weltordnung, die Ausdruck einer normativen Präferenz für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation ist, nicht in Abrede gestellt.

C. Gang der Untersuchung Diese Arbeit folgt einer dreigliedrigen Struktur: Im ersten Teil wird die Konzeption der vernetzten Weltordnung entwickelt, im zweiten Teil werden die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in dieser vernetzten Weltordnung herausgearbeitet und im dritten Teil wird die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte sowie interund supranationaler Gerichte im Kontext der vernetzten Weltordnung auf der Folie des entwickelten Analyserahmens rechtsvergleichend analysiert. Im ersten Teil wird die Konzeption der vernetzten Weltordnung in drei Schritten entwickelt: In einem ersten Schritt wird knapp das Verständnis bestimmter, für die „vernetzte Weltordnung“ charakteristischer Strukturen und Prozesse dargestellt, von der Institutionalisierung der inter- und supranationalen Kooperation, über die Prozesse der Konstitutionalisierung und Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts, hin zu der Europäisierung und Internationalisierung des nationales Rechts (Kap. 2), auf die im Laufe der Arbeit immer wieder Bezug genommen wird. Daran schließt eine Untersuchung bestehender Theorien und Erklärungsmodelle an, die darauf abzielen, die zuvor beschriebenen Phänomene zu rekonstruieren (Kap. 3). Auf Grundlage der Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen wird dann sukzessive eine eigene Konzeption der vernetzten Weltordnung entwickelt (Kap. 4–8).61 Die Konzeption der vernetzten Weltordnung ist der Bezugspunkt für die Entwicklung der Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung im zweiten Teil (Kap. 9–11). Die Frage nach den Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit zielt darauf ab, die distinktiven institutionellen Eigenschaften von Verfassungsgerichten herauszuarbeiten, die diese im Hinblick auf die Koordination des Verhältnisses verschiedener Rechtsordnungen einbringen. Das setzt eine normative Vorentscheidung voraus, nämlich welchen Standpunkt man hinsichtlich der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation und ihrem Zusammenwirken mit nationalen Institutionen einnimmt. Dazu zählen die Grundentscheidung zugunsten der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation und eines pluralistisch-heterarchischen Arrangements ebenso wie die Verfassungsgerichtsbarkeit als ein zentraler Akteur, der einen Beitrag zur Gestaltung der vernetzten Weltordnung nach rechtsordnungseigenen konstitutionalistischen Prinzipien und Normen leistet. Die Herleitung von verfassungsgerichtlichen Funktionen in der vernetzten ­Weltordnung erfolgt deduktiv aus den Strukturen und Prozessen der vernetzten 61

 Näher zu diesem Zusammenhang unten Erster Teil.

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Kapitel 1: Einleitung

­ eltordnung und induktiv aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Diese W Herleitung verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen soll dieses heuristische Vorgehen Aufschluss über die strukturabhängige Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit geben, zum anderen dienen Funktionen als eine verbindende Zwischenkategorie, die zwischen den abstrakten Ausführungen im ersten Teil und der anwendungsorientierten Identifizierung und Weiterentwicklung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrends im dritten Teil steht und bestimmte Leistungen der Verfassungsgerichtsbarkeit für die vernetzte Weltordnung konkretisiert. In Kombination ergeben der erste und der zweite Teil den Analyserahmen, mit dem die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen untersucht und angeleitet werden kann. Im dritten Teil werden schließlich die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte sowie inter- und supranationaler Gerichte im Kontext der vernetzten Weltordnung auf der Folie des entwickelten Analyserahmens rechtsvergleichend ­analysiert (Kap. 12–19). Im Schwerpunkt wird die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, zum Verhältnis des nationalen Rechts zum Unionsrecht behandelt, allerdings werden darüber hinaus vielfältige rechtsvergleichende Bezüge außerhalb des EU-Kontexts hergestellt. Die Rechtsprechungsanalyse soll, entsprechend der im dritten Teil entwickelten Funktionen, organisiert werden. Damit wird nicht suggeriert, dass die Rechtsprechung zwingend aus diesen Funktionen folgt. Vielmehr wird ein Vergleichsbereich funktional-­äquivalenter Leistungen konstruiert, durch den die Rechtsprechung unterschiedlicher Verfassungsgerichte organisiert, vergleichbar gemacht und mitei­ nander verglichen werden kann. Das Ziel der Rechtsprechungsanalyse besteht zum einen darin, bestimmte rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungstrends zu identifizieren, mit denen die Gerichte auf vergleichbare strukturelle Herausforderungen reagieren und aus denen sich Hintergrundnormen als Bausteine der vernetzten Weltordnung herausbilden könnten. Zum anderen sollen auf Grundlage des entwickelten Analyserahmens die hinter den gewählten dogmatischen Konstruktionen liegenden übergeordneten Erwägungen und Problemzusammenhänge offengelegt und die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis sowie die darin erkennbaren Hintergrundnormen normativ evaluiert, rekonstruiert und weiterentwickelt werden. Damit soll ein Beitrag dazu geleistet werden, Entscheidungsmaßstäbe und -kriterien für bekannte Fallkonstellationen zu entwickeln, mit denen Richter in der vernetzten Weltordnung konfrontiert werden.

Teil I

Grundlegung einer Konzeption der vernetzten Weltordnung

Die vernetzte Weltordnung ist eine Konzeption der Strukturen und Prozesse jenseits des Nationalstaats und deren Zusammenwirken mit nationalstaatlichen Institutionen, die darauf abzielt, normativ und analytisch einen Analyserahmen für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen zu entwickeln. Die Konzeption der vernetzten Weltordnung soll in drei Schritten entwickelt werden: In Kap. 2 sollen zunächst die zentralen Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung beschrieben werden. Denn wie jeder theoretisch angeleitete Ansatz hat auch diese Konzeption eine ontologische Dimension, das heißt, sie beruht auf der selektiven Wahrnehmung bestimmter deskriptiver Phänomene, einem bestimmten Bild von der „Welt“. Deshalb erscheint es sinnvoll, das in dieser Arbeit zugrunde gelegte Verständnis bestimmter, für die „vernetzte Weltordnung“ charakteristischer Strukturen und Prozesse darzulegen, damit auf diese Schlüsselbegriffe im weiteren Verlauf der Arbeit wieder Bezug genommen werden kann. Anschließend sollen in Kap. 3 bestimmte Theorien und Konzeptionen untersucht werden, für die die beschriebenen Strukturen und Prozesse ebenfalls von wesentlicher Bedeutung sind. Denn die Konzeption der vernetzten Weltordnung knüpft an vorhandene Rekonstruktionsversuche an, die die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation und ihr Zusammenwirken mit nationalstaatlichen Institutionen konzeptualisieren. Diskutiert werden zunächst die klassischen Postitionen des Föderalismus und Intergouvernementalismus (A.), der in der deutschen Rechtswissenschaft populäre Mehrebenen-Ansatz (B.), der Verfassungspluralismus (C.) und die Netzwerktheorie (D.). Auf der Grundlage der beiden vorangegangenen Kapitel soll in den Kap. 4, 5, 6, 7, 8 schließlich die Konzeption der vernetzten Weltordnung entwickelt werden, die an den Verfassungspluralismus und die Netzwerktheorie anknüpft und sich als „Konstitutionalismus im Netzwerk“ oder als „Netzwerkkonstitutionalismus“ bezeichnen lässt. Anspruch dieser Konzeption wird es sein, die beschriebenen Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung konzeptionell in normativ und analytisch überzeugendender Weise nachzuvollziehen. „Konstitutionalismus im Netzwerk“ will erklären, wie sich konstitutionalistische Errungenschaften in rechts-

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Teil I  Grundlegung einer Konzeption der vernetzten Weltordnung

ordnungsübergreifenden Zusammenhängen unter pluralistisch-heterarchischen Bedingungen gewährleisten lassen. Die Antwort auf diese Fragen und damit die Grundlegung einer Konzeption der vernetzten Weltordnung wird in fünf Schritten entwickelt: In einem ersten Schritt wird die pluralistisch-heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen den Rechtsordnungen aus normativer und aus rechtstheoretischer Perspektive in den Blick genommen. Dabei wird das normative Argument für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation und für eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion herausgearbeitet und in groben Zügen aufgezeigt, wie sich ein pluralistisch-heterarchisches Arrangement rechtstheoretisch konzipieren lässt (Kap.  4). Daraufhin wird dargelegt, warum die im Entstehen begriffene Weltordnung nach konstitutionalistischen Prinzipien auszugestalten ist und warum Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung eine wesentliche Rolle einnehmen sollen (Kap. 5). Anschließend wird in Anknüpfung an die sozialwissenschaftliche Netzwerktheorie ein Netzwerkparadigma entwickelt, mit dem sich die richterliche Interaktion in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen als Netzwerk rekonstruieren lässt. Dabei werden bestimmte Charakteristika der netzwerkartigen Interaktion, die in den Sozialwissenschaften herausgearbeitet wurden, auf die rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion angewendet und weiterentwickelt (Kap. 6). Schlussendlich widmet sich der erste Teil der Fragestellung, wie Verfassungsgerichte, die jeweils an die Normen ihrer Rechtsordnung gebunden sind, das Verhältnis ihrer Rechtsordnung zu einer anderen Rechtsordnung in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen koordinieren. Meines Erachtens bildet sich durch die aufeinander bezogene Rechtsprechung verschiedener Verfassungsgerichte ein auf die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung zugeschnittenes, rechtsordnungsübergreifendes Richterrecht heraus, das sich als Beitrag zur Gestaltung der im Entstehen begriffenen vernetzten Weltordnung darstellt. Verfassungsgerichte etablieren durch stetige rechtsordnungsübergreifende Interaktion eine institutionell stabilisierte Praxis, die sich als die Herausbildung von Hintergrundnormen konzeptualisieren lässt (Kap. 8). Der Begriff der Hintergrundnorm konzipiert das Ergebnis rechtsordnungsübergreifender richterlicher Verständigungsprozesse, er erklärt jedoch nicht, wie sich Verfassungsgerichte auf bestimmte rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen verständigen, also durch welchen Prozess sich Normbildung durch rechtsordnungsübergreifende richterliche Interaktion in pluralistisch-heterarchischen Strukturen ohne zentralisierte Rechtsetzungsinstanz vollzieht. Deshalb werden auf Grundlage des in Kap. 6 entwickelten Netzwerkparadigmas zunächst die sozialen Mechanismen und Prozesse analysiert, die richterliche Normbildung zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen ermöglichen (Kap. 7).

Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

Dieses Kapitel zielt darauf ab, dass zugrunde gelegte Verständnis bestimmter, für die „vernetzte Weltordnung“ charakteristischer Strukturen und Prozesse darzulegen. Ein solches Verständnis erfordert zunächst, diese Strukturen und Prozesse in den Zusammenhang größerer gesellschaftlicher Entwicklungslinien zu stellen. Die Entstehung der vernetzten Weltordnung ist Folge einer tief greifenden gesellschaftlichen Transformation, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollzieht. Diese Transformation resultiert aus dem Zusammentreffen von zwei elementaren gesellschaftlichen Entwicklungen: der rasanten Ausbreitung von Formen institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation (C.), und dem Prozess der Globalisierung (A.). Eine entscheidende Rolle spielt darüber hinaus die Transformation des Nationalstaats, der nach innen wie nach außen immer weniger als allumfassende Aufgabenerfüllungseinheit erscheint, sondern dessen Institutionen kollektiv-verbindliche Entscheidungen vermehrt im Zusammenspiel mit nicht-staatlichen Akteuren treffen (B.). Prägende Merkmale der vernetzten Weltordnung, die sich maßgeblich auf die rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion auswirken und deshalb einer eingehenderen Betrachtung bedürfen, sind zudem die Prozesse der Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen (D.), der Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnungen (E.) sowie der damit verbundene Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts (F.). Darüber hinaus soll dargelegt werden, dass die Entscheidungen und Prozesse interund supranationaler Institutionen nach den Maßstäben des nationalstaatlichen Konstitutionalismus teilweise defizitär sind (G.), aber infolge der Prozesse der Europäisierung und Internationalisierung dennoch weitgehend ungefiltert in die nationalen Rechtsordnungen hineinwirken können (H.).

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_2

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

A. Der Prozess der Globalisierung Der Begriff der „Globalisierung“ beschreibt „den zunehmenden Umfang und die Intensivierung von Verkehrs-, Kommunikations- und Austauschbeziehungen über nationale Grenzen hinweg“,1 durch die sich unsere Wahrnehmung gesellschaftlicher Zusammenhänge grundlegend gewandelt hat. Kennzeichnend für diesen Prozess ist die Entgrenzung von Märkten und wirtschaftlicher Tätigkeit, die weltweite Kommunikation durch Medien wie dem Internet, die simultane Verbreitung von Nachrichten von allen in alle Regionen der Welt, der interkulturelle Austausch über Ideen und Normen, die grenzüberschreitende Dimension von Umweltschutz und -verschmutzung, die wachsende Mobilität des Einzelnen, steigende Flüchtlingsströme sowie die Entstehung ortsungebundener, genuin transnationaler Akteure von Unternehmen zu NGOs zu globalen Eliten zu Terrororganisationen. Vor dem Hintergrund der infolge dieser Erscheinungen entstehenden Interdependenzen und Verflechtungen lässt sich von einer „Weltgesellschaft“ sprechen,2 in der gesellschaftliche Aktivität immer weniger durch Raum und Zeit begrenzt wird und in der potenziell jeder von Ereignissen und Entwicklungen in anderen Teilen der Welt betroffen sein kann.3 Das Ausmaß der Interdependenz hat zuletzt die, zunächst durch den Bankrott von Lehmann Brothers entfachte, „schnelle Aufeinanderfolge von Finanz-, Schuldenund Eurokrise“4 deutlich gemacht: Die Spekulationsblase in einem Marktsegment in einem Land, im Immobilienmarkt der USA, ruft die schwerste weltweite wirtschaftliche Depression seit 1933 hervor, die nur durch konzertierte Aktionen der führenden Wirtschaftskräfte beherrschbar wird. Die daran anschließende Staatsschuldenkrise einiger europäischer Staaten bedroht die Zukunftsfähigkeit der europäischen Währung und damit wiederum die Erholungschancen der Weltwirtschaft. Neben den vielfältigen Interdependenzen und Verflechtungen ist ein verwandtes, ebenfalls im Zusammenhang mit dem Globalisierungsprozess zu beobachtendes Phänomen die Herausbildung gemeinsamer globaler Standards in zahlreichen gesellschaftlichen Sphären. Um soziale Aktivität in der Weltgesellschaft zu koordinieren, bilden sich  – weniger durch top-down Regulierung als vielmehr durch eine Vielzahl einzelner, aufeinander bezogene Entscheidungen – globale Standards he­ raus, sei es Englisch als lingua franca, sei es die WTO als Maßstab für globale Handelspolitik, sei es Google als Suchmaschine oder Facebook als soziales Netzwerk.5 1  Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation, 1998, 91 (101). 2  Siehe exemplarisch Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57 (1971), 1 ff. 3  Entsprechend definiert Giddens Globalisierung als „the intensification of world-wide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occurring many miles away and vice versa. […] lateral extension of social connection s across time and space.“ Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, 1990, 64. 4  Diese Formulierung stammt von Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 121. 5  Dazu grundlegend David Singh Grewal, Network Power, 2008. Auf Grundlage von Singh Grewals Werk wird in Kap. 7 der Prozess der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsverständigung in der vernetzten Weltordnung entwickelt. Siehe unten Erster Teil, Kap. 7, A.

A. Der Prozess der Globalisierung

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Treibende Kraft hinter dieser Entwicklung sind das Bedürfnis nach sozialer Koordination und die grenzüberschreitende Migration von Ideen, Vorgehensweisen, Regeln und Institutionen.6 Auch wenn Globalisierung ein Phänomen ist, dass wir alle in irgendeiner Form wahrnehmen, sei es durch die Leichtigkeit des Reisens, sei es durch die mediale Berichterstattung, sei es durch die Bedeutung der englische Sprache, so ist am Konzept der Globalisierung bis hin zum Begriff selbst so ziemlich alles umstritten, was nur umstritten sein kann.7 Dies kann angesichts der profunden Auswirkungen dieses Phänomens auf unser Leben nicht überraschen.8 Der Streit um das Verständnis von Globalisierung hängt auch damit zusammen, dass Globalisierung teilweise als schicksalhaft über die Menschheit hereingebrechende Naturgewalt dargestellt wird,9 auf die transnationale Unternehmen wie Politiker verweisen, um die angebliche Alternativlosigkeit einer Verringerung der unternehmerischen Steuer- und Abgabenlast und den Abbau von Sozialleistungen zu rechtfertigen. Den Globalisierungskritikern erscheint Globalisierung daher auch als neoliberale Ideologie10 oder US-amerikanische Hegemonie,11 mit der die eigentliche Agenda nur verdeckt werden soll.12 Unbestreitbar ist Globalisierung ein von gesellschaftlichen Akteuren gesteuerter, durch bewusste politische Entscheidungen begünstigter Prozess.13 Doch 6  Zu den Folgen der Globalisierung auf das Recht und die Rechtstheorie: William Twining, Globalisation and Legal Theory, 2000. 7  Alternative Begriffsschöpfungen sind „Entgrenzung“ und „Denationalisierung“. Den Begriff der Entgrenzung bevorzugen etwa Claus Leggewie, Die Globalisierung und ihre Gegner, 2003, 16; Christine Landfried (Hrsg.), Politik in der entgrenzten Welt, 2001. Für den Begriff der Denationalisierung: Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, 1998, 65 ff.: „Denationalisierung“; Gráinne de Búrca/Oliver Gerstenberg, The Denationalization of Constitutional Law, Harv. J. Int’l L. 47 (2006), 243 (252). 8  Grundlegend: Ian Clark, Globalization and Fragmentation. International Relations in the Twentieth Century, 1997; Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, 2004. Für einen guten historischen Überblick: Jürgen Osterhammel/Niels Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003; Boaventura de Sousa Santos, Toward a New Common Sense. Law, Science and Politics in the Paradigmatic Transition, 1995. 9  Kritisch Claus Leggewie, Die Globalisierung und ihre Gegner, 2003, 17. 10  Christoph Butterwegge, Globalisierung: Herrschaft des Marktes  – Abschied vom Wohlfahrtsstaat? Folgen der neoliberalen Hegemonie für die Krise und Renaissance des Sozialen, in: Kurt Imhof/Thomas Eberle (Hrsg.), Triumph und Elend des Neoliberalismus, Zürich 2005, 111 ff. 11  Ugo Mattei, A Theory of Imperial Law. A Study of U.S. Hegemony and the Latin Resistance, Ind. J. Global Legal Stud. 10 (2003), 383 ff.; Serge Sur, The State between Fragmentation and Globalisation, EJIL 8 (1997), 421 (433). 12  Mit einer fundierten Globalisierungskritik: Joseph Stiglitz, Globalization and Its Discontents, 2002; Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, 2004; Claus Leggewie, Die Globalisierung und ihre Gegner, 2003. 13  Armin von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV 63 (2003), 853 (856). Nationalstaatliche Grenzen verlieren ihre Bedeutung eben nur für Waren, Dienstleistungen und Kapital, aber nicht für unerwünschte Einwanderer aus Entwicklungsländern, für die die Schengen-Außengrenze oder die US-amerikanischen Grenze zu Mexiko meist unüberwindbar bleibt. Claus Leggewie, ebd., 20.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

zum einen beschwört der Prozess der Globalisierung nicht nur die Gefahr entgrenzter, nach Profitmaximierung strebender, global operierender Nationalstaaten im Konkurrenzkampf um Standortvorteile ausspielender Megaunternehmen sowie einer umwelt- und sozialpolitischen Abwärtsspirale herauf, sondern er hat auch zu individuellen Freiheitsgewinnen und zur Demokratisierung und Wohlstandsmehrung in vielen Entwicklungsländern beigetragen. Zum anderen folgt aus dem Umstand, dass dem Globalisierungsprozess intentionale Handlungen zugrunde liegen noch nicht, dass sich aus diesem Prozess keine Handlungszwänge ergeben können oder dass man ihn ohne weiteres ungeschehen machen kann. Die globalisierte Weltgesellschaft ist ein irreversibler gesellschaftlicher Fakt.14 Wie die Büchse der Pandora nach ihrer Öffnung nicht einfach wieder geschlossen werden kann, lässt sich der Prozess der Globalisierung nicht einfach wieder umkehren. Zwar ist es zumindest konzeptionell selbstverständlich denkbar, den Globalisierungsprozess zu reversieren, etwa durch eine „Politik des Einigelns“ nach dem Vorbild Nordkoreas. Hinter der Konstruktion einer Weltordnung unter den Bedingungen der Globalisierung steht also immer ein Kosten-Nutzen-Kalkül. Die gesellschaftlichen Kosten für den Versuch der Umkehrung der Globalisierung, von der dafür erforderlichen Politik der Abschottung nationaler Märkte hin zur Einschränkung der Reisefreiheit, wären immens. Das zeigt, dass es zumindest ein einfaches Zurück „in die gute, alte Zeit“ nicht geben kann, auch wenn die Rhetorik der Befürworter des Brexits und des rechtspopulistischen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump genau das suggeriert. Denn die Kosten der Politiken, die den Globalisierungsprozess begünstigt haben, sind wesentlich geringer als die Kosten einer Politik der Abschaffung der Globalisierung.15 Deshalb lässt sich Globalisierungsprozess nicht einfach u­ mkehren,  Das gilt auch für den Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Luhmann spricht daher von einem unumkehrbaren „Sündenfall“. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, 1984, 264. Die (überspitzte) Annahme eines irreversiblen Fakts mag aus einem normativistischen Blickwinkel problematisch erscheinen. Allerdings bedarf auch Normativität stets einer adäquaten Rezeption der sozialen Wirklichkeit. Unsere Handlungen sind in die globalisierten Strukturen und Prozesse eingebettet. 15  Das lässt sich im kleineren Rahmen am Beispiel der Euro-Krise illustrieren: Hier haben weitgehend unregulierte Finanzmärkte den Konstruktionsfehler einer Währungsunion ohne politische Steuerungskompetenzen und ohne Konvergenzen in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung schonungslos aufgedeckt, so Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 80 – mit dem Ergebnis, dass die europäischen Regierungen hilflos zappeln „in der Zwickmühle zwischen den Imperativen von Großbanken und Ratingagenturen auf der einen, ihrer Furcht vor dem drohenden Legitimationsverlust bei den eigenen frustrierten Bevölkerungen auf der anderen Seite.“ Ebd., 41. Ein auf den ersten Blick verlockender Ausweg „aus diesem ganzen Schlamaßel“ bestünde darin, den Euro wieder abzuschaffen und die nationalen Währungen wieder einzuführen. Dann hätten die kriselnden südeuropäischen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertung ihrer eigenen Landeswährung zu verbessern und die Deutschen wären nicht in der unangenehmen Lage, zur Abwendung einer Staatspleite in diesen Ländern billionenschwere Kreditprogramme mitzufinanzieren, um gleichzeitig Bundeskanzlerin Merkel mit Hitler-Vergleichen verunglimpft zu sehen, so jedenfalls die von manchen angepriesene Aussicht. Man kann sicherlich darüber streiten, ob es sinnvoll war, den Euro einzuführen. Das Problem ist, dass eine Abschaffung der Gemeinschaftswährung jetzt voraussichtlich zu schweren Verwerfungen auf den Finanzmärkten führen würde und eine schwere Depression zur Folge haben könnte. Denn es ist eine Frage, ob 14

B. Die Transformation des Nationalstaats

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soziale Institutionen nicht einfach abschaffen. Diese Realität gilt es im Hinblick auf die normative Konzeption der vernetzten Weltordnung im Blick zu behalten.16

B. Die Transformation des Nationalstaats Der Globalisierungsprozess hat einschneidende Auswirkungen auf den Nationalstaat. Es lässt sich ein grundlegender Wandel von Staatlichkeit im 21. Jahrhundert feststellen, welcher signifikante Auswirkungen auf die Strukturen und Prozesse in der vernetzten Weltordnung hat. Traditionell ist der Nationalstaat der Amerikanischen und der Französischen Revolution, in dem sich die ökonomisch, kulturell und historisch integrierte Nation institutionell wie unter eine „Käseglocke“ organisiert,17 eine „in sich geschlossene Machtsphäre[]“,18 ein „complete power container[]“,19 der von der Gesellschaft abgegrenzt wird und Kollektivität personifiziert. Jellinek umschreibt ihn zur Begründung seiner Drei-Elemente-Lehre20 noch als „die mit ursprünglicher Herrschaftsmacht ausgerüstete Körperschaft eines sesshaften Volkes […]“.21 Bedingungen für die Plausibilität einer solchen Konzeption sind jedenfalls „die Kongruenz des gesellschaftlichen und des politischen Raums sowie die einfache Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Interaktionen und ihre paternalistische Kontrolle durch den Staat“.22 Diese Voraussetzungen haben sich durch die Globalisierung grundlegend gewandelt.23 In einer globalisierten Welt, in der sich Wirtschaft, Handel, Umwelt und Sicherheit als globale, grenzüberschreitende Herausforderungen darstellen, ist der territorial begrenzte Nationalstaat zunehmend strukturell unfähig, die Vielzahl

man eine europäische Währung einführt und eine andere Frage, ob man diese Währung wieder abschafft. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten der Entscheidung, eine Währung nicht einzuführen, sind wesentlich geringer als die Kosten, die dabei entstünden, eine einmal eingeführte Währung wieder abzuschaffen. 16  Dazu unten Zweiter Teil, Kap. 4, A., I., 1 17  Armin von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV 63 (2003), 853 (855). 18  Stephan Leibfried/Michael Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006, 35. 19  John Hall, Introduction. Nation States in History, in: Thazha Paul/John Ikenberry/John Hall (Hrsg.), The Nation State in Question, 2003, 1 (15). 20  Danach ist der Staat die Kombination der drei Elemente Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Siehe Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914, 394 ff. 21  Ebd., 433. 22  Stephan Leibfried/Michael Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006, 34. 23  Zu den damit verbundenen Auswirkungen auf nationalstaatliche Verfassungen, siehe Anne Peters, Global Constitutionalism Revisited, Int’l L. Theory 11 (2005), 39 (41): „State constitutions can no longer regulate the totality of governance in a comprehensive way and, there­fore, the state constitutions’ original claim to form a complete basic order is defeated“.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

g­ renzüberschreitender Probleme in eigener Regie zu lösen. Die althergebrachte Kongruenz zwischen politischer Regulierung und gesellschaftlicher Aktivität lässt sich in den Strukturen des Nationalstaats nicht mehr aufrechterhalten. Wie die explosionsartige Verbreitung internationaler Organisationen und Regime zeigt,24 hat der Globalisierungsprozess damit auch zu einem tief greifenden Wandlungsprozess der politischen Welt und der politischen Einheiten geführt. Die Globalisierung bringt den Nationalstaat in eine Situation, in der er den zunehmenden gesellschaftlichen Problemlösungsdruck nur durch Kooperation mit anderen Nationalstaaten lösen kann.25 Zentrale Aufgaben des Gemeinwesens wachsen über den Nationalstaat hinaus- und in einen inter- und supranationalen Maßstab hinein. Diese Einsicht ist nicht gleichbedeutend mit der These von der „Entzauberung des Staates“.26 Auch in der vernetzten Weltordnung bleibt der Staat die umfassendste und einflussreichste Form sozialer Organisation,27 die „weiterhin den Rahmen für die Prozesse demokratischer Legitimation vorgibt“28 und „weitgehend die Kontrolle […] über Gewaltanwendung und Steuererhebung“ behält.29 Nicht zuletzt die Weltfinanzkrise und die daran anschließende europäische Staatsschuldenkrise haben die zentrale Bedeutung des Staats und seiner Institutionen für Kriseninterventionen und grundlegende Politikentscheidungen in Erinnerung gerufen.30 Allerdings hat der Staat seine einstige Monopolstellung bei der Erfüllung zahlreicher Gemeinwohlaufgaben verloren: Ressourcen, Recht, Legitimität und Wohlfahrt generiert und gewährleistet der Staat nicht mehr allein,31 sondern im Zusammenspiel mit internationalen Organisationen und gesellschaftlichen Akteuren. Der Nationalstaat ist im 21. Jahrhundert in ein umfangreiches Netzwerk aus internationalen Organisationen und Regimes eingebettet, die nach dem „Gedanke(n) der funktionellen Integration“32 die Regelung grenzüberschreitender Sachbereiche übernehmen, welche die Problemlösungskapazität des Staats übersteigen. Je mehr Aufgaben der Nationalstaat aufgrund seiner begrenzten Problemlösungskapazitäten an internationale Organisationen überträgt, desto mehr setzt er sich ihren Entscheidungen sowie der  Dazu unten Erster Teil, Kap. 2, C., I.  Wahl zufolge entsteht nur „durch die Institutionalisierung auf der weltregionalen und Weltebene […] wieder eine annähernde Kongruenz zwischen der räumlichen Reichweite der Probleme und der sie bearbeitenden Institution […]“. Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, 45. 26  So aber Helmut Wilke, Entzauberung des Staates, 1983. 27  Stephan Leibfried/Michael Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006, 11. 28  Ebd., 49. 29  Ebd., 45. 30  Kritisch gegenüber dieser zu beobachtenden Hinwendung zum Intergouvernementalismus: Christian Calliess, Der Kampf um den Euro: Eine „Angelegenheit der Europäischen Union“ zwischen Regierung, Parlament und Volk, NVwZ 2012, 1 ff. 31  So die vier Dimensionen, anhand derer Leibfried und Zürn die Staatlichkeit des demokratischen Rechts- und Interventionsstaates erfassen. Siehe Stephan Leibfried/Michael Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006, 20. 32  Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, 29. 24 25

C. Die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation

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Notwendigkeit aus, sich vom einst geschlossenen Staat zum nach außen gerichteten, kooperationsbereiten, offenen Staat zu wandeln.33 Mit dieser gewandelten Rolle des Staats einher geht auch ein Wandel der Formen und des Stils inter- und supranationaler Politik. Im Zuge wachsender Interdependenzen und Verflechtungen reduziert sich die zwischenstaatliche Interaktion nicht mehr auf Aushandlungsprozesse zwischen staatlichen Regierungsvertretern, sondern der „disaggregated state“ wird auch nach „außen“ durch Verwaltungsbeamte, Gerichte und selbst Parlamente vertreten, die vermehrt mit ihren ausländischen oder inter- und supranationalen Gegenparts kooperieren.34 Durch diese neuen Erfahrungen verliert die traditionelle Einheitssicht auf den Staat als unitarischer Akteur in den internationalen Beziehungen an Überzeugungskraft35 und die Rolle der einzelnen staatlichen Institutionen rückt in den Vordergrund.36

 . Die institutionalisierte inter- und C supranationale Kooperation Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollzieht sich, vorangetrieben durch den Globalisierungsprozess, eine tief greifende Transformation der politischen Organisation, die in der zentralen Rolle inter- und supranationaler Institutionen ihren Ausdruck findet, die jenseits des territorial begrenzten Nationalstaats für immer mehr grenzüberschreitende Politikprobleme kollektive Regelungen erzeugen. Im 21. Jahrhundert zählen internationale Organisationen zu den wichtigsten Akteuren in den internationalen Beziehungen.37 Kaum eine Tätigkeit wird heute nicht in irgendeiner Form auch durch Formen institutionalisierter inter- und supranationaler

33  Siehe insbesondere Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998. 34  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004. 35  In der deutschen Rechtswissenschaft ist eine holistische Betrachtung auf die Rolle des Staats als Einheit nach wie vor verbreitet. Siehe etwa Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1993, § 183, 855 ff.; Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998. Kritisch zum Staatsverständnis der deutschen Rechtswissenschaft: Christoph Möllers, Staat als Argument, 2011 (2001). 36  Dazu bereits oben Einleitung, B., I. 37  Siehe zum Phänomen der internationalen Organisation aus rechtswissenschaftlicher Perspektive: Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009; José Alvarez, International Organizations As Law-makers, 2006; Henry Schermers/Niels Blokker, International Institutional Law, 5. Aufl., 2011. Siehe aus der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur jüngst Matthias Ruffert/Christian Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, München 2009.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

­Kooperation reguliert.38 In Reaktion auf den Prozess der Globalisierung39 und das daraus resultierende strukturelle Dilemma des territorial organisierten Nationalstaats, immer mehr grenzüberschreitenden Politikproblemen allein immer weniger adäquat begegnen zu können,40 werden eine Vielzahl unterschiedlicher institutioneller Arrangements geschaffen, die kollektive Regelungen jenseits des Nationalstaats erzeugen.41 Zu diesen institutionellen Arrangements zählen zum einen internationale Organisationen im formalen Sinn, die durch die zwischenstaatliche Vereinbarung mehrerer Staaten auf der Grundlage des Völkerrechts gegründet werden und die mindestens über ein von den Mitgliedsstaaten verschiedenes, handlungsfähiges Organ verfügen.42 Darunter fallen einerseits klassische internationale Organisationen, wie die UN und die WTO, und andererseits supranationale Organisation, allen voran die EU, aber auch andere regionale Gemeinschaften in Lateinamerika, in Afrika und in der Karibik, wie die Andengemeinschaft, die ECOWAS, die OHADA, die Ostafrikanische Gemeinschaft und die Karibische Gemeinschaft, die nach dem Vorbild der EU nach der Errichtung eines gemeinsamen Binnenmarkts streben. Idealtypisch unterscheiden sich solche supranationalen Strukturen von klassischen internationalen Organisationen dadurch, dass sie gegen den Willen eines Mitgliedstaats rechtlich verbindliche und unmittelbar durch nationale Gerichte und Verwaltungsbehörden anwendbare Entscheidungen treffen, die ohne Mitwirkung der Regierung des Mitgliedstaats durchgesetzt werden können.43 Wie eingangs erwähnt,44 wird Supranationalität als offenes, inklusives Konzept verstanden, d.  h., auch wenn diese Merkmale in dieser Form wohl nur in der Europäischen Union verwirklicht sind, soll daraus nicht gefolgert werden, dass bestimmte Modi und Graduierungen von Supranationalität nicht auch im Rahmen anderer internationaler Organisationen erkennbar sind.45  Siehe International Law Commission, Fragmentation of International Law. Difficulties Arising from the Diversification and Expansion of International Law – Report of the Study Group of the ILC, UN Doc. A/CN.4/L.682 (13.04.2006), dessen Schlussfolgerungen von der UN-Generalversammlung übernommen wurden. Siehe ILC Rep. 2006, GAOR, 61 session, Supplement Nr. 10 (A/61/10), paras. 233 (241), 400 (403). 39  Oben Erster Teil, Kap. 2, A. 40  Oben Erster Teil, Kap. 2, B. 41  Grundlegend zur Institutionalisierung in den internationalen Beziehungen: David Kennedy, The Move to Institutions, Cardozo L. Rev.8 (1987), 841 ff. 42  So die Definition der Internationalen Organisation bei Henry Schermers/Niels Blokker, International Institutional Law, 5. Aufl., 2011, 26 ff.; zustimmend José Alvarez, International Organizations As Law-makers, 2006, 6. Im Einzelnen ist die Definition der internationalen Organisation allerdings umstritten. Siehe José Alvarez, ebd., 6 f. 43  Mit einer detaillierteren Definition: Henry Schermers/Niels Blokker, ebd., 46 f., die auch die finanzielle Unabhängigkeit der Organisation gegenüber den Mitgliedstaaten und das Verbot eines einseitigen Austritts umfasst. 44  Oben Einleitung, B., I., 2. 45  Neben internationalen Organisationen im formalen Sinn, sei es klassisch, sei es supranational, bestehen zudem eine Vielzahl weniger formalisierter inter- und supranationaler Regime, sei es der IWF, die Basler Konvention oder das Kyoto Protokoll, sei es nicht-staatliche private Organisations38

C. Die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation

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Um ein besseres Verständnis für diese politischen Organisationsformen zu entwickeln, soll zunächst ein Blick in den Entstehungszusammenhang der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation geworfen werden (I.), bevor anschließend eines ihrer prägenden Merkmale, die verselbstständigte Willensbildung, erörtert wird (II.).

I . Die Ausbreitung institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Bei der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation handelt es sich um eine relativ neuartige Form politischer Organisation, deren Durchbruch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingeleitet wird. Natürlich gibt es auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg internationale Organisationen.46 Doch erst die Schrecken des Zweiten Weltkriegs lassen unter den regierenden Staatsfrauen und -männern den Entschluss reifen, dass institutionalisierte Foren für die friedliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten geschaffen werden müssen, um das Aufkommen eines erneuten Weltkriegs zu verhindern. Zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit werden 1945 die Vereinten Nationen gegründet. Parallel werden in Bretton Woods mit der Einrichtung des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der GATT, aus der 1995 die WTO hervorgeht, die institutionellen Rahmenbedingungen für das zukünftige Weltwirtschaftssystem beschlossen. Im zerstörten Europa entstehen mit der Gründung der Montanunion, der Europäischen Atomgemeinschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die institutionellen Grundlagen der supranationalen Europäischen Union. Mit der Verabschiedung der EMRK wird zudem ein organisatorischer Rahmen zum Schutz der

formen wie ISO, ICANN und internationale Sportverbände, die oft durch private Rechtsetzung den wachsenden Normenbedarf befriedigen, den weder der Nationalstaat noch internationale Organisation decken. Diese Regime lassen sich ebenfalls unter den Begriff der institutionalisierten interund supranationalen Kooperation fassen. Grundlegend zum Regime-Begriff: Stephen Krasner (Hrsg.), International Regimes, 1983. Siehe zur privaten Rechtsetzung: Gunther Teubner, Privatregimes. Neo-Spontanes Recht und duale Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft, in: Dieter Simon/Manfred Weiss (Hrsg.), Zur Autonomie des Individuums. Liber Amicorum Spiros Simitis, 2000, 437 ff. 46  Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wird die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt zur Gewährleistung des freien Schiffsverkehrs auf dem Fluss Rhein und dem Gewässerschutz gegründet; auf dem Gebiet des Kommunikationswesens folgen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Internationale Telegrafen-Union und der Weltpostverein; den vorläufigen Höhe- und gleichzeitig Endpunkt bildet die vom US-Präsidenten Woodrow Wilson angetriebene Gründung des Völkerbundes, der den Frieden in der Welt sichern soll, aber nicht kann. Außerdem wird ebenfalls auf der Friedenskonferenz von Versailles im Jahr 1919 die ILO gegründet. Für einen Überblick über die Geschichte internationaler Organisationen bis zum Zweiten Weltkrieg: Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, 2009.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

­ enschenrechte in Europa geschaffen. Darüber hinaus wird die Kooperation auf M dem Gebiet der Sicherheit durch die NATO und die OSZE institutionalisiert. Auch auf anderen Kontinenten entstehen nach und nach eine Vielzahl regionaler internationaler Organisationen und Regime, die allen voran der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und dem Menschenrechtsschutz dienen. Dazu zählen einerseits die bereits erwähnten, an der Europäischen Union ausgerichteten, auf die Errichtung eines Gemeinsamen Markts angelegten supranationalen Kooperationsformen wie die Andengemeinschaft und ECOWAS, andererseits institutionalisierte Freihandelsübereinkommen in Nord- und Lateinamerika wie das NAFTA, der MERCOSUR und die OAS, in Asien der ASEAN und die Asiatisch-pazifische Wirtschaftsgemeinschaft, sowie in Afrika die OAU, die mittlerweile durch die Afrikanische Union ersetzt wurde. Darüber hinaus besteht heute eine Vielfalt internationaler Weltorganisationen, die für die grenzüberschreitende Regelung bestimmter Politikfelder zuständig sind. Diese reichen von der WHO, der FAO, der ILO, der ICAO und dem UNEP bis hin zu Kriegsverbrechertribunalen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda und zum Internationalen Strafgerichtshof. Die Einleitung der Ära internationaler Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg ist in erster Linie politisch motiviert.47 Der Impetus liegt nicht nur in den vermeintlichen Handlungszwängen einer sich globalisierenden Welt, sondern in der Friedenssicherung. Als herausragendes Ziel der Vereinten Nationen wird die Wahrung des Weltfriedens formuliert.48 Auch bei wirtschaftspolitischen Zusammenschlüssen dient die wirtschaftliche Integration vor allem als Mittel, um durch gegenseitige Einbindung gemeinsame Interessen und letztendlich gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Die Gründung der EGKS etwa dient vorrangig der Eindämmung der deutschen Vormacht im Kohle- und Stahlsektor.49 Bemerkenswert ist dabei, dass die Gründungsmütter und -väter die Europäischen Gemeinschaften bereits mit supranationalen Instrumenten und Mechanismen ausstatten, wie etwa die obligatorische Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs, zu der auch der Einzelne Zugang hat, die Verlinkung des Europäischen Gerichtshofs mit nationalen Gerichten durch das Vorlageverfahren, sowie das Mandat der Europäischen Kommission zur Überwachung der Einhaltung des acquis communautaire. Dennoch funktionieren die Europäischen Gemeinschaften in den 1950er- und 60er noch nicht wie eine supranationale Gemeinschaft und den Staats- und Regierungschefs dieser Zeit schweben ernsthaft wohl auch keine supranationalen Strukturen und Prozesse wie in der heutigen Europäischen Union vor,50 welche die Autonomie n­ ationalstaatlicher  Das gilt vor allem für die drei Europäischen Gemeinschaften und die Vereinten Nationen.  So ausdrücklich Art. 1 Abs. 1 der UN-Charta. 49  John Gillingham, Coal, Steel, and the Rebirth of Europe, 1945–1955. The Germans and French from Ruhr Conflict to Ecomomic Community, 1991. 50  Robert Keohane/Andrew Moravcsik/Anne-Marie Slaughter, Legalized Dispute Resolution: Interstate and Transnational, IO 54 (2000), 457 (483). Der damalige Artikel 177 EWG, durch den das Vorlageverfahren zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten eingeführt wurde, war eine eher nebensächliche Vorschrift, die bei den Vertragsverhandlungen von einem deutschen Zollbeamten vorgeschlagen wurde und durch die dem EuGH lediglich ermöglicht werden sollte, Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu beantworten. Ebd. Als maßgeblicher Kontroll- und 47 48

C. Die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation

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Entscheidungsprozesse signifikant begrenzen. Doch durch Spill-over-­Effekte,51 die Erfordernisse des rasant fortschreitenden Globalisierungsprozesses52 und die generelle Neigung von Institutionen, ihre eigene Stellung zu perpetuieren und ihre Befugnisse auszuweiten,53 entfalten die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen institutionellen Strukturen, die als Vorbild zur Schaffung einer Vielzahl vergleichbarer institutioneller Arrangements dienen, eine kaum vorhergesehene Dynamik.

I I. Der verselbstständigte Wille inter- und supranationaler Institutionen Die Besonderheit der internationalen Organisation als Form zwischenstaatlicher Kooperation liegt darin, dass sie durch eigene, von den Mitgliedsstaaten verschiedene Institutionen vertreten wird, die einen verselbstständigten institutionellen Willen entwickeln können.54 In dieser volonté distincte inter- und supranationaler Institutionen liegen das entscheidende Merkmal der internationalen Organisation und eine maßgebliche Ursache für den beschriebenen dynamischen Entwicklungszusammenhang.55 Es wird ein Akteur ins Leben gerufen, der bestimmte inter- und supranationale gesellschaftliche Interessen vertritt: Die Europäischen Unionsorgane betreiben das Projekt der europäischen Integration, die WTO-Institutionen setzen sich für globale Freihandelsinteressen ein. Inter- und supranationale Institutionen fördern diese Belange auf der einen Seite durch Zentralisierung, indem sie eine stabile Organisationsstruktur und einen Verwaltungsapparat zur Realisierung dieser

Durchsetzungsmechanismus für das Gemeinschaftsrecht war die Vorschrift nicht gedacht. Grundlegend zum Integrationsstand der Europäischen Gemeinschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren: Stuart Scheingold, The Rule of Law in European Integration, 1965. 51  Die Ausweitung der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation durch sog. Spillover-Effekte hat zuerst der Begründer des politikwissenschaftlichen Neo-Funktionalismus, Ernst Haas, beschrieben. Siehe insbesondere Ernst Haas, The Uniting of Europe. Political, Social, and Economic Forces 1950–1957, 1958; ders., Beyond the Nation-State. Functionalism and International Organization, 1964. Grob wird damit das Phänomen beschrieben, dass der Harmonisierung eines Regelungsbereichs eine expansive Logik inhärent ist, durch die anliegende, verbundene Regelungsbereiche in den Sog inkrementeller Integration geraten. Beispiele: Die inter- und supranationale Regulierung von Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen im Rahmen der WTO erzeugt Harmonisierungsdruck auf Umwelt- und Sozialstandards, auf die sich Nationalstaaten zur Beschränkung des internationalen Handels berufen. Die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung erzeugt Druck, die Wirtschafts- und Haushaltspolitik ebenfalls zu harmonisieren. 52  Oben Erster Teil, Kap. 2, A. 53  Vgl. etwa James March/Johan Olsen, The Institutional Dynamics of International Political Orders, IO 52 (1998), 943 (966 ff.). 54  Vor diesem Hintergrund ist Jacksons Appell „We are going to need a new constitutionalism of institutions“ zu verstehen. Siehe John Jackson, Changing Fundamentals of International Law and International Economic Law, AVR 41 (2003), 435 (447). 55  Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 11 f.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

Ziele zur Verfügung stellen.56 Das können Organe mit vorwiegend administrativen Aufgaben sein, wie das Sekretariat der WTO, der UN oder der OECD. Oder Organe mit veritablen exekutiven Kompetenzen wie die EU-Kommission. Auf der anderen Seite werden inter- und supranationale Institutionen von den Mitgliedstaaten als unabhängige Akteure in dem Sinn wahrgenommen, dass sie nicht zielgerichtet einzelne Mitgliedstaaten bevorzugen oder benachteiligen, sondern in „mitgliedstaatsneutraler“ Weise das gesellschaftliche Projekt der internationalen Organisation verfolgen.57 Das gilt in besonderem Maße für gerichtsförmige Institutionen wie den EuGH, den EGMR oder den WTO Appellate Body, die, wie nationale Gerichte, für ihre Urteile nicht politisch verantwortlich sind. Diese Unabhängigkeit ermöglicht es inter- und supranationale Institutionen, vermittelnd Streitigkeiten und Uneinigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten aus dem Weg zu räumen, die sich im Zuge der zwischenstaatlichen Kooperation zwangsläufig ergeben. Entscheidend aber ist, dass durch die inter- und supranationale Institutionalisierung zum Zweck der Erreichung bestimmter rechtsordnungsübergreifender gesellschaftlicher Interessen, die durch die territorial begrenzte Organisationsform des Nationalstaats nicht verwirklicht werden können, mit der internationalen Organisation ein eigenständiger institutioneller Repräsentant mit verselbstständigter Willensbildung geschaffen wird, der sich notfalls auch für Belange einsetzt, die den Interessen einzelner Mitgliedstaaten widersprechen. Es wird ein institutionelles Gegengewicht geschaffen, das den Interessen der Regierung eines Mitgliedstaats entgegenwirken kann, welches in pluralistischen Gesellschaften regelmäßig nicht mit dem gesamtgesellschaftlichen Interesse gleichzusetzen ist.58 Ein Beispiel: In der Europäischen Union haben die Mitgliedstaaten vereinbart, dass Waren innerhalb des europäischen Binnenmarkts frei verkehren können, weil sie sich davon aggregierte ökonomische Vorteile versprechen. Trotzdem sehen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – vorgeblich zum Schutz einfältiger Verbraucher – eine Fülle von Regelungen vor, die die Einfuhr von Waren aus anderen europäischen Ländern beschränken: vom Verbot, Branntwein mit einem Alkoholgehalt von unter 25 % zu verkaufen,59 hin zur Vorgabe, Margarine nur in Würfelform zu verpacken60 oder bei der Herstellung von Bier das deutsche Reinheitsgebot zu beachten61  – der ­Einfallsreichtum nationaler Rechtsetzungsorgane im Zusammenhang mit der Beschränkung des Warenverkehrs durchaus bemerkenswert. Im Interesse nationaler Importeure und Exporteure liegen solche Regelungen nicht, denn sie kosten Geld. Zu­dem entstehen typische Probleme kollektiven Handels: Wenn ein Mitgliedstaat die ­unionsrechtlichen Binnenmarktregelungen unterläuft, fragt sich ein anderer  Kenneth Abbott/Duncan Snidal, Why States Act through Formal International Organizations, J. Confl. Resolut. 42 (1998), 3 (4 f.). 57  Ebd. 58  Miles Kahler, Conclusion: The Causes and Consequences of Legalization, IO 54 (2000), 661 (667). 59  Vgl. EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. C-120/78 – Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42. 60  Vgl. EuGH, Urt. v. 10.11.1982, Rs. C-261/81 – Margarine, ECLI:EU:C:1982:382. 61  Vgl. EuGH, Urt. v. 12.03.1987, Rs. C-178/84 – Reinheitsgebot für Bier, ECLI:EU:C:1987:126. 56

C. Die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation

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­ itgliedstaat, ob er diese Regelungen noch befolgen soll. In der supranationalen M Europäischen Union wird die Anwendung dieser Regelungen in den Mitgliedstaaten daher – im Zusammenspiel mit bestimmten nationalen Interessengruppen – einer wirksamen Kontrolle durch die Kommission und den Gerichtshof unterzogen. Dadurch werden die Verwirklichungschancen des Grundsatzes des freien Warenverkehrs signifikant erhöht. Das Gleiche gilt auch für andere internationale Arrangements: Das WTO-Streitbeilegungsregime trägt zu einer robusten Anwendung des Meistbegünstigungsgrundsatzes und des Nicht-Diskriminierungsprinzips bei, die Überwachung des Atomwaffensperrvertrages durch die internationale Atombehörde stärkt das Vertrauen der Vertragsstaaten in die einheitliche Umsetzung der vereinbarten Vertragsbestimmungen. Eine der grundlegenden Prämissen der Institutionenanalyse besteht darin, dass es für die Verwirklichung bestimmter Gemeinwohlbelange einen Unterschied macht, ob die Aufgabe durch eine Institution wahrgenommen wird oder nicht.62 Das ist bei inter- und supranationalen Organisationen nicht anders. Denn Institutionen sind vergleichsweise stabile und resistente Formen sozialer Organisation, die nachhaltige Strukturen und Prozesse einrichten, nach denen sich die involvierten Akteure richten und durch die ihre Präferenzen sozialisiert werden.63 Weil Institutionen zwangsläufig ihre Existenz rechtfertigen müssen,64 besitzen sie zudem gewichtige Anreize dafür, wirksame Strukturen und Prozesse zur Erreichung der ihnen überantworteten Ziele und Aufgaben einzurichten. Das findet seinen Ausdruck in der prominenten effet utile-Formel des EuGH und der Auslegungsmaxime des EGMR, dass die Konventionsrechte, nicht „theoretisch und illusorisch“ ausgestaltet werden dürfen, sondern „konkret und effektiv“ sein müssen. Inter- und supranationale In­ stitutionen besitzen also gewichtige institutionelle Anreize für die Heranbildung einer verselbstständigen Willensbildung, wodurch sich die Dynamik internationaler Kooperation grundlegend verändert. Daher erscheint es auch verfehlt, internationale Organisationen als bloße Agenten des mitgliedstaatlichen Prinzipals zu konzipieren.65 Natürlich werden internationale Institutionen von Staaten eingesetzt und mit Mitteln ausgestattet, um staatliche Präferenzen umzusetzen. Eine mechanische Prinzipal-Agent-Konzeption institutionalisierter inter- und supranationaler Ko­ operation verkennt jedoch gerade das Phänomen der Verselbstständigung und  Die Bedeutung einer institutionellen Perspektive erkannte schon Kantorowicz, ein prominenter Vertreter der deutschen Freirechtsschule, an: „The existence of an institution lies first of all and last of all in the fact that people do behave in certain patterns a, b and c.“ Hermann Kantorowicz, Some Rationalism about Realism, Yale L. J. 43 (1934), 1240 (1246). 63  Nach March und Olsen ist eine Institution „a relatively enduring collection of rules and organized practices, embedded in structures of meaning and resources that are relatively invariant in the face of turnover of individuals and relatively resilient to the idiosyncratic preferences and expectations of individuals and changing external circumstances.“ James March/Johan Olsen, Elaborating the New Institutionalism, in: Sarah Binder/R.A.W.  Rhodes/Bert Rockman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Institutions, 2006, 3 (3). 64  Eine Institution, die nicht handelt, hat keine Existenzberechtigung. 65  Siehe nur Karen Alter, Agent or Trustee: International Courts in their Political Context, EJIR 14 (2008), 33 ff. 62

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

­ utonomisierung des Willens eigenständiger Institutionen, das bei Gerichten allein A schon aufgrund des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit gegeben ist, und welches die Gründungsstaaten bewusst in Kauf nehmen, um Ziele wie die Errichtung eines wahrhaftigen gemeinsamen Binnenmarkts zu erreichen, die sie aufgrund der vielfältigen Probleme kollektiven Handelns ohne ein solches institutionelles Arrangement nicht erreichen könnten.66

 . Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung der D internationalen Beziehungen Die Strukturen und Prozesse der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation haben tief greifende Auswirkungen auf das Recht jenseits des Staats. Es lässt sich eine zunehmende Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen beobachten.67 Zum einen werden inter- und supranationale Rechtssätze vermehrt durch inter- und supranationale Institutionen erzeugt und wesentlich präziser und bestimmter formuliert, was staatliches Handeln verstärkt „determiniert“ (I.).68 Zum anderen wird den Staaten durch die Einrichtung inter- und supranationaler Gerichte, Tribunale und gerichtsähnlicher Streitbeilegungsorgane die Möglichkeit entzogen, ihre inter- und supranationalen Verpflichtungen selbst auszulegen. Sie agieren nicht mehr als Richter in eigener Sache, sondern werden nun mit bindenden Urteilen internationaler Gerichte und Tribunale konfrontiert, die den Bedeutungsgehalt völkerrechtlichen Normen an Stelle der Staaten festlegen und auf den Einzelfall anwenden (II.).

 Diese dynamisierte Willensbildung kann sich selbst in Plenarinstanzen staatlicher Regierungsvertreter herausbilden, soweit die Grundsätze der Einstimmigkeit und des one state, one vote modifiziert werden. So Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2.  Aufl., 2009, 155 ff. Im Rat der Europäischen Union werden die meisten Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluss getroffen, auch für die Verabschiedung einer UN-Sicherheitsratsresolution, die für alle Mitglieder der UN verbindlich gelten, sind nur neun von 15 Stimmen erforderlich. Allerdings wird die dadurch potenziell mögliche Dynamisierung der Entscheidungsfindung durch das Veto-Recht der fünf ständigen Mitglieder, ganz erheblich beschränkt. Siehe zum Einstimmigkeitserfordernis im Völkerrecht: Ebd., 25. 67  Grundlegend: Judith Goldstein/Miles Kahler/Robert Keohane/Anne-Marie Slaughter, Legalization and World Politics, 2001. Doreen Lustig/J.H.H. Weiler, Judicial review in the contemporary world – Retrospective and prospective, ICON 16 (2018), 315 (325 ff.), stufen diese Entwicklung historisch als die internationale Dimension der zweiten Welle der globalen Verbreitung des judicial review ein. 68  In der Determinierung des Verhaltens von Individuen, privaten Vereinigungen, Unternehmen, Staaten oder anderen öffentlichen Institutionen erblicken von Bogdandy, Dann und Goldmann das maßgebliche Kriterium für die Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt. Siehe Armin von Bogdandy/Philipp Dann/Matthias Goldmann, Völkerrecht als öffentliches Recht: Konturen eines rechtlichen Rahmens für Global Governance, Der Staat 49 (2010), 23 ff. 66

D. Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen

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I. Der Prozess der Verrechtlichung Der rechtsverbindliche Charakter des Völkerrechts zeichnet sich durch die Bindung der Staaten an die Regeln, Prozesse und Diskurse des Völkerrechts aus.69 Staaten können nicht nur auf der Grundlage von Interessen und Macht agieren, sondern müssen sich innerhalb der Kunstregeln juristischer Argumentation rechtfertigen.70 Diese Regelgebundenheit ist insbesondere für kleine, „machtlose“ Staaten von unschätzbarer Bedeutung.71 Zwar hat sich der rechtsverbindliche Charakter völkerrechtlicher Bestimmungen durch den Prozess der Globalisierung und die Ausbreitung institutionalisierter interund supranationaler Kooperation nicht entscheidend verändert. Denn das Völkerrecht legt traditionell großen Wert auf Verbindlichkeit, wie das der zentrale in Art. 26 WVRK statuierte Grundsatz des pacta sunt servanda exemplifiziert.72 Aus diesem Grund machen sich Staaten seit jeher für ihre Vereinbarungen die normative Kraft des Rechts zu Nutze.73 Ein völkerrechtlicher Paradigmenwechsel liegt jedoch in der Fähigkeit inter- und supranationaler Institutionen, selbst Recht zu setzen und auszulegen. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird der Grad der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen anhand von drei Indikatoren bestimmt: i) dem obligatorischen Charakter völkerrechtlicher Normen, ii) der Bestimmtheit und Eindeutigkeit, mit der diese Normen formuliert werden und iii) der Einrichtung gerichtsförmiger Streitentscheidungsinstanzen, die für die Auslegung und Anwendung der völkerrechtlichen Normen zuständig sind.74 Die Bestimmtheit einer Norm richtet sich danach, wie präzise und unzweideutig sie das vorgeschriebene Handeln oder Unterlassen

 Kenneth Abbott/Robert Keohane/Andrew Moravcsik/Anne-Marie Slaughter/Duncan Snidal, The Concept of Legalization, IO 54 (2000), 401 (409). 70  Ebd. Instruktiv zum Verhältnis zwischen Recht und Macht in den internationalen Beziehungen: Philip Kunig, Macht und Recht in den internationalen Beziehungen – Schlussfolgerungen für den internationalen Diskurs über Völker- und Verfassungsrecht, VRÜ 38 (2005), 105 ff. 71  Kenneth Abbott/Duncan Snidal, Why States Act through Formal International Organizations, J. Confl. Resolut. 42 (1998), 3 (10 f.). 72  Der rechtsverbindliche Charakter des Völkerrechts wird auch nicht dadurch infrage gestellt, dass Staaten sich teilweise bewusst über ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen hinwegsetzen. Denn einerseits gilt immer noch Henkins Beobachtung „almost all nations observe almost all principles of international law and almost all of their obligations almost all of the time“, Louis Henkin, How Nation Behave, 1979, 2. Aufl., 47, und andererseits wird durch die Nichtbeachtung völkerrechtlicher Bestimmungen nur die Frage der begrenzten Rechtsdurchsetzungs- und Sanktionsmechanismen des Völkerrechts berührt. Diese ist jedoch nicht konstitutiv für seinen rechtsverbindlichen Charakter. Siehe näher H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1994 (1961), 216 ff. 73  Grundlegend zur Funktion des Rechts in den internationalen Beziehungen: Hersch Lauterpacht, The Function of Law in the International Community, 2011 (1933). 74  So die Definition bei Kenneth Abbott/Robert Keohane/Andrew Moravcsik/Anne-Marie Slaughter/ Duncan Snidal, The Concept of Legalization, IO 54 (2000), 401 ff., die obligation, precision und delegation als die maßgebliche Kriterien für die Verrechtlichung der internationalen Beziehung identifizieren. 69

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

definiert.75 Eine gerichtsförmige Streitentscheidungsinstanz liegt dann vor, wenn eine grundsätzlich unabhängige und unparteiliche Institution befugt ist, völkerrechtliche Bestimmungen auszulegen und auf einen Einzelfall anzuwenden.76 Der Verrechtlichungsgrad steigt, insoweit die Gerichtsbarkeit und/oder das Urteil dieser Institution für die Parteien verbindlich sind.77 Im klassischen Völkerrecht sind Völkerrechtssubjekte einzig die Staaten. Sie erzeugen das Recht entweder durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge oder durch eine von der Überzeugung rechtlicher Verbindlichkeit getragene allgemeine Übung.78 Diese Rechtssätze zeichnet einerseits aus, dass sie auf dem Konsens der Staaten beruhen, d. h., dass sie aus Respekt vor der Souveränität des einzelnen Staats, der nur durch eine Norm gebunden sein will, der er zugestimmt hat, Ausdruck des kleinsten gemeinsamen Nenners sind.79 Die Normen klassisch völkerrechtlicher Rechtsgebiete wie das Recht der Verträge, das Recht der Staatenverantwortlichkeit und das Recht der Staatenimmunität sind allgemein und interpretationsoffen formuliert und belassen den Staaten damit einen erheblichen Interpretationsspielraum. Andererseits legen staatliche Institutionen diese Normen auch noch selbst aus, ­obwohl der Staat der Normadressat ist. Erzeugung, Auslegung und Anwendung des Völkerrechts liegt damit allein in der Hand der Staaten. Das ändert sich durch die Einrichtung rechtlich-organisatorisch autonomer, inter- und supranationaler Institutionen grundlegend: Denn diese Institutionen werden regelmäßig mit der Fähigkeit ausgestattet, selbst Recht zu setzen. Die Ein­ richtung verselbstständigter Institutionen erscheint nur sinnvoll, insoweit diese Institutionen auch handlungsfähig sind. Dafür müssen sie in der Lage sein, selbst Recht zu erzeugen.80 Aus diesem Grund ermächtigt der völkerrechtliche Vertrag, durch den die internationale Organisation gegründet wird, die eingerichteten Institutionen regelmäßig dazu, vom Gründungsvertrag abgeleitetes Recht zu erzeugen.81  Ebd., 412.  Ebd., 415. 77  Ebd., 416. 78  So die Definition des Völkergewohnheitsrechts. 79  Vgl. StIGH, Urt. v. 07.09.1927, PCIJ Series A, Nr. 10 – Frankreich v. Türkei (S.S. Lotus), 18: „International law governs the relations between independent States. The rules binding upon States emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed.“ In­ struktiv zu dem Urteil: Philip Kunig/Robert Uerpmann, Der Fall des Postschiffes Lotus, Jura 1994, 186 ff. 80  Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 178. 81  So verfügen etwa der UN-Sicherheitsrat nach Art. 25 der UN-Charta und die Rechtsetzungsorgane der Europäischen Union gem. Art. 288 AEUV über die Fähigkeit, verbindliches Recht zu setzen. In der Folge erzeugen sie Rechtssätze, die den mitgliedstaatlichen Institutionen kaum mehr nennenswerten Interpretationsspielraum belassen. Das Sekundärrecht der Europäischen Union erteilt den Mitgliedstaaten überaus spezifische Handlungspflichten in verschiedensten Politikbereichen. Die Listen des Sanktionskomitees des UN Sicherheitsrats schreiben genau vor, von welchen namentlich genannten Individuen, die mit Al-Quaida in Verbindung gebracht werden, die Vermögenswerte eingefroren werden sollen. Hier besteht kein nennenswerter Spielraum. Die UN-Mit75 76

D. Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen

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Das führt quantitativ zu einer rasante Zunahme der inter- und supranationalen Normproduktion.82 Zudem lässt sich – anders als im klassischen Völkerrecht – qualitativ der Regelungsinhalt dieser Normen kaum noch von nationalen Vorschriften unterscheiden.83

I I. Die Proliferation inter- und supranationaler Gerichte als Triebfeder der Verrechtlichung Die Proliferation internationaler Gerichte und Tribunale wirkt als Triebfeder für den Prozess der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen.84 Romano bezeichnet die Stärkung und den Ausbau der internationalen Gerichtsbarkeit als „the single gliedstaaten als Adressaten der Sicherheitsratsresolution sind rechtlich verpflichtet, die Mittel dieser Personen einzufrieren. Auch internationale Gerichte tragen erheblich zur Konkretisierung völkerrechtlicher Verpflichtungen bei: In den Southern Bluefin Tuna cases leitet der Internationale Seegerichtshof im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zwischen Australien und Neuseeland einerseits und Japan andererseits aus dem Vorsorgeprinzip die völkerrechtliche Verpflichtung Japans ab, bis zur Entscheidung in der Hauptsache einer Erhöhung seiner Fangquote für den südlichen Blauflossenthun im Rahmen eines experimentellen Fischprogramms zu unterlassen. Siehe UNCLOS Annex VII Arbitral Tribunal, Entsch. v. 04.08.2000, Award on Jurisdiction and Admissibility  – Southern Bluefin Tuna (Australia v. New Zealand/Japan), Vol. XXIII, 1 ff. Dazu Simon Marr, The Southern Bluefin Tuna Cases. The Precautionary Approach and Conservation and Management of Fish Resources, EJIL 11 (2000), 815 ff. Im Avena-Verfahren entscheidet der IGH nicht nur, dass die innerstaatliche Anwendung der überkommenen procedural default rule in strafrechtlichen Verfahren gegen mexikanische Angehörige, deren konsularische Rechte aus Art. 36 Abs. 1 WÜK nicht beachtet wurden, nicht mit der Pflicht aus Art. 36 Abs. 2 WÜK vereinbar ist, nationale Rechtsvorschriften so auszugestalten, dass die Verwirklichung des Zwecks des Abs.  1 ermöglichen wird, sondern auch, dass die USA völkerrechtlich verpflichtet ist, gerichtliche Anhörungen für die betroffenen mexikanischen Angehörigen durchzuführen. Siehe IGH, Urt. v. 31.03.2004 – Case Concerning Avena and Other Mexican Nationals (Mexico v. USA), ICJ Rep. 2004, 12 ff. 82  Im Maastricht-Urteil schätzt das Bundesverfassungsgericht, dass etwa 50 % der nationalen Gesetze durch die Europäische Union vorbestimmt werden. Siehe BVerfGE 89, 155 (173) – Maas­ tricht (1993). 83  Nach Kunig verbleibt als einziges Kriterium für die Zuordnung eines Rechtssatzes zum Völkerrecht oder zum staatlichen Recht, „wer den Rechtssatz erzeugt hat“. Philip Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6.  Aufl., 2013, 61 (66). 84  Siehe zur Bedeutung internationaler Gerichte und Tribunale für die internationalen Beziehungen und zum Phänomen der Proliferation dieser Spruchkörper: Cesare Romano/Karen Alter/Yuval Shany (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Adjudication, 2014; Karen Alter, New Terrain of International Law: Courts, Politics, Rights, 2014; Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014; Benedict Kingsbury, Foreword: Is the Proliferation of International Courts and Tribunals a systemic Problem, N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 31 (1999), 679 ff.; Jonathan Charney, The Impact on the International Legal System of the Growth of International Courts and Tribunals, N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 31 (1999), 697 ff.; Cesare Romano, The Proliferation of International Judicial Bodies: The Pieces of the Puzzle, N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 31 (1999), 709 ff.; Cesare Romano, The Price of International Justice, Law & Prac. Int’l Cts. & Tribunals 4 (2005), 281 ff.; Thomas Buergenthal, Proliferation of

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

most important development of the post-Cold War age“.85 Durch den Prozess der Verrechtlichung und Vergerichtlichung werden Staaten in rechtliche Strukturen und Diskurse eingebettet, die ihre Handlungsautonomie begrenzen und ihre Entscheidungsfindung beeinflussen. Die Einrichtung inter- und supranationaler Spruchkörper spielt dabei eine zentrale Rolle, denn wenn die Mitgliedstaaten eine Institution einsetzen, um die Vorschriften der inter- und supranationalen Rechtsordnung auszulegen, wird sich regelmäßig die Auslegung dieser Institution – gerade auch gegenüber den Mitgliedstaaten  – als maßgeblich durchsetzen.86 Die Normen der interund supranationalen Rechtsordnung existieren damit mit dem Bedeutungsgehalt, den ihr die Gerichte zuschreiben.87 Hinter der Gründung inter- und supranationaler Gerichte steht der Bedarf an einem unabhängigen und unparteilichen Dritten, der über Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten über die Auslegung des vereinbarten Vertragswerks entscheiden soll. Auch im klassischen Völkerrecht ist die Einrichtung gerichtsförmiger Entscheidungsinstanzen zwar nicht untypisch.88 Allerdings ist nicht nur die Anzahl, sondern vor allem auch der Einfluss dieser Gerichte begrenzt: Staaten steht es frei, ob sie sich der Gerichtsbarkeit dieser Gerichte unterwerfen wollen; die Entscheidungen der Gerichte sind regelmäßig nicht bindend, unverbindliche Gutachtenverfahren sind besonders populär; zudem sind nur Staaten überhaupt berechtigt, ein gerichtliches Verfahren einzuleiten. Im Zuge der Supranationalisierung internationaler Gerichte wird demgegenüber die Zuständigkeit der Gerichte obligatorisch, die gerichtliche Entscheidung für die Parteien verbindlich und Individuen zur Einleitung eines Gerichtsverfahrens berechtigt.89 International Courts and Tribunals: Is it Good or Bad?, LJIL 14 (2001), 267 ff.; Pemmaraju Sreenivasa Rao, Multiple International Judicial Forums: A Reflection of the Growing Strength of International Law or Its Fragmentation, Mich. J. Int’l L. 25 (2004), 929 ff.; Stefan Oeter, Vielfalt der Gerichte – Einheit des Prozessrechts?, BDGVR 42 (2007), 149 ff.; Karin Oellers-Frahm, Multiplication of International Courts and Tribunals and Conflicting Jurisdiction – Problems and Possible Solutions, Max Planck UNYB 5 (2001), 57 ff.; Jasper Finke, Die Parallelität internationaler Streitbeilegungsmechanismen, 2004. 85  Cesare Romano, ebd., 709. 86  Dazu mit Blick auf die Europäische Union: J.H.H. Weiler, Deciphering the Political and Legal DNA of European Integration: An Exploratory Essay, in: Julie Dickson/Pavlos Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical Foundations of EU Law, 2012, 137 (150 f.): „Electing to place such pronounced reliance on the law and legal institutions for the achievement of their political and economic project was not only an audacious but also a prudentially wise choice. Transnational legality helps prevent ‚free riding‘ and provides stability and continuity to any acquis even in periods of political instability and wavering commitment“. 87  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (9). 88  So insbesondere Stefan Oeter, Vielfalt der Gerichte – Einheit des Prozessrechts?, BDGVR 42 (2007), 149  ff. Für einen Überblick über den Stand der internationalen Gerichtsbarkeit in den 1970er-Jahren, siehe Hermann Mosler/Rudolf Bernhardt (Hrsg.), Judicial Settlement of International Disputes, 1974. 89  Soweit diese drei Merkmale vorliegen, lässt sich von supranationaler Gerichtsbarkeit sprechen. So Laurence Helfer/Anne-Marie Slaughter, Toward a Theory of Effective Supranational Adjudication, Yale L. J. 107 (1997), 273 (273). Allerdings soll Supranationalität auch in diesem Zusammen-

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Maßgeblich für diesen supranationalen Charakter ist vor allem, dass nicht nur Staaten, sondern auch Individuen ermächtigt werden, ein Gerichtsverfahren und damit eben auch die Strukturen rechtlicher Argumentation zu initiieren.90 Den nationalen Regierungen wird die alleinige Kontrolle über die rechtliche Bewertung des gerichtlichen Streitgegenstands entzogen, das Gerichtsverfahren wird pluralisiert. Dadurch wandeln sich Dynamik und Interessenkonstellation grundlegend. Zum einen sind, wie gezeigt,91 die Interessen der Kläger, also etwa von nationalen Importeuren und Exporteuren am Abbau von Warenverkehrshindernissen, nicht notwendig identisch mit den Interessen der nationalen Regierung.92 Zum anderen pflegen nationale Regierungen in den internationalen Beziehungen regelmäßig ein eher instrumentelles Verhältnis zum Recht, das nicht selten zum Spielball hochpolitischer Verhandlungsprozesse wird.93 Dahingegen bewirkt die Einbindung des Einzelnen in inter- und supranationale Gerichtsverfahren eine Verrechtlichung und Vergerichtlichung des sozialen Bedeutungszusammenhangs.94 Denn die inter- und supranationale Gerichtsbarkeit ist eine Form triadischer Konfliktlösung, die sukzessive systematisch gestärkt und ausgeweitet wird, je mehr Streitigkeiten an sie verwiesen werden, je öfter der Streitentscheider also die Gelegenheit erhält, Streitigkeiten unter Rekurs auf die normative Struktur inter- und supranationaler Regelungen zu entscheiden und zu begründen.95 Wie Stone Sweet gezeigt hat, wird durch solche Entscheidungsstrukturen ein sich stetig reproduzierender sozialer Prozess der ­Vergerichtlichung in Gang gesetzt.96 Auch im Prozess der Verrechtlichung und hang als offenes, inklusives Konzept mit unterschiedlichen Graduierungen verstanden werden. 90  Laurence Helfer/Anne-Marie Slaughter, Why States Create International Tribunals, Cal. L. Rev. 93 (2005), 899 (903). 91  Oben Erster Teil, Kap. 2, C., II. 92  Robert Keohane/Andrew Moravcsik/Anne-Marie Slaughter, Legalized Dispute Resolution: Interstate and Transnational, IO 54 (2000), 457 (458). 93  Zur Zurückhaltung nationaler Regierungen bei der Einleitung inter- und supranationaler Gerichtsverfahren, siehe Laurence Helfer/Anne-Marie Slaughter, Why States Create International Tribunals, Cal. L. Rev. 93 (2005), 899 (929): „[W]here only states have access to the tribunal, the decision of whether to file a complaint is often highly politicized, as government officials weigh and filter the diverse preferences of domestic constituencies and pressures from other states.“ Robert Keohane/Andrew Moravcsik/Anne-Marie Slaughter, ebd., 463: „State officials are often cautious about instigating such [judicial] proceedings against another state, since they must weigh a wide range of cross-cutting concerns, including the diplomatic costs of negotiating an arrangement with the foreign government in question“. 94  Grundlegend zur Stellung des Einzelnen im Völkerrecht: Anne Peters, Jenseits der Menschenrechte. Die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht, 2014. 95  Alec Stone Sweet, The Judicial Construction of Europe, 2004, 13. 96  Ebd., 3. Dieser Prozess verläuft wie folgt: Je mehr Streitigkeiten an den neutralen Streitentscheider verwiesen werden, die der Streitentscheider unter Rekurs auf die gegebene normative Struktur entscheidet und begründet, desto größer wird der Einfluss des Streitentscheiders, insoweit seine Entscheidungen von den Streitparteien akzeptiert werden. Denn soweit das Verfassungsgericht Verfassungsstreitigkeiten in der Vergangenheit wirksam geklärt hat, werden Streitparteien in der Zukunft vermehrt Fälle vor das Verfassungsgericht bringen, was dem Verfassungsgericht wiederum die Gelegenheit einräumt, durch die Auslegung und Anwendung der Verfassung die normativen Spielregeln zu bestimmen, die für die anderen Verfassungsakteure gelten. Ebd.

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­ ergerichtlichung lassen sich somit Spill-over-Effekte beobachten, weil vermehrt V bedeutsame politische Entscheidungen im Rahmen inter- und supranationaler Entscheidungsprozesse in der Form und der Sprache des Rechts getroffen werden.97 Gleichwohl ist der Prozess der Vergerichtlichung kein linearer; vielmehr lassen sich gegenwärtig Entjudizialisierungstendenzen in den internationalen Beziehungen beobachten.98 Besonders ausgeprägt sind supranationale Gerichtsstrukturen in der Europä­ ischen Union, wo der EuGH, das EuG und das EuGöD entsprechend der Zentralnorm des Art. 19 Abs. 1 EUV die „Wahrung des Rechts“ bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sichern, indem sie jährlich in Hunderten von Verfahren, meistens initiiert von klagebefugten Individuen, regelmäßig in Kooperation mit nationalen Richtern im Rahmen eines Vorlageverfahrens, rechtsverbindlich darüber entscheiden, ob die Mitgliedsstaaten das europäische Unionsrecht eingehalten haben – oft gegen den Willen der beklagten Mitgliedstaaten, oft in souveränitätssensiblen Bereichen. Galt das europäische Modell einer supranationalen Gerichtsbarkeit mit obligatorischer Zuständigkeit, individueller Klagebefugnis und verbindlichen Interpretations- und Entscheidungsbefugnissen lange Zeit als europäischer Sonderfall, wird es nun als Erfolgsmodell regionaler Integration in zahlreichen Regionen dieser Welt nachgeahmt.99 Am europäischen Modell der supranationalen Gerichtsbarkeit ausgerichtet und teilweise durchaus mit vergleichbaren Befugnissen und Mechanismen ausgestattet sind mehrere inter- und supranationale Gerichte regionaler internationaler Organisationen mit dem Ziel wirtschaftlicher Integration. Auf dem afrikanischen Kontinent sitzen die Gerichtshöfe der ECOWAS,100 der EAC,101 der CCJA, der COMESA

 Alec Stone Sweet/Thomas Brunell, Constructing a Supranational Constitution: Dispute Resolution and Governance in the European Community, Am. Pol. Sci. Rev. 92 (1998), 63 (72) verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff des „legal ‚spillover‘.“ Nach Burley und Mattli ermöglicht das Medium des Rechts es, potenzielle politische Konflikte zu verdecken und bedeutende Integrationsschritte unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit zu vollziehen, weil das vielfach als technisch erachtete Recht als Deckmantel für die Durchsetzung sensibler politischer Ziele dient. Anne-Marie Burley/Walter Mattli, Europe before the Court: A Political Theory of Legal Integration, IO 47 (1993), 41 (44). 98  Daniel Abebe/Tom Ginsburg, The Dejudicialization of International Politics?, Int. Stud. Q. 63 (2019), 521 ff. 99  Siehe zur Adaption des europäischen Modells supranationaler Gerichtsbarkeit in anderen Regionen der Welt: Karen Alter, The Global Spread of European Style International Courts, WEP 35 (2012), 135 ff. 100  Grundlegend: Karen Alter/Laurence Helfer/Jaqueline McAllister, A New International Human Rights Court for West Africa: The Court of Justice for the Economic Community of West African States, AJIL 107 (2013), 737 ff. Siehe auch Bado Kangnikoé, Der Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) als Verfassungsgericht, 2017. Zur Transformation des ECOWAS-Gerichtshofs von einem regionalen Integrations- zu einem Menschenrechtsgerichtshofs: Nneoma Nwogu, Regional Integration as an Instrument of Human Rights: Reconceptualizing ECOWAS, J. Hum. Rts. 6 (2007), 345 ff. 101  Näher: Anne Pieter van der Mei, Regional Integration: The Contribution of the Court of Justice of the East African Community, ZaöRV 69 (2009), 403 ff. 97

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und der CEMAC, sowie das SADC Tribunal.102 In Lateinamerika verfügen der Gerichtshof der Andengemeinschaft und der CACJ, in der Karibik der Karibische Gerichtshof103 über supranationale Gerichtsbarkeitsstrukturen. In Europa bestehen außerhalb der Europäischen Union der EFTA- und der Benelux-Gerichtshof. Natürlich ist die Existenz formal-rechtlicher Strukturen und Prozesse, die dem Modell der europäischen Gerichtsbarkeit entsprechen, noch keine Garantie für eine Verrechtlichung und Vergerichtlichung sozialer Prozesse. Von prädominierenden exekutivischen Machtinteressen hin zum Mangel unabhängiger nationaler Gerichte steht einer wirksamen rechtlichen Integration häufig eine Vielzahl signifikanter Probleme im Weg.104 Allerdings waren auch die Europäischen Gemeinschaften in den 1950er- und 1960er-Jahren  – trotz des bestehenden supranationalen Potenzials  – von einer statischen intergouvernementalen Regierungstätigkeit geprägt. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass im Zuge des Prozesses des Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen gegenwärtige Probleme überwunden werden und zumindest partiell dem Wegverlauf der europäischen Gerichtsbarkeit gefolgt wird.105 Die wohl erfolgreichste Kopie des europäischen Modells ist der Anden-Gerichtshof,106 der maßgeblich zur Entwicklung eines robusten supranationalen Urheberrechtsregimes in der Anden-Gemeinschaft beigetragen hat.107 Neben dem europäischen Modell der supranationalen Gerichtsbarkeit verfügen zahlreiche institutionalisierte Freihandelsübereinkommen über obligatorisch zu Die Tätigkeit des SADC Tribunals wurde allerdings 2007 als Reaktion auf einige mutige und weitreichende Entscheidungen des Tribunals, insbesondere gegen die Landreform des simbabwischen Präsidenten Mugabe, von den Mitgliedstaaten vorläufig ausgesetzt. Dazu Erika de Wet, The Rise and Fall of the Tribunal of the Southern African Development Community: Implications for Dispute Settlement in Southern Africa, ICSID Review 28 (2013), 1 ff. Grundlegend zum beobachtbaren Widerstand gegen internationale Gerichte in Afrika: Karen Alter/James Gathii/Laurence Helfer, Backlash against International Courts in West, East and Southern Africa: Causes and Consequences, EJIL 27 (2016), 293 ff. 103  Siehe hierzu: Derek O’Brien/Sonia Morano-Foadi, The Caribbean Court of Justice and Legal Integration within CARICOM: Some Lessons from the European Community, Law & Prac. Int’l Cts. & Tribunals 8 (2009), 399 ff.; Sheldon McDonald, Caribbean Court of Justice: Enhancing the Law of International Organizations, Fordham Int’l L.J. 27(2004), 930  ff.; Waldemar Hummer, (Schieds-)gerichtsbarkeit in der Karibik: Von der Ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit in der CARICOM/CCM zum „Karibischen Gerichtshof“ in der CSME, Bd. 2, 2006. 104  Karen Alter, The Global Spread of European Style International Courts, WEP 35 (2012), 135 (151). 105  In diesem Sinne auch Karen Alter, The Global Spread of European Style International Courts, WEP 35 (2012), 135 (151). 106  Karen Alter/Laurence Helfer, Nature or Nurture: Lawmaking in the European Court of Justice and the Andean Tribunal of Justice, IO 64 (2010), 563 (564). 107  Siehe vor allem Laurence Helfer/Karen Alter/Maria Guerzovich, Islands of Effective International Adjudication: Constructing an Intellectual Property Rule of Law in the Andean Community, Am. J. Int’l L 103 (2009), 1 ff. Siehe zu weiteren supranationalen Merkmalen des Anden-Gerichtshofs: Karen Alter/Laurence Helfer, ebd., 563 ff.; Laurence Helfer/Karen Alter, The Andean Tribunal of Justice and Its Interlocutors: Understanding Preliminary Reference Patterns in the Andean Community, N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 41 (2009), 871 ff.; Laurence Helfer/Karen Alter, Legal Integration in the Andes: Lawmaking by the Andean Tribunal of Justice, ELJ 17 (2011), 701 ff. 102

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

ständige Gerichtsinstanzen, die über Handelsstreitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten entscheiden. Allerdings sind die Entscheidungen dieser Gerichte nicht immer verbindlich und stets sind nur Staaten Prozessparteien  – nur staatliche Regierungen, nicht Individuen, können also ein Gerichtsverfahren einleiten. Allen voran verfügt die WTO über ein hochdifferenziertes gerichtsförmiges Streitschlichtungsverfahren, in dem die Entscheidungen des WTO Appellate Body und der zuständigen Streitschlichtungspanels auch rechtsverbindlich sind.108 Allerdings ist der Fortbestand des AB durch die Blockade des Nominierungsprozesses durch die USA gefährdet; seit dem 11. Dezember 2019 hat der AB als Kollegialorgan nur noch ein Mitglied und ist deshalb entscheidungsunfähig.109 Neben dem WTO-Streitbeilegungsverfahren bestehen teilweise verrechtlichte Streitbeilegungsverfahren in Form der NAFTA-Schiedsgerichte, des Gerichtshof der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, die Gerichte des MERCOSUR, der ASEAN Dispute Resolution Mechanism110 und im Mittleren Osten das OAPEC Tribunal und den Gerichtshof der Maghreb-Union. Ein weiteres, in anderen Weltregionen nachgeahmtes Erfolgsmodell supranationaler Gerichtsbarkeit in Europa, das allerdings anders als der EuGH ausgestaltet wurde, ist der EGMR.  Vor diesem ist der Einzelne befugt, den verantwortlichen Konventionsstaat für die Verletzung der Konventionsrechte zu verklagen.111 Seit Kurzem verfügt der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte über vergleichbare Strukturen zum Schutz bestimmter Menschenrechte, einschließlich eines Individualbeschwerdeverfahrens.112 Ebenfalls rechtsverbindlich über die Beachtung der Konventionsrechte durch die Konventionsstaaten entscheidet der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte, vor dem allerdings kein unmittelbarer Zugang für Individuen besteht.113 Darüber hinaus bestehen im Bereich des ­  Das GATT bewegte sich nach seiner Gründung lange Zeit in einer Art Limbo zwischen legalistischen und pragmatisch-diplomatischen Konzeptionen über die Ausrichtung des Handelsregimes. Mit der Einrichtung des obligatorischen und rechtsverbindlichen Streitbeilegungsverfahren im WTO-Vertrag ist die WTO jedoch einen entscheidenden Schritt in Richtung Verrechtlichung gegangen. Zum Ganzen: Christina Davis, Why Adjudicate? Enforcing Trade Rules in the WTO, 2012. 109  Dazu Rachel Brewster, WTO Dispute Settlement: Can We Go Back Again?, AJIL Unbound 113 (2019), 61 ff. 110  Auch wenn die ASEAN seit 2004 über ein partiell verrechtlichtes Streitbeilegungsverfahren verfügt, bevorzugen die asiatischen Staaten inter- und supranationale institutionelle Arrangements, die verrechtlichte und vergerichtlichte Strukturen und Prozesse bewusst vermeiden. Miles Kahler, Conclusion: The Causes and Consequences of Legalization, IO 54 (2000), 661 (662). 111  Dazu grundlegend: Steven Greer, The European Convention on Human Rights. Achievements, Problems, and Prospects, 2006. Spezifisch zur Rolle des EGMR: Björnstjern Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, 2017. 112  Der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte resultiert aus der Fusion des Court of Justice of the African Union (CJAU) und des African Court of Human and Peoples Rights (ACHPR). Allerdings befindet sich das Regime der Afrikanischen Menschenrechtskonvention noch in der Aufbauphase. Siehe dazu Anja Kießling, Der Afrikanische Gerichtshof für die Rechte der Menschen und der Völker. Vom schwierigen Aufbau einer neuen Institution, AVR 49 (2011), 173 ff. 113  Siehe u. a. Jo Pasqualucci, The Practice and Procedure of the Inter-American Court of Human Rights, 2. Aufl., 2013; James Cavallaro/Stephanie Brewer, Reevaluating Regional Human Rights 108

D. Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen

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­ enschenrechtsschutzes eine Vielzahl gerichtsähnlicher Kommissionen, deren BeM schlüsse und Empfehlungen zwar unverbindlich sind, die aber einen nicht unerheblichen Beitrag zum Menschenrechtsschutz leisten – gerade auch weil ihre Stellungnahmen durchaus als autoritative Konkretisierung der Bestimmungen der zugrunde liegenden Menschrechtspakte betrachtet werden.114 Klassische internationale Gerichte mit geografisch universeller Zuständigkeit sind der Internationale Gerichtshof, der Internationale Seegerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof.115 Der IGH, vor dem grundsätzlich keine obligatorische Zuständigkeit besteht, entscheidet – insofern sich die am Verfahren beteiligten Staaten der Gerichtsbarkeit unterworfen haben – rechtsverbindlich. Neben der Anzahl der anhängigen Verfahren steigt allerdings auch die Anzahl der derjenigen Staaten an, die sich der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH unterwerfen.116 Von Grenzstreitigkeiten bis zu Fragen der Zulässigkeit von Gewaltanwendung entscheidet der IGH über hochpolitische Sachverhalte in den Formen und auf der Grundlage des Rechts.117 Im internationalen Seerecht ist der internationale Seegerichtshof obligatorisch zuständig für die Auslegung des Seerechtsübereinkommens, das alle ­Nutzungs- und Rechtsverhältnisse für alle Seegebiete dieser Welt regelt.118 Darü­ ber hinaus hat sich mit dem Völkerstrafrecht ein Sonderrechtsgebiet herausge­ bildet, indem der IStGH ebenso wie die vom UN-Sicherheitsrat eingesetzten

Litigation in the Twenty-First Century: The Case of the Inter-American Court, AJIL 102 (2008), 768 ff.; Diego García-Sayán, The Inter-American Court and Constitutionalism in Latin America, Tex. L. Rev. 89 (2011), 1835 ff. 114  Siehe Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 234 f. Darunter fallen insbesondere der UN-Menschenrechtsrat, aber auch die UN-Ausschüsse für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, für die Beseitigung der Rassendiskriminierung und für die Rechte des Kindes. Siehe zum UN-Menschenrechtsrat Daniela Karrenstein, Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, 2011. Zur Vorgängerin, der UN-Menschenrechtskommission: Dominic McGoldrick, The Human Rights Committee. Its Role in the Development of the International Covenant on Civil and Political Rights, 1991. 115  Im Zusammenhang mit Formen internationaler Gerichtsbarkeit zu nennen sind auch der Schiedsgerichtshof der OSZE und das Iranisch-US-amerikanische Forderungsgericht. Zu letzterem: David Caron, The Nature of the Iran-US Claims Tribunal, AJIL 84 (1990), 104 ff. Von wachsender Bedeutung ist auch die Rolle von Investitionsschiedsgerichten im internationalen Investitionsschutzrecht. Grundlegend zum internationalen Investitionsschutzrecht: Andrew Newcombe/ Lluís Paradell, Law and Practice of Investment Treaties – Standards of Treatment, 2009. Zur Rolle von Investitionsschiedsgerichten Stephan Schill, The Multilateralization of International Investment Law, 2009, 249 ff. 116  So hat sich etwa die Bundesrepublik Deutschland die obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH 2008 freiwillig anerkannt. Dazu Christophe Eick, Die Anerkennung der obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH durch Deutschland, ZaöRV 68 (2008), 763 ff. 117  Dazu klassisch: Thomas Franck, Judging the World Court, 1986. Aktuell: Gleider Hernández, The International Court of Justice and the Judicial Function, 2014; Robert Kolb, The International Court of Justice, 2013; Silvia Lucht, Der Internationale Gerichtshof. Zwischen Recht und Politik, 2011. 118  Mit einer Einführung: Chandrasekhara Rao/Rahmatullah Khan, The International Tribunal for the Law of the Sea. Law and Practice, 2001.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

­ riegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda KriegsK verbrecher zu Haftstrafen verurteilen.119

 . Die Konstitutionalisierung inter- und E supranationaler Rechtsordnungen Die Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen ist eng mit einem weiteren zentralen Merkmal der vernetzten Weltordnung verbunden: der Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnungen.120 Die Gründung internationaler Gerichte und Tribunale und die Einrichtung verrechtlichter Strukturen und Prozesse begünstigt die Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnungen, also die Herausbildung konstitutioneller Strukturen und Prozesse, die sich vor allem im Rahmen internationaler Organisationen, ansatzweise aber auch im allgemeinen Völkerrecht abzeichnet.121 Dazu zählen eine kon­ stitutionelle Sprache und Norminterpretation, die Berufung auf grundlegende Prinzipien, sowie die Betonung der herausragenden Bedeutung und der Autonomie der sich konstitutionalisierenden Rechtsordnung. Treibende Kraft hinter dieser Entwicklung sind inter- und supranationale Institutionen, die sich in ihrer Entscheidungspraxis im Streben nach einer vom Staat unabhängigen Legitimation auf kon­ stitutionalistische Prinzipien und Grundsätze berufen.122 Von der Verrechtlichung unterscheidet sich die Konstitutionalisierung des inter- und supranationalen Rechts vor allem durch die Herleitung einer staatenunabhängigen, auf den Prämissen des Konstitutionalismus beruhenden Legitimationsgrundlage.123 Vom Staat verschiedene inter- und supranationale Spruchkörper, die über verselbstständigte Willensund Rechtsbildungsmechanismen verfügen, treiben die Konstitutionalisierung der ihnen anvertrauten Rechtsordnung voran. Dabei verläuft der fortschreitende Kon­ stitutionalisierungsprozess nicht linear, sondern ist abhängig vom konkreten politisch-­institutionellen Kontext.124 Daher finden sich auf der inter- und supranationalen Ebene gleichermaßen konstitutionalisierte Rechtsordnungen, wie die EU, als

 Zur Einführung: William Schabas, An Introduction to the International Criminal Court, 2001.  Dazu grundlegend Thomas Kleinlein, Die Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012. 121  Mit diesem Verständnis von Konstitutionalisierung auch Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (10), die zudem noch die Bedeutung des Konstitutionalismus als „intellektuelle Strömung“ hervorhebt. 122  Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002) 317 (356). 123  Allerdings lassen sich viele Merkmale, die in der Literatur unter der Konstitutionalisierung diskutiert werden, auch unter das Phänomen der Verrechtlichung fassen. So etwa Judith Goldstein/ Miles Kahler/Robert Keohane/Anne-Marie Slaughter, Introduction: Legalization and World Politics, IO 54 (2000), 385 (389). Ebenso Anne Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Klaus Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, 535 (548). 124  Anne Peters/Klaus Armingeon, Introduction – Global Constitutionalism from an Interdisciplinary Perspective, Ind. J. Global Legal Stud. 16 (2009), 385 (390). 119 120

E. Die Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnungen

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auch Regime, in denen praktisch kein konstitutioneller Diskurs stattfindet, wie etwa das NAFTA. Klassische Völkerrechtskonzeptionen leiten die Legitimation des inter- und su­ pranationalen Rechts allein aus dem Konsens der Staaten ab.125 Bestandteil der äußeren Souveränität von Staaten ist es, dass sie als souveräne Einheiten rechtlich nur durch ihren Konsens gebunden werden können.126 Im Kontext des Völkervertragsrechts konsentieren die Staaten die völkerrechtlichen Verpflichtungen explizit durch die Ratifizierung des Vertrages, im Völkergewohnheitsrecht implizit durch übereinstimmende Gewohnheit.127 Selbst die abgeleitete Rechtsetzung durch internationale Organisationen ist aus dieser Perspektive vollständig durch die Staaten konsentiert: Indem Staaten Entscheidungskompetenzen auf die Institutionen der internationalen Organisationen übertragen, stimmen sie den Rechtsakten dieser Institutionen vorab zu.128 Demgegenüber zeichnet sich die Konstitutionalisierung des inter- und supranationalen Rechts gerade dadurch aus, dass internationale Spruchkörper den Staatenkonsens zunehmend mit alternativen Legitimationsgrundlagen ersetzen oder zumindest ergänzen. Der Konsens als ausschließliches Kriterium für eine völkerrechtliche Bindung erodiert.129 Einerseits werden die Anforderungen an die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht immer mehr abgesenkt. Andererseits nutzen insbesondere inter- und supranationale Gerichte und Tribunale die ihnen zur Verfügung gestellte Autonomie und Unabhängigkeit aus, um den Zugriff der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ auf die ihnen anvertraute Rechtsordnung zu schwächen und den völkerrechtlichen Vertrag, der ihre rechtliche Grundlage bildet, als autonome Rechtsordnung zu konstruieren und fortzubilden. Auch wenn sich die Zustimmung der Mitgliedstaaten auf den Gründungsvertrag erstreckt, der durch die Einrichtung eigenständiger Institutionen fraglos auch in einem gewissen Maß auf Autonomisierung und Verselbstständigung ausgerichtet ist, so sollte nicht die auch von den Mitgliedstaaten kaum vorhergesehene, atemberaubende politisch-institutionelle Eigendynamik unterschätzt werden, die in diesem Arrangement angelegt ist.130 Nun werden die aus dem Gründungsvertrag resultierenden Verpflichtungen durch interund supranationale Gerichte präzisiert, ohne dass deren Interpretation im Einzelfall durch die Mitgliedstaaten konsentiert werden müsste.131 Auf einmal werden das

 So etwa Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 2, Rn. 43 f.  Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 4, 206. 127  Brun-Otto Bryde, Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts, Der Staat 42 (2003), 61 (63). 128  Differenzierend: Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2.  Aufl., 2009, 185. 129  Anne Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Klaus Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, 535 (542). 130  Eingehend zum daraus resultierenden Problem der verfassungsgerichtlichen Kontrolle interund supranationaler Gründungsverträge: Unten Dritter Teil, Kap. 14. 131  Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (914). 125 126

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

Recht der inter- und supranationalen Organisation nach dem Auslegungsgrundsatz des effet utile, der größtmöglichen praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts ausgelegt und die Gründungsverträge als living instrument fortgebildet.132 Ein maßgeblicher Anreiz für inter- und supranationale Gerichte, diesen Konstitutionalisierungsprozess voranzutreiben, dürfte darin liegen, sich eine vom Nationalstaat unabhängige Legitimation herauszuarbeiten. Sie streben nach tief verankerten normativen Gründen für ihre Position, nach einer Art Meta-Autorisierung, um sich in einer multi-dimensionalen Welt mit überlappenden Grenzen und konkurrierenden Ansprüchen zu behaupten, und um ihre eigene Stellung zu entwickeln und zu konsolidieren.133 Gerade weil die Legitimität inter- und supranationaler Organisationen prekär ist, orientieren sich die diese repräsentierenden Gerichte einerseits am nationalstaatlichen Verfassungsdiskurs, suchen aber andererseits nach einer davon unabhängigen Legitimitätsquelle.134 Der archetypische Fall der Konstitutionalisierung einer inter- und supranationalen Rechtsordnung durch ein inter- und supranationales Gericht ist die Europäische Union: Komplementär zu einer Phase ausgesprochener Passivität und Untätigkeit des damals vorherrschenden Regierungsmodells eines konsensgestützten Intergouvernementalismus vollzog der EuGH mit seinen gewagten dogmatischen Konstruktionen, der unmittelbaren Wirkung, dem Vorrang und der Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts, der Lehre von den „implied powers“,135 sowie der Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens zu einem äußerst effektiven Mittel zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts,136 den endgültigen Bruch mit den klassischen Völkerrechtsdoktrinen und konstitutionalisierte die europäische Gemeinschaftsrechtsordnung.137 Das darin liegende Paradoxon, das ausgerechnet ein Gericht, in  Mit einer eingehenden Analyse zum effet utile im Unionsrecht: Sibylle Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008. Instruktiv zur Doktrin des living instrument im Rahmen der EMRK: George Letsas, The ECHR as a living instrument: its meaning and legitimacy, in: Andreas Føllesdal/Birgit Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), Constituting Europe. The European Court of Human Rights in a National, European and Global Context, 2013, 106 ff. 133  Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002) 317 (356). 134  Ebd., 358 f. 135  EuGH, Urt. v. 29.11.1956, Rs. C-8/55 – Fédéchar, ECLI:EU:C:1956:11; Urt. v. 31.03.1971, Rs. C-22/70 – AETR, ECLI:EU:C:1971:32. 136  Bei Abschluss der Römischen Verträge nahmen die Vertreter Mitgliedstaaten an, dass das Vertragsverletzungsverfahren das maßgebliche Verfahren zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts sein würde. Die Einbindung nationaler Gerichte zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen des Vorlageverfahrens durch den EuGH überraschte die Mitgliedstaaten. Dazu näher Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 80 f. 137  Siehe grundlegend zur Konstitutionalisierung der europäischen Rechtsordnung durch den EuGH: J.H.H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale L. J. 100 (1991), 2405 (2413 ff.). Nach Weilers Überzeugung besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen diesem normativen Supranationalismus des EuGH einerseits und dem Entscheidungsgouvernementalismus durch die Mitgliedstaaten, der die Entscheidungsprozesse der EU von Mitte der 60er- bis Mitte der 80erJahre prägte, andererseits. Die Mitgliedstaaten akzeptierten die gewagte Rechtsprechung des EuGH danach vor allem deshalb, weil die im Rahmen des Luxemburger Kompromisses für den Rat ausgehandelte Möglichkeit eines jederzeitigen nationalen Vetos es ihnen erlaubte, die mit der 132

E. Die Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnungen

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den Worten Madisons „the least dangerous branch“, eine solch bahnbrechende Entwicklung einleitet, hat keiner besser zum Ausdruck gebracht als Eric Stein: „Tucked away in the fairyland Duchy of Luxembourg and blessed, until recently, with benign neglect by the powers that be and the mass media, the Court of Justice of the European Communities has fashioned a constitutional framework for a federal-type structure in Europe.“138 Bereits in den 1960er-Jahren bemühte sich der EuGH um die Entwicklung alternativer Legitimationsquellen und betonte, dass die Gemeinschaft eine neue, vom Völkerrecht unterschiedliche Rechtsordnung eigener Art sei,139 die aus einer autonomen Rechtsquelle fließe,140 „die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker“ richte.141 Die Gründungsverträge stellten gewissermaßen die Verfassungskurkunde der Union dar.142 Damit streicht der EuGH einerseits die Autonomie und Eigenständigkeit der europäischen Rechtsordnung gegenüber mitgliedstaatlichen und inter- und supranationalen Rechtsordnungen, andererseits ihre basale Bedeutung heraus. Autonomie und verfassungsrechtlicher Charakter sind zwei Seiten derselben Medaille.143 Im Kadi-Urteil stellt der EuGH den Vertrag als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“ und die „Autonomie des Rechtssystems der Gemeinschaft“ ausdrücklich in einen Zusammenhang.144 Im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention lassen sich eben­ falls Konstitutionalisierungsprozesse beobachten. Herausgebildet hat sich ein

EuGH-Rechtsprechung verbundene Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf die nationale Rechtsordnung abzufedern und weil diese andererseits die Umsetzung mühsam im Rat ausgehandelte Kompromisse in den Mitgliedstaaten gewährleistete. Siehe auch J.H.H. Weiler, The Community System: The Dual Character of Supranationalism, YB Eur. L. 1 (1981), 267 ff. Ob überhaupt und inwieweit die Mitgliedstaaten die gewagte Rechtsprechung des EuGH tatsächlich insgeheim unterstützten, nur weil sie nicht entschieden dagegen vorgingen, ist aber umstritten. A.A. Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 182 ff. 138  Eric Stein, Lawyers, Judges, and the Making of a Transnational Constitution, AJIL 75 (1981), 1 ff. 139  EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62  – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1, Slg. 1963, 1 (25). 140  EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Rs. C-6/64  – Costa v. E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66, Slg. 1964, 1259 (1270); Urt. v. 17.12.1970, Rs. C-11/70  – Internationale Handelsgesellschaft, ECLI:EU:C:1970:114, Rn. 3. 141  EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62 – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1. 142  EuGH, Urt. v. 23.04.1986, Rs. C-294/83  – Les Verts v. Parlament, ECLI:EU:C:1986:166, Rn.  23; Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P; C-415/05 P  – Kadi v. Rat und Kommission, ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 21. Siehe auch Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 148 (155); Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, 93 ff. 143  Zu diesem Zusammenhang: René Barents, The Autonomy of Community Law, 2004, 189; Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (31). 144  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P; C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission, ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 281 f. Dazu Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (31).

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

­substanzieller konstitutioneller Diskurs,145 dessen Ursache einerseits im Gegenstand der Konvention liegt, einem Menschenrechtskatalog, der den Grundrechtekatalogen nationaler Verfassungen gleicht und typische verfassungsrechtliche Pro­ bleme behandelt,146 andererseits mit dem EGMR zusammenhängt, der die Konstitutionalisierung der EMRK seit Beginn seiner Gründung durch seine konstitutionelle Sprache und Norminterpretation vorantreibt. Die Konvention bezeichnet der Gerichtshof als Verfassungsinstrument des europäischen ordre public im Menschenrechtsbereich.147 Wie ein nationales Verfassungsgericht betrachtet er es als seine ureigene Aufgabe, die Einschlägigkeit der Vorbehalte der Vertragsstaaten selbst zu beurteilen.148 Im Zusammenhang mit der WTO besteht gleichermaßen, schon seit langem,149 ein breit gefächerter Konstitutionalisierungsdiskurs.150 Auch wenn hier teilweise die Verrechtlichung und Vergerichtlichung der WTO vorschnell mit ihrer Konstitutionalisierung gleichgesetzt wird,151 lassen sich in Ansätzen bestimmte konstitutionelle Elemente identifizieren. Dazu zählen die Herausbildung grundlegender Prinzipien wie der Grundsatz der Meistbegünstigung, das Diskriminierungsverbot und das Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen genauso wie die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als gerichtliche Entscheidungstechnik durch den  Siehe zur Konstitutionalisierung der EMRK u. a.: Steven Greer, The European Convention on Human Rights. Achievements, Problems and Prospects, 2006, 173 ff.; Luzius Wildhaber, A Con­ stitutional Future for the European Court of Human Rights?, Hum. Rts. L. J. 23 (2000), 161 ff.; Alec Stone Sweet, On the Constitutionalisation of the Convention: The European Court of Human Rights as a Constitutional Court, Yale Law School Faculty Scholarship Series, Paper No. 71 (2009); Albert Alkema, The European Convention as a Constitution, and its Court as a Constitutional Court, in: Paul Mahoney u. a. (Hrsg.), Protecting Human Rights. The European Perspective, 2000, 41 ff.; Frank Hoffmeister, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat 40 (2001), 349 ff. 146  Zur Funktion der EMRK als gemeineuropäische Teilverfassung: Jochen Abr. Frowein, Die He­ rausbildung europäischer Verfassungsprinzipien, in: Arthur Kaufmann u. a. (Hrsg.), FS Maihofer, 1988, 149 ff. 147  EGMR, Urt. v. 12.12.2001, Nr. 52207/99 – Banković v. Belgien u. a., Rn. 80. 148  Siehe EGMR, Urt. v. 01.07.1961, Nr. 332/57 – Lawless v. Irland, Rn. 22. Die Lawless-Entscheidung des EGMR mit Marbury v. Madison vergleichend: Fionnuala Aolain, The emergence of diversity: Differences in human rights jurisprudence, Fordham Int’l L. J. 19 (1995), 101 (111). Den EGMR als „Constitutional Court of Europe“ bezeichnet Steven Greer, The European Convention on Human Rights. Achievements, Problems and Prospects, 2006, 173. 149  Eine Konstitutionalisierung der WTO schon frühzeitig in den Blick genommen hat John Jackson, World Trade Law and the Law of GATT, 1969, 780 ff., der schon damals von der „constitutional structure of a possible international trade institution“ spricht. 150  Exemplarisch: John McGinnis/Mark Movsesian, The World Trade Constitution, Harv L. Rev. 114 (2000), 511 ff.; Ernst-Ulrich Petersmann, Theories of Justice, Human Rights, and the Constitution of International Markets, Loy. L.A.  L. Rev. 37 (2003), 407  ff. Kritisch: Jeffrey Dunoff, Constitutional Conceits: The WTO’s ‚Constitution‘ and the Discipline of International Law, EJIL 17 (2006), 649 ff.; Robert Howse/Kalypso Nicolaidis, Enhancing WTO Legitimacy: Constitutionalization or Global Subsidiarity?, Governance 16 (2003), 73 ff. 151  Davor warnt Anne Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Klaus Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, 535 (548).

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WTO Appellate Body und die Panels.152 Vor allem aber steigt der Druck auf die WTO, sich weiter zu konstitutionalisieren, der sich in Forderungen nach stärkerer Berücksichtigung von Nichthandelsbelangen wie Sozial- und Umweltnormen, Förderung der ärmsten Entwicklungsländer und Einbindung von NGOs niederschlägt,153 denen der Appellate Body in jüngerer Zeit vermehrt nachgibt,154 wie sich auch an dessen vorsichtiger Abwendung von einem traditionellen förmlich-­ grammatischen Interpretationsstil und Hinwendung zu einer evolutiveren, konstitutionellen Vertragsinterpretation beobachten lässt.155 Ein wichtiger Unterschied zur EU und zur EMRK besteht dennoch weiterhin darin, dass der WTO Appellate Body aus strategischen Gründen seine Rolle wesentlich zurückhaltender interpretiert als der EuGH und der EGMR und anstatt, wie diese, alternative Legitimationsquellen zu entwickeln, den konsensualen, völkervertraglichen Charakter der WTO betont.156 Auch andere inter- und supranationale Spruchkörper bedienen sich vermehrt einer konstitutionellen Sprache: der ICTY und der IAGMR betonen ihre Stellung als „autonomous international judicial body“157 bzw. „autonomous judicial institutions“158 – im Fall des ICTY, um seine Legitimität auch aus rechtsstaatlichen Grundsätzen herzuleiten und, wie selbstverständlich, eine Rechtskontrolle einer UN-­ Sicherheitsratsresolution vorzunehmen,159 im Fall des IAGMR, um die eigene Gerichtsbarkeit über Art.  36 Abs.  1 b) WÜK zu begründen, der IGH betont den konstitutionellen Status der WHO-Charta, die mit der WHO ein Rechtssubjekt geschaffen habe, das mit einer gewissen Autonomie ausgestattet und mit der Aufgabe

 Klaus Armingeon/Karolina Milewicz/Simone Peter/Anne Peters, The constitutionalisation of international trade law, in: Thomas Cottier/Panagiotis Delimatsis (Hrsg.), The Prospects of International Trade Regulation: From Fragmentation to Coherence, 2011, 69 (76 ff.). Alec Stone Sweet, Constitutionalism, Legal Pluralism, and International Regimes, Ind. J.  Global Legal Stud. 16 (2009), 621 (642), charakterisiert den Appellate Body als Verfassungsgericht. 153  Exemplarisch Klaus Armingeon/Karolina Milewicz/Simone Peter/Anne Peters, ebd., 69. 154  Exemplarisch: WTO Appellate Body, Ber. v. 12.10.1998, WT/DS58/AB/R – United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products. Dazu Robert Howse, The Appellate Body Rulings in the Shrimp/Turtle Case: A New Legal Baseline for the Trade and Environment Debate, Colum. J. Envtl. L. 27 (2002), 491 ff. 155  Dazu Deborah Cass, The „Constitutionalization“ of International Trade Law: Judicial Norm-Generation as the Engine of Constitutionalization, EJIL 13 (2001), 39 ff. 156  Siehe etwa WTO Appellate Body, Ber. v. 04.10.1996, WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/ DS11/AB/R – Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, 15: „The WTO Agreement is a treaty – the international equivalent of a contract. It is self-evident that in an exercise of their sovereignty, and in pursuit of their own respective national interests, the Members of the WTO have made a bargain. In exchange for benefits they expect to derive as Members of the WTO, they have agreed to exercise their sovereignty according to the commitment they have made in the WTO Agremeent.“ 157  ICTY, Appeals Chamber, Urt. v. 20.02.2001, Case No. IT-96-21-A – The Prosecutor v. Zejnil Delalić, Zdravko Mucić, Hazim Delić und Esad Landžo („Ćelebići Case“), Rn. 24. 158  IAGMR, Gut. v. 01.10.1999, Advisory Opinion OC-16/99 – The Right to Information on Consular Assistance in the Framework of the Guarantees of the Due Process of Law, Rn. 61. 159  ICTY, Appeals Chamber, Entsch. über Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction v. 02.10.1995, Case No. IT-94-1-A  – Prosecutor v Dusko Tadic („Prijedor“), Rn.  42 und 45. Gleichzeitig betont das ICTY allerdings, dass er kein „constitutional tribunal“ sei. Ebd., Rn. 20. 152

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der Verwirklichung gemeinsamer Ziele betrautet worden sei.160 Selbst im allgemeinen Völkerrecht, das sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bereits vom Koordinations- zum Kooperationsrecht transformierte,161 lassen sich nunmehr Spuren einer Konstitutionalisierung erkennen,162 etwa in Form der vorsichtigen Herausbildung normenhierarchischer Elemente durch die wachsende Bedeutung von ius cogens-­Recht163 und erga-omnes-Verpflichtungen,164 der Betonung universaler Gemeinschaftsinteressen,165 etwa im Weltraum- und im Seerecht, die Ausweitung des Kreises der Völkerrechtssubjekte über Staaten hinaus sowie der sinkenden Bedeutung des Staatenkonsenses durch die Abschwächung der Voraussetzungen an die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht und die Zunahme multilateraler Vertragswerke.

F. Die Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts Mit der Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnung einher geht ein Prozess der Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts,166 also eine von Norm- und Rechtsprechungswidersprüchen begleitete Aufspaltung des inter- und supranationalen Rechts in diverse sektorielle Teilrechtsordnungen,167 die  IGH, Gut. v. 08.07.1996 – Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict, ICJ Rep. 1996, 66, Rn 19: Das Ziel multilateraler Verträge sei „to create new subjects of law endowed with a certain autonomy, to which the parties entrust the task of realizing common goals“. 161  Grundlegend zum Wandel vom Koordinations- zum Kooperationsrecht: Wolfgang Friedman, The Changing Structure of International Law, 1964, insb. 61 f. 162  Zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts in der deutschen Literatur: Jochen Abr. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts: BerDGV 39 (2000), 427 ff.; Brun-Otto Bryde, Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts, Der Staat 42 (2003), 61 ff.; Robert Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht: JZ 56 (2001), 565 ff.; Andreas Fischer-Lescano, Globalverfassung: ARSP 88 (2002), 349 ff.; Christian Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance, GYBIL 44 (2001), 170 (192 ff.). Zur Kritik an der Verwendung des Begriff der Konstitutionalisierung in diesem Zusammenhang: Rainer Wahl, Konstitutionalisierung  – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: Carl-Eugen Eberle/Martin Ibler/Dieter Lorenz (Hrsg.), FS Brohm, 2002, 191 (199 ff.). 163  Grundlegend zum jus cogens-Recht: Stefan Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992. 164  Dazu Brun-Otto Bryde, Verpflichtungen Erga Omnes aus Menschenrechten, BerDGV 33 (1994), 165 ff. Siehe aus der Rechtsprechung des IGH insb.: IGH, Urt. v. 05.02.1970 – Barcelona Traction, ICJ Rep. 1970, 3 ff., Rn. 32 ff. 165  Siehe IGH, Gut. v. 28.05.1951 – Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, ICJ Rep. 1951, 15 (23): „In such a convention the contracting States do not have any interest of their own; they merely have, one and all, a common interest.“ 166  Zum Zusammenhang zwischen Fragmentierung und Konstitutionalisierung im inter- und supranationalen Recht: Anne Peters, Fragmentation and Constitutionalization, in: Anne Orford/Florian Hoffmann (Hrsg.), The Oxford Handbook of The Theory of International Law, 2016, 1011  ff.; Colin Murray/Aoife O’Donoghue, A path already travelled in domestic orders? From fragmentation to constitutionalisation in the global legal order, ICON (13) 2017, 225 ff. 167  Mit dieser Begriffsbestimmung: Carmen Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Heraus160

F. Die Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts

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verschiedene Sachbereiche zum Gegenstand haben, Handel oder Umwelt, Sport oder Menschenrechte.168 Die daraus resultierende „disorder of orders“,169 die „verwirrende Vielfalt von autonomen, politisch gesetzten Bereichsrechten, ‚self-­ contained regimes‘ und hoch spezialisierten Tribunalen“,170 wird vielfach als Bedrohung für die Einheit des Völkerrechts empfunden, die neben akademischen Kontroversen171 und diversen Warnungen von IGH-Präsidenten172 bereits Anlass zur Einberufung einer internationalen Expertenkommission173 gegeben hat. Bedenklich an dieser Entwicklung ist in der Tat, dass die mit der Fragmentierung im Zusammenhang stehende Verlagerung von sachspezifischen Entscheidungskompetenzen auf spezialisierte inter- und supranationale Regierungsnetzwerke dazu führt, dass Politikprobleme vermehrt von Expertenrunden mit jeweils eigener professioneller Identität gelöst werden: In den WTO-Handelsrunden sitzen vornehmlich Handels- und Wirtschaftsexperten, den unionsrechtlichen Komitologie-Prozess prägen hoch spezialisierte, auf Einvernehmen abzielende Verhandlungen mitgliedstaatlicher Experten, und auch Richter zeichnen sich durch einen charakteristischen Diskurs und eine ihnen eigene Denk- und Arbeitsweise aus. Peter Haas bezeichnet solche Netzwerke als „epistemic communities“, die er charakterisiert als „professionals with recognized expertise and competence in a particular domain and an

forderung für die Staatengemeinschaft, AVR 46 (2008), 1 (3). 168  Simma und Pulkowski charakterisieren das Verhältnis solcher internationalen Partikularregime zur Gesamtordnung des Völkerrechts als Verhältnis zwischen „planets and the universe“, siehe Bruno Simma/Dirk Pulkowski, On Planets and the Universe, EJIL 17 (2006), 483 ff. 169  Neil Walker, Beyond boundary disputes and basic grids: Mapping the global disorder of normative orders, ICON 6 (2008), 373 (376). 170  Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 10. 171  Hier nur eine kleine Auswahl aus der Literatur zum Phänomen der Fragmentierung: Jonathan Charney, International Law and Multiple International Tribunals, RdC 271 (1998), 145 ff.; John Jackson, Fragmentation or a Unification among International Institutions: The World Trade Organization, N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 31 (1999), 823 ff.; Gerhard Hafner, Pros and Cons Ensuing from Fragmentation of International Law, Mich. J. Int’l L. 25 (2004), 849 ff.; Joost Pauwelyn, Bridging Fragmentation and Unity: International Law as a Universe of Inter-Connected Islands, Mich. J. Int’l L. 25 (2004), 903 ff. Siehe aus der deutschsprachigen Literatur insb. Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006; Carmen Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, AVR 46 (2008), 1 ff.; Kristina Bautze, Die Fragmentierungsdebatte, AVR 54 (2016), 91 ff. 172  Stephen Schwebel, Präsident des IGH, Rede vor der UN-Generalversammlung vom 26.10.1999, abrufbar unter: undocs.org/pdf?symbol=en/A/54/PV.39 (30.12.2019); Gilbert Guillaume, Präsident des IGH, Rede vor der UN-Generalversammlung vom 26.10.2000, abrufbar unter: www.icjcij.org/files/press-releases/9/2999.pdf (30.12.2019). 173  Mit der Analyse des Phänomens der Fragmentierung des Völkerrechts wurde eigens eine Arbeitsgruppe der International Law Commission beauftragt, die unter Leitung von Martti Koskenniemi einen Bericht erstellte: International Law Commission, Fragmentation of International Law. Difficulties Arising from the Diversification and Expansion of International Law – Report of the Study Group of the ILC, UN Doc. A/CN.4/L.682 (13.04.2006) = ILC Rep. 2006, GAOR, 61 session, Supplement Nr. 10 (A/61/10), Rn. 233 ff., 400 ff.

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authoritative claim to policy-relevant knowledge within that domain or ­issue-­area“.174 Das Problem dabei ist, dass sich diese epistemologischen Gemeinschaften tendenziell auf eine bestimmte Weltanschauung oder gar die Regulierung eines bestimmten sachspezifischen Sektors beschränken und dabei zugleich dazu neigen, ent­ weder andere Sachprobleme zu vernachlässigen oder völlig aus den Augen zu verlieren.175 Denn kennzeichnend für diese Teilrechtsordnungen ist, dass sie durch verselbstständigte Institutionen vertreten werden, die der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Teilrechtsordnung eng verbunden sind.176 Ihre Repräsentanten teilen tief liegende Werte und Präferenzen, sei es der politische Ethos der Menschenrechtler, sei es der Fokus der Handelsrechtler auf die aggregierten Nutzeffekte des Freihandels, sei es der Glaube der Europarechtler an das europäische Projekt.177 Vor diesem Hintergrund überrascht es dann auch nicht, dass die Rechtsprechungsorgane die Gründungsverträge dieser Teilrechtsordnung evolutiv, dynamisch auslegen, um den zugrunde liegenden Prinzipien und Grundsätzen zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen. Die Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts steht in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Kennzeichnend für moderne Gesellschaften ist ein Prozess funktionaler Ausdifferenzierung.178 Mit der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Sachverhalte einher geht die Spezialisierung und Sektoralisierung gesellschaftlicher Organisationen, Professionen und Diskurse, die sich auch im zivilgesellschaftlichen Kontext abzeichnet, etwa bei der Herausbildung partikularer Weltanschauungen in bestimmten gesellschaftlichen Sektoren, etwa der kosmopolitischen Wirtschaftselite, der sogenannten „yuppie international“,179 oder global operierenden NGOs.180 Diese Entwicklung wurde vom Nationalstaat und seinen auf Gemeinwohl ausgerichteten Institutionen zwar nicht aufgehalten, aber lange zumindest eingehegt. Jenseits des Nationalstaats aber schlägt die gesellschaftliche  Peter Haas, Introduction: Epistemic Communities and International Policy Coordination, IO 46 (1992), 1 ff. 175  Kritisch David Kennedy, Challenging Expert Rule: The Politics of Global Governance, Sydney L. Rev. 27 (2005), 5 ff. 176  Beispiele sind Handelsexperten innerhalb der WTO, Sportfunktionäre im Rahmen internationaler Sportverbände oder Sicherheitsexperten im Sanktionskomitees des UN-Sicherheitsrats. 177  Dazu Martti Koskenniemi/Päivi Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, LJIL 15 (2002), 553 (567 ff.). Reisman beschreibt die Eigenrationalität der Menschenrechtsbewegung im Verhältnis zum allgemeinen Völkerrecht wie folgt: „The international human rights program is more than a piecemeal addition to the traditional corpus of international law, more than another chapter sandwiched into traditional textbooks of international law […] it works qualitative changes in virtually every component.“ Siehe Michael Reisman, Sovereignty and Human Rights in Contemporary International Law, AJIL 84 (1990), 866 (872). 178  Dieser Zusammenhang wird auch in den Schlussfolgerung der ILC-Arbeitsgruppe zur Fragmentierung des Völkerrechts hergestellt: International Law Commission, Fragmentation of International Law. Difficulties Arising from the Diversification and Expansion of International Law – Report of the Study Group of the ILC, UN Doc. A/CN.4/L.682 (13.04.2006) = ILC Rep. 2006, GAOR, 61 session, Supplement Nr. 10 (A/61/10), Rn. 233 (242), 400 (403). 179  Peter Berger, The Four Faces of Global Culture, Nat’l Int. 49 (1997), 23 ff. 180  David Singh Grewal, Network Power, 2008, 282. 174

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Ausdifferenzierung voll durch und wird durch den Globalisierungsprozess noch verschärft.181 Denn hier setzen verselbstständigte inter- und supranationale Institutionen „nur für den einen funktionalen Gesellschaftssektor Recht, mit dem sie strukturell verbunden sind“,182 sei es die WTO für den Handel, sei es die WHO für die Gesundheit. Dies begünstigt die Herausbildung tiefgreifender sozialer Rationalitäten, die Ursache für die Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts ist. In der Konsequenz wird die traditionelle Binnendifferenzierung des Rechts nach dem Prinzip der Territorialität nunmehr von einer sektoriellen Fragmentierung überlagert.183 Zwischen der Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnung und diesem Prozess der Fragmentierung besteht ein unmittelbarer Zusammenhang, der einem geradezu paradox erscheint, wenn man die Affinität des Konstitutionalismus zur Idee eines Gemeinwohls bedenkt.184 Ein solcher Zusammenhang ist aber dennoch unverkennbar, denn die Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnung verfolgt – wie gezeigt185 – gerade auch das Ziel der Autonomisierung und damit der Abgrenzung von den nationalstaatlichen Rechtsordnungen und vom allgemeinen Völkerrecht. Die angestrebte Eigenständigkeit erlangen inter- und supranationale Teilrechtsordnungen und ihre Institutionen aber nur, wenn sie eine über Gesichtspunkte der Funktionalität und Zweckmäßigkeit hinausgehende tiefergreifendere, eben eine konstitutionelle Legitimität für ihren issue-spezifischen Regelungsbereich entwickeln. Dieses Zusammenspiel zwischen Konstitutionalisierung und Abschottung lässt sich gut an der Rechtsprechung inter- und supranationaler Spruchkörper ­beobachten. Ein Beispiel: Im Kadi-Urteil, in dem die Bindung der EU an UN-­ Sicherheitsratsresolutionen zentrale Verfahrensfrage war, betont der EuGH, dass „die Verpflichtungen aufgrund einer internationalen Übereinkunft nicht die Verfassungsgrundsätze des EG-Vertrag beeinträchtigen“ könnten,186 denn die Gemeinschaft sei eine „interne[] und autonome[] Rechtsordnung“,187 in der die Kontrolle der Vereinbarkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane „mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag“188 „Ausdruck einer Verfassungsgarantie in

 Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006.  Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, 137 (151). 183  Ebd., 144. 184  In diesem Sinne auch Martti Koskenniemi, International Law: Constitutionalism, Managerialism and the Ethos of Legal Education, EJLS 1 (2007), 1 (9). 185  Oben Erster Teil, Kap. 2, E. 186  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P; C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission, ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 285. 187  Ebd., Rn. 317. 188  Ebd., Rn. 281. 181 182

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

einer Rechtsgemeinschaft“ sei,189 „die sich aus dem EG-Vertrag als autonomem Rechtssystem“ ergebe und „durch ein völkerrechtliches Abkommen nicht beeinträchtigt“ werden könne.190 Durch derartige konstitutionalistische Rechtfertigungszusammenhänge kann bestimmten konstitutionellen Defiziten durchaus wirksam begegnet werden, etwa in Form eines wirksamen Grundrechtsschutzes durch den EuGH oder durch die Berücksichtigung von Nichthandelsbelangen durch den WTO Appellate Body.191 Andererseits können sie auch zu einer gewissen Selbstbezogenheit der Institutionen der jeweiligen Rechtsordnung beitragen, die die Berücksichtigung und Integration der Belange anderer Rechtsordnungen erschwert. Eine solche Tendenz zur Vermeidung des Umgangs mit den Belangen anderer Rechtsordnungen ist durchaus erkennbar,192 etwa wenn der EuGH im MOX Plant-Fall vor allem die potenzielle Konkurrenz durch andere inter- und supranationale Spruchkörper für seine Gerichtsbarkeit sieht und dabei seerechtliche oder umweltrechtliche Belange ignoriert,193 oder der WTO Appellate Body umweltvölkerrechtlichen Normen Bedeutung zur Lösung eines WTO-Streitbeilegungsverfahrens entweder gar nicht194 oder nur unter sehr engen Voraussetzungen195 beimisst.196

 . Die konstitutionellen Defizite im inter- und G supranationalen Recht Die Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen von nationalstaatlichen auf interund supranationale Institutionen im Zuge des Globalisierungsprozesses stellt die modernen Errungenschaften des politischen Liberalismus, insbesondere die parlamentarische Demokratie und den Grundrechtsschutz, vor große Herausforderungen. Im Verfassungsstaat werden kollektiv-verbindliche Regeln in der Form eines Gesetzes im Parlament durch die vom Volk gewählten Repräsentanten nach öffentlicher Debatte verabschiedet. Zum Schutz gegen grundrechtsbeeinträchtigende  Ebd., Rn. 316.  Ebd. 191  Konstitutionalisierungstendenzen können auch darin bestehen, dass inter- und supranationale Spruchkörper issue-fremde konstitutionelle Belange berücksichtigen, wie etwa die Berücksichtigung von Umweltbelangen durch den WTO Appellate Body im Shrimp-Fall. So zutreffend Geir Ulfstein, The International Judiciary, in: Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 126 (139). 192  So auch Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2002, 248. 193  EuGH, Urt. v. 30.05.2006, Rs. C-459/03  – Kommission v. Irland („MOXX Plant“), ECLI:EU:C:2006:345. 194  Vgl. WTO Appellate Body, Ber. v. 13.02.1998, WT/DS26/AB/R, WT/DS48/AB/R – European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Rn. 123 ff. 195  Vgl. WTO Appellate Body, Ber. v. 07.02.2006, WT/DS291-293/INTERIM – European Communities – Measures Affecting the Approval and Marketing of Biotech Products, Rn. 7.68 ff. 196  Kritisch Martti Koskenniemi, International Law: Constitutionalism, Managerialism and the Ethos of Legal Education, EJLS 1 (2007), 1 ff. 189 190

G. Die konstitutionellen Defizite im inter- und supranationalen Recht

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­ esetze und andere öffentliche Akte steht dem Einzelnen dazu ein umfassendes G Gerichtssystem zur Verfügung, das infolge der grundrechtsfreundlichen Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in hohem Maße gegen Grundrechtsverletzungen sensibilisiert ist. Auf der Folie dieser konstitutionalistischen Maßstäbe, die sich im nationalstaatlichen Rahmen herausgebildet und verfestigt haben, sind die Entscheidungsprozesse und Schutzmechanismen inter- und supranationaler Institutionen defizitär. Zum einen vermitteln inter- und supranationale Entscheidungs­ prozesse regelmäßig nicht dasselbe Maß an demokratischer Legitimation wie nationalstaatliche Entscheidungsprozesse (I.). Zum anderen wird Grundrechtsschutz oft nicht in gleicher Weise gewährleistet wie im Verfassungsstaat (II.).197

I. Defizite der demokratischen Legitimation Wie wir gesehen haben, erzeugen inter- und supranationale Institutionen und Prozesse für immer mehr Sachverhalte Regelungen, die nationalen Regelungen inhaltlich immer mehr gleichen.198 Anstatt sich wie früher in allgemein gehaltenen Formulierungen zu erschöpfen und hauptsächlich die Koordination zwischen Staaten zu regeln, sind diese Regelungen heute oft inhaltlich bestimmt und ihr Regelungsgehalt ist zunehmend auf Individuen ausgerichtet.199 Während sich innerstaatliche und überstaatliche Regelungsgehalte inhaltlich zunehmend angleichen, besteht im Hinblick auf die Art und Weise der Erzeugung der Regelungen ein zentraler Unterschied fort.200 Internationale Rechtssätze werden in aller Regel nicht durch Parlamente, sondern durch Vertreter nationalen Regierungen beschlossen.201 Obwohl  Zwar wäre es zu einfach und zu einseitig, für diese – aus einer konstitutionalistischen Perspektive bedenklichen – Entwicklungen alleine die Ausweitung der inter- und supranationalen Kooperation verantwortlich zu machen. Denn einerseits gibt es auch in der supranationalen Europäischen Union ein funktionsfähiges Parlament, andererseits hat der schleichende Bedeutungsverlust nationaler Parlamente auch innerstaatliche Ursachen, wie die mediale Fokussierung auf die Regierung und den Aufstieg des modernen Verwaltungsstaats. Darüber hinaus leisten insbesondere inter- und supranationale Gerichte wie der EGMR und der IAGMR, aber auch gerichtsähnliche Kommissionen wie der UN-Menschenrechtsrat und diverse UN-Ausschüsse einen gewichtigen Beitrag zur Verbesserung des Grundrechtsschutzes in den Vertragsstaaten. Dennoch fehlt es insbesondere in Fragen der demokratischen Legitimation an einem adäquaten demokratischen Äquivalent im Rahmen inter- und supranationaler Organisationen. 198  Oben Erster Teil, Kap. 2, D., I. 199  Beispiele sind die „smart sanctions“ des UN-Sicherheitsrats wie das Einfrieren der Konten von der Unterstützung des transnationalen Terrorismus verdächtiger Personen sowie die strafrechtliche Verurteilung von Individuen durch den Internationalen Strafgerichtshof und die UN-Kriegsverbrechertribunale. Siehe zu letzterem Pascal Arnold, Der UNO-Sicherheitsrat und die strafrechtliche Verfolgung von Individuen, 1999. 200  Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (915). Zur Legitimationskrise des Völkerrechts: J.H.H.Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, ZaöRV 64 (2004), 547 ff. 201  Kritisch Owen Fiss, The Autonomy of Law, Yale J. Int’l L. 26 (2001), 517 (525 f.): „To embrace 197

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

nationale Regierungen demokratisch gewählt sind, entbehren die intergouvernementalen Entscheidungen zwischen deren Vertretern „einer Legitimation, die auch nur entfernt den Anforderungen der nationalstaatlich institutionalisierten Verfahren genügen würde[]“.202 Das gilt auch für Foren wie die G-8, die G-20 und den Europäischen Rat, in denen Staats- und Regierungschefs wegweisende politische Entscheidungen, die in nationalen Angelegenheiten Parlamente treffen würden, intergouvernemental hinter verschlossenen Türen aushandeln. Inter- und supranationale Entscheidungsprozesse lassen sich daher als exekutivlastig, intransparent und undemokratisch charakterisieren,203 weshalb „Kompetenzverschiebungen von der ­nationalen zur übernationalen Ebene“ zur Bewältigung grenzüberschreitender Probleme „Legitimitätslücken“ aufreißen.204 Das immer wieder beklagte „Demokratiedefizit“ ist Ausdruck einer gefühlten Diskrepanz zwischen dem geringfügigen Einfluss der Bürger auf inter- und supranationale Entscheidungsprozesse einerseits und dem hohen Einfluss der in diesen Entscheidungsprozessen erzeugten Regelungen auf die nationale Rechtsordnung andererseits. Sie findet ihren Ausdruck auch darin, dass das für eine funktionierende Demokratie elementare Prinzip, dass die Bürger ihre Regierung abwählen können, im gegenwärtigen institutionellen Arrangement inter- und supranationaler Organisationen nicht realisierbar zu sein scheint.205 Die Zunahme institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation, die nicht auf parlamentarische Entscheidungsstrukturen ausgerichtet ist, schwächt die Rolle und den Einfluss nationaler Parlamente erheblich. Zwar sind diese durchaus an inter- und supranationalen Entscheidungsprozessen beteiligt: In parlamentarischen Demokratien bedürfen wichtige völkerrechtliche Verträge zur Ratifikation in der Regel der parlamentarischen Zustimmung, informelle Vereinbarungen zwischen Staats- und Regierungschefs müssen gesetzlich nachvollzogen werden.206 Dennoch international human rights tribunals in a similar way, however, we would need political institutions at the international level as democratic in character as we have in the national sphere, for example, a fully democratic world legislature and perhaps a world prime minister or president […]. [W]e [do not] have anything that might remotely resemble world representative institutions. As a result, the international tribunals recently established to protect human rights remain unaccountable to the citizens of the world organized according to democratic principles, and thus should be seen as a loss for democracy even though these tribunals further justice“. 202  Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation, 1998, 91 (109 f.). 203  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (18 f.). 204  Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation, 1998, 91 (109). 205  So im Hinblick auf die EU: J.H.H. Weiler, Deciphering the Political and Legal DNA of European Integration: An Exploratory Essay, in: Julie Dickson/Pavlos Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical Foundations of EU Law, 2012, 137 (140). 206  Im Idealfall, in der Europäischen Union, der zugleich ein beispielloser Ausnahmefall ist, darf ein supranationales Parlament mitentscheiden. Allerdings werden auch hier die im Rahmen des Europäischen Rates von den Staats- und Regierungschefs getroffenen Entscheidungen vom Parlament allzu oft nur abgesegnet.

G. Die konstitutionellen Defizite im inter- und supranationalen Recht

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ist ihre Bedeutung in inter- und supranationalen Zusammenhängen insgesamt sehr begrenzt und der schleichende Bedeutungsverlust real. Erstens sind nationale Parlamente aufgrund der vielfältigen Probleme kollektiven Handelns in inter- und supranationalen Entscheidungsprozessen sowie des oftmals hohen politischen Einigungsdrucks im Regelfall darauf reduziert, den intergouvernemental ausgehandelten Kompromiss abzusegnen. Nach Habermas aber muss der Verdacht „andernorts gefasste Vorentscheidungen nur noch abzunicken […] jede demokratische Glaubwürdigkeit zerfressen“.207 Zweitens dienen völkerrechtliche Verträge, insbesondere Gründungsverträge wie die diversen europäischen Verträge, häufig nur als allgemein gehaltene Kompetenzgrundlage, als eine Art Blankovollmacht208 für weitere konkretisierende Entscheidungen, zum Beispiel dem Erlass von Sekundärrechtsakten durch die EU-Institutionen, an denen die nationalen Parlamente dann nicht mehr beteiligt sind.209 Vor diesem Hintergrund steht außer Frage, dass das Parlament der institutionelle Verlierer der sich stetig ausweitenden institutionalisierten Kooperation jenseits des Nationalstaats ist.210 Die Sicherung unserer parlamentarischen Demokratie ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.211

II. Defizite im Grundrechtsschutz Die exekutivisch dominierten inter- und supranationalen Rechtsetzungsprozesse zeichnet nicht nur ein im nationalstaatlichen Vergleichsmaßstab sinkendes demokratisches Legitimationsniveau aus, sondern auch die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen gegen die durch sie erzeugte Recht sind teilweise defizitär. Der gegen inter- und supranationale Rechtsakte gewährleistete Grundrechtsschutz bleibt allzu oft hinter dem Schutzniveau gegenüber nationalen Rechtsakten zurück. Das liegt  Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 122.  Anne Peters, The Globalization of State Constitutions, in: Janne Nijman/André Nollkaemper (Hrsg.), New Perspectives on the Divide Between National and International Law, 2007, 251 (281 f.). 209  In der EU wurde mit der Einführung des Subsidiaritätsmechanismus im Zuge des Vertrags von Lissabon jedoch ein institutioneller Mechanismus geschaffen, der nationalen Parlamenten ein größeres Mitspracherecht in europäischen Angelegenheiten ermöglichen soll. Dazu Philipp Kiiver, The Early Warning System for the Principle of Subsidiarity. Constitutional Theory and Empirical Reality, 2012. Aus deutscher Perspektive: Christian Calliess, Subsidiaritätskontrolle durch Bundestag, Bundesrat und Landesparlamente, in: Winfried Kluth/Günter Krings (Hrsg.), Gesetzgebung  – Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle, 2013, 563 ff. 210  Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (915 f.). 211  Den Lösungsweg für diese Herausforderung erblickt Habermas in einer Stärkung der Demokratie auf europäischer Ebene. Siehe Jürgen Habermas, Warum der Ausbau der Europäischen Union zu einer supranationalen Demokratie nötig und wie er möglich ist, Leviathan 42 (2014), 524 ff. Skeptisch: Fritz Scharpf, Das Dilemma der supranationalen Demokratie in Europa, Leviathan 43 (2015), 11 ff. 207 208

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einerseits daran, dass es in manchen internationalen Organisationen schon an ­Gerichten mit obligatorischer Zuständigkeit zur Kontrolle grundrechtsbeeinträchtigenden Rechtsakte fehlt. Andererseits haben nationale Gerichte lange aus richterlicher Zurückhaltung von der Überprüfung rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts abgesehen, weil sie sich nicht in den Bereich der auswärtigen Politik einmischen wollten.212 Dabei entspricht der Grundrechtsschutz inter- und supranationaler Organisationen selbst in Zusammenhängen, in denen ein macht­ volles supranationales Gericht besteht, oft nicht dem nationalstaatlichen Grundrechtsschutz. Ein wichtiger Grund für die Defizite im Grundrechtsschutz inter- und supranationaler Organisationen dürfte darin liegen, dass in der fragmentierten Weltgesellschaft internationale Organisationen oft mit bereichsspezifischen Aufgaben betraut werden, die ihre Repräsentanten mit einer eigenen Bereichslogik, aber nur mit eingeschränkter Berücksichtigung bereichsfremder Belange verfolgen.213 Ein gravierendes Beispiel ist das auf zweifelhafter Rechtsgrundlage eingerichtete Sanktionskomitee des UN-Sicherheitsrats, das der Unterstützung von Al-Qaida verdächtige Personen identifiziert, deren Bankkonten eingefroren werden sollen, um die Geldquellen des transnationalen Terrorismus auszutrocknen. Dem von nationalstaatlichen Sicherheitsexperten unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführten Listing-Verfahren mangelte es ursprünglich an grundlegenden rechtsstaatlichen Verfahrensanforderungen für eine solche schwere Eigentumsbeeinträchtigung: Die Entscheidung über die Aufnahme in die Liste wurde nicht begründet, der Betroffene nicht vorab informiert, geschweige denn angehört oder anwaltlich vertreten. Die zunächst einzige Rechtsschutzmöglichkeit bestand in der Hoffnung auf diplomatischen Schutz durch den Heimat- oder Aufenthaltsstaat, der die Entscheidung des Sanktionskomitees womöglich mitgetragen hatte.214 Aber auch im Rahmen der Europäischen Union sind – wenn auch deutlich weniger gravierende  – Defizite im Grundrechtsschutz feststellbar. Die Ursache dafür liegt nicht primär im mangelnden Willen der europäischen Institutionen, Grundrechte effektiv zu schützen, sondern bisweilen an einem immer wieder überraschenden Mangel an Sensibilität in Grundrechtsangelegenheiten. Das hängt entscheidend damit zusammen, dass das gesellschaftliche Großprojekt, mit dem die EU beauftragt ist, in der Errichtung eines gemeinsamen, nationale Grenzen überwindenden Raumes ist, sei es ein europäischer Binnenmarkt, sei es ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Bei der Umsetzung dieser Integrationsvorhaben durch europäische Institutionen werden entgegenstehende Grundrechtsbelange oft nicht in dem gleichem Maße gewürdigt, wie es in den Mitgliedstaaten der Fall wäre.215 Im  Zu diesem traditionellen Standpunkt näher unten Erster Teil, Kap. 5, A.  Zum Phänomen der Fragmentierung oben Erster Teil, Kap. 2, F. 214  Dazu im Einzelnen Clemens Feinäugle, Hoheitsgewalt im Völkerrecht. Das 1267-Sanktionsregime der UN und seine rechtliche Fassung, 2011. 215  Kritisch insbesondere Anneli Albi, An essay on how the discourse on sovereignty and the co-operativeness of national courts has diverted attention from the erosion of classic constitutional rights in the EU, in: Monica Claes/Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning 212 213

G. Die konstitutionellen Defizite im inter- und supranationalen Recht

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Bereich der gemeinsamen Marktorganisation lassen sich hierfür die sogenannten Bananenmarkt- und die Zucker-Sagen anführen, in denen die europäischen Gerichte ernst zu nehmende Grundrechtsbelange mit Verweis auf die Notwendigkeiten der Marktintegration und die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts relativ kurz abhandelte.216 Auf dem Gebiet des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts autorisiert eine europäische Verordnung entgegen dem rechtsstaatlichen Publikationsprinzip die Verabschiedung geheimer, nicht veröffentlichte Vorschriften im Luftverkehrsrecht;217 durch den EU-Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl218 wird der im Binnenmarktrecht für Waren und Dienstleistungen geltende Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf den Bereich der Strafverfolgung übertragen  – und dadurch, gestützt durch eine grundrechtsunsensible Rechtsprechung des EuGH,219 institutionellen Effektivitätsbelangen ein Vorrang vor individu(Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2012, 41 ff.; dies., On secret legislation, blanket data recording, arrest warrants and property rights: Questions on the rule of law and judicial review in the EU in the light of post-communist constitutions, in: Patricia Popelier/Catherine Van De Heyning/Piet Van Nuffel (Hrsg.), Human Rights Protection in the European Legal Order: The Interaction between the European and National Courts, 2011, 173 ff.; dies., From the Banana saga to a Sugar Saga and Beyond: Could the Post-communist Constitutional Courts Teach the EU a Lesson in the Rule of Law?, CML Rev. 47 (2010), 791 ff. Die folgenden Beispiele sind diesen Aufsätzen entnommen. 216  Zur Harmonisierung der sich bis Anfang der 1990er-Jahre signifikant unterscheidenden Zollregime in den Mitgliedstaaten für den Import von Bananen, die mit dem Grundgedanken eines Gemeinsamen Marktes unvereinbar waren, verabschiedete der Rat die Verordnung Nr. 404/93, deren Quotensystem einzelne Bananenimporteure besonders stark und in existenzgefährdender Weise belastete. Die im Verfahren vor dem EuGH gegen die Gültigkeit der Verordnung vorgetragenen Grundrechtsbelange verwarf der Gerichtshof mit dem Argument, dass eine „derartige unterschiedliche Behandlung […] naturgemäß mit dem Ziel einer Integration bisher abgeschotteter Märkte verbunden“ sei. EuGH, Urt. v. 05.10.1994, Rs. C-280/93 – Deutschland v. Rat („Bananenmarktordnung“), ECLI:EU:C:1994:367, Rn.  74. Mit ähnlichen Erwägungen bestätigte das EuG eine durch die Europäische Kommission gegen den damaligen Beitrittskandidaten Estland dafür verhängte Strafe, dass die staatlichen Stellen in Estland keine ausreichenden Maßnahmen zur Reduzierung der Zuckerbestände in estnischen Privathaushalten ergriffen hatte, die im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik vorgeschrieben worden war. EuG, Urt. v. 02.10.2009, Rs. T-324/05 – Gemeinsame Marktorganisation für Zucker, ECLI:EU:T:2009:381. 217  Vgl. EuGH, Urt. v. 10.03.2009, Rs. C-345/06 – Heinrich, ECLI:EU:C:2009:140. Kritisch: Anneli Albi, On secret legislation, blanket data recording, arrest warrants and property rights: Questions on the rule of law and judicial review in the EU in the light of post-communist constitutions, in: Patricia Popelier/Catherine Van De Heyning/Piet Van Nuffel (Hrsg.), Human Rights Protection in the European Legal Order: The Interaction between the European and National Courts, 2011, 173 (181 ff.). 218  Rahmenbeschluss 2002/584/JI, ABlEG 2002 Nr. L 190, 1. 219  Kritisch Daniel Sarmento, Editorial: A court that dare not speak its name: human rights at the Court of Justice, EJIL 29 (2018), 1 ff. Siehe aber mit einem ausgewogeneren Ansatz jüngst EuGH, Urt. v. 05.04.2016, Rs. C-404/15, C-659/15 PPU – Aranyosi, ECLI:EU:C:2016:198; EuGH, Urt. v. 25.07.2018, C-216/18 PPU – LM, ECLI:EU:C:2018:586. Zum ersten Urteil: Kristina Müller, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Einordnung des neuen EuGH-Urteils zum Europäischen Haftbefehl in das grundrechtliche Mehrebenensystem in Europa, ZEuS 19 (2016), 345 ff. Zum zweiten Urteil: Mattias Wendel, Rechtsstaatlichkeitsaufsicht und gegenseitiges Vertrauen  – Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 25.07.2018, Rs. C-216/18 PPU, EuR 2019, 111 ff.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

ellen Grundrechtsbelangen eingeräumt.220 Allerdings tritt der EuGH seit der ­Verbindlicherklärung der Grundrechtecharta durch den Vertrag von Lissabon, ins­ besondere im Bereich des Datenschutzes, verstärkt als Grundrechtsgericht auf, wie sich insbesondere in seiner Rechtsprechung zur unionsrechtlichen Vorratsdatenspeicherung-Richtlinie zeigt, die der Gerichtshof nach einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung mangels hinreichend restriktiver Voraussetzungen für die Speicherung von personenbezogenen Telekommunikationsdaten auf Vorrat aufhebt.221

 . Europäisierung und Internationalisierung H nationaler Rechtsordnungen Die konstitutionellen Defizite im inter- und supranationalen Recht sind nicht neu, in der vernetzten Weltordnung gewinnen sie aber eine neue Bedeutung. Die sich kon­ stitutionalisierenden Rechtsordnungen jenseits des Nationalstaats,222 in denen Parlamente mitentscheiden223 und Gerichte menschenrechtliche Belange schützen, entsprechen den konstitutionalistischen Maßstäben des Verfassungsstaats mehr als das klassische Völkerrecht. Der entscheidende Unterschied zwischen heute und damals liegt aber darin, dass das klassische Völkerrecht von den Staaten kaum verlangt, innerstaatliche konstitutionelle Maßstäbe und Sicherungen zur Umsetzung völkerrechtlicher Regeln einzuschränken. Auch im klassischen Völkerrecht wird der Staat zwar zur Regelbefolgung verpflichtet; wie er diesen Verpflichtungen im innerstaatlichen Recht nachkommt, ist jedoch ihm überlassen. Nur der Staat bestimmt, welchen Bestimmungen seine Bürger und seine Organe Folge leisten sollen. Der Grundsatz nationaler Souveränität schirmt die nationale Rechtsordnung und die in ihrem Rahmen handelnden Rechtssubjekte und Rechtsanwendungsorgane gegenüber den Vorgaben des Völkerrechts durch das rechtliche Konstrukt eines „Souveränitätspanzers“ ab.224 Nach der herrschenden Lehre des Dualismus besteht eine strikte Trennung zwischen nationaler und völkerrechtlicher Rechtsordnung.225  Kritisch Anneli Albi, On secret legislation, blanket data recording, arrest warrants and property rights: Questions on the rule of law and judicial review in the EU in the light of post-communist constitutions, in: Patricia Popelier/Catherine Van De Heyning/Piet Van Nuffel (Hrsg.), Human Rights Protection in the European Legal Order: The Interaction between the European and National Courts, 2011, 173 (185 ff.); Karsten Gaede, Minimalistischer EU-Grundrechtsschutz bei der Kooperation im Strafverfahren, NJW 2013, 1279 ff. 221  EuGH, Urt. v. 08.04.2014, Rs. C-293/12, 594/12 – Digital Rights Ireland und Seitlinger, ECLI:EU:C:2014:238; EuGH, Urt. v. 21.12.2016, Rs. C-203/15, C-698/15 – Tele2 Sverige AB, ECLI:EU:C:2016:970. Siehe zu dem ersten Urteil auch unten Dritter Teil, Kap. 19, A. und B. 222  Oben Erster Teil, Kap. 2, E. 223  Gemeint ist das Europäische Parlament. 224  Mit diesem Begriff Albert Bleckmann, Zur Funktion des Art. 24 Abs. 1 Grundgesetz, in: Kay Heilbronner/Georg Ress/Torsten Stein (Hrsg.), FS Doehring, 1989, 63 (74 ff.). 225  Nach Triepels berühmtem Postulat sind Völkerrecht und Landesrecht „zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden.“ Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht 1899, 111. 220

H. Europäisierung und Internationalisierung nationaler Rechtsordnungen

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­ raktisch bedeutete das, dass die meist abstrakt formulierten, dem Staat einen weiP ten Spielraum einräumenden Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrages einen Rechtsetzungsauftrag für den nationalen Gesetzgeber begründen, dem dieser durch die Verabschiedung eines Gesetzes nachkommt, das Behörden und Gerichte nunmehr ganz wie ein nationales Gesetz behandeln. Kam der Gesetzgeber dem Rechtsetzungsauftrag hingegen nicht nach, verletzte der Staat zwar seine völkerrechtlichen Verpflichtungen; für die nationale Rechtsordnung war dies allerdings weitgehend irrelevant. Das hat sich in erheblichem Maße gewandelt: In der vernetzten Weltordnung sind nationale Rechtsordnungen dem fortschreitenden Prozess der Europäisierung und Internationalisierung unterworfen.226 Auch wenn bereits klassische völkerrechtliche Verträge – über den Umweg des nationalen Inkorporationsakts – Veränderungen nationaler Rechtsvorschriften bedingten, zielen Europäisierung und Internationalisierung auf die Beschreibung der grundlegend veränderten Qualität inter- und supranationaler Rechtsnormen und ihrer Auswirkung auf innerstaatliche Akteure ab. Wie bei der Diskussion über den Prozess der Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen dargelegt wurde, werden inter- und supranationale Rechtsnormen immer präziser und vor allem individualbezogener formuliert227 und zudem in ihrem Bedeutungsgehalt durch Gerichte konkretisiert.228 Das führt vor allem dazu, dass die rechtsanwenden innerstaatlichen Akteure, also die nationalen Gerichte und Verwaltungsstellen, vermehrt in die Strukturen und Prozesse des inter- und supranationalen Rechts eingebunden werden. In supranationalen Zusammenhängen wird dieser Effekt in noch stärkerer Form dadurch erzielt, dass der Einzelne – in Umkehrung eines althergebrachten völkerrechtlichen Grundsatzes – zum Adressaten von Rechten und Pflichten gemacht, ein unmittelbares Rechtsverhältnis zu ihm begründet und damit auch ein Anknüpfungspunkt für nationale Gerichte und Behörde geschaffen wird.229 Während das klassische Völkerrecht für diese Akteure weitgehend irrelevant war, macht es nunmehr aus ihrer Sichtweise kaum mehr einen Unterschied, ob etwa die Europäische Union

 In der Politikwissenschaft wird Europäisierung als Prozess verstanden, in dem europäische Politiken auf verschiedene Weise auf die Logik nationaler Strukturen einwirken und diese verändern. Der Politikwissenschaftler Radaelli etwa definiert Europäisierung als„[p]rocess of (a) construction, (b) diffusion, and (c) institutionalization of formal and informal rules, procedures, policy paradigms, styles, ‚ways of doing things‘, and shared beliefs and norms which are first defined and consolidated in the making of EU public policy and politics and then incorporated in the logic of domestic discourse, identities, political structures, and public policies“. Siehe Claudio Radaelli, The Europeanization of Public Policy, in: Kevin Featherstone/Claudio Radaelli (Hrsg.), The Politics of Europeanization, 2003, 27 (30). Im rechtswissenschaftlichen Kontext beschreibt Europäisierung daran anschließend die Veränderung der Normen und Strukturen der nationalen Rechtsordnung durch europäische Vorgaben. Internationalisierung soll das gleiche Phänomen bezeichnen – mit dem Unterschied, dass die Einwirkung nicht von der EU oder der EMRK, sondern von anderen inter- und supranationalen Rechtsordnungen ausgeht. 227  Oben Erster Teil, Kap. 2, D., I. 228  Oben Erster Teil, Kap. 2, D., II. 229  Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 148 (169). 226

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

oder der Mitgliedstaat gehandelt hat.230 Durch die daraus resultierende Pluralisierung inter- und supranationaler rechtlicher Strukturen und Prozesse verändert sich das Verhältnis zwischen nationalen und inter- und supranationalen Rechtsordnungen grundlegend. Der sogenannte Souveränitätspanzer wird durchbrochen, die nationale Rechtsordnung verliert ihre frühere Autonomie und wird durchlässig. Die Unterscheidung zwischen nationalem und inter- und supranationalem Recht verwischt. Es bedeutet aber auch, dass die angesprochenen konstitutionellen Defizite weitgehend ungefiltert in die nationalen Rechtsordnungen hineinwirken können. Diese Transformation des Verhältnisses zwischen nationaler und supranationaler Rechtsordnung lässt sich nachdrücklich am Beispiel der vom EuGH vorangetriebenen, historisch beispiellosen rechtlichen Integration der Europäischen Union illus­ trieren. Durch die Entwicklung der Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts sowie die Transformation des Vorlageverfahrens in einen effektiven Kontroll- und Durchsetzungsmechanismus schafft der Gerichtshof die Rahmenbedingungen für eine durchgreifende Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Durch den Grundsatz der unmittelbaren Wirkung, den der EuGH in seiner transformatorischen Van Gend en Loos-Entscheidung entwickelt hat,231 wird das Unionsrecht einerseits wie nationales Recht in der nationalen Rechtsordnung durch die Verwaltung und durch die Gerichte anwendbar, ohne dass ein innerstaatlicher Inkorporationsakt erforderlich wäre.232 Der im klassischen Völkerrecht durch Regierung und Parlament vertretene Staat büßt die Kontrolle über die Einwirkung des inter- und supranationalen auf das nationale Recht ein.233 Andererseits ermöglicht der Grundsatz dem EuGH, Interessenallianzen mit nationalen gesellschaftlichen Akteuren zu schmieden – und zwar auch gegen die Interessen der mitgliedstaatlichen Regierung, die der Einzelne nun – funktional als eine Art privater Staatsanwalt234 – vor einem inter- und supranationalen Gericht verklagen kann.235  Ebd., 173.  EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62 – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1. 232  Klassisch: Pierre Pescatore, The doctrine of direct effect. An infant disease of Community law, E.L.Rev. 8 (1983), 155 ff. 233  Nach Niccolaysen bewirkt die unmittelbare Wirkung eine „gerichtlich kontrollierbare und mitgliedstaatlich ungefilterte und ungebremste Anwendung“ gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen durch innerstaatliche Stellen. Gert Nicolaysen, Europarecht, Bd. 1, 2002, 84. 234  J.H.H. Weiler, Cain and Abel – Convergence and Divergence in International Trade Law, in: ders. (Hrsg.), The EU, the WTO, and the NAFTA.  Towards a Common Law of International Trade?, 2000, 1 (1). 235  Mit Van Gend en Loos richtet sich der EuGH an nationale Importeure und Exporteure, um sich diese zu Verbündeten bei der Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarktes zu machen. Robert Keohane/Andrew Moravcsik/Anne-Marie Slaughter, Legalized Dispute Resolution: Interstate and Transnational, IO 54 (2000), 457 (477 f.). Insbesondere betont der EuGH in Van Gend en Loos, dass „die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, […] deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind.“ EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62 – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1, Slg. 1963, 1 (25). Dazu näher Anne-Marie Burley/Walter Mattli, Europe before the Court: A Political Theory of Legal Integration, IO 47 (1993), 41 (60): „[T]he Court created a pro-community constituency of private individuals by giving them a direct stake in promulgation and implementation of community law.“ Zu der durch den 230 231

H. Europäisierung und Internationalisierung nationaler Rechtsordnungen

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Komplettiert wird der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung durch den Vorrang des Unionsrechts. Danach sind die zuständigen nationalen Stellen im Kollisionsfall aufgerufen, die Bestimmungen des Unionsrechts – und nicht die nationalen Vorschriften – anzuwenden.236 Ermöglicht durch die Transformation des Vorlageverfahrens nach Art.  267 AEUV in einen effektiven Kontroll- und Durchsetzungsmechanismus, sichern nationale Richter zudem in einem wechselseitigen Zusammenspiel mit dem Einzelnen und dem EuGH die Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ab. Entscheidend ist dabei, dass durch diese rechtlichen Konstruktionen effektiv die europäische Rechtsordnung Teil der nationalen Rechtsordnung, der nationale zum europäischen Richter und die nationale zur europäischen Verwaltungsstelle wird.237 Insbesondere durch den prozessualen Mechanismus des Vorlageverfahrens, in dessen Rahmen nationale Gerichte Fragen hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts an den EuGH vorlegen können oder sogar müssen, wird der EuGH in die Strukturen und Prozesse der nationalen Rechtsordnung eingebettet.238 Dadurch wird zum einen die Befolgungswahrscheinlichkeit des Unionsrechts beträchtlich erhöht, weil das Urteil durch den nationalen Richter gesprochen wird und nationale Stellen es aufgrund ihrer Sozialisierung gewohnt sind, das innerstaatliche Recht zu befolgen.239 Während das Völkerrecht Normdurchsetzung im Wesentlichen anhand des „com­ pliance-pull“ des Rechts erzeugen muss,240 einer Art psychologischer Verbindlichkeitswirkung, die solche Handlungen legitimiert, die eine Rechtsnorm befolgen und solche delegitimiert, die im Widerspruch zu einer Rechtsnorm stehen,241 kann das Unionsrecht nunmehr auf die äußerst wirksame „infrastructure of government, constitution, courts, and police“ sowie auf die Traditionen der Normbefolgung zurückgreifen, die in nationalen Rechtsordnungen typischerweise nur dem nationalen Recht zur Verfügung stehen.242 Zum anderen werden durch den regelmäßigen Grundsatz der unmittelbaren Wirkung ermöglichten, wenig beleuchteten, aber dennoch bedeutsamen Rolle europäischer Juristen im Europäisierungsprozess: Antoine Vauchez, Brokering Europe. Euro-Lawyers and the Making of a Transnational Polity, 2015. 236  Dieser Anwendungsvorrang des Unionsrechts bedeutet, dass das nationale Recht, das den Vorgaben der europäischen Rechtsordnung entgegensteht, wirksam bleibt. Es ist nur im Kollisionsfall mit europarechtlichen Bestimmungen nicht anwendbar. Ist das Unionsrecht in einer bestimmten Konstellation nicht einschlägig, so ist das nationale Recht wieder anwendbar. 237  Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 148 (177 f.). 238  Zur Frage der Nutzung des Vorlageverfahrens durch nationale Verfassungsgerichte: Unten Kap. 19. 239  J.H.H. Weiler, Deciphering the Political and Legal DNA of European Integration: An Exploratory Essay, in: Julie Dickson/Pavlos Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical Foundations of EU Law, 2012, 137 (155). 240  Thomas Franck, The Power of Legitimacy Among Nations, 1990, 65. Siehe auch Harold Koh, Why Do Nations Obey International Law?, Yale L.J. 106 (1997), 2599 ff. 241  Andrej Lang, „Modus Operandi“ and the ICJ’s Appraisal of the Lusaka Ceasefire Agreement in the Armed Activities Case: The Role of Peace Agreements in International Conflict Resolution, N.Y.U. J. Int’L L. & Pol. 40 (2008), 107 (132 ff.). 242  Thomas Franck, The Power of Legitimacy Among Nations, 1990, 38.

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Kapitel 2: Die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung

­ mgang nationaler Gerichte und Behörden mit dem Unionsrecht SozialisierungsU und Lernprozesse in Gang gesetzt, die nach konstruktivistischen Prämissen identitätsprägend wirken,243 und mit der Zeit zur Internalisierung unionsrechtlicher Prinzipien führen.244

I. Zusammenfassung Im 21. Jahrhundert ist die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation ein prägendes Merkmal politischer Organisation. In Reaktion auf den Prozess der Globalisierung und das daraus resultierende strukturelle Dilemma des territorial organisierten Nationalstaats, immer mehr grenzüberschreitenden Politikproblemen allein immer weniger adäquat begegnen zu können, werden eine Vielzahl unterschiedlicher institutioneller Arrangements geschaffen, die kollektive Regelungen jenseits des Nationalstaats erzeugen. Die Besonderheit inter- und supranationalen Organisationen als Form zwischenstaatlicher Kooperation liegt darin, dass diese durch eigene, von den Mitgliedsstaaten verschiedene Institutionen vertreten werden, die eigenständige Rechtssetzungsbefugnisse haben und einen verselbstständigten institutionellen Willen entwickeln können. Damit wird ein Akteur ins Leben gerufen, der in Folge von Institutionalisierungseffekten bestimmte regionale oder globale gesellschaftliche Großprojekte, wie etwa die europäische Integration, wirksam vorantreibt und der inter- und supranationalen Kooperation eine atemberaubende Dynamik verleiht. Die Strukturen und Prozesse der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation haben tief greifende Auswirkungen auf das Recht jenseits des Staats. Es lässt sich eine zunehmende Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen beobachten, die durch die Gründung einer Vielzahl inter- und supranationaler Gerichte sowie durch die wachsende Bedeutung rechtlicher Strukturen und Diskurse in den internationalen Beziehungen zum Ausdruck kommt. In der Folge wird der Bedeutungsgehalt inter- und supranationaler Normen immer weniger durch Staaten und immer mehr durch Gerichte festgelegt. Die Gründung

 Thomas Risse, Social Constructivism and European Integration, in: Antje Wiener/Thomas Diez (Hrsg.), European Integration Theory, 2004, 159 (163). 244  Eine solche Internalisierung kann eine enorme integrative Dynamik entfalten, wie etwa das Beispiel britischer Gerichte zeigt. Nachdem der EuGH die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts in seinem berühmten Factortame-Urteil auch gegenüber Großbritannien bestätigt hatte, siehe EuGH, Urt. v. 19.06.1990, Rs. C-213/89  – Factortame I, ECLI:EU:C:1990:257, ließ das House of Lords erstmals ein britisches Parlamentsgesetz unangewendet und kippte damit den heiligen Grundsatzes der Parlamentssouveränität, um das Unionsrecht wirksam in der britischen Rechtsordnung durchzusetzen. Siehe House of Lords, Entsch. v. 11.10.1990 – R v. Secretary of State for Transport, ex p. Factortame Ltd (No. 2), UKHL 13 (1990). Dazu Josef Drexl, Was Sir Francis Drake a Dutchman? – British Supremacy of Parliament after Factortame, Am. J. Comp. L. 41 (1993), 551 ff.; Paul Craig, Sovereignty of the United Kingdom Parliament after Factortame, YB Eur. L. 11 (1991), 221 ff. 243

I. Zusammenfassung

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i­nternationaler Gerichte und Tribunale und die Einrichtung verrechtlichter Strukturen und Prozesse begünstigen die Herausbildung konstitutioneller Strukturen und Prozesse. Treibende Kraft hinter dieser Entwicklung sind inter- und supranationale Institutionen, die sich in ihrer Entscheidungspraxis im Streben nach einer vom Staat unabhängigen Legitimation auf konstitutionalistische Prinzipien und Grundsätze berufen. Der Staatenkonsens trägt nicht mehr als alleinige Legitimationsgrundlage. Gründungsverträge werden durch expansive Auslegungsgrundsätze wie den effet utile und das living instrument durch inter- und supranationale Gerichte schöpferisch fortentwickelt. Diese Autonomisierungsbestrebungen können zu einer gewissen Selbstbezogenheit der – dem Selbstverständnis ihrer Teilrechtsordnung verbundenen – Institutionen führen, die die Berücksichtigung rechtsordnungsfremder Belange erschwert und zu einer Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts, also zu einer Aufspaltung dieses in diverse sektorielle Teilrechtsordnungen, beitragen kann. ­Problematisch im Zusammenhang mit dem Fragmentierungsphänomen ist, dass kollektiv-­verbindliche Entscheidungen vermehrt durch sogenannte epistemologische Gemeinschaften getroffen werden, die sich auf die Regulierung eines bestimmten sachspezifischen Sektors beschränken und dabei dazu neigen, sachfremde Probleme zu vernachlässigen. Bedenken begegnet die Ausbreitung der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation auch deshalb, weil die Entscheidungsprozesse und Schutzmechanismen inter- und supranationaler Institutionen im Vergleich zu den demokratischen Standards und Grundrechtsgewährleistungen des demokratisch-rechtsstaatlichen Nationalstaats teilweise defizitär sind. So werden internationale Rechtssätze in aller Regel durch Vertreter nationaler Regierungen beschlossen, die dann von nationalen Parlamenten nur noch nachvollzogen werden. Teilweise steht die spezifische Bereichslogik inter- und supranationaler Institutionen einer Sensibilität in Grundrechtsfragen entgegen. Diese Probleme werden dadurch verschärft, dass konstitutionell defizitäre Rechtssätze infolge der Prozesse der Europäisierung und Internationalisierung weitgehend ungefiltert in die nationalen Rechtsordnungen hineinwirken können. Denn infolge dieser Prozesse wird der sogenannte Souveränitätspanzer der nationalen Rechtsordnung durchlässig und nationale Gerichte und Behörden werden verstärkt zur unmittelbaren Anwendung des supranationalen Rechts aufgefordert. Dies fördert die Normdurchsetzung des interund supranationalen Rechts und setzt Sozialisierungs- und Lernprozesse in Gang; gleichzeitig können aber auch die Defizite des inter- und supranationalen Rechts leichter in die nationale Rechtsordnung hineintransportiert werden.

Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

Wie eingangs dargelegt,1 werden die in Kap. 2 beschriebenen Strukturen und Prozesse als vernetzte Weltordnung konzipiert. Anliegen ist es, ein normativ und deskriptiv gleichermaßen überzeugendes Erklärungsmodell dieser Zusammenhänge zu entwickeln. Dabei erscheint es geboten, zunächst auf vorhandene Theorieangebote zurückzugreifen, um diese dann weiterzuentwickeln. Denn die beschriebenen Entwicklungen stellen nicht nur eine Herausforderung für die Rechtswissenschaften dar, indem sie überkommene, für unser Verständnis vom Recht prägende Unterscheidungen zwischen nationalem und internationalem, öffentlichem und privatem Recht infrage stellen, sondern sie haben auch zur Entwicklung einer Vielzahl anspruchsvoller Theorien und Konzeptionen der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation angeregt, von denen die meisten hier aus Platzgründen gar nicht vorgestellt werden können.2 Auf dieser Grundlage sollen dann in den Kap. 4 bis 8 die Grundlagen der Konzeption der vernetzten Weltordnung entwickelt werden. Im Vordergrund soll in diesem Kapitel die Auseinandersetzung mit drei Ansätzen stehen: dem Mehrebenen-Ansatz (B.), dem Verfassungspluralismus (C.) und der Netzwerktheorie (D.). Diesen Ansätzen liegt im Kern eine Governance-Perspektive zugrunde, d. h., sie überwinden kategoriale Modelle der Über- und Unterordnung und der Trennung zwischen dem nationalen und dem inter- und supranationalen Raum und lenken die Perspektive stattdessen vom Staat auf die wechselseitige Regierungs- und Koordinationstätigkeit einer Vielzahl nationaler und internationaler Institutionen zur kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte.3 Darüber  Oben Einleitung, C.  Mit einem guten Überblick: Neil Walker, Intimations of Global Law, 2014. 3  So überzeugend Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2. Aufl., 2006, 11 (15). 1 2

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_3

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

hinaus nehmen der rechtswissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz und der Verfassungspluralismus im Schwerpunkt das Verhältnis zwischen nationalen Verfassungsgerichten und inter- und supranationalen Akteuren in den Blick, das auch im Zen­ trum dieser Untersuchung steht. Sozial- und rechtswissenschaftliche Netzwerkansätze dagegen sind zwar nicht spezifisch auf das Verhältnis zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen bezogen, allerdings können bestimmte Prämissen und Instrumentarien der Netzwerktheorie auf analytischer Ebene sinnvoll zur Beschreibung und Erklärung der Strukturen und Prozesse der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion herangezogen werden. Bevor diese Ansätze näher un­ tersucht werden, soll jedoch eine kurze Darstellung und Diskussion von zwei miteinander unversöhnbaren Positionen erfolgen, die die akademische Debatte lange beherrscht haben: der Föderalismus und der Intergouvernementalismus (A.). Dies erscheint sinnvoll, weil sich Netzwerk-, Mehrebenen- und Verfassungspluralismus-Ansätze gerade auch als Reaktionen auf diese als unfruchtbar empfundene Dichotomie zwischen den Föderalisten und der Intergouvernementalisten darstellen.

A. Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatz Die akademische Debatte über das Verhältnis zwischen nationalem und inter- und supranationalem Recht bzw. zwischen nationalen und inter- und supranationalen Institutionen, wurde in der Rechts- wie in der Politikwissenschaft lange von zwei widerstreitenden Positionen geprägt, von denen die eine, die vorliegend als Föderalismus bezeichnet wird, allgemein als integrationsfreundlich charakterisiert werden kann, und die andere, der Intergouvernementalismus, als integrationsskeptisch.4 Die hier gewählten Begriffe des Föderalismus und des Intergouvernementalismus stammen aus der Politikwissenschaft, wo sie jeweils für verschiedene Theorien der europäischen Integration stehen.5 Zum Zwecke der grobmaschigen Kategorisierung dieser beiden divergierenden Lager werden die Begriffe des Föderalismus und Intergouvernementalismus hier allerdings weiter gefasst, insbesondere werden auch rechtswissenschaftliche Perspektiven sowie äquivalente Auffassungen außerhalb 4  Alternative – in der Rechtswissenschaft verwendete – Begriffspaare zur Bezeichnung dieser beiden Lager sind „European Constitutional Supremacy“, oder kurz: „ECS“, oder Supranationalismus für die Föderalisten, und „National Constitutional Supremacy“ bzw. „NCS“ oder Etatismus für die Intergouvernementalisten. Mit der Unterscheidung zwischen ECS und NCS: Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (266); mit der Unterscheidung zwischen Supranationalismus und Etatismus: Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (33). 5  Zum politikwissenschaftlichen Kontext: Martin Große Hüttmann/Thomas Fischer, Föderalismus, in: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerche (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Aufl., 2006, 41  ff.; Hans-Jürgen Bieling, Intergouvernementalismus, in: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerche (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Aufl., 2006, 91 ff.

A. Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatz

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des europäischen Kontexts mitumfasst. Zu den Föderalisten zählen neben politikwissenschaftlichen Vertretern6 damit auch integrationsfreundliche Europarechtler,7 in Frankreich „communautaristes“ genannt,8 ebenso wie im globalen Kontext philosophische Konzeptionen einer politischen Organisation im Weltmaßstab9 und Vertreter völkerrechtlicher Konstitutionalisierungsthesen im Sinne einer Hierarchisierung von Normen und Gerichtsbeziehungen.10 Zu den Intergouvernementalisten zählen außer Politikwissenschaftlern11 Verfassungsrechtler, die Globalisierung vornehmlich als Bedrohung staatlicher Souveränität begreifen,12 in Frankreich die „constitutionnalistes“,13 in den USA die „anti- internationalists“.14 Im Folgenden 6  Wie auch in den folgenden Fußnoten exemplarisch: Carl Friedrich, Nationaler und internationaler Föderalismus in Theorie und Praxis, PVS 5 (1964), 154 ff.; Rey Koslowski, Understanding the European Union as a Federal Polity, in: Thomas Christiansen/Knud-Erik Jorgensen/Antje Wiener (Hrsg.), The Social Construction of Europe, 2001, 32 ff.; Wolfgang Wessels, Staat und (westeuropäische) Integration. Die Fusionsthese, in: Michael Kreile (Hrsg.), Die Integration Europas, PVS-Sonderheft 23 (1992), 36 ff. 7  Siehe etwa Ulrich Everling, Zur Stellung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als „Herren der Verträge“, in: Ulrich Beyerlin/Michael Bothe/Rainer Hofmann/Ernst-Ulrich Petersmann (Hrsg.), FS Bernhardt, 1995, 1161 ff.; Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 148 ff. 8  Olivier Beaud, Déficit politique ou déficit de la pensée politique, Le Débat 87 (1995), 45 ff. 9  Ottfried Höffe, Vision Weltrepublik. Eine philosophische Antwort auf die Globalisierung, in: Winfried Brugger/Ulfrid Neumann/Stephan Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 380 ff.; John Dryzek/André Bächtiger/Karolina Milewicz, Toward a Deliberative Global Citizens’ Assembly, Global Policy 2 (2001), 33 ff. 10  Siehe aus der deutschen Literatur insb.: Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926; Christian Tomuschat, International Law as the Constitution of Mankind, in: International Law Commmission (Hrsg.), International Law on the Eve of the Twenty-first Century, 1997, 37 ff.; ders., International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century – General Course on Public International Law, RdC 281 (1999), 9 (10, 25); Jochen Abr. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts: BerDGV 39 (2000), 427 ff.; Christian Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance, GYBIL 44 (2001), 170  ff.; Stefan Kadelbach/Thomas Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht. Zur Konstitutionalisierung im Völkerrecht, AVR 44 (2006), 235 ff.; Thomas Kleinlein, Die Konstitutionalisierung im Völkerrecht. Konstruktion und Elemente einer idealistischen Völkerrechtslehre, 2012; Robert Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht: JZ 56 (2001), 565 ff. 11  Siehe exemplarisch Stanley Hoffmann, Obstinate or Obsolete? The Fate of the Nation State and the Case of Western Euope, Daedalus 95 (1996), 862  ff.; Andrew Moravscik, Negotiating the ­Single European Act. National Interests and Conventional Statecraft in the European Community, IO 45 (1991), 19 ff.; ders., Preferences and Powers in the European Community: A Liberal Intergovernmentalist Approach, JCMS 31 (1993), 473 ff.; Geoffrey Garrett, International Cooperation and Institutional Choice: The EC’s Internal Market, IO 46 (1992), 533 ff. 12  Vgl. Josef lsensee, Nachwort. Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, 103 ff.; Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998. 13  Stellvertretend: Louis Favoreu, L’euroscepticisme du droit constitutionnel, in: Hélène Gaudin (Hrsg.), Droit constitutionnel  – droit communautaire. Vers un respect réciproque mutuel?, 2001, 379 ff. 14  Siehe nur John Yoo, Globalism and the Constitution. Treaties, Non-Self-Execution, and the Original Understanding, Colum. L. Rev. 99 (1999), 1955 ff.; Curtis Bradley/Jack Goldsmith, Treaties,

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

sollen die Hauptaussagen dieser beiden Positionen in zugespitzter Form rekonstruiert werden (I.), um anschließend eine kurze kritische Betrachtung vorzunehmen (II.).

I. Rekonstruktion der Hauptaussagen Im Kern streiten Föderalisten und Intergouvernementalisten um die normative Frage, wo Macht und Kompetenzen vorzugsweise zu allokieren sind: im Nationalstaat oder in der Europäischen Union. Die Föderalisten sehen in der Ausbreitung und Vertiefung institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation nicht nur eine notwendige Reaktion auf den Globalisierungsprozess, sondern eine normativ erfreuliche Entwicklung, die eine institutionelle Sicherung vor den nationalstaatlichen Exzessen des 20. Jahrhunderts bietet. Internationale Organisationen sind aus dieser Perspektive vor allem Garanten für Frieden und Völkerverständigung. Als „international project“15 betreiben Föderalisten das Ziel der Etablierung einer internationalen Rechtsstaatlichkeit und eines universellen, grenzüberschreitenden Menschenrechtsschutzes. Anstatt angesichts des Bedeutungsverlustes des Nationalstaats in Nostalgie zu verfallen, entwerfen sie Visionen alternativer politischer Organisationsformen, sei es eine Weltrepublik,16 sei es eine „Deliberative Weltbürgerversammlung“.17 Kennzeichnend ist dabei im völkerrechtlichen Kontext das Streben nach systemischer Kohärenz und nach Grundzügen einer Normhierarchie.18 Die föderalistische Position manifestiert sich erstens in konstitutionalistischen Interpretationen des Völkerrechts, aus der UN Charta wird das Verfassungsdokument der internationalen Gemeinschaft,19 aus dem Vertragswerk der WTO die ökonomische Human Rights, and Conditional Consent, U. Pa. L. Rev. 149 (2000), 339 ff.; Jack Goldsmith/Eric Posner, Limits of International Law, 2005, insb. 205 ff.; Jeremy Rabkin, Law Without Nations? Why Constitutional Government Requires Sovereign States, 2005; ders., The Case for Sovereignty, 2004. 15  So die Charakterisierung von David Kennedy, Receiving the International, Conn. J. Int’l L. 10 (1994), 1 ff. 16  Vgl. Ottfried Höffe, Vision Weltrepublik. Eine philosophische Antwort auf die Globalisierung, in: Winfried Brugger/Ulfrid Neumann/Stephan Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 380 ff. 17  Vgl. John Dryzek/André Bächtiger/Karolina Milewicz, Toward a Deliberative Global Citizens’ Assembly, Global Policy 2 (2001), 33 ff. 18  de Búrca bezeichnet diese Konzeptionen als „strong constitutionalist approaches to the international order“. Siehe Gráinne de Búrca, The European Court of Justice and the International Legal Order After Kadi, Harv. Int’l L. J. 51 (2010), 1 (12). 19  Siehe u. a. Bardo Fassbender, The United Nations Charter as the Constitution of the International Community 36 Colum. J. Transnat’l L. 36 (1998), 529 ff.; Bardo Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto. A Constitutional Perspective, 1998; Blaine Sloan, The United Nations Charter as a Constitution, Pace Y.B. Int’l L. 1 (1989), 61 ff.; Ronald Macdonald, The Charter of the United Nations in Constitutional Perspective, Austr. Yb. Int’l L. 20 (1999), 205 ff. In diese Richtung auch Pierre-Marie Dupuy, The Constitutional Dimension of the Charter

A. Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatz

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Weltverfassung,20 und aus den unterschiedlichen Akteuren im Völkerrecht die internationale Gemeinschaft,21 zweitens in rechtspolitischen Vorschlägen zur Etablierung einer internationalen Gerichtshierarchie mit dem Internationalen Gerichtshof an der Spitze22 und zur Einrichtung eines Weltgerichtshofs für Menschenrechte,23 und drittens in rechtstheoretischen Argumenten zugunsten eines uneingeschränkten Vorrangs von internationalem vor nationalem Recht.24 Überspitzt kann man sagen: „[A]nything is good, as long as it is international“.25 Intergouvernementalisten dagegen betrachten die wachsende Rolle institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation mit Sorge. Zum einen stoßen die Entscheidungsprozesse in internationalen Organisationen auf erhebliche Skepsis. Im US-amerikanischen Schrifttum werden diese als „bureaucratic, diplomatic, technocratic – everything but democratic“ beschrieben.26 Zum anderen sehen Vertreter dieser staatszentrierten Strömung die demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats in Gefahr, allen voran das demokratische Prinzip. Nach ihrer Überzeugung lässt sich Demokratie nur im Nationalstaat verwirklichen, in inter- und supranationalen Organisationen bestehe ein strukturelles „Demokratiedefizit“.27 Primäres Ziel bei der Gestaltung von global governance muss es daher sein, staatliche Souveränität soweit wie möglich zu wahren. Formen institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation lassen sich daher nur rechtfertigen, soweit inter- und supranationale Institutionen nur bei bestimmten grenzüberschreitenden Aufgaben, die der Staat alleine nicht erfüllen kann, nur unterstützend tätig werden und die „kooperierenden Vertreter der demokratischen Nationalstaaten das Heft fest in der Hand halten“.28 Innerhalb dieser Grundkoordinaten besteht a­ llerdings of the United Nations Revisited, Max Planck UNYB 1 (1997), 1 ff. Für einen frühen internationalistischen Ansatz aus der Wiener Schule um Hans Kelsen: Alfred Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926. Ebenfalls mit einem frühen internationalistischen Ansatz in Hinsicht auf die Vereinten Nationen: Alf Ross, Constitution of the United Nations: Analysis of Structure and Functions, 1950. 20  Siehe Ernst-Ulrich Petersmann, Theories of Justice, Human Rights, and the Constitution of International Markets, Loy. L.A. L. Rev. 37 (2003), 407 ff.; John McGinnis/Mark Movsesian, The World Trade Constitution, Harv L. Rev. 114 (2000), 511 ff. 21  Andreas Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001. Siehe früher bereits Hermann Mosler, The International Society as a Legal Community, RdC 140 (1974), 1 (31 ff.). 22  Vgl. Gilbert Guillaume, The Future of International Judicial Institutions, I.C.L.Q. 44 (1995), 848 (862); Karin Oellers-Frahm, Multiplication of International Courts and Tribunals and Conflicting Jurisdiction – Problems and Possible Solutions, Max Planck UNYB 5 (2001), 57 (91 ff.). 23  Manfred Nowak, The Need for a World Court of Human Rights, Hum. Rts. L. Rev. 7 (2007), 251 ff. 24  Für den Geltungsvorrang des Völkerrechts vor nationalem Recht: Georges Scelle, Règles générales du droit de la paix, RdC 46 (1933-IV) 327 (351 ff.); für den Geltungsvorrang des europäischen Unionsrechts: Eberhard Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966. 25  Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 312. 26  So Jed Rubenfeld, Unilateralism and Constitutionalism, N.Y.U. L. Rev. 79 (2004), 1971 ff. 27  Für Dahrendorf bedeutet Internationalisierung „almost invariably […] a loss of democracy“. Ralf Dahrendorf, The Third Way and Liberty. An Authoritarian Streak in Europe’s New Center, Foreign Affairs 78 (1999), 13 (16). 28  So rekonstruiert diese Position treffend Armin von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV 63 (2003), 853 (868).

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

ein weites Spektrum unterschiedlicher Ansichten, von der Präferenz für eine Rückkehr zum klassischen Koordinationsvölkerrecht souveräner Staaten bis hin zur Unterstützung der europäischen Integration, solange die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ bleiben. Gemeinsam ist die Grundüberzeugung, dass demokratische Legitimation grundsätzlich nur im Staat gewährleistet werden kann. Institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation muss daher begrenzt und von den Mitgliedstaaten gesteuert werden. Im Kontext der Europäischen Union bestehen diese Prämissen im Wesentlichen fort. Im Zentrum der Debatte stehen allerdings Fragen, die den einzigartigen Inte­ grationsgrad der Europäischen Union betreffen, Fragen nach der Finalität der europäischen Integration, der Kompetenz-Kompetenz, dem Vorrang und der institu­ tionellen Letztentscheidungsbefugnis. Dabei orientieren sich jedenfalls in der rechtswissenschaftlichen Diskussion in Deutschland die Positionen an der Rechtsprechung des EuGH und des BVerfG. Im EU-Kontext erkennen auch Vertreter des Intergouvernementalismus den supranationalen Charakter der Europäischen Union an, doch im Unterschied zu den Föderalisten, die die föderalen, konstitutionellen Elemente der Union hervorheben, betonen die Intergouvernementalisten den intergouvernementalen, zwischenstaatlichen Charakter. Sie streichen den völkerrechtlichen Ursprung der Gründungsverträge heraus und umschreiben die Europäische Union – in semantischer Anknüpfung an den losen Staatenbund – als Staatenverbund.29 Dementsprechend wird in der Debatte um eine Europäische Verfassung auf die anspruchsvollen Voraussetzungen einer Verfassung verwiesen.30 Es wird argumentiert, dass die Gründung eines europäischen Bundesstaats und die Verabschiedung einer veritablen Europäischen Verfassung auf der Grundlage der nationalen Verfassung ausgeschlossen sind.31 Mit Blick auf die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen dem EuGH und dem BVerfG sympathisieren die Intergouvernemen-

 Beispiele aus der deutschen Literatur sind: Peter Hommelhoff/Paul Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994; Peter Huber, Der Staatenverbund der Europäischen Union, in: Jörn Ipsen/Hans-Werner Rengeling/Jörg Mössner/Albrecht Weber (Hrsg.), FS Carl Heymanns Verlag, 1995, 349 ff. Für ein Beispiel aus der französischen Literatur: Olivier Beaud, Déficit politique ou déficit de la pensée politique, Le Debat 87 (1995), 45, der die Europäische Union als „Féderation“ in Abgrenzung zum Föderalstaat, dem „Etat fédéral“ bezeichnet. 30  Für diese Position in der deutschen Literatur: Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 50 (1995), 581 ff.; Dieter Grimm, Does Europe Need a Constitution?, ELJ 1 (1995), 282 ff.; in der französischen Literatur: Louis Favoreu, L’euroscepticisme du droit constitutionnel, in: Hélène Gaudin (Hrsg.), Droit constitutionnel – droit communautaire. Vers un respect réciproque mutuel?, 2001, 379 ff. 31  In einer kommunitaristischen Spielart des Intergouvernementalismus wird zudem eine enge Verknüpfung entwickelt zwischen der Demokratie und dem Staatsvolk, verstanden als relativ homogene, geistig, sozial und politisch verbundene Einheit. Demokratie setzt nach dieser Konzeption das Bestehen eines Volkes voraus. Da es kein europäisches Volk, sondern nur die Völker der Mitgliedstaaten gibt, kann die EU trotz eines Europäischen Parlaments nur in sehr begrenztem Maße Legitimation vermitteln. Siehe vor allem Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europä­ ischen Integration, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1993, § 183, Rn. 38. 29

A. Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatz

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talisten mit der im Maastricht-Urteil artikulierten Position des BVerfG:32 Gegründet auf völkerrechtlichen Verträgen ist das europäische Recht danach durch das Zustimmungsgesetz vom nationalen Recht abgeleitet, denn die Grundnorm ist national, dem Unionsrecht fehlt ein autonomer Geltungsgrund.33 Aus diesem Grund müssen die europäischen Institutionen die Bestimmungen der nationalen Verfassung beachten, worüber das BVerfG wacht. Nach Auffassung der Föderalisten steht nationalen Verfassungsgerichten eine Kontrollbefugnis über europäische Rechtsakte nicht zu. In der Ausübung einer solchen erblicken sie eine ernsthafte Bedrohung des europäischen Integrationsprojekts und der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft. Bei Abschluss der europä­ ischen Verträge haben die Mitgliedstaaten eingewilligt, dass der EuGH mit der Aufgabe der Wahrung des Rechts betraut wird. Dessen konstitutionalistische Rechtsprechung unterstützen sie, der EuGH wird als „Motor der Integration“ geschätzt. Nach ihrer Überzeugung ist das europäische Recht nicht oder jedenfalls nicht vollständig von der nationalen Rechtsordnung abgeleitet, sondern vielmehr hat sich die Europäische Union von ihrer völkerrechtlichen Herkunft gelöst und durch einen „Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt“34 eine „autonome Gemeinschaftsrechtsordnung geschaffen, deren Geltungsgrund nicht mehr im Vertragsschluss liegt, sondern in der originären öffentlichen Unionsgewalt“.35 Das Projekt eines europäischen Bundesstaats erachten die Föderalisten als grundsätzlich erstrebenswert, auch wenn es nach ihrer Auffassung nicht notwendig mit der Auflösung der europäischen Nationalstaaten einhergehen muss.36

II. Kritische Betrachtung Die Positionen des Föderalismus und des Intergouvernementalismus haben beide normativ einen gewissen Reiz und sind empirisch begründbar. Für die Position der Intergouvernementalisten lassen sich aus einem normativen Blickwinkel anführen: die demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats, die nach konstitutionalistischen Maßstäben teilweise defizitären Entscheidungsprozesse in internationalen Organisationen, sowie aus einer deskriptiven Perspektive die nach wie vor zentrale Rolle staatlicher Akteure in den internationalen Beziehungen. Für die Position der Föderalisten sprechen die explosionsartige Ausbreitung internationaler Organisationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die b­ emerkenswerten  Paul Kirchhof war der Berichterstatter des Maastricht-Urteils und hat die dort zum Ausdruck gebrachte Position des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich mitverfasst. 33  Siehe Marcel Kaufmann, Permanente Verfassungsgebung und verfassungsrechtliche Selbstbindung, Der Staat 36 (1997), 521 (543). 34  Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 58. 35  Ebd., 195. 36  Vgl. Carl Friedrich, Nationaler und internationaler Föderalismus in Theorie und Praxis, PVS 5 (1964), 154 ff. 32

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

Fortschritte im weltweiten Menschenrechtsschutz und im Abbau von Handelshemmnissen, sowie das einzigartige europäische Integrationsprojekt, in dem supranationale Kooperation einem durch Kriege und Nationalismus zerstörten Kontinent zu einer im historischen Vergleichsmaßstab einzigartigen Phase von Frieden und Wohlstand verholfen hat. Beide Lager können aber nur eine und nicht die andere Seite derselben Medaille adäquat erklären: Der staatszentrierte Intergouvernementalismus nicht die Notwendigkeit einer zentralen Rolle der institutionalisierten inter- und supranationaler Kooperation in einer globalisierten Welt, der kosmopolitische Föderalismus nicht die fortbestehende Bedeutung staatlicher Akteure im inter- und supranationalen Kontext. Das zentrale Problem des Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatzes ist, dass beide Seiten in ihren Debatten über Fragen nach der Kompetenz-­ Kompetenz, der institutionellen Letztentscheidungsbefugnis und dem Vorrang auf eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwischen nationalen und inter- und supranationalen Rechtsordnungen und Akteuren abzielen.37 Beide befürworten im Grundsatz eine Hierarchie: die Föderalisten zugunsten des inter- und supranationalen Rechts, die Intergouvernementalisten zugunsten des nationalen Rechts. Das Problem ist, dass sich das Verhältnis zwischen dem nationalen und dem inter- und supranationalen Recht, zwischen nationalen und inter- und supranationalen Akteuren nicht mehr plausibel als hierarchisch beschreiben lässt.38 Die institutionelle Realität ist geprägt von unaufgelösten Streitigkeiten zwischen nationalen und inter- und supranationalen Gerichten, „die eine ‚ultimate rule of recognition‘ nicht hervorbringen“,39 von einem Bild „der ‚Verzahnung‘, des gegenseitigen Aufeinander-Angewiesenseins und, damit, des Zusammenwirkens“,40 das sich als Folge des Prozesses der Europäisierung und Internationalisierung für das Verhältnis zwischen nationalen und inter- und supranationalen Rechtsordnungen ergibt. Im Grunde scheinen Föderalisten und Intergouvernementalismus um die normative Frage zu streiten, wie das Verhältnis in der Zukunft ausgestaltet sein sollte. Was aber ist, wenn sich die gegenwärtige institutionelle Praxis in naher Zukunft nicht mehr grundlegend ändert, wenn der Widerstreit zwischen internationa37  Mit dieser Beobachtung auch Shu-Perng Hwang, Der deutsche Verfassungsstaat im europäischen Mehrebenensystem: Überlegungen zur Auseinandersetzung zwischen den integrationsfreundlichen und -skeptischen Ansätzen, EuR 2015, 703 (711 ff.). 38  Anne Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Klaus Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, 535 (542). Für diese These spricht übrigens auch die Schlussfolgerung von Folz, der die Positionen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts auf ihre logische Schlüssigkeit auf der Grundlage der Normen ihrer jeweiligen Rechtsordnung hin untersucht hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass beide Positionen in sich schlüssig und überzeugend sind. Siehe Hans-Peter Folz, Demokratie und Integration: Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof über die Kontrolle der Gemeinschaftskompetenzen – Zum Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Legitimation und Autonomie supranationaler Rechtsordnung, 1999. 39  Andreas Fischer-Lescano/Ralph Christensen, Auctoritatis interpositio. Die Dekonstruktion des Dezisionismus durch die Systemtheorie, Der Staat 44 (2005), 213 ff. 40  Pierre Pescatore, Das Zusammenwirken der Gemeinschaftsrechtsordnung mit den nationalen Rechtsordnungen, EuR 5 (1970), 307 (308).

A. Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatz

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len O ­ rganisationen und ihren Mitgliedstaaten, zwischen staatlicher Souveränität und inter- und supranationalem Gemeinschaftsinteresse fortbesteht,41 was also ist „if this is as good as it gets“?42 Wenn wir die Unaufgelöstheit der Frage um das Verhältnis zwischen nationalen und inter- und supranationalen Rechtsordnungen und Akteuren als institutionalisierten Ausdruck einer Weltgesellschaft betrachten, die sich nicht zwischen dem nationalstaatlichen Konstitutionalismus und der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation als Mittel gegen die Globalisierung entscheiden will, dann können die konventionellen Erklärungsansätze des Föderalismus und des Intergouvernementalismus, die tendenziell nationale und inter- und supranationale Institutionen und Prozesse gegeneinander ausspielen und als Nullsummenspiel konzipieren,43 die institutionelle Praxis in der vernetzten Weltordnung nicht mehr adäquat erklären.44 Denn genauso wenig wünschenswert wie eine ungehemmte Übertragung von Kompetenzen auf inter- und supranationale Institutionen wäre ein demokratietheoretisch begründeter, uneingeschränkter Vorrang des nationalen Rechts vor dem internationalen Recht. Es ergibt also keinen Sinn, konzeptionell Hierarchien zu etablieren, wo in der Realität keine Hierarchien zu finden sind. Stattdessen sollte ein Verständnis des Zusammenspiels nationaler und inter- und supranationaler Institutionen und Prozesse entwickelt werden, das Raum lässt für Heterarchie, Inkohärenz und die Möglichkeit unaufgelöster Normkonflikte.45 Denn es ist schon zweifelhaft, ob eine Hierarchisierung überhaupt wünschenswert ist, mit anderen Worten, ob die Belange der Rechtseinheit und Widerspruchsfreiheit normativ von so elementarer Bedeutung sind, dass sie die Belange überwiegen, die hinter der Offenheit der gegenwärtigen Verhältnisse, dem zu beobachtenden Pluralismus der Rechtsordnungen, stehen, wie ein rechtsordnungsübergreifendes System der „checks and balances“46 und die Akzeptanz unterschiedlicher, aber gleichberechtigter „Gerechtigkeitsperspektiven“,47 die

 Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 5.  Pointiert: Miguel Maduro, Europe and the Constitution: What If This Is As Good As It Gets?, in: Marlene Wind/J.H.H. Weiler (Hrsg.), Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74 ff. 43  Kritisch Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 309. 44  Treffend Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (39): „So gesehen, konkurriert die Autonomie der Union mit der Souveränität der Mitgliedstaaten. Herkömmlich wird angenommen, wenn erstere autonom sei, verlören letztere ihre Souveränität, oder: Wenn die Union Autonomie gewänne, seien die Mitgliedstaaten nicht mehr die Herren der Verträge. Genau dieser Punkt ist es, der die Autonomie so zentral für die Konstitutionalisierungsdiskussion erscheinen lässt. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass durch die Einbindung eines Staates in eine internationale Organisation beide Seiten gewinnen und verlieren; mit anderen Worten, dass keine Übertragung oder Verschiebung, sondern eine qualitative Veränderung von Souveränität stattfindet.“ 45  Vgl. David Kennedy, The Mystery of Global Governance, Ohio N.U.  L. Rev. 34 (2008), 827 (848 f.). 46  Miguel Maduro, Three Claims of Constitutional Pluralism in: Matej Avbelj/Jan Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, 67 (79). 47  Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 68. 41 42

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

sich in einem rechtsordnungsübergreifenden konstitutionellen Dialog miteinander arrangieren.48

B. Mehrebenen-Ansatz Der Mehrebenen- oder Multi-Level-Governance-Ansatz erfreut sich in den Teilen der deutschen Verfassungswissenschaft großer Beliebtheit, die sich mit dem Phänomen der Europäisierung und Internationalisierung der nationalen Rechtsordnung und der Transformation des Staats im Globalisierungsprozess auseinandersetzt.49 Zahlreiche Monografien verwenden den Mehrebenenbegriff in ihrem Titel.50 Darüber hinaus stellt sich auch der Verbund-Begriff als konzeptionelle Weiterentwicklungen dar, für den insbesondere Ingolf Pernices „Europäischer Verfassungsverbund“51 und Andreas Voßkuhles „Europäischer Verfassungsgerichtsverbund“52 stehen.53 Während der Mehrebenen-Ansatz in seiner ursprünglichen Ausgestaltung vorrangig darum bemüht ist, einen neutralen analytischen Rahmen zum Zusammenwirken nationaler sowie inter- und supranationaler Institutionen und Rechtsordnungen zu stellen, kennzeichnet die Verbund-Konzeptionen Pernices und Voßkuhles eine deutlich normativere Ausrichtung.

 Dieses normative Argument für eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion wird unten Erster Teil, Kap. 4, A., II. eingehender entwickelt. 49  Siehe nur die Nachweise bei Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 32, Fn. 56 und 57; Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, 77, Fn. 73 und 74. 50  Siehe exemplarisch Franz Mayer, ebd.; ders., Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit. Gerichtliche Letztentscheidung im europäischen Mehrebenensystem, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, 229 ff.; Heiko Sauer, ebd.; Kristin Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System, 2009; Meike Hentschel-Bednorz, Derzeitige Rolle und zukünftige Perspektive des EuGH im Mehrebenensystem des Grundrechtsschutzes in Europa, 2012; Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt. Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem, 2004; Frank Meyer, Strafrechtsgenese in internationalen Organisationen. Eine Untersuchung der Strukturen und Legitimationsvoraussetzungen strafrechtlicher Normbildungsprozesse in Mehrebenensystemen, 2012; Andrea Edenharter, Grundrechtsschutz in föderalen Mehrebenensystemen, 2018. 51  Ingolf Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: Roland Bieber/Pierre Widmer (Hrsg.), L’espace constitutionnel européen. Der Europäische Verfassungsraum. The European constitutional area, 1995, 225 (261 ff.); ders., Theorie und Praxis des Europäischen Verfassungsverbundes, in: Christian Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007, 61 ff.; ders., Multilevel Constitutionalism in the European Union, E.L.Rev. 5 (2002), 511 ff. 52  Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff. 53  Zum Verbund-Begriff: Christoph Schönberger, Die Europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), 81 ff. Vgl. auch Christian Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staatenund Verfassungsverbund, 2007. 48

B. Mehrebenen-Ansatz

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Ein Grund für die Popularität des Mehrebenen-Ansatzes scheint darin zu liegen, dass dieser auf die Überwindung des klassischen, vielfach als unfruchtbar empfundenen Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatzes abzielt. Der Begriff des Mehrebenensystems, der ursprünglich aus der Politikwissenschaft stammt und dort von Gary Marks eingeführt wurde,54 wird meist im Zusammenhang mit dem besonderen institutionellen Arrangement der Europäischen Union verwendet, das auch schon als „first truly post-modern political form“,55 als „fusionierter Föderalstaat“,56 als „Community-wide political system in which state sovereignty is both pooled and shrunk“,57 als „Verflechtungssystem“58 und als „Verbundsystem“59 bezeichnet wurde.60 Im Gegensatz zu einigen dieser Begriffsschöpfungen sollen der politikwissenschaftliche wie auch der rechtswissenschaftliche Mehrebenenbegriff das herkömmliche, auf den Staat zugeschnittene Begriffsrepertoire ersetzen, um die Entwicklungsoffenheit und Neuartigkeit dieser institutionellen Strukturen der Europäischen Union adäquater zu erfassen.61  Gary Marks, Structural Policy and Multilevel Governance in the EC, in: Alan Cafruny/Glenda Rosenthal (Hrsg.), The State of the European Community, 1993, 391 (392): „I suggest that we are seeing the emergence of multilevel governance, a system of continuous negotiation among nested governments at several territorial tiers – supranational, national, regional, and local – as the result of a broad process of institutional creation and decisional reallocation that has pulled some previously centralized functions of the state up to the supranational level and some down to the local/ regional level.“ Die Verwendung des Begriffs der „multi-layered governance“ findet sich bereits bei Philippe Schmitter, Representation and the Future Euro-Polity, Staatswissenschaften und Staatspraxis 3 (1992), 378 (381). 55  John Ruggie, Territoriality and Beyond: Problematizing Modernity in International Relations, IO 47 (1993), 139 (173). 56  Wolfgang Wessels, Staat und (westeuropäische) Integration. Die Fusionsthese, in: Michael Kreile (Hrsg.), Die Integration Europas. PVS-Sonderheft 23 (1992), 36 (40). 57  Robert Keohane/Stanley Hoffmann, Institutional Change in Europe in the 1980s, in: dies. (Hrsg.), The New European Community: Decisionmaking and Institutional Change, 1991, 1 (30). 58  Fritz Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, PVS 26 (1985), 323 ff. 59  Rudolf Hrbek, Deutungen und Perspektiven aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: ders. (Hrsg.), Die Entwicklung der EG zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion unter der Sonde der Wissenschaft, 1993, 81 (85). 60  Der Mehrebenenbegriff hat seine konzeptionellen Ursprünge im Politikverflechtungsansatz von Fritz Scharpf. Siehe Fritz Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976; ders., Die Theorie der Politikverflechtung. Ein kurzgefaßter Leitfaden, in: Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Politikverflechtung im föderativen Staat, 1978, 21 ff. Danach kennzeichnet Politikverflechtung ein politisches System, in dem rechtlich autonome Ebenen faktisch aufeinander angewiesen sind. Alle wesentlichen politischen Entscheidungen werden nicht eigenständig und getrennt gefällt, sondern nur im Verbund der verschiedenen Systemebenen ausgehandelt. Der Mehrebenen-Ansatz knüpft an die analytischen Erkenntnisse der Föderalismusforschung an und sucht die Kontinuität zu den bislang im Nationalstaat angesiedelten Ebenen der Entscheidungsfindung und Aufgabenerfüllung, der (mindestens) eine weitere, oberhalb des Nationalstaats angesiedelte Ebene zugefügt wird. Siehe Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, 475 f. 61  Siehe Utz Schliesky, ebd., 473; Franz Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, 229 (266 f.); 54

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

I . Überwindung des Föderalismus-­IntergouvernementalismusGegensatzes Im Gegensatz zu intergouvernementalistischen Ansätzen geht der Blick des Mehrebenen-­Ansatzes weg von der Betrachtung des Staats als maßgebliche politische Einheit, hin auf das aus den verschiedenen Ebenen und unterschiedlichen In­ stitutionen bestehende Ganze des politischen Systems der EU und die Verbindungen und Verflechtungen zwischen den verschiedenen politischen Ebenen.62 Im Unterschied zu föderalistisch orientierten Ansätzen lässt sich der Mehrebenen-Ansatz nicht von bundesstaatlichen Leitbildern leiten und klammert Fragen nach der Finalität der europäischen Integration bewusst aus.63 Vielmehr wird der Fokus weg von der Frage, wer die treibende Kraft im europäischen Integrationsprozess ist, hin zu einer Analyse der bestehenden Governance-Strukturen innerhalb der EU gerichtet.64 Denn im Gegensatz zum Föderalismus, aber auch zum Intergouvernementalismus und zum Verfassungspluralismus versteht sich der Mehrebenen-Ansatz nicht als normative Konzeption der EU, sondern vor allem als neutraler analytischer Rahmen für die bestehenden engen wechselseitigen Verschränkungen zwischen europä­ischer und nationaler Ebene.65

II. Der politikwissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz Der politikwissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz beruht auf und ist ausdrücklich assoziiert mit der Governance-Forschung.66 Darin liegt auch sein entscheidender Vorzug. Der Begriff „Governance“ oder „Regieren“, der sich in den vergangenen ders., Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 51 f., der den Begriff als „neutraler ‚Platzhalter‘ zur Vermeidung von theoretischen Festlegungen außerhalb der jeweils in den Blick genommenen spezifischen theoretischen Fragestellungen“ beschreibt. Ebd. 62  Rainer Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, 46. 63  Michèle Knodt/Martin Große Hüttmann, Der Multi-Level-Governance-Ansatz, in: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Aufl., 2006, 223 (229). 64  Paul Craig/Gráinne de Búrca, EU Law. Text, Cases, and Materials, 5. Aufl., 2011, 3. 65  Thomas König/Elmar Rieger/Hermann Schmitt, Einleitung der Herausgeber, in: dies. (Hrsg.), Das europäische Mehrebenensystem, 1996, 13 (15). Zustimmend Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 32. 66  Siehe für einen Überblick zur Governance-Forschung, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität erhebt: Arthur Benz/Susanne Lütz/Uwe Schimank/Georg Simonis (Hrsg.), Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, 2007; Edgar Grande/Stefan May, Perspektiven der Governance-Forschung, 2009; Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2.  Aufl., 2006; ders., Governance und Rechtsetzung. Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, 2011; Arthur Benz/Nicolai Dose, Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, 2. Aufl. 2010. Mit einer kritischen Betrachtung zur Governance-Forschung: Christoph Möllers, European Governance: Meaning and Value of a Concept, CML Rev. 43 (2006), 313 ff.

B. Mehrebenen-Ansatz

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Jahren zu einem „der wichtigsten und vielversprechendsten Forschungsschwerpunkte in den Sozialwissenschaften“ entwickelt hat,67 dient als interdisziplinäres Brückenkonzept,68 das kategoriale Unterscheidungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen, nationalen und internationalen Akteuren überwindet und stattdessen die Gesamtheit der Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte in den Blick nimmt. Renate Mayntz definiert Governance als das „Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte von der institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Selbstregelung über verschiedene Formen des Zusammenwirkens staatlicher und privater Akteure bis hin zu hoheitlichem Handeln staatlicher Akteure“.69 Der Governance-Ansatz ist im Kern „eine institutionalistische Denkweise“, die primär Regelungsstrukturen und ihre Wirkung auf das Handeln von Akteuren analysiert.70 Dementsprechend ist für die Governance-Forschung die maßgebliche Analyseeinheit auch nicht in erster Linie der „Staat“ als unitarischer Akteur, sondern das differenzierte Geflecht unterschiedlicher Institutionen.71 Anliegen ist es, die unterschiedlichen Formen und Mechanismen der Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteuren zu untersuchen, mit anderen Worten: die Strukturen der Interaktion.72 Damit weist der Governance-Ansatz, wie wir noch sehen werden, eine besondere Nähe zu Netzwerktheorien auf.73 Bei beiden Konzeptionen steht die Analyse der Strukturen der Interaktion zwischen einer Vielzahl betroffener Akteure im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Beide Begriffe schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können sich gegenseitig ergänzen: Mehrebenenansätze können auf die analytischen Grundannahmen der Netzwerkforschung zurückgreifen und Netzwerkansätze können den analytischen Referenzrahmen des governance-Konzepts integrieren.74 Der  Gunnar Folke Schuppert, Governance-Forschung: Versuch einer Zwischenbilanz, Der Staat 44 (2011), 273 ff. 68  Gunnar Folke Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders. (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2.  Aufl., 2006, 371 (373). 69  Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2. Aufl., 2006, 11 (15). Ganz ähnlich Zürn, der Governance als die „Gesamtheit der kollektiven Regelungen, die auf eine bestimmte Problemlage oder einen bestimmten gesellschaftlichen Sachverhalt zielen und mit Verweis auf das Kollektivinteresse der betroffenen Gruppe gerechtfertigt werden“ definiert. Siehe Michael Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt – eine Zwischenbilanz, in: Gunnar Folke Schuppert/Michael Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, PVS-Sonderheft 41 (2008), 553 (554). 70  Renate Mayntz, ebd., 14. 71  Ebd., 15; Michèle Knodt/Martin Große Hüttmann, Der Multi-Level-Governance-Ansatz, in: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Aufl., 2006, 223 (227). 72  Gunnar Folke Schuppert, Governance-Forschung: Versuch einer Zwischenbilanz, Der Staat 44 (2011), 273 (278). 73  Eingehend zur Netzwerktheorie unten Erster Teil, Kap. 3, D. 74  Siehe insbesondere Ingolf Pernice, La Rete Europea di Costituzionalità – Der Europäische Verfassungsverbund und die Netzwerktheorie, ZaöRV 70 (2010), 51 ff. 67

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

gängige Begriff der network governance steht exemplarisch für die Vereinbarkeit von Netzwerk- und Mehrebenenansätzen75

III. Der rechtswissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz Die deutsche Rechtswissenschaft hat den sozialwissenschaftlichen Mehrebenen-­ Ansatz insbesondere in Hinsicht auf die Europäische Union aufgegriffen. Dabei erscheint gerade der Perspektivenwechsel, den die Governance-Forschung vollzieht, besser als das Denken in Über- und Unterordnung geeignet, um dem unaufgelösten Streit um die Fragen der Letztentscheidung und der Kompetenz-­Kompetenz und der augenscheinlichen Autonomie der europäischen und den nationalen Rechtsordnungen Rechnung zu tragen. Der rechtswissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz, zu dessen Konturierung und Konzeptualisierung insbesondere Franz Mayer und Christoph Möllers beigetragen haben, ist ausdrücklich mit dem Governance-­ Konzept assoziiert (1.), im Vergleich mit der Netzwerktheorie ist er jedoch nicht vorzuziehen, weil er durch die Konstruktion einheitlicher Ebenen die vielfältigen institutionellen Verflechtungen und funktionellen Bereichslogiken zwischen den und innerhalb der „Ebenen“ überdeckt (2.). 1. Rekonstruktion der Hauptaussagen Mayer und Möllers zufolge setzt das Bestehen eines Mehrebenensystems die Existenz von mindestens zwei Ebenen voraus, die in einer tatsächlichen und rechtlichen Beziehung zueinanderstehen. Bei der Rekonstruktion wird deswegen zunächst auf das Verständnis des Ebenenbegriffs bei Mayer und bei Möllers eingegangen (a.), bevor die Ausführungen zum Verhältnis der Ebenen zueinander besprochen werden (b.).

 R.A.W. Rhodes, Understanding Governance. Policy Networks, Governance, Reflexivity and Accountability, 1997; Rainer Eising/Beate Kohler-Koch, Introduction. Network Governance in the European Union, in: Beate Kohler-Koch/Rainer Eising (Hrsg.), The Transformation of Governance in the European Union, 1999, 3 ff.; Tanja Börzel, European Governance. Markt, Hierarchie oder Netzwerk?, in: Gunnar Folke Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, 613 (623 ff.). Das hängt damit zusammen, dass beide Ansätze den nicht-hierarchischen Charakter modernen Regierens betonen. Rhodes etwa definiert Governance als eine grundsätzlich nicht-hierarchische Form des Regierens, bei der private Akteure im Prozess der Koordination und der Entscheidungsfindung aktiv mitwirken. Vgl. R.A.W. Rhodes, Understanding Governance. Policy Networks, Governance, Reflexivity and Accountability, 1997. Zwar ist dieses Verständnis der Governance zu eng, wenn sie – natürlich immer noch präsente – Formen hierarchischen Regierens begrifflich ausschließt. Rhodes Verständnis belegt allerdings exemplarisch die Nähe der Prämissen und des Erkenntnisinteresses zwischen sozialwissenschaftlichen Governanceund Netzwerkansätzen.

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B. Mehrebenen-Ansatz

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a. Ebenenbegriff Dem Begriff der Ebene kommt eine zentrale Bedeutung zu, denn konzeptionell entscheidet er darüber, ob ein bestimmte inter- und supranationaler Rechtsbestand Teil eines Mehrebenensystems sein kann oder nicht. Im Rahmen seiner Legitimationstheorie der Gewaltengliederung vertritt Möllers einen „engen Ebenenbegriff“, der – angelehnt an den Erfahrungshintergrund der Europäischen Union  – den Bestand einer Ebene davon abhängig macht, dass „ein bestimmter Rechtsbestand damit beginnt, eigene verfestigte Legitimationsmechanismen zu entwickeln“.76 Das ist nach Möllers dann der Fall, wenn die Rechtserzeugung im demokratischen Verfahren erfolgt oder dem Einzelnen subjektive Rechte eingeräumt werden.77 Entscheidend ist dabei, dass der Rechtsbestand einen gewissen Grad an Verselbstständigung erlangt hat,78 die Kehrseite der Entkoppelung von einer anderen Rechtsordnung, einer anderen Ebene ist.79 Möllers engem Ebenenbegriff steht ein von Mayer vertretener „weiter Ebenenbegriff“ gegenüber, dem zufolge eine Ebene dann konstituiert wird, wenn ein Verband zumindest mit abgeleiteter Entscheidungskompetenz ausgestattet ist und ein gewisses Maß an rechtlich-organisatorischer Verselbstständigung aufweist.80 Mayer und Möllers sind sich also darin einig, dass es eines gewissen Grades an Verselbstständigung bedarf, um vom Vorliegen einer Ebene ausgehen zu können,81 sie bestimmen das Kriterium der Verselbstständigung jedoch unterschiedlich. Im Un­ terschied zu Möllers stellt Mayer nicht auf den Rechtsbestand als die Ebene konstituierende Größe ab, die verselbstständigt sein muss, sondern auf den Verband.82 Mayer versteht Verselbstständigung also vorwiegend institutionell: mit dem Begriff des Verbandes und dem Kriterium der rechtlich-organisatorischen Verselbstständigung, oder anders ausgedrückt: einer gewissen rechtlichen Kontur,83 stellt er auf den institutionellen Charakter der inter- und supranationalen Einrichtung ab.84  Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 213.  Ebd. 78  Ebd., 216; siehe auch Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 55. 79  Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 213. 80  Mit abgeleiteter Entscheidungskompetenz meint Mayer eine Entscheidungskompetenz hoheitlicher Natur, die einen Auszug aus der ausschließlichen Rechtssetzungsbefugnis des souveränen Staates im klassischen Sinne darstellt. 81  So ausdrücklich Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 216; siehe auch Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 55. 82  Franz Mayer, ebd. „Verbände sind Einheiten, die mit originärer oder abgeleiteter Entscheidungskompetenz ausgestattet sind und die ein gewisses Maß an rechtlich-organisatorischer Verselbstständigung aufweisen, die sie unterscheidbar machen“. Ebd. 83  Ebd. 84  Danach scheint es, dass Ebenen grundsätzlich durch Internationale Organisationen konstituiert werden. Vgl. Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 9. Auch bei Möllers setzt die Existenz einer Ebene die Existenz von Institutionen voraus, die selbst Recht erzeugen können. Zur Bestimmung des Verselbstständigungsgrades stellt Möllers aber weniger auf das institutionelle Moment als vielmehr auf den Charakter der Rechtsordnung ab. Die Betonung 76 77

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

b. Verhältnis der Ebenen zueinander „Ebenen“ bilden erst dann ein Mehrebenensystem, oder besser: eine Mehrebenenordnung, wenn sie in einer bestimmten faktischen und rechtlichen Beziehung zueinanderstehen. Mit der Ausgestaltung der erforderlichen Beziehung der Ebenen zueinander hat sich insbesondere Mayer auseinandergesetzt. Danach zeichnet sich die faktische Beziehung in Mehrebenenordnungen typischerweise dadurch aus, dass ein übergreifender Verband der einen Ebene einer Mehrzahl von kleineren Verbänden einer anderen Ebene gegenübersteht, „wobei die letztgenannten Verbände in territorialer und personaler Hinsicht jeweils eine Teilmenge des übergreifenden Verbandes ausmachen“.85 Die darauf aufbauende rechtliche Beziehung wird dadurch gekennzeichnet, dass das Recht der verschiedenen Ebenen auf dem gleichen Territorium Geltung beansprucht, mit der Folge, dass unterschiedliche Ebenen gleiche Sachverhalte regeln, und zwar auch gegenüber dem Einzelnen.86 2. Kritische Betrachtung Gegen den rechtswissenschaftlichen Mehrebenen-Ansatz lassen sich jedenfalls folgende Einwände formulieren: Zum Ersten ist der rechtswissenschaftliche Ebenenbegriff konzeptionell auf Geschlossenheit angelegt, wodurch die Gefahr einer künstlichen Trennung zwischen internationalen Regimen und Normen, die Teil des Mehrebenensystems sind, und solchen, die außerhalb des Systems stehen, besteht (a.). Zum Zweiten besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen der ausgesprochenen Popularität des Mehrebenen-Ansatzes einerseits und dem Ausmaß seiner Untertheoretisierung andererseits (b.). Darüber hinaus suggeriert das natürliche Sprachverständnis des Begriffs Ebene im Plural bildlich eine vertikale Anordnung der Überund Unterordnung, was den pluralistisch-heterarchischen Strukturen und Prozessen der vernetzten Weltordnung nicht entspricht.87 der rechtlich-organisatorischen Verselbstständigung bei Mayer wird bei Möllers also durch den Aspekt der Verselbstständigung der Rechtsordnung ersetzt. Die Verselbstständigung erfolgt dadurch, dass die Rechtserzeugung an die rechtswirksame Anerkennung von individuellen oder demokratischen Akten der Selbstbestimmung gekoppelt wird. Das heißt, dass die Rechtserzeugung entweder in demokratischen Verfahren erfolgen oder dem Einzelnen subjektive Rechte einräumen muss, wobei demokratische Verfahren nicht der unmittelbaren Partizipation von Bürgern bedürfen und subjektive Rechte nicht unmittelbar verliehen werden müssen. Es genügt, dass diese durch souveräne Staaten vermittelt werden. Unerheblich ist, ob die Rechtserzeugung funktionell legislativ, exekutiv oder judikativ erfolgt. Derartige Verfahren werden auf inter- und supranationaler Ebene von Internationalen Organisationen durchgeführt, aber eben nicht von jeder Internationalen Organisation, sondern nur von manchen. 85  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 57; ders., Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, 229 (272). 86  Ebd. 87  So auch Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (42). Das erkennt auch Mayer an. Vgl. Franz Mayer, Europäische

B. Mehrebenen-Ansatz

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a. Die konzeptionelle Geschlossenheit des Ebenenbegriffs Der Ebenenbegriff wirft zwangsläufig die Frage auf, wann noch vom Vorliegen einer Ebene gesprochen werden kann und wann nicht.88 Zwar liegen Abgrenzungsproblematiken auf gewisse Weise dem Wesen der Begriffsbildung zugrunde. Im Zusammenhang mit dem Ebenenbegriff wird diese Problematik aber einerseits durch seine Orientierung bei der Kriterienbildung an der Europäischen Union, der weltweit am weitesten konstitutionalisierten und integrierten Rechtsordnung jenseits des Nationalstaats, andererseits durch die begriffliche Größe der Analyseeinheit verschärft. „Ebene“ bezieht sich auf einen „Rechtsbestand“89 oder einen „Verband“,90 aber nicht nur auf einzelne Institutionen. Rechtsbestände und Verbände aber können vielschichtig sein. Nehmen wir als Beispiel die Vereinten Nationen, die etwa mit dem Internationalen Gerichtshof, dem Sekretariat, der Generalversammlung oder dem Sicherheitsrat über sehr unterschiedlich ausgestaltete Institutionen verfügen. Haben die Vereinten Nationen Ebenenqualität? Ist das Kadi-Urteil des EuGH, dem die Umsetzung einer UN-Sicherheitsratsresolution durch eine unionsrechtliche Verordnung zugrunde liegt, ein Phänomen der Mehrebenenverflechtung? Möllers, der für seinen Ebenenbegriff auf die Herausbildung eigener Legitimationsmechanismen abstellt91  – und damit  – neben der EU  – nur ganz bestimmte

Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, 229 (269). Ebenso Olga Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Sigrid Boysen u.  a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 58 (74): „Intuitiv scheint das Mehrebenen-System eher vertikale und nicht notwendig hierarchische Beziehungen zwischen den Ebenen abzubilden, während das Netzwerk horizontale Verbindungen deutlicher ausleuchtet.“ Dass eine solche Sichtweise prinzipiell zu bevorzugen ist, betont auch Mayer und schlägt daher vor, sich im Zusammenhang mit dem Ebenenbegriff ein Bild von „Ebenen als Plattformen […], die nebeneinander auf gleicher Ebene stehen können, in anderen Fällen auf unterschiedlichen Höhen angesiedelt sind, vielleicht sogar flexibel umeinander kreisen“ vorzustellen. Franz Mayer, ebd., 270. Mit einer solchen Klarstellung kann man diesem Einwand zwar begegnen, es sollte jedoch nicht unterschätzt werden, wie sehr das – zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem inter- und supranationalen Recht einerseits und dem nationalstaatlichen Recht andererseits in unserem Sprachgebrauch fest verankerte, wirkungsmächtige – Bild vertikal angeordneter Ebenen in die Irre führen kann. Weit verbreitet ist die rechtslogisch durch nichts gebotene Auffassung, dass internationale Organisationen über ihren Mitgliedstaaten stehen. So Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 35: „In popular thinking, organizations are probably pretty much perceived as entities which somehow would stand (or at least would have to stand) above their members.“ 88  Dieser Effekt wird definitorisch bei denjenigen Autoren verstärkt, die vom Mehrebenensystem anstatt von Mehrebenenordnungen sprechen. Denn der sozialwissenschaftliche Systembegriff setzt eine deutliche Abgrenzung des Systems zu seiner Umwelt voraus. Aus diesem Grund erscheint es, soweit man auf den Mehrebenenbegriff zurückgreift, zumindest vorzugswürdig, von Mehrebenenordnungen zu sprechen. Auch Möllers scheint sich dieser Problematik bewusst zu sein. Er zieht dem Begriff des Mehrebenensystems den Begriff der Mehrebenenrechtsordnungen vor. Siehe Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 211 und 251. 89  Ebd., 213. 90  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 55. 91  Oben Erster Teil, Kap. 3, B., III., 1.

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

­Internationale Organisationen wie die ILO92 und die WTO93 umfasst, muss diese Fragen konsequenterweise verneinen. Denn die Rechtserzeugung des UN-Sicherheitsrats, dessen Resolutionen völkerrechtlich bindend sind,94 ist nicht an die rechtswirksame Anerkennung von individuellen oder demokratischen Akten der Selbstbestimmung gekoppelt. Dabei ist die Konstellation in Kadi nicht so unterschiedlich von der Solange-­ Rechtsprechung des BVerfG und dem Bosphorus-Urteil des EGMR.95 Mayer dagegen knüpft für seinen weiten Ebenenbegriff an das Erfordernis rechtlich-­organisatorischer Verselbstständigung an.96 Die Einschlägigkeit dieses Kriterium lässt sich relativ problemlos im Hinblick auf einzelne Institutionen beantworten: Der Internationale Gerichtshof etwa ist gewiss organisatorisch-institutionell verselbstständigt und kann zudem für die Parteien bindende Entscheidungen treffen, insoweit die Parteien die Jurisdiktion des Internationalen Gerichtshofs akzeptieren.97 Der UN-Sicherheitsrat und die UN-Generalversammlung hingegen sind beide primär koordinationsvölkerrechtliche Aushandlungsforen.98 Eine vom Willen der einzelnen Staaten verselbstständigte Willensbildung findet im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung gerade nicht statt. Folgt daraus nun, dass die Vereinten Nationen das Kriterium der organisatorisch-institutionellen Verselbstständigung erfüllen? Hier offenbaren sich konzeptionelle Schwierigkeiten im Umgang mit komplexen Organisationen mit verschiedenen, institutionell sehr unterschiedlich ausgestalteten Organen wie den Vereinten Nationen: Je größer die Analyseeinheit ist, desto schwieriger wird es, ein adäquates Urteil über das Ausmaß der rechtlich-­organisatorischen Verselbstständigung dieser Einheit zu treffen. Ergibt sich die organisatorisch-­institutionelle Verselbstständigung aus einer Gesamtschau sämtlicher Institutionen oder genügt es, dass ein UN-Organ hinreichend verselbstständigt ist, damit den Vereinten Nationen insgesamt Ebenenqualität zukommt? Damit sieht sich der Mehrebenenbegriff dem Einwand ausgesetzt, zusammenhängende Phänomene aus definitorischen Gründen künstlich zu trennen und Abgrenzungsprobleme zu schaffen, die zur Analyse einer vielschichtigen und facettenreichen Weltordnung wie der unseren wenig hilfreich sind. Verstärkt wird das Problem der begrifflichen Exklusion relevanter Phänomene dadurch, dass Mayer wie Möllers ihre Kriterien für das Vorliegen einer Ebene, von der Rechtserzeugung im demokratischen Verfahren bzw. der Verleihung subjektiver Individualrechte bei

 Der ILO nach Möllers kommt aufgrund ihrer umfangreichen legislativen Rechtserzeugung Ebenenqualität zu, obwohl sie nicht in gleicher Weise verrechtlicht ist wie die nationale oder die europäische Rechtsordnung. Dazu näher Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 287 ff. 93  Auch die WTO kann als Ebene qualifiziert werden, ihre Rechtserzeugung erfolgt vornehmlich judikativ, in Form des Dispute Settlement Systems. Ebd., 311 ff. 94  Das ist hinsichtlich der Rechtsakte der anderen UN-Institutionen nicht der Fall. 95  Zu den Parallelen im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I. und II. 96  Oben Erster Teil, Kap. 3, B., III., 1., a. 97  Im Einzelnen zum IGH: Gleider Hernández, The International Court of Justice and the Judicial Function, 2014. 98  Dazu kommt im Fall der UN-Generalversammlung, dass diese keine bindende Rechtssetzungsbefugnis hat. 92

B. Mehrebenen-Ansatz

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Möllers hin zu den „Entscheidungskompetenzen hoheitlicher Natur“ bei Mayer,99 ersichtlich der Europäischen Union entnehmen. Zwar werden diese Kriterien dann vorsichtig abstrahiert und ausgeweitet. Durch die Orientierung an der EU wird der Kreis inter- und supranationaler Rechtsbestände oder Verbände, denen Ebenenqualität zukommt, tendenziell jedoch eng gefasst. Die konzeptionelle Geschlossenheit des rechtswissenschaftlichen Mehrebenen-­ Ansatzes steht im Widerspruch zum erkennbaren Bestreben von Vertretern des Mehrebenen-Ansatzes, den Mehrebenenbegriff auf die globale bzw. die internationale Ebene ausweiten.100 Dabei wird allerdings – im Unterschied zu Möllers und Mayers differenzierter Analyse des Ebenenbegriffs – regelmäßig nicht erörtert, ob, unter welchen Bedingungen und auf der Grundlage welcher Kriterien die inter- und supranationale Institutionalisierung außerhalb des Kontexts der Europäischen Union Bestandteil des von ihnen ausgerufenen Mehrebenensystems sein kann: Es wird einfach – ohne eingehende Begründung – eine internationale Ebene addiert. Das darin erkennbare Bedürfnis, die vielfältigen Formen inter- und supranationaler Institutionalisierung in die Analyse miteinzubeziehen, ist nachvollziehbar und in der Sache auch zutreffend. Die Frage ist allerdings, ob der rechtswissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz mit seiner konzeptionellen Geschlossenheit das adäquate Analyseinstrument für dieses Vorhaben ist. Denn durch die Konstruktion einheitlicher Ebenen tendiert der Mehrebenen-Ansatz dazu, die vielfältigen institutionellen Verflechtungen und funktionellen Bereichslogiken zwischen den „Ebenen“ und innerhalb einer „Ebene“ zu überdecken. Deshalb erscheint es vorzugswürdig, anstatt den Verband oder den Rechtsbestand in ihrer Gesamtheit die einzelne Institution in den Blick zu nehmen. b. Die begrenzte konzeptionelle Leistungsfähigkeit des Mehrebenen-Ansatzes Darüber hinaus stellt der Mehrebenen-Ansatz auch kein überzeugendes Analyseinstrumentarium zur Verfügung. Denn über die Übernahme der Governance-­ Perspektive hinaus bleibt weitgehend unklar, welche normativen und analytischen  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 55. Nach Mayer stellt diese Entscheidungskompetenz „einen teilmengeartigen Ausschnitt aus den den klassischen Staatsbegriff (Staatsgewalt) prägenden Elementen Gewaltmonopol und ausschließliche Rechtsetzungsbefugnis“ dar. Ebd., 56. 100  Habermas erwähnt ein „globales Mehrebenensystem“. Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen, 2004, 107. Wahl beschreibt „die Realität der heutigen Welt […] [als] die eines Mehr-Ebenen-Systems“: Während es in Europa drei Ebenen aus Nationalstaat, [europäischer] Integrationsgemeinschaft und globaler Ebene gäbe, bestünde im Rest der Welt ein Zwei-Ebenen-System, bei dem die europäische Ebene wegfalle. Rainer Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), 45 (46 f.). Auch Sauer argumentiert, dass innerhalb Europas ein komplexes Mehrebenensystem bestehe, „das mit der europäischen, mit den mitgliedstaatlichen und den relevanten völkerrechtlichen Rechtsordnungen drei oder mehr vielfältig verflochtene Rechtsebenen enthält“: Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, 83. 99

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Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

Schlussfolgerungen aus der Beschreibung sozialer Zusammenhänge als Mehrebenenordnung für die Interaktion zwischen den Institutionen der unterschiedlichen Ebenen gezogen werden können. Mit anderen Worten: Man mag die Europäische Union als Mehrebenordnung bezeichnen und damit ein recht einleuchtendes Bild des Regierens in der Europäischen Union zeichnen; doch fragt sich, was über die begriffliche und bildliche Darstellung miteinander verflochtener und verschränkter Ebenen hinaus aus dem rechtswissenschaftlichen Mehrebenen-Ansatz folgt. Was charakterisiert die heterarchische Interaktion der Institutionen in einem verflochtenen Mehrebenensystem, in dem keine Institution einen Anspruch auf Letztentscheidung hat? Der juristische Mehrebenen-Ansatz hat darauf kaum Antworten, denn das Mehrebenenkonzept wird von seinen Vertretern vor allem als analytischer Rahmen für eine neutrale Betrachtung des neuartigen und entwicklungsoffenen Regierens in der Europäischen Union verwendet. Anspruchsvollere, normativ ausgerichtete Konzeptionen wie Pernices Europäischer Verfassungsverbund101 ziehen ihre Über­ zeugungskraft weniger aus den Begrifflichkeiten und dem Instrumentarium des Mehrebenen-­Ansatzes, und dafür mehr aus einem postnationalen Verfassungsverständnis. Es erscheint, dass die vermeintliche Neutralität und Vermeidung von Vorfestlegungen durch den Mehrebenen-Ansatz mit einem erheblichen Maß an Untertheoretisierung und Unterkomplexität erkauft wird.102 Zahlreiche Monografien setzen sich bestenfalls auf ein paar Seiten mit diesem Begriff auseinander, obwohl er jedenfalls dem Titel zufolge den konzeptionellen Rahmen ihrer Abhandlung bilden soll.103 Mit Ausnahme seiner Anschlussfähigkeit an die sozialwissenschaftlichen Governance-­ Theorien macht der rechtswissenschaftliche Mehrebenen-Ansatz jedenfalls kein überzeugendes Angebot um näher zu bestimmen, wie sich verflochtene Struktur der Mehrbenenordnung auf die rechtsordnungsübergreifende Interaktion zwischen verschiedenen Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen auswirkt  – ganz im Gegensatz zu sozialwissenschaftlichen Netzwerktheorien, die, wie wir noch sehen werden, ein differenziertes Instrumentarium zur Analyse heterarchischer Interaktion zwischen autonomen Institutionen entwickelt haben.104

C. Verfassungspluralismus Der Verfassungspluralismus ist, wie der Mehrebenen-Ansatz, eine explizite Reaktion auf die den akademischen Diskurs lange Zeit prägenden Positionen der Föderalisten und der Intergouvernementalisten. Die Diskussion um die Fragen nach der Kompetenz-Kompetenz, der institutionellen Letztentscheidungsbefugnis und der  Grundlegend Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 148 ff. 102  Mit dieser Kritik auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, 189. 103  Statt vieler Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, 77 ff. 104  Dazu ausführlich unten Erster Teil, Kap. 3, D., I. 101

C. Verfassungspluralismus

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Finalität der Europäischen Union verstellt nach Auffassung der Vertreter des Verfassungspluralismus den Blick auf die tatsächliche Rechtsprechungspraxis nationaler und europäischer Gerichte. Mattias Kumm zufolge verbirgt sich hinter den konzeptionell miteinander unvereinbaren Maximalpositionen der Föderalisten und Intergouvernementalisten tatsächlich eine nuancierte Balance der normativen Belange der unterschiedlichen Rechtsordnungen.105 Daher zielt der Verfassungspluralismus darauf ab, den als unproduktiv empfundenen Streit zwischen Föderalismus und Intergouvernementalismus zu überwinden, indem er einerseits einen Pluralismus der Rechtsordnungen proklamiert, der den Anspruch einer Rechtsordnung auf uneingeschränkten Vorrang gegenüber einer anderen Rechtsordnung ausschließt, andererseits aber die Balance der Rechtsordnungen ausschließlich an den normativen Anliegen des Konstitutionalismus, also den verfassungsrechtlichen Prinzipien des politischen Liberalismus, und nicht an Fragen der Souveränität und Staatlichkeit orientiert.106

I . Rekonstruktion der Hauptaussagen der einzelnen Konzeptionen Diese verfassungspluralistische Position hat wohl als erster Neil MacCormick formuliert (1.),107 dem zufolge sich die widerstreitenden Letztentscheidungsansprüche des Europäischen Gerichtshofs und nationalen Verfassungsgerichten rechtslogisch nicht auflösen lassen und deshalb außerhalb des Rechts gelöst werden sollten.108 Die in dieser pluralistischen Prämisse liegende Überzeugung, dass sich die Fragen nach der Kompetenz-Kompetenz und der Letztentscheidungsbefugnis letztlich nicht zugunsten einer Rechtsordnung oder einer Institution auflösen lassen, teilt eine jüngere Generation von europäischen Verfassungsrechtlern; im Unterschied zu ­  Siehe Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (278). 106  Zum Überblick: Gareth Davies/Matej Avbelj (Hrsg.), Research Handbook on Legal Pluralism and EU Law, 2018. 107  Avbelj und Komarek, die sich um die Entwicklung des Selbstverständnisses und der Kategorisierung der unterschiedlichen Positionen dieser verfassungsrechtswissenschaftlichen Bewegung verdient gemacht haben, bezeichnen MacCormick als den „founding father“ des Verfassungsluralismus, siehe Matej Avbelj/Jan Komarek, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, 1 (2). 108  Neil MacCormick, Beyond the Sovereign State, Mod. L. Rev. 56 (1993), 1 ff. Aufgrund derselben Prämisse schlug J.H.H. Weiler die Gründung eines aus europäischen und nationalen Richtern zusammengesetzten Verfassungsgerichtshof vor, der ausschließlich über Kompetenzkonflikte zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten zu entscheiden hat. J.H.H.  Weiler, The European Union belongs to its citizens. Three immodest Proposals, E.L.Rev. 22 (1997), 150 ff. Weilers Vorschlag der Gründung eines europäischen Kompetenzgerichts lässt sich allerdings nicht als pluralistisch bezeichnen, denn dadurch werden rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte letztlich europäisiert. So zutreffend Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (533). 105

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­MacCormick ziehen Mattias Kumm, Neil Walker und Miguel Maduro daraus allerdings nicht den Schluss, dass der Umgang mit Rechtsprechungskonflikten deshalb in die Sphäre des Politischen verlegt werden muss.109 Vielmehr entwickeln diese Autoren auf der Grundlage bestehender institutioneller Arrangements normative, am Konstitutionalismus orientierte rechtliche Prinzipien und Mechanismen zum Umgang mit Jurisdiktionskonflikten. Während Walkers Epistemischer Meta-­ Konstitutionalismus (3.) vor allem mit der Weiterentwicklung des Konstitutionalismus und seiner Anwendbarkeit auch auf institutionelle Konfigurationen außerhalb der Europäischen Union beschäftigt,110 nehmen Kumms Universeller Best Fit-­ Konstitutionalismus (2.) und Maduros Harmonisch-diskursiver Konstitutionalismus (4.) primär die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen der europäischen Rechtsordnung und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten im Rahmen der Europä­ ischen Union in den Blick.111 Gemeinsam ist den Konzeptionen Kumms, Maduros und Walkers, dass sie sich durch ihre explizite Orientierung am Konzept des Kon­ stitutionalismus von allgemeineren Rechtspluralismus-Ansätzen unterscheiden.112

 Weitere Vertreter des Verfassungspluralismus sind u.  a.:Matej Avbelj/Jan Komarek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, und die dort vertretenen Autorinnen und Autoren. Darüber hinaus: Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 ff.; Armin von Bogdandy, Pluralism, direct effect, and the ultimate say: On the relationship between international and domestic constitutional law, ICON 6 (2008), 397 ff.; Armin von Bogdandy, Common principles for a plurality of orders: A study on public authority in the European legal area, ICON 12 (2014), 980 ff.; Catherine Richmond, Preserving the Identity Crisis: Autonomy, System and Sovereignty in European Law, L. & Phil. 16 (1997), 377 ff.; Franz Mayer, Verfassung im Nationalstaat: Von der Gesamtordnung zur europäischen Teilordnung?, VVDStRL 75 (2016), 7 (39 ff.); Michael Wilkinson, Constitutional pluralism: Chronicle of a death foretold?, ELJ 23 (2017), 213 ff. Avbelj ordnet auch Ingolf Pernices Konzeption vom Europäischen Verfassungsverbund dem Verfassungspluralismus zu, macht aber gleichzeitig deutlich, dass es sich bei dieser Einordnung um einen Grenzfall zwischen dem Verfassungspluralismus und dem Föderalismus handelt. Matej Avbelj, Questioning EU Constitutionalisms, GLJ 9 (2008), 1 (19  f.). Kritisch dagegen: J.H.H.  Weiler, Prologue: global and pluralist constitutionalism – some doubts, in: Gráinne de Búrca/J.H.H. Weiler (Hrsg.), The Worlds of European Constitutionalism, 2012, 8  ff.; Martin Loughlin, Constitutional pluralism: An oxymoron?, Glob. Con. 3 (2014), 9 ff.; Julio Baquero Cruz, The Legacy of the Maastricht-Urteil and the Pluralist Movement, ELJ 14 (2008), 389 ff.; ders., Another Look at Constitutional Pluralism in the European Union, ELJ 22 (2016), 356 ff.; ders., What’s left of the law of integration?, 2018, 27 ff. 110  Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002), 317 (339). 111  Mit dieser begrifflichen Kategorisierung: Matej Avbelj, Questioning EU Constitutionalisms, GLJ 9 (2008), 1 ff., dessen Aufsatz auch einen guten Überblick über den Verfassungspluralismus bietet. Instruktiv auch: Claudio Franzius, Verfassungspluralismus – Was bedeutet das konkret?, RW 2016, 62 ff. 112  Vertreter des Rechtspluralismus sind u. a.: Paul Schiff Berman, Global Legal Pluralism, 2012; Nico Krisch, Beyond Constitutionalism. The Pluralist Structure of Postnational Law, 2010; William Twining, Globalisation and Legal Theory, 2000; Brian Tamanaha, A Non-Essentialist Version of Legal Pluralism, J. Law & Soc. 27 (2000), 296 ff.; Boaventura de Sousa Santos, Towards a New Common Sense. Law, Science and Politics in the Paradigmatic Transition, 1995; Gunther Teubner, The Two Faces of Janus: Rethinking Legal Pluralism, Cardozo L. Rev. 13 (1992), 1443 ff. 109

C. Verfassungspluralismus

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1. Die Konzeption Neil MacCormicks In Reaktion auf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts entwickelte MacCormick als erster Verfassungsrechtler eine an der Europäischen Union orientierte Konzeption des Verfassungspluralismus, dem zufolge sich das Verhältnis zwischen der europäischen Rechtsordnung und den nationalen Rechtsordnungen als „pluralistic rather than monistic“ und „interactive rather than hierarchical“ darstellt.113 Im Vordergrund steht bei MacCormicks nur in Grundzügen entwickeltem Modell des Verfassungspluralismus die rechtstheoretische Herleitung eines Pluralismus von Rechtsordnungen, bei dem Hierarchie und Unterordnung keine notwendigen Bedingungen für das Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen sind: „[F]rom a jurisprudential point of view, there is no compulsion to regard ‚sovereignty‘, or even hierarchical relationships of superordination and subordination, as necessary to our understanding of legal order in the complex interaction of overlapping legalities which characterises our contemporary Europe, especially within the European Community.“114 Der Verfassungspluralismus MacCormicks orientiert sich an der soziologisch-­ orientierten Rechtstheorie H.L.A. Harts und grenzt sich explizit von Hans Kelsens strikt-deduktiven Rechtspositivismus ab. Während Kelsens Monismus auf dem Grundsatz beruhe, dass das Völkerrecht und das innerstaatliche Recht der Nationalstaaten eine hierarchisch strukturierte Rechtsordnung bildeten, deren gemeinsame Grundnorm im Völkerrecht verankert sei, hänge nach H.L.A. Hart die Verortung der Grundnorm vom Blickwinkel des jeweiligen Systems ab. Aus der Perspektive des Völkerrechts könne die nationale Rechtsordnung vom Völkerrecht abgeleitet sein, diese Sichtweise müsse aber nicht notwendig von der nationalen Rechtsordnung geteilt werden.115 Denn nach Hart könne jedes System nur verstanden werden auf Grundlage des „internal point of view“ des jeweiligen Systems.116 Daraus folgt für MacCormick, dass das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats aus systemischen Gründen gehalten ist, eine Einschränkung seiner Kompetenz zur Auslegung der Verfassung durch ein Gericht einer anderen Rechtsordnung abzulehnen – genauso wie der EuGH aufgrund derselben Logik gehalten ist, einer Inanspruchnahme der Europäischen Gemeinschaftsverträge durch nationale Gerichte entgegenzu­wirken.117

 Neil MacCormick, The Maastricht-Urteil: Sovereignty Now, ELJ 1 (1995), 259 (264). Vgl. auch ders., Questioning Sovereignty? Law, State, and Practical Reason, 1999. 114  Neil MacCormick, Beyond the Sovereign State, Mod. L. Rev. 56 (1993), 1 (10). 115  MacCormick relativiert allerdings, dass „[d]espite the pluralistic or polycentric potentialities he [Hart] points to in developing his theory, pluralism remains more a potential than an actual virtue of his own work“. Ebd., 9. 116  Ebd., 6. 117  „The Bundesverfassungsgericht’s decision has been widely criticized as incompatible with the needs of contemporary Europe. The criticisms are altogether too hasty. A pluralistic legal theory in the spirit of legal institutionalism suggests that this much-criticized judgment has after all a sound basis in legal theory.“ Neil MacCormick, The Maastricht-Urteil: Sovereignty Now, ELJ 1 (1995), 259 (265). 113

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2. Kumms Universeller Best Fit-Konstitutionalismus Mattias Kumm hat dem Verfassungspluralismus als Erster mehr Konturen verliehen118 und erste Grundlagen eines allgemeinen normativen verfassungspluralistischen Ansatzes entwickelt.119 Gegenstand von Kumms – an der Rechtstheorie von Ronald Dworkin und Robert Alexy angelehnten – Verfassungspluralismus sind die Rechtsprechungskonflikte zwischen dem Europäischen Gerichtshof und nationalen Verfassungsgerichten im Rahmen der Europäischen Union. Das Anliegen Kumms besteht darin, eine dynamischere und differenziertere Alternative für die Konzeptualisierung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte zu den führenden, von ihm als zu „statisch“ empfundenen Ansätzen der Föderalisten und Intergouvernementalisten zu entwickeln.120 Kumm fühlt sich einer dritten Gruppe von Europarechtlern zugehörig, den Vertretern des Verfassungspluralismus, die die ­Verwendung des herkömmlichen Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatzes in Hinsicht auf die Europäische Union ablehnen.121 Anstatt es darauf anzulegen, Hierarchien zwischen den Rechtsordnungen zur Auflösung miteinander un­ vereinbarer Maximalpositionen zu entwickeln, nähme diese dritten Gruppe von Europarechtlern richtigerweise die existierende Rechtsprechungspraxis europä­ ischer und nationaler Gerichte zur Vermeidung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte in den Blick.122 Allerdings fehle es den Verfassungspluralisten an einer hinreichenden rechtstheoretischen Grundlage.123 Ausgangspunkt für Kumms Verfassungspluralismus ist die Beobachtung, dass die tatsächliche Rechtsprechungspraxis europäischer und nationaler Gerichte nicht mit den von den Gerichten selbst formulierten Maximalpositionen übereinstimmt.  Siehe zuerst: Mattias Kumm, Who is the Final Arbiter of Constitutionality in Europe?: Three Conceptions of the Relationship Between the German Federal Constitutional Court and the European Court of Justice, CML Rev. 36 (1999), 351 ff. Kritisch Carl Schmid, The Neglected Conciliation Approach to the „Final Arbiter“ Conflict: A Critical Comment on Kumm, Who is the final arbiter of Constitutionality in Europe, CML Rev. 36 (1999), 509 ff. 119  Siehe eine ausgereiftere Version von Kumms Verfassungspluralismus: Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 ff. Siehe auch ders., The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907; ders., The Moral Point of Constitutional Pluralism. Defining the Domain of Legitimate Institutional Civil Disobedience and Conscientious Objection, in: Julie Dickson/Pavlos Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical Foundations of European Union Law, 2012, 216  ff.; ders., Rethinking Constitutional Authority. On the Structure and Limits of Constitutional Pluralism, in: Matej Avbelj/Jan Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, 39 ff. 120  Kumm bezeichnet das föderalistische Lager als „European Constitutional Supremacy (ECS)“ und das intergouvernementalistische Lager als „National Constitutional Supremacy (NCS)“. Siehe Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (266). 121  Kumm verwendet für die Vertreter des damals im Entstehen begriffenen Verfassungspluralismus die Bezeichnung „sui generists“. Ebd. 122  Ebd., 267. 123  Ebd. 118

C. Verfassungspluralismus

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Föderalismus und Intergouvernementalismus entsprächen zwar dem, was der Europäische Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht sagten, aber nicht dem, was sie tatsächlich täten.124 Das gelte zum einen für die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte: Denn trotz aller Machtansprüche und Drohgebärden habe bislang kein nationales Verfassungsgericht einer Bestimmung des Europäisches Gemeinschaftsrecht die Anwendung in der nationalen Rechtsordnung versagt; und obwohl dem Intergouvernementalismus zufolge sämtliches Unionsrecht aus der nationalen Rechtsordnung abgeleitet und den Essentialia der nationalen Verfassung untergeordnet sei, werde der Vorrang des Unionsrechts von den nationalen Verfassungsgerichten weitgehend akzeptiert.125 Dasselbe gelte zum anderen für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: Trotz der Proklamierung des uneingeschränkten Vorrangs des Unionsrechts, nehme der Europäische Gerichtshof Rücksicht auf nationale Belange, insbesondere solche von Verfassungsrang.126 Es bestehe demnach ein Widerspruch zwischen der uneingeschränkten Verortung der Lösung für rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte in der jeweils eigenen Rechtsordnung einerseits und der gegenseitigen Rücksichtnahme auf Belange der jeweils anderen Rechtsordnung andererseits. Mit anderen Worten: Obwohl der EuGH und die nationalen Verfassungsgerichte sich zur Lösung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte angeblich ausschließlich an der jeweils eigenen Rechtsordnung orientieren, fällt die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte deutlich europarechtsfreundlicher und die Rechtsprechung des EuGH eher im Sinne mitgliedstaatlicher Belange aus als es die jeweilige Rhetorik suggeriert.127 Aus dieser Beobachtung zieht Kumm den Schluss, dass die normativen Grundlagen der Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Verfassungsgerichte nicht in der jeweiligen Rechtsordnung zu verorten sind.128 Das zeige sich schon daran, dass weder der Föderalismus noch der Intergouvernementalismus konzeptionell in der Lage seien, zentrale normative Anliegen der anderen Rechtsordnung adäquat zu erfassen.129 Nach Kumm verstellt der Fokus des herrschenden Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatzes auf die Frage, welcher Rechtsordnung im Konfliktfall das letzte Wort zusteht, den Blick auf die zugrunde liegenden normativen Anliegen der Vertreter des Föderalismus und des Intergouvernementalismus. Hinter den jeweiligen Belangen der europäischen und der nationalen R ­ echtsordnung stehen  Ebd., 266 f.  Ebd., 269. 126  Ebd., 294 ff. 127  Siehe insbesondere ebd., 288. 128  Ebd., 278. 129  Indem der Intergouvernementalismus die Auflösung des Problems rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte durch die Verortung der ultimativen Legimitätsquelle in der nationalen Verfassung propagiere, gebe es dem unbestritten wichtigen Anliegen der Verankerung rechtsstaatlicher Grundsätze auf der europäischen Ebene nicht genügend Raum. Vertreter des Föderalismus, auf der anderen Seite, würden die überragende normative Bedeutung der Errungenschaften des demokratisch-rechtsstaatlichen Nationalstaates in den Mitgliedstaaten verkennen und die zu erwartenden Konsequenzen offener Rechtsprechungskonflikte übertreiben. Ebd., 282. 124 125

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Kumm zufolge unterschiedliche Werte des gemeinsamen europäischen Verfassungsraums: Es gehe nicht um das Verhältnis von Rechtsordnungen, sondern um den Ausgleich unterschiedlicher Werte.130 Anliegen der Föderalisten sei es, demokratisch-­ rechtsstaatliche Werte in inter- und supranationalen Rechtsordnungen zu etablieren.131 Die Intergouvernementalisten dagegen würden darum kämpfen, die rechtsstaatlich-demokratischen Errungenschaften des Nationalstaats zu bewahren.132 Der Disput zwischen Föderalisten und Intergouvernementalisten sei also nicht, wie vom Intergouvernementalismus suggeriert, empirischer Natur und durch die Verortung der ultimativen Legitimitätsquelle auflösbar. Tatsächlich liege er auf der normativen Ebene: Gestritten werde darüber, welche Umstände von Belang seien und wie sie zu gewichten seien.133 Dabei seien Föderalisten und Intergouvernementalisten, der EuGH wie nationale Verfassungsgerichte, allerdings in dem normativen Anliegen vereint, den geteilten verfassungsrechtlichen Prinzipien des politischen Liberalismus zur Entfaltung zu verhelfen.134 Unterschiedlich seien lediglich Betonung und Perspektive, von der aus sie dieses Anliegen verfolgten.135 Deshalb ist nach Kumm die Grundlage für die Lösung von rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten weder in den europäischen Verträgen, noch in der nationalen Verfassung, sondern in der gemeineuropäischen Rechtsprechungspraxis zu suchen.136 Die primäre Aufgabe bestehe darin, Lösungen für das Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen zu finden, die die Ideale beider Rechtsordnungen am besten verwirklichen.137 Weil aber eine hinreichende Berücksichtigung der Belange beider Rechtsordnungen auf der Grundlage nur einer Rechtsordnung prinzipiell nicht möglich ist, muss Kumm zufolge eine interessengerechte Lösung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen grundsätzlich beide Rechtsordnungen umfassen. Europä­ ische und nationale Gerichte sollen daher das Verhältnis zwischen beiden Rechtsordnungen auf der Grundlage des an Dworkins Konzeption des Rechts als Integrität ausgerichtetem „principle of best fit“ ausgestalten,138 indem sie ihre Entscheidungen nach den zugrunde liegenden Prinzipien beider Rechtsordnungen ausrichten.139 Nach der Konzeption Kumms ersetzen diese Prinzipien damit die nicht-existente Konfliktlösungsregel für das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem Unionsrecht. An die Stelle der eigenen Rechtsordnung als normativem Anknüpfungspunkt tritt in Kumms Universellem Best Fit-Konstitutionalismus in Fällen  Ebd., 299.  Ebd., 278. 132  Ebd., 274 ff. 133  Ebd., 278. 134  Diese sind nach Kumm „liberty, equality, democracy, and the rule of law“. Ebd. 289. 135  Vgl. ebd., 289. 136  Ebd., 287. 137  Ebd., 286. 138  Danach sollen Richter einen Fall in der Weise entscheiden, die „best fits and justifies best fits and justifies the law as a whole“. Ronald Dworkin, Law’s empire, 1986, 185. 139  Ebd., 286 ff. 130 131

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rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte also die gemeineuropä­ ische Rechtsprechungspraxis. Mit anderen Worten: Nationale Gerichte sollen sich nicht in erster Linie an der nationalen Rechtsordnung orientieren, der EuGH nicht an der EU-Rechtsordnung. Stattdessen sollen sie sich als Grundlage für ihre Auslegung auf die gemeineuropäische Rechtsprechungspraxis berufen. Auf der Basis dieser gemeineuropäischen Rechtsprechungspraxis entwickelt Kumm vier Prinzipien, welche nationale Verfassungsgerichte und der Europäische Gerichtshof in Fällen rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte anwenden sollten.140 Keinem dieser Prinzipien kommt absoluter Vorrang zu.141 Eine allgemeingültige Lösung gibt es auf der Grundlage dieser Prinzipien nicht, sondern es bedarf stets der praktischen Konkordanz im Einzelfall.142 3. Walkers Epistemischer Meta-Konstitutionalismus Walker entwirft seinen Epistemischen Meta-Konstitutionalismus143 – argumentationsstrategisch ganz ähnlich wie Kumm  – in Abgrenzung zu dem herkömmlichen Streit zwischen Intergouvernementalisten und Föderalisten, den er durch die Entwicklung einer gangbaren Synthese zu überwinden sucht.144 Grundlegende Prämisse von Walkers Konzeption ist dabei, dass gegenläufige Ansprüche unterschiedlicher Rechtsordnungen auf Kompetenz-Kompetenz in einem horizontalen, heterarchischen Verhältnis nebeneinander bestehen können.145 Weil die Herausbildung einer monolithischen regionalen oder globalen Verfassungsordnung weder

 Ebd., 299 ff.  Ebd., 299. 142  Ebd. 143  Siehe insbesondere Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002) 317 ff.; ders., Beyond boundary disputes and basic grids: Mapping the global disorder of normative orders, ICON 6 (2008), 373 ff.; ders., Taking Constitutionalism Beyond the State, Polit. Stud. 56 (2008), 519  ff.; ders., Reconciling MacCormick: Constitutional Pluralism and the Unity of Practical Reason, Ratio Juris 24 (2011), 369 ff.; ders., Constitutionalism and Pluralism in Global Context, in: Matej Avbelj/Jan Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, 17 ff.; ders., Constitutional Pluralism Revisited, ELJ 22 (2016), 333 ff. 144  Zwar betont Walker, dass keiner dieser Erklärungsansätze für sich genommen unzutreffend oder inkohärent ist. Weder der intergouvernementale noch der föderale Diskurs sei aber alleine betrachtet adäquat. Die Debatte über das „eigentliche Urheberrecht“ der europäischen Rechtsordnung führe zu nichts: Erstens existiere keine gesicherte Grundlage historischer Erkenntnis um die Überzeugungskraft der gegenläufigen Letztentscheidungsansprüche nationaler und supranationaler Rechtsordnungen zu beurteilen. Es müsse akzeptiert werden, dass diese Ansprüche entweder jeweils aufrechterhalten werden können oder dass sich ein Anspruch gegenüber dem anderen Anspruch behauptet. Zweitens verhindere die gegenwärtige Struktur des Diskurses eine Diskussion darüber, welche Position die überzeugenderen Argumente im Rahmen eines allgemein akzeptierten, konstitutionellen Diskurses habe. Stattdessen werde darüber gestritten, ob eine bestimmte Einheit überhaupt Anspruch erheben könne, aus einem konstitutionellen Blickwinkel betrachtet zu werden. Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002) 317 (322). 145  Ebd., 337. 140 141

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wahrscheinlich noch erstrebenswert sei, propagiert Walker ein gewandeltes Souveränitätsverständnis für die von ihm als postwestfälische Ordnung bezeichnete Weltordnung.146 Während Souveränität nach traditionellem Verständnis Autonomie und Exklusivität beinhalte: Autonomie, weil abgeleitete Hoheitsgewalt per Definition nicht ultimativ sei, Exklusivität, weil die Weltordnung von Staaten eine Welt der sich gegenseitig ausschließenden territorialen Jurisdiktion sei,147 könne man sich in der post-westfälischen Ordnung Autonomie ohne Exklusivität vorstellen, denn es entstünden Gemeinwesen, deren Grenzen sich nicht territorial, sondern funktionell oder sektoral bestimmen.148 Ansprüche auf Letztentscheidung würden sich daher nicht mehr auf umfassende Hoheitsmacht über ein bestimmtes Territorium erschöpfen; vielmehr entstünden auch sektoral oder funktionell begrenzte Letztentscheidungsansprüche, sei es in der EU oder in der WTO.149 Die Geltendmachung von Letztentscheidung durch sektoral oder funktionell begrenzte Gemeinwesen beeinträchtige nicht notwendigerweise die Integrität eines anderen Gemeinwesens.150 Solange etwa die Europäische Union einen plausiblen und effektiven Hoheitsanspruch über eine Reihe von Kompetenzen erhebe, die ursprünglich der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedstaaten vorbehalten waren, werde dadurch nicht die fortwährende Souveränität der Mitgliedstaaten in den verbleibenden Gebieten territorialer Jurisdiktion infrage gestellt.151 Im Unterschied zu Kumm sieht Walker dabei allerdings kein Bedürfnis für die Entwicklung rechtsordnungsübergreifender Prinzipien: Gerade weil sich sektorale, funktionelle und territoriale Letztentscheidungsansprüche nicht gegenseitig ausschließen, sondern nebeneinander stehen können, ist es nach seiner Auffassung ausreichend, dass die unterschiedlichen Rechtsordnungen jeweils ihren konstitutionalistischen Charakter anerkennen und respektieren.152 Die Lösung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte erblickt Walker also nicht in der Entwicklung rechtsordnungsübergreifender Normen, sondern im Dialog und im gegenseitigen Lernen verschiedener epistemischer Einheiten.153 Ein wichtiges Anliegen von Walkers Epistemischem Meta-Konstitutionalismus besteht insbesondere darin, das Konzept des Konstitutionalismus aus dem nationalstaatlichen Korsett herauszuheben und weiterzuentwickeln, um es auf inter- und supranationale Zusammenhänge anzupassen und zu übertragen.154 Im Unterschied  Ebd., 333.  Diese symmetrische Logik beinhalte, dass nicht-exklusive Autorität typischerweise abgeleitet sei: „[T]he mutual exclusivity of comprehensive territorial jurisdictions in the one-dimensional global map of states implies a corresponding mutual exclusivity of effective claims to sovereignty.“ Ebd., 345. 148  Ebd., 346. 149  Ebd. 150  Ebd. 151  Ebd. 152  Ebd., 337 f. 153  Ebd., 358. 154  Ebd., 324. 146 147

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zu Kumm liegt der Schwerpunkt von Walkers Werk nicht darauf, Regeln und Grundsätze für das Verhältnis zwischen verschiedenen rechtsordnungsübergreifenden Rechtsordnungen zu entwickeln, sondern darauf, das herrschende, auf den Nationalstaat bezogene Konstitutionalismusmodell gegenüber neuartigen Formen interund supranationaler Zusammenarbeit zu öffnen.155 Walker kritisiert das von ihm als „alte Denkschule“ bezeichnete,156 weit verbreitete Verständnis von Konstitutionalismus und Konstitutionalisierung als Schwarz-Weiß-, Alles-oder-Nichts-Kategorien, das die fortwährende Rolle der Staaten als „Herren der Verträge“ betone, die postwestfälische Ordnung mit traditionell völkerrechtlichen Begrifflichkeiten und Konzepten betrachte und dazu neige, die angeblichen normativen Defizite inter- und supranationaler Einheiten am Maßstab nationalstaatlicher Schablonen wie Demokratie, Legitimität, Rechenschaftspflicht, Gleichheit und Sicherheit zu messen.157 Diese Denkschule wende den nationalstaatlichen Konstitutionalismusmaßstab auf konstitutionelle Entwicklungen außerhalb des Nationalstaats an, um zu bestimmen, ob ein konstitutioneller Status erreicht oder nicht erreicht sei und werte dadurch einen alternativen und zunehmend einflussreicheren Ansatz ab, wie etwa den kon­ stitutionellen Diskurs des Europäischen Gerichtshofs und die breite öffentlichen Debatte über den Europäischen Konstitutionalismus.158 Diese Neigung, inter- und supranationale konstitutionelle Diskurse zu untergraben, lenke den Fokus der Debatte weg von den eigentlich maßgeblichen Fragen: Anstelle der Überzeugungskraft des jeweiligen konstitutionellen Arguments stünde die Reichweite des Konstitutionalismus im Vordergrund, anstatt über Substanz würde über Kompetenzgrenzen diskutiert.159 Der Versuch, die sich herausbildende postwestfälische Ordnung unter Verwendung ein-dimensionaler Begriffe wie nationalstaatliche Abtretung, Intergouvernementalismus und dem herkömmlichen Recht Internationaler Organisationen zu erklären, verzerre die prägenden Merkmale der gegenwärtigen Transformation.160 Ausgangspunkt für Walkers eigene Konzeption des Konstitutionalismus ist dagegen die Beobachtung, dass sich herkömmliche Formen internationaler Kooperation zwischen Staaten in konstitutioneller Weise weiterentwickelt haben, zunehmend auf die institutionellen Strukturen und normativen Rahmenbedingungen des innerstaatlichen Rechts durchgreifen und sich einen relativ autonomen Raum politischer Organisation herausarbeiteten.161 Daher sei es auch sinnvoll, Fragestellungen und Analyseinstrumente des Konstitutionalismus im Hinblick auf diese interund supranationalen und transnationalen Einheiten und Prozesse zu verwenden.162 Walker strebt nach der Entwicklung eines inklusiven, abgestuften Konstitutionalis Ebd., 334 ff.  Ebd., 322. Damit bezieht er sich auf den hier als intergouvernementalistisch bezeichneten Standpunkt. 157  Ebd., 339 f. 158  Ebd., 322. 159  Ebd., 332. 160  Ebd., 337. 161  Ebd., 355. 162  Ebd., 339 f. 155 156

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musmodells, welches den herkömmlichen nationalstaatlichen Konstitutionalismus mit konstitutionellen Merkmalen inter- und supranationaler Regime verbindet.163 Zwar unterscheide sich die Herausbildung konstitutioneller Prozesse auf der interund supranationalen Ebene von der nationalstaatlichen Verfassungsentwicklung: Während der Konstitutionalismus auf nationalstaatlicher Ebene auf die Quellen symbolischer Macht und institutioneller Stärke zurückgreifen konnte, fehle es interund supranationalen Verfassungsentwicklungen an Tradition, etablierten Regeln der Verfassungsänderung und einem unantastbaren Kern.164 Dennoch sei die Sprache des Konstitutionalismus hinreichend anpassungsfähig, um neuartige Regime auf inter- und supranationaler Ebene zu erfassen.165 Zur adäquaten Erfassung der vielfältigen konstitutionalistischen Erscheinungsformen jenseits des Staats entwickelt Walker Konstitutionalismuskriterien und -merkmale.166 Zentrales Merkmal in Walkers Konstitutionalismusmodell ist dabei der erforderliche Bezug des Konstitutionalismus zu einem Gemeinwesen oder zu einer politischen Gemeinschaft.167 Die Existenz eines Gemeinwesens soll die Verknüpfung zwischen dem Konstitutionalismus in seiner historischen Westfälischen Ausprägung und dem Konstitutionalismus in der postwestfälischen Ordnung gewährleisten.168 Nach Walkers Konzeption kann man von einer Verfassung eines Gemeinwesens außerhalb der Nationalstaaten dann sprechen, wenn folgende sieben Bedingungen gegeben sind:169 Als erste Bedingung muss sich unter den maßgeblichen Akteuren  Ebd., 354.  Ebd., 356. 165  Ebd. 166  Ebd., 340 ff. 167  Ebd., 340 f. Walker betont, dass sich das Verfassungsrecht und der Verfassungsdiskurs in ihrem historischen Ursprung nicht ausschließlich auf die Artikulation von Recht und Politik bezögen, sondern auf die gegenseitige Artikulation im Rahmen eines bestimmten Gemeinwesens. Verfassungsrecht und Verfassungsdiskurs zählten zu einem der konstitutiven Merkmale des Gemeinwesens. Ein Gemeinwesen bedürfe eines konstitutionellen Diskurses, ein konstitutioneller Diskurs bedürfe eines Gemeinwesens. Ebd., 340. 168  Ebd., 341. Dabei verwendet Walker einen weiten Begriff von Gemeinwesen, der nicht auf den Nationalstaat beschränkt ist, sondern in einem gelockerten Sinn auch post-staatliche Gemeinwesen erfasst. Die Idee eines Gemeinwesens erfordere einen plausiblen Anspruch auf politische Autorität und einen Identitäts- oder Gemeinschaftssinn. Diese Merkmale haben Walker zufolge ihren Ursprung im prä-staatlichen Stadtstaat der griechischen Polis und können daher ebenso in post-staatlichen Organisationsformen vorkommen. Allerdings sollen diese Merkmale nach Walker als Kontinuumsbegriffe verstanden werden, die in verschiedenen Abstufungen und mit unterschiedlicher Intensität erscheinen. Nach Walker befinden sich Regime wie die WTO oder NAFTA in Hinsicht auf ihre politische Autorität und ihre Gemeinschaftsdimension an einem bescheidenen Punkt auf dem Kontinuum postnationaler politischer Gemeinschaften, während die EU für Walker der paradigmatische Fall eines post-staatlichen Gemeinwesens ist. Ebd., 343. 169  Für das richtige Verständnis dieser Bedingungen ist freilich zu berücksichtigen, dass die Begriffe „Gemeinwesen“, „Regieren“ und „Repräsentation“ nicht in einem engen politischen Sinne verstanden werden sollten, vielmehr kann ein Gemeinwesen auch durch ein globales bereichsspezifische Regime konstituiert werden und Repräsentation kann durch die Beteiligung betroffener 163 164

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des inter- und supranationalen Regimes ein explizit-konstitutioneller Diskurs und ein konstitutionelles Selbstverständnis herausbilden.170 Diese Bedingung liegt Walker zufolge – zumindest in Ansätzen – im Rahmen der EU, der EMRK, der WTO und auch der UNO vor.171 Denn nach Walker kann eine anspruchsvolle konstitutionelle Abwägung unterschiedlicher Prinzipien und Interessen auch in Regimen mit einem eng definierten Kompetenzbereich stattfinden; eine solche Abwägung sei nicht notwendig auf multifunktionale Gemeinwesen mit der Kompetenz zur Koordination unterschiedliche Politikfelder begrenzt.172 Nach der zweiten Bedingung setzt ein konstitutionelles Gemeinwesen Walker zufolge grundsätzlich die Existenz eines abgegrenzten Kompetenzbereichs voraus, auf den sich der explizit-­ konstitutionelle Diskurs und das konstitutionelle Selbstverständnis beziehen.173 Nach Walker ist auch ein sektoral oder funktional begrenzter Kompetenzbereich noch mit der Grundidee eines konstitutionellen Gemeinwesens vereinbar.174 Als dritte und vierte Bedingungen verlangt Walker die Existenz einer Institution innerhalb des inter- und supranationalen Regimes, die zur unabhängigen Auslegung der Bedeutung und des Geltungsbereichs des polyvalenten Kompetenzbereichs ­befugt ist und dabei einen plausiblen Anspruch auf interpretative Autonomie oder Interpretationshoheit erheben kann.175 Im Kern besteht nach Walker Autonomie ­gerade in einem plausiblen Anspruch eines bestimmten Gemeinwesens auf Letztentscheidung.176 Insbesondere in Konfigurationen überlappender und ­rivalisierender Akteure an und Einbindung in den Politiken eines solchen Regimes erfolgen. So zutreffend Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 53. 170  Ebd., 342 f. 171  Ebd., 345. 172  Ebd., 346. Walker verweist auf das Beispiel der EMRK, in deren Rahmen ein reichhaltiger Verfassungsdiskurs stattfinde, obwohl diese auf den Gegenstand der Menschenrechte beschränkt sei. 173  Ebd., 347. 174  Zwar setze ein Gemeinwesen ein Mindestmaß an regulatorischer Reichweite voraus, allerdings könnten sich auch sektoral oder funktional begrenzte inter- und supranationaler Regime aufgrund ihrer Neigung zum graduellen spill-over ausdrücklicher Kompetenzbereiche in andere, nicht ausdrücklich zugewiesene Kompetenzereiche ausweiten; es wäre daher voreilig, diese Regime aus einer konstitutionellen Perspektive auszuschließen.Entscheidend ist für Walker allein, dass das Regime über einen polyvalenten Kompetenzbereich verfügt, einen Kompetenzbereich also, der – obwohl er selbst nur ein Politikfeld wie etwa den Menschenrechtsschutz oder die Handelspolitik konstituiert – Auswirkungen auf andere Politikfelder hat. Als Beispiel verweist Walker auf die ursprüngliche Fassung der GATT. Diese sei zwar thematisch auf Warenfreiheit beschränkt gewesen, die vier grundlegenden, offen formulierten, unterschiedlichen Interpretationen zugänglichen Prinzipien der Nichtdiskriminierung, Reziprozität, Meistbegünstigung und Transparenz hätten jedoch eine differenzierte Balance divergierender Werte und Interessen erfordert. Ebd., 347 f. 175  Ebd., 348. 176  Dieser Anspruch hat laut Walker eine subjektive und eine objektive Dimension: Subjektiv sei erforderlich, dass die Regimerepräsentanten, also etwa die Richter des EuGH, des EGMR oder des WTO Appellate Body, ihr jeweiliges Gemeinwesen als autonom auffassen würden, objektiv bedürfe es des Nachweises eines hohen Maßes an Befolgung der Bestimmungen des Rechtssystems. Ebd., 345. Es müsse folglich nicht jeder beliebige Anspruch auf Autonomie akzeptiert werden, sondern nur solche Ansprüche, die objektiv und subjektiv plausibel seien. Danach könne etwa die EU eindeutig einen stärkeren Autonomieanspruch erheben als die WTO, deren Anspruch wiede-

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Gemeinwesen sei es üblich, dass die Gerichte der rivalisierenden Rechtsordnungen jeweils einen Anspruch auf Letztentscheidung darauf erheben, die Kompetenzgrenzen und Auslegungsregeln ihrer eigenen Rechtsordnung selbst zu überwachen.177 Dabei bedeute eine solche interpretative Autonomie nicht notwendigerweise, dass von einem externen Blickwinkel ausschließlich die Institution der jeweiligen Rechtsordnung die Kompetenz zur Auslegung der Regeln dieser Ordnung hätten, sondern nur, dass dieser Anspruch aus einem internen Blickwinkel plausibel geltend gemacht werden könne.178 Die fünfte Bedingung für ein konstitutionelles Gemeinwesen ist das Vorhandensein einer hinreichenden institutionellen Regierungsstruktur des Gemeinwesens.179 Dieses Merkmal bezieht sich auf die Fähigkeit der Institutionen, die Regelungsbereiche des inter- und supranationalen Regimes tatsächlich zu beeinflussen und das Ausmaß, in dem die Institutionen in der Lage sind, konstitutionelle Prinzipien wie die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Gewaltenteilung zu entwickeln.180 In der EU sei diese Fähigkeit in einem hohen Maße ausgebildet, die WTO hingegen verfüge zwar über ein relativ weit entwickeltes System institutioneller Differenzierung, der Einfluss der WTO-Institutionen auf die Implementierung von WTO-Recht sei allerdings begrenzt.181 Zur sechsten und siebten Bedingung erhebt Walker schließlich die gesellschaftsbezogenen Kriterien des Bestands von Rechten und Pflichten einer Bürgerschaft und der Festlegung der Bedingungen der Repräsentation der Bürger im Gemeinwesen.182 Unter Rechte und Pflichten einer Bürgerschaft fasst er die europäische Unionsbürgerschaft, aber auch Grundfreiheiten und die europäischen Grundrechte.183 Ein maßgeblicher Indikator für Reprä-

rum stärker sei als der Anspruch der NAFTA. Denn der EuGH und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hätten seit langem ein hohes Maß interpretativer Autonomie für sich in Anspruch genommen. Seit der Gründung des ständigen Appellate Body durch die Uruguay Runde von 1994 verfüge allerdings auch die WTO über einen hinreichend unabhängigen gerichtlichen Spruchkörper, der langsam einen Anspruch auf interpretative Autonomie rechtfertigen könnte. Ebd., 350. 177  Ebd., 348. Die Geltendmachung eigener plausibler Ansprüche auf richterliche Letztentscheidung im Rahmen von Kompetenzkonflikten sei gerade kennzeichnend für die Existenz interpretativer Autonomie des jeweiligen Gemeinwesens. Ebd., 349. 178  Ebd., 349. 179  Ebd., 348 ff. 180  Ebd., 348. 181  Ebd., 350. 182  Ebd. Siehe Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 53 f. In Bezug auf diese Bedingungen besteht eine Verwandtschaft zum Ebenenbegriffs Möllers, für den eine Ebene dann vorliegt, wenn ein bestimmter Rechtsbestand damit beginnt, eigene verfestigte Legitimationsmechanismen zu entwickeln, was durch die Verknüpfung der Rechtserzeugung mit der rechtswirksamen Anerkennung von individuellen oder demokratischen Akten der Selbstbestimmung geschieht. Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 213. Dazu näher oben Erster Teil, Kap. 3, B., III., 1., a. 183  Ebd., 351.

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sentation stellt für ihn der Grad und die Qualität der Stimme („voice“) innerhalb des Gemeinwesens dar.184 4. Maduros harmonisch-diskursiver Konstitutionalismus Miguel Maduro, ehemaliger Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof und Autor der generalanwaltlichen Urteilsempfehlung für das Kadi-Urteil des EuGH, hat eine harmonisch-diskursive Konzeption des Verfassungspluralismus entwickelt, die er als kontrapunktisches Recht bezeichnet.185 Der Begriff des Kontrapunkts stammt aus der Musiktheorie, wo er eine Satztechnik beschreibt, die es ermöglicht, „die Selbstständigkeit der einzelnen Stimmen zu wahren und so unter Einhaltung der Stimmführungsregeln zu einem horizontalen Geflecht unter motivischer Beteiligung aller Stimmen zu gelangen“.186 Ebenso wie die Entdeckung des Kontrapunkts in der Musik eine der bedeutsamsten Entwicklungen in der Musikgeschichte war, steht das Recht heute Maduro zufolge vor einer vergleichbaren Herausforderung: „Auch im Recht müssen wir lernen, die unterschiedlichen Rechtsordnungen und Institutionen, die in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, zu harmonisieren und die positiven Seiten zu entdecken, die sich aus der Vielfalt ergeben, ohne Konflikte zu schüren, die letztlich diese Rechtsordnungen und die darin enthaltenen Werte zerstören können“.187 Maduro ist – ähnlich wie Kumm – der Überzeugung, dass das Ziel einer einheitlichen und integrierten europäischen Rechtsordnung auch erreichbar ist, obwohl die Frage der Kompetenz-Kompetenz unaufgelöst und widerstreitende Ansprüche auf Letztentscheidungskompetenz bestehen bleiben, solange diese Ansprüche

 Ebd., 352. Walker bemerkt, dass eine Spannung bestehe zwischen allgemeinem demokratischen Stimmrecht und demokratischer Repräsentation auf der einen Seite und speziellen Stimmrechten funktionaler Repräsentation und/oder technokratischer Expertise auf der anderen Seite. Dieses Beispiel zeige zwar die Schwierigkeit, das Gefüge bestimmter normativer Debatten von einem alten in einen neuen Kontext zu übertragen. Dennoch sind diese Debatten über Stimme und Repräsentation in transnationalen Regimes eng mit der langen Tradition von voice-bezogenen Fragen im Verfassungsdiskurs verbunden. Daher sind die neuartigen Fragestellungen eher eine Ausweitung als eine Überdeckung alter Diskurse. 185  Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 ff. Die deutsche Übersetzung findet sich in ders., Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus, EuR 2007, 3 ff. Siehe weiter für Maduros Konzeption des Verfassungspluralismus: ders., Europe and the Constitution: What If This Is As Good As It Gets?, in: Marlene Wind/J.H.H. Weiler (Hrsg.), Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74 ff.; ders., Intergouvernementalismus contra Konstitutionalismus: Braucht das transformierte Europa eine Verfassung?, Der Staat 46 (2007), 319 ff.; ders., The importance of being called a constitution: Constitutional authority and the authority of constitutionalism, ICON 3 (2005), 332 ff.; ders., Three Claims of Constitutional Pluralism in: Matej Avbelj/Jan Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, 67 ff. 186  Miguel Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus, EuR 2007, 3 (21 f.). 187  Ebd., 22. 184

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­miteinander in Einklang gebracht werden können.188 Zum einen stellt sich Maduro vor diesem Hintergrund die Aufgabe, Mechanismen und Verfahren zu entwickeln, welche potenzielle Konflikte zwischen der europäischen und den nationalen Rechtsordnungen reduzieren, den Dialog zwischen den jeweiligen Institutionen fördern und nationale Gerichte anhalten würden, ihre Entscheidungen unter Berücksichtigung der Interessen der Europäischen Rechtsordnung zu rechtfertigen.189 Zum anderen will er zeigen, dass eine solche pluralistische Konzeption dem Konstitutionalismus inhärent ist.190 Das zentrale Anliegen von Maduros Ansatz ist es, unter den Bedingungen eines Pluralismus der Rechtsordnungen ein harmonisches Miteinander der unterschiedlichen Rechtsordnungen zu gewährleisten. Für Maduro präsentiert sich das Problem der Kompatibilität der verschiedenen Rechtsordnungen als Koordinationsproblem, in dessen Rahmen das Vorbringen divergierender Letztentscheidungsansprüche zwar legitim ist, dessen Bewältigung allerdings voraussetzt, dass beide Rechtsordnungen dieselben Maßstäbe teilen.191 Damit lässt sich Maduros Ansatz als Kompromiss zwischen Walkers Epistemischem Meta-Konstitutionalismus und Kumms Universellem Best Fit-Konstitutionalismus beschreiben. Denn einerseits erfordert nach Maduro die Koordination zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen – im Unterschied zu Walker – rechtsordnungsübergreifende Maßstäbe. Im Unterschied zu Kumm ist jedoch nicht die Ablösung der nationalen Rechtsordnung als normativer Anknüpfungspunkt für rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte zugunsten der Orientierung an der gemeineuropäischen Rechtsprechungspraxis erforderlich. Vielmehr verortet Maduro die Lösung solcher Konflikte auf der Ebene systemischer Kompatibilität und nicht in der dogmatischen Ausarbeitung unmittelbar anwendbarer Prinzipien.192 Maduro entwickelt vier wesentliche Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit eines Pluralismus von Rechtsordnungen, die er als harmonische Prinzipien des kontrapunktischen Rechts bezeichnet, die bestimmte Anforderungen an die Art und Weise des Diskurses und der Urteilsbegründung in rechtsordnungsübergreifen­ den Zusammenhängen aufstellen.193 Diese Prinzipien sind auf der Meta-Ebene  Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (520 ff.). 189  Ebd., 524. 190  Insbesondere Miguel Maduro, Europe and the Constitution: What If This Is As Good As It Gets?, in: Marlene Wind/J.H.H.  Weiler (Hrsg.), Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74 (96 ff.). 191  Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (524). Maduro spricht von „Grundsätzen, zu denen sich alle Teilnehmer bekennen und welche einerseits die konkurrierenden Machtansprüche respektieren, andererseits aber die Kohärenz und Integrität der europäischen Rechtsordnung Garantieren“. Miguel Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus, EuR 2007, 3 (22). 192  Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (524). 193  Ebd., 524 ff. 188

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a­ ngesiedelt: Sie erlauben den Gerichten eine autonome Perspektive auf rechtsordnungsübergreifen Rechtsprechungskonflikte und damit auch den Rückgriff auf die herkömmliche rechtsordnungseigene juristische Methodik.194 Nach Maduros Überzeugung ist ein pluralistisches Verständnis vom Verhältnis der Rechtsordnungen zueinander dem Konstitutionalismus inhärent.195 Die Fragen nach der Kompetenz-Kompetenz und der Letztentscheidungsbefugnis offen zu lassen, fördere eine der Grundideen des Konstitutionalismus: die Begrenzung von Macht.196 Das traditionelle Verständnis hingegen, wonach Konstitutionalismus untrennbar mit der Existenz einer politischen Gemeinschaft verbunden sei, welche die verfassunggebende Macht innehabe, führe tendenziell zu Machtkonzentration und widerstrebe dem Anliegen der Machtbegrenzung.197 Auch der Grundsatz der Gewaltenteilung beruhe auf der Erwägung, dass sich die Bedeutung und praktische Umsetzung der Verfassung aus dem Widerstreit unterschiedlicher Institutionen ergebe, in der keiner Institution das letzte Wort zukomme.198 Darüber hinaus trage ein pluralistischer Ansatz zu der Inklusion von Interessen aus der anderen Rechtsordnung bei, die in der eigenen Rechtsordnung möglicherweise unterrepräsentiert seien.199

II. Kritische Betrachtung Die diskutierten verfassungspluralistischen Ansätze entwickeln einen überzeugenden normativen Rahmen für die beschriebenen Probleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung. Zum einen rekonstruieren sie rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte auf überzeugende Weise und zeigen auf, dass die traditionellen Positionen des Föderalismus und des Intergouvernementalismus die Eigenheiten und die Dynamik dieser Konflikte nicht adäquat erfassen. Zum anderen überzeugt die Orientierung am Konstitutionalismus als normative Richtschnur. Trotz der ideologischen Vielfalt der gegenwärtigen Weltordnung erscheint eine Orientierung an den grundlegenden Werten des politischen Liberalismus, wie sie im

 Ebd., 525. Näher zu diesen Prinzipien: Unten Erster Teil, Kap. 8, B., III.  Miguel Maduro, Europe and the Constitution: What If This Is As Good As It Gets?, in: Marlene Wind/J.H.H. Weiler (Hrsg.), Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74 (96 ff.). 196  Miguel Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus, EuR 2007, 3 (21). 197  Ebd., 20 f. 198  Miguel Maduro, Europe and the Constitution: What If This Is As Good As It Gets?, in: Marlene Wind/J.H.H. Weiler (Hrsg.), Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74 (96). 199  Durch das Europäische Integrationsprojekt würden einerseits inter- und supranationale Interessen in nationale Entscheidungsprozesse eingespeist, andererseits verschaffe die Europäische Union nationalen Interessengruppen Foren zur Berücksichtigung ihrer Anliegen. Siehe Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (523). 194 195

100 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

­ onstitutionalismus verkörpert sind, möglich und normativ erstrebenswert, zumal K für Verfassungsgerichte. Eine bedeutende Leistung von Kumms Universellem Best Fit-­Konstitutionalismus besteht dabei in der gelungenen Rekonstruktion der akademischen Debatte zu rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten und der Entwicklung eines in seinen Grundzügen schlüssigen konzeptionellen Rahmens für die Behandlung derartiger Konflikte zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten. Der Interaktion nationaler Verfassungsgerichte mit dem EuGH liegen konfligierende Werte und Rationalitäten der jeweiligen Rechtsordnung zugrunde, die der Balance bedürfen, ohne dass dabei auf klare hierarchische Strukturen zurückgegriffen werden kann. Durch die Fokussierung auf die praktisch kaum relevante Frage der Kompetenz-Kompetenz wird die Auseinandersetzung mit den entscheidenden Fragen vernachlässigt, welche Belange auf dem Spiel stehen, wie sie miteinander in Einklang zu bringen sind und welche Form der Kooperation zwischen den Gerichten diesem Ziel am besten dient. An Maduros Harmonisch-diskursive Konstitutionalismus überzeugt insbesondere die Verortung dieser Konflikte auf der Ebene systemischer Kompatibilität und der Hinweis darauf, dass eine pluralistische Konzeption dem Konstitutionalismus insofern entspricht, als dieser durch die Allokation von Entscheidungskompetenzen auf unterschiedliche Akteure nach dem Grundsatz der checks and balances „logische Widersprüche in der Rechtsordnung“ in Kauf nimmt, weil ihm „Machtbegrenzung, Partizipation, und Rechenschaftspflichtigkeit“ wichtiger ist als die Einheit der Rechtsordnung.200 Walker gelingt es, dass Konzept des Konstitutionalismus aus dem nationalstaatlichen Korsett herauszuheben und weiterzuentwickeln und es auf inter- und supranationale Zusammenhänge auch außerhalb der Europäischen Union anzupassen und zu übertragen. Sein abgestuftes Konstitutionalismus-Modell eignet sich dazu, Unterschiede konstitutionalistischer Graduierungen zwischen verschiedenen interund supranationalen Rechtsordnungen und Regimen herauszuarbeiten, was für die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen dem nationalen Recht und dem inter- und supranationalen Recht von Bedeutung sein kann.201 Was bei den stark normativistisch ausgerichteten verfassungspluralistischen Konzeptionen allerdings zu kurz kommt, ist zum einen eine genauere Beschreibung und Erklärung der komplexen Strukturen richterlicher Normbildung und Interaktion in der vernetzten Weltordnung. Der Verfassungspluralismus schenkt der Frage nicht genügend Aufmerksamkeit, warum und unter welchen Bedingungen sich Verfassungsgerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen überhaupt auf gemeinsame Normen verständigen, der Frage also, wie Normbildung in pluralistischen Strukturen ohne zentralisierte Rechtsetzungsinstanz überhaupt stattfinden kann. Kumm beispielsweise entnimmt der gemeineuropäischen Rechtsprechungspraxis bestimmte rechtsordnungsübergreifende, konstitutionalistische Prinzipien, die die Verfas Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (29). 201  Hierzu näher unten Dritter Teil, Kap. 12, B. 200

D. Netzwerktheorie

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sungsgerichte anwenden sollen, es wird aber nicht ersichtlich, wie diese Prinzipien konkret entstanden sein sollen. Wie noch darzulegen sein wird,202 werden in der vernetzten Weltordnung rechtsordnungsübergreifende Normen und Prinzipien in einem dynamischen Prozess iterativer Interaktion zwischen den Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen gebildet und stetig weiterentwickelt. Dieser Prozess wird vom Verfassungspluralismus konzeptionell nicht nachvollzogen. Zum anderen vernachlässigt der Verfassungspluralismus die institutionelle Dimension rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte. Kumm etwa beschreibt die veränderte Ausgangsposition eines Pluralismus der Rechtsordnungen und identifiziert die rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten zugrunde liegenden normativen Belange auf überzeugende Weise. Sein einheitliches Regelwerk konkurrierender materieller Prinzipien überdeckt aber, dass diese Rechtsprechungskonflikte auch Ausdruck tief greifender gesellschaftlicher Rationalitätenkonflikte und divergierender institutioneller Interessen sind. Die komplexe Interaktion zwischen Verfassungsgerichten verschiedener Rechtsordnungen lässt sich nicht einfach auf die Abwägung unterschiedlicher normativer Werte reduzieren, die Dialektik institutioneller Konflikte nicht ohne Weiteres in eine Dialektik von Werten übersetzen, auch wenn die Gerichte konstitutionalistische Werte im Grundsatz teilen. Denn charakteristisch für rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte ist gerade, dass die unterschiedlichen Gerichte der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbunden sind. Dabei zu erwarten, dass nationale und supranationale Verfassungsgerichte rechtsordnungsfremde Belange in gleicher Weise gewichten wie rechtsordnungseigene Belange, trägt der institutionellen Dimension rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte nicht hinreichend Rechnung.

D. Netzwerktheorie Die vernetzte Weltordnung ist geprägt durch die Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts, durch die sich gesellschaftliche Organisationen, Professionen und Diskurse spezialisieren und sektoralisieren,203 sowie durch eine eigentümliche Interaktion der Gerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen, in der Streitigkeiten um die Letztentscheidungskompetenz nicht aufgelöst werden.204 Ein Rückgriff auf die Methodologie, die Begrifflichkeiten und die Prämissen des Netzwerk-Konzepts kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Komplexität der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion zu erfassen. In den Sozialwissenschaften entwickelt sich das Netzwerk zunehmend zu einem Paradigma für eine „Architektur

 Unten Erster Teil, Kap. 7.  Bereits oben Erster Teil, Kap. 2, F. 204  Zur Rekonstruktion dieser Gerichtsinteraktion durch den Verfassungspluralismus: Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., insb. unter 2. 202 203

102 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

der Komplexität“.205 Dahinter steht das Bestreben, komplexe Phänomene sozialer Realität mit den uns zur Verfügung stehenden Worten und Konzepten adäquat zu konzipieren  – eine Realität, die durch die Beschreibung als Netzwerk wiederum konstruiert wird. Im Folgenden wird die sozialwissenschaftliche Netzwerktheorie in den Blick genommen (I.), bevor anschließend rechtswissenschaftliche Ansätze untersucht werden, die das Netzwerkparadigma aufgreifen und konzeptionell inte­ grieren, nämlich Anne-Marie Slaughters Netzwerkansatz (II.) sowie die Netzwerkkonzeption der Systemtheorie (III.).

I. Die sozialwissenschaftliche Netzwerktheorie 1. Rekonstruktion der Hauptaussagen Aus der sozialwissenschaftlichen Netzwerktheorie sind vorliegend drei Ansätze von Interesse: die soziale Netzwerkanalyse, die politikwissenschaftliche Analyse von Politiknetzwerken und die ökonomisch ausgerichtete Organisationssoziologie.206 Die soziale Netzwerkanalyse ist darauf ausgerichtet, Strukturen und Formen der Interaktion zwischen verschiedenen Akteuren zu identifizieren, empirisch zu messen und zu erklären, warum bestimmte Verhaltensmuster stattfinden und welche Auswirkungen sie haben.207 Prämisse ist es,208 dass die verschiedenen Verknüpfungen und Vernetzungen, in die ein Akteur eingebettet ist, signifikante Auswirkungen  So Patrick Kenis/Volker Schneider, Policy networks and policy analysis: Scrutinizing a new analytical toolbox, in: Bernd Marin/Renate Mayntz (Hrsg.) Policy network, 1991, 25 (25). 206  Ein guter Überblick über diese und weitere sozialwissenschaftliche Ansätze: Chris Ansell, Network Institutionalism, in: Sarah Binder/R.A.W. Rhodes/Bert Rockman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Institutions, 2006, 75 ff.; Manuel Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, 17 ff. Für einen Überblick über den Netzwerkbegriff in den Sozialwissenschaften: Johannes Weyer, Zum Stand der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften, in: ders. (Hrsg.), Soziale Netzwerke, 2. Aufl., 2011, 39 ff. 207  David Knoke/Song Yang, Social Network Analysis, 2. Aufl., 2008, 4. Im Vordergrund stehen ein quantitatives Erkenntnisinteresse wie die Häufigkeit der Interaktion zwischen den Netzwerkknoten, die Vielzahl der Verknüpfungen unterschiedlicher Akteure oder die Netzwerkdichte. Zur Analyse der unterschiedlichen Interaktionsformen und -strukturen in Netzwerken verwendet die soziale Netzwerkanalyse vor allem eine Vielzahl differenter quantitativer Methoden, von ­ ­mathematischen und rechenbetonten Modellen wie Dichtetabellen, Blockmodelle und der Graphentheorie hin zu konventionellen Methoden der empirischen Datenerhebung und -analyse. Linton Freeman, The Development of Social Network Analysis, 2004, 3. Solche quantitativen Methoden sind für eine rechtswissenschaftliche Analyse der allgemeinen Strukturen der richterlichen Normbildung und der Interaktion in Gerichtsnetzwerken zwar nur begrenzt hilfreich. Allerdings können einige der Prämissen der sozialen Netzwerkanalyse dazu beitragen, das rechtswissenschaftliche Verständnis des Netzwerkes zu präzisieren. 208  Siehe zur Einführung in die soziale Netzwerkanalyse: David Knoke/Song Yang, Social Network Analysis, 2. Aufl., 2008; Linton Freeman, The Development of Social Network Analysis, 2004; John Scott, Social Network Analysis, 2000; Stanley Wasserman/Katherine Faust, Social Network Analysis, 1994; Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse, 2006. 205

D. Netzwerktheorie

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auf diesen Akteur haben.209 Die soziale Netzwerkanalyse legt einen formalen Netzwerkbegriff zugrunde, nach dem alle Formen von Verknüpfungen zwischen sozialen Handlungseinheiten Netzwerke konstituieren. Die einzigen unverzichtbaren Voraussetzungen für ein Netzwerk sind demnach Akteure und Beziehungen.210 Dagegen hat die Politikwissenschaft einen materiellen Netzwerkbegriff entwickelt, der darauf ausgerichtet ist, die eigentümliche Logik der Interaktion in netzwerkartigen Strukturen herauszuarbeiten. Eingeführt wurde dieser materielle ­Netzwerkbegriff als Reaktion auf die Beobachtung, dass im Nationalstaat die zentralisierte Regierungshierarchie vermehrt durch heterarchische Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteure ersetzt wurde.211 Das Forschungsinteresse richtet sich auf sogenannte „Politiknetzwerken“, also komplexen, heterarchisch strukturierten Verhandlungssystemen zwischen Interessengruppen, Verwaltungseinheiten oder Staaten.212 Das Netzwerkparadigma hat insbesondere in der deutschen Governance-Forschung eine lange Tradition, die sich vor allem in der Auseinandersetzung mit den Strukturen und Prozessen des neokorporatistischen, kooperativen Föderalismusmodells der Bundesrepublik Deutschland herausgebildet hat.213 In diesem Forschungsfeld wird der Netzwerkbegriff nicht primär im Zusammenhang mit der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion, sondern mit der Transformation nationaler politischer Entscheidungsprozesse diskutiert, die sich immer ­weniger  Linton Freeman, The Development of Social Network Analysis, 2004, 2. Den statischen Charakter der sozialen Netzwerkanalyse kritisierend: Mustafa Emirbayer/Jeff Goodwin, Network analysis, culture, and the problem of agency, AJS 99 (1994), 1411 ff. 210  Nach Knoke/Yang bedarf ein soziales Netzwerk nur zwei unerlässlicher Bestandteile: Akteure und Beziehung. Sie konstituieren gemeinsam das soziale Netzwerk. David Knoke/Song Yang, Social Network Analysis, 2. Aufl., 2008, 6. Weil es der sozialen Netzwerkanalyse darum geht, soziale Verknüpfungen zu messen, verwendet sie auch keinen qualitativen Netzwerkbegriff. Eine messbare Netzwerkbeziehung kann also auch zwischen Angestellten und Vorgesetzten innerhalb einer stark hierarchisch gegliederten Bürokratie bestehen. Knoke/Yang zufolge können Akteure bzw. Netzwerkknoten Individuen, informelle Gruppen, Organisationen und Nationalstaaten sein. Ebd., 4. Mit dieser Begriffsdefinition als Grundlage für eine quantitative Netzwerkanalyse auch: Corinna Coupette, Juristische Netzwerkforschung, 2019. 211  Klassisch: R.A.W. Rhodes, Understanding Governance. Policy Networks, Governance, Reflexivity and Accountability, 1997, insb. 29 ff. Siehe zur Transformation des Nationalstaats vom Monopolisten bei der Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben zu einer von mehreren Aufgabenerfüllungseinheiten: Oben Erster Teil, Kap. 2, B. 212  Siehe nur beispielhaft aus der umfangreichen Fachliteratur zu Politiknetzwerken: David Knoke, Political Networks. The Structural Perspective, 1994; R.A.W. Rhodes, Understanding Governance. Policy Networks, Governance, Reflexivity and Accountability, 1997, insb. 29  ff.; Bernd Marin/Renate Mayntz (Hrsg.), Policy Networks. Empirical Evidence and Theoretical Considerations, 1991; Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: J. Child/M. Crozier/R. Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 ff.; dies., Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in: Adrienne Heritier (Hrsg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, PVS-Sonderheft 24 (1993), 39  ff.; David Marsh/R.A.W.  Rhodes (Hrsg.), Policy networks in British Government, 1992; A. Benz/F. Scharpf/R. Zintl (Hrsg.), Horizontale Politikverflechtung. Zur Theorie von Verhandlungssystemen, 1992. 213  Siehe schon Fritz Scharpf/Kenneth Hanf (Hrsg.), Interorganisational Policy making. Limits to Coordination and Central Control, 1978. 209

104 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

durch klassisch hierarchisches Staatshandeln und immer mehr durch „eine lose gekoppelte Konfiguration“ der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Verwaltung, politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen auszeichnen.214 Diese zunehmende Ablösung zentralisierter Regierungshierarchie durch heterarchische Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteure verleitet manche Autoren dazu, den Staat als „network state“215 und die Gesellschaft als „Netzwerkgesellschaft“216 zu konzipieren. Nach dem politikwissenschaftlichen Netzwerkbegriff zeichnet sich Network Governance, das Regieren in Netzwerken, einerseits durch den informellen, horizontalen, heterarchischen Charakter der Interaktion und die relative Autonomie der Netzwerkakteure, andererseits aber durch gemeinsame Interessen, sowie ein erhebliches Maß an Stabilität, Integration und Reziprozität aus.217 Die Prämisse des politikwissenschaftlichen Netzwerkansatzes ist dabei, dass sich die Veränderungen der Entscheidungsstrukturen – in Form der Einbindung einer Vielzahl öffentlicher und privater Akteure in den politischen Prozess – auf Politikergebnisse auswirken. Die ökonomische Organisationssoziologie schließlich hat den gesellschaftlichen Trend zur Netzwerkbildung gerade im wirtschaftlichen Bereich frühzeitig thematisiert und das Netzwerk als Organisationsarrangement jenseits der Alternativen von Hierarchie und Markt eingeordnet und analysiert.218 Danach sind Unternehmens Gunther Teubner, Polykorporatismus: Der Staat als „Netzwerk“ öffentlicher und privater Kollektivakteure, in: Peter Niesen/Hauke Brunkhorst (Hrsg.), FS Maus, 1999, 346 ff. 215  So Manuel Castells, End of Millenium, 1998, 311. 216  Vgl. Dirk Messner, Die Netzwerkgesellschaft, 1995. 217  So etwa bei Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 ff.; Patrick Kenis/Volker Schneider, Policy networks and policy analysis: Scrutinizing a new analytical toolbox, in: Bernd Marin/Renate Mayntz (Hrsg.) Policy network, 1991, 25 ff. Es werden drei Formen von Politiknetzwerken unterschieden: „1) gouvernementale Netzwerke zwischen rein öffentlichen Akteuren, die auf verschiedenen Regierungsebenen angesiedelt sein können (international, europäisch, national, regional, lokal); 2) gesellschaftliche Netzwerke, die nur private Akteure aus Wirtschaft und/oder Zivilgesellschaft einbeziehen; und 3) öffentlich-private Netzwerke, in denen sowohl öffentliche als auch private Akteure gleichberechtigt miteinander interagieren.“ Tanja Börzel, European Governance. Markt, Hierarchie oder Netzwerk?, in: Gunnar Folke Schuppert/Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, 613 (618). Typisch für alle diese Formen von Politiknetzwerken ist, dass sie sich im Rahmen hochkomplexer, an Problemlösung orientierter politischer Prozesse mit einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure um issue-spezifische Politikfelder herum formieren. Chris Ansell, Network Institutionalism, in: Sarah Binder/R.A.W.  Rhodes/Bert Rockman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Institutions, 2006, 75 (81). 218  In den Anfängen dieses Forschungsstrangs waren das vor allem: Walter Powell, Neither Market Nor Hierarchy: Network Forms of Organization, Res. Organ. Beh. 12 (1990), 295 ff. Siehe aber auch schon Hans Thorelli, Networks: Between Markets and Hierarchies, SMJ 7 (1986), 37  ff.; Mark Granovetter, Economic action and social structure: the problem of embeddedness, AJS 91 (1985), 481 ff.; Peter Ring/Andrew Van de Ven, Structuring cooperative relationships between organizations, SMJ 13 (1992), 483 ff.; Charles Snow/Raymond Miles/Henry Coleman, Managing 21st century network organizations, Organ. Dyn. 20 (1992), 5 ff. In diversen Wirtschaftssektoren vom Baugewerbe, hin zur Film- und Musikindustrie, der Textilindustrie und der Hochtechnologie bildeten sich kooperative und informelle, äußerst flexible und dezentral organisierte Koordinati214

D. Netzwerktheorie

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netzwerke eine eigenständige Form der Koordination wirtschaftlicher Aktivität,219 die im Unterschied zur Hierarchie anpassungsfähiger und umweltoffener seien220 und daher typischerweise in Situationen hoher Umweltunsicherheit mit hohen Flexibilitätserfordernissen vorkämen.221 Im Unterschied zum Markt bedürfe die komplexe, wissensintensive ökonomische Tätigkeit des Netzwerks eines gewissen Maßes an Verlässlichkeit, Kontinuität und Wissensbündelung, die der Markt nicht zu leisten vermöge.222 Anders ausgedrückt, koordiniert der Markt ökonomische Aktivität durch Vertrag, und die Hierarchie durch Autorität, während sich das Netzwerk durch eine eigene Netzwerklogik auszeichnet,223 nach der die Koordination primär auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruht.224 onsformen zwischen verschiedenen Unternehmen, die sich als überraschend erfolgreich und nachhaltig erwiesen. Dazu im Einzelnen Walter Powell, ebd. Vermeintlich vormoderne Beziehungsnetzwerke in der norditalienischen Emilia-Romagna-Region entwickelten sich zu Motoren der europäischen Wirtschaftsproduktion. Ebd., 310 f. Allerdings ließen sich diese erstaunlichen Formen wirtschaftlicher Koordination nicht befriedigend mit den herkömmlichen ökonomischen Organisationskategorien fassen: weder die hierarchische Organisation der Firma noch die Dezentralität des Marktes erschienen als Kategorien angemessen. Auch die politikwissenschaftliche governance-Forschung ordnet das Netzwerkphänomen als neuartiges Organisationsarrangements zwischen Hierarchie und Markt ein. Siehe etwa Tanja Börzel, Organizing Babylon – On the Different Conceptions of Policy Networks, Public Administration 76 (1998), 253 ff.; Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 ff. In beiden Konzeptionen ist das Netzwerk also eine Antwort auf die Dysfunktionalitäten der Hierarchie und des Marktes. Im Unterschied zum ökonomischen Kontext werden in der governance-Forschung allerdings nicht die Hierarchie mit der Firma und der Markt nicht mit dem vertragsförmigen Austausch gleichgesetzt, sondern diese Phänomene werden auf politische Problemkonstellationen übertragen. Als Kernproblem der Hierarchie, für die ein Über-/Unterordnungsverhältnis kennzeichnend ist, wie etwa im Fall eines Verwaltungsakts oder eines Gerichtsurteils, wird der Umstand identifiziert, dass die Entscheidung nicht konsensual getroffen wird. Der von der Entscheidung Betroffene kann den Inhalt der Entscheidung nicht mitbestimmen. Siehe Fritz Scharpf, Koordination durch Verhandlungssysteme: Analytische Konzepte und institutionelle Lösungen, in: Arthur Benz/Fritz Scharpf/Reinhard Zintl (Hrsg.), Horizontale Politikverflechtung. Zur Theorie von Verhandlungssystemen, 1992, 51 ff. 219  Walter Powell, ebd., 301. 220  Nach Teubner sind Sozialbindungen „der Kitt der Netzwerke“. Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ingo Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance. Perspektiven eines produktiven Umgangs mit Unsicherheit im Rechtssystem, Tübingen 2009, 1. Die für eine Hierarchie kennzeichnende Zentralisierung der Umweltkontakte an der Organisationsspitze berge hingegen die Gefahr des Führens starrer Strategien durch das „bürokratisch-rigide Festhalten an organisationsintern erzeugten Umweltkonstrukten“. Ebd. 221  Zum Phänomen der Umweltunsicherheit: Frances Milliken, Three types of perceived uncertainty about the environment: State, effect, and response uncertainty. Academy of Management Review, 12 (1987), 133 ff. 222  Walter Powell, Neither Market Nor Hierarchy: Network Forms of Organization, Res. Organ. Beh. 12 (1990), 295 (324). 223  Ebd., 301. 224  Chris Ansell, Network Institutionalism, in: Sarah Binder/R.A.W. Rhodes/Bert Rockman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Institutions, 2006, 75 (82). Diese distinktive Form „network

106 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

2. Kritische Betrachtung Die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung hat zur Analyse lose gekoppelter, heterarchischer Arrangements ein differenziertes Instrumentarium entwickelt, mit dem sich die Dynamik, Interaktion und Funktionslogik der Entscheidungsprozesse zwischen autonomen Institutionen besser verstehen und konzipieren lässt. Bestimmte Prämissen und Begrifflichkeiten der Netzwerktheorie lassen sich auch sinnvoll für die verfassungsgerichtliche Interaktion in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen fruchtbar machen.225 Denn angesichts der Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung226 stellt sich diese Gerichtsinteraktion nicht als eine kollektiv geplante Form der hierarchischen Organisation dar, sondern als eine heterarchische und informelle Kooperation verschiedener Gerichte, die auf die Herbeiführung einer gemeinsamen Koordinationslösung gerichtet ist. Vergleichbar mit Politik- und Unternehmensnetzwerken agieren Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen unter Bedingungen hoher Umweltunsicherheit, sind

governance“ wird auch definiert als „a select, persistent, and structured set of autonomous firms (as well as nonprofit agencies) engaged in creating products or services based on implicit and open-ended contracts to adapt to environmental contingencies and to coordinate and safeguard ex-changes“. So Candace Jones/William Hesterly/Stephen Borgatti, A General Theory of Network Governance: Exchange Conditions and Social Mechanisms, AMR 22 (1997), 911 (914). 225  Zur Anwendung des sozialwissenschaftlichen Netzwerkbegriffs auf die rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion, siehe unten Erster Teil, Kap. 6. Darüber hinaus lassen sich mit dem Netzwerkbegriff auch die Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union überzeugend konzipieren. So auch Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, 215 ff.; KarlHeinz Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranationality – The Viability of the Network Concept, ELJ 3 (1997), 33 (35): „[T]he EU should be regarded as an avant-garde body which, through its experiments with self-organised and flexible public-private decision-making networks, might function as a testing ground for the much needed modernisation of the ‘state’ in the light of rapidly changing social and economic conditions.“; Beate Kohler-Koch, The Evolution and Transformation of European Governance, in: Beate Kohler-Koch/Rainer Eising (Hrsg.), The Transformation of Governance in the European Union, 1999, 14 (28): „[T]he purpose and institutional architecture of the European Community may be best suited to a network type of governance.“ Kritisch Tanja Börzel, European Governance. Markt, Hierarchie oder Netzwerk?, in: Gunnar Folke Schuppert/ Ingolf Pernice/Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, 613 (625): „In der EU wird ­wesentlich mehr hierarchisch als in Netzwerken regiert.“. Auch nach Arnst eignet sich das Mehrebenen-Modell besser als Netzwerkansätze „für Rechtsprechungskoordination innerhalb der EG wegen ihrer weitgehenden Formalisierung“. Siehe Olga Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Sigrid Boysen u.  a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 58 (74 f.). Dagegen erkennt Pernice an, dass „Formen und Verfahren der Kooperation und gegenseitigen Beeinflussung“ mit dem „Begriff des Europäischen Verfassungsverbunds oder im Modell des Mehrebenensystems schwerer erfassbar sind, da beide Modelle nach außen abgrenzbare, stabile und gewissermaßen geschlossene Beziehungen oder Einheiten voraussetzen“. Daher plädiert er dafür, den „Netzwerkgedanke[n] als heuristisches Instrument“ ergänzend zum Europäischen Verfassungsverbund heranzuziehen. Ingolf Pernice, La Rete Europea di Costituzionalità – Der Europäische Verfassungsverbund und die Netzwerktheorie, ZaöRV 70 (2010), 51 (66 f.) 226  Dazu im Einzelnen oben Erster Teil, Kap. 2.

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auf die Behauptung ihrer jeweiligen Autonomie bedacht und dennoch kennzeichnet sich die gerichtliche Koordination durch Verlässlichkeit und Gegenseitigkeit.227 Man kann sich zwar auf den Standpunkt stellen, dass die Betrachtung rechtsordnungsübergreifender gerichtlicher Entscheidungsprozesse nicht mehr die Aufgabe der Rechtswissenschaft, sondern nur der Politologie oder Soziologie sei. Auch kann man kann dem Phänomen der Netzwerke mit Skepsis begegnen,228 zumal dieses wesentliche Bausteine des Rechts im Nationalstaat, Formalisierung, Hierarchisierung, Kategorisierung, Planung, in Frage stellt.229 Allerdings droht die Rechtswissenschaft ihre Fähigkeit einzubüßen, gesellschaftsadäquate Begriffe und Konzeptionen zu entwickeln und Antworten auf die Herausforderungen der vernetzten Weltordnung zu finden, soweit sie sich nicht mit den Entscheidungsstrukturen der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion auseinandersetzt. Ziel dieser Arbeit wird es daher sein, auf der Grundlage sozialwissenschaftlicher Netzwerkansätze einen Netzwerkbegriff zu entwickeln, mit dem sich die rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion besser verstehen und modellieren lässt.230 Dabei soll das Netzwerk als Konstruktion sozialer Strukturen verstanden werden, die sich maßgeblich auf das Recht und auf rechtliche Zusammenhänge auswirken. Das Netzwerk wird folglich als analytisch-deskriptive und nicht als normative Kategorie herangezogen. Der Begriff des Netzwerks erfasst besser als der Begriff des Mehrebenensystems die funktionale Differenzierung, die Fragmentierung, die vielfältigen institutionellen Verflechtungen und Verschränkungen sowie die unterschiedlichen Bereichslogiken sektoralisierter Regime in der vernetzten Weltordnung. Denn im Unterschied zum „bildlos-nebulöse Governance-Begriff“ eröffnet der Netzwerkbegriff „ein opulentes Beschreibungs- und Bedeutungsreservoir“231 das sich in besonderem Maße dafür eignet, die gesteigerte Komplexität der vernetzten Weltordnung zu erfassen.232  Dazu näher unten Erster Teil, Kap. 6, E.  So der Standpunkt zum Netzwerkphänomen in Teilen der deutschen Rechtswissenschaft. Mit dieser Einschätzung Sigrid Boysen/Ferry Bühring/Claudio Franzius u. a., Netzwerke im Öffentlichen Recht, in: Sigrid Boysen/Ferry Bühring/Claudio Franzius u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 47. Assistententagung Öffentliches Recht, Baden-Baden 2007, 290. Exemplarisch kann auf Isensee verwiesen werden, der – sicher nicht ohne polemische Intention – erwägt, die Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer in „Vereinigung Kosmopolitischer Netzwerkexperten“ umzutaufen, Josef Isensee, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 63 (2004), 90 (91). 229  So Christoph Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts, in: Janbernd Öbbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, 285 ff. (300) („Unterscheidungen, die gerade für ein rechtswissenschaftliches Verständnis von Institutionen wenn nicht konstitutiv, so doch von großer Bedeutung sind, werden durch die Beschreibung als Netzwerk zurückgenommen oder mindestens relativiert.“). 230  Dazu im Einzelnen unten Erster Teil, Kap. 6. 231  Alexandra Kemmerer, Der normative Knoten. Über Recht und Politik im Netz der Netzwerke, in: Sigrid Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 195 (204). 232  Kemmerer bringt das auf den Punkt: „Die kaleidoskopische Vielfalt von Bild und Begriff des Netzwerks spiegelt die Komplexität einer fragmentierten Welt der Differenzen und Verklammerungen, der Komplementaritäten und Wechselbezüglichkeiten wieder.“ Alexandra Kemmerer, Der normative Knoten. Über Recht und Politik im Netz der Netzwerke, in: Sigrid Boysen u. a. (Hrsg.), 227 228

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Zwar sollte wegen der normativen Struktur des Rechts vermieden werden, Begriffe aus anderen Wissenschaftsdisziplinen unreflektiert in die Rechtswissenschaften zu übernehmen. Es ist aber eine Frage, ob die Gefahr besteht, Netzwerke durch eine Verrechtlichung des Netzwerkbegriffs zu rationalisieren und zu legitimieren und eine andere, ob man sich mit diesem Phänomen sozialer Organisation ausei­ nandersetzen und seine Auswirkung auf rechtliche Prozesse analysieren sollte. Buxbaums Proklamation „network is not a legal concept“233 kann daher nur insoweit zugestimmt werden, als sie bedeutet, dass Netzwerk kein dogmatischer Begriff ist. Sie ist aber unzutreffend, soweit daraus folgen soll, dass das Recht zum Netzwerkphänomen keinen Beitrag leisten kann oder sollte.

II. Der Netzwerkansatz Anne-Marie Slaughters 1. Rekonstruktion der Hauptaussagen Anne-Marie Slaughters Netzwerkansatz ist eingebettet in eine umfassendere Theorie der internationalen Beziehungen, in der die Herausbildung von Regierungsnetzwerken die Entstehung einer neuen Weltordnung signalisiert. In ihrem viel beachteten Buch „A New World Order“ entwirft Slaughter eine Weltordnung, in der exekutive, judikative und legislative Regierungsnetzwerke als zentrale Akteure in den internationalen Beziehungen grenzüberschreitenden Problemen durch den Austausch von Informationen, die Angleichung nationaler Regeln und die Koordination nationaler Politiken begegnen. Slaughter definiert Netzwerk als ein „pattern of regular and purposive relations among like government units working across the borders that divide countries from one another and that demarcate the ‚domestic‘ from the ‚international‘ sphere“.234 Netzwerke entstehen danach aus der informalen, kooperativen, grenzüberschreitenden Beziehung öffentlicher Akteure unterschiedlicher Rechtsordnungen, die mit der Zeit gegenseitiges Vertrauen aufbauen und sich verfestigen. Dabei hebt Slaughter insbesondere den informalen Charakter von Netzwerken hervor, den sie als zentrales Merkmal von Regierungsnetzwerken bezeichnet.235 Slaughters Weltordnung beruht auf der Prämisse des „disaggregated state“: Einem Staat, der im Globalisierungsprozess zwar nicht verschwindet, aber in seine ihn konstituierenden Institutionen zerfällt, die dann mit ihren ausländischen Gegenparts kooperieren. Aus der Interaktion von Regierungsbeamten, Gerichten und

Netzwerke, 2007, 195 (223). Auch Möllers erblickt in dieser Offenheit des Netzwerkbegriffs auch einen der Vorzüge dieses Begriffs. Christoph Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts, in: Janbernd Öbbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, 285 (300). 233  Richard Buxbaum, Is „Network“ a Legal Concept?, JITE 149 (1993), 698 (704). 234  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 14. 235  Ebd., 33.

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selbst Parlamenten verschiedener Nationalstaaten untereinander oder mit Vertretern supranationaler Organisationen entstehen globale Regierungsnetzwerke.236 Sie sind Slaughter zufolge der Ausweg aus dem „governance trilemma“, das daraus resultiert, dass (1) ein globaler, oder zumindest grenzüberschreitender Regelungsbedarf infolge des Globalisierungsprozesses besteht, (2) es nicht erstrebenswert ist, dass diese Regeln von einer zentralisierten Weltregierung stammen und (3) die staatlichen Akteure für ihr Handeln im Rahmen von Regierungsnetzwerken rechenschaftspflichtig sein sollten.237 Der normative Reiz von Regierungsnetzwerken zur Lösung dieses Trilemmas besteht nach Slaughter vor allem darin, dass diese die geografisch begrenzte Regelungskapazität des Nationalstaats in Form eines dezen­ tralen und flexiblen Ansatzes überwinden, ohne auf die Rückkoppelung an nationalstaatliche Legitimationsmechanismen zu verzichten. Denn die zentralen Akteure in der neuen Weltordnung bleiben nationalstaatliche Akteure. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Slaughterschen Konzeption vom „disaggregated state“ ist der konzeptionelle Schritt, staatlichen Akteuren eine doppelte Funktion zuzuweisen: Über die Vertretung nationaler Interessen hinaus sollen sie auch inter- und supranationale Interessen vertreten.238 Staatliche Vertreter in Regierungsnetzwerken sind nicht ausschließlich der Interessenpolitik ihres Nationalstaats verpflichtet, sie verbindet ein professioneller Ethos, der einen sachorientierteren, deliberativen Diskurs ermöglicht. Slaughter nimmt an, dass sich innerhalb der epistemischen Gemeinschaft von Regierungsnetzwerken „Netzwerknormen“ herausbilden, die den Mitgliedern in Regierungsnetzwerken einen bestimmten Standard professioneller Integrität und Kompetenz abverlangen. Das unnachgiebige Bestehen auf die Durchsetzung nationaler Interessen verletze diesen Kodex und werde daher vermehrt durch deliberativen, sachorientierten Dialog ersetzt.239 Slaughter unterscheidet zwischen horizontalen und vertikalen Netzwerken.240 Horizontale Netzwerke entstehen durch Interaktion staatlicher Akteure unter­  Der Begriff „government“ wird in der angelsächsischen Literatur grundsätzlich als Synonym für den Staat verwendet. Insofern Slaughter also von „government networks“ spricht und dieser Begriff hier als Regierungsnetzwerke übersetzt wird, geht es also um Netzwerke, die sich aus staatlichen Akteuren und nicht nur der Exekutive zusammenstellen. Siehe auch Anne-Marie Slaughter, Global Government Networks, Global Information Agencies, and Disaggregated Democracy, Mich. J. Int’l L. 24 (2003), 1041 ff. 237  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 10. 238  Ebd., 233: „In a pure disaggregated view, one set of government officials operates at both the national and the global-regional levels, performing a set of interrelated functions, but these officials would have to represent both national and global interests.“ 239  Vgl. Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 205. 240  Darüber hinaus unterscheidet Slaughter verschiedene Formen und Funktionen von Netzwerken nach Zweck und Akteuren der Kooperation. Der Zweck von Harmonisierungsnetzwerken bestehe darin, meist durch Völkerrechtsvertrag oder Verwaltungsabkommen, die anwendbaren Regeln in einem bestimmten Regulierungsbereich wie Handel, Umweltschutz oder Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung einem gemeinsamen regulativen Standard zu unterwerfen. Vollzugsnetwerke würden dazu beitragen, in Harmonisierungsnetzwerken geschaffene Regeln durchzusetzen. Infor236

110 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

schiedlicher Nationalstaaten.241 Vertikale Netzwerke entstehen durch das Zu­ sammenspiel zwischen den Vertretern supranationaler Organisationen, auf die der Nationalstaat Hoheitsrechte übertragen hat, und den nationalstaatlichen Institutionen.242 Das prägende Merkmal der Interaktion in vertikalen Netzwerken ist, dass sie staatliche Institutionen unmittelbar mit ihrem jeweiligen Gegenüber in supranationalen Organisationen verbinden. Eine zentrale Rolle in Slaughters neuer Weltordnung spielen horizontale und vertikale Richternetzwerke. In den vielfältigen Beziehungsgeflechten zwischen Richtern unterschiedlicher Jurisdiktionen erblickt sie die schrittweise Schaffung eines globalen Rechtssystems durch eine „community of courts“ – und nicht die Etablierung einer globalen Rechtshierarchie mit dem Internationalen Gerichtshof als Spitze der Pyramide. In dieser „‚Global Community of Courts‘ finden sich Richter nationaler, supranationaler, internationaler, internationalisierter und transnationaler Spruchkörper eingewoben in mitunter formalisierte, meist aber ganz informelle ‚judikative Netzwerke‘ zu deren Koordination Rechtsformen erst noch zu erarbeiten sind“.243 Durch grenzüberschreitenden Dialog in Form gegenseitigen Zitierens der jeweiligen Urteile und persönlicher Treffen bildet sich neben einer gemeinsamen professionellen Identität zunehmend ein globaler Konsens in Hinsicht auf bestimmte Normen heraus, insbesondere im Bereich des Menschenrechtsschutzes.244 mationsnetzwerke dienten dem Austausch von Informationen und der Destillation der besten Methode. Harmonisierungs-, Vollzugs- und Informationsnetzwerken können jeweils auch verschiedene Funktionen innerhalb desselben Netzwerkes sein. 241  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 163. Dazu zählt sie die Verhandlungen von Regierungsvertretern in Internationalen Organisationen, etwa im UN-Sicherheitsrat, aber auch im Rat der EU. 242  Vertikale Netzwerke sind in erster Linie Vollzugsnetzwerke, auch wenn sie teilweise als Harmonierungsnetzwerke fungieren können. Beispielhaft: Die Verhandlungen von nationalen Ministern im Rat der Europäischen Gemeinschaft sind Slaughter zufolge horizontale Harmonisierungsnetzwerke, das Verhältnis nationaler Gerichte zum Europäischen Gerichtshof konstituiert ein vertikales Gerichtsnetzwerk. 243  Alexandra Kemmerer, Der normative Knoten. Über Recht und Politik im Netz der Netzwerke, in: Sigrid Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 195 (200). 244  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 70 und 101. Slaughter identifiziert fünf Formen grenzüberschreitender Interaktion zwischen Richtern. Als „constitutional cross-fertilization bezeichnet sie den Befund, dass Richter sich gegenseitig in ihren Urteilen zitieren und Ideen anderer Gerichte aufgreifen, was zur Angleichung nationaler Normen führen kann“. Zweite, eigenständige Kategorie ist der richterliche Dialog im Bereich des Menschenrechtsschutzes; auf diesem Gebiet ist die richterlicher Kooperation intensiv und ausgeprägt und befindet sich laut Slaughter in der Entwicklung zu einer „global community of human rights law“. Ebd., 79. Weiterhin identifiziert Slaughter richterliche Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit transnationalen Rechtsstreitigkeiten über Fragen der Gerichtsbarkeit und die Beziehung zwischen dem Europäischen Gerichtshof und nationalen Gerichten als weitere Formen grenzüberschreitender richterlicher Interaktion. Schließlich verweist sie auf offizielle Treffen der Gerichte „von Angesicht zu Angesicht“, wie sie etwa zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder dem U.S. Supreme Court und dem Europäischen Gerichtshof stattgefunden haben, die sie als Informationsnetzwerke bezeichnet.

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2. Kritische Betrachtung Mit der Betonung der Herausbildung gemeinsamer professioneller Identitäten bei Mitgliedern in judikativen Netzwerken, die nationalstaatliche Grenzen transzendieren, greift Slaughter ein wichtiges Element der vernetzten Weltordnung auf. Sie beobachtet zutreffend, dass sich Richternetzwerke durch eine gewisse professionelle Homogenität auszeichnen, die sich auf den Diskurs und die Herangehensweise an Problemlösungen innerhalb dieser Netzwerke auswirkt und in die Herausbildung gemeinsamer Normen münden kann.245 Insgesamt liegt die Stärke von Slaughters Konzeption der neuen Weltordnung darin, wie sie unterschiedliche größere Entwicklungsstränge zusammenführt und überzeugend die Entstehung einer neuen, netzwerkartigen Form des Regierens skizziert. Es bleiben allerdings viele Fragen offen und ausfüllungsbedürftig. Obwohl Netzwerke eine zentrale Rolle in Slaughters Konzeption der neuen Weltordnung spielen, ist ihr Netzwerkbegriff untertheoretisiert und vernachlässigt zentrale Fragen der Legitimation von Regierungsnetzwerken.246 Slaughter weist auf die Tugenden von Netzwerken wie Handlungsschnelligkeit, Flexibilität, Dezentralisierung von Macht und Einbeziehung einer Vielfalt von Akteuren hin und preist Netzwerke als überlegene Form der Politikgestaltung im Vergleich zu hierarchischen Handlungsformen an.247 Auf die zahlreichen legitimatorischen Probleme, die mit der Netzwerkbildung verbunden sind, geht sie hingegen nicht ein.248 Soweit Slaughter den Ausweg aus dem governance trilemma darin erblickt, dass in Regierungsnetzwerken legitimierte nationalstaatliche Institutionen die maßgeblichen Akteure bleiben, verkennt sie, dass es für Legitimation nicht allein darauf ankommt, dass ein legitimierter Akteur handelt, sondern es ist ebenso maßgeblich, in welchen Prozessen und mit welchen Handlungsformen der Akteur agiert. Entscheidungsprozesse und Handlungsformen von transnationalen Behördennetzwerken unterscheiden sich von Entscheidungsprozessen und Handlungsformen nationaler Behörden. Insbesondere können im ersteren Fall Verantwortlichkeit und Transparenz nicht in gleichem Maße gewährleistet werden wie im letzteren. Auch Slaughters Konzeption der doppelten Funktion von Richtern erscheint konkretisierungsbedürftig. Soweit Slaughter diese Funktion als gleichrangig betrachtet, bestehen gegen diese Sichtweise demokratietheoretische Einwände: Während sich die Aufgabe staatlicher Akteure nationale Interessen zu vertreten aus der

 Ebd., 213.  Mit Kritik an Slaughters Ansatz: José Alvarez, Do Liberal States Behave Better?, EJIL 12 (2001), 183 ff.; Alex Mills/Tim Stephens, Challenging the Role of Judges in Slaughter’s Liberal Theory of International Law, LJIL 18 (2005), 1 ff. 247  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 167. 248  Ausführlich zur Frage der demokratischen Verantwortung in Netzwerken: Nikolaos Simantiras, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsverbund, 2016, 47 ff. 245 246

112 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

demokratischen Legitimationskette ableiten lässt, bleibt unklar, auf welcher Grundlage sie auch inter- und supranationale Interessen vertreten sollten.249

III. Der systemtheoretische Netzwerkansatz 1. Rekonstruktion der Hauptaussagen In der deutschen rechtswissenschaftlichen Systemtheorie hat sich das Netzwerk längst zu einem Zentralbegriff entwickelt. Von den verschiedenen systemtheoretischen Netzwerkansätzen sollen im Folgenden die auf das Privatrecht (a.) und auf das globale Recht (b.) bezogenen Netzwerkkonzeptionen näher untersucht wer­ den.250

 Allerdings vermeidet es Slaughter, sich auf eine eindeutige Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden Funktionen festzulegen. An einer Stelle betont sie, dass Doppelfunktion nicht notwendigerweise „dual accountability“ bedeutet, Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 232, an anderer ruft sie Richter dazu auf, sich nicht nur als Repräsentanten eines bestimmten Staates zu betrachten, sondern auch als Mitglieder eines grenzüberschreiten Berufsstandes. Siehe ebd., 68. Slaughter lässt auch offen, ob die von ihr propagierte Doppelfunktion ausschließlich erwünschte Folge eines gegenwärtig zu beobachtenden Sozialisierungsprozess ist, oder ob bereits jetzt eine solche Doppelfunktion rechtlich greifbar ausgestaltet werden sollte. 250  Instruktiv zum Netzwerkverständnis der Systemtheorie: Manuel Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, 31 ff. Darüber hinaus hat Karl-Heinz Ladeur eine anspruchsvolle liberal-systemtheoretische Rechtstheorie entwickelt, die das Recht in einem Netzwerkmodell rekonstruiert. Siehe insbesondere Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz – Selbstorganisation – Prozeduralisierung, 1992, 176 ff.; ders., Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 204 ff.; ders., Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels, RabelsZ 64 (2000), 60 (78 ff.); ders., Die Regulierung von Selbstregulierung und die Herausbildung einer „Logik der Netzwerke“, Die Verwaltung 2001, Beiheft 4, 59 (64 ff.); Ino Augsberg/ders., Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat: Humangenetik – Neurowissenschaft – Medien, 2008, 164 ff. Siehe grundlegend zu Ladeurs Rechtstheorie: Ino Augsberg/Tobias Gostomzyk/Lars Viellechner (Hrsg.), Denken in Netzwerken. Zur Rechts- und Gesellschaftstheorie Karl-Heinz Ladeurs, 2009. Weil Formen deliberativer Demokratie und die Vorstellung einer öffentlichen Vernunft angesichts von Globalisierung und Fragmentierung der Gesellschaft  – und der daraus resultierenden Zersetzung eines allgemein geteilten und zentral verfügbaren Wissens – an ihre Grenzen stießen, müssen alle Hoffnungen auf die relationale Rationalität der gesellschaftlichen Beziehungsnetzwerke gesetzt werden. An die Stelle der planmäßigen Schaffung von Ordnung durch eine kollektive öffentliche ­Vernunft trete eine Praxis des Erprobens, des Beobachtens und des Akzeptierens von Anschlusszwängen im Netzwerk. Lösungen für die Koordinationsprobleme des vielschichtigen, überlappenden Netzwerkarrangements ergäben sich nicht aus der Anwendung genereller Normen auf den Einzelfall, sondern entwickelten sich im netzwerkspezifischen Verhandlungsprozess. Diese Transformation der Organisationsgesellschaft zur Netzwerkgesellschaft verlange vom Recht grundlegende Anpassungen. Karl-Heinz Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranationality – The Viability of the Network Concept, ELJ 3 (1997), 33 f. 249

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a. Die privatrechtliche Netzwerkkonzeption Der auf das Privatrecht gerichtete systemtheoretische Netzwerkansatz, der auf Teubner251 und Amstutz252 zurückgeht, ist darauf ausgerichtet, netzwerkartige Vertragsstrukturen, wie etwa virtuelle Unternehmen, Just-in-time-Systeme und Franchising-­Ketten zu analysieren und dogmatisch einzuordnen. Dabei wird der Netzwerkbegriff nicht in das Recht inkorporiert, sondern als Vertragsverbund dogmatisch rekonstruiert.253 Teubner ordnet in Anknüpfung an Netzwerkansätze in der Organisationssoziologie Netzwerke als Organisationsform zwischen Hierarchie und Markt ein. Hierarchien mangelt es Teubner zufolge vor allem an Flexibilität und einer adäquaten Rezeption der Umwelt.254 Indem Netzwerke „in ihren Knoten die Fähigkeit ausbilden, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu beobachten und die Multiperspektivität auf die Einheit einer Entscheidungskette zu bringen“,255 seien sie grundsätzlich umweltoffener und anpassungsfähiger als Hierarchien.256 Denn im Netzwerk werde die „verbindliche Letztentscheidung des Kollektivs […] ersetzt durch iterative Entscheidungsakte in einer Vielzahl von Beobachtungspositionen, die sich wechselseitig rekonstruieren, aneinander anschließen, beeinflussen, beschränken, kontrollieren, zu Neuerungen provozieren, aber eben nicht die eine gemeinsame kollektive Entscheidung über substanzielle Normen fällen.“257

 Siehe insbesondere Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004; ders., Die vielköpfige Hydra: Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung, in: Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hrsg.) Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, 1992, 189 (197 ff.); ders., „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 ff.; ders., Coincidentia oppositorum: Das Recht der Netzwerke jenseits von Vertrag und Organisation, in: Marc Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft: Netzwerke als Rechtsproblem, 2004, 11 ff. 252  Marc Amstutz, Vertragskollisionen: Fragmente für eine Lehre von der Vertragsverbindung, in: Heinrich Honsell/Wolfgang Portmann/Roger Zäch/Dieter Zobl (Hrsg.), FS Rey, 2003, 161 (167 ff.); ders., Die Verfassung von Vertragsverbindungen, KrVJSchr 89 (2006), 105 (125 ff.). 253  Gunther Teubner, Coincidentia oppositorum: Das Recht der Netzwerke jenseits von Vertrag und Organisation, in: Marc Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft: Netzwerke als Rechtsproblem, 2004, 11 (12). 254  „Zentralisierung der Umweltkontakte an der Organisationsspitze“ und bürokratisch-rigides „Festhalten an organisationsintern erzeugten Umweltkonstrukten“ seien typische Symptome des Hierarchieversagens. So Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (109 f.). 255  Ebd., 19 f. 256  Ebd., 2. 257  Ebd., 11. Ebenso Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 66. Auch Amstutz beschreibt den Prozess der Bindung unterschiedlicher Institutionen verschiedener Rechtsordnungen als eine wechselseitige Reflexionsbeziehung zwischen zwei Systemen, die zwar ihr jeweiliges Projekt autonom weiterverfolgen, aber sich in wechselseitiger Beobachtung einander anpassen. Regelmäßig verdichte sich dies zu engeren Kooperationsbeziehungen. Siehe Marc Amstutz, Vertragskollisionen: Fragmente für eine Lehre von der Vertragsverbindung, in: Heinrich Honsell/Wolfgang Portmann/Roger Zäch/Dieter Zobl (Hrsg.), FS Rey, 2003, 161 ff. 251

114 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

Nach Auffassung der Systemtheorie führt dieser für das Netzwerk charakteristische Entscheidungsprozess zu Synergieeffekten und produziert neue Entscheidungsoptionen, die den einzelnen Netzwerkakteuren so nicht zugänglich gewesen wären.258 Das Netzwerk ist also mehr als die Summe des Wissens, der Interessen und der Sozialbeziehungen der einzelnen Knoten.259 Vielmehr werden durch die Verbindung diverser Sozialbeziehungen „autonome[] Handlungslogiken“ inte­ griert260 und dadurch „die bekannte Netzwerkintelligenz“ erzeugt.261 Und noch besser: Die Vorteile netzwerkartiger Organisationsarrangements beschränken sich nach Teubner nicht darauf, dass sie bessere – weil kenntnisreichere, umfassender reflektierte – Entscheidungen als Hierarchien produzieren. Es bestünden auch aus legitimatorischer Sicht einige Vorzüge, nämlich „dezentrale Entscheidungsstrukturen in der Gesellschaft, eine Dissipation der Macht und damit eine Demokratisierung der Ökonomie“.262 Zudem würden die „netztypischen integrativen Wirkung[en] […] den fragmentierenden Tendenzen gesellschaftlicher Differenzierung entgegenarbeiten“.263 Allerdings verweist Teubner auch auf netzwerkspezifische Schwächen, nämlich „verwirrende Überkomplexität durch Prozessieren übermäßiger Umweltinformationen, Blockaden der Koordination, gravierende Schnittstellenprobleme, permanente Entscheidungskonflikte, asymmetrische Machtbeziehungen, opportunistisches Verhalten von Netzknoten oder Netzzentrale und negative Externalitäten der Netzaktivitäten“.264 Als entscheidendes Problem des Netzwerks identifiziert Teubner dabei die Koordination der autonomen Handlungslogiken im Netzwerk. Wenn mit der Erscheinung netzwerkartiger Organisationsformen das hierarchiespezifische Problem der „Ungewissheit über die Umwelt“ gelöst wurde, besteht nun nach Teubner die neue Herausforderung darin, der „Ungewissheit über die innere Koordination der verselbstständigten Knoten des Netzes“ wirksam zu begegnen.265 Ein Ansatz dafür, wie das Recht einen Beitrag zur Koordination im Netzwerk erbringen kann, ist nach Auffassung von Teubner und Amstutz die Entwick­ lung  einer „Netzwerkverfassung“.266 Dahinter steht die Idee, dass die diversen  Karl-Heinz Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranationality – The Viability of the Network Concept, ELJ 3 (1997), 33 (47 f.). 259  Ebd. 260  Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 29. 261  Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (119). 262  Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 44. 263  Ebd. 264  Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (111). 265  Ebd., 2. 266  Mit diesem Begriff: Gunther Teubner, Coincidentia oppositorum: Das Recht der Netzwerke jenseits von Vertrag und Organisation, in: Marc Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft: Netzwerke als Rechtsproblem, Zürich 2004, 11 (41). An anderer Stelle verwendet Teubner die Terminologie „innere Verfassung von Netzwerken“. Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 13. Amstutz spricht von „Netzverfassung“ oder „Verbundverfassung“. Marc Amstutz, Die Verfassung von Vertragsverbindungen, KrVJSchr 89 (2006), 105 ff. 258

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z­ ivilrechtlichen Einzelverträge, die sich als Netzwerk im sogenannten Vertragsverbund bündeln, eine neue „emergente Ordnung bilden“, die „nach einer eigenen Logik“ operiert. Diese Netzwerkverfassung setzt sich zusammen aus einzelnen Normen, „die die einzelnen Verbundverträge in das Vertragsnetzwerk ‚einbringen‘“, die wie „Bausteine für eine Rechtsverfassung des Ganzen dienen“.267 Dabei sei es die „Aufgabe der Rechtsdogmatik, ein rechtseigenes ‚Sozialmodell‘ der Netzwerke zu entwerfen, das deren Eigenrationalität und Eigennormativität reflektiert, zugleich deren beträchtliche gesellschaftliche Risiken herausarbeitet und eine normative Perspektive zu ihrer Bewältigung entwickelt.“268 Voraussetzung dafür ist allerdings nach Teubner, dass die Rechtswissenschaft sich mit sozialwissenschaftlichen Netzwerkkonzepten auseinandersetzt. Die „soziologischen Netzwerktheorien“ müssten juristisch rekonstruiert werden.269 b. Fischer-Lescanos und Teubners Konzeption des globalen Rechts Weniger mit den grundlegenden Funktionsweisen netzwerkartiger Arrangements als vielmehr mit der Eigenart und Struktur des globalen Rechts beschäftigen sich Fischer-Lescano und Teubner in ihrem Buch „Regime-Kollisionen“,270 in dem sie Ursachen und Auswirkungen der Fragmentierung des „Weltrechts“ beschreiben und einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Bewältigung von Kollisionen unterschiedlicher internationaler Regimes fordern.271 Beruhend auf systemtheoretischen Prämissen entwickeln sie drei zentrale Argumente: Erstens sei das Phänomen der Fragmentierung des globalen Rechts, das seinen Niederschlag in einer besorgniserregenden Zunahme von Kollisionskonflikten zwischen diversen globalen Regimes finde, wesentlich radikaler als gemeinhin angenommen werde; es sei Ausdruck schwerwiegender gesellschaftlicher Konflikte zwischen bereichsspezifischen, einen starken Expansionsdrang hegenden, oft konfligierenden gesellschaftlichen  Marc Amstutz, ebd.  Ebd., 10. 269  Ebd., 25. Auch Fischer-Lescano und Teubner schlagen in ihrer Auseinandersetzung mit dem globalen Recht eine Anknüpfung „an neuere Entwicklungen der Netzwerktheorie“ vor, deren primäres Anliegen darin bestehe, die „eigentümlich paradoxe Handlungslogik“ von „heterarchisch verknüpften Konfigurationen herauszuarbeiten“. Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 57. 270  Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, ebd. Siehe zuletzt zum Phänomen der Regime-Kollisionen aus systemtheoretischer Perspektive: Kerstin Blome/Andreas Fischer-Lescano/Hannah Franzki/Nora Markard/Stefan Oeter (Hrsg.), Contested regime collisions, 2016. 271  Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Phänomen nicht-staatlicher privater Rechtssetzung, wie beispielsweise ICANN und lex mercatoria. Dazu auch schon Gunther Teubner (Hrsg.), Global Law Without A State, 1997. Nach Auffassung von Möllers sind diese privaten Regimes „das Lieblingskind“ der systemtheoretischen Globalisierungstheorie. Vgl. Christoph Möllers, Globalisierte Jurisprudenz – Einflüsse relativierter Nationalstaatlichkeit auf das Konzept des Rechts und die Funktion seiner Theorie, ARSP-Beiheft 79 (2000), 41 (51). 267 268

116 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

­Rationalitäten. Zweitens seien alle Hoffnungen auf eine normative Rechtseinheit auf der globalen Ebene, die sich etwa in Vorschlägen zur Etablierung von Gerichtshierarchien und einer Stufenordnung von Rechtsnormen auf der Weltebene ausdrückten, von vorneherein vergeblich. Vielmehr besteht nach Überzeugung von Fischer-­Lescano und Teubner die Gefahr, dass sich die verschiedenen spezialisierten internationalen Regimes dem Weltrecht „zur normativen Absicherung ihrer hochgezüchteten Bereichslogiken“ bedienen.272 Als Ausweg aus diesem Dilemma kommen nach Fischer-Lescano und Teubner demnach nicht die Konstruktion einer Einheit des Weltrechts und der hierarchischen Vereinheitlichung der internationalen Spruchkörper, sondern – drittens – nur Netzwerkbildungen zwischen den globalen Regimes in Betracht.273 Auch wenn die Rechtsfragmentierung selbst nicht überwindbar sei, könne durch Vernetzung und Netzwerklogik immerhin eine „schwache normative Kompatibilität“ der konfligierenden internationalen Regimes erreicht werden,274 die das Recht durch netzwerktypische, heterarchisch ausgerichtete Normierungen fördern und stützen könne. Die „Etablierung von Gerichtshierarchien und Stufenordnungen“ im internationalen Recht weiche also „Koordinationsmechanismen nicht-hierarchischer Natur, wechselseitige Beobachtung, antizipatorische Anpassung, Kooperation, Vertrauen, Selbstverpflichtung, Verlässlichkeit, Verhandlungen, dauerhafter Beziehungszusammenhang“.275 Im globalen Kontext bedeute das, dass Vernetzungen den „unauflöslichen Widerspruch, der sich in Normenkollisionen manifestiert, in ein tragbares Gegeneinander von verschiedenen Ebenen und Subsystemen, von Netzwerkknoten, Knotenrelationen und Gesamtvernetzung übersetzen“.276 Vernetzungen zwischen globalen Rechtsregimes stellen „ein institutionelles Arrangement bereit, das die Kommunikation über inkompatible Normenkollisionen in die Fragmentierung des Rechts nicht unterdrückt, sondern fördert, institutionell erleichtert und, im geringsten Falle, produktiv nutzt“,277 indem es die autonomen Handlungslogiken miteinander verknüpft und so heterogene Elemente in das jeweilige System einspeist.278

 Die Verrechtlichung dieser Regime führe nicht dazu, dass sich die Rechtsordnungen vereinheitlichen, harmonisieren oder zumindest konvergieren, sondern die Gesellschaftsfragmentierung schlage voll auf das Recht durch, das heißt, im Rahmen eines als „Polykontexturalisierung der Rechtsfunktion“ bezeichneten Prozesses folge das Recht der Logik und den Anforderungen des jeweiligen Regimes und erzeuge daher nicht Rechtseinheit, sondern nur eine neue Fragmentierung. 273  Realistisches Ziel sei vor diesem Hintergrund „ein konsequent heterarchisches Recht“, das sich darauf beschränke, „statt voller hierarchischer Einheit des Rechts“ zwischen fragmentierten Teilrechtsordnungen eine „punktuelle Vernetzung“ herzustellen. Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 57. 274  Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 23 f. 275  Ebd., 62. 276  Ebd., 60. 277  Ebd., 57. 278  Ebd., 57. 272

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2. Kritische Betrachtung Vertreter der der rechtswissenschaftlichen Systemtheorie haben theoretisch anspruchsvolle Konzeptionen zu den Fragen entwickelt, wie das Recht auf das Netzwerkphänomen reagieren soll. Die Systemtheorie nimmt soziale Strukturen ernst, setzt sich auf eine anspruchsvolle Weise mit dem sozialwissenschaftlichen Netzwerkbegriff auseinander und integriert diesen in ein rechtswissenschaftlich angeleitetes Netzwerkverständnis. Insbesondere werden die Funktionsweisen und Eigenarten von Netzwerken herausgearbeitet. Daraus lassen sich wichtige Rückschlüsse auf die Vorzüge und Funktionsweisen netzwerkartiger Arrangements ziehen. Allerdings hat die Systemtheorie bislang keine normativ überzeugende Netzwerkkonzeption entwickelt. Obwohl der Schwerpunkt der systemtheoretischen Netzwerkansätze auf der analytisch-deskriptiven Ebene liegt, wird auch ein normativer Anspruch erhoben. Fischer-Lescano/Teubner legen Wert darauf, dass ihr Netzwerkansatz nicht nur deskriptiv gesellschaftliche Entwicklungen aufgreift und konzeptionell weiterentwickelt, sondern Grundlage für „ein normatives Konzept der Vernetzung“ bildet,279 in dem die Fähigkeit von Netzwerken, „ihre Entscheidungsressourcen zu bündeln, ihre Kapazitäten, ihr Leistungsspektrum zu erweitern und flexibler zu agieren“,280 sie auch normativ erstrebenswert machen. Weiterhin wird auf den Effekt der Dissipation der Macht durch dezentrale Entscheidungsstrukturen im Netzwerk verwiesen und eine Demokratisierung der Gesellschaft in Aussicht gestellt.281 Zweifelsohne hat die Netzwerkbildung auch normative Vorzüge, insbesondere trägt die Verteilung von Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen auf verschiedene Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen, die sich ergänzen und gegenseitig kontrollieren, zur Begrenzung von Macht und zur Erweiterung der Entscheidungsperspektiven bei. Das genügt aber nicht den legitimatorischen Anforderungen an die Ausübung öffentlicher Gewalt.282 Diese bedarf der Begründung und Begrenzung durch die prozeduralen und materiellen Maßstäbe des Konstitutionalismus.283 Aus legitimationstheoretischer Perspektive hat die Netzwerkbildung nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile: So wird im Netzwerk die Verantwortlichkeit, Transparenz und nachvollziehbare Zuordnung der Entscheidungen nur begrenzt

 Ebd., 63.  Ebd., 63. 281  Auch bei Slaughter ist eine Tendenz zur Normativierung netzwerkartiger Arrangements sichtbar, wenn sie Netzwerke aufgrund ihrer Handlungsschnelligkeit und Flexibilität im Vergleich zu hierarchischen Handlungsformen als eine überlegene Form der Politikgestaltung anpreist. Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 167. 282  Armin von Bogdandy/Philipp Dann/Matthias Goldmann, Völkerrecht als öffentliches Recht: Konturen eines rechtlichen Rahmens für Global Governance, Der Staat 49 (2010), 23 (30) definieren den Begriff der internationalen öffentlichen Gewalt als Beschränkung der Freiheit anderer Rechtssubjekte in einer Weise, „die legitimationsbedürftig ist und daher nach einem öffentlich-rechtlichen Rahmen verlangt“. 283  Vgl., ebd., 29. 279 280

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­gewährleistet;284 die informelle Struktur und die situativ-flexible Entscheidungsfindung erschweren die Zurechenbarkeit öffentlicher Entscheidungen und die Gewährleistung einer demokratischen Kontrolle.285 Anstatt das deskriptiv-analytische Phänomen der Netzwerkbildung zu normativieren und in seiner gegenwärtigen Form zu legitimieren, erscheint es deshalb geboten, normative, an den Prinzipien des Kon­ stitutionalismus orientierte Maßstäbe zu entwickeln, die einerseits die Vorzüge der Netzwerkbildung berücksichtigen und fördern, mit denen sich aber andererseits die gegenwärtige Praxis kritisch reflektieren und verändern lässt. Darüber hinaus übertreiben Fischer-Lescano und Teubner das Ausmaß der Fragmentierungsprozesse im globalen Recht ebenso wie die angebliche Aussichtslosigkeit des Vorhabens, diesem Phänomen mit den Mitteln des Rechts wirksam entgegenwirken zu können. Wie gezeigt, ist nach ihrer Meinung das Ausmaß der Fragmentierung und der auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Rationalitäten in der Weltgesellschaft so radikal, dass alle Hoffnungen auf mehr als „eine schwache normative Kompatibilität“ der konfligierenden internationalen Regimes von vorneherein vergeblich ist.286 Zwar ist daran zutreffend, dass sich das Problem der unterschiedlichen gesellschaftlichen Rationalitäten, die inter- und supranational in bereichsspezifisch ausgerichteten internationalen Regimes institutionalisiert sind, nicht einfach durch die Errichtung von rechtsordnungsübergreifenden Normenhie­ rarchien oder gemeinsamen materiell-rechtlichen Regelungsrahmen überwinden lässt.287 Fragmentierung und die Existenz einer Vielzahl verschiedener nationaler und inter- und supranationaler Institutionen mit teilweise widerstreitenden Interessen sind eine Realität, der sich eine Konzeption der vernetzten Weltordnung stellen muss. Wie noch näher auszuführen sein wird,288 unterschätzen Fischer-Lescano und Teubner aber zum einen die integrative Kraft rechtlicher und konstitutionalistischer Prozesse, insbesondere von rechtsordnungsübergreifender gerichtlicher Interaktion.289 Zum anderen erscheint zweifelhaft, ob ihre Einschätzung tatsächlich auf einer empirischen Bewertung der Prozesse und Strukturen dieser Welt beruht, oder nicht vielmehr auf einem systemtheoretischen Modell der Welt, in dem Grundbegriffe wie Autopoiesis und die Differenz zwischen System und Umwelt nicht nur der Beschreibung der Welt, sondern auch der theoretischen Leistungsfähigkeit der Systemtheorie dienen. Diese systemtheoretischen Prämissen neigen aber dazu, die Geschlossenheit bereichsspezifischer Diskurse zu übersteigern.290  Christoph Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts, in: Janbernd Öbbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, 285 (301). 285  Angelika Siehr, Europäische Raumentwicklung als netzbasierte Integrationspolitik, in: Sigrid Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 124 (143). 286  Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 24. 287  Zu diesen Bedenken gegenüber dem Verfassungspluralismus: Oben Erster Teil, Kap. 3, C., II. 288  Dazu näher unten Zweiter Teil, Kap. 5, B. 289  Dazu ganz konkret am Beispiel der Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des EuGH in Kadi unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 2. 290  So ist nach der Luhmannschen Systemtheorie die Kommunikation in einem gesellschaftlichen Teilsystem stets selbstreferenziell und operativ geschlossen, in diesem Sinne also autopoietisch, 284

E. Zusammenfassung

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E. Zusammenfassung Der rechts- und sozialwissenschaftliche Diskurs über die Strukturen und Prozesse jenseits des Nationalstaats und deren Zusammenwirken mit nationalstaatlichen In­ stitutionen hat eine Vielzahl vielversprechender Theorieangebote hervorgebracht, an die zur Entwicklung einer Konzeption der vernetzten Weltordnung sinnvoll angeknüpft werden kann. Dabei war die akademische Debatte für lange Zeit geprägt durch einen unproduktiven Föderalismus-Intergouvernementalismus-Gegensatz: Aus Sicht der Föderalisten ist die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation eine normativ erfreuliche Entwicklung, die eine institutionelle Sicherung vor den nationalstaatlichen Exzessen des 20. Jahrhunderts bietet, während sie aus der Perspektive der Intergouvernementalisten eine Gefährdung der liberal-­ demokratischen Errungenschaften des Nationalstaats, allen voran des demokratischen Prinzips, darstellt. Föderalisten kennzeichnet eine klare Präferenz für die in­ stitutionalisierte inter- und supranationale Kooperation, Intergouvernementalisten für nationalstaatliche Entscheidungsprozesse. Indes ist die institutionelle Realität rechtsordnungsübergreifender Gerichtskoordination geprägt von unaufgelösten Streitigkeiten zwischen nationalen und inter- und supranationalen Gerichten, von einem iterativen, teilweise kooperativen, teilweise antagonistischen Prozess, von Verzahnung und wechselseitigem Zusammenwirken. Deshalb ist es erforderlich, einen Ansatz zugrunde zu legen, der das Zusammenspiel nationaler und inter- und supranationaler Institutionen und Prozesse zur kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte in den Blick nimmt und konzeptionell Raum für Heterarchie, Inkohärenz und die Möglichkeit unaufgelöster Normkonflikte lässt. Eine Governance-Perspektive, die kategoriale Modelle der Über- und Unterordnung und der strikten Trennung zwischen dem nationalen und dem inter- und supranationalen Raum überwindet und die Perspektive vom Staat auf die wechselseitige Regierungs- und Koordinationstätigkeit einer Vielzahl nationaler und internationaler Institutionen lenkt, zeichnet Mehrebenen-, Verfassungspluralismus- und Netzwerkansätze aus. Allerdings beschränkt sich die konzeptionelle Leistungsfähigkeit des Mehrebenen-Ansatzes im Wesentlichen auf diese Governance-Perspektive. Darüber hinaus kann dieser jedoch das im Schrifttum vielfach erkennbare Bedürfnis, auch Sachverhalte und Zusammenhänge jenseits der EU konzeptionell adäquat zu erfassen, nicht befriedigen. Durch die Konstruktion einheitlicher, konzeptionell auf Geschlossenheit angelegter Ebenen überdeckt der Mehreben-Ansatz die vielfältigen institutionellen Verflechtungen und funktionellen Bereichslogiken zwischen den „Ebenen“ und innerhalb einer „Ebene“ und führt gleichsam eine künstliche Trennung zwischen verwandten sozialen Phänomenen herbei. Zudem mangelt es dem Mehrebenen-Ansatz an einem überzeugenden Analyseinstrumentarium: Jenseits der Übernahme der Governance-Perspektive bleibt weitgehend unklar, welche

was bereits definitorisch eine sehr geringe Lern- und Anpassungsfähigkeit voraussetzt. Eine andere Frage ist, ob die Lern- und Anpassungsfähigkeit auch tatsächlich so gering ist, wie die Systemtheorie voraussetzt. Siehe für ein Gegenbeispiel: Unten Erster Teil, Kap. 5, B.

120 Kapitel 3: Rekonstruktionsversuche in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Literatur

normativen und analytischen Schlussfolgerungen aus der Beschreibung sozialer Zusammenhänge als Mehrebenenordnung für die Interaktion zwischen den Institutionen der unterschiedlichen Ebenen gezogen werden können. Der Verfassungspluralismus und die Netzwerktheorie entwickeln dagegen über die Governance-Perspektive hinausreichende teils normativ überzeugende, teils analytisch leistungsfähige Erklärungsansätze der beschriebenen Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung. An den diskutierten verfassungspluralistischen Konzeptionen überzeugt die Rekonstruktion rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte sowie die Orientierung am Konstitutionalismus als normative Richtschnur. Der Verfassungspluralismus legt schlüssig dar, welche normativen Belange in der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion auf dem Spiel stehen, wie diese miteinander in Einklang zu bringen sind und welche Form der Kooperation zwischen den Gerichten diesem Ziel am besten dient. Er argumentiert überzeugend, dass dem Konstitutionalismus Partizipation, Machtbegrenzung und Rechenschaftspflichtigkeit wichtiger sind als die Vermeidung unaufgelöster Normkonflikte zur Gewährleistung der Einheit der Rechtsordnung. Allerdings vernachlässigen Verfassungspluralisten die Frage, warum und unter welchen Bedingungen sich Verfassungsgerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen überhaupt auf gemeinsame Normen verständigen. Es mangelt somit an einer genaueren Umschreibung und Erklärung der komplexen Strukturen der Gerichtskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken. Auf Grundlage der Netzwerktheorie kann man die Strukturen der gerichtlichen Interaktion im rechtsordnungsübergreifenden Kontext adäquat erfassen. Die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung hat die Dynamik, Interaktion und Funktionslogik der Entscheidungsprozesse zwischen autonomen Institutionen treffend he­ rausgearbeitet. Mit den Begrifflichkeiten und Prämissen des Netzwerkbegriffs lässt sich daher auch erklären, aus welchen Gründen Gerichte verschiedener Rechtsordnungen dazu veranlasst werden, in einen Rechtsprechungsdialog zu treten und warum sich trotz Betonung der eigenen Entscheidungsautonomie schrittweise Konvergenzen in der Rechtsprechung ergeben. Allerdings können die diskutierten Netzwerkansätze aus normativer Perspektive nicht überzeugen. Denn die von den Verfechtern angepriesenen normativen Vorzüge von Netzwerken, wie Dezentralisierung von Macht, Flexibilität und Einbeziehung unterschiedlicher Akteure in Entscheidungsprozesse, genügen für sich genommen nicht den legitimationstheoretischen Anforderungen an die Ausübung öffentlicher Gewalt.291 Der Umstand, dass in Regierungsnetzwerken legitimierte nationalstaatliche Institutionen die maßgeblichen Akteure sind, begründet keine ausreichende Legitimitätsgrundlage, weil es dafür nicht nur darauf ankommt, dass ein legitimierter Akteur handelt, sondern auch, dass die Entscheidungsprozesse und Handlungsformen dieses Akteurs hinreichend legitim sind. Deshalb ist es geboten, normative, an den Prinzipien des Kon­stitutionalismus orientierte Maßstäbe für rechtsordnungsübergreifende Richter Zum Begriff der öffentlichen Gewalt, vgl. Armin von Bogdandy/Philipp Dann/Matthias Goldmann, Völkerrecht als öffentliches Recht: Konturen eines rechtlichen Rahmens für Global Governance, Der Staat 49 (2010), 23 (30).

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E. Zusammenfassung

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netzwerke zu entwickeln. Soweit der erklärte Anspruch dieser Abhandlung darin besteht, eine gleichermaßen normativ und analytisch reizvolle Konzeption der vernetzten Weltordnung zu entwickeln, verbleiben der Verfassungspluralismus und die Netzwerktheorie für sich genommen damit unvollständig.

Kapitel 4: Eine pluralistisch-­ heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen den Rechtsordnungen

Bei der Diskussion um föderalistische und intergouvernementalistische Ansätze hat sich gezeigt, dass die Konstruktion eines Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen inter- und supranationalen und nationalen Institutionen und Rechtsordnungen vor dem Hintergrund der Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung nicht überzeugen kann.1 Vielmehr zeichnet sich die vernetzte Weltordnung durch eine pluralistisch-heterarchische Struktur aus, deren Ursache darin besteht, dass die politischen Herrschaftsverhältnisse ungeklärt sind. Wir wissen einfach nicht, wie sich demokratische Selbstbestimmung legitimer organisieren lässt als in den Strukturen des Nationalstaats oder wie wir auf die Herausforderungen der Globalisierung wirksamer reagieren können als durch institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation.2 Die Unaufgelöstheit der Frage um das Verhältnis zwischen nationalen und inter- und supranationalen Rechtsordnungen und Akteuren ist also – zumindest gegenwärtig – politisch gewollt. Anstatt eines stabilen, hierarchischen Herrschaftsarrangements wie im Bundesstaat, in dem die Bundesverfassung als Geltungsgrundlage der Gesamtrechtsordnung anerkannt ist,3 bevorzugt die Weltgesellschaft eine flexible, heterarchische Konfiguration, in der es keine allgemein anerkannte Rangfolge zwischen Völkerrecht, Europarecht und nationalem Recht  Oben Erster Teil, Kap. 3, A., II.  Klabbers hat diese Ambivalenz treffend zum Ausdruck gebracht: „Men and nations want the benefits of international organization, but they also want to retain the privileges of sovereignty, which are inseparable from international disorganization.“ Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 308. Aber „in the absence of some form of agreement as to how best to organize our lives“, ebd., 307, wird die „everlasting tension between the exigencies of state sovereignty and the imperatives of international order and justice“ fortbestehen. Ebd., 308. 3  Siehe Matthias Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund  – Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffizienz einer Unschärferelation, in: Rüdiger Krause/Winfried Veelken/Klaus Vieweg (Hrsg.), GS Blomeyer, 2004, 637 (670). 1 2

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_4

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Kapitel 4: Eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen…

gibt, in der die unterschiedlichen Rechtsordnungen „a priori gleichberechtigt“ und konkurrierende, miteinander unvereinbare Perspektiven zulässig sind,4 in der also die Gerichte auf Augenhöhe durch stetige, einzelfallbezogene Interaktion die Grundzüge des Verhältnisses abstecken. Der Metapher von Planeten im Universum entsprechend ist diese Weltordnung geprägt von einer Vielzahl von Rechtsordnungen, deren Verhältnis durch keinen Gesetzgeber geregelt wird.5 Diese pluralistisch-­ heterarchische Struktur lässt sich, wie dargelegt,6 überzeugend mit Verfassungspluralismus- und Netzwerkansätzen erfassen. Der Verfassungspluralismus arbeitet überzeugend heraus, welche Belange in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten auf dem Spiel stehen und wie diese miteinander in Einklang zu bringen sind, geht aber nicht hinreichend auf die Frage ein, wie richterliche Normbildung in pluralistischen Strukturen ohne zentralisierte Rechtsetzungsinstanz überhaupt stattfinden kann. Dagegen stellt die Netzwerktheorie ein überzeugendes begriffliches und methodisches Reservoir zur analytischen Konzeptualisierung der komplexen Strukturen rechtsordnungsübergreifender richterlicher Interaktion und Normbildung zur Verfügung, allerdings genügen die von der Netzwerktheorie angepriesenen normativen Vorzüge der Netzwerkbildung, wie Flexibilität und Dezentralisierung von Macht, alleine nicht den legitimationstheoretischen Anforderungen an die Ausübung öffentlicher Gewalt. Zusammengefasst als „Konstitutionalismus im Netzwerk“ oder als „Netzwerkkon­ stitutionalismus“ lassen sich der Verfassungspluralismus und die Netzwerktheorie aber zu einer normativ und analytisch reizvollen Konzeption der vernetzten Weltordnung verbinden, die aufzeigt, wie konstitutionalistische Errungenschaften in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen unter pluralistisch-heterarchischen Bedingungen gewährleistet werden können.7 Beide Ansätze teilen eine beträchtliche Schnittmenge und ergänzen sich auf vielversprechende Weise. Der Verfassungspluralismus und die Netzwerktheorie betonen den Respekt vor der Autonomie des Gegenparts als wesentliche Interaktionsbedingung. Verfassungspluralisten proklamieren einen Pluralismus der Rechtsordnungen, bei dem sich widerstreitende Letztentscheidungen nicht durch rigide Vorrangregeln auflösen lassen, der Netzwerktheorie liegt eine heterarchische Beziehungsstruktur zugrunde, in der kein Akteur einem anderen eine bestimmte Entscheidung oktroyieren kann. Verfassungspluralisten erarbeiten Vorschläge für gemeinsame rechtsordnungsübergreifende Verfassungsprinzipien, Vertreter von Netzwerkansätzen zeigen, wie Netzwerkakteure zur Koordination im Netzwerk in

4  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (51). 5  Vgl. Bruno Simma/Dirk Pulkowski, On Planets and the Universe, EJIL 17 (2006), 483 ff. 6  Oben Erster Teil, Kap. 3, E. 7  Peters integriert in ihre verfassungspluralistische Konzeption des kompensatorischen Konstitutionalismus ebenfalls bestimmte Prämissen des Netzwerkbegriffs und spricht an einer Stelle vom Verhältnis der verschiedenen Ebenen als „constitutional network“. Siehe Anne Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Klaus Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, 535 (548).

A. Die normative Dimension

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iterativen Interaktionsprozessen ein gemeinsames institutionelles Arrangement aushandeln.8 Auf den Punkt gebracht: Beide Ansätze beruhen auf der Beobachtung, dass sich das Verhältnis zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen und Institutionen als pluralistisch bzw. heterarchisch darstellt. Auch wenn hinter diesem pluralistisch-heterarchischen Modell damit zuvorderst eine deskriptiv-analytische Beobachtung über die gegenwärtigen Strukturen und Prozesse steht, soll die zu entwickelnde Konzeption der vernetzten Weltordnung nicht die gegenwärtige Gestalt der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation und ihr Zusammenwirken mit nationalen Institutionen normativieren, sondern ein normatives Argument für eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen nationalen und inter- und supranationalen Rechtsordnungen und Akteuren entwickeln. In einem ersten Schritt sollen daher – in Abgrenzung zu den alternativen Visionen des Föderalismus und des Intergouvernementalismus  – die Vorzüge einer pluralistisch-heterarchischen Konstruktion ­aufgezeigt werden (A.). Anschließend soll in einem zweiten Schritt auf die konzeptionelle Frage eingegangen werden, wie sich ein Pluralismus der Rechtsordnungen rechtstheoretisch konzipieren lässt (B.).

A. Die normative Dimension Die vernetzte Weltordnung ist, wie eingangs dargelegt,9 auch eine normative Konzeption der Strukturen und Prozesse jenseits des Nationalstaats und deren Zusammenwirken mit nationalstaatlichen Institutionen, die einen optimistischen Blick auf die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation hat, für die das Beispiel der europäischen Integration mehr Vorbild als Abschreckung für den Rest der Welt ist. Diese Perspektive teilt sie mit föderalistischen Visionen, die jedoch teilweise übergehen, dass internationale Organisationen keine Heilsbringer sind und dass inter- und supranationale Entscheidungsprozesse bedenkliche konstitutionelle Defizite aufweisen können.10 Gerade weil wir vor diesem Hintergrund nationalstaatliche Institutionen als Garanten demokratisch-rechtsstaatlicher Errungenschaften brauchen, ist eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion der vernetzten Weltordnung nicht nur deskriptiv eine adäquate Rekonstruktion, sondern sie ist auch normativ wünschenswert (II.). Hinter diesem Argument für eine pluralistisch-­heterarchische Konstruktion steckt ein weiterer normativer Aspekt: Ein Argument für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation, die den nationalstaatlichen Institutionen – trotz der konstitutionalistischen Errungenschaften des Nationalstaats – gleichberechtigt ist und auf Augenhöhe begegnet. Was genau das Erstrebenswerte an inter- und supranationalen Institutionen ist, wird im folgenden Abschnitt herausgearbeitet (I.).  Dazu im Einzelnen unten Erster Teil, Kap. 6.  Oben Einleitung, B., II. 10  Oben Erster Teil, Kap. 2, G. 8 9

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Kapitel 4: Eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen…

Dieses Argument für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation zu entwickeln, ist zudem geboten für das Vorhaben des Zweiten Teils, die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung herzuleiten.11 Denn diese Funktionen sind von einer normativen Vorentscheidung abhängig, ­nämlich davon, welchen Standpunkt man im Hinblick auf die Strukturen und Merkmale der vernetzten Weltordnung einnimmt. Aus einer föderalistischen Perspektive, aus der die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation für eine bessere Welt steht, sind die Funktionen andere als aus einer intergouvernementalistischen Perspektive, die diese Entwicklungen unter dem Prisma der Aushöhlung der demokratisch-­rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats betrachtet und diese daher auf das Notwendigste begrenzen will.

I . Das normative Argument für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation Wie lässt sich rechtfertigen, dass Nationalstaaten immer mehr Kompetenzen an inter- und supranationale Institutionen übertragen? Das Argument für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation soll unter zwei unterschiedlichen Aspekten entwickelt werden: Zum einen von dem konsequentialistischen Standpunkt aus, dass diese vor dem Hintergrund der bestehenden Strukturen und Prozesse, insbesondere dem rasant fortschreitenden Globalisierungsprozess einerseits und der (territorial) begrenzten Regelungskapazität des Nationalstaats andererseits schlicht und einfach notwendig ist (1.). Mit diesem Standpunkt wäre es vereinbar, die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation als notwendiges Übel zu betrachten, das nur wegen der noch höheren gesellschaftlichen Kosten seiner Alternative, keine Kooperation, den Vorzug erhält. Auf den Punkt gebracht hat die Ratio dieser Position Robert Keohane: „Cooperation is not always benign; but without cooperation, we will be lost.“12 Allerdings wird man der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation nicht damit gerecht, in ihr nur ein notwendiges Übel zu erblicken. Man würde es sich zu einfach damit machen, die Übertragung von nationalstaatlichen Kompetenzen an internationale Organisationen nur unter dem Gesichtspunkt der Erweiterung der politischen Handlungsfähigkeit, bei gleichzeitigem Verlust demokratisch-­ rechtsstaatlicher Standards, zu betrachten. Denn durch die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation werden nationale konstitutionalistische Maßstäbe nicht notwendig abgesenkt, sondern sie können umgekehrt auch verbessert werden. Wie noch zu sehen sein wird, trägt die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation maßgeblich dazu bei, bestimmte legitimatorische Defizite nationaler Demokratien zu überwinden (2.).

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 Siehe unten Zweiter Teil.  Robert Keohane, International Institutions: Two Approaches, Int. Stud. Q. 32 (1988), 379 (393).

A. Die normative Dimension

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1. Kompensation der begrenzten Regelungskapazität des Nationalstaats Wir leben heute in der globalisierten Weltgesellschaft: Täglich fliegen Millionen von Menschen von einem Land in ein anderes, multinationale Unternehmen bieten ihre Produkte und Dienstleistungen gleichzeitig in allen Teilen der Welt an, Banken und Hedgefonds transferieren täglich Milliarden von Euro, Dollar und Yuan von einem Land in ein anderes, die globale Medienkommunikation speist Ereignisse auf der ganzen Welt in Sekundenschnelle in die Weltöffentlichkeit ein. Man kann darüber streiten, ob diese Entwicklungen die Welt besser oder schlechter gemacht haben: Der CEO eines multinationalen Unternehmens wird die Frage anders beantworten als ein Fabrikarbeiter, der seinen Job verloren hat, weil die Produktion seines Unternehmens in ein Land mit niedrigeren Lohnkosten verlegt wurde. Der Globalisierungsprozess lässt sich aber, wie gezeigt,13 nicht einfach aufhalten oder umkehren. Schon allein deshalb nicht, weil das Recht und die Politik in der postnationalen Konstellation das Primat über andere gesellschaftliche Teilsysteme, wie die Wirtschaft, nicht nur eingebüßt haben, sondern diesen hoffnungslos hinterherhinken. Die richtungsweisende normative Frage sollte vor diesem Hintergrund nicht sein, ob wir die Globalisierung befürworten oder ablehnen, sondern wie wir sie in einer Weise organisieren, die ihre Vorzüge optimiert und ihre Nachteile minimiert. Eine der zentralen Herausforderungen liegt dabei darin, die Steuerungsfähigkeit der nach wie vor weitgehend national organisierten Teilsysteme des Rechts und der Politik zurückzugewinnen. Die traditionelle Rolle des territorial begrenzten Nationalstaats als allein maßgebende, grundsätzlich allumfassende Aufgabenerfüllungseinheit hat sich dabei überlebt.14 Im Zuge der fortschreitenden Entgrenzung von wirtschaftlicher, kultureller und technologischer Aktivität entsteht ein kaum zu stillender Regulierungsbedarf, den der Nationalstaat allein nicht einmal annähernd befriedigen kann. Nur durch eine Verlagerung ehemals nationalstaatlicher Kompetenzen auf inter- und supranationale Institutionen kann es gelingen, die territorial begrenzte Regelungskapazität nationalstaatlicher Institutionen zu überwinden und auf einen regionalen oder globalen Rahmen auszuweiten. Infrage steht dabei die Gestaltungs- und Problemlösungsfähigkeit der Politik, woraus sich auch das normative Argument für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation ergibt.15 Aus diesem Argument für die Erweiterung der nationalstaatlichen Handlungsfähigkeit folgt noch nicht denknotwendig, dass diese Kooperation auch durch die Gründung internationaler Organisationen institutionalisiert werden muss. Es ist eine Frage, ob nach zwischenstaatlichen Kompromissen zur Lösung bestimmter  Oben Erster Teil, Kap. 2, A.  Oben Erster Teil, Kap. 2, B. 15  Für Habermas ergibt sich angesichts „eines politisch ungesteuerten Komplexitätswachstums der Weltgesellschaft […] die Forderung, die politischen Handlungsfähigkeiten über nationale Grenzen hinaus zu erweitern“, daher sogar „aus dem normativen Sinn der Demokratie selbst.“ Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 50. 13 14

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Kapitel 4: Eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen…

grenzüberschreitender Probleme zu streben ist, und eine andere, daran anschließende Frage, ob zu diesem Zweck inter- oder supranationale Institutionen einzusetzen sind. Bei der Diskussion der Probleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung hat sich allerdings gezeigt, dass die Einsetzung inter- und supranationaler Institutionen zum Zweck der Erreichung bestimmter Politikziele Vorteile hat. Als vergleichsweise stabile und resistente Formen sozialer Organisation richten Institutionen nachhaltige Strukturen und Prozesse ein, nach denen sich die involvierten Akteure richten und durch die ihre Präferenzen sozialisiert werden.16 Dagegen sind auf Intergouvernementalität und Koordination gegründete Verhandlungsprozesse zwischen Staats- und Regierungschefs in Foren wie der G8, der G20 und dem Europäischen Rat nicht nur in ihrer Problemlösungsfähigkeit begrenzt, weil sich ihre Kompromisse in der Regel auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einpendeln. Darüber hinaus sind die Entscheidungsprozesse intransparent und undemokratisch, so dass sich auch die vermeintliche demokratische Verheißung eines Regierens durch demokratisch gewählte Regierungen nicht erfüllen kann.17 Denn je ehrgeiziger und anspruchsvoller die Ziele sind, die Staaten mit der zwischenstaatlichen Kooperation verfolgen, desto unausweichlicher wird die Einrichtung inter- und supranationaler Institutionen, die sich für die Verwirklichung dieser Ziele einsetzen.18 Und je mehr Gerichte und Parlamente im Rahmen inter- und supranationaler Organisationen eingerichtet werden, desto höher wird tendenziell das Legitimationsniveau inter- und supranationaler Entscheidungsprozesse. 2. Kompensation der konstitutionellen Defizite des Nationalstaats Die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation hat zwar im Vergleich mit einem in Eigenregie handelnden Nationalstaat eine deutlich höhere Regelungskapazität. Wir haben aber auch gesehen,19 dass inter- und supranationale Entscheidungsprozesse und Rechtsschutzmöglichkeiten im nationalstaatlichen Vergleichsmaßstab defizitär sein können. Die meist intergouvernementalen Entscheidungsprozesse sind exekutivlastig, intransparent und undemokratisch.20 Dazu scheint es immer wieder an einer hinreichenden Sensibilität in Grundrechtsfragen zu fehlen.21 Heißt das, dass die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation vor allem ein notwendiges Übel in einer globalisierten Welt ist? Bedeutet die Übertragung nationalstaatlicher Entscheidungskompetenzen auf inter- und supranationale Organisationen zwangsläufig eine Absenkung des demokratischen Legitimations- und Grundrechtsschutzniveaus?  Oben Erster Teil, Kap. 2, C., II.  Zu den Gründen im Einzelnen: Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 158 ff. 18  Kenneth Abbott/Duncan Snidal, Why States Act through Formal International Organizations, J. Confl. Resolut. 42 (1998), 3 (15). Bereits oben Erster Teil, Kap. 2, C., II. 19  Oben Erster Teil, Kap. 2, G. 20  Oben Erster Teil, Kap. 2, G., I. 21  Oben Erster Teil, Kap. 2, G., II. 16 17

A. Die normative Dimension

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Obwohl intergouvernementalistische Autoren oft genau das unterstellen,22 lässt sich die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation nicht auf ein „reines legitimatorisches Verlustgeschäft“ reduzieren.23 Vielmehr ist sie auch über den Aspekt der Überwindung der begrenzten nationalstaatlichen Regelungskapazität hinaus normativ erstrebenswert.24 Denn sie trägt auch maßgeblich zur Überwindung bestimmter struktureller Defizite nationaler Demokratien und damit zur Verwirklichung konstitutioneller Werte bei. Zum Ersten schwächt die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation nicht nur die nationalstaatliche Demokratie, sondern sie kann umgekehrt auch die Qualität demokratischer Entscheidungsprozesse im Nationalstaat steigern. Keohane, Macedo und Moravcsik weisen darauf hin, dass internationale Organisationen den nationalen demokratischen Entscheidungsprozess auch verbessern, indem sie illegitime Sonderinteressen zurückdrängen, Minderheiten schützen und die Qualität demokratischer Deliberation erhöhen.25 Das internationale Handelsregime der WTO, unter dem sich die Mitgliedstaaten verpflichten, die Grundsätze der Meistbegünstigung und der Nicht-Diskriminierung einzuhalten, kann im Idealfall gut organisierten, protektionistischen Sonderinteressen entgegengehalten werden, um die aus dem Abbau von Handelsbarrieren resultierenden aggregierten ökonomischen Wohlstandsgewinne zu realisieren.26 In unzähligen Urteilen hat der EGMR einen Vertragsstaat wegen Diskriminierung des Angehörigen einer Minderheit verurteilt – Großbritannien wegen des Ausschlusses eines Homosexuellen aus der Armee,27 die Türkei wegen der Verhaftung eines Journalisten, Russland wegen der willkürlichen

 Vgl. Ingeborg Maus, Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder: der Niedergang der Demokratie, in: James Bohmann/Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Weltstaat oder Staatenwelt?, 2002, 226 ff. 23  Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 155. 24  Mit einem normativen Plädoyer für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation: Robert Keohane/Stephen Macedo/Andrew Moravcsik, Democracy-Enhancing Multilateralism, IO 63 (2009), 1 ff.; Allen Buchanan, Justice, Legitimacy and Self-determination. Moral Foundations for International Law, 2003; Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 ff.; Samantha Besson, Whose constitution(s)? International law, Constitutionalism, and Democracy, in: Jeffrey Dunoff/Joel Trachtman (Hrsg.), Ruling the World? Constitutionalism, International Law and Global Governance, 2009, 381 ff. 25  Robert Keohane/Stephen Macedo/Andrew Moravcsik, ebd., 9 ff. 26  Ebd. Siehe zu dieser Funktion des WTO-Regimes auch: Ernst Ulrich Petersmann, The Transformation of the World Trading System through the 1994 Agreement Establishing the World Trade Organization, EJIL 6 (2004), 161 (178 ff.); Peter-Tobias Stoll, Freihandel und Verfassung. Einzelstaatliche Gewährleistungen und die konstitutionelle Funktion der Welthandelsordnung, ZaöRV 57 (1997), 83 (113 f.). Nach Auffassung von Klaus Armingeon/Karolina Milewicz/Simone Peter/Anne Peters, The constitutionalisation of international trade law, in: Thomas Cottier/Panagiotis Delimatsis (Hrsg.), The Prospects of International Trade Regulation: From Fragmentation to Coherence, 2011, 69 (76), liegt darin eine klassische konstitutionalistische Funktion, die in nationalen politischen Systemen Grundrechtsbestimmungen und Verfassungsgerichte erfüllen. 27  Nach Auffassung des EGMR liegt darin ein Verstoß gegen das Recht auf Privatheit aus Art. 8 EMRK. Siehe insb. EGMR, Urt. v, 27.09.1999, Nr. 31417/96, 32377/96 – Lustig-Prean und Beckett v. Großbritannien. 22

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Kapitel 4: Eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion des Verhältnisses zwischen…

Festnahme eines Regimegegners.28 Durch Kritik, Expertenwissen29 und einen externen Blickwinkel erweitern internationale Organisationen wie der IPCC oder die OECD die epistemologischen Entscheidungsgrundlagen nationaler demokratischer Entscheidungsprozesse.30 Zum Zweiten führt die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation zur Herausbildung konstitutioneller Mindeststandards, die den zeitweiligen Verirrungen einer politischen Gemeinschaft entgegenwirken. Diese beziehen sich zum einen auf antidemokratische Entwicklungen innerhalb eines Nationalstaats.31 Die Vereinten Nationen etwa haben wichtige Beiträge zur Stabilisierung nationaler demokratischer Entscheidungsprozesse geleistet.32 Vor allem aber bilden sich teilweise regionale, teilweise globale Mindeststandards auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes heraus.33 Multilaterale Menschenrechtsregime wie die EMRK, die AMRK und die ACHPR verpflichten die Vertragsstaaten auf die Einhaltung bestimmter, durch die Gerichtshöfe dieser Regime, EGMR, IAGMR, ACHPR, konkretisierter und dynamisch weiterentwickelter Menschenrechtsstandards, die das nationale Grundrechtsniveau auch übersteigen können.34 Darüber hinaus entwickeln  Mit diesen Beispielen: Robert Keohane/Stephen Macedo/Andrew Moravcsik, Democracy-Enhancing Multilateralism, IO 63 (2009), 1 (16 ff.). Zur ebenfalls bedeutsamen Rolle der OSZE beim Schutz von Minderheiten. siehe Christiane Höhn, Zwischen Menschenrechten und Konfliktprävention, 2005. Im Unterschied zum Menschenrechtsregime der EMRK handelt die OSZE vornehmlich mit sog. soft law-Mechanismen, die nur wegen ihrer mangelnden Bindungswirkung nicht zwangsläufig weniger wirksam sein müssen. Siehe dazu grundlegend Steven Ratner, Does International Law Matter in Preventing Ethnic Conflict?, N.Y.U.  J. Int’l L. & Pol. 32 (2001), 591 ff. Grundlegend zur Unterscheidung zwischen hard law und soft law: Kenneth Abbott/Duncan Snidal, Hard and Soft Law in International Governance, IO 54 (2000), 421 ff. Zu den Vorzügen rechtlicher Bindungswirkung, siehe aber Andrej Lang, „Modus Operandi“ and the ICJ‘s Appraisal of the Lusaka Ceasefire Agreement in the Armed Activities Case: The Role of Peace Agreements in International Conflict Resolution, N.Y.U. J. Int’I L. & Pol. 40 (2008), 107 (132 ff.). 29  Kritisch zur Rolle von Experten: David Kennedy, Challenging Expert Rule: The Politics of Global Governance, Sydney L. Rev. 27 (2005), 5 ff. 30  Robert Keohane/Stephen Macedo/Andrew Moravcsik, Democracy-Enhancing Multilateralism, IO 63 (2009), 1 (18 ff.). 31  In Ungarn versucht die Europäische Union – mehr oder weniger erfolgreich – die antidemokratischen Ambitionen der Regierung Orban einzudämmen. Die OAS hat eine zentrale Rolle dabei gespielt, den die Demokratie in Honduras gefährdenden Putsch gegen den ungeliebten Präsidenten Zelaya in einen demokratischen Prozess umzuleiten. Differenzierend: Thomas Legler, The Democratic Charter in Action: Reflections on the Honduran Crisis, LAP 3 (2012), 74 ff. 32  Klassisch: Thomas Franck, The Emerging Right to Democratic Governance, AJIL 86 (1992), 46 ff. Grundlegend zur Rolle der Vereinten Nationen bei der demokratischen Friedenskonsolidierung in Postkonfliktsituationen: Ferry Bühring, Demokratische Friedenskonsolidierung, 2015. 33  Ein Beispiel ist das universale Folterverbot. 34  Viele Kommentatoren sind der Auffassung, dass die Verabschiedung des Human Rights Acts in Großbritannien, der die Gewährleistungen der EMRK in innerstaatliches Recht überführt, zu einem höheren Grundrechtsschutzniveau geführt hat. So etwa Anne Peters, The Globalization of State Constitutions, in: Janne Nijman/André Nollkaemper (Hrsg.), New Perspectives on the Divide Between National and International Law, 2007, 251 (272). Kritisch aber hinsichtlich des tatsächlichen Beitrags von internationalen Menschenrechtsverträgen zum Schutz von Menschenrechten: Oona Hathaway, Do Human Rights Treaties Make a Difference?, Yale L. J. 111 (2002), 1935 ff. 28

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sich globale konstitutionelle Prinzipien und Normen in der Form von Völkergewohnheitsrecht und ius cogens. Damit verbunden ist zum Dritten, dass die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation den intrinsischen Bias des demokratischen Systems gegen solche Interessen eindämmt, die mangels Wahlrecht nicht hinreichend in der nati­ onalen Demokratie repräsentiert werden, wie zum Beispiel die Interessen von Ausländern.35 Hier schafft der bereits angesprochene inter- und supranationale Minderheitenschutz Anreize dafür, bestimmte Interessen solcher unterrepräsentierten Minderheiten zu berücksichtigen und in den nationalen Entscheidungsprozess einzuspeisen.36 Ein Gegengewicht gegen den intrinsischen Bias des demokratischen Systems ist nicht nur erforderlich zum Schutz von Ausländern oder Minderheiten in einem Staat, sondern auch zum Schutz von Bürgern anderer Staaten. Denn Entscheidungen, die demokratisch im Nationalstaat A getroffen werden, können signifikante Auswirkungen auf die Bürger des Nationalstaats B haben, die an der Entscheidung im Nationalstaat A nicht beteiligt waren. In der Ökonomie spricht man in diesem Zusammenhang von negativen Externalitäten. Habermas befürchtet zu Recht, dass sich in „einer ökologisch, wirtschaftlich und kulturell immer dichter verflochtenen Welt“, die sich politisch weiterhin vornehmlich territorial in den Formen des Nationalstaats organisiert, sich diejenigen, „die legitime Entscheidungen treffen“, immer seltener mit den Personen und den Gebieten decken, „die von den Folgen dieser Entscheidungen potenziell betroffen sind“, dass also „eine Kongruenz zwischen Beteiligten und Betroffenen“ immer seltener bestehen wird.37 Aus moralphilosophischer Perspektive kann deshalb nach der Überzeugung von Amartya Sen die Organisationsform des Nationalstaats etwas zutiefst Ungerechtes haben, soweit wir nur Sorge für die eigenen Staatsangehörigen, aber nicht für Menschen außerhalb dieser politischen Gemeinschaft tragen.38 Ein Beispiel: Die USA sind der weltweit größte Verursacher von CO2-Emissionen, die mittelbar Inselstaaten in der Südsee in dramatischer Weise gefährden. Die existenziellen Interessen der Bürger der Südseestaaten an einer Verringerung der CO2-Emissionen werden jedoch in den USA weder hinreichend repräsentiert noch berücksichtigt.39 Diesem Dilemma kann die inter- und supranationale Kooperation entgegenwirken, etwa in Form eines Umweltabkommens wie dem Kyoto-Protokoll, um diese Externalitäten zu internalisieren. Zum Vierten verhindert die für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation kennzeichnende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen,  Allen Buchanan/Russel Powell, Constitutional Democracy and the Rule of International Law: Are They Compatible?, JOPP 16 (2008), 326 (333). 36  In der EU besteht sogar ein Kommunalwahlrecht für EU-Bürger, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind. Siehe Art. 22 Abs. 1 AEUV. 37  Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation, 1998, 91 (108). 38  Amartya Sen, The Idea of Justice, 2009, 128 ff. 39  Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (922 f.). 35

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dass die zwischenstaatliche Interaktion zur reinen Machtpolitik verkommt. Mit dieser Verrechtlichung einher gehen bestimmte Vorzüge, die auch mit dem Rechtsstaatsprinzip oder mit der rule of law im innerstaatlichen Bereich verbunden werden, weshalb in diesem Zusammenhang auch von der international rule of law gesprochen wird.40 Zunächst entfaltet die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen eine friedensstiftende Wirkung. Das Recht hat eine „zivilisierende Kraft“.41 Während politische Gemeinschaften früher über Fragen der Handelspolitik in den Krieg zogen, sind sie heute in multilaterale Handelsregime eingebunden, in denen Handelsstreitigkeiten auf der Grundlage des Rechts durch eine gerichtsförmige Streitentscheidungsinstanz gelöst werden. Aus einem Europa der kriegerischen Selbstzerstörung ist vor allem durch die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration ein (weitgehend) friedlicher Kontinent geworden. Ursächlich für diese friedensstiftende Wirkung ist der Umstand, dass Staaten sich vorab, durch die Erzeugung völkerrechtlicher Regeln, prinzipiell darauf festlegen, aufkommende Streitigkeiten auf der Grundlage von Recht und nicht aufgrund von Macht zu entscheiden.42 Dazu kommt, dass im Zuge der Vergerichtlichung der inter- und supranationalen Kooperation43 Staaten bei der Interpretation völkerrechtlicher Normen immer seltener „Richter in eigener Sache“44 sind, sondern immer mehr unabhängige Gerichte als neutrale Streitentscheider auftreten. Das bestehende engmaschige, durch Gerichte konkretisierte Regelwerk inter- und supranationaler Normen fördert damit in hohem Maße die Verlässlichkeit und Stabilität inter- und supranationaler Kooperation,45 was insbesondere für kleine, machtlose Staaten wertvoll ist. Zum Fünften schafft die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation individuelle Freiheitsgewinne, die der territorial begrenzte Nationalstaat nicht vermitteln kann.46 Politische Gemeinschaften, die sich nationalstaatlich organisieren, stehen vor dem folgenden Dilemma: Einerseits endet die Regelungsgewalt der eingesetzten Institutionen an den territorialen Grenzen, andererseits entstehen in einer globalisierten Welt Probleme und Regelungszusammenhänge, die sich nicht nach territorialen Grenzen richten. Umweltverschmutzungen kennen keine konstruierten staatlichen Grenzen. Terroristen und Verbrecher agieren häufig grenzüberschreitend. Die eigenen Staatsangehörigen wollen weitgehend frei und unbehelligt  Exemplarisch Jeremy Waldron, The Rule of International Law, Harv. J.L. & Pub. Pol’y 30 (2006), 15 ff. 41  Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 45. 42  Freilich begrenzt das Völkerrecht nicht nur Macht, sondern kann auch bestehende Machtverhältnisse perpetuieren. So hat Steinberg dargelegt, dass im WTO-Rechtssetzungsprozess die USA und die EU regelmäßig die Verhandlungen dominieren. Richard Steinberg, In the Shadow of Law or Power? Consensus-Based Bargaining and Outcomes in the GATT/WTO, IO 56 (2002), 339  ff. Skeptisch gegenüber dem Argument, dass das Völkerrecht mächtige Staaten signifikant begünstigt: Steven Ratner, Is International Law Impartial?, Legal Theory 11 (2005), 39 ff. 43  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 2, D., II. 44  Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz VI (1930/31), 576 (577). 45  Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (919). 46  Siehe Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, (156 f.). 40

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in andere Staaten reisen, dort arbeiten oder ihre Waren oder Dienste anbieten. Wollen die nationalstaatlichen Institutionen Regelungen für solche und andere grenzüberschreitenden Sachverhalte schaffen, müssen sie sich mit den Institutionen ­anderer Nationalstaaten zusammenschließen, um ihre Regelungsreichweite auszuweiten. Die Institutionen von Staat A werden die Grenzen für die Waren der Bürger des Staats B aber nur öffnen, wenn die Institutionen von Staat B das gleiche für die Waren seiner Bürger (von Staat A) tun. Auf der Grundlage von Gegenseitigkeit wird ein gemeinsamer Regelungsrahmen geschaffen, in dem die Staaten A und B ihre Entscheidungsautonomie einschränken, um ihren Bürgern „individuelle Freiheitsgewinne“ zu verschaffen.47 Diese Effekte multiplizieren sich in multinationalen Handlungsregimen wie der WTO, der NAFTA und vor allem der EU.48

I I. Das normative Argument für eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion Wie wir gesehen haben, gibt es gute Gründe für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation.49 Das könnte für eine föderalistische Vision der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation sprechen, die als Ideal anstrebt, dass aus der EU ein Europäischer Bundesstaat und aus den Vereinten Nationen eine Art Weltregierung wird. Nach diesem Modell wäre es folgerichtig, die einheitliche Anwendung des inter- und supranationalen Rechts durch eine hierarchisierte Konstruktion zu gewährleisten, nach der inter- und supranationales Recht uneingeschränkten Vorrang vor nationalem Recht hat.50 Allerdings kann eine solche kosmopolitische Vorstellung einer Weltrepublik oder einer Weltregierung durchaus Besorgnis erregen – wie im Fall von Kant, Rawls und Arendt51  – zumal inter- und supranationale Entscheidungsprozesse teilweise, wie gezeigt,52 unter signifikanten konstitutionellen Defiziten leiden. Vor diesem Hintergrund erscheint die intergouvernementale Forderung nachvollziehbar, dass zentrale Entscheidungen des Gemeinwesens nach wie vor in den parlamentarischen Verfahren des Nationalstaats getroffen und Grundrechtsbeeinträchtigungen durch  Ebd., 156.  Differenzierend zu den Auswirkungen der WTO auf Entwicklungsländer: Robert Hudec, Developing Countries in the GATT/WTO Legal System, 2009. 49  Oben Erster Teil, Kap. 4, A., I. 50  Siehe oben Erster Teil, Kap. 3, A., I. 51  Für Kant, Rawls und Arendt war die Vorstellung einer Weltföderation eher despotisch als erstrebenswert. Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, 1986 (1795), in: Karl Vorländer (Hrsg.), Immanuel Kant. Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, 2014 (1795), 115 (147); John Rawls, The Law of Peoples, 2002, 36; Hannah Arendt, Karl Jaspers: Citizen of the World?, in: dies. (Hrsg.), Men in Dark Times, 1968, 81 (89): „A world citizen, living under the tyranny of a world empire, and speaking and thinking in a kind of glorified Esperanto, would be no less a monster than a hermaphrodite.“ 52  Oben Erster Teil, Kap. 2, G. 47 48

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nationale Gerichte kontrolliert werden. Umgekehrt ist zweifelhaft, ob eine Rückkehr zu einem Koordinationsvölkerrecht, in dem sich Staaten keinen Beschränkungen ihrer Souveränität unterwerfen, in gleichem Maße Frieden und Wohlstand gewährleisten kann wie die gegenwärtige Konfiguration. Es gibt also gute Gründe dafür, dass wir einerseits inter- und supranationale Institutionen wollen, um wirksamer auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren zu können, und andererseits verlangen, dass der Nationalstaat „weiterhin die konstitutionelle Rolle eines Garanten von Recht und Freiheit spielt“.53 Wir wollen, dass unsere Institutionen den immensen Regelungsbedarf einer globalisierten Weltgesellschaft befriedigen, wir wollen aber nicht, dass diese Regelungen von einer zentralisierten Weltregierung erzeugt werden.54 Diese Ambivalenz findet ihren Ausdruck darin, dass sich die vernetzte Weltordnung in unterschiedliche politische Einheiten organisiert, in Nationalstaaten und in internationale Organisationen, die jeweils durch verschiedene Institutionen repräsentiert werden, die differente gesellschaftliche Belange vertreten und deren Entscheidungen oft das gleiche Sachgebiet, aber aus einer unterschiedlichen Perspektive, betreffen. Ein solches Arrangement, in dem gesellschaftliche Großprojekte wie die europäische Integration oder die Freiheit des Welthandels einerseits und die Belange der nationalen politischen Gemeinschaft andererseits jeweils durch verselbstständigte Institutionen vertreten werden, die der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbunden sind, hat viele Vorteile: Zum einen werden die Verwirklichungschancen dieser unterschiedlichen Belange durch Institutionalisierung erhöht.55 Zum anderen können in einer pluralistisch-heterarchischen Konfiguration unterschiedliche „Gerechtigkeitsperspektiven“56 gleichberechtigt neben­ einander existieren. Ein Beispiel: Welche Belange so gewichtig sind, dass sie einen Bestandteil der Verfassungsidentität bilden, kann ein nationales Verfassungsgericht besser beurteilen als der EuGH. Hier gibt es verfassungskulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten: Während in Großbritannien der Grundsatz der Parlamentssouveränität von fundamentaler Bedeutung ist, hat in Deutschland der Grundrechtsschutz einen herausragenden Stellenwert.57 In solchen Konstellationen, wie hinsichtlich des Begriffs der Verfassungsidentität, Fragen des Vorrangs und der Letztentscheidungsbefugnis offen und von sich auf Augenhöhe begegnenden Institutionen in interaktiven Verhandlungsprozessen aushandeln zu lassen, ermöglicht es diesen Institutionen einerseits, ihre Autonomie zu bewahren, anderer Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 49.  Slaughter spricht in diesem Zusammenhang von einem „governance trilemma“. Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 10. Dazu näher oben Erster Teil, Kap. 3, D., II., 1. Auch MacCormick betont, dass der Status quo der Europäischen Union einem „European mega-sovereignty or a return to the old polycentric sovereignties of Europe in the nineteenth and twentieth centuries“ vorzuziehen sei. Neil MacCormick, Beyond the Sovereign State, Mod. L.  Rev. 56 (1993), 1 (18). 55  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 2, C., II. 56  Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 68. 57  Siehe näher zur Verfassungsidentität als rechtsordungsübergreifender Hintergrundnorm, unten Dritter Teil, Kap. 17, A., II. und B. 53 54

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seits, ihre Belange in den Entscheidungsprozess einzuspeisen, der dadurch für divergierende Belange erweitert und für neue Entscheidungsoptionen geöffnet wird. Einem nationalen Verfassungsgericht wird die Entscheidung eines inter- und supranationalen Gerichts nicht durch eine hierarchisierte Vorrangregelung oktroyiert, sondern durch Kontestation der Entscheidung des inter- und supranationalen Gerichts kann es zumindest dessen zukünftige Entscheidungen beeinflussen und einen rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialog einleiten. Ein solches interaktives Entscheidungsarrangement zur Regelung kollektiver Sachverhalte ist nicht nur konsensualer, indem es Formen der Mitbestimmung durch andere, rechtsordnungsfremde Institutionen zulässt. Es ist auch flexibler, anpassungsfähiger und umweltoffener und erzeugt durch die Erweiterung der Entscheidungsperspektiven eine „Netzwerkintelligenz“.58 An die Stelle der planmäßigen Schaffung von Ordnung durch hierarchische Letztentscheidung tritt „eine Praxis des Erprobens, des Beobachtens und des Akzeptierens“ im Richternetzwerk.59 Die Abwesenheit einer absoluten Vorrangregelung ermöglicht es den Gerichten in rechtsordnungsübergreifender Interaktion, verschiedene Variationen von richterrechtlichen Regelungen zum Verhältnis zwischen verschiedenen Rechtsordnungen zu testen und auszuprobieren.60 Jedenfalls muss sich die Universalisierbarkeit solcher Normen erst in rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Interaktionsprozessen erweisen. Solange das nicht der Fall ist, verbleiben Freiräume für

 Vgl. Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (119). Nehmen wir beispielsweise den hypothetischen Fall an, dass auf die Einwände nationaler Verfassungsgerichte in der Europäischen Union in den 1970er-Jahren gegen den unzureichenden Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene eine Vorrangregelung zugunsten des Unionsrechts in die Verträge eingefügt worden wäre, die eine Ausnahme für Grundrechtsbelange zulässt. Was aber, wenn nun in einer späteren Integrationsphase Bedenken wegen der Aushöhlung der nationalstaatlichen Demokratie durch allzu großzügige Handhabung der übertragenen Kompetenzen durch europäische Institutionen in den Vordergrund treten? Hierauf können nationale Verfassungsgerichte durch dogmatische Konstruktionen wie die Figur vom ausbrechenden Rechtsakt flexibler reagieren, als wenn eine Vorrangregelung bestünde. 59  So die Formulierung von Lars Viellechner, Das Netzwerk der Netzwerke: Zur Rechts- und Globalisierungstheorie Karl-Heinz Ladeurs, in: Ino Augsberg/Tobias Gostomzyk/Lars Viellechner (Hrsg.), Denken in Netzwerken: Zur Rechts- und Gesellschaftstheorie Karl-Heinz Ladeurs, 2009, 65 (68). 60  Charney spricht im Zusammenhang mit dem Verhältnis verschiedener inter- und supranationaler Rechtsordnungen von „experimentation in a collective effort to find the best rule to serve the international community as a whole.“ Jonathan Charney, International Law and Multiple International Tribunals, RdC 271 (1988), 145 (354). So haben beispielsweise das BVerfG, der EuGH und der EGMR in Grundrechtsfragen die Solange-Konstruktion verwendet, der EGMR nimmt dabei allerdings eine Überprüfung des Grundrechtsniveaus der anderen Rechtsordnung, die den angegriffenen Rechtsakt erlassen hat, in jedem Einzelfall vor, das BVerfG lässt eine Verfassungsbeschwerde nur bei Nachweis einer generellen Unterschreitung des geforderten Grundrechtsniveaus zu. Welche Regelung die Beste für die vernetzte Weltordnung ist, kann sich durch den Vergleich der unterschiedlichen gerichtlichen Praxis über die Jahre ergeben. Zum Ganzen: Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 3. 58

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kulturelle und politische Differenzen.61 Über die mit einem solchen pluralistisch-­ heterarchischen Entscheidungsarrangement verbundenen Vorteile sind sich Netzwerk- und Verfassungspluralismusansätze weitgehend einig, wenn sie diese auch unterschiedlich umschreiben: Aus der Netzwerkperspektive liegen diese sogenannten positiven Netzwerkeffekte in der Dissipation von Macht, in dezentralen Entscheidungsstrukturen und in der Erweiterung der Entscheidungsperspektiven,62 aus der verfassungspluralistischen Perspektive in konstitutioneller Machtbegrenzung, einem rechtsordnungsübergreifenden System der „checks and balances“ und in der Inklusion von in der eigenen Rechtsordnung unterrepräsentierten Interessen.63 Natürlich hat ein solches pluralistisch-heterarchisches Arrangement auch Nachteile und es bestehen dementsprechend auch normative Gründe für einen uneingeschränkten Vorrang des inter- und supranationalen vor dem nationalen Recht:64 Zum Ersten führt die nach einer pluralistischen Konstruktion der nationalen Rechtsordnung grundsätzlich eingeräumte Möglichkeit, einen inter- oder supranationalen Rechtssatz zu kontestieren, dazu, dass die einheitliche Anwendung des inter- und supranationalen Rechts beschränkt wird. Daraus resultiert zum einen, dass die Rechtsgleichheit der dem inter- und supranationalen Recht unterworfenen Bürger nicht mehr gewährleistet ist: Die gleiche unionsrechtliche Regelung kann gegenüber einem niederländischen und nicht gegenüber einem deutschen Bürger anwendbar sein, wenn das Bundesverfassungsgericht die Regelung als ausbrechenden Rechtsakt einordnet.65 Dadurch wird die Gefahr eines Rechts des Stärkeren hervorgerufen. Das hängt damit zusammen, dass große, mächtige Mitgliedstaaten eher in der Lage sind, sich inter- und supranationalen Regelungsanordnungen zu entzie­ hen,  als kleine, ohnmächtige Staaten.66 Nach dieser Argumentation dient eine  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (61). 62  Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 44. 63  Nach Maduro werden durch das Europäische Integrationsprojekt einerseits überstaatliche Inte­ ressen in nationale Entscheidungsprozesse eingespeist, andererseits verschafft die Europäische Union nationalen Interessengruppen Foren zur Berücksichtigung ihrer Anliegen. Siehe Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (523). Zur Heterarchie als Baustein für Verfassungsordnungen aus rechtsvergleichender Perspektive: Daniel Halberstam, Constitutional Heterarchy: The Centrality of Conflict in the European Union and the United States, in: Jeffrey Dunoff/Joel Trachtman (Hrsg.), Ruling the World? Constitutionalism, International Law, and Global Governance, 2009, 326 ff.; siehe auch ders., Systems Pluralism and Institutional Pluralism in Constitutional Law: National, Supranational, and Global Governance, in: Matej Avbelj/Jan Komárek (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, 85 ff. 64  Die nachfolgenden Argumente führt Peters an, die selbst eine verfassungspluralistische Konzeption vertritt. Siehe insbesondere Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (53). 65  Zur Ultra-vires-Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts: Unten Dritter Teil, Kap.  18, B., I., 1. 66  Miles Kahler, Conclusion: The Causes and Consequences of Legalization, IO 54 (2000), 661 (665 f.). Es ist allerdings weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, dass ein pluralistisches Arrangement selbstverständlich den Stärkeren begünstigt. Zum einen haben sich 61

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p­ luralistische Konstruktion also nicht primär der berechtigten Kontestation interund supranationaler Regelungen durch alle Staaten, sondern führt zu einer Art Sonderrecht für mächtige Staaten.67 In diesem Zusammenhang lässt sich zum Zweiten argumentieren, dass eine pluralistische Konstruktion, die definitive Antworten auf Geltungs-, Rang- und Kompetenzfragen vermeidet, das Recht zur Lösung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte aus dem Spiel nimmt und das Feld der Politik und damit den Mächtigen überlässt.68 Zum Dritten widerspricht der Pluralismus dem Grundsatz pacta sunt servanda, denn im Gründungsvertrag haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, das gemeinsam verabschiedete Recht der internationalen Organisation anzuerkennen. Zuletzt lässt sich im innerstaatlichen Kontext die Befugnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zur letztverbindlichen Verfassungsinterpretation damit begründen, dass ein gesellschaftliches Bedürfnis danach besteht, verfassungsrechtliche Streitfragen abschließend zu entscheiden, damit sich die am Verfassungsstreit beteiligten Akteure auf die geklärte Rechtslage einstellen und ihre Aufmerksamkeit anderen Angelegenheiten widmen können.69 Muss das Gleiche nicht auch für die vernetzte Weltordnung gelten? Warum soll nicht auch hier – wie im nationalen Gemeinwesen – ein Verfassungsgericht mit der Kompetenz zu autoritativer Letztentscheidung betraut werden? Bei diesen Argumenten steht der Belang der Rechtssicherheit im Vordergrund: Ein geschlossener Vertrag muss eingehalten werden, das Recht muss für alle gleichermaßen gelten, im Zweifel muss ein autoritativer Letztentscheider entscheiden.70 Hierbei handelt es sich um einen elementar wichtigen Belang. Es ist aber zweifelhaft, ob der Grundsatz der Rechtssicherheit in einer vernetzten Weltordnung, die geprägt ist durch das unaufgelöste Spannungsverhältnis zwischen dem N ­ ationalstaat die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange Zeit machtvollsten Akteure in den internationalen Beziehungen, die USA und Europa, stets für eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen eingesetzt. Darauf verweist Miles Kahler, ebd., 666. Zum anderen kontestieren in Europa auch die Verfassungsgerichte der neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten, namentlich das polnische und das tschechische Verfassungsgericht, die Rechtsprechung des EuGH.  Siehe Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12  – Holubec; Polnischer Verfassungs­ gerichtshof, Urt. v. 16.11.2011, SK 45/09  – Supronowicz. Vor allem aber hat  sich das pluralistisch-heterarchische Arrangement zwischen nationalen und inter- und supranationalen wie auch zwischen verschiedenen inter- und supranationalen Rechtsordnungen als Katalysator für den Prozess der Verrechtlichung und der Konstitutionalisierung der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation erwiesen und damit dazu beigetragen, dass sich auch größere Staaten in den Strukturen und in der Sprache des Rechts rechtfertigen müssen. Näher unten Erster Teil, Kap. 5, C. 67  Dafür spricht, dass in der europäischen Integrationsgeschichte der Widerstand gegen die EuGH-Rechtsprechung in den größten Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich und Italien besonders groß war, während kleinere Mitgliedstaaten wie Luxemburg und die Niederlande sich traditionell für eine Stärkung der Kompetenzen des EuGH eingesetzt haben. Siehe Miles Kahler, ebd., 666. 68  Zur Erwiderung auf dieses Argument unten Erster Teil, Kap. 5, C. 69  Siehe näher Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u.a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 (23 ff.). 70  Grundlegend zur Rechtssicherheit: Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006.

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und der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation, zwischen dem Schutz der demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats und der Verankerung rechtsstaatlicher Grundsätze in inter- und supranationalen Strukturen, über allen anderen Belangen stehen sollte. Denn kennzeichnend für die vernetzte Weltordnung ist gerade, dass ein stabiler Grundkonsens, wie ihn die nationale Verfassung abbildet, fehlt und es keinen anerkannten letztverbindlichen Verfassungsinterpreten gibt. In so einem Stadium rechtlicher Unbestimmtheit über das Verhältnis zwischen verschiedenen Rechtsordnungen aber lässt sich die mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit erstrebte Stabilität nur gewährleisten, soweit die offenen politischen Herrschaftsverhältnisse nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Das hat Catherine Richmond auf den Punkt gebracht: „A state of legal indeterminacy is only ‚stable‘, however, as long as no normative challenge is made to it which challenges the political basis of the cognitive model adopted. […] Therefore it is in all parties’ interest to preserve the indeterminacy in the Community, enabling each to latch on to the model of legal authority that is politically most comfortable.“71 Indem man Möglichkeiten der Kontestation eröffnet, werden Anreize für Kooperation und für rechtsordnungsübergreifenden Dialog geschaffen. Diesen Zusammenhang zwischen voice und exit erklärt Weiler in Anknüpfung an den Soziologen Albert Hirschman: „Crudely put, a stronger ‚outlet‘ for Voice reduces pressure on the Exit option and can lead to more sophisticated processes of self-correction. By contrast, the closure of Exit leads to demands for enhanced Voice.“72 Deshalb wird es der Vielfalt der Perspektiven und unterschiedlichen Interessen in der vernetzten Weltordnung nicht gerecht, Einheit rechtlich zu erzwingen, wo keine Einheit besteht, und Möglichkeiten der Kontestation trotz grundlegendem Dissens abzuschneiden. Aus dieser Perspektive ist ein rechtsordnungsübergreifender Rechts­ prechungskonflikt also nicht ein pathologischer Ausdruck eines Mangels an Widerspruchsfreiheit, sondern ein Stimulus für die Entwicklung neuer Ideen.73 Die Gestaltung der vernetzten Weltordnung stellt sich auf dieser Folie als ein teils unabgeschlossener, teils unabsehbarer dialektischer Prozess dar, der sich idealtypisch durch iterative, gleichberechtigte Verständigungsprozesse zwischen rechtsordnungsdifferenten Institutionen vollzieht.74

 Catherine Richmond, Preserving the Identity Crisis: Autonomy, System and Sovereignty in European Law, Law and Philosophy 16 (1997), 377 (417 f.). 72  J.H.H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale L. J. 100 (1991), 2403 (2411). 73  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (52). 74  Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (466 f.). 71

B. Die rechtstheoretische Dimension

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B. Die rechtstheoretische Dimension Ein pluralistisch-heterarchisches Modell mag für die vernetzte Weltordnung erstrebenswert sein, aber wie lässt sich ein solches rechtstheoretisch konzipieren? Im Folgenden geht es nicht darum, eine eigene Theorie eines Pluralismus der Rechtsordnungen zu entwickeln, sondern es soll in Anknüpfung an die Rechtstheorien HLA Harts und Neil MacCormick in groben Zügen exemplarisch am Beispiel der Europäischen Union aufgezeigt werden, wie sich das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung rechtstheoretisch konzipieren lässt und welche Fragen dabei von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck soll zunächst kurz angedeutet werden, ob und in welcher Gestalt sich die in Kap. 2 beschriebenen Strukturen und Prozesse und ihr Zusammenwirken mit nationalen Institutionen monistisch, dualistisch und pluralistisch denken lassen (I.). Daran anschließend soll erörtert werden, wann eine Rechtsordnung vorliegt und wie sich die Identität einer Rechtsordnung bestimmen lässt (II.). Wie sich zeigen wird, ist dabei maßgeblich auf die beobachtbare soziale Praxis der rechtsanwendenden Institutionen abzustellen. Auf dieser Grundlage soll dann dargelegt werden, warum selbst modifizierte monistische oder dualistische Erklärungsmodelle die rechtsordnungsübergreifende gerichtliche Praxis im EU-Kontext nicht adäquat erklären können (III.) und auf welchen rechtstheoretischen Erwägungen eine pluralistisch-heterarchische Konstruktion beruht (IV.).

I . Monismus, Dualismus oder Pluralismus und die Frage nach der Anzahl der Rechtsordnungen In der Völkerrechtstheorie wird das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem Völkerrecht traditionell nicht pluralistisch-heterarchisch konstruiert, sondern durch die Konzeptionen des Monismus und des Dualismus bestimmt.75 Nach dem klassischen Dualismus sind die nationalen Rechtsordnung und die Völkerrechtsordnung zwei voneinander unabhängige Kreise, „die sich höchstens berühren, niemals schneiden“.76 Jede Rechtsordnung bestimmt für sich nach den eigenen Kriterien, welcher Rechtssatz in welcher Form in ihr Geltung beanspruchen kann. Ohne einen Inkorporationsakt, mit dem die nationale Rechtsordnung sich einen völkerrechtlichen Rechtssatz zu eigen macht, ist dieser als rechtsordnungsfremder Rechtsakt für die eigene Rechtsordnung rechtlich irrelevant. Demgegenüber bilden nach dem  Diese Konzepte werden in unterschiedlichen Variationen vertreten, die im Einzelnen umstritten sind. Im Folgenden werden Monismus und Dualismus überspitzt auf ihren wesentlichen Kern reduziert dargestellt. Für einen allgemeinen Überblick: Christine Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren, 2003; David Björgvinsson, The Intersection of International Law and Domestic Law, 2015, 19 ff. Instruktiv zum Monismus: Paul Gragl, Legal Monism. Law, Philosophy, and Politics, 2018. 76  Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, 111. 75

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klassischen, von Kelsen geprägten Monismus Völkerrecht und nationales Recht eine Rechtsordnung, denn alles Recht ist „als ein einheitliches System zu begreifen“.77 Diese Konstruktion leitet Kelsen aus seinem erkenntnistheoretischen Postulat der Einheit der Rechtsordnung ab, auf dessen Grundlage Normkollisionen zwischen dem Völkerrecht und dem nationalen Recht normenhierarchisch gelöst werden müssen.78 Diese vor mehr als hundert Jahren entwickelten Konzeptionen werden den Strukturen und Prozessen der vernetzten Weltordnung nicht mehr gerecht.79 Sie sind „intellectual zombies of another time“,80 die durch eine pluralistisch-heterarchische Konzeption des Verhältnisses unterschiedlicher Rechtsordnungen ersetzt werden sollten.81 Zum einen ist die dualistische Konzeption der strikten Getrenntheit der Rechtsordnungen nur schwer mit der zu beobachtenden Verschränkung, Verzahnung und Verflechtung zwischen nationalem und inter- und supranationalem Recht vereinbar.82 Zum anderen entspricht die monistische Konstruktion der Abhängigkeit der Geltung der einen von der anderen Rechtsmasse nicht der tatsächlichen rechtlichen Praxis.83 Aus der Zurückweisung klassisch monistischer oder dualistischer Konzeptionen folgt allerdings noch nicht, dass nur eine pluralistische – und nicht alternativ eine modifizierte monistische oder dualistische – Deutung der Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung plausibel sein kann. Konzeptionell sind der Monismus und der Dualismus vielfältigen Deutungsmustern zugänglich: Sie lassen sich erstens monistisch als eine Rechtsordnung deuten – mit Hinweis etwa auf das Ausmaß der Verschränkung, Verzahnung und Verflechtung zwischen der nationalen und der  Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Aufl., 1928, 100, Fn. 1.  Während für Kelsen die Frage, welchem Recht in dieser einheitlichen, pyramidisch geformten Rechtsordnung das Primat zukommen soll, rechtstheoretisch unergiebig und nur Ausdruck politischer Präferenzen ist, muss zumindest die Geltung des nachrangigen Rechts vom vorrangigen Recht abhängig sein. Steht also das Völkerrecht an der Spitze der Normpyramide, ist die Geltung des nationalen Rechts vom Völkerrecht abgeleitet, umgekehrt hängt die Geltung des Völkerrechts vom nationalen Recht ab, insofern das nationale Recht Vorrang hat. Vgl. Hans Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, ZaöRV 19 (1958), 234 ff. 79  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (21). 80  Armin von Bogdandy, Pluralism, direct effect, and the ultimate say: On the relationship between international and domestic constitutional law, ICON 6 (2008), 397 (400). 81  Ebd., 398. 82  Oben Erster Teil, Kap. 2, H. 83  Es ist allgemein anerkannt, dass die Existenz staatlicher Vorschriften, die der Regelungsanordnung einer Völkerrechtsnorm widersprechen, zwar die völkerrechtliche Haftung dieses Staates begründen kann, aber nicht zur Nichtigkeit dieser Vorschriften führt. Umgekehrt ist die Unvereinbarkeit einer Völkerrechtsnorm mit einer Bestimmung der staatlichen Verfassung aus völkerrechtlicher Sicht regelmäßig unbeachtlich. Vgl. Art. 27, 46 WVRK. Zwar erhebt Kelsen nicht den Anspruch, mit seiner monistischen Konstruktion die rechtliche Praxis wiederzugeben. Vielmehr handelt es sich um eine rechtstheoretische Konstruktion, die dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung folgt. Anliegen der hier zu entwickelnden Konzeption der vernetzten Weltordnung ist es aber gerade, die beobachtbare rechtliche und institutionelle Praxis zu rekonstruieren. 77 78

B. Die rechtstheoretische Dimension

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europäischen Rechtsordnung in der Europäischen Union, in der nationale Gerichte in wechselnder Rolle teilweise Prinzipien der nationalen Verfassung gegenüber dem Unionsrecht hochhalten, teilweise als Unionsgerichte das Unionsrecht auf den Einzelfall anwenden;84 sie lassen sich zweitens pluralistisch deuten als Rechtsordnungen der Nationalstaaten sowie der verschiedenen inter- und supranationalen Rechtsordnungen, die allesamt das Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen nach eigenen Kriterien, auf den konstitutionalistischen Grundlagen ihrer eigenen Rechtsordnung bestimmen; und sie lassen sich drittens unter Betonung der wesensmäßig unterschiedlichen Erzeugungsbedingungen zwischen nationalstaatlichem Recht einerseits und inter- und supranationalem Recht andererseits auch dualistisch erklären. Es stellt sich also die Frage, wie viele Rechtsordnungen es in der vernetzten Weltordnung gibt. Diese Frage soll im Folgenden am Beispiel der EU diskutiert werden, denn wegen des hohen Maßes an Verschränkung und Verzahnung lässt sich eine monistische Konzeption in keinem anderen inter- oder supranationalen Zusammenhang so plausibel vertreten wie im Zusammenhang mit dem Unionsrecht und seinem Verhältnis zum nationalen Recht. Konstituiert das Unionsrecht gemeinsam mit dem Recht eines Mitgliedstaats eine einheitliche Rechtsordnung, in der entweder das Unionsrecht eine Art Nebenverfassung zu den mitgliedstaatlichen Verfassungen darstellt oder, alternativ, die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Teilrechtssysteme des europäischen Gesamtrechtssystems sind? Oder bildet das Unionsrecht eine eigenständige, distinktive Rechtsordnung, die zwar eng mit den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verbunden ist, aber dennoch zu diesen hinzutritt?85 Es ist davon auszugehen, dass die aus der Untersuchung dieser Fragen zu ziehenden Erkenntnisse über den Rahmen der Europäischen Union hinaus relevant sind, denn auch andere inter- und supranationale Regime verfügen über Gerichte und Tribunale mit verselbstständigten Willensbildungsmechanismen, die die Kon­ stitutionalisierung und Autonomisierung ihrer Rechtsordnung vorantreiben,86 und damit ein Umdenken von Hierarchie auf Pluralität und Heterarchie nahelegen.87

 Im Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und dem mitgliedstaatlichen Recht hängt zwar nicht die Geltung der Normen der einen Rechtsmasse von der anderen Rechtsmasse ab, aber zumindest besteht eine wechselseitige Abhängigkeit in dem Sinne, dass eine nationale Vorschrift aufgrund des grundsätzlichen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar sein kann. 85  Julie Dickson, How Many Legal Systems? Some Puzzles Regarding the Identity Conditions of, and Relations Between, Legal Systems in the European Union, Problema 2 (2008), 9 (11 f.). 86  Oben Erster Teil, Kap. 2, C., II. und E. 87  So im Kontext des Nationalstaats: Gunther Teubner, Polykorporatismus: Der Staat als „Netzwerk“ öffentlicher und privater Kollektivakteure, in: Peter Niesen/Hauke Brunkhorst (Hrsg.), FS Maus, 1999, 346 ff. 84

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II. Kriterien für Rechtsordnungsqualität und -identität Diese Fragen werfen zunächst die rechtstheoretische Vorfrage auf, nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, wann eine Rechtsordnung vorliegt. Nach der – im Vergleich zu Kelsens deduktiver, streng begriffsimmanenten Rechtstheorie – empirisch orientierten Rechtstheorie HLA Harts, die für die Existenz einer Rechtsordnung auf das tatsächliche Funktionieren in der gesellschaftlichen Realität abstellt,88 setzt sich ein Rechtssystem aus primären und sekundären Regeln zusammen. Primäre Regeln sind soziale Verpflichtungsregeln, also Verhaltensstandards für Individuen wie beispielsweise das Diebstahlsverbot des § 242 Abs. 1 StGB. Sekundäre Regeln sind Regeln über primäre Regeln. Sie bestimmen, ob eine primäre Regel gilt, wie ihr Inhalt zu ermitteln ist und unter welchen Bedingungen sie abgeändert oder aufgehoben werden kann. Hart unterscheidet drei unterschiedliche Typen von sekundären Regeln: ­Erkenntnisregeln, „rules of recognition“, die die Kriterien für die Geltung von primären Regeln festlegen,89 Änderungsregeln, „rules of change“, die zur Verabschiedung, Abänderung oder Aufhebung primärer Regeln ermächtigen, und Ent­ scheidungsregeln,90 „rules of adjudication“, die bei Zweifeln den Inhalt einer primären Regel festlegen.91 Im Unterschied zu Kelsens Grundnorm ist die rule of recognition bei Hart nicht normativistisch zu bestimmen, sondern ein empirisch nachprüfbares Faktum; ihre Existenz ist abhängig von der Praxis der Gerichte, Beamten und Privatpersonen.92 Auch für die Frage der Existenz einer Rechtsordnung stellt Hart maßgeblich auf zwei deskriptive Minimalbedingungen ab, nämlich erstens, dass die primären (Verhaltens-)Regeln allgemein befolgt werden und zweitens, dass die sekundären Regeln wirksam von den Beamten als allgemeine öffentliche Standards des öffentlichen Verhaltens angenommen werden.93 Mit dieser zweiten Bedingung ist ein weiteres zentrales Element in Harts Rechtstheorie angesprochen, der interne Aspekt der Regeln, der „internal point of view“. Regeln sind nach Hart nicht bloße Regularitäten oder sanktionsbewehrte Befehle, die man nur zur Vermeidung der angedrohten Sanktion befolgt, sondern sie entfalten grundsätzlich  – zumindest gegenüber einer qualifizierten Minderheit  – eine normative Ver­ ­  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (6). 89  H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1994 (1961), 94 f. Strittig ist, ob es nur eine rule of recognition oder mehrere rules of recognition geben soll, denn Hart verwendet diesen Begriff teilweise im Singular und teilweise im Plural. 90  Ebd., 95 f. 91  Ebd., 96 ff. Dabei sind Änderungs- und Entscheidungsregeln in gewisser Weise Konkretisierungen der „rule of recognition“, denn parlamentarische Gesetze gelten nur unter der Voraussetzung, dass sie – nach Auffassung der entscheidenden Gerichte – die Kriterien für die Geltung von Recht erfüllen. Siehe Neil MacCormick, Risking Constitutional Collision in Europe?, Oxford J. Legal Stud. 18 (1998), 517 (526). 92  H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1994 (1961), 110: „Its existence is a matter of fact.“ 93  Ebd., 116. 88

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pflichtungswirkung. Hart unterscheidet also zwischen einer Teilnehmerperspektive, dem „internal point of view“, und einer Beobachterperspektive, dem „external point of view“. Während aus letzterer die Norm ein Fakt ist, zu dem man sich strategisch verhält, betrachten Teilnehmer die Normen ihrer Rechtsordnung als normativ bindend und erachten die sekundären Regeln als maßgebliche Standards für ihre Tätigkeit. Nach diesen Hartschen Kriterien lässt sich das Recht der Europäischen Union als Rechtsordnung konzeptualisieren. Denn aus der Teilnehmerperspektive, also insbesondere aus Sicht der Richter des EuGH und des EuG sowie der Kommissionsbeamten besteht die Unionsrechtsordnung aus einer Einheit zwischen primären und sekundären Regeln. Aus ihrer Perspektive haben die Gründungsverträge Verfassungscharakter und enthalten maßgebliche sekundäre Regeln: Sie sind als höherrangiges Recht Maßstab für die Gültigkeit primärer Regeln,94 sie schreiben vor, unter welchen Voraussetzungen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen erlassen werden können95 und sie ermächtigen den EuGH und das EuG zur Auslegung des Unionsrechts im Fall von Zweifeln über den Inhalt des Unionsrechts.96 Diese unionsrechtlichen Vorgaben werden von den Unionsbeamten und -gerichten als maßgebliche Standards für ihr Verhalten angenommen, die sich als Repräsentanten des Unionsrechts und seiner Prinzipien verstehen.97 Damit allein lässt sich jedoch nicht die Frage beantworten, ob das Unionsrecht und das nationale Recht eine oder mehrere Rechtsordnungen bilden. Denn nur weil das Unionsrecht die Voraussetzungen der Existenz einer Rechtsordnung erfüllt bzw. die Fähigkeit hat, eine eigenständige Rechtsordnung zu sein, folgt daraus noch nicht, dass es auch eine eigenständige, distinktive Rechtsordnung ist. Es handelt sich nur um eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Denn genauso ließe sich argumentieren, dass europäisches und nationales Recht eine gemeinsame, zusammenhängende Rechtsordnung mit einer gemeinsamen „rule of recognition“ oder mehreren „rules of recognition“ bilden. Wenn wir die Plausibilität einer monistischen bzw. einer pluralistischen Konzeption eruieren, müssen wir über die Voraussetzungen für die Existenz einer Rechtsordnung hinaus Kriterien für die Identität einer Rechtsordnung entwickeln. Welche Kriterien können das sein? Hart und Raz stellen als Kriterium für die Zugehörigkeit einer Norm zu einer Rechtsordnung nicht auf die Identität des Rechtserzeugers, sondern darauf ab, welche Normen die rechtsanwendenden Institutionen, insbesondere die Gerichte, als Teil ihrer Rechtsordnung anerkennen.98 Es  Vgl. insb. Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV und Art. 263 AEUV.  Siehe insb. Art. 288–299 AEUV. 96  Neil MacCormick, Beyond the Sovereign State, Mod. L. Rev. 56 (1993), 1 (7 f.). 97  Darüber hinaus werden auch die primären Regeln in den Mitgliedstaaten mehrheitlich befolgt. 98  Siehe Joseph Raz, The Authority of Law, 2. Aufl., 2009, 101 f.; vgl. H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1994 (1961), 88 ff. Auf den ersten Blick könnte dieses Kriterium für eine monistische Kon­ struktion der EU sprechen, weil nationale Gerichte alltäglich europäische Rechtsakte anwenden. Aber folgt allein aus dem Grundsatz der unmittelbaren Wirkung, dass Unionsrecht und nationales Recht eine einheitliche Rechtsordnung konstituieren? Ein solcher Schluss wäre jedenfalls voreilig, 94 95

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bedarf eines Kriteriums, mit dem man unterscheiden kann zwischen rechtsordnungseigenen Normen, die die Richter einer Rechtsordnung anwenden, weil sie Bestandteil ihrer Rechtsordnung sind, und rechtsordnungsfremden Normen, die die Richter anwenden, weil ihre Rechtsordnung die Anwendung autorisiert hat. Dafür genügt es nicht, sich nach technischen oder semantischen Aspekten der Anwendung, etwa dem Inkorporationsakt, zu richten. Abzustellen ist grundsätzlicher auf die Einstellungen der Richter und ihre Gründe für die Anwendung der Norm: „Ultimately the problem turns on an accumulation of evidence justifying a judgement whether a norm is enforced on the grounds that it is part of the law’s function to support other social systems or because it is part of the law itself.“99 Im Kontext der EU bedeutet das Folgendes: „we will need to inquire into, amongst other things, the reasons why Member States’ courts do enforce and grant primacy to EC law, and the attitudes, including attitudes of identification with and/or alienation from EC law, on the part of those courts, and of EU citizens.“100 Es handelt sich dabei um ein deskriptives Element, das maßgeblich auf die beobachtbare soziale Praxis abstellt.101

I II. Zurückweisung eines modifizierten Monismus und Dualismus Welche Aspekte der gerichtlichen Praxis sprechen also für eine monistische Kon­ struktion der EU und welche für eine pluralistische oder dualistische Deutung? Für eine monistische Deutung lassen sich insbesondere die zwei paradigmatischen Doktrinen des EU-Rechtssystems anführen, die der EuGH in Van Gend en Loos und Costa vs. ENEL entwickelt hat: die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts.102 Zwar ist die Vorrangregelung einer Rechtsmasse gegenüber einer anderen prinzipiell dazu geeignet, diese beiden Rechtsmassen zu einer gemeinsamen Rechtsordnung zu vereinen. Das hat MacCormick treffend zum denn nach den Regeln des IPR kann auch ein deutscher Richter unter bestimmten Voraussetzungen etwa italienische Rechtsnormen anwenden, ohne dass diese einen Teil der deutschen Rechtsordnung bilden. Die Anwendung des Unionsrechts durch nationale Gerichte kann also auch so kon­ struiert werden, dass die nationale Rechtsordnung die Anwendbarkeit rechtsordnungsfremder Rechtsnormen unter bestimmten Voraussetzungen autorisiert hat, ohne dass diese Normen dadurch Bestandteil der nationalen Rechtsordnung werden. Julie Dickson, How Many Legal Systems? Some Puzzles Regarding the Identity Conditions of, and Relations Between, Legal Systems in the European Union, Problema 2 (2008), 9 (38). 99  Joseph Raz, ebd., 102. 100  Julie Dickson, How Many Legal Systems? Some Puzzles Regarding the Identity Conditions of, and Relations Between, Legal Systems in the European Union, Problema 2 (2008), 9 (41). 101  Dieses Vorgehen entspricht der Hartschen Rechtstheorie insofern, dass Hart im Zusammenhang mit der „rule of recognition“ darauf abstellt, ob diese von den maßgeblichen Akteuren faktisch anerkannt wird. 102  Siehe EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62 – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1; Urt. v. 15.07.1964, Rs. C-6/64 – Costa v. E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66.

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Ausdruck gebracht: „If system X enjoys supremacy over system Y, why trouble to have a theory about separate systems, rather than a theory which acknowledges the fact that Y belongs to X as subsystem of it?“103 Das Problem an einer monistischen Konstruktion ist jedoch, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte den Vorrang des Unionsrechts zwar weitgehend, aber eben nicht uneingeschränkt – und nur unter ihren Bedingungen – anerkannt haben.104 Dickson argumentiert überzeugend, dass in dieser nur begrenzten Autorisierung zur vorrangigen Anwendung rechtsordnungsfremder Normen sehr wohl ein rechtsordnungseigener Vorranganspruch zum Ausdruck komme, durch den diese ihren Charakter als eigenständige, distinktive Rechtsordnung bewahre.105 Vor dem Hintergrund der konkurrierenden Vorrangansprüche und der bestehenden Uneinigkeit über die maßgebliche rule of recognition und die ultimative Letztentscheidungsbefugnis aber erscheint eine monistische Konstruktion nicht überzeugend. Eine monistische Konstruktion lässt sich auch nicht mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wirkung begründen. Zwar liegt diesem die strategische Überlegung zugrunde, dass die maßgeblichen Akteure der nationalen Rechtsordnung das unmit­ telbar anwendbare Unionsrecht mit der Zeit  – infolge einer verstetigten Anwendungspraxis – als eigenes Recht anerkennen.106 Dem gleichen Zweck dient  Neil MacCormick, Juridical Pluralism and the Risk of Constitutional Conflict, in: ders. (Hrsg.), Questioning Sovereignty, 1999, 97 (116). Auch Kelsens Monismus, in dem entweder dem Völkerrecht oder dem Landesrecht uneingeschränkter Vorrang zukommt, beruht auf der Annahme der Existenz nur einer Rechtsordnung im Fall eines hierarchisch-pyramidischen Arrangements. 104  Zwischen dem EuGH und den Verfassungsgerichten besteht gerade Uneinigkeit über die Frage, was die maßgebliche „rule of recognition“ ist und wer bei Zweifeln über die Reichweite von Unionsrecht die Letztentscheidungsbefugnis hat. Während der EuGH die Unionsrechtsordnung als autonom und als ausschließlichen Maßstab für Rechtsstreitigkeiten mit unionsrechtlichem Bezug betrachtet, erhalten die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte einen Vorranganspruch der nationalen Rechtsordnung aufrecht, indem sie das Unionsrecht als von der nationalen Verfassung abgeleitet konstruieren. Auch wenn die nationale Rechtsordnung durch die verfassungsrechtlich autorisierte Übertragung von Hoheitsrechten an die EU die vorrangige Anwendung des Unionsrechts im innerstaatlichen Bereich erlaubt, wird diese eben auf die Reichweite der verfassungsrechtlichen Autorisierung beschränkt: Was diese Brücke nicht trägt, kann in der nationalen Rechtsordnung keine Rechtsverbindlichkeit erlangen. 105  Danach kann der Vorranganspruch einer Rechtsordnung „include a permission to another normative system to operate within the jurisdiction of the legal system in question, and in my view there seems no reason why this could not include a permission for its norms to prevail over that legal system’s norms. So long as the permission for another normative system to operate thus is within the grant of the legal system making the supremacy claim, it remains a supremacy claim, and remains a distinct legal system. The attitude of the House of Lords in the UK and Bundesverfassungsgericht in Germany can plausibly be understood in this way: each is granting a permission for the norms of another normative system, the EU legal system, to operate in the domestic system, and to prevail over domestic legal norms in cases of conflict, but each is doing so on the terms set by, and because of a permission granted by, the domestic legal system.“ Julie Dickson, How Many Legal Systems? Some Puzzles Regarding the Identity Conditions of, and Relations Between, Legal Systems in the European Union, Problema 2 (2008), 9 (26). 106  Durch den regelmäßigen Umgang mit dem Unionsrecht sollen Sozialisierungs- und Lernprozesse in Gang gesetzt  werden, die zur Internalisierung des Unionsrechts führen, durch die die Unterscheidung zwischen Unionsrecht und nationalem Recht verwischt. Das unmittelbar anwend103

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die richterrechtliche Umgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens von einem Verfahren, in dem der EuGH nationalen Gerichten Fragen zur Auslegung des Unionsrechts beantwortet, zu einem Verfahren zur Durchsetzung des Unionsrechts, in dem nationale Richter funktionell zu Unionsrichtern transformiert werden.107 Vor diesem Hintergrund ließe sich im Sinne einer monistischen Deutung argumentieren, dass sich diese Anwendungsprozesse und Rollenverschränkungen in einer Weise verstetigt haben, dass man Unionsrecht und nationales Recht nur noch sinnvoll als eine gemeinsame Rechtsordnung begreifen kann. Ein solcher Schluss würde jedoch das Wesen der Interaktion zwischen nationalen und europäischen Gerichten und das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht verkennen. Das Selbstverständnis nationaler Gerichte und ihre Herangehensweise an das Unionsrecht belegen, dass sie die nationale Rechtsordnung als eigenständige, von der europäischen zu unterscheidende Rechtsordnung auffassen. Besonders deutlich wird das im Fall nationaler Verfassungsgerichte, die fast allesamt den Anspruch erheben, das Verhältnis des nationalen Rechts zum Unionsrecht – trotz konkurrierender Vorrangansprüche des EuGH – einseitig nach eigenen Kriterien, auf den konstitutionalistischen Grundlagen ihrer eigenen Rechtsordnung, zu gestalten.108 Sie behalten sich das Recht vor, zu bestimmen, in welcher Form und in welchen (verfassungsrechtlichen) Grenzen Unionsrecht in der eigenen Rechtsordnung Anwendung finden kann.109 Nur infolge dieses einseitigen „Öffnungs- oder Rezeptionsprozesses“ wird Unionsrecht Bestandteil der nationalen Rechtsordnung.110 Dadurch wird das Unionsrecht zwar integraler Bestandteil der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, aber eben nur auf der Grundlage der einseitig aufgestellten Inkorporationsbedingungen nationaler Verfassungsgerichte.111 bare Unionsrecht soll „Bestandteil der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten“ werden. EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Rs. C-6/64 – Costa v. E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66, Slg. 1964, 1259 (1274). 107  Dazu näher oben Erster Teil, Kap. 2, H. 108  Als einzige Ausnahmen von dieser Herangehensweise erscheinen die Niederlande und Estland. So Keith Culver/Michael Giudice, Not a System but an Order: Explaining the Legality of the European Union, in: Julie Dickson/Pavlos Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical Foundations of EU Law, 2012, 54 ff. 109  Siehe Julie Dickson, How Many Legal Systems? Some Puzzles Regarding the Identity Conditions of, and Relations Between, Legal Systems in the European Union, Problema 2 (2008), 9 (25): „[T]he practices of national courts seem to provide evidence that Member States’ legal systems remain just that, distinct legal systems which reserve to themselves the right to determine the operation of other normative systems such as the EU legal system and the relationship between that legal system and domestic law.“ 110  Matthias Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund  – Verfassungstheoretischer Charme und rechtstheoretische Insuffizienz einer Unschärferelation, in: Rüdiger Krause/Winfried Veelken/ Klaus Vieweg (Hrsg.), GS Blomeyer, 2004, 637 (659). In den Worten des Bundesverfassungsgerichts hängen „Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland […] von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes ab“. BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht (1993). Das bedeutet freilich, dass „eine Auswechslung der Geltungsgrundlage“ qua Inkorporation stattfindet. Matthias Jestaedt, ebd. 111  Monistische Konzeptionen wie die vom Europäischen Verfassungsverbund überdecken diesen Zusammenhang durch Begriffe wie „Komplementärverfassungen“ oder „polyzentrisches europäi-

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Mit den im Wesentlichen gleichen Argumenten lässt sich auch eine dualistische Deutung der vernetzten Weltordnung ablehnen. Zwar betonen Pluralismus und Dualismus beide die Existenz distinktiver Rechtsordnungen und das Erfordernis eines Inkorporationsakts, damit die Normen der einen Rechtsordnung Bestandteil der anderen Rechtsordnung werden können.112 Der Dualismus aber unterscheidet nur zwischen den nationalen Rechtsordnungen und der Völkerrechtsordnung, begreift letztere demnach aufgrund ihres zwischenstaatlichen Charakters als einheitliche Rechtsordnung. Infolge der Institutionalisierung der inter- und supranationalen Kooperation und der damit verbundenen Tendenz zur Konstitutionalisierung und Autonomisierung lässt sich zwischenstaatliches Recht aber nicht mehr plausibel als eine einheitliche Rechtsordnung, sondern nur als Vielzahl von Rechtsordnungen beschreiben, die eigenständige normative Systeme bilden. Denn die Einsetzung obligatorisch und verbindlich entscheidender Gerichte durch einen völkerrechtlichen Gründungsvertrag zur Realisierung eines bestimmten gesellschaftlichen Projekts, etwa europäische Integration oder Liberalisierung des Welthandels, hat dazu geführt, dass diese mit verselbstständigten Willensbildungsmechanismen ausgestatteten Gerichte das Projekt der Schaffung einer eigenen autonomen, vom allgemeinen Völkerrecht unabhängigen Rechtsordnung vorantreiben. Sie entwickeln das Recht ihres Regimes nach einer eigenen, ihrem Regime verbundenen Logik und bestimmen das Verhältnis zum allgemeinen Völkerrecht nach eigenen Kriterien, auf den konstitutionalistischen Grundlagen ihrer eigenen Rechtsordnung.

IV. Herleitung einer pluralistisch-heterarchischen Konzeption MacCormick hat auf der Grundlage von Harts Rechtstheorie eine pluralistisch-­ heterarchische Konzeption der Europäischen Union entwickelt. Dabei knüpft MacCormick an Harts soziologisch orientierte Konzeption des Rechts an, nach der – im Unterschied zu Austin – das Recht nicht nur eine einzige Quelle haben kann und ein Rechtssystem nicht notwendig einen Souverän voraussetzt, und nach der – im Unterschied zu Kelsen – eine einheitliche monistische Rechtsordnung keine erkenntnistheoretische Voraussetzung ist. Weil nach Hart also weder ein Souverän noch die Einheit der Rechtsordnung rechtslogische Notwendigkeiten darstellen, lässt sich mit seiner Rechtstheorie auch ein pluralistisch-heterarchisches Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen begründen.113 Denn nach Hart sind Hierarchie und Unter­ ordnung keine notwendigen Bedingungen für das Verhältnis zwischen den sches Ordnungsgefüge“. Darauf weist Jestaedt zutreffend hin. Ebd., 661. 112  Gráinne de Búrca, The European Court of Justice and the International Legal Order After Kadi, Harv. Int’l L. J. 51 (2010), 1 (31). 113  Vgl. Neil MacCormick, Beyond the Sovereign State, Mod. L. Rev. 56 (1993), 1 (10 f.). Damit lässt sich die Rechtstheorie Harts, die durchaus hierarchische Elemente enthält, im Sinne eines heterarchischen Arrangements autonomer Rechtsordnungen weiterentwickeln.

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­ echtsordnungen: „[F]rom a jurisprudential point of view, there is no compulsion R to regard ‚sovereignty‘, or even hierarchical relationships of superordination and subordination, as necessary to our understanding of legal order […].“114 Auf der Grundlage von Harts Begriff des Rechts ist es MacCormick zufolge also sehr wohl rechtslogisch denkbar, dass verschiedene Rechtsordnungen überlappen, sich gegenseitig verbinden und ineinandergreifen, ohne dass sich eine Rechtsordnung der anderen notwendig unterordnen muss.115 Denn abzustellen ist nach Hart auf die beobachtbare soziale Praxis. Das Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht, zwischen europäischen und nationalen Akteuren lässt sich aber, wie gezeigt,116 weder als einheitliche Rechtsordnung noch als hierarchisch plausibel beschreiben.117 Denn die in ihren jeweiligen Rechtssystemen in diesen Fragen maßgeblichen rechtsanwendenden Institutionen, der EuGH und die nationalen Verfassungsgerichte, sind jeweils der Überzeugung, dass das Verhältnis der nationalen und der europäischen Rechtsordnung nach den Konfliktlösungs- bzw. Kollisionsregeln ihrer eigenen Rechtsordnung zu bestimmen ist, ohne  dass eine Auflösung dieser inkommensurablen Geltungsansprüche in Sicht ist.118 Nach Auffassung von MacCormick lassen sich diese für sich genommen schlüssigen, aber dennoch konkurrierenden Perspektiven mit der Hartschen Figur des „internal point of view“ erklären. Während aus der Teilnehmerperspektive jedes System nur auf Grundlage des systemspezifischen „internal point of view“ verstanden werden könne, sei es dem Blickwinkel eines externen Beobachters zugänglich, die Möglichkeit dieser unterschiedlichen Perspektiven anzuerkennen.119 Die hier zugrunde liegende pluralistisch-­ heterarchische Konzeption der vernetzten Weltordnung beruht also zuvorderst auf der empirischen Beobachtung, dass das Verhältnis zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten nicht durch eine hierarchische Struktur charakterisiert ist, sondern durch sich wechselseitig beobachtende, anpassende, aufeinander reagierende, grundsätzlich gleichberechtigte Gerichte.120

 Ebd. 10.  Ebd., 8. 116  Siehe oben Erster Teil, Kap. 3, A., II. 117  Siehe Neil MacCormick, Risking Constitutional Collision in Europe?, Oxford J. Legal Stud. 18 (1998), 517 (528 f.): „[R]elations between states inter se and between states and Community are interactive rather than hierarchical. The legal systems of Member States and their common legal system of EC law are distinct but interacting systems of law, and hierarchical relationships of validity within criteria of validity proper to distinct systems do not add up to any sort of all-purpose superiority of one system over another.“ 118  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (51). 119  Vgl. Neil MacCormick, Beyond the Sovereign State, Mod. L. Rev. 56 (1993), 1 (6). 120  Geir Ulfstein, The International Judiciary, in: Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 126 (142). Wichtig ist aber zu verstehen, dass die Überzeugungskraft von Verfassungspluralismus- und Netzwerkansätzen vor allem darauf beruht, dass sie diese Gerichtspraxis überzeugend rekonstruieren. 114 115

C. Zusammenfassung

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C. Zusammenfassung Die vernetzte Weltordnung stellt sich als ein pluralistisch-heterarchisches Arrangement dar, in dem nationale Institutionen die konstitutionalistischen Errungenschaften des demokratisch-rechtsstaatlichen Nationalstaats sichern, während die in­ stitutionalisierte inter- und supranationale Kooperation dabei mitwirkt, die Gestaltungs- und Problemlösungsfähigkeit der Politik in Zeiten der Globalisierung auf einen regionalen oder globalen Rahmen auszuweiten. Einerseits lässt sich demokratische Selbstbestimmung nicht legitimer organisieren als in den Strukturen des Nationalstaats. Andererseits kann im Zuge der fortschreitenden Entgrenzung von wirtschaftlicher, kultureller und technologischer Aktivität der Regulierungsbedarf nur durch eine Verlagerung ehemals nationalstaatlicher Kompetenzen auf ­inter- und supranationale Institutionen befriedigt werden. Darüber hinaus tragen inter- und supranationale Institutionen auch dazu bei, die epistemologischen ­Entscheidungsgrundlagen politischer Entscheidungsprozesse im Nationalstaat zu erweitern, konstitutionelle Mindeststandards zu sichern, protektionistischen Sonderinteressen entgegenzuwirken, negative Externalitäten zu internalisieren, die internationalen Beziehungen zu verrechtlichen und individuelle Freiheitsgewinne zu vermehren. Die Ambivalenz zwischen Nationalstaaten und internationalen Organisationen findet ihren Ausdruck darin, dass sich die vernetzte Weltordnung in unterschiedliche politische Einheiten organisiert, die jeweils durch verschiedene Institutionen repräsentiert werden, die differente gesellschaftliche Belange vertreten und deren Entscheidungen oft das gleiche Sachgebiet, aber aus einer unterschiedlichen Per­ spektive, betreffen. Im Unterschied zum stabilen, hierarchischen Herrschaftsarrangement des Bundesstaats sind die politischen Herrschaftsverhältnisse in der vernetzten Weltordnung aber ungeklärt. Unter diesen Bedingungen ist für die Kooperation zwischen nationalen Verfassungsgerichten sowie inter- und supranationalen Gerichten kennzeichnend, dass beide der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbunden sind und das Verhältnis ihrer Rechtsordnungen zueinander gleichberechtigt und auf Augenhöhe durch eine iterative, einzelfallbezogene Dialogpraxis wechselseitig abstecken. Mit dem Ver­ fassungspluralismus und der Netzwerktheorie lässt sich diese pluralistisch-­ heterarchische Struktur normativ und analytisch überzeugend erfassen. Beide Ansätze teilen eine beträchtliche Schnittmenge und ergänzen sich auf vielversprechende Weise. Der Verfassungspluralismus legt überzeugend dar, wie konstitutionalistische Errungenschaften in einem Pluralismus der Rechtsordnungen gewährleistet werden. Auf Grundlage der Netzwerktheorie lässt sich erklären, wie autonome Netzwerkakteure, von denen keiner einem anderen eine bestimmte Entscheidung oktroyieren kann, zur Koordination im Netzwerk in iterativen Interaktionsprozessen ein gemeinsames institutionelles Arrangement aushandeln. Aus normativer Perspektive erscheint diese pluralistisch-heterarchische Struktur erstrebenswert: Zum einen werden die Verwirklichungschancen dieser unterschiedlichen Belange durch Institutionalisierung erhöht. Zum anderen können in einer

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pluralistisch-heterarchischen Konfiguration unterschiedliche „Gerechtigkeitsper­ spektiven“ gleichberechtigt nebeneinander existieren. Dadurch wird einerseits ein rechtsordnungsübergreifendes System der „checks and balances“ gewährleistet, andererseits werden die Entscheidungsperspektiven für die unterschiedlichen Belange der verschiedenen Rechtsordnungen erweitert. Indem man Möglichkeiten der Kontestation eröffnet, werden Anreize für Kooperation und für rechtsordnungsübergreifenden Dialog geschaffen. Dagegen wird man der Vielfalt der Perspektiven und divergierenden Interessen in der vernetzten Weltordnung nicht gerecht, wenn man Einheit rechtlich durch hierarchische Ordnung erzwingt, wo keine Einheit besteht, und Möglichkeiten der Kontestation trotz grundlegendem Dissens abschneidet. Von einem rechtstheoretischen Standpunkt aus lässt sich die vernetzte Weltordnung auf Grundlage der Rechtstheorien Harts und MacCormicks als ein Pluralismus der Rechtsordnungen konzipieren, die allesamt das Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen nach eigenen Kriterien, auf der Grundlage ihrer eigenen Normen bestimmen. Für die Fragen, wann eine Rechtsordnung vorliegt und welche Identität die Rechtsordnung hat, ist maßgeblich auf die beobachtbare soziale Praxis und dabei insbesondere auf die Perspektive der rechtsanwendenden Institutionen abzustellen. Die in ihren jeweiligen Rechtsordnungen maßgeblichen rechtsanwendenden Institutionen, die nationalen Verfassungsgerichte sowie die inter- und supranationalen Gerichte, verstehen sich allesamt jeweils als Repräsentanten ihrer Rechtsordnung und betrachten das rechtsordnungseigene Recht von einem „internal point of view“. Das Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen gestalten sie einseitig nach rechtsordnungseigenen Kriterien, auf Grundlage rechtsordnungseigener Konfliktlösungs- und Kollisionsregeln.

Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte Weltordnung

Die vernetzte Weltordnung ist geprägt durch eine Kontingenz der politischen Herrschaftsverhältnisse: Einerseits ist der Nationalstaat im Globalisierungsprozess mit der Regelung der überwältigenden Vielzahl grenzüberschreitender Probleme allein hoffnungslos überfordert, andererseits wollen wir angesichts der Vielzahl konstitutioneller Defizite inter- und supranationaler Entscheidungsprozesse nicht auf den Nationalstaat als Garanten demokratisch-rechtsstaatlicher Errungenschaften verzichten. Das Resultat dieser Ambivalenz ist das gegenwärtige pluralistisch-­ heterarchische Arrangement, in dem verschiedene Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen Entscheidungen treffen, die über den eigenen Regelungsbereich hinausreichen, ohne dass das Verhältnis zwischen diesen Institutionen und Rechtsordnungen geklärt ist. Denn eine föderale Kollisionsregel wie Art. 31 GG, dem zufolge in der Bundesrepublik Bundesrecht Landesrecht bricht, gibt es in der vernetzten Weltordnung nicht.1 Eine der großen Herausforderungen besteht daher darin, die differenten Loyalitäten, Identitäten und Handlungslogiken der verschiedenen Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen miteinander im Sinne eines globalen Gemeinwohls zu koordinieren, dessen Inhalt selbst höchst kontestiert ist. Auch wenn eine pluralistische Konzeption den einzelnen Handlungseinheiten eine systemspezifische Perspektive einräumt, sollte jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass alle diese Institutionen und Prozesse  – trotz divergierender Handlungslogiken – auch der Erzeugung und Durchsetzung kollektiver Regeln für die im Entstehen begriffene Weltgesellschaft dienen. Die entscheidende Frage, die sich für die vernetzte Weltordnung stellt, ist damit, wie Entscheidungskompetenzen in einer globalisierten, sektoral, funktional und ter1  Selbst wenn, wie zunächst im Rahmen des Lissabon-Vertrags diskutiert, eine ausdrückliche Vorrangregelung zugunsten des Unionsrechts eingefügt worden wäre, ist zweifelhaft, ob die nationalen Verfassungsgerichte von ihrer verfassungsrechtlichen Herleitung des Unionsrechts abgerückt wären – und damit eine solche Vorrangregelung uneingeschränkt akzeptiert hätten.

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_5

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ritorial ausdifferenzierten Welt zu verteilen sind, also wer was wie entscheiden soll, oder anders ausgedrückt: Welche Institution soll welche Sachverhalte mit welchem Ziel vor dem Hintergrund der bestehenden Strukturen entscheiden? Diese allgemeine Fragestellung, die mit Blick auf die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit beantwortet werden soll, suggeriert bereits, dass es eine intrinsische Präferenz zugunsten einer Ebene nicht geben soll, sondern dass eine bestimmte Allokation bestimmter Entscheidungskompetenzen stets einer normativen Rechtfertigung bedarf. Deshalb ist eine Governance-Perspektive, die verschiedene Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte in ihrer Gesamtheit betrachtet,2 intergouvernementalen wie föderalistischen Konzeptionen vorzuziehen.3 In einem ersten Schritt soll aus dieser Governance-Perspektive analysiert werden, welche Rolle Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung übernehmen sollten (A.). Die Bestimmung eines solchen normativ-orientierten Rollenverständnisses ist auch Voraussetzung für die im zweiten Teil zu bearbeitende Aufgabe, die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung herzuleiten, da diese Funktionen von diesem grundlegenden Rollenverständnis abhängig sind.4 Mit anderen Worten: Die Funktionen nationaler Verfassungsgerichte sind andere, wenn wir die Lösung rechtsordnungsübergreifender Probleme als Aufgabe der Exekutive betrachten, als wenn wir die Verfassungsgerichtsbarkeit als eigenständigen Akteur in der vernetzten Weltordnung begreifen. In einem zweiten Schritt wird das Argument entwickelt, dass sich das Konzept des Konstitutionalismus in besonderer Weise als normative Richtschnur für die vernetzte Weltordnung eignet, an dem sich insbesondere auch Verfassungsgerichte orientieren sollten (B.). Zuletzt erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Akteur und den Konstitutionalismus als Konzept in der vernetzten Weltordnung (C.).

 . Von der „Hohen Politik“ zur „Weltinnenpolitik“: Die A Verfassungsgerichtsbarkeit als Akteur in der vernetzten Weltordnung Was bedeutet die vernetzte Weltordnung für nationale Verfassungsgerichte? Wie sollten sie Rechtsstreitigkeiten mit völker- und europarechtlichem Bezug begegnen? Früher war die Antwort auf diese Fragen einfach: Was jenseits des Staats passierte, ging die nationalen Gerichte nichts an. Im klassischen dualistischen Model ist die Außenpolitik die Domäne der Exekutive, die den Staat in den internationalen Beziehungen nach außen vertritt. In diesen Bereich der „Hohen Politik“ sind die anderen Gewalten kaum eingebunden. Nur die Legislative muss die völkerrechtli Oben Erster Teil, Kap. 3, B., II.  Oben Erster Teil, Kap. 3, A., II. 4  Unten Zweiter Teil. 2 3

A. Von der „Hohen Politik“ zur „Weltinnenpolitik“: Die Verfassungsgerichtsbarkeit als …

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chen Verträge ratifizieren, die die Exekutive abschließt, damit ihre ausschließliche Befugnis zum Erlass formeller Gesetze nicht durch den Abschluss bindender völkerrechtlicher Verträge umgangen wird.5 Für die nationalen Gerichte aber ist die „Hohe Politik“ weitgehend irrelevant, was sich in den dogmatischen Doktrinen der „political question“ oder der „actes de gouvernement“ niederschlägt.6 Das hat sich grundlegend gewandelt: Heute hat das inter- und supranationale Recht, wie dargelegt,7 signifikante, oft unmittelbare und ungedämpfte Auswirkungen auf die sich europäisierende und internationalisierende nationale Rechtsordnung. Trotzdem ist die gewaltenteilige Organisation des Nationalstaats nach außen auf das System der internationalen Beziehungen als „Hohe Politik“ eingerichtet.8 Wegen des klassischen, anspruchsvollen Erfordernisses eines Staatenkonsenses9 muss der Staat nach außen mit einem einheitlichen Willen auftreten. Dadurch wird „die Exekutive gegenüber der Legislative und der Judikative privilegiert“.10 In den Strukturen der vernetzten Weltordnung folgt daraus, dass die Staats- und Regierungschefs (oder andere exekutive Stellen) im Rahmen inter- oder supranationaler Regime weitreichende Politikentscheidungen treffen, die – bestenfalls vom Parlament abgesegnet – weitgehend ungefiltert in die nationale Rechtsordnung hineinwirken. Angesichts der umfassenden Regelungsgegenstände und -wirkungen des inter- und supranationalen Rechts aber ist die Vorstellung der „Hohen Politik“ als Arkanbereich der Exekutive nicht mehr haltbar.11 Wenn Alexander Bickel mit Blick auf den US Supreme Court die „passive virtues“ der Richter anpreist, als Ausprägung derer er die political question-Doktrin versteht,12 bedarf dies in der vernetzten Weltordnung der Qualifizierung.13 Vor dem Hintergrund der grundlegend veränderten Ausgangslage erscheint es geboten, einen frischen Blick auf das klassische Rollenverständnis der Gewalten in auswärtigen Zusammenhängen zu werfen. Obwohl – oder gerade weil – das „fein austarierte System der staatlichen Gewaltengliederung“ nicht für auswärtige Politik entworfen wurde, sondern nur für die Innenpolitik funktioniert,14 darf der „Staat“ in der vernetzten Weltordnung nicht als „unitarischer Akteur“, sondern nur als organi-

 Bereits oben Erster Teil, Kap. 2, H.  Dazu Nada Mourtada-Sabbah/Bruce Cain (Hrsg.), Political Question Doctrine and the Supreme Court of the United States, 2007. 7  Oben Erster Teil, Kap. 2, H. 8  So überzeugend Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 165 ff. 9  Dazu oben Erster Teil, Kap. 2, E. 10  Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 166. 11  Ebd., 172. 12  Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl., 1986, 111 ff. 13  Differenzierend J.H.H.Weiler, A Quiet Revolution. The European Court of Justice and Its Interlocutors, Comp. Polit. Stud. 26 (1994), 510 (526): „The U.S. government, for example, is known to exclude or seriously limit the jurisdictional reach of its own judicial system and courts to its trade agreements. The reasons for this U.S. practice are complex, but clearly one aspect is that the government wishes not to have its hands tied by its own courts.“ 14  Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 165 und 172. 5 6

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Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte…

satorischer Rahmen für das „differenzierte[] Geflecht“ „unterschiedlicher Institutionen“ begriffen werden.15 Deren institutionelle Interessen in aller Regel schon ­deshalb nicht deckungsgleich sind, weil sie ihre Entscheidungen jeweils in unterschiedlicher Zusammensetzung, in distinktiven Verfahren und aufgrund unterschiedlicher Erwägungen treffen. Daraus folgt dann aber auch, dass die anderen Gewalten exekutive Entscheidungen im inter- und supranationalen Kontext nicht selbstverständlich als Ausdruck des „nationalen Interesses“ abnicken dürfen, sondern aus ihrer institutionenspezifischen Perspektive eine eigene Position auf die vielschichtigen Probleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung entwickeln müssen. Das ist schon deshalb geboten, weil exekutive Akteure politische Entscheidungen aus strategischen Gründen in inter- und supranationale Foren verlagern können, um nationale Bindungen und Entscheidungsprozesse zu umgehen. Im Einklang mit der institutionellen Perspektive dieser Abhandlung können sich in der vernetzten Weltordnung nationale Verfassungsgerichte nicht mehr auf der Position ausruhen, dass sie die „Hohe Politik“ nichts angehe. Vielmehr ist im Rahmen der Diskussion um den Verfassungspluralismus und die Netzwerktheorie in Kap.  3 deutlich geworden, dass Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung in komplexe Strukturen rechtsordnungsübergreifender Gerichtsinteraktion eingebettet sind,16 die zur Reflektion darüber Anlass geben, welchen Beitrag sie innerhalb dieser Richternetzwerke für eine legitimere Weltordnung leisten können.17 Im Zusammenhang mit der geforderten institutionellen Perspektive stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis zueinander das nationale und das globale Gemeinwohl stehen. Beide sind nicht zwangsläufig deckungsgleich, sondern was im nationalen Interesse erscheint und von den verschiedenen nationalen Gewalten gestützt wird, kann im globalen Kontext zur partikularen, auf das eigene Volk beschränkten Interessenverallgemeinerung werden.18 Welche Perspektive sollen nationale Verfassungsgerichte demnach einnehmen? Bei der Diskussion von Anne-Marie Slaughters Netzwerkansatz haben wir gesehen, dass diese staatlichen Akteuren eine doppelte Funktion zuweist, nach der diese über die Vertretung nationaler Interessen hinaus auch inter- und supranationale Interessen vertreten sollen.19 Dabei lässt sie aber offen, auf welcher Grundlage diese Funktionszuweisung beruhen soll und inwiefern die beiden Funktionen gleichrangig zu behandeln sind. Die hier gewählte pluralistische Konzeption gewährt Gerichten, wie gezeigt,20 eine eigene Perspektive  Vgl. Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2. Aufl., 2006, 11 (15); Michèle Knodt/Martin Große Hüttmann, Der Multi-Level-Governance-Ansatz, in: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2. Aufl., 2006, 223 (227). 16  Oben Erster Teil, Kap. 3, C. und D. 17  Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (448): „[C]ourts may have a significant role to play in constructing an ordered, functional international judicial system“. 18  Vgl. Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 68. 19  Oben Erster Teil, Kap. 3, D., II., 1. 20  Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. 15

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auf der Grundlage des spezifischen „internal point of view“ ihrer Rechtsordnung. Denn von ihrer politischen Gemeinschaft und aus ihrer rechtsordnungseigenen Verfassung leiten diese Institutionen ihre Legitimität ab. Daraus folgt jedoch umgekehrt nicht, dass Fragen des globalen Kontexts und Gemeinwohls belanglos sind. Denn Entscheidungen in einem Staat können massive Konsequenzen in einem anderen Staat haben.21 Schon allein aus diesem Grund dürfen Verfassungsgerichte bei ihren Entscheidungen den über die rechtsordnungseigenen Grenzen hinausreichenden Bezugshorizont nicht aus dem Blick verlieren. Vor diesem Hintergrund fordert Ulrich Beck mit Recht auf zu einem Blickwechsel „von einer nationalstaatlichen Weltsicht, die in Innen- und Außenpolitik zerfällt, zu einer Weltsicht der Weltinnenpolitik“.22 Soweit in der vernetzten Weltordnung angesichts der umfassenden Verflechtungen und Interdependenzen die Kategorien des Innen/ Außen und National/International zunehmend an Bedeutung verlieren, entsteht eine Notwendigkeit „zur Reflexion, zum Blickwechsel über Grenzen hinweg, oft auch mit Bezug auf das globale Gemeinwohl“.23 Auf der Grundlage eines legitimen rechtsordnungsspezifischen Blickwinkels müssen in der vernetzten Weltordnung alle Akteure lernen, ihren „Wahrnehmungs- und Aktionshorizont“ zu erweitern24 und „die Perspektive der anderen in ihre eigene einzubeziehen“.25 Nationale Verfassungsgerichte sollten sich demnach als Akteure in der vernetzten Weltordnung und damit als Mitglieder in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken wahrnehmen.26 Wenn also das BVerfG in der Euro-Krise über die Verfassungsmäßigkeit des deutschen Zustimmungsgesetzes zum europäischen Stabilitätsmechanismus oder das OMT-Programm der EZB entscheidet, dann muss es entsprechend dem Gebot der Folgenorientierung bei juristischen Entscheidungen berücksichtigen,27 dass diese Entscheidung Konsequenzen für die Bürger in anderen Mitgliedstaaten hat.28 Umgekehrt müssen inter- und supranationale Gerichte, deren institutionelles Inte­ resse in der Errichtung eines funktionsfähigen globalen Handelsregimes oder europäischen Binnenmarkts liegt,29 das Bedürfnis nationaler politischer Gemeinwesen nach Wahrung bestimmter nationaler Belange respektieren.

 Siehe exemplarisch die Auswirkungen von CO2-Emissionen auf die pazifischen Südseeinseln. Vgl. oben Erster Teil, Kap. 4, A., I., 2. 22  Ulrich Beck, Nachrichten aus der Weltinnenpolitik, 2010, 135. Der Begriff der „Weltinnenpolitik“ stammt ursprünglich von Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, Bedingungen des Friedens, 1964, 8 und 13. Er wird auch von Habermas verwendet. Siehe etwa Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation, 1998, 91 (96). 23  Ulrich Beck, Nachrichten aus der Weltinnenpolitik, 2010, 132. 24  Ebd., 131. 25  Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, 116. 26  Vgl. Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 205. 27  Zur Folgenorientierung im Recht: Martina Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995. 28  Dazu näher unten Dritter Teil, Kap. 14, B., I. und Kap. 18, B., II., 2., b. 29  Oben Erster Teil, Kap. 2, C., II. 21

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Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte…

In der vernetzten Weltordnung, in der weder ein „Weltstaat“ existiert noch ein einzelner, territorial begrenzter Nationalstaat den enormen Regulierungsbedarf der entstehenden, globalisierten Weltgesellschaft befriedigen kann, sondern Lösungen durch das Zusammenwirken eines komplexen Geflechts nationaler, internationaler, supranationaler und transnationaler Institutionen entwickelt werden müssen, muss jede einzelne Institution systematische Zusammenhänge in den Blick nehmen, anstatt sich auf einen nationalen Tunnelblick zu beschränken. Die zentrale Frage heißt: Welche Regelungen können dazu beitragen, die normativen Potenziale der plu­ ralistisch-­heterarchischen Konstellation der vernetzten Weltordnung zu realisieren und gleichsam seine regulatorischen und legitimatorischen Schwächen zu beheben?

B. Der Konstitutionalismus als normative Richtschnur Wie wir eben gesehen haben, sind Verfassungsgerichte als Akteure in der vernetzten Weltordnung neben ihrer rechtsordnungsspezifischen, aus den Normen und Traditionen ihrer Verfassung abgeleiteten Perspektive dazu aufgefordert, aus einer „Weltsicht der Weltinnenpolitik“30 Lösungen für eine legitimere Weltordnung zu entwickeln. Aber nach welchen Maßstäben entscheiden die Verfassungsgerichte, wie sie die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung verbessern können? Es hat sich gezeigt, dass das gegenwärtige pluralistisch-heterarchische Arrangement aus der fortwährenden Ambivalenz resultiert, dass wir einerseits inter- und supranationale Institutionen brauchen und mit gewichtigen Kompetenzen ausstatten müssen, um „den Verlust an nationaler Handlungsfähigkeit in einigen Funktionsbereichen wenigstens teilweise [zu] kompensieren“,31 andererseits aber Sorge haben, dass die inter- und supranationalen Prozesse und Strukturen den demokratisch-­ rechtsstaatlichen Standards entbehren, die wir aus dem innerstaatlichen Kontext gewohnt sind. Die entscheidende Frage, die sich Verfassungsrichter daher stellen, ist, wie die vernetzte Weltordnung in einer Weise organisiert werden kann, die die grundlegenden konstitutionalistischen Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaats sichert. Diese Belange lassen sich, wie verfassungspluralistische Ansätze zutreffend erkennen,32 mit dem Konzept des Konstitutionalismus einfangen, das sich folglich als normative Richtschnur für die Ausgestaltung der vernetzten Weltordnung anbietet. Denn richtig verstanden ist der Konstitutionalismus nicht auf die Existenz irgendeiner, sondern einer konstitutionalistischen Verfassung ausgerichtet, also der Begründung und Begrenzung von Herrschaft nach den Grundsätzen der demokratischen Selbstbestimmung der Herrschaftsunterworfenen, der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und des Grundrechtsschutzes, wie sie sich im

 Ulrich Beck, Nachrichten aus der Weltinnenpolitik, 2010, 135.  Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Die postnationale Konstellation, 1998, 91 (108). 32  Oben Erster Teil, Kap. 3, C., II. 30 31

B. Der Konstitutionalismus als normative Richtschnur

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demokratisch-­rechtsstaatlichen Nationalstaat und in der politischen Philosophie als Norm für legitime Herrschaft herausgebildet haben.33 Das Konzept des Konstitutionalismus bietet sich aus mehreren Gründen als normative Richtschnur für die vernetzte Weltordnung an. Zum Ersten erscheinen die grundlegenden Prinzipien und Prämissen des Konstitutionalismus trotz seines westlichen Ursprungs hinreichend universalisierbar und global, um auch über den europäischen Raum hinaus Orientierung im normativen Sinne zu geben.34 Zum Zweiten ermöglicht es die konstitutionalistische Perspektive, spezifische Funktionsmechanismen und Verhaltensweisen inter- und supranationaler Institutionen herauszuarbeiten, weil Akteure im inter- und supranationalen Kontext, insbesondere in der EU, der EMRK und der WTO, faktisch konstitutionelle Diskurse und Prozesse produzieren.35 Insbesondere Gerichte, national wie inter- und supranational, bedienen sich gerade auch im rechtsordnungsübergreifenden Dialog einer konstitutionalistischen Sprache und Logik.36 Für eine Heranziehung des konstitutionalistischen Reservoirs spricht darüber hinaus, dass im Zentrum dieser Abhandlung Verfassungs­ gerichte stehen, die als Institution eingesetzt werden, um die Prinzipien des Konstitutionalismus zu schützen. Dann aber erscheint es auch sinnvoll, ihre Tätigkeit im inter- und supranationalen Kontext mit konstitutionalistischen Maßstäben zu beurteilen. Zum Dritten hat sich der Konstitutionalismus innerstaatlich zum Maßstab für die legitime Ausübung von Herrschaftsgewalt herausgebildet. Soweit im Zuge der Globalisierung und der Transformation des Nationalstaats Entscheidungskompetenzen zunehmend an internationale Organisationen übertragen werden, erscheint es geboten, in diese Regierungsformen konstitutionelle In­ stinkte37 einzuspeisen und sie an konstitutionalistischen Maßstäben zu messen im

 Mit einem solchen materiellen Konstitutionalismus-Verständnis auch J.H.H.  Weiler/Marlene Wind, Introduction: European Constitutionalism beyond the State, in: dies. (Hrsg.), European Constitutionalism beyond the State, 2003, 1 (3); Jan Klabbers, Setting the Scene, in: Jan Klabbers/ Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 1 (8); Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (10 f.). 34  Siehe insb. Bruce Ackerman, The Rise of World Constitutionalism, Va. L. Rev. 83 (1997), 771 ff. 35  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 2, E. So schon Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002) 317 (355), der die Relevanz des Konstitutionalismuskonzepts für Zusammenhänge jenseits des Nationalstaats ausführlich gegen Kritiker verteidigt. Siehe ebd., 319 ff. 36  Mit dieser Einschätzung schon: Anne-Marie Slaughter, Judicial Globalization, Va. J. Int’l L. 40 (2000), 1103 (1108): „It is a dialogue of constitutionalism within a national-supranational framework that is potentially adoptable and adaptable by courts around the world.“; Alec Stone Sweet, Constitutional Dialogues in the European Community, in: Anne-Marie Slaughter/Alec Stone-Sweet/J.H.H. Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, 305 (305): „constitutional dialogues between supra-national and national judges“; J.H.H. Weiler, Epilogue. The European Courts of Justice: Beyond ‚Beyond Doctrine’ or the Legitimacy Crisis of European Constitutionalism, in: Anne-Marie Slaughter/Alec Stone-Sweet/J.H.H. Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, 365 (368): „Constitutionalism […] constitutes the official vocabulary of the inter-court dialogues“. 37  Siehe schon Jeremy Waldron, Law and Disagreement, 1999, 51: „constitutional instincts“. 33

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Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte…

Sinne einer „extension of constitutionalist thinking to world order“.38 Anne Peters spricht in diesem Zusammenhang von einem Modell des kompensatorischen Kon­ stitutionalismus, in dem „die konstitutionalistischen Errungenschaften“ erhalten bleiben, indem „durch die Verankerung konstitutioneller Grundsätze und Mechanismen“ im Rahmen der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation „kompensatorisch gegengesteuert“ wird.39 Ein Beitrag zu einer konstitutionalistischen Weltordnung kann in dem pluralistisch-heterarchischen Arrangement selbst gesehen werden, denn soweit eines der zentralen Anliegen des Konstitutionalismus in der Begrenzung von Macht liegt, entspricht die Verteilung von Entscheidungskompetenzen auf verschiedene Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen, von denen keine Institution eine hierarchisierte Letztentscheidungsbefugnis vor einer anderen Institution hat, dem klassischen konstitutionalistischen Rezept ­ ­gegen  Machtmissbrauch: der Gewaltenteilung.40 Die gegenwärtige pluralistisch-­ heterarchische Konfiguration lässt sich dementsprechend als globales System der „checks and balances“ beschreiben, das sich insbesondere auch im grenzüberschreitenden Dialog zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen manifestiert.41 Zuletzt wohnt dem konstitutionalistischen Diskurs auch das Potenzial inne, die Fragmentierungstendenzen in der vernetzten Weltordnung42 einzuhegen und die divergierenden Bereichslogiken miteinander zu verbinden.43 Die Prinzipien und Prämissen des Konstitutionalismus haben eine integrative Kraft und eignen sich als normativer Grundkonsens für die maßgeblichen Akteure der unterschiedlichen Rechtsordnungen. Zwar sind Fischer-Lescano und Teubner, wie gezeigt,44 der  Richard Falk, The Pathway of Global Constitutionalism, in: Richard Falk/Robert Johansen/Samuel Kim (Hrsg.), The Constitutional Foundations of World Peace, 1993, 13 (14). 39  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (19). Ausführlicher: Anne Peters, Compensatoty Constitutionalism: The Function and Potential of Fundamental International Norms and Structures, LJIL 19 (2006), 579 ff. 40  Miguel Maduro, Europe and the Constitution: What If This Is As Good As It Gets?, in: Marlene Wind/J.H.H. Weiler (Hrsg.), Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74 (96). 41  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 254: „It is the dialogue itself that is a source both of creative innovation and tempering caution. This description also applies to relations between national courts in EU member-countries and the ECJ, a dialogue that lies at the heart of the EU constitutional order. Their debates over both jurisdictional competence and substantive law are matters of pushing and pulling over lines demarcating authority that are constructed and revised by the participants themselves. Each side is checked less by a specific grant of power intended to act as a check or a balance than by the ability of each side to challenge or refine any assertion of power by the other. In some sense, the entire concept of the disaggregation of the state makes a global system of checks and balances possible. Given the correct incentive structures, government institutions of the same type in different systems, national and international, and of different types can check each other both vertically and horizontally. National courts can resist the excessive assertion of supranational judicial power; supranational courts can review the performance of national courts“. 42  Zur Fragmentierung: Oben Erster Teil, Kap. 2, F. 43  Vgl. Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002), 317 (356 ff.). 44  Oben Erster Teil, Kap. 3, D., III., 1., b. 38

B. Der Konstitutionalismus als normative Richtschnur

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Überzeugung, dass dem Fragmentierungsprozess grundlegende gesellschaftliche Konflikte und radikal divergierende Rationalitäten zugrunde liegen, so dass der Versuch, diesen Tendenzen mit den Mitteln des Rechts zu begegnen, den kontraproduktiven Effekt haben muss, diese Prozesse abzusichern und ihnen eine scheinbare Legitimität zu verleihen. Das Recht ist aber nicht nur Instrument zur Absicherung und Verdeckung bestimmter gesellschaftlicher Interessen, sondern es besitzt einen nicht zu unterschätzenden Eigenwert. Auch die Interessen, Rationalitäten und Logiken gesellschaftlicher Teilbereiche sind keine statischen Größen, sondern unterliegen dem Wandel. Konstitutiv wirken dabei die Beziehungsstrukturen, in die die maßgebenden Repräsentanten eingebettet sind.45 Im Rechtsdiskurs sind vorhandene Interessen begründungs- und rechtfertigungspflichtig. Sie müssen sich den rechtlichen Kriterien der begrifflichen Konsistenz und Verallgemeinerungsfähigkeit stellen und werden dadurch kanalisiert. Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum nationale Gerichte im rechtsordnungsübergreifen, konstitutionalistischen Diskurs mit dem EuGH ihren Widerstand gegen dessen konstitutionalistische dogmatische Konstruktion über die Jahre deutlich abgeschwächt und dessen Positionen teilweise übernommen haben.46 In den ­ pluralistisch-­ heterarchischen Beziehungsgeflechten zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen steckt also durchaus ein erhebliches Potenzial, die vernetzte Weltordnung nach konstitutionalistischen Prinzipien auszugestalten. Dieser Punkt lässt sich am Beispiel der Geschichte der Antiterror-Listen des Sanktionskomitees des UN-Sicherheitsrats illustrieren:47 Einerseits deuten die erheblichen konstitutionalistischen Defizite, die vor allem bei Einführung des sog. Listing-­ Verfahrens bestanden, darauf hin, dass die Mitglieder des Sanktionskomitees Teil einer epistemischen Gemeinschaft sind, Sicherheitsexperten nationaler Regierungen, die sozialisiert sind durch ihre tägliche Beschäftigung mit dem Kampf gegen den Terrorismus, für die Sicherheitsbelange über allem stehen und deren Diskurs wenig Raum für rechtsstaatliche Bedenken lässt. Die Entscheidungen dieses Sanktionskomitees lassen sich als Ausdruck einer sich verstärkenden Bereichslogik verstehen, die nachfolgenden Entwicklungen zeigen aber auch, dass die Mitglieder epistemischer Gemeinschaften für gegenläufige Belange sensibilisiert und konstitutionalistische Prinzipien in ihre Entscheidungsprozesse eingespeist werden können. Im Zuge der Kadi-Verfahren vor dem EuG und dem EuGH wurde das Listing-­ Verfahren grundlegend nach konstitutionalistischen Erwägungen reformiert. Der „Tunnelblick“ der Mitglieder des Sanktionskomitees ließ sich also durchaus für konstitutionalistische Prinzipien öffnen.48 Dazu kommt, dass das Verhältnis zwi Damit beruht diese Arbeit teilweise auf bestimmten Prämissen des Konstruktivismus. Grundlegend zum Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen: Alexander Wendt, Social Theory of International Relations, 1999. 46  Hierzu eingehend unten Dritter Teil, Kap. 12, A., I. 47  Dazu eingehend unten Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2. und Kap. 18, A., II., 2., a., bb. 48  Mit diesem Begriff: Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, 137 (152). Teubner und Korth sehen durch45

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Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte…

schen verschiedenen Rechtsordnungen vorwiegend – und infolge des beschriebenen Prozesses der Verrechtlichung und Vergerichtlichung noch verstärkt  – durch Gerichte geregelt wird. Richter sind aber nicht nur den Prinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung verpflichtet, sondern sie teilen auch einen gemeinsamen professionellen Hintergrund und sprechen die gemeinsame Sprache des Rechts. Der Konstitutionalismus muss demnach auch als Medium begriffen werden, mit dem die rivalisierenden Diskurse verschiedener politischer Einheiten miteinander verbunden werden können.49 Einem Rückgriff auf den Konstitutionalismus steht nicht entgegen, dass dieser zwingend an die politische Organisationsform des Staats gekoppelt ist. Zwar entstammt der Konstitutionalismus dem Nationalstaat, seine Kategorien sind aber nicht Staat und Souveränität, sondern materielle Prinzipien und Grundsätze für die Ausübung von Hoheitsgewalt, die auch jenseits des Nationalstaats Geltung beanspruchen. Ähnlich wie die Governance-Perspektive bietet sich der Konstitutionalismus gerade auch deshalb als adäquater Analyserahmen an, weil er territoriale Kategorien und Unterscheidungen überwinden kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Konstitutionalismus im Unterschied zu intergouvernementalistischen Ansätzen, die sich auf den Konstitutionalismus in einem staatszentrierten Sinn berufen, um institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation ihre Legitimität streitig zu machen, in Anknüpfung an Walker offen und inklusiv definiert wird, um als normative Richtschnur für die Suche danach zu dienen, wie die vernetzte Weltordnung auszugestalten ist. Konstitutionalismus ist dementsprechend vorwiegend materiell als „mindset,“ als „a tradition and a sensibility about how to act in a political world“ zu verstehen.50

 . Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die C Verfassungsgerichtsbarkeit als Akteur in der vernetzten Weltordnung Gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Akteur in der vernetzten Weltordnung und gegen den Konstitutionalismus als normative Richtschnur werden verschiedene Einwände vorgebracht, die im Folgenden diskutiert werden. Nach einem Einwand, der sich spezifisch auf die pluralistisch-heterarchischen Bedingungen der vernetzten Weltordnung bezieht, handelt es sich mangels eines einheitlichen Geltungsgrundes für rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte nicht um rechtliche, sondern ausschließlich um politische Fragen, die ausschließlich von politischen aus Potenzial dafür, dass „der ‚Tunnelblick‘ der ‚self contained regimes‘ kompensiert“ und für gegenläufige Prinzipien geöffnet wird. Ebd., 153. Allerdings ist dieses Potenzial nach ihrer Auffassung nur sehr begrenzt. 49  Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002), 317 (340). 50  Martti Koskenniemi, Constitutionalism as a Mindset: Reflections on Kantian Themes About International Law and Globalization, Theoretical Inq. L. 8 (2007), 9 (9).

C. Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als …

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Akteuren und nicht von Gerichten entschieden werden sollten. Diese sogenannte „no legal issue“-These gibt es in zwei Spielarten: In einer rechtspositivistischen, auf den Geltungsgrund abstellenden Variante und in einer rechtskritischen Variante, die Gerichtsentscheidungen im globalen Rahmen als bloßen Deckmantel für politische Entscheidungen betrachtet. Nach der ersten Variante lassen sich rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte nicht rechtlich lösen, nach der zweiten können, aber sollen diese nicht rechtlich gelöst werden. Als die erstere Spielart lässt sich die Konzeption des Gründungsvaters des Verfassungspluralismus, Neil MacCormick, charakterisieren.51 Während seine verfassungspluralistischen Nachfolger, Kumm, Walker, Maduro, wie gezeigt,52 auf der Grundlage bestehender institutioneller Arrangements normative, am Konstitutionalismus orientierte rechtliche Prinzipien und Mechanismen zum Umgang mit rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten entwickeln, vertritt MacCormick die Auffassung, dass sich die widerstreitenden Letztentscheidungsansprüche des Europäischen Gerichtshofs und der nationalen Verfassungsgerichte rechtslogisch nicht auflösen lassen und deshalb außerhalb des Rechts gelöst werden müssen. Weil also die konfligierenden Auffassungen des EuGH und der nationalen Verfassungsgerichte aus dem „internal point of view“ der jeweiligen Rechtsordnung in sich schlüssig und nachvollziehbar sind, ist für MacCormick die Koordination der überlappenden Rechtsordnungen eine politische Angelegenheit, die nicht mehr Aufgabe des Rechtssystems ist.53 Auf der Grundlage dieser Prämisse besteht einer der zentralen Einwände gegen ein pluralistisch-­heterarchisches Arrangement darin, dass das Recht und die Gerichte dann nicht mehr Rechtssicherheit gewährleisten und Macht einhegen können.54 Gegen diese „no legal issue“-These55 hat Kumm überzeugend eingewandt, dass aus dem Fehlen einer Letztentscheidungskompetenz nicht folgt, dass ein Verfassungsgericht einen anhängigen Rechtsstreit nicht entscheiden kann oder entscheiden sollte. Denn es ist eine (zu verneinende) Frage, ob sich vor dem Hintergrund eines Pluralismus der Rechtsordnungen Rechtsprechungskonflikte stets rechtlich auflösen lassen (oder divergierende gerichtliche Anordnungen für den Einzelfall fortbestehen) und eine andere (zu bejahende) Frage, ob Gerichte einen Beitrag zur Koordination der Rechtsordnungen leisten können und leisten sollten. Mit anderen Worten: Nur weil sich in einem Pluralismus der Rechtsordnungen eine Einheitlichkeit der Rechtsordnungen entsprechend dem nationalstaatlichen Rechtssystem nicht herstellen lässt, resultiert daraus noch nicht, dass rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte nur außerhalb des Rechts und nur durch die Politik gelöst werden können. Vielmehr belegt die europäische Rechtsprechungspraxis, dass sich  So Matej Avbelj/Jan Komarek, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Constitutional Pluralism in the European Union and Beyond, 2012, 1 (2). 52  Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 2. bis 4. 53  Neil MacCormick, Beyond the Sovereign State, Mod. L. Rev. 56 (1993), 1 (9). 54  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (33 f.). 55  Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (269 ff.). 51

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die Koordination differenter Rechtsordnungen auch mit den Mitteln und Institutionen des Rechts bewältigen lässt. Jedenfalls werden in der gegenwärtigen institutionellen Praxis Jurisdiktionskonflikte durch Verfassungsgerichte geregelt56 und ­Staaten rechtfertigen sich als Prozessparteien in den Strukturen und in der Sprache des Rechts, obwohl eine eindeutige Kollisionsregel fehlt. Ein rechtslogischer Grund, warum sie dies nicht tun könnten oder sollten, ist nicht ersichtlich.57 Eine andere Frage, die Kumm nicht anspricht, ist, ob Verfassungsgerichte auch aus normativer Sicht die geeigneten Institutionen sind, um solche Fragen zu entscheiden. Diese Frage betrifft die zweite Spielart der „no legal issue“-These. Diese zweifelt zwar nicht die rechtslogische Möglichkeit an, dass Gerichte solche Fragen entscheiden können. Gemeinsam mit der ersten Spielart ist ihr aber die Überzeugung, dass es sich dem Wesen nach um politische Fragen handelt, die Gerichte nicht entscheiden sollten. Es stellt sich daher die normative Frage, ob überhaupt, und wenn, in welchem Ausmaß, Verfassungsgerichte wichtige Fragen des Gemeinwesens im Kontext der vernetzten Weltordnung entscheiden sollten. Die Kritiker einer „Vergerichtlichung“ sehen die Rolle des Konstitutionalismus und der Verfassungsgerichtsbarkeit skeptisch: Johnston vertritt die Auffassung, dass Gerichte und konstitutionalistische Semantik die existierenden politischen Konflikte eher überspielen als auflösen.58 Dunoff zufolge erweist sich das Ziel, politische Konflikte judiziell zu kanalisieren, als „constitutional conceit“, weil die veritablen Interessengegensätze bestehen blieben oder sich sogar verschärften.59 Aus seiner Sicht verleiht die Verwendung eines konstitutionalistischen Vokabulars interund supranationalen Institutionen eine Legitimität, die diese angesichts ihrer kon­

 So auch Kumm, ebd., 281: „The actors ultimately driving these conflicts, for better or for worse, are courts, not other political actors“. 57  Kumm stellt zu Recht die rhetorische Frage, ob denn ein nationales Verfassungsgericht in Grundrechts- und Kompetenzkonflikten zwischen der europäischen und der nationalen Rechtsordnung Rechtsstreitigkeiten stets als unzulässig abweisen sollte. Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (274). Apodiktisch: Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (444): „Courts cannot avoid these interactions. A court may decide to ignore the existence of a foreign or international court, but that in itself is a choice, and one which shapes the contours of the emerging international system. Over time, a habitual practice of parochially disregarding the existence of other courts will lead to chaos and dysfunction“. 58  Exemplarisch: Douglas Johnston, World Constitutionalism in the Theory of International Law, in: Douglas Johnston/Ronald St. John Macdonald (Hrsg.), Towards World Constitutionalism, 2006, 3 (19). 59  So im Kontext der WTO-Konstitutionalisierungsdebatte: Jeffrey Dunoff, Constitutional Conceits: The WTO’s ‚Constitution‘ and the Discipline of International Law, EJIL 17 (2006), 649 (661 ff.). 56

C. Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als …

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stitutionellen Defizite60 nicht verdienen.61 Deshalb ist es nach Ansicht der Kritiker vorzugswürdig, diese politischen Konflikte in politischen Arenen auszutragen.62 Dieser Einwand betrifft grundlegende Fragen der Integrität und der Wirkungsweise rechtlicher Prozesse und Institutionen. Im Kern berührt die Kritik die empirische Frage, ob die Einbindung von Gerichten und dem Konstitutionalismus tatsächlich keine konstitutionalistische Transformation politischer Prozesse, sondern nur ein legitimierendes Facelifting bewirken. Dieser Einwand ist empirisch schwer zu belegen und wird noch seltener zu belegen versucht. Plausibler ist die Annahme, dass zwischen der Legitimierungswirkung und der Maßstabswirkung des Konstitutionalismus eine Wechselwirkung in der Weise besteht, dass verfassungsgerichtliche Entscheidungen und konstitutionalistischer Diskurs einerseits politische Prozesse legitimieren, andererseits aber auch Veränderungen im Einklang mit konstitutionalistischen Maßstäben bewirken.63 Denn eine legitimierende Wirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit und eines konstitutionellen Diskurses lässt sich schwerlich aufrechterhalten, insofern der politische Prozess deren normative Maßstäbe überhaupt nicht beachtet. Mit anderen Worten: Ein Verfassungsgericht, das politischen Akteuren niemals in die Quere kommt, wird auf Dauer keine legitimierende Wirkung entfalten können. Mit der Verwendung konstitutionalistischer Begriffe, Denkweisen und Sensibilitäten werden also nicht nur Erscheinungsformen institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation unabhängig von ihrem konstitutionalistischen Charakter legitimiert, sondern auch existierende konstitutionelle Diskurse und Strukturen identifiziert und Maßstäbe zur Beurteilung entwickelt.64 Man muss rechtliche Prozesse und Institutionen nicht idealisieren, um festzustellen, dass das Recht als normbezogene, rechtfertigungsbedürftige, verallgemeinernde Sozialtechnik darauf ausgerichtet ist, Interessen und persönliche Vorlieben zu transzendieren. Im Unterschied zu Parlamenten und Regierungen zeichnen sich Verfassungsgerichte als nachgeschaltete Entscheidungsforen durch distinktive in­ stitutionelle Verfahrensvoraussetzungen und Grundlagen der Entscheidungsfindung

 Zur Diskussion: Oben Erster Teil, Kap. 2, G.  Jeffrey Dunoff, Constitutional Conceits: The WTO’s ,Constitution’ and the Discipline of International Law, EJIL 17 (2006), 649 ff. Ein verwandter Einwand in nationalen Debatten um die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht darin, in dieser Institution vorwiegend ein Forum zur Legitimation der Politiken der Regierung und der Parlamentsmehrheit zu erblicken. So klassisch Charles Black, The People and the Court, 1960, 34 ff. Zustimmend Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl., 1986, 29. Ebenso Jack Balkin, Framework Originalism and the Living Constitution, NW Univ. L. Rev. 103 (2009), 549 (569). 62  Die demokratischen Kosten der rechtlichen Konstitutionalisierung der EU beklagt Dieter Grimm, The Democratic Costs of Constitutionalisation: The European Case, ELJ 21 (2015), 460 ff. Allgemein für ein Modell des politischen Konstitutionalismus plädiert Richard Bellamy, Political Constitutionalism, 2007. 63  In diesem Sinne auch Anne Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: Klaus Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, 535 (549 f.). 64  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (10 f.). 60 61

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Kapitel 5: Eine konstitutionalistische Governance-Perspektive für die vernetzte…

aus, die prinzipientreues Handeln begünstigen und die das Verfassungsgericht dazu prädestinieren, als „forum of principle“ allgemeine und abstrakte Prinzipien mit Inhalt zu füllen, weiterzuentwickeln und ihre herausragende Bedeutung für das Gemeinwesen herauszustreichen.65 Dabei fungiert das Recht nicht bloß als ein ­Deckmantel für Interessen und ideologische Motive, sondern ihm wohnt ein Eigenwert inne, den Fuller mit seiner Theorie der inneren Moralität des Rechts erfasst.66 Das eigentliche Problem der vernetzten Weltordnung liegt nicht in der Prävalenz der Prozesse der Vergerichtlichung und der Konstitutionalisierung der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation, sondern in der zu beobachtenden „Ungleichzeitigkeit zwischen Verrechtlichung und Demokratisierung“.67 Die Ursache dafür ist aber nicht darin zu sehen, dass Verrechtlichung Demokratisierung ausschließt oder verdrängt, sondern darin, dass sich judizielle Verfahren einfacher etablieren lassen als demokratische Verfahren.68 Gegen einen Verdrängungszusammenhang spricht zudem, dass das Problem der countermajoritarian difficulty69 im Kontext der vernetzten Weltordnung dadurch erheblich entkräftet wird, dass hier Gegenstand der richterlichen Kontrolle in der Regel nicht Entscheidungen von unmittelbar gewählten Parlamenten, sondern von exekutiven Institutionen sind.70

 Mit diesem Begriff: Ronald Dworkin, The Forum of Principle, N.Y.U. L. Rev. 56 (1981), 469 ff. Siehe auch Ronald Dworkin, A Matter of Principle (1985), 70 f. Ferreres Comella bezeichnet diese Neigung zu prinzipientreuem Handeln als „ethics of principled decision-making“. Victor Ferreres Comella, Constitutional Courts and Democratic Values, 2009, 33. Kritisch aber Waldron, dem zufolge die im britischen Parlament geführte Debatte über das Recht auf Abtreibung prinzipienorientierter war als der nach seiner Auffassung formalistische Diskurs des US Supreme Courts zu der gleichen Frage. Siehe Jeremy Waldron, The Core of the Case Against Judicial Review, Yale L. J. 115 (2006), 1346 (1385). 66  Lon Fuller, The Morality of Law, 1977, 33 ff. 67  So zutreffend Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 162. Die Ursache dafür dürfte aber nicht darin liegen, dass Verrechtlichung Demokratisierung ausschließt oder verdrängt, sondern darin, dass es einfacher ist, „ein internationales Gericht einzurichten als ein internationales Parlament“. Ebd. Anders ausgedrückt: Judizielle Verfahren lassen sich einfacher etablieren als demokratische Verfahren. 68  Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 162. 69  Siehe hierzu grundlegend Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl., 1986. Für eine geschichtliche Aufarbeitung der countermajoritarian difficulty in den USA: Barry Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part One: The Road to Judicial Supremacy, N.Y.U. L. Rev. 73 (1998), 333 ff. 70  Eine Ausnahme bildet das Europäische Parlament, dessen – gemeinsam mit dem exekutivisch besetzten Rat beschlossenen  – Rechtsakte der Kontrolle des EuGH unterliegen. Siehe Art.  263 Abs. 1 AEUV.

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D. Zusammenfassung

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D. Zusammenfassung Die vernetzte Weltordnung ist geprägt durch eine pluralistisch-heterarchische Struktur, in der verschiedene Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen Entscheidungen treffen, die über die eigene Regelungsebene hinausreichen, ohne dass das Verhältnis zwischen diesen Institutionen und diesen Rechtsordnungen geklärt ist. Konstitutionalismus im Netzwerk legt nahe, diese im Entstehen begriffene Weltordnung nach konstitutionalistischen Prinzipien auszugestalten, und erblickt eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Prozess als erstrebenswert. Dabei sollten Verfassungsgerichte aus einer konstitutionalistischen Gover­ nance-Perspektive, auf der Grundlage des spezifischen „internal point of view“ ihrer Rechtsordnung, aber ohne eine ergänzende Weltinnen-Sicht aus dem Blick zu verlieren, darüber reflektieren, welchen Beitrag sie leisten können, um die vernetzte Weltordnung entsprechend den Prinzipien des Konstitutionalismus zu ­organisieren. Einerseits erscheinen die grundlegenden Prinzipien und Prämissen des Konstitutionalismus trotz des westlichen Ursprungs hinreichend universalisierbar und global, um auch über den europäischen Raum hinaus Orientierung im normativen Sinne zu geben. Soweit andererseits der Konstitutionalismus innerstaatlich der Maßstab für die legitime Ausübung von Herrschaftsgewalt ist, im Zuge der Globalisierung aber zunehmend Entscheidungskompetenzen an inter- und supranationale Institutionen übertragen werden, müssen auch diese Institutionen an konstitutionalistischen Maßstäben gemessen werden. Die Einwände gegen eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung vermögen nicht zu überzeugen. Fragen der Koordination zwischen verschiedenen Rechtsordnungen unter pluralistisch-heterarchischen Bedingungen sind keine rein politischen Fragen, die Verfassungsgerichte nicht sinnvoll entscheiden können oder sollen. Vielmehr zeichnen sich Verfassungsgerichte als nachgeschaltete Entscheidungsforen durch distinktive institutionelle Verfahrensvoraussetzungen und Grundlagen der Entscheidungsfindung aus, die prinzipientreues Handeln begünstigen und die Durchsetzung konstitutionalistischer Belange befördern. Zudem werden die meisten Entscheidungen im Kontext der vernetzten Weltordnung nicht von unmittelbar gewählten Parlamenten, sondern von exekutiven Institutionen getroffen, was eine verfassungsgerichtliche Kontrolle besonders dring­ lich erscheinen lässt.

Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

In einem pluralistischen Kontext, wie dem der vernetzten Weltordnung, in dem das Verhältnis zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen nicht durch eine zentrale legislative Instanz geregelt wird, ist für die zwischengerichtliche Koordination des Verhältnisses dieser Rechtsordnungen eine Form der Interaktion charakteristisch, die netzwerkartigen Beziehungszusammenhängen entspricht. Zum einen ziehen Gerichte die Kooperation grundsätzlich der Nicht-Kooperation vor. Zum anderen bevorzugen sie es, die Beziehung zu rechtsordnungsfremden Gerichten nach ihren Präferenzen auszugestalten. Einerseits sind sie auf die Bewahrung ihrer eigenen autonomen Autorität bedacht. Andererseits begründen sie rechtsordnungsübergreifende Richterbeziehungen ohne rechtliche Verpflichtung, obwohl dadurch ihre Entscheidungsautonomie eingeengt wird.1 1  Es ist unverkennbar, dass die Bewahrung der eigenen Autonomie und der eigenen Kompetenzen in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen eine zentrale Bedeutung für Verfassungsgerichte hat. Beispiele gibt es viele: Im Solange I-Beschluss betont das Bundesverfassungsgericht, dass „ihm kein anderes Gericht“ die verfassungsrechtliche Aufgabe des Grundrechtsschutzes abnehmen könne, BVerfGE 37, 271 (282) – Solange I (1974), im Lissabon-Urteil, dass es über die Gewährleistung der Verfassungsidentität „wacht“. BVerfGE 123, 267 (344) – Lissabon (2009). Der EuGH erblickt im Moxx Plant-Fall in der Einleitung eines Verfahrens vor dem ISGH durch Irland in einem Rechtsstreit mit Großbritannien eine Verletzung seines Rechtsprechungsmonopols, vgl. EuGH, Urt. v. 30.05.2006, Rs. C-459/03  – Kommission v. Irland („MOXX Plant“), ECLI:EU:C:2006:345, sein Gutachten zum möglichen Beitritt der EU zur EMRK, dem zufolge die Verträge keine ausreichende Rechtsgrundlage für einen Beitritt bieten, vgl. EuGH, Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140, lässt sich auch mit seiner „Angst um die Auflösung seines Rechtsprechungsmonopols zugunsten des EGMR hinsichtlich des Grundrechtsschutzniveaus innerhalb der EG-Mitgliedstaaten“ erklären. Siehe Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuR 2006, 79 (80). Auch die lange anhaltende Weigerung vieler nationaler Verfassungsgerichte, Vorlagen an den EuGH zu überweisen, ist Ausdruck des Bestrebens, eine Einengung des eigenen Entscheidungsspielraums zu vermeiden. Dazu unten Dritter Teil, Kap. 19, A. Selbst in Fragen der Terminierung von Gerichtsentscheidun-

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_6

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

Aber wie lässt sich ein sozialwissenschaftlich angeleitetes Netzwerkparadigma entwickeln, mit dem sich die rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion im Netzwerk konzipieren lässt? Wie wir in Kap. 3 gesehen haben, legt die soziale Netzwerkanalyse einen formalen Netzwerkbegriff zugrunde, demzufolge alle Formen von Verknüpfungen zwischen sozialen Handlungseinheiten Netzwerke begründen.2 Dagegen haben die politikwissenschaftliche Governance-Forschung und die ökonomische Organisationssoziologie jeweils einen materiellen Netzwerkbegriff entwickelt, der die distinktive Logik der Interaktion in netzwerkartigen Strukturen herausarbeitet.3 Auf Grundlage der sozialwissenschaftlichen Netzwerktheorie soll das Netzwerk im Folgenden als ein typischerweise heterarchisch-informelles Beziehungsgeflecht zwischen zwei oder mehreren autonomen Akteuren verstanden werden, die gewöhnlich in iterativer Interaktion nach einer Logik der Verhandlung auf ein gemeinsames institutionelles Arrangement hinarbeiten.4 Dahinter steht folgende Erwägung: In Anknüpfung an den formalen Netzwerkbegriff der sozialen Netzwerkanalyse sind die einzigen unverzichtbaren Voraussetzungen für ein Netzwerk Akteure und Beziehungen.5 Diese Beschränkung auf nur zwei unverzichtbare Voraussetzungen lässt sich damit begründen, dass einer der Vorzüge des Netzwerkbegriffs gegenüber dem Mehrebenen-Ansatz6 gerade in seiner konzeptionellen Offenheit liegt,7 die nicht durch eine übermäßig kriteriell-kategorische Definition geopfert werden soll.8 gen haben Gerichte die Bewahrung ihrer Autonomie im Hinterkopf: die mündlichen Verhandlungen zu der Eilentscheidung im ESM-Verfahren und zur Sukzessiv-Adoption terminierte das Bundesverfassungsgericht vergleichsweise kurzfristig, die Urteile wurden zügig verfasst, vermutlich auch mit dem Hintergedanken, den kurz darauffolgenden Entscheidungen des EuGH und des EGMR in derselben Problematik zuvorzukommen. Denn Abweichungen von Entscheidungen der europäischen Gerichte stehen unter besonderem Rechtfertigungsdruck; da entscheidet man lieber als Erster. 2  Oben Erster Teil, Kap. 3, D., I., 1. 3  Oben Erster Teil, Kap. 3, D., I., 1. 4  Zum Ganzen: Oben Erster Teil, Kap. 3, D., I. 5  Nach Knoke/Yang bedarf ein soziales Netzwerk nur zwei unerlässlicher Bestandteile: Akteure und Beziehung. Sie konstituieren gemeinsam das soziale Netzwerk. David Knoke/Song Yang, Social Network Analysis, 2. Aufl., 2008, 6. Weil es der sozialen Netzwerkanalyse darum geht, soziale Verknüpfungen zu messen, verwendet sie auch keinen qualitativen Netzwerkbegriff. Eine messbare Netzwerkbeziehung kann also auch zwischen Angestellten und Vorgesetzten innerhalb einer stark hierarchisch gegliederten Bürokratie bestehen. Knoke/Yang zufolge können Akteure bzw. Netzwerkknoten Individuen, informelle Gruppen, Organisationen und Nationalstaaten sein. Ebd., 4. 6  Zur Kritik am rechtswissenschaftlichen Mehrebenen-Ansatz: Oben Erster Teil, Kap. 3, B., III., 2. 7  Olga Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Sigrid Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 58 (74). 8  Diesen konzeptionellen Vorteil sollte man nicht dadurch wieder aufgeben, indem man  – ganz ähnlich wie für den Begriff der Ebene – strenge Anforderungen an den Begriff des Netzwerkknotens stellt. So aber Sebastian Graf Kielmansegg, Netzwerke im Völkerrecht? Strukturen des militärischen Krisenmanagements, in: Sigrid Boysen u.  a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, 83 (87): „Ein entscheidender Punkt dafür dürfte sein, ob das betrachtete Gebilde über ein Organ verfügt, das befugt und in der Lage ist, einen politischen Willen zum Ausdruck zu bringen, der sich von dem Willen einzelner Mitgliedstaaten unterscheiden kann.“

A. Die Begründung von rechtsordnungsübergreifenden Richterbeziehungen

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Deshalb erscheint es geboten, entsprechend einer zentralen Prämisse dieser Abhandlung eine offene und inklusive Konzeption des Netzwerks als nicht-positivrechtlichen Begriff zu entwickeln, mit der unterschiedliche Graduierungen und Modi netzwerkartiger Interaktion erkannt und gewürdigt werden können.9 Das Netzwerk soll als offenes Organisationsarrangement verstanden werden, das Kontur und Identität, aber keine kategorischen Grenzen hat.10 Allerdings bezeichnet die Existenz von Akteuren und Beziehungen nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des Netzwerks. Durch diese beiden Kriterien des formalen Netzwerkbegriffs wird nur das soziale Phänomen der Verknüpfung und der relationale Charakter der Beziehung erfasst, nicht aber die spezifische Interaktion der Akteure unter netzwerkartigen Bedingungen.11 Neben den formalen Kriterien der Akteure und der Beziehungen (A.) bestehen folglich noch weitere, offen und inklusiv zu verstehende netzwerktypische Merkmale, die im Folgenden diskutiert werden sollen: Heterarchie und Informalität (B.), iterative Kooperation (C.), die netzwerktypische Verständigungslogik (D.), sowie das netzwerkinterne institutionelle Arrangement (E.). Diese Kriterien, die von der sozialwissenschaftlichen Netzwerktheorie entwickelt wurden, werden im Folgenden auf die rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion angewendet und zugeschnitten.

 . Die Begründung von A rechtsordnungsübergreifenden Richterbeziehungen Ein Netzwerk setzt notwendigerweise zumindest eine Beziehung zwischen mindestens zwei Akteuren voraus.12 Begründet wird eine Netzwerkbeziehung grundsätzlich durch Kommunikation zwischen den Akteuren (I.). Dabei ist zu unterstellen, dass die Netzwerkakteure grundsätzlich rational und strategisch handeln und sich von der Kooperation im Netzwerk bestimmte Vorteile erwarten (II.).

9  Zur Begründung für dieses offene und inklusive Begriffsverständnis, siehe oben Einleitung, B., I., 2. 10  Michael Atkinson/William Coleman, Policy Networks, Governance 5 (1992), 154 (159). 11  Der formale Netzwerkbegriff ist somit für sich genommen zu weit, zu unspezifisch und zu wenig sachhaltig. Gunther Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 28. 12  Siehe Stanley Wasserman/Katherine Faust, Social Network Analysis, 1994, 18.

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

I. Formen der Kommunikation in Richternetzwerken Während Kommunikation in Unternehmensnetzwerken in Form von Vertragsverhandlungen und -vereinbarungen stattfindet,13 nehmen Kommunikationsbeziehungen in Richternetzwerken aufgrund der Formalisierung des Rechts eine besondere Form an. Für gewöhnlich handeln Richter verschiedener Gerichte keine Verträge untereinander aus.14 Die typische Gerichtsbeziehung besteht innerhalb eines Instanzenzuges, in dem das höherinstanzliche Gericht grundsätzlich befugt ist, die Entscheidung des unterinstanzlichen Gerichts aufzuheben und zurückzuverweisen. Darin liegt ein Sanktionsmechanismus, der die beiden Gerichte zwangsläufig in einen Dialog darüber verwickelt, wie und auf welcher rechtlichen Grundlage der anhängige Fall zu entscheiden ist. Die Existenz einer Gerichtsbeziehung ist weniger selbstverständlich zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen, denn hier fehlt es regelmäßig an einer formalisierten Verlinkung. Zwar bestehen weltweit in zahlreichen supranationalen Organisationen, EU, Andengemeinschaft, Karibische Gemeinschaft, MERCOSUR und ECOWAS, richterliche Vorlageverfahren,15 die Gerichtsbeziehungen in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen formalisieren.16 Allerdings sollte aus dem Bestehen dieser institutionellen Möglichkeiten der Herbeiführung einer Gerichtsbeziehung nicht automatisch auf das Bestehen einer Gerichtsbeziehung geschlossen werden. Im Kontext der EU etwa haben einige nationale Verfassungsgerichte von dem Mechanismus des Vorlageverfahrens lange überhaupt keinen Gebrauch gemacht, obwohl sie in manchen Verfahren als letztinstanzliches Gericht  Vgl. Walter Powell, Neither Market Nor Hierarchy: Network Forms of Organization, Res. Organ. Beh. 12 (1990), 295 (300 ff.). 14  Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist das seltene Phänomen, dass Gerichte im rechtsordnungsübergreifenden Kontext Vertragswerke zur einvernehmlichen Regelung ihrer jeweiligen Jurisdiktion verhandeln. Nach Slaughter haben Gerichte in grenzüberschreitenden Insolvenz-Fällen vereinzelt sogenannte „Cross-Border Insolvency Cooperation Protocols“ vereinbart. Siehe Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, Harv. Int’l L. J. 44 (2003), 191 (213). Nunner und Thiele verweisen auf einige zwischengerichtliche Kooperationsabkommen unterschiedlicher internationaler Gerichte zum Austausch rechtlicher Informationen und Dokumente. Siehe Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 172 ff.; Carmen Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, AVR 46 (2008), 1 (29). Darüber hinaus haben die beiden Präsidenten des EGMR und des EuGH in einer gemeinsamen Erklärung zu Fragen der „parallelen Auslegung“ der GRC und EMRK sowie zum Beitritt der EU zur EMRK Stellung bezogen. Siehe Gemeinsame Erklärung der Präsidenten von EGMR und EuGH vom 24.01.2011, EuGRZ 2011, 95. 15  Näher zum Vorlageverfahren unten Dritter Teil, Kap. 19. Mit einem rechtsvergleichenden Überblick: Roberto Virzo, The Preliminary Ruling Procedures at International Regional Courts and Tribunals, Law & Prac. Int’l Cts. & Tribunals 10 (2011), 285 ff. 16  In den europäischen Rechtsordnungen wurden jeweils Verfahren für die Herstellung rechtsordnungsübergreifender Richterbeziehungen geschaffen: In der Europäischen Union besteht das Vorlageverfahren nach Art.  267 AEUV, im Rahmen der EMRK kann der Beschwerdeführer gem. Art. 34 EMRK Individualbeschwerde gegen ein letztinstanzliches nationales Gerichtsurteil einlegen und dieses somit durch den EGMR überprüfen lassen. 13

A. Die Begründung von rechtsordnungsübergreifenden Richterbeziehungen

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unionsrechtlich wohl zur Vorlage verpflichtet waren.17 Dennoch bestanden Kommunikationsbeziehungen zwischen diesen Gerichten und dem EuGH außerhalb des Vorlageverfahrens. Eine verfahrensmäßige Verlinkung ist damit ein zur Begründung einer Gerichtsbeziehung begünstigender Umstand, aber nicht unbedingt eine hinreichende Bedingung. Für eine Vielzahl von Netzwerkbeziehungen in nicht-rechtlichen Zusammenhängen sind persönliche Gespräche der präferierte Kommunikationsmodus.18 Auch zwischen Verfassungsgerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen finden regelmäßig offizielle Treffen von Angesicht zu Angesicht in verschiedensten Kon­ stellationen statt19 – zwischen verschiedenen inter- und supranationalen Gerichten,20 zwischen verschiedenen nationalen Gerichten21 oder zwischen inter- und supranationalen und nationalen Gerichten.22 Die Bedeutung solcher unmittelbaren Kommunikationsbeziehungen ist nicht zu unterschätzen, sie machen aber nur einen geringeren Teil der rechtsordnungsübergreifenden Richterinteraktion aus. Im Rahmen dieser Informationsnetzwerke werden persönliche Kontakte geknüpft, Erfahrungen ausgetauscht, richterliche Entscheidungstechniken und verfassungsrechtliche Dogmatik vorgestellt.23 Sie tragen dazu bei, Informationen und bewährte Praktiken auszutauschen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und Verständnis für die Vorgehensweisen des richterlichen Pendants zu entwickeln.24 Diese Form der persönlichen Netzwerkbeziehung trägt ihren Teil dazu bei, dass zwischen den teilnehmenden Richtern ein Gemeinschaftsgefühl entsteht, das Slaughter mit dem Begriff der „Global Community of Courts“ umschrieben hat25 und das sich auch auf die Rezeptionsbereitschaft der Richter auswirken dürfte. Denn je besser die Richter durch die gemeinsamen Treffen die Rechtsprechung ihrer Kollegen kennenlernen, desto eher werden sie deren nunmehr vertraute Urteile in ihren eigenen Urteilen zitieren.

 Siehe näher unten Dritter Teil, Kap. 19, A.  Beispiele sind regelmäßige Treffen zwischen Ministerialbeamten, zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern oder Geschäftsbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Unternehmen. 19  Grundlegend zu diesem Phänomen: Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 96 ff. Siehe auch Anne-Marie Slaughter, Judicial Globalization, Va. J. Int’l L. 40 (2000), 1103 (1120 ff.). 20  Mit Beispielen Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 174 ff. 21  In einem institutionalisierten Rahmen treffen sich regelmäßig Richter des common law-Rechtskreises anlässlich der Worldwide Common Law Judiciary Conference, europäische Verfassungsrichter bei der Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte und latein- und nordamerikanische Richter bei der Organization of Supreme Courts of the Americas. Darüber hinaus treffen sich etwa die Richter des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig mit den Kollegen anderer Verfassungsgerichte. Die gleiche Praxis verfolgen andere Verfassungsgerichte wie die Richter des US. Supreme Court, die sich neben ihren deutschen Kollegen offiziell mit ihren Pendants aus Frankreich, England und Indien, sowie mit den EuGH-Richtern treffen. 22  Darüber hinaus haben sich etwa die Richter des Bundesverfassungsgerichts u. a. schon mehrfach offiziell mit den Richtern des EuGH und des EGMR getroffen. 23  Mit dieser Charakterisierung der Treffen von Angesicht zu Angesicht als „information networks“ Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 100. 24  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 97 f. 25  Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, Harv. Int’l L. J. 44 (2003), 191 ff. 17 18

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

Im Unterschied zu politischen oder unternehmerischen Netzwerkbeziehungen liegt eine der strukturellen Besonderheiten der richterlichen Tätigkeit jedoch darin, dass Richter vor der Urteilsverkündung nicht über ihr Urteil mit Dritten, also auch nicht mit rechtsordnungsfremden Gerichten, beratschlagen dürfen.26 Denn die hohen Integritätsanforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts gebieten es, dass die Urteilsfindung ausschließlich zwischen den Richtern des entscheidenden Gerichts stattfindet. Noch wichtiger als Treffen von Angesicht zu Angesicht ist deshalb die Beziehung, die Richter verschiedener Rechtsordnungen durch ihre Urteile eingehen. Denn es zählt zu den Eigenarten der richterlichen Profession, dass ihr maßgebliches Kommunikationsmedium nicht persönliche Gespräche, Reden oder Interviews sind, sondern Urteile. Auf den Punkt gebracht: Richter sprechen durch ihre Urteile.27 Normen werden im Medium „Urteil“ geschaffen, ausgelegt und angewendet. Im Urteil werden daher auch die für die rechtsordnungsübergreifende richterliche Normbildung relevanten Netzwerkbeziehungen gebildet. In rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen beziehen sich Gerichte in ihren Urteilen auf vielfältige Weise aufeinander. Treibende Kraft hinter diesen gegenseitigen richterlichen Bezugnahmen sind oft die Prozessparteien, wenn sie die Gerichte in ihren Schriftsätzen mit der Rechtsprechung anderer Gerichte konfrontieren. Ein richterlicher Dialog kann sich dabei im Rahmen des formalen Vorlageverfahrens ereignen. Zwischengerichtliche Kooperation findet aber auch vielfach außerhalb gemeinsamer formalisierter Verfahren statt.28 Wie wir noch im Einzelnen sehen werden,29 nutzen etwa nationale Verfassungsgerichte im EU-Kontext ihre großen Europa-Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zu einem europäischen Vertrag, um Stellung zur Rechtsprechung des EuGH zu beziehen und ihre eigene Position zum europäischen Integrationsprozess darzulegen. Das ICTY und der IGH streiten sich in aufeinander bezogenen Entscheidungen über das zutreffende Verständnis des völkerrechtlichen Begriffs der effektiven Kontrolle.30 Dabei erfolgt die richterliche Kommunikation durch Urteile in der Weise, dass ein Gericht als Sender sein Urteil veröffentlicht und „dadurch einer Vielzahl von Empfängern (darunter andere Gerichte) zugänglich“ macht.31 Durch den Prozess der Globalisierung entsteht ein gemeinsamer Kommunikationszusammenhang,  Allerdings ist davon auszugehen, dass Kommunikation von Richtern mit Richtern anderer Gerichte über wichtige bevorstehende Urteile über informelle Kanäle nicht völlig außergewöhnlich ist. Exemplarisch lässt sich auf ein informelles Gespräch zwischen dem EuGH-Richter Pescatore und dem Bundesverfassungsrichter Seuffert im Vorfeld der Solange I-Entscheidung des BVerfG verweisen. Zum historischen Kontext: Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 2., a., aa. 27  So explizit Aharon Barak, The Judge in a Democracy, 2006, 205: „The judgment is the voice of the judge, through which the judge realizes his role in a democracy. […] The judgment is the judge’s means of expression, the exclusive means through which the judicial voice is actualized in practice.“ 28  Dazu Giuseppe Martinico, Judging in the Multilevel Legal Order: Exploring the Techniques of ‚Hidden Dialogue’, King’s L. J. 21 (2010), 257 ff. 29  Unten Dritter Teil, Kap. 14, A., I., 1. und II., 1., b. 30  Dazu im Einzelnen Dritter Teil, Kap. 13, A., II., 5. 31  Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 110. 26

A. Die Begründung von rechtsordnungsübergreifenden Richterbeziehungen

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durch den die Urteile von Gerichten anderer Rechtsordnungen verstärkt wahrgenommen werden. Denn in einer globalisierten Weltgesellschaft verkehren nicht nur Waren und Kapital weitgehend ungehindert, sondern es migrieren auch juridische Ideen, Konzepte und Rechtsfiguren von Gericht zu Gericht, von Rechtsordnung zu Rechtsordnung.32 Im Rahmen eines grenzüberschreitenden richterlichen Dialogs, der sich auch als „constitutional cross-fertilization“ umschreiben lässt,33 zitieren sich Gerichte gegenseitig, machen ihre Urteile in englischer Sprache zugänglich34 und setzen sich mit den Rechtsauffassungen ihrer Kollegen aus anderen Rechtsordnungen auseinander.35

II. Gründe für rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion Durch den „Empfang“ eines fremden Urteils allein entsteht allerdings noch keine Gerichtsbeziehung. Eine solche entsteht erst durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines rechtsordnungsfremden Gerichts. Was aber bringt Gerichte dazu, sich mit den Urteilen rechtsordnungsfremder Gerichte auseinanderzusetzen? Auch Gerichte lassen sich als rationale, strategisch denkende Netzwerkakteure konzipieren,36 die sich durch die rechtsordnungsübergreifende Interaktion bestimmte Vorteile versprechen. Eine Verpflichtung, eine Netzwerkbeziehung einzugehen, besteht aufgrund des informellen Netzwerkcharakters nicht. Wie kommt es dazu, dass sich Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen trotz der für sie zentralen Bedeutung der Bewahrung der eigenen Autonomie ohne rechtliche Verpflichtung auf zwischengerichtliche Netzwerkbeziehungen einlassen, obwohl dadurch ihre Entscheidungsautonomie eingeengt wird? Wenn sich die auf Bewahrung ihrer Autonomie bedachten Akteure im Netzwerk – trotz der mit Kooperation stets verbundenen Transaktionskosten37 – auf eine 32  Zu diesem Aspekt der Globalisierung, siehe bereits oben Erster Teil, Kap. 2, A. Mit dem Begriff der Migration konstitutioneller Ideen: Sujit Choudhry, Migration as a New Metaphor in Comparative Constitutional Law, in: Sujit Choudhry (Hrsg.), The Migration of Constitutional Ideas, 2006, 1 ff. Zu den Vorzügen des Migrations-Begriffs im Vergleich zu alternativen Begriffsschöpfungen wie „legal transplants“ oder „constitutional borrowing“, siehe Neil Walker, The migration of constitutional ideas and the migration of the constitutional idea: the case of the EU, in: Sujit Choudhry (Hrsg.), The Migration of Constitutional Ideas, 2006, 316 (320 f.). 33  Zu diesem Begriff: Anne-Marie Slaughter, Judicial Globalization, Va. J. Int’l L. 40 (2000), 1103 (1116 ff.). 34  Durch die Veröffentlichung der Urteile in englischer Sprache wird die rechtsordnungsübergreifende Zugänglichkeit der Entscheidungen gewährleistet. Zur Bedeutung von Transparenz für zwischengerichtliche Kooperation: Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 111. 35  Dieser findet seinen Ausdruck in der steigenden Rezeptionsbereitschaft der Gerichte. Dazu ebd., 343 ff. 36  Vgl. ebd., 72 ff., 362 ff. 37  Allgemein zu Transaktionskosten für Kooperation in den internationalen Beziehungen: Robert Keohane, International Institutions: Two Approaches, Int. Stud. Q. 32 (1988), 379 (386 f.): „In world politics, sovereignty and state autonomy mean that transaction costs are never negligible,

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

netzwerkartige Kooperationsbeziehung einlassen, dann hat das seinen Grund darin, dass für sie Kooperation auf Dauer vorteilhafter ist als Nicht-Kooperation.38 Sie kooperieren miteinander, weil es sich lohnt.39 Wegen der Aussicht auf diesen kooperationsbegründeten Nutzen sind die gerichtlichen Netzwerkpartner willens, durch Kooperation eine gemeinsame Problemlösung trotz unterschiedlicher individueller Interessen herbeizuführen.40 Während sich aber Unternehmen im Rahmen von Netzwerkbeziehungen durch ihre Kooperation typischerweise ökonomische Vorteile versprechen,41 stellt sich die Frage, welche Vorteile Richter von der zwischengerichtlichen Kooperation erwarten. Die Gründe für die rechtsordnungsübergreifende zwischengerichtliche Interaktion sind vielfältig und kontextabhängig. Im Kern aber dient die rechtsordnungsübergreifende Verfassungsgerichtsinteraktion der Koordination des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen. Dabei liegt die Herausbildung von Koordinations- und Kooperationsmechanismen schon deshalb im gemeinsamen Interesse, um Normenkollisionen und widersprüchliche Einzelfallentscheidungen zu verhindern, die dem allgemeinen Kohärenzgebot im Recht widersprechen und daher Stellung und Status aller beteiligten Gerichte zu unterminieren drohen.42 Zwar haben die Verfassungsgerichte der vernetzten Weltordnung oft potenziell divergierende Interessen: Der EuGH verfolgt das Projekt der europäischen Integration, die nationalen Verfassungsgerichte sind dem Schutz der nationalen Verfassungsprinzipien verpflichtet. Die gerichtlichen Netzwerkpartner sind sich aber der im Netzwerkarrangement angelegten Gefahr einer mangelnden Koordination ihrer Rechtsprechung bewusst. Verrechtlichung, Konstitutionalisierung und Gewährleistung von Kohärenz liegen grundsätzlich im gemeinsamen Interesse aller Gerichte in der vernetzten Weltordnung.43 since it is always difficult to communicate, to monitor performance, and especially to enforce compliance with rules.“ 38  Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 81. 39  In diesem Sinne auch Laurent Scheeck, The Relationship between the European Courts and Integration through Human Rights, ZaöRV 65 (2005), 837 (880): „Just like any other social institution, courts seek to maximise their institutional power, the most important aspect of which is judicial independence.“; Rosalyn Higgins, The ICJ, the ECJ, and the Integrity of International Law, I.C.L.Q. 52 (2003), l (20): „It is simply cumbersome and unrealistic to suppose that other tribunals would wish to refer points of general international law to the International Court of Justice. Indeed, the very reason for their establishment as separate judicial instances militates against a notion of intra-judicial reference.“ 40  Vgl. allgemein Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (11). 41  In der Organisationssoziologie beruht die Begründung einer Geschäftsbeziehung in Unternehmensnetzwerken auf folgender Überlegung: Zwei autonome Akteure mit einheitlichem Hintergrund versprechen sich durch das Zusammenbringen ihrer Güter einen ökonomischen Ertrag. Walter Powell, Neither Market Nor Hierarchy: Network Forms of Organization, Res. Organ. Beh. 12 (1990), 295 (303). 42  Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (448). 43  In diesem Sinne auch Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 127.

A. Die Begründung von rechtsordnungsübergreifenden Richterbeziehungen

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Darüber hinaus haben Verfassungsgerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen auch ein Interesse daran, ihre Präferenzen in den Entscheidungsprozess rechtsordnungsfremder Gerichte einzuspeisen. Die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte im EU-Kontext beispielsweise zielt darauf ab, den EuGH in ihrem Sinne zu beeinflussen, etwa indem sie Grenzen für die Anwendbarkeit des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung aufstellen, sich eigene Kontrollkompetenzen zusprechen und bestimmte Erwartungen an die Rechtsprechung des EuGH formulieren.44 Ein bedeutsames Instrument, um den EuGH zur Berücksichtigung der eigenen Rechtsauffassung zu bringen, ist die Verwendung von kontradiktorischen Rechenschaftspflicht-Mechanismen, wie dem Solange-Grundsatz45 und der Ultra-vires-Kontrolle.46 In diesem Zusammenhang erscheint es geboten, das Konzept der accountability näher zu betrachten.47 Dem accountability-Konzept liegt der Gedanke zugrunde, dass die Aussicht eines Rechenschaftspflichtigen gegenüber einer anderen Person Rechenschaft ablegen zu müssen, die bei negativer Bewertung den Rechenschaftspflichtigen sanktionieren kann, bei diesem Anreize schafft, die Interessen der anderen Person zu berücksichtigen.48 Mit Hilfe dieses kontradiktorischen Rechenschaftspflicht-Mechanismus lässt sich erklären, wie im Verhältnis zwischen nationalen und inter- und supranationalen Gerichten das Gericht einer Rechtsordnung das Gericht einer anderen Rechtsordnung durch die Androhung von rechtlichen Konsequenzen dazu bringen kann, seine Rechtsprechung zu berücksichtigen und damit eine Gerichtsbeziehung herzustellen. Ein Beispiel seitens des BVerfG ist das Maastricht-Urteil, wo das Gericht dem EuGH in Form der Ultra-vires-Kontrolle androhte, Unionsrechtsakte als in der nationalen Rechtsordnung nicht anwendbare, ausbrechende Rechtsakte zu bewerten, wenn der EuGH die Grenze zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung zur „nicht gedeckten Rechtsetzung“ überschreiten sollte.49 Ein Beispiel seitens des EuGH ist das Köbler-Urteil, nach dem das Unterlassen einer nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gebotenen Vorlage eines letztinstanzlichen Gerichts einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch begründet. In beiden Kon­ stellationen wird versucht, den gerichtlichen Gegenpart durch Inaussichtstellen einer

 Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang sein Verhältnis zum EuGH als „Kooperationsverhältnis“ charakterisiert. Siehe BVerfGE 89, 155 (175)  – Maastricht (1993); BVerfGE 142, 123 (204) – OMT-Urteil (2016). 45  Dazu im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 18, A. 46  Siehe unten Dritter Teil, Kap. 18, B. 47  Zum Konzept der accountability: Mark Bovens/Robert Goodin/Thomas Schillemans (Hrsg.), The Oxford Handbook of Public Accountability, 2014; Mark Bovens, Analysing and Assessing Accountability: A Conceptual Framework, ELJ 13 (2007), 447 ff.; Carol Harlow/Richard Rawlings, Promoting Accountability in Multilevel Governance: A Network Approach, ELJ 13 (2007), 542 ff.; Robert Keohane, Accountability in World Politics, Scand. Pol. Stud. 29 (2006), 75  ff.; Philipp Dann, Accountability in Development Aid Law, AVR 44 (2006), 381 ff. 48  Mark Bovens/Robert Goodin/Thomas Schillemans, Public Accountability, in: dies. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Public Accountability, 2014, 1 (6). 49  BVerfGE 89, 155 (209) – Maastricht (1993). 44

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Sanktion zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen (im ersten Fall zu mehr richterlicher Selbstbeschränkung, im zweiten zur Vorlage).50 Daneben kann die gegenseitige Bezugnahme im Rahmen eines grenzüberschreitenden richterlichen Dialogs allerdings auch weniger antagonistisch, sondern mehr unterstützend ausgerichtet sein. Durch gegenseitige Bezugnahme auf relevante Urteile, die sie zur Lösung bestimmter Rechtsfragen, etwa auf dem Gebiet der Menschenrechte, berücksichtigt haben,51 kreieren Richter das Gefühl, Teil einer „global community of courts“ zu sein.52 Denn wenn andere Gerichte aus anderen Rechtsordnungen in vergleichbaren Rechtsfragen bereits so entschieden haben, wird es einfacher, die eigene Entscheidung zu rechtfertigen.53 Wie wir noch sehen werden,54 hat die Vielzahl nationaler und europäischer Gerichtsentscheidungen gegen das UN-Sanktionsregime es jedem einzelnen Gericht einfacher gemacht, sich gegen den machtvollen UN-Sicherheitsrat aufzulehnen.

 Sanktion ist dabei nicht eng im Sinne einer Aufhebung einer bestimmten Entscheidung oder gar strafrechtlich oder disziplinarisch zu verstehen, sondern weit im Sinne einer unerwünschten Entscheidung mit mittelbaren oder unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen. Für einen ebenfalls weiten Sanktionsbegriff: Mark Bovens, Analysing and Assessing Accountability: A Conceptual Framework, ELJ 13 (2007), 447 (452). Kritisch zum Kriterium des Inaussichtstellens einer Sanktion: Carol Harlow/Richard Rawlings, Promoting Accountability in Multilevel Governance: A Network Approach, ELJ 13 (2007), 542 (545 f.). 51  Einmaliges Zitieren reicht allerdings nicht aus, um eine Netzwerkbeziehung zu begründen, sondern allenfalls, um sie zu initiieren. Erforderlich für eine Netzwerkbeziehung ist eine gewisse Kontinuität und Regelmäßigkeit, mit der die Entscheidungen rechtsordnungsfremder Gerichte zur Entscheidung bestimmter Fragen herangezogen werden. 52  Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, Harv. Int’l L. J. 44 (2003), 191 (194): „The judges themselves who are meeting, reading, and citing their foreign and international counterparts are the first to acknowledge a change in their own consciousness.“ 53  Zur rechtsordnungsübergreifenden Kooperation nationaler Gerichte: Eyal Benvenisti/George Downs, Court Cooperation, Executive Accountability and Global Governance, N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 41 (2009), 931 ff. Entscheidend für die Herstellung eines solchen Netzwerks ist also, dass sich Akteure derselben Profession bei der Ausübung einer bestimmten „method of accountability“ gegenseitig unterstützen und dabei einen „sense of a common purpose“ entwickeln. Carol Harlow/ Richard Rawlings, Promoting Accountability in Multilevel Governance: A Network Approach, ELJ 13 (2007), 542 (546). Diese Form der Interaktion haben Harlow/Rawlings im Sinn, wenn sie vom „accountability network“ sprechen: „We reserve the term ‘accountability network’ for (i) a network of agencies specialising in a specific method of accountability, such as investigation, adjudication or audit, which (ii) come together or coalesce in a relationship of mutual support, (iii) fortified by shared professional expertise and ethos. […] [A] further element is essential if an effective accountability network is to develop: (iv) a sense of a common purpose.“ Ebd. 54  Unten Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2. 50

B. Heterarchie und Informalität im Richternetzwerk

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B. Heterarchie und Informalität im Richternetzwerk Als Organisationsform zwischen Hierarchie und Markt zeichnet Netzwerkbeziehungen eine heterarchische und informelle Struktur aus.55 Diese lose Form der Kopplung ist heterarchisch, weil nicht ein Akteur den anderen auf eine verbindliche Letztentscheidung festlegen kann. Die Akteure begegnen sich grundsätzlich auf Augenhöhe und respektieren gegenseitig ihre Entscheidungsautonomie.56 Sie ist informell, weil die autonomen Akteure ihre gegenseitige Beziehung im Netzwerk in erheblichem Maße selbst gestalten. Diese Gestaltungsfreiheit ist nur begrenzt durch externe Vorschriften geregelt und formalisiert. Das Merkmal der Informalität dient vor allem der Abgrenzung zur organisatorischen Verdichtung und zur Verregelung interorganisatorischer Entscheidungsprozesse. Autonomie der Netzwerkknoten bedeutet auch, dass die Interaktionspartner die gegenseitige Beziehung jeweils selbst mitgestalten können. Das können sie aber nur, wenn sie weder Bestandteil einer einheitlichen Organisation sind noch ein umfassender institutioneller Rahmen zur abschließenden Regelung der Beziehung zwischen den Netzwerkknoten besteht. Das Merkmal der Informalität wirft also die Frage nach der Abgrenzung zwischen Formalisierung und Gestaltungsfreiheit auf, die nicht abstrakt, sondern nur für das konkrete institutionelle Arrangement beantwortet werden kann.57 Insbesondere im Zusammenhang mit Gerichtsbeziehungen ist zu differenzieren: Die Beziehung zwischen einem über- und einem unterinstanzlichen Gericht in einem gemeinsamen Instanzenzug ist nicht heterarchisch und informell, sondern formalisiert und hierarchisch strukturiert, denn das überinstanzliche kann dem unterinstanzlichen Gericht im Wesentlichen – entsprechend der detaillierten prozessrechtlichen Vorschriften über Berufung und Revision  – eine bestimmte Lösung vorgeben.58 In dieser Beziehung fehlt es an der erforderlichen Autonomie und Handlungsfreiheit, um kooperative Netzwerkbeziehungen einzugehen.  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 3, D., I., 1.  Nach dem US-amerikanischen Entscheidungs- und Organisationsforscher und Nobelpreisträger Herbert Simon haben sich lose, horizontale Kopplungen als Organisationsform in komplexen Zusammenhängen als anpassungs- und leistungsfähiger gegenüber zentralisierten, hierarchischen Ordnungen erwiesen. Siehe Herbert Simon, The Architecture of Complexity, Proc. Am. Phil. Soc. 106 (1962), 467 ff. Darauf verweisen Renate Mayntz, Föderalismus und die Gesellschaft der Gegenwart, AöR 115 (1990), 232 (241) und Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 38. 57  Ein Beispiel: Während der Entscheidungsprozess in nationalen Verwaltungsbehörden in hohem Maße formalisiert und positiv-rechtlich geregelt ist, lässt sich ein informeller Charakter wohl im Fall der transnationalen Verwaltungskooperation bejahen, die sich grundlegend von behördlichen Entscheidungsprozessen im rein nationalen Kontext unterscheidet. Dazu näher Christoph Möllers, Transnationale Behördenkooperation, ZaöRV 65 (2005), 351 ff. 58  Wegen der bereits dargelegten Vorzüge einer inklusiven Analyse soll daraus aber nicht der Schluss gezogen werden, dass etwa die Beziehung zwischen einem nationalen Verfassungsgericht und einem unterinstanzlichen Gericht derselben Rechtsordnung nicht zu berücksichtigen ist. Denn obwohl diese Verbindung hierarchisiert ist, können unterinstanzliche Gerichte sehr wohl relevante 55 56

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

Eine heterarchisch-informelle Beziehung besteht hingegen zwischen verschiedenen nationalen Verfassungsgerichten, also etwa zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der italienischen Corte Costituzionale, bzw. zwischen verschiedenen inter- und supranationalen Gerichten, etwa dem IGH und dem ICTY, die sich mit den Rechtsauffassungen ihres Pendants auseinandersetzen und ihre Urteile gegenseitig zitieren.59 Denn keines der Gerichte kann das andere dazu determinieren, seine Rechtsauffassung zu berücksichtigen oder gar einen Fall in einer bestimmten Weise zu entscheiden. Positives Recht zur Regelung dieser Beziehung gibt es praktisch nicht.60 Vereinzelte Vorschläge zur Einführung hierarchischer Strukturen zwischen internationalen Gerichten zugunsten des IGH wurden bislang nicht umgesetzt.61 Im Verhältnis zueinander sind unterschiedliche inter- und supranationale Gerichte sowie unterschiedliche nationale Verfassungsgerichte daher autonom und verfügen jeweils über erhebliche Handlungsspielräume.62 Eine heterarchisch-informelle Beziehung besteht auch zwischen inter- und supranationalen Gerichten und nationalen Verfassungsgerichten, selbst zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten.63 Zwar wird in der Literatur mit VerAkteure für die Beziehung zwischen dem EuGH und dem nationalen Verfassungsgericht sein. Zum Einfluss unterinstanzlicher Gerichte auf EuGH und BVerfG: Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 45 ff. Siehe auch Michal Bobek, The Impact of the European Mandate of Ordinary Courts on the Position of Constitutional Courts, in: Monica Claes/Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning (Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2012, 287 ff. Auch hierarchisierte Gerichtsbeziehungen lassen sich damit als eines von vielen Netzwerken im „Netzwerk der Netzwerke“ der vielfältigen Beziehungsgeflechte zwischen verschiedenen Gerichten und zwischen Gerichten und anderen Institutionen konzipieren, auch wenn sie nicht kennzeichnend für die Struktur des Netzwerks sind. Mit diesem Begriff schon: Eli Noam, Interconnecting the Network of Networks, 2001; Lars Viellechner, Das Netzwerk der Netzwerke: Zur Rechts- und Globalisierungstheorie Karl-Heinz Ladeurs, in: Ino Augsberg/Tobias Gostomzyk/ Lars Viellechner (Hrsg.), Denken in Netzwerken: Zur Rechts- und Gesellschaftstheorie KarlHeinz Ladeurs, 2009, 65 ff. 59  So ausdrücklich: ICTY, Appeals Chamber, Urt. v. 20.02.2001, Case No. IT-96-21-A – Prosecutor v. Zejnil Delalić, Zdravko Mucić, Hazim Delić und Esad Landžo („Ćelebići Case”), Rn. 24: „[T]his Tribunal is an autonomous international judicial body, and although the ICJ is the ‚principal judicial organ’ within the United Nations system to which the Tribunal belongs, there is no hierarchical relationship between the two courts.“ Herv. Verf. 60  Zwar enthält das Internationale Privatrecht Regelungen über das Verhältnis zwischen nationalen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen, diese werden aber für das Verhältnis zwischen zwei Verfassungsgerichten regelmäßig nicht einschlägig sein. Siehe zur Abwesenheit von Regelungen für das Verhältnis zwischen internationalen Gerichten: Shane Spelliscy, The Proliferation of International Tribunals: A Chink in the Armor, Colum. J. Transnat’l L. 40 (2001), 143 (152): „[T]he real proliferation problem is not derivative of the fact that many international tribunals exist, but rather of the fact that they have proliferated in an environment without any formal relations between them.“ Herv. Verf. 61  Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 13 f. 62  Diese Einschätzung im Hinblick auf das Verhältnis zwischen inter- und supranationalen Gerichten teilend: Ebd., 109. 63  So auch Oeter, der den europäischen „Rechtsprechungsverbund“ zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH sowie dem EGMR als „eher netzwerkähnliche denn hierarchische,

B. Heterarchie und Informalität im Richternetzwerk

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weis auf die machtvolle Stellung des EuGH und die Vorlageverpflichtungen nationaler Gerichte im Rahmen des Vorlageverfahrens teilweise vertreten, dass sämtliche nationalen Gerichte im Verhältnis zum EuGH in einem Unterordnungsverhältnis stehen.64 Dem ist schon deshalb nicht zu folgen, weil Verfassungsgerichte weitgehend autonom über die Nutzung des Vorlageverfahrens entscheiden.65 Kennzeichnend für die Interaktion zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten sind jeweils die Bekräftigung ihrer autonomen Autorität und damit eine heterarchische Interaktionsstruktur. Im Prinzip sind die Aufgabenbereiche des EuGH und eines nationalen Verfassungsgerichts autonom und unabhängig voneinander: Der EuGH ist für die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zuständig, das nationale Verfassungsgericht für die des nationalen Verfassungsrechts.66 Dennoch berühren viele unionsrechtliche Fragen, die der EuGH entscheidet, nationales Verfassungsrecht.67 In solchen Fällen stellt sich die Frage, welches Recht und damit auch die Entscheidung welchen Gerichts für die Lösung des Falles maßgeblich sein soll. Aus Sicht des EuGH und der Föderalisten stellt die Unionsrechtsordnung eine autonome, von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung dar, deren Funktionsfähigkeit nach einem uneingeschränkten Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht verlangt.68 Viele nationale Verfassungsgerichte in Europa und die Intergouvernementalisten sehen das, wie wir gesehen haben,69 freilich anders: Aus ihrer Perspektive ist das Unionsrecht von der nationalen Verfassung abgeleitet, so dass die Aufgabe des nationalen Verfassungsgerichts darin besteht, die verfassungsrechtlichen Grenzen des Unionsrechts – notfalls über den Umweg des nationalen Zustimmungsgesetzes – zu kontrollieren. Zwar betrachten auch sie die europäische Rechtsordnung als weitgehend autonom und respektieren die EuGH-Rechtsprechung, aber eben nur innerhalb gewisser Grenzen, über die der EuGH und die nationalen Verfassungsgerichte streiten.

auf wechselseitige Selbstkoordination ausgerichtete Organisation“ betrachtet. Siehe Stefan Oeter, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), 361 (388). 64  Siehe Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 164 ff. 65  Zum Ganzen: Unten Dritter Teil, Kap. 19. 66  Entspräche das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht dem Verhältnis des klassischen Völkerrechts zum nationalen Recht, würde es sich also um unabhängige und getrennte Rechtskreise handeln, wäre das Verhältnis der beiden Gerichte dem zweier nationaler Verfassungsgerichte nicht allzu unähnlich. Das ist aber, wie gezeigt, nicht der Fall. Siehe oben Erster Teil, Kap. 2, H. 67  Beispiel: Wenn etwa in der Solange I-Konstellation eine unmittelbar und vorrangig anwendbare unionsrechtliche Kautionsregelung aufrechterhalten wird, nach der die Kaution eines Importunternehmens verfallen kann, dann wird damit die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Unternehmens beeinträchtigt. Siehe BVerfGE 37, 271 (289) – Solange I (1974). 68  Zum EuGH: EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Rs. C-6/64 – Costa v. E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66. Zu den Föderalisten: Oben Erster Teil, Kap. 3, A., I. 69  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 3, A., I. und unten Dritter Teil, Kap. 17, A.

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

Die Abwesenheit einer Grundnorm, die Kollisionsfälle zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen auflöst, führt dazu, dass ungelöst bleibt, welchem Gericht die Letztentscheidung obliegt, wie weit die Kompetenz des jeweiligen Gerichts reicht und in welchem Maße die Rechtsprechung des Gegenparts berücksichtigt werden muss. Dadurch werden die Antagonisten dazu veranlasst, in einen Rechtsprechungsdialog zu treten, in dessen Rahmen sie auf die Rechtsprechung ihres Pendants Bezug nehmen, ihre jeweiligen Kompetenzen proklamatisch unterstreichen und durch dogmatische Konstruktionen Regeln für das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen entwickeln. Beide aus einer anderen, den grundlegenden Prinzipien ihrer jeweiligen Verfassung verpflichteten Perspektive.70 Das wirkt sich  Das Verhältnis zwischen dem EuGH und den nationalen Fachgerichten lässt sich hingegen als Mischform aus hierarchischen und heterarchischen, formellen und informellen Elementen charakterisieren. Bei der Frage der Charakterisierung der Beziehung zwischen dem EuGH und den nationalen Fachgerichten im EU-Kontext bestehen im Wesentlichen zwei divergierende Narrative. Siehe Carol Harlow/Richard Rawlings, Promoting Accountability in Multilevel Governance: A Network Approach, ELJ 13 (2007), 542 (551 ff.). In der Zusammenschau bestätigen sie die These, dass sich hierarchische und heterarchische, formelle und informelle Elemente ergänzen. Einem Narrativ zufolge ist die Struktur der Beziehung heterarchisch und weitgehend informell. Das Vorlageverfahren ist als Kooperationsverhältnis zwischen dem EuGH und dem Vorlagegericht ausgestaltet, in dem beide Gerichte einen „Dialog der Richter“ auf Augenhöhe führen. Während der EuGH die einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften auslegt, bleibt das Vorlagegericht Herr über das Ausgangsverfahren und entscheidet autonom über die Anwendung auf den konkreten Fall. Auch bestimmt es grundsätzlich das Ob, den Inhalt, die Form und den Zeitpunkt der Vorlage und gestaltet so das Vorlageverfahren maßgeblich mit. Dementsprechend ist der EuGH, der zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der konstitutionalisierten europäischen Rechtsordnung auf die Mitwirkung der nationalen Gerichte angewiesen ist, schon in wohlverstandenem Eigeninte­ resse gegenüber den nationalen Fachgerichten stets als verständiger Partner aufgetreten, der Vorlagefragen geduldig umformuliert und ein weites Verständnis von Entscheidungserheblichkeit zugrunde gelegt hat. Und obwohl Art.  267 AEUV die Beziehung zwischen dem EuGH und dem Vorlagegericht in den Grundzügen positivrechtlich regelt, besteht innerhalb dieses formalisierten Rahmens doch ein substantieller Gestaltungsspielraum auch für die nationalen Gerichte, was sich etwa daran zeigt, dass 35 % aller deutschen Vorlagefragen zwischen 1960 und 1994 von nur drei Gerichten stammten: dem Bundesfinanzhof, dem Finanzgericht Hamburg und dem Verwaltungsgericht Frankfurt. Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 68 f. Das lässt sich nicht allein mit Gerichtszuständigkeiten erklären, sondern belegt vielmehr, dass diese Gerichte sich zu maßgeblichen Akteuren der europäischen Integration aufgeschwungen haben, die ihre Rolle selbst definiert und das Verhältnis der europäischen und der nationalen Rechtsordnung maßgeblich mitgestaltet haben. So auch ebd., 68. Dem anderen Narrativ zufolge ist die Beziehung zwischen dem EuGH und den nationalen Fachgerichten kein Verhältnis inter pares, sondern primär hierarchisch strukturiert. Dafür lässt sich einerseits die unnachgiebige Vorrang-Rechtsprechung des EuGH anführen, wonach selbst dem unionsrechtlichen Sekundärrecht uneingeschränkter Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht zukommt, andererseits spricht aus der Köbler-Entscheidung des EuGH nicht unbedingt der Geist gleichberechtigter Partner, sondern das Urteil zeugt von einem hierarchischen Verständnis des Gerichtshofs. Vor diesem Hintergrund könnte es angemessen erscheinen, die Beziehung zwischen dem EuGH und den nationalen Fachgerichten ebenso als hierarchisch einzustufen, wie die Beziehung zwischen nationalen Verfassungsgerichten und den Fachgerichten der eigenen Rechtsordnung. Siehe für dieses Narrativ: Manfred Dauses, Aufgabenteilung und judizieller Dialog zwischen den einzelstaatlichen Gerichten und dem EuGH als Funktionselemente des Vorabentscheidungsverfahrens, in: Ole Due/Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), FS Everling, Bd. I, 1995, 223 (237): „Entgegen der routinemäßigen Beschwörung des Koope-

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C. Iterative Kooperationsprozesse in Richternetzwerken

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auf den Entscheidungsprozess im Richternetzwerk aus: Einerseits ist es grundsätzlich schwieriger, zu einer Entscheidung zu kommen. Andererseits werden die Autonomie der Akteure und die Multiperspektivität der Entscheidungskette gewährleistet.71

C. Iterative Kooperationsprozesse in Richternetzwerken Der Entscheidungsprozess im Netzwerk hat einen iterativen Charakter, der es den Akteuren erlaubt, ihre Autonomie zu demonstrieren.72 Wenn im Netzwerk interorganisatorische Entscheidungsprozesse nicht verriegelt sind und eine organisatorische Verdichtung nicht besteht, dann verbleibt den Akteuren im Netzwerk ein signifikanter Spielraum zur Aushandlung ihrer gegenseitigen Beziehungen. Allerdings wollen die Interaktionspartner diesen Freiraum nicht durch eine eigene umfassende Regelung ihrer Beziehungen aufgeben. Deshalb entsprechen die Verhandlungen zwischen den Netzwerkpartnern nicht Verhandlungen im Sinne eines grand bargain. Vielmehr wird versucht, in kleinen, iterativen Schritten trotz teilweise unterschiedlicher Interessen durch reziproke Kooperation eine gemeinsame Problemlösung herbeizuführen. Das wirkt sich auf den Entscheidungsprozess im Netzwerk aus: Eine abschließende „gemeinsame kollektive Entscheidung über substanzielle Normen“73 wird ersetzt durch „wechselseitige Beobachtung, antizipatorische Anpassung, Kooperation, Vertrauen, Selbstverpflichtung, Verlässlichkeit, Verhandlungen, dauerhafter [n] Beziehungszusammenhang“.74 Auch die Kooperation in Richternetzwerken vollzieht sich nicht, wie bei Regierungschefs in der internationalen Arena, durch große Verhandlungsrunden, sondern durch einen richterlichen Dialog in der Form der Rezeption fremder Urteile, durch den sich schrittweise Konvergenzen in der Rechtsprechung ergeben. Zahlreiche Elemente des richterrechtlich geprägten europäischen Rechtssystems, von der Ermächtigung nationaler unterinstanzlicher Gerichte zur Normenkontrolle zur wirksarationscharakters des Vorlageverfahrens wurde dieses bisher eher wie ein Rechtsmittelverfahren betrieben, in dem jede Kontaktnahme mit der Vorinstanz zu unterbleiben hat. Das Synergiepotenzial des richterlichen Zwiegesprächs blieb dabei weitgehend ungenutzt.“ Vorzugswürdig“ ist es aber, die Vielschichtigkeit der Interaktion zwischen dem EuGH und den nationalen Fachgerichten anzuerkennen, die durch hierarchische und heterarchische, formelle und informelle Elemente gekennzeichnet ist. In diesem Sinne auch Carsten Lutz, Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung zwischen nationalen und internationalen Gerichten, 2003, 92 f. 71  Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (133). 72  Peter Bogason/Theo Toonen, Introduction: Networks in Public Administration, Public Administration 76 (1998), 205 (222). 73  Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (122); Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 66. 74  Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 62.

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

men Durchsetzung des Unionsrechts hin zum europäischen Grundrechtsschutz auf der Grundlage ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze, sind Schritt für Schritt durch reziproke, rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion entstanden.75 Der EuGH verbot nationalen Gerichten 1978 die Anwendung unionsrechtswidriger nationaler Rechtsvorschriften in Simmenthal II aufgrund des „zwingend[en] und absolut[en]“ Charakters des Unionsrechts in Reaktion auf die Entscheidung der Corte Costituzionale 1975 in ICIC, nach der trotz des Vorrangs des Unionsrechts die ordentlichen Gerichte wegen des verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopols nicht befugt sein sollten, innerstaatliche Vorschriften selbst für unanwendbar zu erklären.76 Umgekehrt lässt sich die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes auf die Solange I-Entscheidung des BVerfG zurückführen, die ihrerseits eine Reaktion auf das EuGH-Urteil in Internationale Handelsgesellschaft war, in der der Gerichtshof den Vorrang des Unionsrechts vor den Bestimmungen der mitgliedstaatlichen Verfassungen erklärt hatte.77 Vor diesem Hintergrund charakterisieren das BVerfG und daran anknüpfend der UK Supreme Court ihr Verhältnis zum EuGH als „Kooperationsverhältnis“.78 In diesen Fällen stellt sich die zwischengerichtliche Kooperation im rechtsordnungsübergreifenden Kontext als iterativer, teilweise kooperativer, teilweise antagonistischer Prozess dar,79 in dem sich die Gerichte durch eine Vielzahl von Urteilen „wechselseitig rekonstruieren, aneinander anschließen, beeinflussen, beschränken, kontrollieren, zu Neuerungen provozieren“.80

 Ebenso Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (459): „[W]hat is interesting is the degree to which the German Constitutional Court and the European Court of Justice have managed to craft a functional (if imperfect) relationship based not so much on a formal, enforceable legal hierarchy, but rather on cooperation and a conscientious regard in case after case for the overall structure and needs of the emerging European judicial system.“ 76  Corte Costituzionale, Entsch. v. 30.10.1975, Nr. 232/75 – I.C.I.C. v. Ministero del Commercio con l’Estero, EuR 1976, 246 ff. 77  Ausführlich zu diesem Entwicklungszusammenhang: Unten Dritter Teil, Kap.  18, A., II., 2., a., aa. 78  BVerfGE 89, 155 (175)  – Maastricht (1993): „Kooperationsverhältnis“; BVerfGE 133, 277 (316) – Antiterrordatei (2013): „kooperativen Miteinanders“; BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, Rn. 68: „in enger Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof“; UK Supreme Court, Urt. v. 22.01.2014, UKSC 3 (2014) – R (on the application of HS2 Action Alliance Ltd) v. The Secretary of State for Transport, Rn. 202: „cooperative relationship“. 79  Walker beschreibt die rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktionen als „agonistic processes of negotiation“. Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002), 317 (359). 80  Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (122); Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 66. 75

D. Die Verständigungslogik in Richternetzwerken

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Diese reziproke Form der Kooperation erscheint dabei als besonders stabile, erfolgreiche Form sozialer Interaktion. In anderen sozialen Zusammenhängen hat Robert Axelrod in einer bahnbrechenden Simulation zahlreicher spieltheoretischer Entscheidungssituationen herausgearbeitet,81 dass sich die reziproke, auf Gegenseitigkeit ausgerichtete Strategie „Tit for Tat“ („Wie du mir, so ich dir“) als durchschnittlich erfolgreichste erwiesen hat.82 Voraussetzung für den Erfolg dieser Strategie ist allerdings, dass bestimmte Interessenüberschneidungen zwischen den beteiligten Akteuren bestehen, die reziproke Kooperation vorteilhaft erscheinen lassen, und „die Akteure übereinstimmend davon ausgehen, dass es zu erneuten und für sie wichtigen Interaktionen kommen wird“.83 Im Richternetzwerk, etwa zwischen dem EuGH und dem EGMR oder dem EuGH und dem BVerfG, liegen diese Rahmenbedingungen regelmäßig vor, da die Beziehungen im Netzwerk auf wiederholte und langfristige Interaktionen ausgerichtet sind.84

D. Die Verständigungslogik in Richternetzwerken Kennzeichnend für die Interaktion im Netzwerk ist eine kooperative, klugheitsorientierte Verständigungslogik.85 Während die Handlungskoordination zwischen autonomen Akteuren häufig zu Dysfunktionalitäten führt, wie das in der Spieltheorie bekannte Gefangenendilemma zeigt,86 liegt der Witz eines Netzwerks Renate Mayntz zufolge gerade darin, dass dieses die individualistisch-egoistische Entscheidungsperspektive durch kooperatives Zusammenwirken überwinden könne.87 Zwar

 Der „Forschungsgegenstand der Spieltheorie ist die Analyse strategischer Enscheidungssituationen, die Koordinationsprobleme und Interessenkonflikte hervorrufen.“ Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 72. 82  Dieses Ergebnis lässt sich wie folgt begründen: „Es handelt sich um eine freundliche bzw. kooperative Strategie (sie kooperiert beim ersten Zusammentreffen und nach jeder vorangegangenen Kooperation), die aber konsequent wehrhaft (sie schlägt sofort zurück) und doch nachsichtig (auf jede Ausbeutung antwortet sie nur ein Mal ausbeuterisch) sowie in ihrer Einfachheit für andere Akteure leicht verständlich ist“. So Nunners zutreffende Zusammenfassung von Axelrod. Siehe Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 85 f. 83  Ebd., 86 f. 84  So auch ebd., 94. 85  Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/ Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (11); dies., Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in: Adrienne Heritier (Hrsg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, PVS-Sonderheft 24 (1993), 39 (47). 86  Klassisch: Albert Tucker, On Jargon: The Prisoner’s Dilemma, UMAP Journal 1 (1980), 101 ff. 87  Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/ Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (11). 81

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

gehe es verhandelnden Netzwerkakteuren auch um die Einspeisung ihrer individuellen Interessen, allerdings stelle für die Interaktionspartner schon die bloße Einigung auf ein gemeinsames Ergebnis prinzipiell einen Wert für sich dar.88 Denn Verhandlungen setzen voraus, dass sich die Akteure freiwillig verpflichteten, die Interessen des Interaktionspartners als legitim anzuerkennen und sie im Rahmen des eigenen Entscheidungsprozesses und Handlungsvorgehens zu berücksichtigen.89 Durch die „Aussicht auf langfristigen Gewinn“ lassen sich häufig „Bedenken im Hinblick auf kurzfristige Kosten von Kooperation“ ausräumen,90 wodurch Vertrauen und Gegenseitigkeit gefördert werden.91 Wie passt die von dem Bedürfnis nach Bewahrung der eigenen Autonomie getriebene konfrontative Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte gegenüber dem EuGH zusammen mit der beschriebenen netzwerktypischen „Logik des Kompromisses“, aufgrund derer die Netzwerkpartner die Einigung auf ein gemeinsames Ergebnis über ihre individuellen Interessen stellen?92 Zunächst erscheint der Hinweis geboten, dass es im Zusammenhang mit Richternetzwerken vorzugswürdig ist, von Verständigungs- anstatt von Verhandlungslogik zu sprechen. Denn Gerichte treten typischerweise nicht in „Verhandlungen“ im Sinne des allgemeinen Sprachverständnisses, sondern kommunizieren primär durch Urteile miteinander.93 Un­ abhängig davon zeigt eine sorgfältige Rechtsprechungsanalyse, dass trotz der Geltendmachung von Kompetenzansprüchen und der Formulierung von Drohungen die rechtsordnungsübergreifende verfassungsgerichtliche Interaktion sehr wohl durch netzwerktypische Verständigungslogik gekennzeichnet ist. Hinter der Fassade von Drohgebärden und Widersprüchlichkeiten lässt sich ein fein austariertes, kompromisshaftes, dynamisches Arrangement zur Vermeidung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte erkennen. So haben die Verfassungspluralisten, wie dargelegt,94 überzeugend herausgearbeitet, dass zwischen den unversöhnlichen Maximalpositionen des EuGH und der nationalen Verfassungsgerichte einerseits und der tatsächlichen Rechtsprechungspraxis andererseits eine deutliche Diskrepanz besteht. Diese Diskrepanz lässt sich mit der netzwerktypischen Verständigungslogik erklären. Zwar ist vor einer unreflektierten Idealisierung des rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialogs zu warnen, der oft konflikthaft ist und teilweise durch engstirnige nationale oder institutionelle Interessen beeinflusst wird. Drohgebärden und Provokationen auf der einen und Verständigungslogik auf der anderen Seite  Ebd.  Ebd., 12. 90  Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 98. 91  Chris Ansell, Network Institutionalism, in: Sarah Binder/R.A.W. Rhodes/Bert Rockman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Institutions, 2006, 75 (82). 92  Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/ Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (11). 93  Vgl. Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 110 f. 94  Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 2. 88 89

D. Die Verständigungslogik in Richternetzwerken

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schließen sich aber nicht gegenseitig aus.95 Vielmehr kann man, wie Slaughter, antagonistische Interaktion auch als Ausdruck eines „domestic understanding of transjudicial relations rather than a diplomatic one“ deuten.96 Auch die Interaktion zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht lässt sich – mit Slaughter – durchaus als ein Beispiel für einen sachorientierteren, deliberativen Diskurs betrachten, der sich trotz teilweise heftiger Auseinandersetzungen durch sachlich-rationale Argumentation und Einbeziehung widerstreitender Positionen auszeichnet.97 Ein wesentlicher Faktor, der eine auf Verständigung und Kooperation ausgerichtete Interaktion in zwischengerichtlichen Richternetzwerken begünstigt, sind die professionelle Homogenität der Richter einerseits und die Eigenheiten des rechtlichen Diskurses andererseits. Slaughter hat dargelegt, dass sich die professionelle Homogenität in Regierungsnetzwerken auf den Diskurs und die Herangehensweise an Problemlösungen innerhalb dieser Netzwerke auswirkt.98 In epistemischen Gemeinschaften bilde sich regelmäßig ein Standard professioneller Integrität und Kompetenz heraus. Anstatt unnachgiebig auf der Durchsetzung nationaler Interessen zu bestehen, würden die Netzwerkpartner in einen deliberativen, sachorientierten Dialog eintreten. Dies gilt auch für Richter, die durch ihre regelmäßige Interaktion einen bestimmten Standard professioneller Integrität entwickeln, eine Art Verhaltenskodex des angemessenen Umgangs, dessen Herausbildung durch die gemeinsame professionelle Identität der Richter begünstigt wird.99  Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/ Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (11). 96  Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, Harv. Int’l L. J. 44 (2003), 191 (217): „Conflict in domestic politics is to be expected and even embraced; conflict in traditional unitary state diplomacy is to be avoided or quickly resolved.“ Weiter bemerkt Slaughter einen Wandel im Verständnis der „Comity“-Doktrin. Während Richter früher Urteile von Gerichten anderer Staaten aus Gründen diplomatischer Höflichkeit anerkannten, setzten sie sich nun vermehrt, auch kritisch, mit diesen Urteilen auseinander, was Slaughter als Doktrin der positiven Comity bezeichnet. Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 87. Diese Entwicklung sei ein Indikator dafür, dass Richter sich vermehrt als Teil einer integrierten Rechtsordnung betrachteten. Ebd., 85 f. 97  Zu diesem Zusammenhang: Unten Erster Teil, Kap. 6., D. Siehe auch Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, Harv. Int’l L. J. 44 (2003), 191 (219): „Even when they are interacting with one another within the framework of a treaty or national statutes, their relations are shaped by a deep respect for each other’s competences and the ultimate need, in a world of law, to rely on reason rather than force. How else to build a world under law? The emergence of global judicial relations is rooted in the pluralism of multiple legal systems, but driven by the expression of a deeper common identity. Dialogue is prized over uniformity; debate and reasoned divergence over adherence.“ In diesem Sinne auch Geir Ulfstein, The International Judiciary, in: Jan Klabbers/ Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 126 (142): „An increasing professional identity among the 200 international judges in permanent international tribunals may further advance consistency in their rulings.“ 98  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 213. 99  Als Beispiel führt Slaughter an, dass Richter unterschiedlicher Rechtsregime in einem Rechtsprechungsdisput kaum jemals sagen würden „We don’t care what anyone else gets; we just want more for ourselves“. Vielmehr werden sie in Form von Urteilen in einen Dialog basierend auf Ar95

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

Darüber hinaus lässt sich die rechtsordnungsübergreifende richterliche Interaktion in Anknüpfung an Habermas idealtypisch als herrschaftsfreier Diskurs charakterisieren.100 Richter sprechen die Sprache des Rechts.101 Das Recht aber ist nicht ein Deckmantel für Interessen, sondern rechtlicher Diskurs legt den Teilnehmern Begründungslasten, die Verallgemeinerungsfähigkeit und Abwägung von Argumenten, sowie die Einordnung der Entscheidung in das Netz vorangegangener Entscheidungen auf. Als Sozialtechnik fördert das Recht damit deliberativen, sachorientierten Diskurs. Außerdem sind die Bedingungen für das Führen eines herrschaftsfreien Diskurses in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken auch deshalb günstig, weil sich diese durch eine auf Verständigung ausgerichtete, heterarchische Beziehungsstruktur auszeichnen.102 Über einen längeren Zeitraum hinweg kann auf dieser Grundlage zwischen Richtern, die in der vernetzten Weltordnung mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert werden, die vergleichbare Problemlagen zu bewältigen haben, eine „Verantwortungsethik“103 entstehen und die Problemlösungsfähigkeit von Richternetzwerken erhöht werden. Die Richter sind in kooperative Dauerbeziehungen eingebettet, durch die Überzeugungs- und Lernprozesse erzeugt werden.104 Dadurch können nicht nur Verständnishürden abgebaut und die Transparenz erhöht werden.105 Vielmehr zeigen sich die Richter auch kompromissbereit und pochen infolge von Sozialisierungs- und Lernprozessen immer weniger auf die Verteidigung nationaler Interessen. Die Interessen und Positionen der Teilnehmer in Richternetzwerken sind also nicht statisch, sondern wandeln sich im

gumenten und rational nachvollziehbaren Begründungen treten. Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 205. 100  Grob vereinfacht ausgedrückt zielt diese Habermas’sche Argumentationsfigur darauf ab, theoretisch die Bedingungen eines Diskurses zu entwickeln, der ein für alle Diskursteilnehmer legitimes Ergebnis produzieren kann. Eine ideale Kommunikationssituation liegt dann vor, wenn die Teilnehmer herrschaftsfrei und gleichberechtigt, mit gleichen Äußerungsmöglichkeiten ausgestattet, nach der Methode des Zwangs des „besseren Arguments“ diskutieren. Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, 1981, 369 ff. 101  Zu diesem Aspekt im Zusammenhang mit internationalen Gerichten: Chester Brown, A Common Law of International Adjudication, 2007, 230: „[I]nternational courts essentially perform the same functions […] if an international court can identify other international courts with common functions, this arguably makes consideration of the practice of those courts more relevant.“ 102  Zu dieser Schlussfolgerung kommt auch Nunner, der im Hinblick auf die zwischengerichtliche Interaktion internationaler Gerichte ausführt, dass diese Gerichte „recht homogene, grundsätzlich autonome und gleichberechtigte Akteure“ sind, „die in intensiven kommunikativen Beziehungen zueinander stehen“, für die „Autorität und Ausstrahlungswirkung einer Argumentation auf die Überzeugungsbildung anderer Gerichte von entscheidender Bedeutung ist“. Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 139. In seiner Studie zur Kooperation zwischen internationalen Gerichten beobachtet Nunner eine hohe Anzahl zustimmender Zitate fremder Rechtsprechung, die er als Ausdruck zwischengerichtlicher Kooperationsbereitschaft deutet. Ebd., 341. 103  Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/ Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (12). 104  Vgl. ebd., 13. 105  Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 111.

E. Das netzwerkinterne institutionelle Arrangement im Richternetzwerk

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Zuge der Kooperation in gleichem Maße wie die Bereitschaft, sich auf die Bildung gemeinsamer Hintergrundnormen zu verständigen.106 Dieses einheitsstiftende Potenzial des rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialogs unterschätzen Fischer-Lescano und Teubner. Wie dargelegt, sind nach ihrer Überzeugung die divergierenden Rationalitäten der Weltgesellschaft so radikal, dass der Versuch, diesen Tendenzen mit den Mitteln des Rechts zu begegnen, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist.107 Stattdessen würde in der fragmentierten Weltgesellschaft das Recht nur hochgezüchtete Bereichslogiken absichern.108 Jedoch wirken der geteilte professionelle Hintergrund der Netzwerkpartner und die Eigenheiten des rechtlichen Diskurses diesen Interessen entgegen. Es besteht ersichtlich eine gewisse Spannung zwischen dem von Fischer-Lescano/Teubner beschriebenen (radikalen) Ausmaß der gesellschaftlichen Konfliktlagen einerseits und der im Vergleich dazu signifikanten Problemlösungsfähigkeit inter- und supranationaler Gerichte andererseits, die exemplarisch das Kadi-Verfahren auf das UN-Sanktionsregime belegt.109

 . Das netzwerkinterne institutionelle Arrangement E im Richternetzwerk Kennzeichnend für das Netzwerk ist weiterhin das iterative Hinarbeiten auf einen gemeinsamen diskursiven und institutionellen Rahmen. Die zentrale Herausforderung im Netzwerk ist die Koordination der unterschiedlichen autonomen Handlungslogiken. Damit die Interaktionspartner im Netzwerk gemeinsame Pro­ blemlösungen erarbeiten können, müssen sie in der Lage sein, Verhandlungsdilemmata zu überwinden, die aus ihren divergierenden individuellen Interessenlagen resultieren. Für die Problemlösungsfähigkeit eines Netzwerks ist die Entwicklung eines von konkreten Sachproblemen unabhängigen Rahmens bedeutsam, der den Akteuren eine gemeinsame Problemlösung erleichtert. Auch wenn die Netzwerkpartner ihr institutionelles Arrangement, wie gezeigt, nicht im Rahmen eines grand bargain verhandeln,110 bedeutet dies nicht, dass sie keine gemeinsamen Regeln für die Ausgestaltung ihrer gegenseitigen Verknüpfungen produzieren. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Zum einen entsteht infolge langfristiger, reziproker Kooperationsbeziehungen eine „Makrokultur“

 Dazu näher unten Erster Teil, Kap. 7, C.  Oben Erster Teil, Kap. 3, D., III., 1., b. 108  Bereits oben Erster Teil, Kap. 3, D., III., 1., b. 109  Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 2., a., bb. 110  Vgl. Kal Raustiala, The Architecture of International Cooperation: Transgovernmental Networks and the Future of International Law, Va. J. Int’l L. 43 (2002), 1 (5): „They are ‘networks’ because this cooperation is based on loosely-structured, peer-to-peer ties developed through frequent interaction rather than formal negotiation.“ 106 107

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

im Netzwerk,111 die eine Konvergenz der Erwartungen, die Herausbildung idiosynkratischer Sprachpraktiken, einen Informationsaustausch und allgemeine Verhaltensregeln erzeugt.112 Durch die auf Kompromiss und auf Erreichen eines gemeinsamen Ergebnisses ausgerichtete Verhandlungskultur entfaltet sich eine soziale Dynamik, welche die Präferenzen und Erwartungen der Interaktionspartner dem Wandel unterwirft. Insbesondere wenn die Netzwerkakteure in kooperative Dauerbeziehungen „eingebettet“ sind,113 werden Überzeugungs- und Lernprozesse erzeugt, durch die die Akteure in neue Normen und Regeln hineinsozialisiert werden. Je mehr die Netzwerkakteure miteinander interagieren, also strukturell in das Beziehungsnetzwerk eingebunden sind,114 desto eher teilen sie gemeinsame Werte, Annahmen und Rollenverständnisse.115 Zum anderen wird im Netzwerk ein netzwerkinternes institutionelles Arrangement, eine „Netzwerkverfassung“116 entwickelt, die substanzielle Regeln über die Rollen und die Kompetenzen der einzelnen Akteure im Netzwerk enthält. Nach Mayntz entwickeln sich zwischen den Verhandlungspartnern gegenseitig anerkannte Strukturen der organisatorischen Identität, Kompetenz und Sphären, es bildet sich ein „institutionelle[r] Konsens“ für die Kooperation im Netzwerk heraus.117 Diese „konstitutionellen Verhandlungen“ über ein intermediäres, prozedurales Recht für das Netzwerk „stützen die Stabilität der Interaktion“ im Netzwerk.118 Beide Aspekte sind für die Reproduktion von Verlässlichkeit, Vertrauen und generalisierter Reziprozität im Netzwerk förderlich und beeinflussen sich gegenseitig. Einerseits gedeiht eine Netzwerkmakrokultur gerade auch aus dem iterativen, wechselseitigen Prozess des Aushandelns einer gemeinsamen Netzwerkverfassung und der Umsetzung ihrer Regeln. Denn Vertrauen entsteht gerade dadurch, dass die  Im Zusammenhang mit Unternehmensnetzwerken wird Makrokultur definiert als „a system of widely shared assumptions and Values, comprising industry-specific, occupational, or professional knowledge, that guide actions and create typical behavior patterns among independent entities“. Candace Jones/William Hesterly/Stephen Borgatti, A General Theory of Network Governance: Exchange Conditions and Social Mechanisms, AMR 22 (1997), 911 (929). Siehe zum Begriff der Makrokultur: Eric Abrahamson/Charles Fombrun, Forging the iron cage: Interorganizational networks and the production of macro-culture, JMS 29 (1992), 175  ff.; Eric Abrahamson/Charles Fombrun, Macrocultures: Determinants and consequences, AMR 19 (1994), 728 ff. 112  Candace Jones/William Hesterly/Stephen Borgatti, ebd., 930. 113  Dazu grundlegend: Fritz Scharpf, Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen, in: Adrienne Héritier (Hrsg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, PVS-Sonderheft 24 (1993), 57 (67 ff.). 114  Siehe zum Begriff der „structural embeddedness“: Mark Granovetter, Economic action and social structure: the problem of embeddedness, AJS 91 (1985), 481 ff. 115  Candace Jones/William Hesterly/Stephen Borgatti, A General Theory of Network Governance: Exchange Conditions and Social Mechanisms, AMR 22 (1997), 911 (929). 116  Dazu bereits oben Erster Teil, Kap. 3, D., III., 1., a. 117  Renate Mayntz, Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in: Adrienne Heritier (Hrsg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, PVS-Sonderheft 24 (1993), 39 (46). 118  Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/ Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (13). 111

E. Das netzwerkinterne institutionelle Arrangement im Richternetzwerk

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Regeln der Kooperation nicht unilateral festgelegt, sondern in einem wechselseitigen Prozess bestimmt werden.119 Andererseits fördert eine kooperative Makrokultur die Einigung auf gemeinsame institutionelle Regeln. Vertrauen, netzwerkinternes institutionelles Arrangement und Makrokultur stehen in einem wechselseitigen Verhältnis und fördern langfristige, stabile, reziproke, problemorientierte Kooperation zwischen den Netzwerkteilnehmern. Auch in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken verhandeln die Teilnehmer ein netzwerkinternes Arrangement. Gemeint sind damit substanzielle und institutionelle Normen, mit denen die Gerichte ihre jeweiligen Kompetenzen voneinander abgrenzen und die Rolle von rechtsordnungsfremdem Recht in der eigenen Rechtsordnung abstecken. In einem anderen Zusammenhang beschreiben Teubner und Amstutz mit dem Begriff der „Netzwerkverfassung“120 und Mayntz mit der Herausbildung eines „institutionellen Konsens[es]“ für die Kooperation im Netzwerk121 genau dieses Phänomen. Während professionelle Verhaltensstandards Vertrauen schaffen und die Makrokultur im Netzwerk beeinflussen, liegt in der schrittweisen Entwicklung einer Netzwerkverfassung bzw. von rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen der entscheidende Beitrag zur Koordination divergierender Handlungslogiken im Netzwerk. Urteile in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken haben eine doppelte Bedeutung: Einerseits entscheiden die Richter einen anhängigen Fall auf der Grundlage rechtsordnungseigener Normen und Methoden, andererseits kann die Urteilsbegründung einen vom konkreten Sachproblem unabhängigen Beitrag zur Errichtung und Förderung eines rechtsordnungsübergreifenden netzwerkinternen institutionellen Arrangements leisten. Ein exemplarisches Beispiel ist die insti­ tutionalisierte Praxis der Überprüfung europäischer Verträge durch das Bundesverfassungsgericht, indem einerseits die Vereinbarkeit des Zustimmungsgesetzes mit dem Grundgesetz geprüft wird, andererseits aber, und darin liegt die wesentliche Bedeutung, entweder bestimmte Forderungen an den EuGH gestellt werden, etwa Grundrechte stärker zu berücksichtigen122 und Rechtsgrundlagen strenger zu handhaben,123 oder der Rahmen der Kontrolle europäischen Rechts, etwa durch Ausführungen zum ausbrechenden Rechtsakt124 oder zur Identitätskontrolle,125 abgesteckt wird.126 Diese Rechtsprechung wird dann in Reaktion auf den EuGH in darauffolgenden Urteilen modifiziert und angepasst. Dazu ist die Rechtsprechung eines nationalen Verfassungsgerichts zu Fragen der europäischen Integration stets im Kontext  Zur Bedeutung von Vertrauen als Grundmodus des Netzwerks, siehe auch Manuel Schwind, Netzwerke im Europäischen Verwaltungsrecht, 2017, 133. 120  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 3, D., III., 1., a. 121  Renate Mayntz, Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in: Adrienne Heritier (Hrsg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, PVS-Sonderheft 24 (1993), 39 (46). 122  BVerfGE 37, 271 (279) – Solange I (1974). 123  BVerfGE 89, 155 (210) – Maastricht (1993). 124  BVerfGE 89, 155 (187 f.) – Maastricht (1993); BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon (2009). 125  BVerfGE 123, 267 (354 f.) – Lissabon (2009). 126  Siehe zu dieser Praxis im Einzelnen, unten Dritter Teil, Kap. 14, A. 119

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Kapitel 6: Eine Rekonstruktion richterlicher Interaktion im Netzwerk

mit der Rechtsprechung anderer nationaler Verfassungsgerichte zu sehen. Diese Gerichte sind Teilnehmer in einem grenzüberschreitenden richterlichen Dialog. Durch gegenseitiges Bezugnehmen und Elaborieren auf die jeweiligen Entscheidungen bilden sich gemeinsame „Netzwerknormen“ heraus.

F. Zusammenfassung Die zwischengerichtliche Interaktion in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen ist durch eine netzwerkartige Struktur gekennzeichnet. Das Netzwerk ist ein typischerweise heterarchisch-informelles Beziehungsgeflecht zwischen zwei oder mehreren autonomen Akteuren, die gewöhnlich in iterativer Interaktion nach einer Logik der Verhandlung auf ein gemeinsames institutionelles Arrangement hinarbeiten. Begründet wird eine Netzwerkbeziehung durch Kommunikation zwischen den Akteuren. In Richternetzwerken ist das Urteil das zentrale Kommunikationsmedium. In rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen entsteht eine Gerichtsbeziehung durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung eines rechtsordnungsfremden Gerichts. Gerichte sind rationale, strategisch denkende Netzwerkakteure, die sich durch die rechtsordnungsübergreifende Interaktion bestimmte Vorteile versprechen. Wegen der Aussicht auf diesen kooperationsbegründeten Nutzen sind die gerichtlichen Netzwerkpartner willens, durch Kooperation eine gemeinsame Problemlösung trotz unterschiedlicher individueller Interessen herbeizuführen. Unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung liegen Verrechtlichung, Konstitutionalisierung und die Vermeidung von Normenkollisionen, die dem allgemeinen Kohärenzgebot im Recht widersprechen, im gemeinsamen Interesse aller Gerichte. Verfassungsgerichtsnetzwerke zeichnen sich durch eine heterarchische und informelle Struktur aus. Kein Verfassungsgericht kann ein anderes auf eine verbindliche Letztentscheidung festlegen. Mangels positiv-rechtlicher Vorschriften, die das Verhältnis zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen regeln und Kollisionsfälle zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen auflösen, können Verfassungsgerichte ihre gegenseitige Beziehung im Richternetzwerk in erheblichem Maße selbst gestalten. Unter diesen heterarchischen Bedingungen werden Verfassungsgerichte dazu veranlasst, in einen Rechtsprechungsdialog zu treten, in dessen Rahmen sie auf die Rechtsprechung ihres Pendants Bezug nehmen, ihre jeweiligen Kompetenzen und die Perspektive ihrer jeweiligen Rechtsordnung unterstreichen und durch dogmatische Konstruktionen Regeln für das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen entwickeln. In Richternetzwerken werden gemeinsame Problemlösungen nicht durch große Verhandlungsrunden ausgehandelt, sondern in kleinen, iterativen Schritten durch reziproke, rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion entwickelt. Trotz der Geltendmachung von Kompetenzansprüchen und der Formulierung von Drohungen ist die rechtsordnungsübergreifende verfassungsgerichtliche Interaktion durch netzwerktypische Verständigungslogik gekennzeichnet. Hinter der Fassade von Droh-

F. Zusammenfassung

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gebärden und Widersprüchlichkeiten besteht ein fein austariertes, kompromisshaftes, dynamisches Arrangement zur Vermeidung rechtsordnungsübergreifender Re­ chtsprechungskonflikte. Ein wesentlicher Faktor, der eine auf Verständigung und Kooperation ausgerichtete Interaktion in zwischengerichtlichen Richternetzwerken begünstigt, sind die professionelle Homogenität der Richter und die Eigenheiten des rechtlichen Diskurses. Der rechtliche Diskurs legt den Teilnehmern Begründungslasten sowie die Verallgemeinerungsfähigkeit und Abwägung von Argumenten auf und fördert damit deliberativen, sachorientierten Diskurs. Kennzeichnend für Richternetzwerke ist weiterhin das iterative Hinarbeiten auf einen gemeinsamen diskursiven und institutionellen Rahmen. Zur Koordination unterschiedlicher autonomer Handlungslogiken wird eine Netzwerkverfassung entwickelt, die substanzielle Regeln über die Rollen und die Kompetenzen der einzelnen Akteure im Netzwerk enthält. Urteile in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen beschränken sich nicht immer auf die Entscheidung des anhängigen Falls, sondern sie leisten auch einen vom konkreten Sachproblem unabhängigen Beitrag zur Errichtung und Förderung eines rechtsordnungsübergreifenden netzwerkinternen institutionellen Arrangements.

Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung

Verfassungsgerichte werden in der vernetzten Weltordnung mit einer einzigartigen Herausforderung konfrontiert. In Reaktion auf den Globalisierungsprozess werden eine Vielzahl inter- und supranationaler Institutionen mit verselbstständigter Willensbildung und mit veritablen Entscheidungsbefugnissen eingerichtet,1 deren Verhältnis zueinander bzw. zu nationalen Institutionen weitgehend ungeklärt ist. Das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung wird charakterisiert durch eine Ambivalenz zwischen dem Erfordernis inter- und supranationaler Institutionen zur Überwindung der mangelnden Handlungsfähigkeit territorial begrenzter nationaler Institutionen einerseits und dem Bedürfnis nach Bewahrung der demokratisch-rechtsstaatlichen Standards des Nationalstaats andererseits.2 Die zentrale Herausforderung der verschiedenen Verfassungsgerichte besteht vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz darin, das Verhältnis der weitgehend autonomen, territorial, funktional oder sektoral organisierten Institutionen und Rechtsordnungen in einer Weise zu koordinieren, durch die zum einen die konstitutionalistischen Prinzipien und Normen jeder Rechtsordnung realisiert werden können, zum anderen Rechtssicherheit und Kohärenz gewährleistet bleiben.3 Zu diesem Zweck verständigen sich Verfassungsgerichte auf gemeinsame richterrechtliche Normen und Regelungsarrangements, die sich als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen oder als richterliche Netzwerkverfassung konzipieren lassen.4 Der Fokus dieses  Oben Erster Teil, Kap. 2, C.  Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. 3  Oben Erster Teil, Kap. 5. 4  Im EU-Kontext werden rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen auch als „Herausbildung eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ charakterisiert. Mattias Wendel, Richterliche Rechtsvergleichung als Dialogform: Die Integrationsrechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in gemeineuropäischer Perspektive, Der Staat 52 (2013), 339 (361). Zur Konzeption rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen, siehe unten Erster Teil, Kap. 8. 1 2

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_7

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Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung

Kapitels liegt darauf, wie sich Verfassungsgerichte verschiedener Rechtsordnungen auf gemeinsame rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen verständigen, also durch welchen Prozess sich Normbildung durch rechtsordnungsübergreifende richterliche Interaktion in pluralistisch-heterarchischen Strukturen ohne zentralisierte Rechtsetzungsinstanz vollzieht. Die Diskussion über Richternetzwerke in Kap. 6 hat bereits einen Einblick in die netzwerkartigen Strukturen der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion vermittelt. Dabei wurde u. a. herausgearbeitet, in welcher Form und aus welchen Gründen sich Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen verstärkt gegenseitig mit ihren Urteilen inhaltlich auseinandersetzen,5 wie sie im Rahmen dieses Rechtsprechungsdialogs ihre Entscheidungsautonomie bekräftigen und die Perspektive ihrer Rechtsordnung einnehmen6 und vor allem, wie sie Schritt für Schritt durch wechselseitige Beeinflussung auf ein gemeinsames netzwerkinternes Arrangement hinarbeiten.7 Es hat sich gezeigt,8 dass die netzwerktypische Verständigungslogik sowie die Diskursbedingungen und die Sozialisierungsprozesse in Richternetzwerken die Herausbildung gemeinsamer Netzwerknormen begünstigen. Die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen für die vernetzte Weltordnung resultiert nicht aus kollektiv-verbindlichen Entscheidungen und reißbrettartiger Planung, sondern aus der Ansammlung einer Vielzahl interdependenter individueller Gerichtsentscheidungen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann sich die Akkumulation dezentraler Entscheidungen in ihrer Gesamtheit zu allgemeinen Maßstäben, eben rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen, verdichten. Damit wirkt sich das pluralistische institutionelle Arrangement der vernetzten Weltordnung auf die Strukturen richterlicher Normbildung aus. Im Folgenden sollen in groben Zügen die sozialen Mechanismen der dezentralen Anerkennung globaler Standards und Normen skizziert werden (A.), um dann darzulegen, dass diese sozialen Mechanismen auch für richterliche Normbildungsprozesse in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen kennzeichnend sind (B.). Zuletzt wird illustriert, auf welche Weise Verfassungsgerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen um die Herausbildung von Hintergrundnormen ringen (C.).

 Oben Erster Teil, Kap. 6, A.  Oben Erster Teil, Kap. 6, B. 7  Oben Erster Teil, Kap. 6, E. 8  Oben Erster Teil, Kap. 6, D. 5 6

A. Network Power: Die sozialen Mechanismen der dezentralen Anerkennung globaler …

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 . Network Power: Die sozialen Mechanismen der dezentralen A Anerkennung globaler Standards David Singh Grewal unterscheidet zwei grundlegende Methoden der sozialen Koordination: Zum einen kollektiv-verbindliche Entscheidungen, die in demokratischen Gemeinwesen die Mehrheit für die Allgemeinheit trifft, zum anderen die Akkumulation dezentraler, individueller Entscheidungen, die sich in ihrer Gesamtheit zu allgemeinen Standards verdichten können.9 In der globalisierten Weltgesellschaft, in der es einen globalen Gesetzgeber nicht gibt, kommt der letzteren Methode eine zentrale Rolle zu, die Grewal als „Network Power“ bezeichnet.10 Damit beschreibt er einen komplexen sozialen Prozess, aus dem bestimmte herrschende globale Standards hervorgehen.11 Als Beispiele verweist er auf den Aufstieg der englischen Sprache zur globalen magna lingua oder des WTO-Regimes zum weltweiten Maßstab zur Koordination nationaler Handelspolitiken.12 Wie aber kommt es, dass sich das Englisch, und nicht Alternativen wie Spanisch oder Französisch, zum herrschenden globalen Kommunikationsstandard entwickelt hat? Englisch wurde nicht zur Weltsprache infolge eines kollektiv-verbindlichen Entscheidungsprozesses, sondern durch die Ansammlung einer Vielzahl interdependenter individueller Entscheidungen,13 die gleichzeitig frei und unfrei sind.14 Damit knüpft Grewal an die Strukturationstheorie des Soziologen Anthony Giddens an. Danach besteht eine Dualität der Struktur. Eine Wechselwirkung zwischen individueller Handlung und gesellschaftlicher Struktur.15 Auch wenn das Erlernen der englischen Sprache als grundsätzlich freie individuelle Wahl erscheint, steht hinter dieser Wahl ein nicht unerheblicher sozialer Druck, eine systemische Macht, die daraus resultiert, dass bereits so viele andere Menschen Englisch sprechen.16 Denn Grewal zufolge kann diese Entwicklung nicht mit einer angeblichen intrinsischen Überlegenheit der englischen Sprache erklärt werden,17 sondern sie ist das Resultat eines sich selbstverstärkenden Prozesses sozialer Koordination, für den maßgeblich ist, dass eine kritische Masse von Menschen Englisch spricht.18 Entscheidend ist also nicht, dass Englisch gesprochen wird, sondern dass eine Sprache zu dem Kommunikations­ 9  David Singh Grewal, Network Power, 2008, 9. Siehe auch Teubner, der durchaus vergleichbar „wechselseitiges Akzeptieren der Entscheidungen dezentraler Instanzen“ im Netzwerk als „eine aus der Organisationstheorie bekannte Praxis der Koordination“ beschreibt. Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (124). 10  David Singh Grewal, Network Power, 2008, 4. 11  Ebd., 3. 12  Ebd., 5, im Detail 70 ff., 225 ff. 13  Ebd., 76. 14  Ebd., 5. 15  Ebd., 57. 16  Ebd., 5. 17  Ebd., 75. 18  Ebd., 26.

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Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung

standard im globalen Kontext wird. Dieser Konvergenzprozess hängt mit einer positiven Feedback-Dynamik zusammen, in deren Folge ein Standard einerseits umso wertvoller wird, je mehr Akteure den Standard verwenden, andererseits die Ausweitung eines Standards alternative Standards schrittweise unattraktiver macht.19 Katalysator für diese Konvergenzprozesse ist dabei letztlich ein psychosozialer Anpassungsdruck, der von einem Bedürfnis nach Anerkennung getrieben wird.20 Es bestehen deutliche Parallelen zwischen diesem von Grewal mit Network Power umschriebenen Phänomen einerseits und dem von Goodman/Jinks aus dem soziologischen Institutionalismus aufgegriffenen Prozess der Akkulturation ­andererseits. Goodman/Jinks erklären die auffällige Gleichartigkeit zwischen Institutionen in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen trotz divergierender kultureller Kontexte damit, dass globale kulturelle Prozesse weltweite Modelle und Normen konstruieren und propagieren, die das Handeln in nationalen Gemeinwesen maßgeblich konstituieren und legitimieren.21 Aufgrund der durch gesellschaftliche Akteure bestärkten Autorität und Legitimität globaler Normen in der globalisierten Weltgesellschaft würden staatliche Entscheidungsträger diese Normen beachten und institutionalisieren.22 Hinter diesen Zusammenhängen stehe ganz grundlegend der soziale Prozess der Akkulturation, nach dem Akteure die Überzeugungen und Verhaltensmuster ihrer Umwelt infolge eines  – teils selbst-, teils fremderzeugten und teils realen, teils imaginierten – kognitiven und sozialen Anpassungsdrucks adaptieren. Da die Beachtung dieser globalen Normen oft gleichbedeutend ist mit einem höheren sozialen Status bzw. mit einer Art Mitgliedschaft in einem Club oder einer relevanten sozialen Gruppe, erzeuge die Nichtanpassung an Gruppenerwartungen und -normen psychosoziale Kosten und die Anpassung einen psychosozialen Nutzen. Dabei steige die Wahrscheinlichkeit der Anpassung an solche globalen Normen mit 1) der Bedeutung der Gruppe für den Akteur, 2) der Ausstrahlung der Gruppe auf den Akteur, und 3) der Größe der Gruppe.23 Treibende Kraft hinter diesen Akkulturationsprozessen ist letztlich, wie bei Grewal, ein sozialer Anpassungs Ebd., 25 f.  Ebd., 279. 21  Ryan Goodman/Derek Jinks, Toward an Institutional Theory of Sovereignty, Stan. L.  Rev. 55 (2003), 1749 (1752 f.). Zum Beleg ihrer These verweisen Goodman und Jinks auf bemerkenswerte strukturelle Gleichartigkeiten in den Bereichen der Umwelt-, Bildungs- und Sicherheitspolitik, die sich durch globale Normen erklären ließen. Ebd., 1761. Nach diesen Normen würden diese Politiken als zentrale staatliche Aufgabe betrachtet, die sich idealerweise durch bestimmte institutionelle Vorkehrungen erfüllen ließen. Ebd., 1763. Staaten würden Umweltministerien einrichten, Nationalparks gründen und Umweltverträglichkeitsprüfungen einführen, obwohl die lokalen Umweltbedingungen teilweise sehr unterschiedlich seien. Ebd., 1762. Das gleiche Phänomen sei in der Bildungspolitik erkennbar, wo sich insbesondere die schulischen Lehrpläne trotz unterschiedlicher nationaler Ressourcen, Kultur und Geschichte auffällig gleichen würden. Ebd., 1764. Eine Schwäche im Beschreibungsmodell von Goodman und Jinks ist seine Staatszentriertheit. Das Thema der beiden ist die Sozialisierung von Staaten, Staaten aber sind komplexe, von Menschen mit durchaus divergierenden Interessen gesteuerte Gebilde. Hier pauschal auf die Sozialisierung des Staates abzustellen, wird dieser Komplexität nicht gerecht. 22  Ebd., 1761. 23  Ryan Goodman/Derek Jinks, How to influence states, Duke L. J. 54 (2004), 621 (642). 19 20

B. Gerichtliche Normbildungsprozesse in rechtsordnungsübergreifenden …

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druck, für den u. a. die Größe der maßgeblichen peer group entscheidend ist, die das globale Modell oder die globale Norm bereits adaptiert hat.24 Dahinter steht ein gewisser Herdentrieb, nach dem sich die einen Akteure den sich als herrschend herauskristallisierenden Entscheidungen anderer anpassen, wodurch die Koordination zwischen den Akteuren erleichtert wird.25

B. Gerichtliche Normbildungsprozesse in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen Diese soziale Koordinationsstruktur besteht auch im Zusammenhang mit der He­ rausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen. Ein wirksamer Anpassungsdruck lässt sich auch bei der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion beobachten: Je mehr Gerichte sich auf ein bestimmtes Modell, z.  B. den Solange-Grundsatz oder das Konzept der Verfassungsidentität, verständigt haben, je deutlicher ein bestimmter Rechtsprechungstrend hervortritt, desto größer wird der Druck, diesem Modell zu folgen oder sich zumindest damit auseinanderzusetzen.26 Die rechtsordnungsübergreifende richterliche Normbildung stellt sich als ein selbstverstärkender Prozess sozialer Koordination dar, in dem positive Feedback-­Dyna­ mik und psychosozialer Anpassungsdruck Rechtsprechungskonvergenzen fördern. Bruno de Witte bezieht sich – gewollt oder ungewollt – auf diesen Zusammenhang, wenn er die Formulierung von Grenzen für den Vorrang des Unionsrechts durch nationale Verfassungsgerichte als Domino-Effekt charakterisiert.27  Unterschiede zwischen Goodman/Jinks und Grewal liegen darin, dass der Ansatz ersterer vorrangig auf Institutionen ausgerichtet ist, wobei eine weite Definition der Institution zugrunde liegt, die auch Normen erfasst. Siehe Ryan Goodman/Derek Jinks, Toward an Institutional Theory of Sovereignty, Stan. L. Rev. 55 (2003), 1749 (1752 f.). Grewals Ansatz dagegen hat nur das Phänomen globaler Normbildung zum Gegenstand und ist auch dadurch etwas enger und gleichzeitig konkreter, weil er sich auf heterarchische Netzwerkkonstellationen konzentriert. 25  Vgl Walter Powell/Douglas White/Kenneth Koput/Jason Owen-Smith, Network Dynamics and Field Evolution: The Growth of Interorganizational Collaboration in the Life Sciences, AJS 110 (2005), 1132 (1140): „Network expansion entails herdlike behavior, with participants matching their choices with the dominant choices of others, either in mutual response to common exogenous pressures or through imitative behavior (follow-the-trend).“ Herv. Verf. 26  Vicki Jackson, Transnational Challenges to Constitutional Law: Convergence, Resistance, Engagement, FLR 35 (2007), 161 (167). 27  Siehe Bruno de Witte, Direct Effect, Primacy and the Nature of the Legal Order, in: Paul Craig/ Gráinne de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 2. Aufl., 2011, 323 (356). In diesem Sinne auch Weiler, der im Hinblick auf den Prozess der Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts durch nationale Verfassungsgerichte den Anpassungsdruck schildert, dem diese Verfassungsgerichte unterliegen. J.H.H.Weiler, A Quiet Revolution. The European Court of Justice and Its Interlocutors, Comp. Polit. Stud. 26 (1994), 510 (521 f.). Ganz ähnlich beobachtet Dworkin im Zusammenhang mit der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht einen „snowballing effect“, den er wie folgt charakterisiert: „As more nations recognize a duty to accept and follow widely accepted principles, those principles, thus even more widely accepted, have greater moral gravitational force.“ Ronald Dworkin, A New Philosophy for International Law, Philos. Public Aff. 41 (2013), 24

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Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung

Es gibt zwei Faktoren, die gerichtliche Normbildungsprozesse in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen befördern. Erstens ist dem gerichtlichen Entscheiden zwangsläufig eine gewisse Anpassungsdisposition inhärent, eine institutionelle Veranlagung, Rechtsprechungstrends zu folgen. Die Berufung auf vorangegangene Entscheidungen als unverzichtbare Autoritätsquelle für die gegenwärtige Entscheidung ist in common law- wie in civil law-Systemen ein zentraler Bestandteil der gerichtlichen Entscheidungsfindung.28 Auch ohne präjudizielle Bindung wird es den Parteien in der Regel schwer fallen, ein Gericht davon zu überzeugen, einen dem Gericht bekannten, vergleichbaren Fall anders zu entscheiden als ein anderes Gericht, das bereits eine Entscheidung getroffen hat. Die in der Vergangenheit getroffene Entscheidung eines anderen Gerichts bewirkt für das in der Gegenwart entscheidende Gericht im Fall der Befolgung eine Begründungsentlastung, im Fall des Abweichens einen erhöhten Rechtfertigungsdruck, der die Reproduktion der vorangegangenen Entscheidung wahrscheinlicher macht.29 Auch die Dogmatik zielt im Kern darauf ab, die Vielzahl früherer Gerichtsentscheidungen in einem dogmatischen Gesamtgefüge zu ordnen und zu systematisieren, in das sich spätere Entscheidungen einordnen müssen.30 Die normativen Vorzüge der Anknüpfung an vorherige Gerichtsentscheidungen als Autoritätsquelle liegen einerseits darin, dass dadurch zentrale Werte des Rechts, Gleichheit, Rechtssicherheit, Stabilität, Kohärenz, gewährleistet werden, andererseits eine gewisse Demut des Entscheidungsträgers gefördert wird.31 Die Berufung auf vorangegangene Entscheidungen als Autoritätsquelle ist aufgrund globaler Kommunikationszusammenhänge auch für die rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion von Bedeutung. Zweitens besteht in Fragen des Verhältnisses zwischen einer nationalen und einer inter- oder supranationalen Rechtsordnung ein besonderes Bedürfnis danach, gemeinsame Regeln und Normen für den Umgang mit dem rechtsordnungsfremden Recht zu entwickeln. Im Fall eines nationalen Verfassungsgerichts, das über die Bedeutung eines inter- oder supranationalen Rechtssatzes für die nationale Rechtsordnung entscheiden muss, lässt sich ein legitimes, rechtlich fassbares Interesse aus dem Grundsatz der Reziprozität herleiten. Nationalstaaten binden sich durch völ2-30 (19 f.). 28  Vgl. Eugene Volokh, The Mechanisms of Slippery Slope, Harv. L. Rev. 116 (2003), 1026 (1064). Zur unterschiedlichen Wahrnehmung von Präzedenzfällen in den civil law-Systemen Kontinentaleuropas und in common law-Systemen: Christoph Schönberger, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), 296 (316 f.). 29  Zur rechtlichen und faktischen Bedeutsamkeit höchstrichterlicher Entscheidungen als Autoritätsquelle: Christoph Schönberger, ebd., 318 ff. 30  Dieses System des stetigen Verweisens auf vorhandene Begriffe und deren Aufbereitung für neue Fälle dient, so Luhmann zutreffend, der rekursiven Reproduktion von Rechtsentscheidungen. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 145: „Dieses System organisiert einen eigenen Bereich zirkulär vernetzter Operationen. Es ändert das Recht im Hinblick auf künftige Gerichtsentscheidungen und richtet sich dann nach dem jeweils geltenden Recht, woraus sich dann wieder Beobachtungsmöglichkeiten und Anlässe ergeben können, das Recht zu ändern“. 31  Vicki Jackson, Transnational Challenges to Constitutional Law: Convergence, Resistance, Engagement, FLR 35 (2007), 161 (183).

B. Gerichtliche Normbildungsprozesse in rechtsordnungsübergreifenden …

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kerrechtliche Verträge unter der Prämisse der Gegenseitigkeit: Staat A verpflichtet sich dazu, den Waren aus Staat B freien Zugang zu seinem Markt zu gewähren, weil Staat B im Gegenzug die gleichen Verpflichtungen für die Waren aus Staat A eingeht. Welche Bedeutung das Verfassungsgericht aus A dieser Verpflichtung in der nationalen Rechtsordnung beimisst, ist daher für Staat B und seine Institutionen sehr wohl relevant. Es wirkt sich auf die Gegenseitigkeit der gemeinsam eingegangenen Verpflichtungen aus. Das lässt sich an dem folgenden Beispiel illustrieren: Ein supranationales Gericht, wie der EuGH, wird eingerichtet, um die einheitliche Auslegung und Anwendung des supranationalen Rechts zu gewährleisten. Soweit das Verfassungsgericht eines EU-Mitgliedstaats Kontrolle über die Anwendbarkeit des Unionsrechts in der eigenen Rechtsordnung beansprucht, wird die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigt. Diese Beeinträchtigung kann abgemildert werden, indem die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte ihre Rechtsprechung zu den Voraussetzungen für die Ausübung dieser Kontrolle aufeinander ­abstimmen.32 Dem Reziprozitätsgedanken wird damit Rechnung getragen. Aufgrund der Prozesse der Europäisierung und Internationalisierung33 ist der mit dieser Konstellation verbundene Konvergenz- und Integrationsdruck besonders ausgeprägt und die Bereitschaft zur Bildung gemeinsamer Hintergrundnormen daher besonders hoch.34

 Zu den rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen bei der vorbehaltlichen Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts durch mitgliedstaatliche Verfassungs- und Obergerichte, siehe unten Dritter Teil, Kap. 12, A., I. 33  Siehe zu diesen Prozessen oben Erster Teil, Kap. 2, H. 34  Von der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen zu unterscheiden ist das Phänomen, dass sich Verfassungsgerichte in Fragen des nationalen Verfassungsrechts verstärkt gegenseitig zitieren und eingehend mit den Urteilen ihres Gegenparts auseinandersetzen, obwohl die anhängigen Streitsachen in der Regel keinen rechtsordnungsübergreifenden Bezug aufweisen. Dazu grundlegend: Stefan Martini, Vergleichende Verfassungsrechtsprechung, 2018. Insbesondere im Bereich des nationalen Grundrechtsschutzes sind signifikante Konvergenzen feststellbar: Für immer mehr Verfassungsgerichte entwickelt sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur maßgeblichen Entscheidungstechnik, für vergleichbare Grundrechtsproblematiken entscheiden sich Verfassungsgerichte aus verschiedenen Rechtsordnungen vermehrt für vergleichbare Lösungsansätze und Grundrechtsinterpretation. Diese Konvergenzen können sich potenziell zu einem Gemeinverfassungsrecht der nationalen Verfassungsordnungen verdichten. Zu diesem Phänomen Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 70 und 101; Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (22); David Law, Generic Constitutional Law, Minn. L. Rev. 89 (2005), 652 ff. Zwischen den unterschiedlichen Normbildungs- bzw. Konvergenzprozessen beim rechtsordnungseigenen Grundrechtsschutz einerseits und der Bildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen andererseits gibt es viele Parallelen, insbesondere sind die sozialen Konvergenzmechanismen vergleichbar. Es besteht allerdings ein entscheidender qualitativer Unterschied: Im ersten Fall mag es für die Entscheidungsfindung des Gerichts der nationalen politischen Gemeinschaft A zwar sinnvoll sein, Gerichtsentscheidungen zu vergleichbaren Grundrechtsfragen aus den politischen Gemeinschaften B, C und D zu berücksichtigen. Es ist dabei aber nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass die Gerichte aus B, C und D ein legitimes, rechtlich fassbares Interesse daran haben könnten, dass das Gericht aus A seinen Fall so entscheidet wie sie. Das ist, wie gezeigt, im Zusammenhang mit dem inter- und supranationalen Recht anders. 32

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Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung

 . Das Ringen um C rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen Aus der gerichtlichen Anpassungsdisposition folgt nicht, dass die vorangegangene die nachfolgende Gerichtsentscheidung im Sinne einer Pfadabhängigkeit präkludiert. Denn Richter machen sich ihre Entscheidung in der Regel nicht einfach. Die Genesis eines Urteils ist zumeist ein mühsamer Prozess des Prüfens und Gegenprüfens, des Elaborierens und Abwägens verschiedener Entscheidungsalternativen.35 Aus diesem rechtsvergleichenden Prozess des gegenseitigen Bezugnehmens und Elaborierens schälen sich Schritt für Schritt, Urteil für Urteil gemeinsame Hintergrundnormen heraus, die von den Richtern mehrheitlich als das überzeugendste ­Lösungsmodell für gemeinsame Herausforderungen betrachtet werden. Im rechtsordnungsübergreifenden Kontext reagieren Verfassungsgerichte auf vergleichbare Problemlagen, thematisieren die gleichen Bedenken, wie etwa das Demokratiedefizit und die Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzes, und entwickeln problemadäquate Lösungsansätze für die speziellen Probleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung.36 In ihrem teils kooperativen, teils antagonistischen Ringen um die überzeugendsten Rechtsprechungsmodelle entsteht durch Iterativität, durch eine Vielheit individueller, aufeinander bezogener Gerichtsentscheidungen, die „invisible constitution“37 der vernetzten Weltordnung.38 Vor dem Hintergrund des Ringens um gemeinsame rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen kann es auch nicht überraschen, dass sich Verfassungsgerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen, soweit inter- und supranationale Verpflichtungen betroffen sind, besonders eingehend und intensiv mit der Rechtsprechung ihrer gerichtlichen Netzwerkpartner auseinandersetzen. Die verfassungsgerichtliche Rechtsvergleichung dient der Herausbildung von rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen bzw. von Gemeinverfassungsrecht für die vernetzte Weltordnung.39 Deshalb ist es den Richtern einer Rechtsordnung auch  Vgl. Jeremy Waldron, „Partly Laws Common to All Mankind“, 2012, 105.  Vgl. Sergio Bartole, Comparative Constitutional Law – an Indispensable Tool for the Creation of Transnational Law, EuConst 13 (2017), 601 ff. 37  Vgl. Laurence Tribe, The Invisible Constitution, 2008, der diesen Begriff für die US-amerikanische Verfassung verwendet. Für die Verwendung dieses Begriffs jenseits des Nationalstaats schon: Jan Klabbers, Setting the Scene, in: Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 1 (4). 38  Vgl. Anne-Marie Slaughter, A Global Community of Courts, Harv. Int’l L. J. 44 (2003), 191 (219): „The judges themselves are in many ways creating their own version of such a system-a bottom-up version driven by their recognition of the plurality of national, regional, and international legal systems and their own duties of fidelity to such systems“. 39  Beide Konzepte, das der rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen und das des Gemeinverfassungsrechts, weisen eine gemeinsame Schnittmenge auf. Grundlegend zum Begriff des Gemeinverfassungsrechts: Peter Häberle/Markus Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8. Aufl., 2016, 196. Weiterentwickelt haben das Konzept: Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 425 ff.; Mattias Wendel, Richterliche Rechtsvergleichung als Dialogform, Der Staat 52 (2013), 339 (360 ff.). 35 36

C. Das Ringen um rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen

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nicht gleichgültig, was die Richter aus anderen Rechtsordnungen entscheiden.40 Denn in der vernetzten Weltordnung ringen Verfassungsgerichte im Zuge ihres rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialogs um die überzeugendsten Modellvorschläge für die gleichen Rechtsfragen: Welche Stellung kommt dem rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Recht in der eigenen Rechtsordnung zu,41 inwieweit sind die Entscheidungen rechtsordnungsfremder Gerichte zu berücksichtigen,42 wie ist die Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts auszugestalten43 und mit welchen dogmatischen Konstruktionen lassen sich rechtsordnungseigene verfassungsrechtliche Prinzipien in die rechtsordnungsfremde Rechtsordnung übertragen?44 Mattias Wendel registriert im EU-Kontext einen „bemerkenswerte[n] Qualitätssprung in der Verwendung rechtsvergleichender Argumente“,45 die sich nicht mehr in einem „Hilfsmittel[] zur Auslegung nationalen Rechts“ erschöpfe, sondern sich als „Medium eines transnational geführten Dialoges über Inhalt und Umfang gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ darstelle.46 Zum Beleg seiner These legt er detailliert dar, wie deutlich mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte diesen Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen in ihren Europa-­Entscheidungen reflektieren und wie prononciert sie sich in ihren Entscheidungsgründen für bestimmte Modellvorschläge einsetzen. Als Beispiel verweist er zum einen auf das zweite Lissabon-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts, das die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kritisch würdigt und bewusst den Kontrast seiner Konzeption zur Argumentationslinie des letzteren herausstellt.47 In dieser Auseinandersetzung steht ersichtlich die verfassungsgerichtliche Deutungshoheit über den europäischen Integrationsprozess auf dem Spiel. Zum anderen zeigt Wendel, wie der polnische Verfassungsgerichtshof seine Lissabon-­ Entscheidung dezidiert als Beitrag zur „Herausbildung eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ versteht48 und zur Rechtfertigung seiner Position auf die „gemeinsamen Verfassungstraditionen“ der Mitgliedstaaten rekurriert, die er als „eine wesentliche Voraussetzung für die Entscheidung im vorliegenden Fall“ deutet.49

 J.H.H.Weiler, A Quiet Revolution. The European Court of Justice and Its Interlocutors, Comp. Polit. Stud. 26 (1994), 510 (521): „Apparently it does sometimes matter to courts in one member state what ‚the brethren‘ in other member states are doing […]“. 41  Dazu unten Dritter Teil, Kap. 12. 42  Unten Dritter Teil, Kap. 13. 43  Unten Dritter Teil, Kap. 14, 15, 16 und 17. 44  Unten Dritter Teil, Kap. 18. 45  Mattias Wendel, Richterliche Rechtsvergleichung als Dialogform: Die Integrationsrechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in gemeineuropäischer Perspektive, Der Staat 52 (2013), 339 (339). 46  Ebd., 343. 47  Ebd., 349 ff. 48  Ebd., 361. 49  Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 24.11.2010, K 32/09 – Lissabon, Teil III.3.8. Dazu Mattias Wendel, ebd., 361. 40

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Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung

Bei der Diskussion um das netzwerkinterne institutionelle Arrangement im Richternetzwerk hat sich gezeigt,50 dass Urteile in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken typischerweise eine doppelte Bedeutung haben: Zum einen entscheiden die Richter einen anhängigen Fall auf der Grundlage rechtsordnungseigener Normen und Auslegungsmethoden, zum anderen leisten die Entscheidungsgründe häufig auch einen vom konkreten Sachproblem unabhängigen Beitrag zu einem rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialog mit dem Ziel, gemeinsame Regeln und Grundsätze für den Umgang mit rechtsordnungsfremdem Recht in der vernetzten Weltordnung zu entwickeln – eine Netzwerkverfassung zu schaffen. In den verfassungsgerichtlichen Entscheidungsgründen lassen sich regelmäßig beide Elemente finden, wobei die Aussagen und Stellungnahmen mit rechtsordnungsübergreifendem Bezug, die obiter dicta, oft den Teil der Entscheidungsgründe ­darstellen, in denen sich Hintergrundnormen abzeichnen. Sie sind der Stoff, aus dem rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen gemacht werden. Besonders eindrücklich lässt sich dieses Phänomen im EU-Kontext an den großen Europa-Entscheidungen anlässlich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Ratifikation europäischer Verträge festmachen, in denen die Gerichte im Rahmen eines „europaweiten Dialog[s] der Verfassungsrichter über verfassungsrechtliche Standards bzw. Inhalte gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ ringen.51 Ein Beispiel ist das Ringen mehrerer Verfassungsgerichte im Rahmen eines rechts­ ordnungsübergreifenden Richterdialogs anlässlich der Kontrolle des Lissabon-­ Vertrages um das „richtige“ Verständnis der „Verfassungsidentität“.52 Dabei handeln Verfassungsrichter – im Unterschied zu Staats- und Regierungschefs – keinen grand bargain aus, sondern entsprechend ihrem institutionellen Wesen als Gericht sind sie auf die Entscheidung konkreter Einzelfälle beschränkt, durch die sie ihre Rechtsprechungsmodelle wechselseitig rekonstruieren und gegenseitig akzeptieren.53 Welcher Modellvorschlag sich letztlich zu einer Hintergrundnorm verdichtet, lässt sich zu Beginn schwer vorhersagen. In der ersten Phase dürften neben der Überzeugungskraft des Vorschlags die institutionelle Stellung des vorschlagenden Verfassungsgerichts sowie der politische Kontext wichtige Faktoren sein. Mit der Zeit bilden sich dann Rechtsprechungstrends heraus, denen sich nach und nach Verfassungsgerichte anschließen und die die Aussichten alternativer Modelle erschweren, da Verfassungsgerichte ungern dauerhaft Außenseiterpositionen aufrechterhalten. Beispiele sind die schrittweise Anerkennung des prinzipiellen Vorrangs des Unionsrechts durch mitgliedstaatliche Verfassungs- und Obergerichte 54 sowie die sich stetig ausbreitende Praxis von Vorlagen an den EuGH im Rahmen des unionalen Vorlageverfahrens.55 Denn wenn eine kritische Masse von mitgliedstaatlichen  Oben Erster Teil, Kap. 6, E.  Wendel, ebd., 360. 52  Hierzu unten Dritter Teil, Kap. 17, A., II. 53  Zum iterativen Charakter der Interaktion in Richternetzwerken, siehe bereits oben Erster Teil, Kap. 6, C. 54  Unten Dritter Teil, Kap. 12, A., I. 55  Unten Dritter Teil, Kap. 19, A. 50 51

C. Das Ringen um rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen

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Verfassungsgerichten die gleiche oder eine vergleichbare Rechtsauffassung zur Stellung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung hat, lässt sich diese Position leichter rechtfertigen und mit dem Reziprozitätsgedanken vereinbaren als wenn ein Verfassungsgericht eine bestimmte Rechtsauffassung exklusiv vertritt. Wie wir bei der Diskussion um Richternetzwerke gesehen haben,56 ziehen Verfassungsgerichte Kooperation der Nicht-Kooperation vor, aber sie präferieren auch ihr Lösungsmodell gegenüber alternativen Lösungsmodellen. Dem entspricht es, wenn das BVerfG im EU-Kontext oft strategisch vorangeht, um die Meinungsführerschaft unter den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten zu erlangen. Umgekehrt wird ein Gericht, das die Rechtsprechung und die Modellvorschläge anderer Gerichte weder zitiert noch berücksichtigt und eine introvertierte, rechtsordnungsspezifische Perspektive einnimmt, es schwerer haben, andere Gerichte von seinem Lösungsmodell zu überzeugen. Die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen wird durch die netzwerktypische Verständigungslogik sowie die Diskursbedingungen und die Sozialisierungsprozesse in Richternetzwerken begünstigt. Zum einen fördern die professionelle Homogenität der Richter und die Eigenheiten des rechtlichen Diskurses einen sachorientierteren, deliberativen Dialog, der die gemeinsame Bildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen erleichtert.57 Die Richter zeigen sich kompromissbereit und pochen infolge von Sozialisierungs- und Lernprozessen immer weniger auf die Verteidigung nationaler Interessen. Zum anderen sind die Interessen und Positionen der Teilnehmer in Richternetzwerken nicht statisch, sondern diese wandeln sich im Zuge der Kooperation. Die Bildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen ist ein dynamischer Prozess und Hintergrundnormen unterliegen dem stetigen Wandel. Die Richter sind in kooperative Dauerbeziehungen eingebettet, durch die Überzeugungs- und Lernprozesse erzeugt werden.58 Das trägt dazu bei, unkooperatives Verhalten zu beschränken und die Ausübung von voice anstatt exit (in Form von Außenseiterpositionen) zur bevorzugten Alternative zu machen.59 Mit diesen Zusammenhängen lässt sich zumindest teilweise erklären, wie es dazu kam, dass nationale Verfassungsgerichte ihren zunächst entschiedenen Widerstand gegen die Vorrang-Rechtsprechung des EuGH über einen längeren Kooperationszeitraum überwanden und diese weitgehend akzeptiert haben.60

 Oben Erster Teil, Kap. 6, A., II.  Oben Erster Teil, Kap. 6, D. 58  Vgl. Renate Mayntz, Modernization and the Logic of Interorganizational Networks, in: John Child/Michel Crozier/Renate Mayntz (Hrsg.), Societal change between market and organization, 1993, 3 (13). 59  Vgl. Walter Powell, Neither Market Nor Hierarchy: Network Forms of Organization, Res. Organ. Beh. 12 (1990), 295 (303). 60  Ausführlich unten Dritter Teil, Kap. 12, A., I. 56 57

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Kapitel 7: Die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung

D. Zusammenfassung Im pluralistisch-heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung besteht eine zentrale Herausforderung darin, das Verhältnis der weitgehend autonomen, territorial, funktional oder sektoral organisierten Institutionen und Rechtsordnungen zu koordinieren. Zu diesem Zweck verständigen sich Verfassungsgerichte auf gemeinsame richterrechtliche Normen und Regelungsarrangements, die sich als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen konzipieren lassen. Die Verständigung auf diese Hintergrundnormen stellt sich als dezentraler, netzwerkartiger Prozess dar, in dem die verschiedenen Gerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen ihre Rechtsprechung durch wechselseitiges Akzeptieren einer Vielzahl individueller Gerichtsentscheidungen aufeinander abstimmen. In ihrer Gesamtheit kann sich die Akkumulation der einzelnen Gerichtsentscheidungen zu rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen verdichten. Diese Struktur der rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Normbildung entspricht dem institutionellen Wesen von Gerichten, die auf die Entscheidung konkreter Einzelfälle beschränkt sind und ihre Rechtsprechungsmodelle daher durch Einzelfallentscheidungen schrittweise miteinander koordinieren. In rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen, soweit inter- und supranationale Verpflichtungen betroffen sind, setzen sich Verfassungsgerichte besonders eingehend und intensiv mit der Rechtsprechung ihrer gerichtlichen Netzwerkpartner auseinander. Der Grund dafür liegt darin, dass Verfassungsgerichte im Zuge ihres rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialogs um die überzeugendsten Rechtsprechungsmodelle für die gleichen Rechtsfragen ringen. Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen bilden sich, durch gegenseitiges Bezugnehmen und Elaborieren, durch Prüfen und Gegenprüfen, Schritt für Schritt, Urteil für Urteil heraus. Dabei fördern soziale Mechanismen wie positive Feedback-Dynamik und psychosozialer Anpassungsdruck Konvergenzen in der Rechtsprechung. Je mehr Gerichte sich auf einen bestimmten Ansatz verständigt haben, je deutlicher ein bestimmter Rechtsprechungstrend hervortritt, desto größer wird der Druck, diesem Ansatz zu folgen oder sich zumindest damit auseinanderzusetzen. Dahinter steht eine gerichtliche Anpassungsdisposition, eine institutionelle Veranlagung, Rechtsprechungstrends zu folgen. Diese ist dem gerichtlichen Entscheiden inhärent, weil die Berufung auf vorangegangene Entscheidungen eine unverzichtbare Autoritätsquelle für gegenwärtige Gerichtsentscheidungen darstellt. Zudem folgt aus dem Reziprozitätsgedanken ein legitimes, rechtlich fassbares Interesse daran, bei Fragen der Kontrolle der Anwendbarkeit des inter- und supranationalen Rechts durch nationale Verfassungsgerichte die Voraussetzungen für die Ausübung dieser Kontrolle aufeinander abzustimmen.

Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte Weltordnung

Im vorangegangenen Kapitel ging es darum, die Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung aus analytischer Sicht zu rekonstruieren und damit den Prozess nachzuzeichnen, durch den rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen entstehen.1 In diesem Abschnitt soll der Begriff der rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm präzisiert und aus normativer Perspektive eine Antwort auf die Frage entwickelt werden, nach welchen Entscheidungsmaßstäben und -kriterien sich Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung richten sollten. Auf diese Frage gibt die Diskussion über die Strukturen richterlicher Normbildung im vorherigen Kapitel keine Antwort, denn diese hat nur skizziert, aufgrund welcher sozialen Mechanismen sich aus der netzwerkartigen Gerichtsinteraktion rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen herausbilden können und welche Faktoren diesen Prozess begünstigen. Darin liegt aber noch kein normatives Argument zu der Frage, ob Verfassungsgerichte aktiv an diesem Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen teilnehmen und entstandene Hintergrundnormen beachten sollten. Treten wir einen Schritt zurück, dann sieht sich die pluralistisch-heterarchische Konstruktion der vernetzten Weltordnung, in der die Gestaltung des Verhältnisses zu anderen Rechtsordnungen grundsätzlich nach rechtsordnungseigenen Kriterien, nach dem „internal point of view“ der jeweiligen Rechtsordnung legitim ist, mit einer zentralen Frage konfrontiert: Soll jedes Gericht ausschließlich nach rechtsordnungseigenen Kriterien entscheiden oder gibt es rechtsordnungsübergreifende Normen, die zu berücksichtigen sind? Mit anderen Worten: Sind die aufgezeigten normativen Vorzüge einer pluralistisch-heterarchischen Konstruktion normativ ausreichend oder bedarf es zusätzlicher rechtsordnungsexterner normativer Entscheidungsmaßstäbe, die über rechtsordnungseigene Kriterien hinausreichen? Und wo Oben Erster Teil, Kap. 7.

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© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_8

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

her sollen im letzteren Fall die rechtsordnungsübergreifenden Normen überhaupt kommen, wenn jede Rechtsordnung das Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen nach rechtsordnungseigenen Kriterien bestimmt? Die Antworten auf diese Fragen sollen in drei Schritten entwickelt werden: In einem ersten Schritt werden die Vor- und Nachteile von Netzwerkansätzen und streng pluralistischen Konzeptionen aus normativer Sicht erörtert. Denn diesen ­Ansätzen zufolge besteht kein Bedürfnis für ein zusätzliches normatives Ent­ scheidungselement, das über eine pluralistisch-heterarchische Konfiguration hi­ nausgeht. Stattdessen vertrauen sie auf die Koordinationsleistungen rechtlich und politisch autonomer Einheiten (A.). In einem zweiten Schritt erfolgt eine Auseinandersetzung mit verfassungspluralistischen Ansätzen, die darauf bestehen, dass nationale, internationale und supranationale Institutionen ihr Handeln im rechtsordnungsübergreifenden Kontext an den Prinzipien des Konstitutionalismus ausrichten und teilweise Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Prinzipien und Normen entwickeln (B.). Schließlich wird in einem dritten Schritt – insbesondere in Ausei­ nandersetzung mit den verfassungspluralistischen Modellen Kumms und Maduros – das eigene Verständnis rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen entwickelt (C.).

 . Das Bedürfnis nach rechtsordnungsübergreifenden A Normen: Die Grenzen von Netzwerkansätzen und streng pluralistischen Konzeptionen Nach der Auffassung von Vertretern von Netzwerkansätzen und von streng pluralistischen Konzeptionen2 ist weder die Orientierung an konstitutionalistischen Prinzipien noch die Entwicklung rechtsordnungsübergreifender Maßstäbe oder Kriterien geboten. Die entscheidenden Gerichte können das Verhältnis der unterschiedlichen Rechtsordnungen ausschließlich nach rechtsordnungseigenen Kriterien ausgestalten, die nicht notwendig konstitutionalistischen Ursprungs sein müssen. Nach dieser Auffassung müsste es konsequenterweise legitim sein, rechtsordnungsfremde Geltungsansprüche gegenüber der eigenen Rechtsordnung zurückzuweisen  – und zwar ausnahmslos. Angewendet auf das Verhältnis zwischen der EU und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen würde daraus folgen, dass die ursprünglichen Positionen des französischen Conseil d’État zum europäischen Unionsrecht unbedenklich wären.3 Danach können EU-Richtlinien keine unmittelbare Wirkung entfalten4 und Unionsrecht kann gegenüber nationalen Gesetzen keinen Vorrang 2  Exemplarisch: Nico Krisch, Beyond Constitutionalism. The Pluralist Structure of Postnational Law, 2010, der seine Konzeption vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen diversen inter-, supra- und transnationalen Rechtsordnungen entwickelt hat. 3  Siehe Conseil d’État, Urt. v. 22.12.1978 – Ministre de l’Intérieur v. Sieur Cohn-Bendit, Rec. 524, EuR 1979, 292 ff.; Urt. v. 20.10.1989 – Nicolo, EuR 1989, 62 ff. 4  Conseil d’État, Urt. v. 22.12.1978 – Ministre de l’Intérieur v. Sieur Cohn-Bendit, Rec. 524, EuR 1979, 292 ff.

A. Das Bedürfnis nach rechtsordnungsübergreifenden Normen: Die Grenzen …

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beanspruchen5.6 Sein Rang richtet sich nach der lex posterior-Regel.7 Diese mit der heutigen Rechtspraxis nicht mehr zu vereinbarenden Positionen wären auf der Grundlage einer strikt pluralistischen Konzeption unbedenklich, weil französische Gerichte autonom über die Anwendbarkeit und den Rang rechtsordnungsfremden Rechts in der französischen Rechtsordnung bestimmen können. Für diese streng pluralistische Auffassung lassen sich alle normativen Argumente anführen, die für ein pluralistisch-heterarchisches Arrangement sprechen. Das sind, wie bereits dargelegt wurde, Begrenzung von Macht und „checks and balances“, Erweiterung der Entscheidungsperspektiven, Flexibilität und Experimentierfreudigkeit.8 Denn in einer streng pluralistischen Konzeption werden diese Aspekte konsequent umgesetzt. Darüber hinaus stärkt die stetig präsente Gefahr der Zurückweisung des eigenen Geltungsanspruchs gegenüber anderen Rechtsordnungen durch andere Rechtsordnungen in besonderer Weise accountability und fördert politische Konfliktlösung.9 Gegen eine solche streng pluralistische Konzeption bestehen allerdings gewichtige Bedenken: Zum einen genügen die dargelegten normativen Vorzüge einer pluralistisch-­heterarchischen Konstruktion alleine nicht den legitimatorischen Anforderungen an die Ausübung öffentlicher Gewalt.10 Zu diesem Zweck bietet sich, wie von den Verfassungspluralisten dargelegt, ein Rückgriff auf die prozeduralen und materiellen Maßstäbe des Konstitutionalismus-Konzepts an.11 Zum anderen bestehen trotz der Koordinationsleistungen netzwerkartiger Arrangements Zweifel, ob und inwiefern die Gerichte der unterschiedlichen Rechtsordnungen ohne die einheitsstiftende Sprache des Konstitutionalismus und ohne gemeinsame rechtsordnungsübergreifende Maßstäbe ihre Belange hinreichend aufeinander abstimmen und dem Reziprozitätsgedanken hinreichend Rechnung tragen können. Denn wenn sich die Gerichte einer Rechtsordnung in Fragen der Anerkennung rechtsordnungsfremder Geltungsansprüche nach keinen rechtsordnungsexternen Maßstäben richten müssen, sie also nach eigenem Gutdünken über die Anerkennung rechtsordnungsfremden Rechts in der eigenen Rechtsordnung entscheiden können, besteht die Gefahr, dass die aufgezeigten normativen Gründe für die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation nicht realisiert werden können.12 Wenn einzelne Mitgliedstaaten die Rechtssätze internationaler Organisationen ohne Weiteres unumgesetzt oder unangewendet lassen können, büßen diese ihre Fähigkeit ein, die ihnen übertragenen Aufgaben adäquat zu erfüllen. Die EU wäre nicht die EU, wenn die mitgliedstaatlichen Gerichte Unionsrecht legitimerweise wie Völkerrechtssätze behandeln könnten. Daher erscheint es sinnvoll, eine Orientierung an bestimmten  Conseil d’État, Urt. v. 01.03.1968  – Syndicat général des fabricants de semoule de France, Rec. 149. 6  Zu diesen Urteilen: Unten Dritter Teil, Kap. 12, A., I. und Kap. 18, B., I., 2., a. 7  Dazu unten Dritter Teil, Kap. 12, A., II. und B. 8  Dazu oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. 9  So etwa Nico Krisch, The Pluralism of Global Administrative Law, EJIL 17 (2006), 247 (278). 10  Oben Erster Teil, Kap. 3, D., III., 2. 11  Oben Erster Teil, Kap. 3, C., II. 12  Zu diesen: Oben Erster Teil, Kap. 4, A., I. Siehe auch unten Zweiter Teil, Kap. 9, A., I., 1. 5

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

rechtsordnungsübergreifenden Normen von den Verfassungsgerichten im rechtsordnungsübergreifenden Kontext einzufordern.

 . Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Normen B in verfassungspluralistischen Konzeptionen In der Diskussion um Netzwerkansätze und streng pluralistische Konzeptionen hat sich gezeigt, dass die Existenz bestimmter rechtsordnungsübergreifender Normen für Verfassungsgerichte in einem pluralistisch-heterarchischen Arrangement erstrebenswert ist. Die Herausforderung für verfassungspluralistische Ansätze besteht darin, rechtsordnungsübergreifende Normen zu entwickeln, die einerseits verhindern, dass die pluralistisch-heterarchische Konfiguration der vernetzten Weltordnung zu einer Kakofonie und Dissonanz der Rechtsordnungen verkommt, in der die Koordination zwischen den Rechtsordnungen und die Entwicklung einheitlicher Maßstäbe nicht einmal im Ansatz möglich ist, weil jede Rechtsordnung auf ihrem „internal point of view“ beharrt. Andererseits sollten diese rechtsordnungsübergreifenden Normen nicht zu neuen Formen der Hierarchie führen, unter denen sich weder die Vorzüge der pluralistisch-heterarchischen Konfiguration realisieren lassen noch die unterschiedlichen Rechtsordnungen ihre Autonomie bewahren können. Wie kann die Balance zwischen Einheitsstiftung und Autonomiebewahrung gelingen? Im Lager der Verfassungspluralisten werden zu dieser Frage verschiedene Ansätze entwickelt, die im Folgenden erörtert werden. Walker vertraut auf die einheitsstiftende Kraft des Konstitutionalismus. Deshalb ist es nach seiner Auffassung ausreichend, wenn Verfassungsgerichte sich ausschließlich nach rechtsordnungseigenen konstitutionalistischen Prinzipien richten (I.). Dagegen unterbreiten Kumm (II.) und Maduro (III.) jeweils unterschiedliche Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Maßstäbe.

I. Walkers Ansatz Von den vorgestellten verfassungspluralistischen Konzeptionen kommt der Ansatz von Walker einer streng pluralistischen Konzeption am nächsten.13 Die einheitsstiftenden Elemente in Walkers epistemischem Meta-Konstitutionalismus beschränken sich darauf, die maßgeblichen Akteure auf eine konstitutionalistische Sprache und auf die Anerkennung des legitimen, konstitutionalistischen Charakters anderer Rechtsordnungen zu verpflichten.14 Eine darüber hinausgehende Forderung nach

13 14

 Zu Walkers Konzeption oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 3.  Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002), 317 (332 f.).

B. Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Normen in verfassungspluralistischen …

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rechtsordnungsübergreifenden Maßstäben erhebt Walker nicht. Mit diesem Ansatz scheint es daher vereinbar zu sein, dass die konstitutionalistischen Prinzipien, an denen sich die Gerichte orientieren, ausschließlich aus der eigenen Rechtsordnung stammen. Für Walkers Ansatz spricht, dass sich einerseits konstitutionalistische Prinzipien – nicht zuletzt wegen ihrer integrativen Kraft – als normative Grundlage für rechtsordnungsübergreifende Verständigung eignen,15 andererseits die Anerkennung rechtsordnungsfremder konstitutionalistischer Prozesse und damit der Autonomie rechtsordnungsfremder Institutionen eine wesentliche diskursive Voraussetzung für netzwerkartige Interaktion ist. Allerdings ist zweifelhaft, ob nicht darüber hinaus rechtsordnungsübergreifende Maßstäbe erforderlich sind, denn einerseits kann Inhalt und Anwendung konstitutionalistischer Prinzipien in verschiedenen Rechtsordnungen sehr unterschiedlich sein, andererseits kann Konstitutionalisierung, wie gezeigt,16 mit Autonomisierung und Abgrenzung einhergehen. Wenn die Institutionen verschiedener Rechtsordnungen schlicht auf ihrem Standpunkt beharren, stellt sich die Frage, ob sie in ihren Auseinandersetzungen nicht zumindest rechtsordnungsübergreifende diskursive Mindestanforderungen einhalten sollten.

II. Kumms Ansatz Im Unterschied zu Walker besteht Kumm zufolge ein gewichtiges Bedürfnis nach rechtsordnungsübergreifenden Maßstäben. Wie Walker erblickt zwar auch Kumm die Grundlage für die Koordination zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen in konstitutionalistischen Prinzipien.17 Im Unterschied zu Walker ist nach Kumm aber eine adäquate Lösung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte nach dem „internal point of view“ nur einer Rechtsordnung nicht möglich – und zwar selbst dann nicht, wenn das Gericht den Konflikt auf Grundlage der kon­ stitutionalistischen Prinzipien der Rechtsordnung löst. Mit anderen Worten: Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte zwischen zwei autonomen Rechtsordnungen lassen sich strukturell nicht auf der Grundlage nur einer Rechtsordnung lösen. Deshalb plädiert Kumm dafür, dass Verfassungsgerichte die eigene Rechtsordnung als normativen Anknüpfungspunkt durch die gemeineuropäische Rechtsprechungspraxis ersetzen.18 Nach dem „principle of best fit“ sollen sie Lösungen entwickeln, die die Ideale beider Rechtsordnungen am besten verwirklichen.19 Zur Rechtfertigung dieser durchaus radikalen Abwendung von der gegenwärtigen Rechtsprechungspraxis nationaler Gerichte argumentiert Kumm zunächst auf der Grundlage der Unterscheidung von Sein und Sollen, dass der Umstand, dass  Zum Konstitutionalismus als normative Richtschnur oben Erster Teil, Kap. 5, B.  Oben Erster Teil, Kap. 2, F. 17  Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (287). 18  Ebd. 19  Ebd., 286. 15 16

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

nationale Gerichte die nationale Rechtsordnung als maßgeblichen Referenzpunkt für ihre Entscheidungen wählen, kein hinreichender Grund dafür ist, dass sie das auch tun sollten.20 Im Kern steckt dahinter das – rechtslogisch durchaus plausible – Argument, dass die „rule of recognition“ durch die rechtsanwendenden I­ nstitutionen verändert werden kann.21 Rechtslogisch besteht also kein Grund dafür, an der eigenen Rechtsordnung als normativen Anknüpfungspunkt festzuhalten, sondern diese Praxis bedarf der normativen Rechtfertigung. Für die Entwicklung rechtsordnungsübergreifender Normen für die vernetzte Weltordnung sind drei Punkte in Kumms Ansatz von besonderem Interesse. Kumm arbeitet erstens überzeugend heraus, dass die Rechtsprechungspraxis des EuGH und nationaler Verfassungsgerichte in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten mit dem herkömmlichen positivistischen Erklärungsmuster nicht adäquat zu erklären ist. Nach diesem Erklärungsmuster sollen sich Gerichte ausschließlich nach den normativen Vorgaben der rechtsordnungseigenen Normen richten.22 Aus diesem Grund erscheint es zweitens angemessen, der gemeineuropäischen Rechtsprechungspraxis eine zentrale Rolle bei der Entwicklung rechtsordnungsübergreifender Normen einzuräumen.23 Denn in Abwesenheit von Normkollisionsregeln, die das Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen regeln, sind es vor allem Verfassungsgerichte, die sich auf gemeinsame Konfliktlösungsregeln verständigen, die, in eigenen Worten, ein netzwerkinternes Arrangement in Form rechtsordnungsübergreifender Maßstäbe entwickeln. Drittens erscheint das „principle of best fit“ grundsätzlich geeignet, die gerichtliche Entscheidung in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten anzuleiten.24 Denn Entscheidungen im rechtsordnungsübergreifenden Kontext sollten diesen Kontext reflektieren und eine angemessene Lösung vor dem Hintergrund dieses Kontexts finden. Selbst wenn man – im Unterschied zu Kumm – anerkennt, dass Gerichte rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte nach dem „internal point of view“ der eigenen Rechtsordnung, auf Grundlage rechtsordnungseigener Normen lösen, so müssen diese Entscheidungen dennoch den Problemen und Strukturen der vernetzten Weltordnung gerecht werden. Diesen Zusammenhang bringt das „principle of best fit“ treffend zum Ausdruck. Problematisch an Kumms Vorschlag für rechtsordnungsübergreifende Maßstäbe ist jedoch, dass diesem die Balance zwischen Einheitsstiftung und Autonomiebewahrung nicht gelingt. Kumms Ansatz trägt stark monistische Züge, wodurch wesentliche Prämissen pluralistischer Konzeptionen, von der Bewahrung der eigenen Autonomie hin zu der Beibehaltung eines „internal point of view“, zumindest in-

 Ebd., 269 ff.  Diese Einschätzung teilend: Jan Komarek, European Constitutionalism and the European Arrest Warrant: In Search of the Limits of „Contrapunctual Principles“, CML Rev. 44 (2007), 9 (36). 22  Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (278). 23  Ebd., 282. 24  Ebd., 286 ff. 20 21

B. Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Normen in verfassungspluralistischen …

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frage gestellt werden. Wie wir gesehen haben,25 sieht sein universeller Best Fit-­ Konstitutionalismus vor, dass der EuGH und die nationalen Verfassungsgerichte jeweils ihre eigene Rechtsordnung als normativen Anknüpfungspunkt für rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte durch die gemeineuropäische Rechtsprechungspraxis ersetzen. Auf dieser Grundlage entwickelt er vier P ­ rinzipien, welche diese Gerichte nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz auf den Einzelfall anwenden sollten. Grundprinzip ist das sogenannte formale Prinzip der Legalität, welches nationale Gerichte verpflichtet, Unionsrecht anzuwenden.26 Dieses unterliegt jedoch der Einschränkung durch die drei weiteren Prinzipien, die den Vorbehalten nationaler Gerichte gegen den Vorrang des Unionsrechts entsprechen: Grundrechtsschutz, Subsidiarität und demokratische Legitimität.27 Soweit aber die Aufgabe von Gerichten in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen nur darin besteht, diesen einheitlichen materiell-rechtlichen Rahmen anzuwenden, dann stellt sich die Frage, worin der Unterschied besteht zu einem Gericht in einem innerstaatlichen Kontext, das etwa in einem zivilrechtlichen Fall den Grundsatz des pacta sunt servanda mit verbraucherschutzrechtlichen Loslösungsrechten abwägt. Denn bei „einer solchen Abwägung kommt es – und das ist der Clou – nicht darauf an, welcher formalen Rechtsordnung eine Norm angehört […], sondern auf ihre materielle (inhaltliche) Bedeutung“.28 In beiden Konstellationen, der rechtsordnungseigenen und der rechtsordnungsübergreifenden, geht es dann nur um die Abwägung konkurrierender Prinzipien, die jeweils gewichtige Belange schützen. Insoweit nationale Verfassungsgerichte dem europäischen Unionsrecht die Anwendung in der nationalen Rechtsordnung verweigern, machen sie lediglich von einer der drei zulässigen Ausnahmen vom Grundsatz der Legalität Gebrauch – einen potenziell unauflösbaren Verfassungskonflikt gibt es dann nicht. Diese Konstruktion mag einer Dworkinschen Konstruktion des Rechts als Inte­ grität entsprechen.29 Sie reflektiert allerdings die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte nur unzureichend. Für diese ist gerade kennzeichnend, dass die Gerichte einer Rechtsordnung ihr Verhältnis zu Institutionen anderer Rechtsordnungen aus der Perspektive und aufgrund der internen Logik ihrer Rechtsordnung heraus gestalten. Im Unterschied zu innerstaatlichen Streitigkeiten lassen sich rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte nicht einfach auf die Abwägung divergierender Prinzipien nach den rechtsordnungseigenen Normkollisionsregeln reduzieren, weil es die für die einheitlich-­hierarchisierte Rechtsordnung des Nationalstaats prägenden Merkmale wie Stufenordnungen, Rechtshierarchien und Einheitlichkeit in einer pluralistischen Weltordnung mit differenten Rechtsordnungen nicht gibt. Bei rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten spielen systemische und strukturelle Fakto Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 2.  Ebd., 299. 27  Ebd., 299 f. Dazu näher unten Dritter Teil, Kap. 17, B. 28  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (57). 29  Siehe Ronald Dworkin, Law’s Empire, 1986, 176 ff. 25 26

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

ren, wie etwa die interne Logik der jeweiligen Rechtsordnung oder die netzwerkartige Struktur richterlicher Normbildung, eine signifikante Rolle.30 Kumm aber überspielt diese strukturellen Unterschiede, indem er nationalen Gerichten und dem EuGH ein einheitliches materiell-rechtliches Regelwerk aufstülpt. Dieser Versuch, den Pluralismus der Rechtsordnungen mit dem Prinzip der Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu vereinbaren, verfolgt aber letztlich dasselbe konzeptionelle Anliegen wie die Vertreter des Föderalismus und des Intergouvernementalismus: die Vermeidung potenziell unauflösbarer rechtlicher Konflikte.31 Der Unterschied ist, dass Kumm die Lösung für dieses Anliegen nicht in einem Modell hierarchischer Über- und Unterordnung, sondern auf der Grundlage einer flexiblen Abwägung unterschiedlicher normativer Belange konstruiert. Der maßgebliche Unterschied zwischen Normkonflikten in innerstaatlichen und in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen liegt jedoch darin, dass in letzteren die Möglichkeit rechtlich unauflösbarer Konflikte besteht. Die eigene Rechtsordnung als normativen Anknüpfungspunkt für rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte durch die gemeineuropäische Rechtsprechungspraxis zu ersetzen, ist zudem aus legitimatorischer Sicht problematisch. Die Legitimation von Verfassungsgerichten ist eng verknüpft mit ihrer Bindung an den Verfassungstext: Gerichte leiten ihre Legitimität aus den demokratisch legitimierten Normen ihrer Rechtsordnung ab. Das gilt erst recht für Verfassungsgerichte, die gerade errichtet wurden, um die Bestimmungen der Verfassung ihrer Rechtsordnung auszulegen. Die Costituzione della Repubblica Italiana ist für den italienischen Verfassungsgerichtshof, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland für das Bundesverfassungsgericht und die Europäischen Verträge für den EuGH ein „heiliger“ Verfassungstext. Die am Text dieser Dokumente orientierte Auslegung ist daher notwendige Voraussetzung für die Legitimation dieser Gerichte. Die von den Normen der eigenen Rechtsordnung völlig losgelöste gemeineuropäische Rechtsprechungspraxis dagegen wurde noch durch keinen Legitimationsakt abgesegnet und an ihr hat bislang keine andere Institution als die Judikative mitgewirkt. Wenn Kumm von Gerichten verlangt, die durch rechtsordnungseigenes Recht zur Auslegung und Anwendung rechtsordnungseigener Normen eingesetzt wurden, die in gewisser Weise die Personifizierung dieser Rechtsordnung darstellen, außerhalb dieser Rechtsordnung zu treten, zu sagen, dass sie sich in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen nicht an den rechtsordnungseigenen Normen, sondern an der gemeineuropäischen Rechtsprechungspraxis orientieren, dann trägt er der Rolle der jeweiligen Rechtskultur und des Rechtssystems für die Operationsweise des Rechts

 Diesen Unterschied bringt Letsas auf den Punkt: „It is one thing to say that there may be conflicts between two rules contained in the same statute and a whole different thing to say that there are normative conflicts about which source of law is supreme and who is the ultimate guardian of constitutionality within a legal system. Such conflicts run at the deepest level of our pre-theoretical understanding of law and shake widely held intuitions about the nature of law and the role of judges. George Letsas, Harmonic Law: The Case Against Pluralism, in: Julie Dickson/Pavlos Eleftheriadis (Hrsg.), Philosophical Foundations of EU Law, 2012, 77 (92). 31  Dazu bereits oben Erster Teil, Kap. 3, A., II. 30

B. Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Normen in verfassungspluralistischen …

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nicht hinreichend Rechnung.32 Diese gewachsenen Traditionen konstituieren die Infrastruktur, in denen sich die richterlichen Entscheidungen bewegen.33 Das bedeutet umgekehrt nicht, dass die Gerichte den Kontext und den sozialen Problembezug außer Acht lassen und das Recht allein aus dem Gesetzestext heraus ableiten und weiterentwickeln könnten und sollten. Nur folgt daraus noch nicht, dass nationale Verfassungsgerichte die Normen der nationalen Rechtsordnung zugunsten einer gemeineuropäischen Rechtsprechungspraxis außer Betracht lassen sollten. Was Kumm damit von den Gerichten fordert, ist nichts Geringeres als eine judizielle Revolution.34 Kumm verteidigt seinen Ansatz mit dem deskriptiven Argument, dass die Rechtsprechungspraxis in der Substanz bereits seinem Vorschlag entspreche. So falle die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in Europa „intergrationsfreundlicher“ aus, als es die anwendbaren Vorschriften der nationalen Rechtsordnung suggerierten.35 Der gegenwärtige konzeptionelle Rahmen – die ausschließliche Orientierung an den Bestimmungen der nationalen Rechtsordnung – verschleiere jedoch die tatsächlichen Rahmenbedingungen der richterlichen Entscheidungspraxis.36 Zur Herstellung konzeptioneller Klarheit sollen Kumm zufolge nationale Verfassungsgerichte und der EuGH offen die Rechtsprechungspraxis artikulieren, der sie ohnehin schon folgen, nämlich die einheitliche Anwendung der vier gemeineuropäischen Prinzipien der Legalität, des Grundrechtsschutzes, der Subsidiarität und der demokratischen Legitimität.37 Zwar hat Kumm recht mit der Beobachtung, dass sich die tatsächliche Rechtsprechungspraxis nationaler Verfassungsgerichte nicht schlüssig allein oder auch nur maßgeblich auf der Grundlage nationaler Verfassungsvorschriften erklären lässt. Daraus folgt aber im Umkehrschluss nicht, dass sich Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten überhaupt nicht an den Normen der eigenen Rechtsordnung orientieren. Die gerichtlichen Urteilsbegründungen suggerieren vielmehr, dass die Gerichte sich eingehend mit den einschlägigen verfassungsrechtlichen Normen und Prinzipien ihrer Rechtsordnung beschäftigen und der rechtsordnungseigenen Logik verpflichtet sind.38  Theodor Schilling, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Some Supplementations to Mattias Kumm, ELJ 12 (2006), 173 (178). 33  Siehe Aharon Barak, The Judge in a Democracy, 2006, 114 f. Vgl. auch Lon Fuller, Anatomy of the Law (1968), 94: „The rules applied to the decision of individual controversies cannot simply be isolated exercises of judicial wisdom. They must be brought into, and maintained in, some systematic interrelationship; they must display some coherent internal structure.“; Ronald Dworkin, Law’s Empire, 1986, 87: „Judges normally recognize a duty to continue rather than discard the practice they have joined.“ 34  Jan Komarek, European Constitutionalism and the European Arrest Warrant: In Search of the Limits of „Contrapunctual Principles“, CML Rev. 44 (2007), 9 (36); Theodor Schilling, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Some Supplementations to Mattias Kumm, ELJ 12 (2006), 173 (174). 35  Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (269). 36  Ebd., 278. 37  Ebd., 305 f. 38  So auch Theodor Schilling, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Some Supplementations to Mattias Kumm, ELJ 12 (2006), 173 (183). 32

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

Kumms Vorschlag, die nationale Rechtsordnung als normativen Referenzpunkt für rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte durch die gemeineuropäische Rechtsprechungspraxis zu ersetzen, steht damit in einer gewissen Spannung zu seinem erklärten Anspruch, die Rechtsprechungspraxis deskriptiv akkurat zu rekonstruieren.

III. Maduros Ansatz Maduros Konzeption des diskursiv-harmonischen Verfassungspluralismus hat viele Parallelen zu Kumms universellem Best Fit-Konstitutionalismus, sie unterscheidet sich allerdings auch in wesentlichen Punkten. Wie wir bereits gesehen haben,39 besteht Maduro zufolge ebenso wie nach Kumm – aber anders als bei Walker – ein Bedürfnis nach rechtsordnungsübergreifenden Maßstäben für ein harmonisches Miteinander der unterschiedlichen Rechtsordnungen. Im Unterschied zu Kumm zielt Maduros Konzeption des Verfassungspluralismus aber nicht darauf ab, ein einheitliches materiell-rechtliches Regelwerk für die Gerichte der europäischen und der nationalen Rechtsordnungen zu entwickeln. Vielmehr unterscheidet Maduro zwischen dem Erfordernis gemeinsamer rechtsordnungsübergreifender Maßstäbe, die auf einer Meta-Ebene lokalisiert sind einerseits, und der Gewährung einer gewissen Autonomie für die Rechtsordnungen andererseits, die auf ihre eigene Dogmatik zurückgreifen und eigene Perspektiven zu rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten herausbilden können. Jedes Rechtssystem könne eine eigene Perspektive zu den Bezugs- und Kollisionspunkten mit dem anderen System entwickeln. Nicht erforderlich sei dafür, dass die Hermeneutik der europäischen und der nationalen Rechtsordnung auf denselben Grundnormen beruhe.40 Diese Konstruktion ist Kumms einheitlichem materiell-rechtlichem Regelwerk vorzuziehen, denn die Lokalisierung dieser Maßstäbe auf einer Meta-Ebene ermöglicht die Rückbindung an die Legitimations- und Interpretationsmechanismen des eigenen Rechtssystems, ohne auf rechtsordnungsübergreifende Koordinationslösungen zu verzichten. Sie enthält auch eine deutliche prozedurale Komponente, die bei Kumm fehlt: Es geht nicht in erster Linie darum, Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen auf die Einhaltung bestimmter materiell-­ rechtlicher Prinzipien zu verpflichten, sondern es sollen Verfahren und Mechanismen entwickelt werden, die Konflikte zwischen den Rechtsordnungen reduzieren und die den Dialog und die Berücksichtigung gegenseitiger Interessen fördern.41 Maduro entwickelt vier diskursiv-harmonische Meta-Prinzipien oder „Stimmführungsregeln“, die insbesondere Anforderungen an die Art und Weise des Diskurses und der Urteilsbegründung in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhän Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (524). 40  Ebd., 525. 41  Ebd., 533. 39

B. Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende Normen in verfassungspluralistischen …

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gen aufstellen.42 Zum Ersten müsse nach dem Grundsatz des Pluralismus „jede Rechtsordnung (nationale wie auch europäische) die anderen Rechtsordnungen respektieren […], d. h. die eigene Identität darf nicht in der Art vorangestellt werden, dass dadurch entweder die Identität der anderen Rechtsordnungen oder die ­pluralistische Konzeption der europäischen Rechtsordnung selbst infrage gestellt wird“.43 Folglich müsse „eine Rechtsordnung“ eine Änderung von Rechtsbestimmungen, die auch Teil der europäischen Rechtsordnung sind, dergestalt vornehmen, dass sich die anderen Rechtsordnungen darauf einstellen können.44 Zum Zweiten müssten die Akteure ihre Entscheidungen nach dem Grundsatz der „Konsistenz und vertikale [n] und horizontale [n] Kohärenz“ dergestalt treffen und begründen, „dass sie mit den vorhergehenden Entscheidungen der anderen Teilnehmer übereinstimmen und auf diesem Weg die Kohärenz der Rechtsordnung sicherstellen“.45 Eine Einigung auf eine gemeinsame Doktrin des Verhältnisses der Rechtsordnungen sei dafür allerdings nicht erforderlich, sondern es genüge, gegenläufige Ansprüche auf der Grundlage diskursiver Mindestanforderungen zu lösen.46 Ein wichtiger Beitrag zur Schaffung einer kohärenten Rechtsordnung würde darin bestehen, „dass der judizielle Dialog nicht nur zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof Platz greift, sondern auch zwischen den einzelnen nationalen Gerichten“.47 Zum Dritten sollte jedes Gericht, national wie europäisch, nach dem Grundsatz der Universalität „seine Entscheidungen im Kontext einer kohärenten und integrierten europäischen Rechtsordnung […] begründen“, um die „Universalität sämtlicher nationaler Entscheidungen zum EU-Recht“ zu gewährleisten.48 Letztens sollten Gerichte nach dem Grundsatz der institutionellen Sensibilität ein Verständnis für ihre jeweiligen institutionellen „Stärken und Schwächen“ entwickeln, ein Bewusstsein dafür herausbilden, „dass sie nicht konkurrenzlos sind, sondern neben ihnen noch diverse weitere Institutionen zur Auswahl stehen“, und sich „einer adäquaten vergleichenden institutionellen Analyse bedienen“.49 Maduros viertes Meta-Prinzip ist eine sinnvolle Maßgabe für das Handeln von Verfassungsgerichten in der vernetzten Weltordnung, denn es lenkt den Blick auf die Frage, welche Rolle Verfassungsgerichte bei der Koordination der unterschiedlichen Rechtsordnungen einnehmen sollen. Auch Maduros erstes Meta-Prinzip, nach dem Rechtsordnungen gegenseitig ihre Identität akzeptieren sollen, ist essen Ebd., 524  ff. sowie Miguel Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus, EuR 2007, 3 (22 ff.). 43  Ebd., 24. 44  Ebd., 24. 45  Ebd., 25. 46  Miguel Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 501 (527): „[C]oherence of the legal system does not require a single and generalized theory of the law“. 47  Miguel Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus, EuR 2007, 3 (26). 48  Ebd., 27. 49  Ebd., 27. 42

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

ziell für eine pluralistisch-heterarchische Konfiguration. Denn wenn differente In­ stitutionen verschiedener Rechtsordnungen unterschiedliche Gemeinwohlaufgaben in gleichberechtigter Weise erfüllen sollen, dann sollten diese Institutionen ihre jeweiligen Tätigkeiten und Aufgabenfelder respektieren. Dieses Meta-Prinzip gleicht Walkers Vorgabe, den konstitutionellen Charakter fremder Rechtsordnungen anzuerkennen.50 Es geht aber darüber hinaus, insoweit Maduro anmerkt, dass die ­Institutionen einer Rechtsordnung ihre Identität nicht in einer Weise bekräftigen sollten, welche die Identität der anderen Rechtsordnung beeinträchtige oder das pluralistische Verhältnis der Rechtsordnungen infrage stelle. Auf den ersten Blick erscheint dieses Kriterium plausibel, es stellt sich aber die Frage, wo die Grenze liegt zwischen der Bekräftigung der eigenen Identität und dem Anzweifeln einer fremden Identität.51 Das zweite und das dritte Meta-Prinzip Maduros lassen sich als Universalisierbarkeitsanforderung zusammenfassen. Maduro fordert, dass nationale Verfassungsgerichte im europäischen Kontext einen Beitrag zur Schaffung einer kohärenten Rechtsordnung leisten und ihre Urteile auf der Grundlage der kohärenten und integrierten europäischen Rechtsordnung begründen und rechtfertigen. Unklar bleibt, inwieweit diese Anforderung mit der pluralistischen Prämisse vereinbar ist, dass jede Rechtsordnung das Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen nach dem „internal point of view“, auf Grundlage rechtsordnungseigener Kriterien gestalten kann. Jedenfalls besteht zwischen der Beibehaltung einer internen Perspektive und der Forderung nach Universalisierbarkeit der eigenen Urteile eine gewisse Spannung. Worauf die ersten drei Meta-Prinzipien Maduros scheinbar hinauslaufen ist, dass sich Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen bewusst machen, dass ihre Rechtsordnung nur ein Teil, nur ein „Planet im Universum“ der vernetzten Weltordnung ist. Zwar erlaubt die pluralistisch-heterarchische Konfiguration den Gerichten, eine rechtsordnungsspezifische Sichtweise auf diese vernetzte Weltordnung einzunehmen, dennoch müssen ihre Entscheidungen darauf ausgerichtet sein, sich in diese größeren Zusammenhänge einzupassen. Das heißt auch, dass sie die Tätigkeit rechtsordnungsfremder Institutionen respektieren müssen. Daraus folgt jedoch noch keine Universalisierbarkeitsanforderung in dem Sinne, dass das Urteil genauso auch von einem rechtsordnungsfremden Gericht geschrieben worden sein könnte.  Zu dieser Vorgabe: Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 3.  Wenn etwa der EuGH in Internationale Handelsgesellschaft entscheidet, EuGH, Urt. v. 17.12.1970, Rs. C-11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, ECLI:EU:C:1970:114, dass selbst das sekundäre Unionsrecht uneingeschränkt Vorrang vor sämtlichen mitgliedstaatlichen Verfassungsvorschriften hat, dann scheint er einerseits die Identität der nationalen Rechtsordnungen nicht zu respektieren, deren grundlegende Prinzipien in der Verfassung niedergelegt sind; andererseits lässt sich argumentieren, dass vor dem Hintergrund der prekären Legitimität der Europäischen Union, speziell in den 1970er-Jahren, die kompromisslose Forderung nach einer ein­ heitlichen Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften zur Regelung des europäischen Binnenmarktes in allen Mitgliedstaaten zum Selbstverständnis der Unionsrechtsordnung gehört. Zum Ganzen: Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 2., a., aa.

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C. Eigener Ansatz: Prozedurale Meta-Prinzipien und die Entwicklung …

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 . Eigener Ansatz: Prozedurale Meta-Prinzipien und die C Entwicklung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen Wie lässt sich schlüssig rekonstruieren, dass Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten einerseits in iterativen Interaktionsprozessen gemeinsame Normen für die vernetzte Weltordnung entwickeln, sich aber andererseits auf die eigene Rechtsordnung als maßgeblichen normativen Orientierungspunkt berufen? Welche Gestalt müssen rechtsordnungsübergreifende Normen annehmen, damit sie die Koordination zwischen den Gerichten verschiedener Rechtsordnungen ermöglichen, der netzwerkartigen, dezentralen Struktur richterlicher Normbildung Rechnung tragen und den Gerichten genügend Raum für die Berücksichtigung der rechtsordnungseigenen Logik und Tradition lassen? Die verfassungspluralistischen Ansätze Kumms und Maduros unterbreiten jeweils vielversprechende Vorschläge für rechtsordnungsübergreifende gerichtliche Normen. Kumm entwickelt materiell-rechtliche Prinzipien, die dem europäischen Rechtsprechungsdialog zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten entnommen sind. Maduro schlägt diskursiv-prozedurale Meta-Prinzipien vor, die auf die Art und Weise der gegenseitigen Auseinandersetzung von Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen abstellen. Beide Ansätze schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können sinnvoll verbunden werden. Einerseits bedarf ein pluralistisch-heterarchisches Arrangement wie die vernetzte Weltordnung bestimmter diskursiv-prozeduraler Mindestanforderungen, die die Institutionen verschiedener Rechtsordnungen bei der Koordination konkurrierender ­Belange berücksichtigen. Andererseits lassen Diskursregeln zentrale Fragen unbeantwortet, wie die nach dem Ob bzw. der Reichweite des Vorrangs inter- oder supranationalen Rechts vor nationalem Recht im Fall einer Normkollision. Es besteht daher auch ein Bedürfnis nach materiellen Regeln über das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, einerseits rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen (II.) und andererseits  – in Ergänzung  – prozedurale Meta-Prinzipien (I.) zu konzipieren. Erstere weisen eine gewisse Nähe zu Kumms Prinzipien auf, letztere orientieren sich an Maduros Ansatz. Die prozeduralen Meta-Prinzipien sind Diskurs- und Reflexionsanforderungen, die aus der pluralistisch-­heterarchischen Struktur der vernetzten Weltordnung folgen. Hintergrundnormen sind materielle Entscheidungsmaßstäbe, die sich aus der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion herausbilden.

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I . Die prozeduralen Meta-Prinzipien der holistischen und der institutionellen Reflexion In Anknüpfung an Maduro werden die Meta-Prinzipien der holistischen und der institutionellen Reflexion unterschieden. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde: Die pluralistisch-heterarchische Konfiguration der vernetzten Weltordnung zeichnet sich dadurch aus, dass differente Institutionen verschiedener Rechtsordnungen zwar unterschiedliche, entweder nach territorialen, funktionalen oder sektoralen Gesichtspunkten verteilte, aber auch überlappende Gemeinwohlaufgaben erfüllen. Denn die Entscheidungen aller dieser Institutionen zielen letztlich – unmittelbar oder mittelbar – auf die Regelung derselben gesellschaftlichen Sachverhalte ab. Da diese Institutionen jeweils verschiedene Rechtsordnungen mit einem spezifischen Blickwinkel auf die Welt repräsentieren, besteht eine der zentralen Herausforderungen in der Koordination der unterschiedlichen Regeln und Perspektiven dieser Institutionen. Bei der Diskussion um rechtsordnungsübergreifende Richternetzwerke in Kap. 6 hat sich gezeigt, dass die Bewältigung dieser Koordinationsherausforderung für Gerichte von besonderer Bedeutung ist, weil unaufgelöste Normkollisionen und divergierende Einzelfallentscheidungen für dasselbe soziale Feld an den gerichtlichen Legitimitätsgrundlagen rühren.52 Dementsprechend argumentiert Jenny Martinez, dass die Gerichte in dem aus ihrer Sicht entstehenden „international judicial system“ sich schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse einem „system-­protective reasoning and dialogue“ bedienen53 und die Folgen ihrer Entscheidungen für dieses „international judicial system“ berücksichtigen sollten.54 Kooperation ist folglich im gemeinsamen Interesse, kann aber nur dann gelingen, wenn sich die Gerichte – zum einen – bewusst machen, dass ihre Rechtsordnung nur ein „Planet im Universum“ der vernetzten Weltordnung ist, dass sie ihre Urteile daher auf die Eigenart und Struktur dieser vernetzten Weltordnung ausrichten sollten. Bei der Begründung des Erfordernisses einer konstitutionalistischen Governance-­ Perspektive für die vernetzte Weltordnung wurde dargelegt, dass Verfassungsgerichte auch eine „Weltsicht der Weltinnenpolitik“ einnehmen und die Perspektive anderer in ihre einbeziehen sollten.55 Dieses Erfordernis lässt sich als Meta-Prinzip der holistischen Reflexion bezeichnen.56 Zum anderen müssen Gerichte auch die Grenzen judizieller Prozesse und ihrer eigenen Legitimität reflektieren. Aus einer konstitutionalistischen Governance-Perspektive sollten nationale Verfassungsge Oben Erster Teil, Kap. 6, A., II.  Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (448). 54  Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (528). 55  Oben Erster Teil, Kap. 5, A. 56  Diese Form der holistischen Reflexion kommt etwa in der folgenden Aussage des US Supreme Courts zum Ausdruck: „We cannot have trade and commerce in world markets and international waters exclusively on our terms, governed by our laws, and resolved in our courts“. Siehe US Supreme Court, Urt. v. 12.06.1972  – The Bremen v. Zapata Off-Shore Company, 407 U.S. 1, 8 f. (1972). 52 53

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richte sich als Akteure in der vernetzten Weltordnung und damit als aktive Teilnehmer in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken wahrnehmen.57 Dieses Erfordernis, das Maduros Forderung nach institutioneller Sensibilität widerspiegelt, lässt sich als Meta-Prinzip der institutionellen Reflexion beschreiben. Wenn in der gewaltenteilig organisierten innerstaatlichen Verfassungsordnung Legitimität durch die Erfüllung gewaltenteiliger Funktionszuweisungen vermittelt wird,58 verlangt das Meta-Prinzip der institutionellen Reflexion von Verfassungsgerichten, ihre Rolle im Kontext der vernetzten Weltordnung zu reflektieren und zu definieren.

II. Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen Von diesen diskursiv-prozeduralen Meta-Prinzipien ist die an Kumms materiell-­ rechtlichen Prinzipien orientierte, sich von diesen aber konzeptionell abgrenzende Idee rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen zu unterscheiden. Kumm legt überzeugend dar, dass Gerichte in einem rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungsdialog gemeinsame Prinzipien und Grundsätze für rechtsordnungsübergreifende Zusammenhänge entwickeln. Allerdings überzeugt an Kumms Ansatz nicht, dass Verfassungsgerichte die eigene Rechtsordnung als normativen Anknüpfungspunkt durch die gemeineuropäische Rechtsprechungspraxis ersetzen sollen.59 Damit überspielt er nicht nur wesentliche systemische und strukturelle Faktoren in einem pluralistisch-heterarchischem Arrangement, sondern er vernachlässigt auch bestimmte Aspekte der Operationsweise und der Legitimationsstrukturen des Rechts.60 Ein Ausweg aus diesem Dilemma liegt darin, Normen zu konzipieren, die die rechtsordnungseigenen Verfassungsvorschriften nicht ersetzen, sondern ergänzen. In diesem Zusammenhang lässt sich in Anknüpfung an Cass Sunstein die Idee von „background norms“ oder Hintergrundnormen61 fruchtbar machen (1.),62 die im Kontext der vernetzten Weltordnung zu rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen weiterentwickelt werden sollen (2.). Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen ermöglichen es Verfassungsgerichten, ihre am Text rechtsordnungseigener Verfassungsnormen orientierte Rechtsprechungspraxis ­ beizubehalten. Soweit sich allerdings aus den herkömmlichen Interpretationsme Oben Erster Teil, Kap. 5, A.  Dazu grundlegend Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008. 59  Oben Erster Teil, Kap. 8., B., II. 60  Oben Erster Teil, Kap. 8., B., II. 61  Den Begriff der Hintergrundnorm im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung verwendend: Christoph Möllers, Dogmatik der grundgesetzlichen Gewaltengliederung, AöR 132 (2007), 493 (495). 62  Ein Unterschied zwischen Sunsteins und der vorliegenden Konzeption von Hintergrundnormen besteht freilich darin, dass sich erstere auf einen nationalen, letztere auf einen rechtsordnungsübergreifenden Kontext bezieht. 57 58

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

thoden des rechtsordnungseigenen Auslegungskanons kein eindeutiges Ergebnis ableiten lässt, müssen die Gerichte sich ergänzend an rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen orientieren (3.). 1. Sunsteins Konzeption von Hintergrundnormen Sunstein hat mit Blick auf die civil rights-Revolution für den US-amerikanischen Verwaltungsstaat aus der gerichtlichen Praxis Hintergrundnormen abgeleitet und weiterentwickelt, die sich aus den Vorgaben der Verfassung, dem institutionellen Arrangement, den Funktionen des modernen Verwaltungsstaats und den Erfahrungen mit gescheiterten Verwaltungsmaßnahmen ergeben.63 Beispiele für solche Hintergrundnormen sind nach Sunstein die Auslegungsmaximen, dass politisch nicht rechenschaftspflichtige Akteure keine wichtigen Entscheidungen treffen dürfen, dass obsolete Gesetze an den Wandel des Umfelds angepasst werden müssen, und dass prozedurale Einschränkungen materieller Rechte eng ausgelegt werden.64 Diese Hintergrundnormen entspringen ersichtlich übergeordneten Gesichtspunkten, die sich einerseits aus verfassungsrechtlichen Belangen, andererseits aus den relevanten Strukturen und Prozessen des US-amerikanischen Regierungssystems ergeben. Die Erwägungen oder Auslegungsmaximen, die Sunstein als Hintergrundnormen identifiziert, sind folglich keine Erfindung Sunsteins, sondern sie entspringen der gerichtlichen Entscheidungspraxis, auch wenn sie in den Urteilsgründen nicht immer ausdrücklich benannt werden. Sunsteins Beitrag liegt darin, diese übergeordneten Erwägungen als Hintergrundnormen zu konzeptualisieren und ihren Inhalt zu identifizieren. Hintergrundnormen sind zunächst nicht darauf ausgerichtet, als unmittelbar anwendbare Normen zu fungieren. Es handelt sich um eine „etablierte[], institutionell stabilisierte[] Praxis“,65 die  – ihrer Funktionsweise nach einem Rechtsparadigma vergleichbar – auf einer abstrakteren Entscheidungsebene angesiedelt ist.66  Cass Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the regulatory state, 1990, 190.  Ebd., 170  f. Sunstein erkennt dabei an, dass diese Hintergrundnormen miteinander in Widerspruch geraten können und deshalb auch die Entwicklung von Rang- und Konkordanzformeln erforderlich ist. Ebd., 186. 65  Mit diesem – im Zusammenhang mit dem Paradigma verwendeten – Begriff: Klaus Günther, Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral, in: Maximilian Herberger/Ulfrid Neumann/Helmut Rüßmann (Hrsg.), Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft 45 (1992), 36 (64). 66  Cass Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the regulatory state, 1990, 4. Parallelen zu Sunsteins Hintergrundnormen lassen sich in der deutschen Literatur erkennen bei Habermas Konzeption des Rechtsparadigmas und bei Denningers Konzeption von verfassungsrechtlichen Schlüsselbegriffen. Habermas definiert Rechtsparadigmen als „die exemplarischen Auffassungen einer Rechtsgemeinschaft hinsichtlich der Frage, wie das System der Rechte und die Prinzipien des Rechtsstaates im wahrgenommenen Kontext der jeweils gegebenen Gesellschaft verwirklicht werden können“. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 238. Ein Rechtsparadigma reduziere die Komplexität der richterlichen Aufgabe der Auslegung und mache für die Parteien den Ausgang des Verfahrens prognostizierbar. Ebd., 270 f. Als Beispiele für derartige Rechtsparadig63 64

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Sie ­haben keinen positiv-rechtlichen Status, sondern sollen die richterliche Entscheidungsfindung im Hintergrund prägen und anleiten  – es sind eben Hintergrundnormen. Auch die herkömmlichen Auslegungskanons, Wortlaut, Systematik, Gesetzesgeschichte, Teleologie, bleiben nach Sunstein anwendbar.67 Denn Hintergrundnormen leiten die Norminterpretation an, geben Gerichten aber keinen Freifahrtschein, den Sinn und Zweck von Verfassungsbestimmungen außer Acht zu lassen.68 Allerdings weist Sunstein zutreffend darauf hin, dass es bei vielen Rechtsstreitigkeiten tatsächlich nicht um die richtige Auslegung des Verfassungs- oder Gesetzestexts geht, sondern um den im Hintergrund liegenden, angemessenen Auslegungsgrundsatz.69 Hier müssen Gerichte Sunstein zufolge im Rahmen von

men nennt Habermas das liberale Rechtsparadigma, also das in Deutschland bis zur Entfaltung des Wohlfahrtsstaates herrschende formale Verständnis der Normen des Bürgerlichen Rechts, und das sozialstaatliche Rechtsparadigma, das nach einer materialisierten Verwirklichung von Vertragsfreiheit und Verbraucherschutz strebt. Nach Habermas Verständnis sind Rechtsparadigmen also Gesellschaftsvisionen, welche das Verständnis und die Auslegung von Rechtsnormen prägen und die latente Unbestimmtheit von Rechtsnormen reduzieren. Sie sind unproblematisches Hintergrundwissen. Schlüsselbegriffe dagegen sind Denninger zufolge verfassungsrechtliche Argumentationsfiguren wie die Grundsätze der Einheit der Verfassung, der Wechselwirkung, der Verhältnismäßigkeit, der Wesentlichkeit, der Bundestreue und der streitbaren Demokratie, die sich dadurch auszeichnen, dass sie weder eine ausdrückliche Stütze im Wortlaut des Grundgesetzes finden noch für sich genommen streitentscheidend sein können. Erhard Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: ders. (Hrsg.), Der gebändigte Leviathan, 1990, 158 (162). Der Schlüsselbegriff gäbe zwar eine „Tendenz zur Berücksichtigung bestimmter Strukturen bei einer Werteabwägung“ vor, die Entscheidung im Einzelfall lasse sich jedoch „nicht in eindeutiger Weise aus dem Prinzip des Schlüsselbegriffes selbst […] sondern nur unter Einbeziehung einer ganzen Reihe weiterer normativer Vorgaben“ erschließen. Ebd., 172. Nach Denninger haben Schlüsselbegriffe eine Erschließungs- und Verweisungsfunktion. Sie erschließen einerseits eine neue abstraktere Argumentationsebene in einem Rechtsstreit, andererseits verweisen sie auf eine von der Verfassung geschützte Struktur (die Grundsätze der Bundestreue und der streitbaren Demokratie sind Beispiele hierfür) und speisen einen neuen Wertegesichtspunkt in die Auseinandersetzung divergierender Rechtspositionen ein. Die Funktion von Schlüsselbegriffen bestehe also darin, „die starren Fronten in einer Kollision zwischen formal unbezweifelbar behaupteten Rechtspositionen erst einmal aufzulösen, sie zu ‚verflüssigen‘, um auf diese Weise zunächst einmal den notwendigen Spielraum für die Einführung neuer wertender und streitentscheidender Gesichtspunkte zu schaffen“. Ebd., 168. Es bestehen allerdings auch wichtige Unterschiede zwischen Sunsteins Hintergrundnormen einerseits und Habermas Rechtsparadigmen sowie Denningers Schlüsselbegriffen andererseits. Im Unterschied zu Habermas Verständnis von Rechtsparadigmen als Gesellschaftsvisionen, sind Sunsteins Hintergrundnormen konkretisierte Anleitungen zur Auslegung bestimmter generalisierter Situationsbeschreibungen, mögen sie auch Ausfluss einer bestimmten Ge­ sellschaftsvision sein. Ähnlich wie Denningers Schlüsselbegriffe geben sie eine Tendenz zur Berücksichtigung bestimmter Strukturen im Rahmen einer Werteabwägung vor, ohne eine bestimmte Entscheidung im Einzelfall zu treffen. Sie erschließen eine neue, abstraktere Argumentationsebene und verweisen auf einen neuen Wertegesichtspunkt im Widerstreit konfligierender Rechtspositionen. Doch im Unterschied zu den Grundsätzen der Bundestreue oder der Verhältnismäßigkeit, die aus dem Text der Verfassung herausgelesen werden, haben Sunsteins Hintergrundnormen nicht den Rang eines positiv-rechtlichen Verfassungsprinzips. 67  Cass Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the regulatory state, 1990, 186. 68  Ebd., 161. 69  Ebd., 5.

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

Auslegung unvermeidlich auf Hintergrundnormen zurückgreifen, die nicht auf einen Gesetzesakt oder die herkömmlichen Auslegungskanons zurückgeführt werden können. 2. Was sind rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen? Im Zusammenhang mit den Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung wurde dargelegt,70 wie sich die Vielzahl individueller, aufeinander bezogener Gerichtsentscheidungen verschiedener Gerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen zu rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen verdichten kann. Was aber genau sind rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen? Gerichtsurteile in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen entscheiden, wie gezeigt,71 regelmäßig nicht nur den anhängigen Fall auf der Grundlage rechtsordnungseigener Normen und Auslegungsmethoden. Sie leisten auch einen vom konkreten Sachproblem unabhängigen Beitrag zu einem rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialog mit dem Ziel, gemeinsame Regeln und Bausteine für die im Entstehen begriffene vernetzte Weltordnung zu entwickeln. Durch die aufeinander bezogene Rechtsprechung verschiedener Verfassungsgerichte bildet sich ein auf die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung zugeschnittenes, rechtsordnungsübergreifendes Richterrecht heraus. Verfassungsgerichte eta­ blieren durch iterative rechtsordnungsübergreifende Interaktion eine institutionell stabilisierte Praxis, die sich als die Herausbildung von Hintergrundnormen konzipieren lässt.72 Ein Beispiel: Wenn wir uns exemplarisch die Rechtsprechung des EuGH und nationaler Verfassungsgerichte zum Vorrang des Unionsrechts und seiner Grenzen vor Augen führen, dann ist kennzeichnend, dass die von den Gerichten jeweils formulierten Maximalpositionen für sich genommen nicht die tatsächliche rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis widerspiegeln. Was die rechts­ ordnungsübergreifende Rechtslage ist, erschließt sich weder aus den Urteilen des EuGH noch aus den Entscheidungen des BVerfG, sondern erst aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Rechtsprechungen. Karen Alter beschreibt die lose Vereinbarung zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten zur Vorrangfrage treffend als „negotiated compromise“,73 den europäische und nationale Richter im Ringen um die „richtige“ Interpretation des ­europäischen und des nationalen Rechts aushandeln.74 Allerdings führen diese  Oben Erster Teil, Kap. 7.  Oben Erster Teil, Kap. 6, E. 72  Der dezentrale Normbildungsprozess weist gewisse Parallelen zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht auf. Allerdings konstituieren Hintergrundnormen kein positives Recht. Das macht ihren Bedeutungsgehalt im Vergleich mit völkergewohnheitsrechtlichen Normen weniger greifbar. Dazu Claus Richter, Aspekte der universellen Geltung der Menschenrechte und der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht, 2007. 73  Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 38. 74  Ebd., 38. 70 71

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rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskompromisse nicht dazu, dass sich die Rechtsauffassungen der Gerichte bis hin zu Deckungsgleichheit synchronisieren: Die Reichweite des Vorrangs des Unionsrechts oder die konkrete Ausgestaltung nationaler Vorbehalte können von mitgliedstaatlicher Rechtsordnung zu Rechtsordnung variieren, in Abhängigkeit von rechtsordnungseigenen Rechtstraditionen und -methoden. Auf einer abstrakteren Ebene verdichten sich die unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu einer Hintergrundnorm. Welche Rechtsprechungskompromisse sich dabei konkret als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen darstellen könnten, soll im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse im vierten Teil he­ rausgearbeitet werden.75 Diese richterlich ausgehandelten Hintergrundnormen bilden den normativen Bezugsrahmen für richterliches Entscheiden in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen. Im pluralistisch-heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung, in der die Koordination der unterschiedlichen Belange der verschiedenen Rechtsordnungen eine zentrale richterliche Herausforderung darstellt, lässt sich aus normativen Erwägungen eine verfassungsgerichtliche Verpflichtung herleiten, sich am Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen zu beteiligen und bestehende Hintergrundnormen, soweit wie mit dem rechtsordnungseigenen positiven Recht und der rechtsordnungseigenen juristischen Methodik vereinbar, zu beachten. Hintergrundnormen bilden einen dynamischen, von Verfassungsgerichten entwickelten materiellen Normbestand, an dem Verfassungsgerichte ihre Entscheidungen in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen ausrichten sollten. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft besteht in diesem Zusammenhang vor allem darin, die in den Entscheidungsgründen oft nicht explizit benannten Hintergrundnormen in ihren rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen zu identifizieren, zu überprüfen und weiterzuentwickeln, damit diese mit den Prinzipien des Konstitutionalismus und dem bestehenden pluralistisch-heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung im Einklang stehen.76 Damit legt die Rechtswissenschaft die treibenden Kräfte im Entscheidungsprozess offen, fördert Aufrichtigkeit und Klarheit und stellt Richtern einen klaren und strukturierten Rahmen für ihre Entscheidung zur Verfügung.77  Unten Dritter Teil.  Vgl. Cass Sunstein, After the Rights Revolution. Reconceiving the regulatory state, 1990, 5. 77  Ebd., 158 f. Die hier entwickelte Konzeption von Hintergrundnormen lässt sich möglicherweise auch für ein Anliegen der systemtheoretischen Rechtswissenschaft fruchtbar machen, eine adäquate Rollenverteilung zwischen Dogmatik und Soziologie zu entwickeln. Mit diesem Ziel fordert Ladeur die Entwicklung einer flexiblen „Meta-Dogmatik“, die „ein produktives, auf Lernen angelegtes Experimentieren mit neuen Problemlösungen ermöglicht“, Kar-Heinz Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels, RabelsZ 64 (2000), 60 (102), und Teubner entwickelt das Modell einer responsiven Dogmatik, die kognitive, lernfähige Elemente in ihre normativen Strukturen einbaut. Gunther Teubner, Folgenkontrolle und responsive Dogmatik, Rechtstheorie 6 (1975), 179 (200 f.) Dafür müsse die Dogmatik sozialwissenschaftliche Analysen gesellschaftlicher Teilsysteme rezipieren und in spezifisch dogmatische Modelle einbauen. Ebd., 201. Teubner unterscheidet drei Schnittpunkte, an 75 76

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3 . Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen und rechtsordnungseigene Rechtstraditionen Mit der Konzeption rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen kann man erklären, wie Verfassungsgerichte in ihren Urteilen einerseits durch gegenseitiges Bezugnehmen und Elaborieren rechtsordnungsübergreifende Normen entwickeln und andererseits den Spezifika der rechtsordnungseigenen Rechtskultur gerecht werden. Denn Hintergrundnormen ermöglichen den Verfassungsgerichten einerseits die legitimatorisch bedeutsame Rückkoppelung an rechtsordnungseigene Normen und Rechtstraditionen, andererseits die Koordination ihrer Rechtsprechungen zur Vermeidung von rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten. Damit lassen sich auch einige der zentralen Einwände gegen Kumms ansonsten überzeugendes Modell rechtsordnungsübergreifender Normen überwinden,78 insbesondere lässt sich die Idee von Hintergrundnormen sinnvoll mit dem positiven Recht und der juristischen Methodik in Einklang bringen. Zwar werden Hintergrundnormen, wie dargelegt, durch rechtsordnungsübergreifendes Richterrecht zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen entwickelt, sie bilden aber kein bindendes, positives, unmittelbar anwendbares Recht, sondern lassen Raum für den Rückgriff auf rechtsordnungsspezifische Normen und Interpretationsmethoden und leiten die richterliche Entscheidungsfindung nur im Hintergrund an. Das bedeutet auch, dass durch Hintergrundnormen angeleitete gerichtliche Entscheidungen in das rechtsordnungseigene positive Recht eingespeist und übersetzt werden können. Man kann diese Hintergrundnormen damit auch als eine Form rechtsordnungsübergreifender Dogmatik verstehen.79 So kann man deskriptiv der Rechtsprechungspraxis gerecht werden, denn auch wenn Verfassungsgerichte im rechtsordnungsübergreifenden Kontext auf vergleichbare Problemlagen reagieren, die gleichen Bedenken thematisieren und vergleichbare Lösungsmechanismen entwickeln, enthalten die Urteilsbegründungen keine Hinweise darauf, dass die Gedenen sich Dogmatik und Kontext begegnen und miteinander in Einklang gebracht werden könnten: die Kategorienbildung, die soziologische Funktionsanalyse und die Bedingungsanalyse. Ebd., 202. Die soziologische Funktionsanalyse könne für die Dogmatik insoweit einen Beitrag leisten, als sie die „realen gesellschaftlichen Funktionen von Rechtsnormen und -instituten bestimmen (kann), indem sie den intendierten Wirkungen faktische Wirkungen gegenüberstellt, manifeste und latente Funktionen aufzeigt und Funktionswandlungen historisch untersucht“. Ebd., 204. Zum Zweck der Integration der Funktionsanalyse in die Dogmatik, ohne dabei unmittelbar gesellschaftliche Bedürfnisse in Rechtsbegriffe zu übersetzen, plädiert Teubner für die „Zwischenschaltung von rechtssystemeigenen Modellen“, die „Informationen auswählen und selbstständig verarbeiten“. Ebd., 201. Solche Modelle müssten interdisziplinär konstruiert sein und überprüft werden können. Es muss nach Teubner also etwas zwischen die sozialwissenschaftliche Analyse und die fallorientierte Dogmatik geschaltet werden, das einerseits „rechtssystemeigen[]“ und andererseits lernfähig und kognitiv ist. Ebd., 201. Dieses „etwas“ könnten Hintergrundnormen sein, die ihrer Normstruktur nach nicht auf unmittelbare Anwendung ausgerichtet sind, aber in dogmatische Begriffe und Konstruktionen übersetzt werden können. 78  Oben Erster Teil, Kap. 8, B., II. 79  Zum Konzept der Dogmatik aus der Perspektive des öffentlichen Rechts: Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider, Was weiß Dogmatik?, 2012.

C. Eigener Ansatz: Prozedurale Meta-Prinzipien und die Entwicklung …

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richte rechtsordnungseigene Normen und Auslegungskanons außer Acht lassen würden. Im Gegenteil: Wie Verfassungsgerichte ihre Entscheidungen konkret ausgestalten und begründen, ist von Rechtsordnung zu Rechtsordnung unterschiedlich, entsprechend gewachsener Rechtskulturen und -traditionen, entsprechend dem rechtsordnungsspezifischen „internal point of view“, entsprechend der rechtsordnungseigenen Rezeptionsmöglichkeiten. Diesem Umstand trägt die Konzeption rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen Rechnung, die die rechtsordnungsspezifische Norminterpretation anleiten, aber eben nicht ersetzen, die sich zwar in das positive Recht übersetzen lassen, aber selbst nicht auf der unmittelbaren Rechtsanwendungsebene, sondern auf einer Meta-Ebene lokalisiert sind. Im Hintergrund leiten sie die verfassungsgerichtliche Entscheidungsfindung an, ohne die spezifische Rationalität der juristischen Methodik und die mit der Rückanbindung an Normen verbundene Legitimität zu beeinträchtigen. Hintergrundnormen kommen nicht zur Anwendung, soweit sich mit Mitteln der juristischen Methodik ein eindeutiges Ergebnis ermitteln lässt. Auf der Grundlage von H.L.A.  Harts Unterscheidung zwischen dem Begriffskern und dem Bedeutungsvorhof ist das dann der Fall, wenn sich aus der Kernbedeutung der anwendbaren Norm eine bestimmte Lösung ergibt. Mit dieser Unterscheidung lässt sich die Wechselwirkung zwischen der begrenzten juristischen Determinierungsfähigkeit und dem ergänzenden Erfordernis rechtsexterner, outputorientierter Erwägungen im Rahmen der juristischen Interpretationsleistung veranschaulichen.80 Im – durch juristische Methodik81 allein nicht determinierbaren – Bedeutungsvorhof einer Norm müssen Richter oft unvermeidlich auf grundsätzlichere Überzeugungen und Hintergründe zurückgreifen. Gerade in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten, die sich typischerweise als hard cases darstellen, wird sich der Sachverhalt regelmäßig im Bedeutungsvorhof der anwendbaren verfassungsrechtlichen Bestimmung bewegen. In solchen Situationen stellt sich dann die Frage, nach welchen Kriterien ein ­Verfassungsgericht entscheiden sollte. Hintergrundnormen können hier als eine Art Vorverständnis bei der richterlichen Entscheidungsfindung im konkreten Fall fun H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1994 (1961), 12. Zwar beruht Harts Konzeption teilweise auf überholten Vorstellungen der Bedeutungsfähigkeit von Normtexten, seine Konzeption lässt sich aber durchaus ergänzen und weiterentwickeln. Insbesondere stellt Hart mit der Wahl des Begriffspaares Kernbedeutung und Bedeutungsvorhof zu sehr auf die Wortbedeutung ab. Normen aber haben keine immanente Bedeutung, ihre Bedeutung ergibt sich erst aus der Praxis einer Interpretationsgemeinschaft. Kritisch Stanley Fish, Force, Wash. & Lee L. Rev. 45 (1988), 883 ff.; siehe auch Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012, 234 ff. Allerdings kann man Hart auch so verstehen, dass sich die Kernbedeutung einer Norm nicht unmittelbar aus dem Text, sondern primär aus einer stabilisierten Interpretationspraxis ableitet, die maßgeblich durch die juristische Methodik bestimmt wird. Siehe mit diesem Verständnis einer stabilisierten Interpretationspraxis – aber ohne Bezugnahme auf Hart – schon: Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 94. 81  Die juristische Methodik soll im Folgenden vereinfacht als Überbegriff für die zu unterscheidenden Rechtstechniken der juristischen Methodenlehre und der Dogmatik verstanden werden. Mit einem weiteren Begriffsverständnis der juristischen Methodik: Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 11. Aufl., 2013. Bydlinski bezeichnet Methodenlehre und Dogmatik „als ‚eigentliche‘ Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz schlechthin“. Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2011, 8. 80

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Kapitel 8: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen für die vernetzte …

gieren.82 Ein solches Verständnis trägt dem Pluralismus der Rechtsordnungen Rechnung, indem es einerseits Raum für den Rückgriff auf rechtsordnungseigene Normen und Methoden lässt, andererseits aber zeigt, wie Verfassungsgerichte in dynamischen Interaktionsprozessen an den Strukturen der vernetzten Weltordnung orientierte, rechtsordnungsübergreifende Maßstäbe in Form von Hintergrundnormen entwickeln.

D. Zusammenfassung Trotz der pluralistisch-heterarchischen Konfiguration bedarf es in der vernetzten Weltordnung rechtsordnungsübergreifender normativer Entscheidungsmaßstäbe, die über rechtsordnungseigene Kriterien hinausreichen. Denn wenn sich die Verfassungsgerichte einer Rechtsordnung in Fragen der Anerkennung des rechtsordnungsfremden Rechts in der eigenen Rechtsordnung nach keinen rechtsord­ nungsexternen Maßstäben richten müssen, können die normativen Vorzüge der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation nicht realisiert werden. Bei der Entwicklung solcher Maßstäbe ist zu berücksichtigen, dass Gerichte ihr Verhältnis zu rechtsordnungsfremden Institutionen aus der Perspektive und aufgrund der internen Logik ihrer eigenen Rechtsordnung heraus gestalten. Denn Gerichte leiten ihre Legitimität aus den demokratisch legitimierten Normen ihrer Rechtsordnung ab. Das Gleichgewicht zwischen der Ermöglichung der rechtsordnungsübergreifenden Koordination einerseits und der Berücksichtigung der rechtsordnungseigenen Logik und Tradition andererseits lässt sich durch die Konstruktion diskursiv-­ prozeduraler Meta-Prinzipien sowie rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen herstellen. Zum einen lassen sich in Anknüpfung an Maduro prozedurale Diskurs- und Reflexionsanforderungen unterscheiden, die Verfassungsgerichte in  rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen beachten sollten. Nach dem Meta-­Prinzip der holistischen Reflexion sollten Verfassungsgerichte sich bewusst machen, dass ihre jeweilige Rechtsordnung nur ein „Planet im Universum“ der vernetzten Weltordnung ist und daher in ihren Urteilen die Perspektive anderer Rechtsordnungen miteinbeziehen. Das Meta-Prinzip der institutionellen Reflexion verlangt von Verfassungsgerichten, dass sie ihre Rolle und Legitimität als judizielle Institution im Kontext der vernetzten Weltordnung reflektieren und definieren. Zum anderen entwickeln Verfassungsgerichte selbst durch iterative Gerichtsinteraktion institutionell stabilisiertes Richterrecht, das sich in Anlehnung an Sunstein als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen konzipieren lässt. Diese rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskompromisse bilden materiell-recht­ liche Bausteine für die im Entstehen begriffene vernetzte Weltordnung, an denen  Vgl. Klaus Günther, Universalistische Normbegründung und Normanwendung in Recht und Moral, in: Maximilian Herberger, / Ulfrid Neumann, / Helmut Rüßmann (Hrsg.), Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, ARSP-Beiheft 45 (1992), 36 (37).

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D. Zusammenfassung

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Verfassungsgerichte ihre Entscheidungen in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen ausrichten sollten. Wie bei der Anknüpfung an vorherige Gerichtsentscheidungen als Autoritätsquelle liegen die normativen Vorzüge der Beachtung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskompromisse darin, dass zentrale Werte des Rechts, wie Gleichheit, Rechtssicherheit, Stabilität und Kohärenz, sowie eine gewisse Demut des Entscheidungsträgers gewährleistet werden. Im pluralistisch-heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung, in der die Koordination der unterschiedlichen Belange der verschiedenen Rechtsordnungen eine zentrale richterliche Herausforderung darstellt, besteht damit eine normativ begründbare Verpflichtung, sich am Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen zu beteiligen und bestehende Hintergrundnormen, soweit wie mit dem rechtsordnungseigenen positiven Recht und der rechtsordnungseigenen juristischen Methodik vereinbar, zu beachten. Auf der Folie dieser Entscheidungsmaßstäbe lassen sich einerseits die anspruchsvollen verfassungsrichterlichen Koordinationsaufgaben bewerkstelligen und der dynamischen, netzwerkartigen, dezentralen Struktur richterlicher Normbildung Rechnung tragen, ohne dabei andererseits die legitimatorisch bedeutsame Rückkoppelung an rechtsordnungseigene Normen und Rechtstraditionen zu vernachlässigen. Denn Hintergrundnormen werden zwar durch rechtsordnungsübergreifendes Richterrecht zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen entwickelt, sie bilden aber kein bindendes, positives, unmittelbar anwendbares Recht, sondern lassen Raum für den Rückgriff auf rechtsordnungsspezifische Normen und Interpretationsmethoden. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft besteht in diesem Zusammenhang vor allem darin, die in den Entscheidungsgründen oft nicht explizit benannten Hintergrundnormen zu identifizieren, zu überprüfen und weiterzuentwickeln, damit diese insbesondere mit den Prinzipien des Konstitutionalismus im Einklang stehen.

Teil II

Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

Der erste Teil zielte darauf ab, eine Konzeption der vernetzten Weltordnung zu entwickeln, die die Strukturen und Prozesse jenseits des Nationalstaats und deren Zusammenwirken mit nationalen Institutionen aus normativer und analytischer Perspektive näher beleuchtet, Einblicke in die Eigenart der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion in einer pluralistisch-heterarchischen Konfiguration verschafft und auf die normativen Belange hinweist, die dabei auf dem Spiel stehen. Auf dieser Grundlage zielt die Arbeit im Zweiten Teil darauf ab, die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung zu entwickeln. Für ein Verfassungsgericht stellt sich die Frage, wie es seine distinktiven institutionellen Eigenschaften mit Blick auf die oben beschriebenen Strukturen und Prozesse jenseits des Nationalstaats einbringen kann. Damit steht eine grundlegende funktionalistische Fragestellung im Zentrum dieser Arbeit: Was leistet ein Akteur wie das Verfassungsgericht in einem globalen sozialen Rahmen wie der vernetzten Weltordnung? Kennzeichnend für den sozialwissenschaftlichen Funktionalismus ist eine holistische Betrachtungsweise: Das funktionalistische Erkenntnisinteresse ist auf die Beziehung von Teilen zum Ganzen, von Institutionen zu einer größeren gesellschaftlichen Bezugseinheit gerichtet. Der Funktionalismus fragt danach, was bestimmte Institutionen, Strukturen und Prozesse für die Gesellschaft leisten.1 Dementsprechend lassen sich Funktionen allgemein definieren als „Leistungen, die ein Akteur als Beitrag zu einem Ganzen erbringt“.2 Indem der Funktionalismus die

 Siehe Jonathan Turner/Alexandra Maryanski, Functionalism, 1979, 130.  So Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014, 15. Nach der klassischen Definition des Funktionsbegriffs, wie sie von Radcliffe-Brown, Merton und Parsons verwendet wurde, ist Funktion jede Leistung, die den Bestand eines sozialen Systems mitbewirkt. Siehe Alfred Radcliffe-Brown, On the Concept of Function in Social Science, Am. Anth. 37 (1935), 394 (395 f.); Talcott Parsons, The Social System, 1951, 20 f.; Robert Merton, Social Theory and Social Structure, 3. Aufl., 1968, 105. 1 2

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Teil II  Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

Bedeutung der Beziehung zwischen verschiedenen sozialen Einheiten betont, impliziert oder ermöglicht er eine spezifisch institutionelle Perspektive.3 Welchen Beitrag kann die funktionale Analyse in einer rechtswissenschaftlichen Abhandlung leisten? Die juristische Methodik stößt an ihre Grenzen, wenn es darum geht, die Bedeutung der Probleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung für die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit zu analysieren. Begriffsbildung, Exegese und Systematisierung der Verfassungsrechtsprechung allein geben keine Auskunft darüber, welche gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge sich hinter dieser Rechtsprechung verbergen. Wenn wir die komplexen Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung und ihre Bedeutung für Verfassungsgerichte besser verstehen wollen, brauchen wir eine Methode, die komplexe soziale Pro­ blemzusammenhänge erfassen und entflechten kann.4 Das ist bei der funktionalen Methode, die auf die „Erschließung des Zugangs zu Sachverhalten von sehr hoher Komplexität“ abzielt,5 der Fall. Indem man die Leistungen einer Institution als Teil eines größeren gesellschaftlichen Rahmens in den Blick nimmt, lassen sich Zusammenhänge zwischen Systemproblemen und verschiedenen Leistungen zur Lösung des Problems in einer Weise aufweisen und auseinanderlegen,6 die mit herkömmlicher rechtswissenschaftlicher Methodik  – schon aufgrund der unterschiedlichen Zweckrichtung – so nicht zu erreichen ist. Insoweit also die Verfassungsgerichtsbarkeit als Untersuchungsgegenstand von ihrem positiv-rechtlichen Auftrag gelöst und auf die vernetzte Weltordnung bezogen wird, können neue, strukturabhängige Problemzusammenhänge erschlossen werden.7 Diese Arbeit beruht auf dem vergleichenden Funktionalismus, den in den Sozialwissenschaften insbesondere der Anthropologe Walter Goldschmidt8 und der 3  Insbesondere in Malinowskis Werk ist die Institution die zentrale strukturelle Kategorie: „No element, trait, custom, or idea is defined or can be defined except by placing it within its relevant and real institutional setting. We are thus insisting that such institutional analysis is not only possible but indispensable. It is maintained here that the institution is the real isolate of cultural analysis.“ Bronislaw Malinowski, A Scientific Theory of Culture and Other Essays, 1944, 54. 4  Felix Cohen, einer der Protagonisten der US-amerikanischen legal realism-Bewegung, rief in einem Aufsatz bereits 1935 zu einem Rückgriff auf funktionalistische Prinzipien in der Rechtswissenschaft auf. Siehe Felix Cohen, Transcendental Nonsense and the Functional Approach, Colum. L. Rev. 6 (1935), 809 (821). Diesen Aufsatz beginnt Cohen mit einer Bezugnahme auf Jherings juristischen Begriffshimmel. Vgl. ebd., 809. Die Idee für den einleitenden Absatz zu dieser Arbeit ist damit Felix Cohen geschuldet. Vgl. Einleitung, A., 1. 5  Niklas Luhmann, funktionaler Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), 1 (11). So auch Hondrich, dem zufolge „das Erfassen einer sozialen Totalität“ durch die Klassifizierung bestimmter funktionaler Bezugspunkte „vorzüglich“ erreicht werden kann. Siehe Karl Otto Hondrich, Systemtheorie als Instrument der Gesellschaftsanalyse, in: Klaus Eder u. a. (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Beiträge zur Habermas-Luhmann-Diskussion, Bd. 1, 1973, 88 (94). 6  Niklas Luhmann, Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964), 1 (1). 7  Niklas Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), 1 (14 f.). Siehe auch Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014, 17. 8  Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism, 1966.

Teil II  Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

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Systemtheoretiker Niklas Luhmann9 entwickelt haben und an den der funktionale Ansatz in der Rechtsvergleichung anknüpft.10 Goldschmidt zufolge ist der treffende Vergleichsmaßstab nicht die Institution, sondern das gesellschaftliche Bedürfnis, auf das die Institution reagiert.11 Damit kombiniert Goldschmidt das Interesse funktionalistischer Ansätze an gesellschaftlichen Bedürfnissen mit der Methode des Vergleichs, indem er den Begriff der Bedürfnisse als Vergleichsmaßstab für Institutionen in verschiedenen Gesellschaften heranzieht. Die Funktion wird so zum Vergleichsmaßstab.12 Diese Idee aufgreifend argumentiert Luhmann, dass die eigentliche Besonderheit der funktionalen Methode darin bestehe, bestimmte soziale Tatbestände miteinander vergleichbar zu machen.13 Sie beziehe Einzelleistungen auf einen abstrakten Gesichtspunkt, der auch andere Leistungsmöglichkeiten sichtbar werden lasse.14 In dieser Arbeit wird dementsprechend nicht die Behauptung aufgestellt, die Befriedigung der im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit sei notwendige und unverzichtbare Bedingung für die Erhaltung der vernetzten Weltordnung, denn jede Funktion kann „durch eine Vielzahl funktional-­ äquivalenter Leistungen erfüllt werden“.15 Die Rechtsprechung von Verfassungsgerichten zum Verhältnis zwischen dem nationalen und dem inter- und supranationalen Recht ist nach diesem Verständnis eine funktional-äquivalente Leistung, die einen Beitrag zur Lösung bestimmter Probleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung leistet.16 Diese Sichtweise hat den Vorzug, dass dadurch komparative Vorund Nachteile bestimmter Institutionen sichtbar werden. 9  Siehe insbesondere Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, KZfSS 14 (1962), 617 ff.; ders., Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964), 1 ff. 10  Ralf Michaels, The Functional Method of Comparative Law, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, 339 (356 ff.). 11  Walter Goldschmidt, Comparative Functionalism, Berkeley, Cal. 1966, 5. Siehe auch ebd., 31: „What is consistent from culture to culture is not the institution; what is consistent are the social problems. What is recurrent from society to society is solutions to these problems.“ 12  Jonathan Turner/Alexandra Maryanski, Functionalism, 1979, 88. 13  Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, KZfSS 14 (1962), 617 (623). 14  Ebd. Luhmann illustriert dies, anknüpfend an den logisch-mathematischen Funktionalismus, an folgendem Beispiel. Der unvollständige Satz „... ist blau“ könne als Satzfunktion betrachtet werden, die einen begrenzten Vergleichsbereich eröffne. Es bestünden bestimmte „Möglichkeiten, das Fehlende zu ergänzen und den Satz zu einer wahren Aussage zu vervollständigen“, etwa „‚[d]er Himmel‘, ‚mein Wagen‘, ‚ein Veilchen‘“, die jeweils äquivalente Ausfüllungsmöglichkeiten für diese Funktion darstellten. Die reine Funktion sei daher eine Abstraktion. „Sie gibt keinen abgerundeten Satzsinn; sie gibt nur eine Regel an, nach der sich entscheiden lässt, durch welche Einsatzwerte (‚Argumente‘) der Satz vervollständigt werden kann, ohne dass sein Wahrheitsgehalt sich ändert“. Ebd., 624. 15  Niklas Luhmann, Funktionale Methode und juristische Entscheidung, AöR 94 (1969), 1 (9). 16  Zuletzt lässt sich mit Luhmanns Äquivalenzfunktionalismus auch der Streit um die Frage lösen, „ob die funktionalistische Methode wesentlich statisch und konservativ auf die Erläuterung vorausgesetzter Systeme bezogen sei oder Problemen des sozialen Wandels, der geschichtlichen Entwicklung Rechnung tragen könne“. Dadurch, dass der Äquivalenzfunktionalismus Bezugsprobleme im Hinblick auf äquivalente andere Möglichkeiten analysiere, berücksichtige er auch

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Teil II  Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

Allerdings sollte man sich neben dem Potenzial auch die Beschränkungen der funktionalen Analyse ins Bewusstsein rufen. Insbesondere handelt es sich um eine analytisch-heuristische Methode, die im rechtswissenschaftlichen Kontext weder ohne normative oder evaluative Erwägungen auskommt noch legitimatorische Überlegungen ersetzt. Funktionen sind stets abhängig von ihrem konzeptionellen Bezugsrahmen und damit von einer normativen Vorentscheidung.17 Der Funktionsbegriff ist insofern relational; welche Funktionen etwa die Verfassungsrechtsprechung hat und welche Leistungen als funktional-äquivalent in Betracht kommen, hängt von der Definition der Bezugseinheit ab.18 Der konzeptionelle Bezugsrahmen dieser Arbeit ist die vernetzte Weltordnung. Die im Rahmen dieser Arbeit zu entwickelnden verfassungsgerichtlichen Funktionen gelten nicht immer und unter allen Bedingungen, sondern nur unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung.19 Die Entwicklung der Funktionen in der vernetzten Weltordnung hat eine deduktive und eine induktive Komponente: Einerseits lassen sich diese Funktionen auch aus den beschriebenen Strukturen und Prozessen der vernetzten Weltordnung herleiten,20 andererseits reflektieren sie die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung.21 Damit dienen diese Funktionen als verbindende Zwischenkategorie, deren Abstraktionsgrad zwischen den abstrakten Ausführungen im ersten Teil und der anwendungsorientierten Identifizierung und Weiterentwicklung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungsentwick­lungen im dritten Teil liegt. In der vernetzten Weltordnung lassen sich für die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit drei primäre Funktionen unterscheiden: Erstens erfüllen Verfassungsgerichte eine Inkorporationsfunktion (Kap. 8), d. h. sie inkorporieren inter- und supranationales Recht in die eigene Rechtsordnung und gewährleisten dort seine Anwendung. Dahinter liegt folgende Erwägung: Im innerstaatlichen Bereich haben Verfassungsgerichte komplexe und delikate Aufgaben der Koordination zwischen den verschiedenen Gewalten und zwischen der Zentralregierung und den föderalen Untergliederungen. Wenn aber Verfassungsgerichte das Verhältnis innerstaatlicher Institutionen zueinander koordinieren, können sie auch das Verhältnis zwischen nationalen und inter- bzw. supranationalen Rechtsordnungen und Institutionen koordinieren, indem sie über die Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts entscheiden oder auf die Berücksichtigung rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen durch inter- und „Möglichkeiten der Veränderung, des Austausches und Ersatzes und ihre Rückwirkungen im System“. Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, KZfSS 14 (1962), 617 (625 f.). 17  Nach Luhmann kann funktionale Methode nicht „im Leeren praktiziert“ werden. Niklas Luhmann, Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964), 1 (11). 18  Vgl. Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, KZfSS 14 (1962), 617 (628). 19  Damit wird auch dem Problem der „apologetische[n] Versuchung funktionaler Argumente“ begegnet, vgl. Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014, 15, denn legitimatorische Gesichtspunkte ergeben sich nicht aus den Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern aus der normativen Konzeption der vernetzten Weltordnung. 20  Dazu oben Erster Teil, Kap. 2. 21  Unten Dritter Teil.

Teil II  Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung

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supranationale Institutionen hinwirken. Zweitens haben Verfassungsgerichte eine Kontrollfunktion (Kap. 9), d. h. sie kontrollieren inter- und supranationales Recht auf die Vereinbarkeit mit konstitutionalistischen Prinzipien und Normen. Im Nationalstaat kontrollieren Verfassungsgerichte als zusätzliches, nachgeschaltetes Entscheidungsforum die Entscheidungen staatlicher Stellen auf die Vereinbarkeit mit den Prinzipien und Normen der Verfassung. Aber wenn Verfassungsgerichte nationale Rechtsakte auf die Vereinbarkeit mit konstitutionalistischen Prinzipien und Normen kontrollieren, können sie eine solche Kontrolle auch gegenüber inter- und supranationalen Rechtsakten ausüben. Drittens befriedigen sie eine Übertragungsfunktion (Kap. 10), d. h. sie wirken auf die Berücksichtigung rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen durch inter- und supranationale Institutionen hin.22 Im Schwerpunkt sind die Inkorporations-, Kontroll- und Übertragungsfunktion auf nationale Verfassungsgerichte und ihre Rezeption des inter- und supranationalen Rechts ausgerichtet. Sie lassen sich aber teilweise – unter Berücksichtigung bestimmter struktureller Unterschiede – über diesen Zusammenhang hinaus ausweiten und verallgemeinern. Denn diese Funktionen sind auf die Koordination des pluralistischen Verhältnisses zwischen Institutionen verschiedener Rechtsordnungen ausgerichtet, die einerseits den Belangen ihrer Rechtsordnung verbunden sind, andererseits aber die Belange anderer Rechtsordnungen gebührend berücksichtigen müssen, damit die pluralistisch-heterarchische Konfiguration der vernetzten Weltordnung funktionieren kann. Es geht also für nationale Verfassungsgerichte wie für inter- und supranationale Gerichte darum, rechtsordnungsfremde Prinzipien, Normen oder Entscheidungen in die eigene Rechtsordnung zu inkorporieren, im Gegenzug eigene Prinzipien und Normen in andere Rechtsordnungen zu übertragen und – zur Sicherung rechtsordnungseigener Verfassungsprinzipien und -normen – das rechtsordnungsfremde Recht am Maßstab dieser zu kontrollieren.

 Diese Funktionen überschneiden sich teilweise mit den Funktionen, die Hobe dem „offenen Verfassungsstaat“ im Kontext institutionalisierter internationaler Kooperation zuschreibt. Das sind eine Implementierungs-, Kontroll-, Übertragungs- und Identitätsfunktion. Siehe Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, 402 ff. Der Grund für diese Überschneidungen liegt allerdings nicht darin, dass der Nationalstaat und die Verfassungsgerichtsbarkeit ganz ähnliche Funktionen in der vernetzten Weltordnung erfüllen. Der Nationalstaat hat überhaupt keinen eigenen einheitlichen Willen; er ist ein Konstrukt, das für die Vielzahl verschiedener öffentlicher Institutionen steht, die kollektiv-verbindliche Entscheidungen im nationalen Gemeinwesen treffen. Vgl. Thomas Biersteker/Cynthia Weber (Hrsg.), State Sovereignty as Social Construct, 1996. Ebenso wie die drei Gewalten, die den Verfassungsstaat konstituieren, im Verfassungsstaat sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen, tun sie das auch in der vernetzten Weltordnung. Der Grund für die Überschneidungen ist vielmehr darin zu sehen, dass Hobe die Funktionen des offenen Verfassungsstaates aus der Perspektive des Rechts und der Judikative denkt. Das bedeutet, dass einige Parallelen in der Darlegung der fassungsgerichtlichen Funktionen in der vernetzten Weltordnung bestehen. Abzulehnen ist jedoch Hobes Annahme, dass Verfassungsgerichte eine Identitätsfunktion befriedigen. Denn soweit Verfassungsgerichte mit der Verfassung ein Dokument auslegen und fortentwickeln, in dem sich die grundlegenden Prinzipien und Normen der politischen Gemeinschaft widerspiegeln, geht die Identitätsfunktion in der Kontrollfunktion auf. Soweit mit der Identitätsfunktion jedoch eine „sense of belonging“ und eine Form der Identitätsstiftung gemeint sein sollen, die über den normativen Bestand der Verfassung hinausgehen, vgl. ebd., 405, ist darin keine Funktion der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sehen. 22

Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

Dass Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung eine Inkorporationsfunktion erfüllen,1 also dass sie rechtsordnungsfremdes Recht in die eigene Rechtsordnung inkorporieren und ihm damit zu seiner Wirksamkeit verhelfen, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn in dem pluralistisch-heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung, in dem jede Rechtsordnung ihr Verhältnis zu anderen 1  Der hier verwendete Begriff der Inkorporation ist bekannt aus der deutschen Völker- und Verfassungsrechtswissenschaft, wo er für eine – mit anderen konkurrierende – Lehre zur Beschreibung der Umsetzung des Völkerrechts in die nationale Rechtsordnung steht. Er ist alternativen Begriffsund Erklärungsansätzen wie Transformation oder Vollzug vorzuziehen, weil die Inkorporationslehre einerseits verdeutlicht, dass die nationale Rechtsordnung nach eigenen rechtsordnungsspezifischen Kriterien entscheidet, ob und inwiefern inter- und supranationales Recht zu ihrem Bestandteil werden, andererseits aber der distinktive inter- bzw. supranationale Charakter des inkorporierten Rechts erhalten bleibt. Das entspricht der zu beobachtenden Rechtsprechungspraxis in der vernetzten Weltordnung, nach der nationale Verfassungsgerichte einerseits den Anspruch erheben, das Verhältnis des nationalen Rechts zum inter- und supranationalen Recht einseitig nach eigenen Kriterien, auf den konstitutionalistischen Grundlagen ihrer eigenen Rechtsordnung zu gestalten, andererseits aber den besonderen Charakter des inter- und supranationalen Rechts beachten. Nach der dem klassischen Dualismus zugeneigten Transformationslehre dagegen wird das inter- und supranationale Recht in eine Norm des nationalen Rechts transformiert und verliert ihren inter- bzw. supranationalen Charakter. Bei konsequenter Umsetzung dieser Prämisse müsste daraus folgen, dass Gerichte bei der Auslegung weder berücksichtigen müssten, dass es sich um den Rechtsakt einer inter- und supranationalen Rechtsordnung handelt noch, im Fall der Aufhebung der völkerrechtlichen Bestimmung, dass dieser nicht mehr existiert. Das ist bei der Vollzugslehre zwar anders, Begriffe wie Vollzug oder Implementierung suggerieren jedoch, dass inter- und supranationales Recht durch die nationale Rechtsordnung  – wie im hierarchisierten Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Verwaltung – nur nachvollzogen wird und bringen damit die autonome Entscheidung der rechtsordnungseigenen Institutionen über das „Ob“ der Inkorporation des rechtsordnungsfremden Rechts nicht hinreichend zum Ausdruck. Siehe für einen Überblick: Philip Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl., 2013, 61 (80 f.).

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_9

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Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

Rechtsordnungen grundsätzlich nach eigenen Kriterien, nach dem rechtsordnungseigenen „internal point of view“ gestaltet, bestimmen die Institutionen jeder Rechtsordnung grundsätzlich selbst, ob und inwieweit sie rechtsordnungsfremdes Recht in die eigene Rechtsordnung einbeziehen und die Entscheidungen rechtsordnungsfremder Institutionen berücksichtigen. Oder klassischer formuliert: Staaten entscheiden selbst darüber, ob sie völker- und europarechtliche Verträge abschließen, ob sie diese Verträge ratifizieren und welche Stellung sie diesen Verträgen und dem auf der Grundlage dieser Verträge erzeugten Recht in der eigenen Rechtsord­ nung einräumen. Und genauso bestimmen inter- und supranationale Institutionen, ­inwieweit sie Prinzipien und Normen aus anderen inter- oder supranationalen Rechtsordnungen oder aus mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen inkorporieren. Wenn aber die Institutionen einer Rechtsordnung grundsätzlich nach rechtsordnungseigenen Kriterien und Gesichtspunkten darüber entscheiden können, ob und inwiefern sie rechtsordnungsfremdes Recht in die eigene Rechtsordnung inkorporieren, stellt sich die Frage, woraus sich eine rechtsordnungsübergreifende Inkorporationsfunktion ergeben soll? Und warum obliegt die Erfüllung dieser Funktion überhaupt der Verfassungsgerichtsbarkeit und nicht primär anderen institutionellen Akteuren wie der Regierung und dem Parlament? In diesem Kapitel soll die verfassungsgerichtliche Inkorporationsfunktion zunächst mit Blick auf nationale Verfassungsgerichte (A.), anschließend kurz in Bezug auf inter- und supranationale Gerichte (B.), hergeleitet und begründet werden. Dabei soll gezeigt werden, dass eine Vielzahl inter- und supranationaler Verpflichtungen – und damit die auf ihrer Eingebung beruhenden normativen Erwartungen – nur durch die Mitwirkung der rechtsanwendenden Institutionen, also insbesondere der Gerichte, erfüllt werden können und inwieweit die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit aufgrund ihrer distinktiven institutionellen Merkmale eine zentrale Rolle bei der Inkorporation des rechtsordnungsfremden Rechts in die eigene Rechtsordnung wahrnimmt.

A. Nationale Verfassungsgerichte Aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte stellen sich im Zusammenhang mit der Inkorporationsfunktion zwei grundlegende Fragen: Zum einen die Frage, warum in der vernetzten Weltordnung überhaupt eine der Funktionen darin bestehen soll, das inter- und supranationale Recht in die nationale Rechtsordnung zu inkorporieren (I.), zum anderen die institutionenspezifische Frage, warum insbesondere Verfassungsgerichte diese Funktion erfüllen (II.).

A. Nationale Verfassungsgerichte

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I . Das Erfordernis der Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts Die Antwort auf die Frage, warum die Institutionen einer Rechtsordnung rechtsordnungsfremdes Recht inkorporieren sollen, obwohl in der vernetzten Weltordnung wegen der Offenheit der politischen Herrschaftsverhältnisse eine rechtsordnungsspezifische Perspektive legitim ist, soll in zwei Schritten im Hinblick auf die Inkorporation von Europa- und Völkerrecht in der nationalen Rechtsordnung entwickelt werden. In einem ersten Schritt ist aufzuzeigen, dass die mit der Verteilung von Entscheidungskompetenzen auf inter- und supranationale Institutionen verbundenen normativen Erwartungen nicht erfüllt werden können, soweit deren Rechtssätze nicht von den Mitgliedstaaten inkorporiert werden (1.). Anschließend wird dargelegt, dass inter- und supranationale Organisationen zu ihrer Funktionsfähigkeit maßgeblich auf die Inkorporation ihrer Entscheidungen durch nationale Stellen angewiesen sind, was insbesondere auch darin seinen Ausdruck findet, dass inter- und supranationale Entscheidungen in einer rechtlichen Form verabschiedet werden, damit die Mitgliedstaaten diese umsetzen (2.). 1 . Die Bedeutung der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation aus nationaler Perspektive In Kap.  4 haben wir gesehen, dass bedeutsame Gründe für die Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf inter- und supranationale Institutionen sprechen: Die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation trägt dazu bei, die epistemologischen Entscheidungsgrundlagen politischer Entscheidungsprozesse im Nationalstaat zu verbessern, indem sie illegitime Sonderinteressen zurückdrängt, zum Minderheitenschutz beiträgt und den Blickwinkel auf sachspezifische Pro­ bleme erweitert. Multilaterale Menschenrechtsregime sichern konstitutionelle Mindeststandards. Freihandels- und Binnenmarktregime wirken protektionistischen Sonderinteressen entgegen, Umweltabkommen helfen dabei, negative Externalitäten zu internalisieren. Darüber hinaus dämmt die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation reine Machtpolitik durch die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ein und vermehrt individuelle Freiheitsgewinne durch Ausweitung der nationalstaatlichen Regelungsgewalt. Doch vor allem ermöglicht uns die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation, eine politische Handlungs- und Steuerungsfähigkeit aufrechtzuerhalten, die der territorial begrenzte Nationalstaat in einer globalisierten Weltgesellschaft nicht mehr gewährleisten kann.2 Diese normativen Erwägungen zugunsten der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation lassen sich jedoch nur realisieren, wenn die Nationalstaaten das Recht internationaler Organisationen in ihre Rechtsordnung inkorporieren. Kennzeichnend für die pluralistisch-heterarchische Konfiguration  Oben Erster Teil, Kap. 4, A., I., 1.

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Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

der vernetzten Weltordnung ist gerade, dass differente Institutionen verschiedener Rechtsordnungen unterschiedliche Gemeinwohlaufgaben in gleichberechtigter Weise erfüllen. Wenn es aber erstrebenswert ist, grenzüberschreitende Sachverhalte durch inter- und supranationale Institutionen kollektiv regeln zu lassen, ist es auch wünschenswert, dass diese Regelungen befolgt werden. Es macht keinen Sinn, zur Bewahrung der politischen Handlungs- und Steuerungsfähigkeit Entscheidungskompetenzen auf inter- und supranationale Institutionen zu übertragen, nur um deren Entscheidungen dann zu ignorieren. Das Meta-Prinzip der holistischen Reflexion verlangt von den handelnden Akteuren deshalb, auch den Beitrag rechtsordnungsfremder Institutionen zu respektieren und zu unterstützen – und nicht zu konterkarieren.3 2 . Die Bedeutung der Inkorporation durch nationale Stellen aus der Perspektive inter- und supranationaler Organisationen Zur Lösung grenzüberschreitender Probleme sind inter- und supranationale Institutionen auf die Inkorporation ihrer Regeln und Entscheidungen in den Mitgliedstaaten angewiesen. Nicht nur ist der Nationalstaat Inhaber des physischen Gewaltmonopols, sondern inter- und supranationalen Organisationen mangelt es auch an Mitteln und Personal, um ihre Entscheidungen umzusetzen.4 Die EU oder die WTO können gemeinsame Zölle festsetzen, aber es bedarf nationaler Zollbeamter, um diese umzusetzen. Der UN-Sicherheitsrat kann den Einsatz militärischer Gewalt autorisieren, aber nicht selbst realisieren.5 Inter- und supranationale Institutionen büßen ihre Fähigkeit ein, die ihnen übertragenen Aufgaben adäquat zu erfüllen, wenn die Mitgliedstaaten deren Rechtssätze nicht in ihre Rechtsordnung inkorporieren.6 Die Bedeutung der Entscheidungen inter- und supranationaler Institutionen einerseits und ihr Angewiesensein auf die Mitwirkung nationaler Stellen andererseits ist ein wesentlicher Grund dafür, dass diese Entscheidungen in das soziale Medium des Rechts „gegossen“ werden. Denn zwischen der rechtlichen Form und der Befolgung einer Entscheidung besteht ein enger Zusammenhang.7 Das Völkerrecht legt  Siehe zum Meta-Prinzip der holistischen Reflexion oben Erster Teil, Kap. 8, C., I.  Jan Klabbers, An Introduction to International Institutional Law, 2. Aufl., 2009, 174. 5  Mit diesen Beispielen: Jan Klabbers, ebd. 6  Diese Angewiesenheit spiegelt sich in den – im Gründungsvertrag niedergelegten – mitgliedstaatlichen Kooperationsverpflichtungen wieder: Nach Art. 2 Abs. 2 UN-Charta erfüllen alle Mitglieder nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen. Nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 EUV ergreifen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben und unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe. Darauf verweist Jan Klabbers, ebd. 7  Zum Zusammenhang zwischen Normbefolgung und Verrechtlichung: Kenneth Abbott/Duncan Snidal, Hard and Soft Law in International Governance, IO 54 (2000), 421 ff. Zu diesem Aspekt im Kontext des internationalen Finanzrechts: Beth Simmons, The Legalization of International Monetary Affairs, IO 54 (2000), 573 ff. 3 4

A. Nationale Verfassungsgerichte

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traditionell großen Wert auf Normdurchsetzung.8 Staaten verrechtlichen ihre Beziehungen und machen sich damit die normative Kraft des Rechts zu Nutze, um sich – zumindest in gesteigertem Maße – auf gemeinsam getroffene Vereinbarungen verlassen zu können.9 In diesem Zusammenhang erscheint folgender Hinweis angebracht: Obwohl die Durchsetzungswirkung des inter- und supranationalen Rechts damit entscheidend vom Ausmaß der Inkorporation in der nationalen Rechtsordnung abhängig ist, folgt aus der Verrechtlichung internationaler Vereinbarungen für sich noch keine Verpflichtung zur Inkorporation in die nationale Rechtsordnung. Denn auch wenn das Völkerrecht einen Autoritätsanspruch erhebt und Befolgung der eigenen ­Regelungsanordnung verlangt,10 schreibt es dem Nationalstaat in der Regel nicht vor, auf welche Weise er seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllen muss. Umgekehrt ist allerdings im Hinblick auf die klassische dualistische Trennung zwischen dem nationalen Recht und dem nur an Staaten adressierten Völkerrecht zu berücksichtigen, dass der Staat ein Konstrukt ist, das durch öffentliche Institutionen repräsentiert wird. Wenn also die Unterscheidung zwischen der völkerrechtlichen Bindung einerseits und der innerstaatlichen Anwendung andererseits angesprochen wird, dann wird damit im institutionellen Sinn zwischen den politischen Institutionen, der Regierung und dem Parlament, und den rechtsanwendenden Institutionen, den Gerichten und der Verwaltung, unterschieden. Wo der Kompetenzbereich der politischen Institutionen endet und wo die Zuständigkeit der rechtsanwendenden Institutionen beginnt, ist regelmäßig eine Frage der Auslegung und lässt sich allein mit der Konstruktion der unmittelbaren Wirkung nicht bestimmen. Nur weil ein internationaler Rechtssatz keine unmittelbare Wirkung entfaltet, folgt daraus für nationale Gerichte noch nicht, dass dieser Rechtssatz gänzlich irrelevant ist.11 Denn eine Vielzahl völkerrechtlicher Verpflichtungen lassen sich nur durch Mitwirkung der rechtsanwendenden Institutionen erfüllen.

 Siehe exemplarisch den Grundsatz des pacta sunt servanda in Art. 26 WVRK.  Zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen: Oben Erster Teil, Kap. 2, D., I. Zu einigen Vorzügen der Verrechtlichung: Judith Goldstein/Miles Kahler/Robert Keohane/Anne-Marie Slaughter, Introduction: Legalization and World Politics, IO 54 (2000), 385 (396 ff.); Miles Kahler, Conclusion: The Causes and Consequences of Legalization, IO 54 (2000), 661 (672 ff.). 10  Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (910); vgl. auch H.L.A. Hart, The Concept of Law, 1994 (1961), 213 ff. 11  Der Begriff der Inkorporation ist weiter als der Begriff der unmittelbaren Wirkung, denn nicht auf jeden Rechtssatz, der in eine nationale Rechtsordnung inkorporiert wird, kann sich der Einzelne in einem Gerichtsprozess berufen. 8 9

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Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

I I. Die Rolle nationaler Verfassungsgerichte bei der Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts 1 . Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen verfassungsrechtlichen Integrationsklauseln und politischen Gewalten Aus der grundsätzlichen Inkorporationsfunktion nationalstaatlicher Institutionen ergibt sich noch keine verfassungsgerichtliche Inkorporationsfunktion in der vernetzten Weltordnung. Denn es ist eine Frage, ob der Nationalstaat eine Inkorporationsfunktion zu erfüllen hat und eine andere Frage, welche Rolle Gerichte bei der Erfüllung dieser Funktion spielen. Die Inkorporation inter- und supranationalen Rechts in die nationale Rechtsordnung ist ein vielschichtiger Prozess, an dem alle Staatsgewalten beteiligt sind. Die Exekutive ist traditionell der zentrale staatliche Akteur im Bereich der Auswärtigen Gewalt, der einerseits zwischenstaatliche Vereinbarungen und Verträge aushandelt. Andererseits kann die Regierung auch internationales Recht durch den Erlass von Verordnungen, etwa auf dem Gebiet des Außenwirtschafts- oder des Kriegswaffenkontrollrechts, in die nationale Rechtsordnung inkorporieren.12 Auch die Legislative nimmt Aufgaben der Auswärtigen ­Gewalt wahr: Damit ein völkerrechtlicher Vertrag ratifiziert werden und Geltung in der nationalen Rechtsordnung beanspruchen kann, bedarf es in demokratisch-­ rechtsstaatlichen Rechtsordnungen regelmäßig der Zustimmung des Parlaments. Die Judikative schließlich entscheidet über die Bedeutung des geltenden Völkerrechts in der nationalen Rechtsordnung. Gegen eine verfassungsgerichtliche oder judikative Inkorporationsfunktion lässt sich einwenden, dass die Gerichte nur verpflichtet sind, das in ihrer Rechtsordnung geltende – und damit das bereits durch Exekutive und Legislative inkorporierte – Recht anzuwenden und auszulegen. Daraus könnte man schließen, dass die Gerichte keine Inkorporationsfunktion wahrnehmen. Ein solcher Schluss wäre jedoch voreilig: Denn wie nationale Verfassungsgerichte die Integrationsklauseln ihrer Verfassung auslegen und damit das Verhältnis zwischen dem nationalen und dem interund supranationalen Recht ausgestalten, bestimmt maßgeblich darüber, ob und in welchem Maß inter- und supranationale Verpflichtungen in der nationalen Rechtsordnung durchgesetzt werden. Nach der Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages stellt sich stets die Frage, wie weit die daraus resultierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen reichen und welche Konsequenzen daraus im innerstaatlichen Recht folgen.13 Solche Fragen der Einordnung des inter- und supranationalen Rechts

 Philip Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl., 2013, 61 (126). 13  Darüber hinaus sind Gerichte nicht daran gehindert, nicht ratifiziertes Völkerrecht, einschließlich des Völkergewohnheitsrechts und der Entscheidungen inter- und supranationaler Gerichte und Spruchkörper, in ihren Urteilen zu berücksichtigen, wodurch dieses auch für die nationale Rechtsordnung relevant wird. Ebd., 128. 12

A. Nationale Verfassungsgerichte

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in die nationale Rechtsordnung zu entscheiden, zählt zu der klassischen Domäne der Verfassungsgerichtsbarkeit.14 Das heißt wiederum nicht, dass Verfassungsgerichte ihre Inkorporationsfunktion in der vernetzten Weltordnung unabhängig von den politischen Gewalten, den Bestimmungen der nationalen Verfassung oder den Fachgerichten wahrnehmen. Ob ein völkerrechtlicher Vertrag ratifiziert wurde oder nicht, macht einen entscheidenden Unterschied. Es spielt auch eine Rolle, welchen Rang die nationale Verfassung dem inter- und supranationalen Recht in der innerstaatlichen Normenhierarchie einräumt. Diese Vorschriften dienen Verfassungsgerichten einerseits als Anknüpfungsund Orientierungspunkt für ihre Rechtsprechung. Sie beschränken den verfassungsgerichtlichen Gestaltungsspielraum und konstituieren zudem die Einordnung des inter- und supranationalen Rechts durch das Verfassungsgericht. Andererseits sind die verfassungsrechtlichen Rangbestimmungen regelmäßig zu unbestimmt und unspezifisch, um die Vielfalt und Komplexität der Einwirkungen inter- und supranationaler Rechtsakte auf die nationale Rechtsordnung in der vernetzten Weltordnung auch nur annähernd abschließend zu regeln. Weder haben Rechtsvorschriften einen immanenten Bedeutungsgehalt noch werden sie unabhängig vom Kontext ausgelegt. Daher werden die Anwendung und die Einordnung inter- und supranationaler Rechtsakte in der nationalen Rechtsordnung nicht in erster Linie durch verfas­ sungsrechtliche Vorschriften determiniert, sie ergeben sich vielmehr aus der Interpretationspraxis der Rechtsgemeinschaft, die durch das Verfassungsgericht maßgebend angeleitet und mitentwickelt wird.15 Eine nicht zu unterschätzende Rolle in diesem Inkorporationsprozess spielen auch unterinstanzliche Gerichte, die die Inkorporation des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts vorantreiben und das Verfassungsgericht damit unter Handlungsdruck setzen können.16  Vgl. Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (910 f.). 15  In bestimmten Fällen zieht es der Verfassungsgeber sogar vor, die wesentlichen Grundzüge der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte im Wesentlichen durch die Verabschiedung neuer Rangvorschriften zu kodifizieren, anstatt einen genuin eigenen Regelungsrahmen zu entwickeln. Ein Beispiel ist Art. 23 GG, der das auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 GG entwickelte Verständnis des Bundesverfassungsgerichts zu der Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der Europäischen Integration weitgehend übernommen hat. Vgl. Rüdiger Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, 417 (423). Dadurch bringt sich der Verfassungsgeber natürlich wieder ins Spiel und gewinnt vermehrt Einfluss. Die Vorstellung, dass der Verfassungsgeber dem Verfassungsgericht das Verhältnis des nationalen zum inter- und supranationalen Recht weit überwiegend normativ oktroyiert, ist jedoch verfehlt. 16  Die „Integration Through Law“-Bewegung, die sich umfassend mit den vielfältigen Facetten der Rolle des Rechts und der Rechtsinstitutionen im europäischen Integrationsprozess beschäftigte, hat überzeugende Erklärungsansätze dafür entwickelt, warum gerade unterinstanzliche Gerichte die Inkorporation des europäischen Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung vorangetrieben haben. Nach Karen Alters These vom zwischengerichtlichen Wettbewerb etwa liegt das spezifische Interesse unterinstanzlicher Gerichte darin, im bürokratischen Kampf zwischen den verschiedenen judikativen Instanzen missliebige Auffassungen überinstanzlicher Gerichte infrage zu stellen. Siehe Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001; dies., Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence, in: Anne-Marie Slaughter/Alec Stone-Sweet/ J.H.H. Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, 225 ff. Dagegen haben 14

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Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

Für nationale Verfassungsgerichte, die als letztinstanzliches Gericht in Verfassungsfragen die Leitlinien für das Verhältnis zwischen dem nationalen und dem inter- und supranationalen Recht bestimmen, folgt aus der Inkorporationsfunktion, dass sie die vorhandenen Interpretationsspielräume für die Inkorporation des interund supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung nutzen sollten, sei es durch Zuweisung einer angemessenen Stellung in der nationalen Rechtsordnung,17 sei es durch hinreichende Berücksichtigung der Entscheidungen inter- und supranationaler Gerichte,18 sei es durch Überwachung der Inkorporation durch die Fachgerichte. 2 . Die institutionelle Eignung der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Wahrnehmung der Inkorporationsfunktion und ihre Grenzen Im Nationalstaat ist die Einrichtung der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit eng mit dem Bedürfnis nach einem unabhängigen und unparteilichen Garanten der Verfassungsordnung verknüpft, der Streitigkeiten über die Auslegung der Verfassung entscheidet und dadurch das Verhältnis der Verfassungsakteure zueinander koordiniert. Genauso wie die Gliederung der Staatsgewalt in unterschiedliche, mit­ einander verschränkte und aufeinander bezogene Institutionen unvermeidbar institutionelle Konflikte erzeugt, die der Auflösung und Befriedung bedürfen, ruft auch die vernetzte Weltordnung mit der sie kennzeichnenden Ambivalenz zwischen internationalen Organisationen und dem Nationalstaat Streitigkeiten hervor. Und ebenso wie im Gemeinwesen Bedarf besteht nach einer Institution, die delikate Aufgaben der Koordination zwischen Parlamentsmehrheit und -minderheit, zwischen Exekutive und Legislative oder zwischen Bund und Land entscheidet, muss auch in der vernetzten Weltordnung geklärt werden, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Rechtsordnungen stehen. Im Kontext konstitutionalistischer Verfassungsordnung lassen sich drei institutionelle Eigenschaften identifizieren, die die Verfassungsgerichtsbarkeit  – im Vergleich mit politischen Institutionen – für ihre Koordinationsfunktion prädestinieren: Erstens ist die Judikative, die weder über sword noch purse verfügt, im Vergleich mit den politischen Gewalten die komparativ schwächste Gewalt,19 zweitens ist sie eine von der politischen Macht weitgehend unabhängige und neutrale Institution und drittens vermitteln die Entscheidungsformen und -prozeduren des Rechts ein sich nationale Verfassungsgerichte wie das Bundesverfassungsgericht diesem Inkorporationsprozess nicht mit derselben Entschlossenheit verschrieben, um ihre eigene Entscheidungsprärogative vor dem EuGH zu bewahren. Allerdings haben nationale Verfassungsgerichte umgekehrt auch eine Vielzahl unterinstanzlicher Gerichtsentscheidungen aufgehoben, die die Inkorporation des interund supranationalen Rechts verweigert haben. Mit einer rechtsvergleichenden Analyse zur verfassungsrechtlichen Absicherung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht: Alexander Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013. 17  Vgl. unten Dritter Teil, Kap. 12, A. 18  Vgl. unten Dritter Teil, Kap. 13. 19  Siehe hierzu grundlegend Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl., 1986.

A. Nationale Verfassungsgerichte

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erhebliches Maß an Stabilität.20 Diese Eigenschaften sprechen  – jedenfalls teilweise  – auch für die Wahrnehmung der Inkorporationsfunktion in der vernetzten Weltordnung. Wie wir gesehen haben, ist die Exekutive der dominante Akteur in den internationalen Beziehungen. Es entspricht daher der Logik der Begrenzungsfunktion der Verfassung, wenn die Judikative als komparativ schwächste Gewalt die Exekutive auch im Bereich der Auswärtigen Gewalt kontrolliert, indem sie über die Bedeutung und die Rolle des von der Exekutive ausgehandelten – und im Fall des Völkergewohnheitsrechts durch Regierungshandeln mitgeprägten – inter- und supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung entscheidet. Dafür spricht auch, dass die Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts, wie gezeigt, für die Funktionsfähigkeit der vernetzten Weltordnung von essenzieller Bedeutung ist, politische Akteure aber grundsätzlich ein instrumentelles Verhältnis zu inter- und supranationalen Verpflichtungen pflegen als Gerichte. Je mehr nationale Gerichte die nationalen politischen Akteure auf die Einhaltung inter- und supranationaler Rechtssätze verpflichten, desto wahrscheinlicher wird dessen Normdurchsetzung, weil ­nationale Regierungen und Behörden es aufgrund ihrer Sozialisierung gewohnt sind, das innerstaatliche Recht zu befolgen.21 Die Gefahr einer übermäßigen Einengung nationaler politischer Prozesse durch richterlich fortgebildete inter- und supranationale Normen sollte dabei nicht übertrieben werden, zumal die Verfassungsgerichtsbarkeit vorwiegend als Wegweiser agiert, der gewählte politische Entscheidung durch seine Urteile in eine bestimmte Richtung drängt, ohne aber den Fortgang des politischen Entscheidungsprozesses abschließend zu präkludieren.22 Bedenklich ist allerdings der Bedeutungsverlust der Parlamente in der vernetzten Weltordnung, vor dessen Hintergrund die Aspekte der verfassungsrechtlichen Begrenzungsfunktion und der Judikative als komparativ schwächste Gewalt im Verhältnis zur Legislative kaum mehr zutreffen. Allerdings lassen sich für diese Entwicklung jenseits des Nationalstaats nicht primär Verfassungsgerichte verantwortlich machen, deren Rechtsprechung ganz im Gegenteil von dem Bemühen gekennzeichnet ist, die Einbindung nationaler Parlamente in inter- und supranationale Entscheidungsprozesse zu stärken.23 Ein weiterer Aspekt, der für die vernetzte Weltordnung nicht in gleicher Weise gegeben ist wie für das Gemeinwesen, ist die für die Erfüllung der Koordinations Eingehender: Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u.a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 (23 ff.). 21  Mattias Kumm, International Law in National Courts: The International Rule of Law and the Limits of the Internationalist Model, Va. J. Int’l L. 44 (2003), 19 (22 f.). 22  Näher zum Begriff: Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u.a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 (23 ff.). Nach Kumm liegt die Rolle nationaler Verfassungsgerichte im internationalen Kontext primär „in placing a thumb on the scales in favor of the international rule of law“. Mattias Kumm, International Law in National Courts: The International Rule of Law and the Limits of the Internationalist Model, Va. J. Int’l L. 44 (2003), 19 (24). 23  Dazu im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 14, A., II., 1., a. 20

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Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

funktion angepriesene richterliche Unabhängigkeit und Neutralität, da Verfassungsgerichte sich regelmäßig als Repräsentanten ihrer Rechtsordnung betrachten. Während also ein Verfassungsgericht im rechtsordnungsinternen Streit zwischen Exekutive und Legislative als unparteiliche und unabhängige Instanz wahrgenommen wird, treten beispielsweise das BVerfG und der EuGH in der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung jeweils als Vertreter ihrer Rechtsordnungen auf. Daher stellt sich die Frage, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit für die Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts, anhand derer auch das Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen maßgeblich geregelt wird, überhaupt als Institution geeignet ist. Diese Frage ist zu bejahen: Einerseits verspüren alle Institutionen, exekutive, legislative und judikative, Loyalität zu ihrer Rechtsordnung, andererseits werden Interessen im Verfassungsdiskurs tendenziell durch Bezugnahme auf allgemeine rechtliche Grundsätze transzendiert und in konstitutionelle Dialoge transformiert. Das schlägt sich auch in den Urteilen nationaler Verfassungsgerichte nieder, die sich nicht rücksichtlos auf nationale Interessen berufen, sondern durch eine – innerhalb der Parameter der rechtsordnungseigenen Repräsentanz  – ausgewogene Berücksichtigung widerstreitender Belange gekennzeichnet sind. Dazu kommt, dass etwa nationale Verfassungsgerichte das Verhältnis zwischen dem nationalen und dem inter- und supranationalen Recht nicht alleine und unabhängig von den Positionen inter- und supranationaler Gerichte bestimmen, sondern dieses Verhältnis durch iterative Aushandlungsprozesse ausgestaltet wird. Zuletzt ist die für Gerichte und für rechtliche Entscheidungsformen und -prozeduren charakteristische Vermittlung von Stabilität für das prekäre Arrangement der vernetzten Weltordnung von unschätzbarem Wert. Obwohl im Grundsatz verschiedene Positionen zwischen den Institutionen der unterschiedlichen Rechtsordnungen bestehen, ist bemerkenswert, dass – mit Ausnahme der Entscheidungen des tschechischen Verfassungsgerichts in Holubec24 und des dänischen Obersten Gerichtshofs in Ajos25 – kein Verfassungsgericht im EU-Kontext jemals einen offenen Verfassungskonflikt riskiert hat. Die Kehrseite dieser institutionellen Prädisposition für Stabilität ist freilich, dass Verfassungsgerichte nicht unbedingt dazu neigen, einmal gefundene Entscheidungen wieder aufzuheben und infrage zu stellen. Damit könnten sie sich aber als zu langsam erweisen, um ihre Rechtsprechung an die sich rasant verändernden Anforderungen des Europäisierungs- und Internationalisierungsprozesses anzupassen.

 Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12 – Holubec. Siehe dazu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., c. 25  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A. Hierzu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., b., bb. 24

B. Inter- und supranationale Gerichte

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B. Inter- und supranationale Gerichte Im Zusammenhang mit inter- und supranationalen Gerichten sind in Bezug auf die Inkorporationsfunktion zwei Konstellationen zu unterscheiden, die im Folgenden kurz am Beispiel des EuGH umrissen werden: Zum einen stellt sich im Rahmen der EU, wie im Nationalstaat, die Frage, welche Stellung völkerrechtliche Verträge in der europäischen Rechtsordnung einnehmen26 und ob bestimmte völkerrechtliche Vorschriften eventuell unmittelbare Wirkung entfalten sollen.27 Soweit der EuGH in solchen Fällen über die Inkorporation des rechtsordnungsfremden internationalen Rechts entscheidet, befindet er sich in einer einem nationalen Verfassungsgericht strukturell gleich gelagerten Situation. Zum anderen beruht die Legitimation inter- und supranationaler Institutionen zum Erlass bindender Regelungen in einem gewissen Maß auf der Berücksichtigung konstitutionalistischer Grundsätze, wie sie im Rahmen des demokratisch-­ rechtsstaatlichen Nationalstaats gewährleistet sind. Das hängt mit dem für die vernetzte Weltordnung kennzeichnenden Dilemma zusammen, dass durch den Globalisierungsprozess einerseits ein gewichtiges Bedürfnis nach einheitlichen regionalen oder globalen Regelungen jenseits des Nationalstaats entsteht, andererseits die konstitutionalistischen Errungenschaften des Nationalstaats bewahrt werden sollen. Auf Dauer lassen sich diese beiden Belange nur miteinander in Einklang bringen, wenn inter- und supranationale Institutionen bei ihren Entscheidungen konstitutionalistische Prinzipien beachten. Vor diesem Hintergrund besteht eine der Funktionen inter- und supranationaler Gerichte darin, konstitutionalistische Prinzipien des Nationalstaats – oder anderer inter- bzw. supranationaler Rechtsordnungen – in die eigene Rechtsordnung zu inkorporieren. Denn die Übertragung von Entscheidungskompetenzen von staatlichen auf inter- oder supranationale Institutionen soll nicht dazu führen, dass die konstitutionalistischen Anforderungen an öffentliches Handeln abgesenkt werden. Daraus folgt, dass je inhaltlich bestimmter die Regelungen inter- und supranationaler Organisationen sind und je mehr ihr Regelungsgehalt auf Individuen ausgerichtet ist, desto stärker wird der Konstitutionalisierungsdruck, der auf ihnen lastet. Diesem Druck können inter- und supranationale Gerichte entgegenwirken, indem sie sich an den konstitutionalistischen Prinzipien des Nationalstaats orientieren und diese in ihre Rechtsordnung inkorporieren. Ein Beispiel für diesen Zusammenhang ist die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH: Die kühne Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung und zum Vorrang des Unionsrechts, in deren Folge unionale Rechtsakte ungefiltert gegenüber dem Einzelnen zur Anwendung gebracht werden, beförderte die Frage nach dem durch europäische Institutionen gewährleisteten Grundrechtsschutz bereits in einem frühen Stadium der europäischen Integration  Vgl. Art. 216 Abs. 2, 351 Abs. 1 AEUV.  Die unmittelbare Wirkung des WTO-Rechts verneint der EuGH hinsichtlich des alten GATT, siehe EuGH, Urt. v. 05.10.1994, Rs. C-280/93 – Deutschland v. Rat („Bananenmarktordnung“), ECLI:EU:C:1994:367, Rn.  103  ff., und hinsichtlich des neuen WTO-Rechts: EuGH, Urt. v. 23.11.1999, Rs. C-149/96 – Portugal v. Rat, ECLI:EU:C:1999:574, Rn. 34 ff.

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Kapitel 9: Inkorporationsfunktion

auf die Agenda. In Reaktion darauf entwickelte der EuGH, wie weithin bekannt ist, ohne textliche Grundlage ungeschriebene Grundrechtsgewährleistungen als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und internationalen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte, insbesondere der EMRK. Mit anderen Worten: Der EuGH inkorporierte konstitutionalistische Grundsätze der Mitgliedstaaten und der EMRK in die EU-Rechtsordnung.28

C. Zusammenfassung Verfassungsgerichte erfüllen in der vernetzten Weltordnung eine Inkorporationsfunktion: Inter- und supranationale Organisationen sind zur Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben auf die Inkorporation des von ihnen gesetzten Rechts durch nationale Stellen angewiesen, eine Vielzahl inter- und supranationaler Verpflichtungen lassen sich nur durch Mitwirkung der rechtsanwendenden Institutionen erfüllen. Die Entscheidung über die Einordnung des inter- und supranationalen Rechts in die nationale Rechtsordnung zählt zu der klassischen Domäne der Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch wenn Verfassungsgerichte diese Entscheidung nicht unabhängig von den politischen Gewalten oder den Bestimmungen der nationalen Verfassung treffen, so ergibt sich diese vor allem aus der Interpretationspraxis der Rechtsgemeinschaft, die durch das Verfassungsgericht maßgebend angeleitet und mitentwickelt wird. Für nationale Verfassungsgerichte folgt aus der Inkorporationsfunktion, dass sie die vorhandenen Interpretationsspielräume zugunsten einer Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung nutzen sollten. Inter- und supranationale Gerichte erfüllen in vergleichbarer Weise eine Inkorporationsfunktion, wenn sie entweder über die Stellung von rechtsordnungsfremdem inter- oder supranationalem Recht in ihrer Rechtsordnung entscheiden, oder konstitutionalistische Prinzipien aus der nationalstaatlichen Tradition in die Rechtsordnung integrieren. Die institutionelle Eignung der Verfassungsgerichtsbarkeit für diese Inkorporationsfunktion ergibt sich zum einen aus der Logik der Begrenzungsfunktion der Verfassung. Danach soll nicht primär die Exekutive als der dominante Akteur in den internationalen Beziehungen über die Bedeutung des von ihr ausgehandelten und vom Parlament meist nur nachvollzogenen inter- und supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung entscheiden. Zum anderen eignen sich Verfassungsgerichte auch in der vernetzten Weltordnung aufgrund ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit für die delikate Aufgabe der Koordination des Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen, obwohl sie als Repräsentant ihrer Rechtsordnung auftreten. Denn im Verfassungsdiskurs werden Interessen tendenziell durch Bezugnahme auf allgemeine rechtliche Grundsätze transzendiert und in konstitutionelle Dialoge transformiert. 28

 Dazu im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 2., a., aa.

Kapitel 10: Kontrollfunktion

Im Rahmen der Herleitung der Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit im nationalen Gemeinwesen haben wir gesehen, dass Verfassungsgerichte eine Kontrollfunktion erfüllen: Verfassungsgerichte sind damit beauftragt, die in der Verfassung niedergelegten Errungenschaften des Konstitutionalismus, von den Grundrechten bis zu den Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien, hochzuhalten und zu schützen. Diese Prinzipien in ein Verfassungsdokument zu schreiben und an die Spitze der Normenhierarchie zu stellen, verhilft diesen Prinzipien allein nicht zu voller Wirksamkeit, sondern es hilft, ein Verfassungsgericht zu haben, das diese Prinzipien auslegt und über ihre Anwendung im Streitfall entscheidet. Gerade auch aus diesem Grund wird die Verfassungsgerichtsbarkeit als Kontrolleur der durch die Verfassung effektuierten Selbstbindungsstrategie der politischen Gemeinschaft eingesetzt. Seinen besonderen Ausdruck findet dieser Zusammenhang im Bereich des Menschenund Grundrechtsschutzes, dessen Bedeutung für unsere Gesellschaften maßgeblich durch Verfassungsgerichte mitgeprägt wurde. Nationale Verfassungsgerichte (A.) und inter- und supranationale Gerichte (B.) erfüllen auch in der vernetzten Weltordnung eine Kontrollfunktion. Das entspricht übrigens auch der Eigenart netzwerktypischer Interaktion, nach der die Netzwerkakteure die Entscheidungsprärogative über ihre Kerninteressen bekräftigen.1 Aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte ergibt sich diese Kontrollfunktion aus der Ambivalenz der vernetzten Weltordnung, wonach wir einerseits inter- und supranationale Institutionen zur Bewältigung des Regelungsbedarfs in einer globalisierten Weltgesellschaft brauchen, andererseits aber nicht auf nationalstaatliche Institutionen als „Wächter“ der demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften

 Oben Erster Teil, Kap. 6, B. und C.

1

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_10

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Kapitel 10: Kontrollfunktion

des Nationalstaats verzichten wollen.2 Auch wenn die Einsetzung inter- und supranationaler Institutionen und die Inkorporation des von diesen erlassenen Rechts in einer globalisierten Welt als Notwendigkeit erscheint, so werden Entscheidungskompetenzen auf diese doch nur unter der Bedingung übertragen, dass grundlegende Prinzipien nationalstaatlicher Verfassungen beachtet werden. Soweit im nationalen Gemeinwesen der Verfassungsgerichtsbarkeit die Kontrolle dieser Errungenschaften obliegt und Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung dazu aufgefordert sind, als eigenständige Akteure aufzutreten und sich am Konstitutionalismus als normative Richtschnur zu orientieren,3 spricht vieles dafür, dass sie auch in der vernetzten Weltordnung die Vereinbarkeit inter- und supranationaler Maßnahmen mit diesen konstitutionalistischen Errungenschaften kontrollieren. Aus der Perspektive inter- und supranationaler Gerichte geht es in vergleichbarer Weise darum, die Vereinbarkeit bestimmter Rechtsakte, seien es Maßnahmen der Mitglied­ staaten, seien es Maßnahmen anderer inter- oder supranationaler Organisationen, mit den grundlegenden Prinzipien und Normen des Gründungsvertrages zu kontrollieren.

A. Nationale Verfassungsgerichte Diese Auffassung, dass nationale Verfassungsgerichte Verfassungsprinzipien und – normen auch gegenüber dem Recht inter- und supranationaler Organisationen schützen sollen, ist keineswegs unumstritten. Im Gegenteil: Jedenfalls im Kontext der Europäischen Union handelt es sich um eine der kontroversesten Streitfragen überhaupt. Deshalb soll die Kontrollfunktion nationaler Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung in Auseinandersetzung mit der Kritik an einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Unionsrechts herausgearbeitet werden, die primär von Vertretern des Föderalismus vorgetragen wird und die sich in drei verschiede Einwände unterteilen lässt. Der erste Einwand ist eine Variation des estoppel-Prinzips bzw. des Grundsatzes venire contra factum proprium und besagt im Kern, dass es unzulässig ist, einerseits Entscheidungskompetenzen auf inter- oder supranationale Organisationen zu übertragen, andererseits aber deren Entscheidungen einer Kontrolle durch staatliche Institutionen zu unterwerfen (I.). Ein damit verwandter, allerdings gewaltenspezifisch ausgerichteter, zweiter Einwand gegen eine verfassungsgerichtliche Kontrollfunktion geht dahin, dass die Exekutive durch die Aushandlung völkerrechtlicher Verträge und die Legislative durch das Zustimmungsgesetz bereits eine Kontrollfunktion ausüben  – und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem  – anders als bei einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle – eine völkerrechtliche Bindung noch nicht be-

2  Zur Rollenbeschreibung des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess hat Kirchhof den Begriff des „Brückenwächters“ geprägt. Siehe Paul Kirchoff, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, 11 (15 f.). 3  Oben Erster Teil, Kap. 5, A. und B.

A. Nationale Verfassungsgerichte

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steht (II.).4 Zuletzt wird vor den Folgen einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle gewarnt, die, so die Befürchtung, zu Rechtszersplitterung und zur Gefährdung des Charakters der EU als Rechtsgemeinschaft führen könnte (II.).

I . Das strukturelle Dilemma aus den konstitutionellen Defiziten des inter- und supranationalen Rechts und der fortschreitenden Europäisierung und Internationalisierung Nach dem venire contra factum proprium-Einwand gegen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des inter- und supranationalen Rechts gibt der Nationalstaat mit der Übertragung von Entscheidungskompetenzen an inter- oder supranationale Organisationen das Recht auf, die auf der Grundlage der übertragenen Entscheidungskompetenzen getroffenen Entscheidungen einer Kontrolle zu unterziehen.5 Für diesen Einwand sprechen im Wesentlichen die gleichen Argumente, die bereits gegen ein pluralistisch-heterarchisches Arrangement der vernetzten Weltordnung angeführt wurden: Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränkt die einheitliche Anwendung des inter- und supranationalen Rechts in den Mitgliedstaaten und beeinträchtigt damit die Rechtsgleichheit der dem inter- und supranationalen Recht unterworfenen Bürger, sie befördert ein Sonderrecht für mächtige Staaten und widerspricht dem Grundsatz pacta sunt servanda.6 Es ist jedoch nicht offensichtlich, dass die Gewährleistung dieser Belange die wichtigsten Belange sind, die aus der institutionellen Perspektive eines nationalen Verfassungsgerichts auf dem Spiel stehen. Denn wenn die nationale Verfassung als höchstrangiges Recht die Beachtung konstitutionalistischer Prinzipien und Normen verlangt, dann können Verfassungsgerichte eine Beeinträchtigung der einheitlichen Anwendung des inter- und supranationalen Rechts und des Grundsatzes pacta sunt servanda zum Schutz dieser Prinzipien und Normen wohl verschmerzen. Durch die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation werden nationale Verfassungsprinzipien und -normen beeinträchtigt. In der vernetzten Weltordnung besteht ein strukturelles Dilemma zwischen den konstitutionellen Defizi Vgl. Art. 46 WVRK.  Diesen Einwand trägt auch die Senatsminderheit im Solange I-Beschluss vor, wenn sie argumentiert, dass die Bundesrepublik Deutschland durch den Beitritt zur EWG auf die Ausübung einer nationalen Kontrolle „gerade verzichtet“ habe. BVerfGE 37, 271 (295  f.)  – Solange I (1974). Ebenso Ulrich Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Integration, Integration 1994, 165 (171); ders., Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Maas­ tricht-Urteil, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, 57 (67). 6  Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. Ähnlich argumentiert die Senatsminderheit in Solange I, soweit sie der Senatsmehrheit vorwirft, unzulässig in die dem Europäischen Gerichtshof vorbehaltene Kompetenz einzugreifen und „für die Bundesrepublik Deutschland einen Sonderstatus“ zu schaffen. BVerfGE 37, 271 (299 f.) – Solange I (1974). 4 5

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Kapitel 10: Kontrollfunktion

ten im inter- und supranationalen Recht einerseits und der durch die Prozesse der Europäisierung und Internationalisierung beschriebenen veränderten Qualität und Quantität inter- und supranationaler Normen andererseits. Es hat sich gezeigt, dass zum einen der Grundrechtsschutz, der gegen inter- und supranationale Rechtsakte gewährleistet wird, hinter dem Schutzniveau zurückbleibt, das im Rahmen demokratisch-­rechtsstaatlicher Nationalstaaten gegenüber nationalen Rechtsakten vorausgesetzt wird. Das liegt zum einen daran, dass es in manchen internationalen Organisationen schon an Gerichten mit der Befugnis zur Kontrolle grundrechtsbeeinträchtigender Rechtsakte fehlt, die individuelle Grundrechtsbelange berücksichtigen könnten. Zum anderen entspricht selbst in Fällen, in denen ein inter- oder supranationales Gericht eine solche Befugnis hat, der Grundrechtsschutz inter- und supranationaler Organisationen nicht dem nationalstaatlichen Grundrechtsschutz, weil anderen Belangen wie der Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarkts oder der Wahrung der internationalen Sicherheit oft höhere Priorität eingeräumt wird als dem Schutz der demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats. Auch aus diesem Grund fehlt es immer wieder an einer hinreichenden Sensibilität in Grundrechtsfragen. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass sich, wie gesehen, Qualität und Inhalt inter- und supranationaler Regelungen in erheblichem Maße verändert haben. Klassisch völkerrechtliche Regeln sind auf die Koordination zwischenstaatlicher Beziehungen ausgerichtet und haben schon keinen Regelungsgehalt, aus dem eine Beeinträchtigung innerstaatlicher konstitutioneller Maßstäbe und Sicherungen resultieren könnte. Und selbst soweit dies einmal der Fall ist, sind diese Regeln typischerweise so allgemein gefasst und belassen dem Nationalstaat ein so erhebliches Maß an Umsetzungsspielraum, dass dieser seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen in einer Weise nachkommen kann, die im Einklang mit den Prinzipien und Normen der nationalen Verfassung steht. Im Zweifel kann der Staat die Grundrechte seiner Bürger gegenüber inter- und supranationalen Maßnahmen so durch die Art und Weise der Inkorporation der völkerrechtlichen Bestimmungen in die nationale Rechtsordnung schützen, ohne dabei seine völkerrechtliche Verpflichtung zu verletzen. Dem Inkorporationsakt kommt in dieser Konstellation eine maßgebliche grundrechtsschützende Bedeutung zu. Das hat sich grundlegend geändert: In Zeiten der Globalisierung wird die Tragbarkeit des Inkorporationsmechanismus als maßgebliches Mittel des Grundrechtsschutzes gegenüber inter- und supranationalen Maßnahmen infrage gestellt. Infolge der Prozesse der Europäisierung und der Internationalisierung wird die einst Grundrechtsbeeinträchtigungen abschwächende Wirkung des Inkorporationsakts, der verstärkt inter- und supranationale Regelungen nur noch nachvollzieht, erheblich reduziert.7 Entweder erfordern supranationale Bestimmungen eine unmittelbare Anwendung durch nationale Gerichte und Behörden, wodurch die angesprochenen konstitutionellen Defizite weitgehend ungefiltert in die nationalen Rechtsordnungen hineinwirken können, oder völkerrechtliche Bestimmungen haben statt eines staaten- verstärkt einen individualbezogenen Inhalt, der die staatlichen Institutionen un Dazu im Einzelnen: Oben Erster Teil, Kap. 2, H.

7

A. Nationale Verfassungsgerichte

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vermeidlich vor die Wahl zwischen dem Schutz nationaler Grundrechtspositionen und der Befolgung völkerrechtlicher Verpflichtungen stellt. Die einst autonome nationale Rechtsordnung wird durchlässig, die rechtliche Konstruktion eines „Souveränitätspanzers“ zunehmend obsolet und die inhaltliche Unterscheidung zwischen nationalem und inter- und supranationalem Recht verwischt. Trotz dieser grundlegend veränderten Ausgangslage fehlt es in vielen internationalen Organisationen entweder überhaupt an Gerichten, die eine Menschen- und Grundrechtskontrolle internationaler Maßnahmen ausüben könnten, oder die von bestehenden Gerichten durchgeführte Kontrolle weist nicht die Dichte nationalstaatlicher Gerichte auf. Vor diesem Hintergrund aber ist nicht einzusehen, warum Verfassungsgerichte nicht auch in der vernetzten Weltordnung eine Kontrollfunktion einnehmen sollen. Denn wenn Verfassungsgerichte spezifisch eingesetzt werden, um konstitutionalistische Prinzipien und Normen zu schützen und hochzuhalten und den verfassungsrechtlichen Menschen- und Grundrechtsschutz auch in anderen Zeiten, unter veränderten Umständen, gegen neuartige Herausforderungen zu realisieren, dann stellt sich die Frage, warum das nur gegenüber nationalstaatlichen Maßnahmen und nicht auch gegenüber inter- und supranationalen Maßnahmen gelten soll – vor allem wenn letztere konstitutionelle Defizite aufweisen.8

I I. Gewaltenspezifische Unterschiede aus einer Weltinnenperspektive Nach dem zweiten Einwand gegen eine verfassungsgerichtliche Kontrollfunktion können staatliche Institutionen inter- und supranationales Recht zwar kontrollieren, allerdings obliegt diese Kontrolle nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern der Exekutive und der Legislative bei der Aushandlung von und der Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen. Dieser Einwand lässt sich in zwei Spielarten formulieren: Zum einen wird der Standpunkt vertreten, dass der Staat nach außen mit einem einheitlichen Willen auftreten muss. Deshalb dürfe eine verfassungsgerichtliche Kontrolle jedenfalls nach der Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrages nicht mehr stattfinden. Zum anderen lässt sich argumentieren, dass die Regierung und das Parlament als Institutionen besser zur Ausübung einer verfassungsrechtlichen Kontrolle des inter- und supranationalen Rechts geeignet sind als das Verfassungsgericht. In der ersten Spielart stellt dieser gewaltenspezifische Einwand folglich weniger auf die institutionenspezifische Eignung, sondern auf das Erfordernis einer einheitlichen Außendarstellung ab, in der zweiten Spielart stehen die distinktiven institutionellen Merkmale im Vordergrund.

8  In diesem Sinne auch Nollkaemper, der den Widerstand nationaler Gerichte gegen einen uneingeschränkten Vorrang des internationalen Rechts für legitim erachtet und sich dafür ausspricht „for qualifying the principle of supremacy“. André Nollkaemper, Rethinking the Supremacy of International Law, ZÖR 65 (2010), 65 (76).

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Kapitel 10: Kontrollfunktion

Im Rahmen der Entwicklung der Konzeption der vernetzten Weltordnung wurde bereits klargestellt, dass der Staat in der vernetzten Weltordnung nicht als unitarischer Akteur begriffen werden sollte. Vielmehr sollte aus der Perspektive einer Weltinnenpolitik ein institutionenspezifischer Blick auf die vielschichtigen Pro­ bleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung geworfen werden. Aus einer solchen Perspektive aber lassen sich die klassischen Vorstellungen von der einheitli­ chen Außenrepräsentation des Staats und der „Hohen Politik“ als Arkanbereich der Exekutive nicht mehr aufrechterhalten. Mit der klassisch-dualistischen Trennung zwischen der Völkerrechtsordnung und der nationalen Rechtsordnung lässt sich ein grundlegend unterschiedliches institutionelles Rollenverständnis unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung nicht mehr rechtfertigen.9 Vielmehr bedarf es einer komparativen, institutionenspezifischen Analyse der Frage, welche Institution sich am besten für die Wahrnehmung einer solchen Kontrollfunktion eignet. Dabei ist davon auszugehen, dass die gewaltenspezifischen Aufgabenbeschreibungen und distinktiven institutionellen Merkmale und Interessen in den Bereich der Auswärtigen Gewalt fortwirken. Wie wir gesehen haben, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit institutionell spezifisch auf die Kontrolle verfassungsrechtlicher Prinzipien und Normen ausgerichtet. Die Exekutive hingegen ist institutionell nicht vorrangig dafür ausgestaltet, die Gewährleistung von Grundrechten sicherzustellen. Im Gegenteil: Im Nationalstaat besteht eine der zentralen Aufgaben von Gerichten darin, die Exekutive am Maßstab des Gesetzes und der Verfassung zu kontrollieren und Individuen vor staatlichen Maßnahmen zu schützen. Die primäre Aufgabe der Exekutive besteht darin, recht- und zweckmäßige Lösungen für Politikprobleme zu erarbeiten und zu implementieren. Das erklärt auch, warum es die Exekutive ist, die die Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf inter- und supranationale Organisationen in der Regel vorantreibt. In einer globalisierten Welt sind grenzüberschreitende Regelungen häufig das wirksamste Mittel zur Problemlösung.10 So wichtig diese exekutivische Problemlösungsorientierung auch ist, erscheint die Exekutive nicht als Lösung des Problems der konstitutionellen Defizite im inter- und supranationalen Recht, sondern als Teil des Problems. Gerade weil inter- und supranationale Gerichte und Tribunale fehlen und die Exekutive den dominanten Akteur in den internationalen Beziehungen darstellt, ist der Grundrechtsschutz defizitär.

9  Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, EJIL 15 (2004), 907 (929). 10  Manchmal kann es auch im Interesse der Exekutive sein, bestimmte politische Entscheidungen aus strategischen Gründen in inter- und supranationale Foren zu verlagern und damit gleichzeitig außerhalb der Reichweite der nationalen Öffentlichkeit, des Parlaments und der Gerichte zu bringen.

A. Nationale Verfassungsgerichte

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III. Die Dammbruch-Rhetorik föderalistischer Vertreter Der dritte Einwand gegen eine verfassungsgerichtliche Kontrollfunktion betrifft die Folgen einer nationalen Kontrolle. Wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit eine Kon­ trollfunktion gegenüber dem Recht inter- und supranationaler Organisationen wahrnimmt, muss man davon ausgehen, dass sie diese Kontrolle auch gelegentlich ­ausübt, sprich, dass sie einem inter- oder supranationalen Rechtsakt die Anerkennung in der nationalen Rechtsordnung versagt. Vor den daraus resultierenden Folgen warnen einige Vertreter des Föderalismus. Aus ihrer Sicht droht eine solche Kontrolle „die Rechtsgrundlagen der Union zu zerstören“.11 Manche Autoren setzen die Versagung der Anwendung eines europäischen Rechtsakts in der deutschen Rechtsordnung durch das Bundesverfassungsgericht metaphorisch mit einem atomaren Erstschlag gleich, indem sie das gespannte Verhältnis zwischen dem EuGH und dem BVerfG – in Anlehnung an den Kalten Krieg und die damals herrschende Angst vor einem Atomkrieg zugespitzt  – als „mutually assured destruction“ bezeichnen.12 Auch die Senatsminderheit in Solange I befürchtet als Konsequenz „Rechtszersplitterung“ auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts und warnt davor, dass die Ausübung einer nationalen Kontrolle ein Stück europäischer Rechtseinheit preisgebe, den Bestand der Gemeinschaft gefährde und den Grundgedanken der europäischen Einigung verleugne.13 Obwohl das Argument der Gefährdung der europäischen Rechtsgemeinschaft durch verfassungsgerichtliche Kontrolle zum Standardjargon im „föderalistischen“ Schrifttum zählt, ist bislang kaum der Versuch unternommen worden, die Struktur und Plausibilität dieser Argumentation systematisch zu untersuchen.14 Auffällig ist jedenfalls die Diskrepanz zwischen der apokalyptisch-hobbesianischen Endzeit-­ Rhetorik einerseits, die das Ende des europäischen Integrationsprojekts befürchten lässt, und dem Ausbleiben jeglicher Hinweise, wie diese Entwicklung in concreto verlaufen könnte andererseits. Es handelt sich um ein sogenanntes „Dammbruch“-Argument, im angelsächsischen Sprachraum als „slippery slope“ bezeichnet, das Situationen beschreibt, in denen eine Entscheidung, die zumindest als vertretbar erachtet wird, zu einem unerwünschten Endresultat führt, das uneingeschränkt abgelehnt wird.15 Das Wesen des Dammbrucharguments besteht also darin, eine  Doris König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, 591. 12  J.H.H.  Weiler/Ulrich Haltern, The Autonomy of the Community Legal Order  – Through the Looking Glass, Harv. J. Int’l L. 37 (1996), 411 (445). 13  BVerfGE 37, 271 (298) – Solange I (1974). 14  Aber siehe Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (291 f.). 15  Eugene Volokh, The Mechanisms of Slippery Slope, Harv. L. Rev. 116 (2003), 1026 (1030). Insbesondere in der US-amerikanischen Rechtsliteratur gibt es mehrere instruktive Aufsätze, die „slippery slope“-Argumente systematisch auf ihre logische Struktur und ihre empirischen Voraussetzungen hin analysieren, auf die im Folgenden Bezug genommen wird. Siehe insb. Eugene Vo11

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Kapitel 10: Kontrollfunktion

vertretbare Lösung eines gegenwärtigen Problems in Widerspruch zu einer hypothetischen, aber möglichen, im Falle ihres Eintritts inakzeptablen Entwicklung zu stellen.16 Diese Struktur ist auch den nachgezeichneten föderalistischen ­Argumenten eigen, die eine Kontrolle inter- und supranationaler Rechtsakte durch nationale Verfassungsgerichte ablehnen, weil sie befürchten, dass nationale Gerichte europäisches Unionsrecht immer öfter unangewendet lassen und dadurch die Autorität des Unionsrechts und des Europäischen Gerichtshofs untergraben. Die Warnungen vor Rechtszersplitterung beziehen sich nicht auf einen isolierten Fall, in dem ein nationales Verfassungsgericht einem konstitutionalistisch defizitären unionalen Rechtsakt die Anwendung im innerstaatlichen Bereich versagt.17 Die Sorge ist vielmehr, dass es nicht bei einem Einzelfall bleibt, sondern eine Vielzahl von nationalen Gerichtsentscheidungen folgen, die europäisches Recht unangewendet lassen und so eine wichtige Voraussetzung europäischer Integration gefährden: dass ein Mitgliedstaat, der europäische Vorgaben befolgt, sich darauf verlassen kann, dass alle anderen Mitgliedstaaten dies ebenso tun. Dammbruchargumente sind in der Lage, gesellschaftliche Entwicklungen und Wirkungszusammenhänge treffend vorauszusagen,18 sie sind allerdings logisch nicht überzeugend. In praktisch jedem Fall kann die Gegenseite ein logisch gleich strukturiertes Argument von gleicher logischer Überzeugungskraft anbringen.19 Der lokh, ebd., 1026 ff.; Frederick Schauer, Slippery Slope, Harv. L. Rev. 99 (1985), 361 ff.; Eric Lode, Slippery Slope Arguments and Legal Reasoning, Cal. L. Rev. 87 (1999), 1469 ff. 16  Frederick Schauer, ebd., 364 f.: „Both the slippery slope argument and most of its similar but distinguishable compatriots involve a common theme – contrast between a tolerable solution to a problem now before us and an intolerable result with respect to some currently hypothetical but potentially real future state of affairs“. 17  Treffend die Banalität mit seinem Aufsatz erfassend: Ulrich Everling, Will Europe Slip on Bananas? The Bananas Judgment of the Court of Justice and National Courts, CML Rev. 33 (1996), 401 ff. 18  Frederick Schauer, Slippery Slope, Harv. L. Rev. 99 (1985), 361 (369 f.). 19  Die logische Struktur der Gegner einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Anwendung von europäischem Unionsrecht im nationalen Rechtsraum lautet etwa so: Wenn das Bundesverfassungsgericht aufgrund von Bestimmungen des Grundgesetzes eine europäische Verordnung unangewendet lässt, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, dass auch andere europäische Verfassungsgerichte oder letztinstanzliche Gerichte europäischen Rechtsakten die Anerkennung im nationalen Rechtsraum versagen. Während nationale Gerichte eine verfassungsrechtliche Kon­ trolle ursprünglich nur unter engen Bedingungen ausüben, weiten sich diese stetig aus, so dass es in Zukunft eine Vielzahl von Entscheidungen geben wird, in denen nationale Gerichte aufgrund nationaler Präferenzen das Unionsrecht missachten und die europäische Rechtsordnung an Glaubwürdigkeit verliert. Dadurch wird dem europäischen Integrationsprojekt eine seiner Grundbedingungen entzogen. Genauso können aber auch die Befürworter einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle argumentieren: Wenn nationale Verfassungsgerichte und höchste Gerichte davon absehen, europäisches Sekundärrecht auf seine Vereinbarkeit mit zentralen Bestimmungen der nationalen Verfassung wie den Grundrechten zu überprüfen, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, dass der Europäische Gerichtshof die Kontrolldichte bei der grundrechtlichen Prüfung europäischer Rechtsakte herablässt. Während es bislang vor dem Hintergrund des Damoklesschwerts verfassungsgerichtlicher Kontrolle nur vereinzelte Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gab, in denen die grundrechtliche Kontrolldichte den deutschen Grundrechtsstandard deutlich unterschritt, entwickeln sich solche Entscheidungen zum Regelfall, so dass ein effektiver Grundrechts-

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Mangel an logischer Durchschlagskraft soll nicht die Bedeutung des Dammbrucharguments mindern. Entscheidend ist jedoch, sich zu vergegenwärtigen, dass die Überzeugungskraft eines Dammbrucharguments nicht auf logischer Deduktion, sondern vielmehr auf empirischen Zusammenhängen beruht.20 Deshalb sollte derjenige, der sich auf Dammbruchargumente beruft, die unterschiedlichen Faktoren und Entwicklungsschritte herausarbeiten, die zum Eintritt des unerwünschten zukünftigen Falles führen könnten.21 Denn ohne empirischen Bezug wird dem Dammbruchargument seine Grundlage entzogen.22 Genau diese Anforderungen aber werden im Zusammenhang mit Dammbruchargumenten in der Regel nicht erfüllt.23 Wie es schrittweise zu Rechtszersplitterung und Ende der europäischen Rechtsgemeinschaft kommen kann, wird nicht nachvollziehbar ausgeführt. Das deutet darauf hin, dass sich hinter der Warnung einer fatalen Entwicklung für das europäische Integrationsprojekt durch die Ausübung einer verfassungsgerichtlichen Kontrollfunktion vor allem eine normative Präferenz für einen uneingeschränkten Vorrang des Unionsrechts, für Integrationsfreundlichkeit und für Rechtseinheit verbirgt.24 Plausibler erscheint es, dass eine zurückhaltend ausgeübte Kontrolle nationaler Verfassungsgerichte gegenüber der Rechtsprechung des EuGH trotz der prekären Natur des Unionsrechts zu einem überwiegend konstruktiven rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog beiträgt, anstatt die europäische Rechtsgemeinschaft ernsthaft zu gefährden.25 Selbst die Entscheidungen des tschechischen Verfassungsschutz gegenüber europäischen Rechtsakten kaum noch gewährleistet und den wirtschaftlichen Prärogativen des Brüsseler Bürokratieapparates zunehmend Vorrang vor den Individualrechten der Bürger eingeräumt wird. Dadurch wird eine der zentralen Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats durch das europäische Integrationsprojekt unterwandert. 20  Frederick Schauer, Slippery Slope, Harv. L. Rev. 99 (1985), 361 (381). Das Problem des Dammbrucharguments ist, dass es Gefahr läuft, in einen allgemeinen Appell im Angesicht einer unsicheren Zukunft zusammenzufallen. Ebd., 376. 21  Ebd., 376. 22  Ebd., 382. Denn dadurch, dass das Dammbruchargument die Aufmerksamkeit auf eine mögliche zukünftige Entwicklung lenkt, stellt es auch ein Eingeständnis dar, dass der gegenwärtige Fall weniger bedenklich ist – es ist die Entwicklung, die von dieser Entscheidung ausgehen könnte, nicht die Entscheidung allein, die Sorgen bereitet; diese Entwicklung sollte dann aber auch sorgfältig vorgezeichnet werden. Ebd., 369. 23  Exemplarisch im Zusammenhang mit dem Begriff der nationalen Verfassungsidentität: „Der Appell an das Nationale kann im Kontext der europäischen Integration leicht zur Öffnung der Büchse der Pandora werden  – sowohl hinsichtlich nationalistischer Fliehkräfte, die zu überwinden das europäische Einigungswerk einst begonnen wurde, als auch – vor allem in den Mitgliedstaaten – mit Blick auf separatistische Bestrebungen.“ So Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63 (85 f.). 24  Lode weist zutreffend darauf hin, dass sich unter dem Mantel des Dammbrucharguments oft tiefergehende Bedenken verbergen, die sich nicht in erster Linie gegen die Folgen wenden, die von Entscheidung A ausgehen, sondern dagegen, dass Entscheidung A einen Wert beeinträchtigt, der dem Verwender des Dammbrucharguments besonders wichtig ist. Eric Lode, Slippery Slope Arguments and Legal Reasoning, Cal. L. Rev. 87 (1999), 1469 (1528). 25  Kumm analysiert die Plausibilität der Prognosen von Gegnern und Befürwortern einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Unionsrechts, indem er zwei Szenarien unterscheidet: das apokalyptische Cassandra-Szenario, in dem die verfassungsgerichtliche Kontrolle schrittweise in ei-

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Kapitel 10: Kontrollfunktion

gerichts in Holubec26 und des dänischen Højesteret in Ajos,27 die die Rechtsprechung des EuGH als Ultra-vires-Akt qualifizierten, haben bislang die apokalyptischen Szenarien nicht bestätigt, die für den Fall eines offenen Verfassungskonflikts zwischen dem EuGH und einem nationalen Verfassungsgericht teilweise ausgemalt wurden.28 Die gegenwärtige europäische Verfassungskrise deutet darauf hin, dass die größten Gefahren für eine Desintegration in Europa im politischen und nicht im judiziellen Bereich liegen.29

B. Inter- und supranationale Gerichte Eine Kontrollfunktion in der vernetzten Weltordnung erfüllen auch inter- und supranationale Gerichte gegenüber dem inter- und supranationalen Recht und gegenüber dem nationalen Recht. Zum Ersten kontrollieren die Gerichtshöfe regionaler Integrationsgemeinschaften, wie der EuGH oder der Gerichtshof der Andengemeinschaft, die Vereinbarkeit des Sekundärrechts mit dem Primärrecht, der „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“.30 Zum Zweiten üben der EuGH und der EGMR auch gegenüber rechtsordnungsfremden internationalen Regimen eine Kontrollfunktion aus, die klassischerweise von nationalen Verfassungsgerichten erfüllt wird.31 Im Fall des EuGH hängt das in erster Linie mit dem Bedürfnis nach einem einheitlichen, von allen EU-Mitgliedsstaaten geteilten Regelungsansatz zusammen, etwa wenn im Kampf gegen den transnationalen Terrorismus verabschiedete UN-Sicherheitsratsresolutionen durch eine europäische Verordnung inkorporiert werden. Hier tritt die europäische als inkorporierende Rechtsordnung auf und der EuGH wird dadurch strukturell gleichartig situiert wie ein nationales Verfassungsgericht, wenn er die Verordnung – und nen Zustand intergouvernementaler Anarchie führt und das europäische Integrationsprojekt zerstört, und das idealisierte Pangloss-Szenario, in dem sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle als konstruktive korrektive Kraft erweist. Zu Recht nimmt Kumm an, dass das Pangloss Szenario der gegenwärtigen Rechtsprechungspraxis deutlich näher kommt als das Cassandra-Szenario. Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (291 f.). 26  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12 – Holubec. Dazu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., c. 27  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A. Hierzu unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., b., bb. 28  Näher zu den Entscheidungen: Unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., b., bb. und c. 29  Zur europäischen Verfassungskrise: Armin von Bogdandy/Pál Sonnevend (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, 2015. 30  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P  – Kadi v. Rat und Kommission, ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 281 f. Dazu Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (31). Eingehend zu den Verfassungselementen in inter- und supranationalen Gründungsverträgen: Anne Peters, Das Gründungsdokument internationaler Organisationen als Verfassungsvertrag, ZÖR 68 (2013), 1 ff. 31  In der Einleitung wurde bereits kurz das Verständnis dafür skizziert, den EuGH und den EGMR unter dem Topos der Verfassungsgerichtsbarkeit zu betrachten. Siehe oben Einleitung, B., I., 1.

C. Zusammenfassung

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damit mittelbar die Sicherheitsratsresolution – am Maßstab des europäischen Primärrechts kontrolliert. Eine vergleichbare – wenn auch etwas anders gelagerte – Situation ergibt sich im Fall des EGMR, wenn dieser die Inkorporation von inter- und supranationalen Rechtsakten, etwa einer UN-Sicherheitsratsresolution oder einer EU-Verordnung, durch einen Konventionsstaat am Maßstab der EMRK prüft. Zum Dritten kontrollieren inter- und supranationale Gerichte auch die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit den Bestimmungen ihrer eigenen (inter- oder supranationalen) Rechtsordnung. Wir erinnern uns, dass inter- und supranationale Institutionen eingesetzt werden, um bestimmte weltgesellschaftliche Belange wie das europäische Integrationsprojekt oder den globalen Freihandel voranzutreiben. Dementsprechend enthalten die Gründungsverträge inter- und supranationaler Organisationen zentrale Prinzipien und Grundsätze, die die jeweiligen Belange ihrer Rechtsordnung schützen sollen, von den Grundsätzen der Nicht-Diskriminierung und der Meistbegünstigung in der WTO, zu Grund- und Menschenrechtsbestimmungen in regionalen Menschenrechtskonventionen wie der EMRK, der AMRK und der ACHPR, hin zu den Grundfreiheiten und der Grundrechtecharta in der EU. Eine der zentralen Aufgaben der Gerichtshöfe und Spruchkörper dieser interund supranationalen Organisationen besteht darin, die Vereinbarkeit nationaler Maßnahmen mit diesen Prinzipien zu kontrollieren. Damit gibt es deutliche Parallelen zur Tätigkeit eines nationalen Verfassungsgerichts: Während dieses die Handlungen staatlicher, aber auch inter- und supranationaler Institutionen am Maßstab der Verfassung prüft, gewährleisten inter- und supranationale Gerichte den Schutz der Prinzipien und Normen ihrer Rechtsordnung gegenüber (mitglied-)staatlichen Institutionen.

C. Zusammenfassung Nationale Verfassungsgerichte und inter- und supranationale Gerichte erfüllen in der vernetzten Weltordnung eine Kontrollfunktion: Erstere kontrollieren die Vereinbarkeit des inter- und supranationalen Rechts mit den Prinzipien und Normen ihrer Verfassung, letztere die Vereinbarkeit erstens des rechtsordnungseigenen Sekundärrechts, zweitens des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts und drittens des mitgliedstaatlichen Rechts am Maßstab des Primärrechts (und im dritten Fall auch des Sekundärrechts). In Hinsicht auf die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit können die gegen eine Kontrolle vorgebrachten Einwände im Ergebnis nicht überzeugen. Zum Ersten erscheint die Wahrnehmung einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle gegenüber dem inter- und supranationalen Recht nicht als unzulässig, auch wenn dieses Recht auf Grundlage übertragener Entscheidungskompetenzen erlassen wurde, soweit entweder inter- oder supranationale Gerichte zur Kontrolle dieses Rechts ganz fehlen oder die konstitutionalistische Kontrolldichte dieser Gerichte erheblich hinter dem nationalen Schutzniveau zurückbleibt. Zum Zweiten ist die Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich zu Regierung und Parlament aus institutionenspezifischer Perspektive am besten für die Wahrnehmung

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Kapitel 10: Kontrollfunktion

einer solchen Kontrollfunktion geeignet. Zum Dritten erscheinen die Folgen einer maßvoll ausgeübten Kontrolle überschaubar, den teilweise vorgetragenen Dammbruchargumenten fehlt es häufig an einem hinreichenden empirischen Bezug. Die entscheidende Frage ist damit nicht, ob, sondern wie die verfassungsgerichtliche Kontrolle ausgeübt wird.32

32

 Hierzu grundsätzlich Dritter Teil, Kap. 14, 15, 16 und 17.

Kapitel 11: Übertragungsfunktion

Wir haben gesehen, dass einerseits die verfassungsgerichtliche Inkorporationsfunktion von nationalen Verfassungsgerichten verlangt, inter- und supranationales Recht in die eigene Rechtsordnung zu inkorporieren, es andererseits der Kontrollfunktion entspricht, inter- und supranationales Recht auf seine Vereinbarkeit mit verfassungsrechtlichen Prinzipien und Normen zu kontrollieren. Diese beiden Funktionen können in entgegengesetzte Richtungen wirken: Die Kontrolle steht der Inkorporation vor allem dann entgegen, wenn dem inter- oder supranationalen Recht die Anerkennung in der inkorporierenden nationalen Rechtsordnung verweigert wird. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios hängt entscheidend davon ab, inwieweit die rechtssetzende inter- oder supranationale Rechtsordnung nach den konstitutionalistischen Prinzipien und Normen der inkorporierenden nationalen Rechtsordnung ausgestaltet ist. Mit anderen Worten: Je größer die Diskrepanz zwischen rechtssetzender und inkorporierender Rechtsordnung, desto stärker wird die verfassungsgerichtliche Kontrolle der inkorporierenden Rechtsordnung sein und desto geringer wird gleichzeitig die Bereitschaft sein, das rechtsordnungsfremde Recht in die eigene Rechtsordnung zu inkorporieren. Hier setzt die verfassungsgerichtliche Übertragungsfunktion an: Danach wirken Verfassungsgerichte auf die Übertragung rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen – und zwar insbesondere solcher konstitutionalistischer Herkunft – in andere Rechtsordnungen hin. Dahinter steht die Erwägung, dass damit die „konstitutionalistische“ Diskrepanz zwischen den Rechtsordnungen reduziert wird und die Rechtsakte der rechtssetzenden Rechtsordnung bedenkenlos inkorporiert werden können. Diese Übertragungsfunktion erfüllen nationale Verfassungsgerichte, aber auch inter- und supranationale Verfassungsgerichte. Im Zusammenhang mit nationalen Verfassungsgerichten ist die Übertragungsfunktion eng mit dem grundlegenden Dilemma der vernetzten Weltordnung verbunden: Einerseits soll die politische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in einer © Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_11

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Kapitel 11: Übertragungsfunktion

globalisierten Welt sichergestellt werden, aber ohne andererseits die demokratisch-­ rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats aufzugeben. Auf Dauer lassen sich diese beiden Belange nur miteinander in Einklang bringen, wenn inter- und supranationale Institutionen bei ihren Entscheidungen konstitutionalistische Prinzipien beachten. Dadurch entsteht ein enger Zusammenhang zwischen der Inkorporationsfunktion inter- und supranationaler Gerichte und der Übertragungsfunktion nationaler Verfassungsgerichte: Für letztere, denen im nationalen Gemeinwesen die Kontrolle konstitutionalistischer Prinzipien und Normen obliegt, folgt aus dem dargestellten Dilemma, dass sie auf die Beachtung dieser Prinzipien und Normen durch inter- und supranationale Institutionen hinwirken. Die Kehrseite ist freilich, wie gezeigt, dass inter- und supranationale Institutionen solche konstitutionalistischen Belange in ihre Rechtsordnung inkorporieren, um Kontestationen durch nationale Verfassungsgerichte zu vermeiden. Die Gewährleistung konstitutionalistischer Prinzipien durch inter- und supranationale Gerichte hat den Vorzug, dass diese einheitliche Maßstäbe entwickeln können, die für alle Mitglieds- und Vertragsstaaten gelten. Zunächst sollen in einem ersten Schritt mit Blick auf nationale Verfassungsgerichte die Parallelen und Unterschiede zwischen der Übertragungs- und der Kon­ trollfunktion dargelegt werden (A. I.). Anschließend soll gezeigt werden, anhand welcher Mechanismen nationale Verfassungsgerichte rechtsordnungseigene konstitutionalistische Prinzipien und Normen in inter- und supranationale Rechtsordnungen übertragen (A. II.). Zuletzt wird aufgezeigt, wie die Übertragungsfunktion den Fragmentierungstendenzen in der vernetzen Weltordnung entgegenwirken kann, indem sie auf einen normativen Grundkonsens zwischen den in den verschiedenen Rechtsordnungen zum Ausdruck kommenden Logiken und Selbstverständnissen hinwirkt (A. III.). In einem zweiten Schritt soll dann umrissen werden, in welcher Weise man davon sprechen kann, dass inter- und supranationale Gerichte eine Übertragungsfunktion wahrnehmen (B.).

A. Nationale Verfassungsgerichte I . Der Zusammenhang zwischen Übertragungsund Kontrollfunktion Zwischen der Übertragungs- und der Kontrollfunktion besteht erkennbar ein Zusammenhang: Beide zielen auf die Gewährleistung konstitutionalistischer Prinzipien und Normen ab, die im Rahmen des liberalen Verfassungsstaats entwickelt wurden und entsprechend in der Verfassung ihren Niederschlag gefunden haben. Übertragungs- und Kontrollfunktion sind unterschiedliche Dimensionen der Sicherung demokratisch-rechtsstaatlicher Errungenschaften. Die Übertragungsfunktion ist offensiv und gestalterisch ausgerichtet: Sie zielt auf die Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien und Normen auf inter- und supranationale Organisationen

A. Nationale Verfassungsgerichte

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ab, damit diese ihre konstitutionellen Defizite beheben und äquivalente Prinzipien und Normen entwickeln.1 Die Kontrollfunktion dagegen hat einen defensiven, abwehrenden Charakter: Danach verweigern Verfassungsgerichte rechtsordnungsfremdem Recht die Inkorporation in die eigene Rechtsordnung, soweit dieses grundlegende konstitutionalistische Prinzipien und Normen nicht beachtet.2 Freilich kann auch eine aus der Wahrnehmung der verfassungsgerichtlichen Kontrollfunktion resultierende Verweigerung der Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts zu einer stärkeren Berücksichtigung nationaler Verfassungsprinzipien und -normen durch inter- und supranationale Institutionen führen. Was unterscheidet also die Übertragungs- von der Kontrollfunktion? Die Übertragungsfunktion ist gezielt auf die Veränderung der Entscheidungspraxis inter- und supranationaler Institutionen ausgerichtet, für die Kontrollfunktion ist das ein Nebeneffekt, der aus dem Schutz rechtsordnungseigener Verfassungsprinzipien und -normen folgen kann, aber nicht folgen muss. Beide Funktionen unterscheiden sich auch in ihrer Perspektive auf rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte: Aus der Perspektive der Kontrollfunktion wird die Entstehung solcher Konflikte zum Schutz konstitutionalistischer Prinzipien und Normen in Kauf genommen, auch wenn aus diesen Konflikten ein gewisses Risiko für die vernetzte Weltordnung resultiert; die Übertragungsfunktion dagegen will die Möglichkeit der Entstehung solcher Konflikte eindämmen. Sie zielt darauf ab, die Entstehung von rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten präventiv zu verhindern, indem konstitutionalistische Prinzipien und Normen auf inter- und supranationale Institutionen übertragen werden. Denn insoweit diese Institutionen äquivalente Prinzipien 1  Hierbei handelt es sich nicht nur um die Bewahrung eigener interner Standards gegenüber fremden Hoheitsakten, die in die innerstaatliche Rechtsordnung hineinwirken, sondern auch um die Verpflichtung zu einem „Grundrechtsexport“ dieser Standards in neue Rechtsordnungen, die von den Mitgliedstaaten der EMRK geschaffen werden. Christian Walter, Grundrechtsschutz gegen Hoheitsakte internationaler Organisationen, AöR 129 (2004), 39 (78). 2  Die Unterscheidung zwischen der verfassungsgerichtlichen Kontroll- und der Übertragungsfunktion ist auch in Art. 23 Abs. 1 GG angelegt. Die Kontrollfunktion kommt zum Ausdruck in dem Verweis des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auf die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Die Übertragungsfunktion findet ihren Ausdruck in der sogenannten Struktursicherungsklausel des Art.  23 Abs. 1 S. 1 GG, die einerseits einen verfassungsrechtlichen Auftrag an Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat enthält, auf die künftige Ausgestaltung einer Europäischen Union hinzuwirken, die „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“, andererseits die Übertragung von Hoheitsrechten davon abhängig macht, dass die Europäische Union diesen Strukturprinzipien entspricht. Siehe dazu Rüdiger Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, 417 (422). Zwischen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG besteht ein Zusammenhang, der auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angelegt ist. Der Grad der Ausgestaltung der Europäischen Union nach den Strukturprinzipien des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG beeinflusst damit die an Art. 79 Abs. 3 GG orientierten Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten. Im Grundsatz lässt sich sagen, dass je mehr die Europäische Union diesen Strukturprinzipien entspricht, desto geringer sind die verfassungsrechtlichen Grenzen für die Übertragung von Hoheitsrechten. Doris König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, 291.

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Kapitel 11: Übertragungsfunktion

und Normen bei ihren Entscheidungen berücksichtigen, wird die Wahrscheinlichkeit dramatisch reduziert, dass diese Entscheidungen mit den grundlegenden Verfassungsprinzipien und -normen der Mitgliedstaaten konfligieren.3

II. Übertragungsmechanismen Wie aber können nationale Verfassungsgerichte inter- und supranationale Gerichte dazu bewegen, nationale Verfassungsprinzipien und -normen zu berücksichtigen? Ein zentraler Faktor für Veränderungen in der richterlichen Entscheidungspraxis ist der rechtsordnungsübergreifende Dialog: Wenn nationale Verfassungsgerichte sich inhaltlich mit der Rechtsprechung inter- und supranationaler Gerichte auseinandersetzen, auf diese Bezug nehmen, Kritik äußern und Warnungen formulieren, dann setzen sie damit auch Lern- und Sozialisierungsprozesse in Gang. Im Rahmen der Rekonstruktion rechtsordnungsübergreifender Gerichtsinteraktion in Netzwerken hat sich gezeigt, dass die netzwerkartige Beziehungsstruktur in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken das Führen eines herrschaftsfreien Diskurses begünstigt und Richter trotz widerstreitender Positionen einen sachorientierteren Diskurs pflegen.4 Bedenkt man, dass die Organisation und Ausgestaltung der vernetzten Weltordnung ein entwicklungsoffener, im Entstehen begriffener Prozess ist, dann steckt für nationale Verfassungsgerichte gerade in der Teilnahme an einem rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog eine große Chance, konstitutionalis­ tische Prinzipien und Normen auf inter- und supranationale Rechtsordnungen zu übertragen. Ein spezifischer, antagonistischer Dialogmechanismus, in dessen Zusammenhang sich das accountability-Konzept fruchtbar machen lässt, ist die Herstellung von Rechenschaftspflicht-Mechanismen. Danach schafft, wie bereits dargelegt, die Aussicht eines Rechenschaftspflichtigen, gegenüber einer anderen Person Rechenschaft ablegen zu müssen, die bei negativer Bewertung den Rechenschaftspflichtigen sanktionieren kann, bei diesem Anreize, die Interessen der anderen Person zu berücksichtigen.5 Mit Hilfe dieses Mechanismus lassen sich die verfassungsrechtlichen Prinzipien und Normen einer Rechtsordnung auf eine andere Rechtsordnung übertragen. Denn soweit inter- oder supranationale Institutionen, wie im Rahmen der Inkorporationsfunktion herausgearbeitet wurde, auf die Inkorporation ihrer 3  In der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur ist dieser Zusammenhang frühzeitig erkannt und mit Begriffen wie strukturelle Kongruenz, Konvergenz, Homogenität der Wertvorstellungen, sowie Prinzip struktureller Kompensation beschrieben worden. An dieses Verständnis knüpft das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil an, wenn es Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als „‚eine Art Gleitklausel‘“ versteht, „der zufolge die aus dem Grundgesetz hergeleiteten Schranken in dem Maße an Bedeutung verlieren, in dem die Gemeinschaftsrechtsordnung selbst die der deutschen Verfassung entsprechenden Garantien aufweist“. So zutreffend Doris König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, 420. 4  Oben Erster Teil, Kap. 6, D. 5  Oben Erster Teil, Kap. 6, A., II.

A. Nationale Verfassungsgerichte

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Entscheidungen durch nationale Institutionen angewiesen sind,6 verfügen nationale Verfassungsgerichte über ein beträchtliches Sanktionspotenzial. Sie können die Inkorporation inter- und supranationaler Rechtsakte davon abhängig machen, dass diese Rechtsakte sich im Einklang mit den Prinzipien und Normen der nationalen Verfassung befinden und damit ein inter- oder supranationales Gericht dazu bewegen, bei der richterlichen Kontrolle dieser unionsrechtlichen Rechtsakte nationale Verfassungsbelange stärker zu berücksichtigen. Das BVerfG hat einen solchen accountability-­Mechanismus gegenüber dem EuGH im Hinblick auf den Grundrechtsschutz in seiner Solange-Rechtsprechung errichtet, andere Gerichte sind diesem Ansatz gefolgt.7 Durch die Verkopplung der Inkorporation inter- und supranationalen Rechts mit der Beachtung verfassungsrechtlicher Prinzipien können nationale Verfassungsgerichte diese Prinzipien in inter- und supranationale Entscheidungsprozesse einspeisen und diese in eine bestimmte Richtung lenken – die Entscheidung, ob und in­ wieweit diese Prinzipien berücksichtigt werden, obliegt aber letztlich dem inter- und supranationalen Gericht. Das nationale Verfassungsgericht kann diese Entscheidung nicht abändern, sondern nur durch Nicht-Inkorporation sanktionieren.

III. Die Übertragungsfunktion und der Fragmentierungsprozess Die verfassungsgerichtliche Übertragungsfunktion lässt sich auch als eine Reaktion auf das Phänomen der Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts verstehen, das, wie gezeigt, die sachspezifische Sektoralisierung inter- und supranationaler Regime beschreibt, die tendenziell dazu neigen, konkurrierende Belange unzureichend zu reflektieren. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass aufgrund der mangelnden Problemlösungskapazitäten des einzelnen Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung die stetig zunehmende Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf diese epistemologischen Gemeinschaften ein zentrales Merkmal der vernetzten Weltordnung ist. Hier kommt der verfassungsgerichtlichen Übertragungsfunktion eine zentrale Bedeutung zu: Indem die Verfassungsgerichte einer Rechtsordnung auf die Berücksichtigung rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen durch die Institutionen einer anderen Rechtsordnung hinwirken, initiieren sie, wie gezeigt, einen rechtsordnungsübergreifenden konstitutionalistischen Dialog, durch den trotz divergierender rechtsordnungsspezifischer Perspektiven ein normativer Grundkonsens herbeigeführt werden kann.8 Daraus folgt allerdings noch nicht, dass eine möglichst weitreichende normative Angleichung zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen auch in jeder Hinsicht erstrebenswert ist. Tritt man einen Schritt zurück, zeigt sich, dass in der vernetzten  Oben Zweiter Teil, Kap. 9, A., I., 2.  Dazu im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 1. 8   Zur Konzeptualisierung dieses Grundkonsens als Hintergrundnorm: Oben Erster Teil, Kap. 8, C., II. 6 7

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Kapitel 11: Übertragungsfunktion

Weltordnung Entscheidungskompetenzen auch deshalb auf verschiedene Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen verteilt werden, die der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbunden sind, weil die Existenz dieser unterschiedlichen Logiken und Selbstverständnisse Vorzüge hat. Sie sind institutionalisierter Ausdruck des Pluralismus der vernetzten Weltordnung und sie spielen eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung gesellschaftlicher Großprojekte wie der europäischen Integration. Ohne den integrativen Impetus des EuGH oder der Kommission wäre die Europäische Union nicht das, was sie heute ist. Andererseits wird in einem solchen Arrangement die Koordination der u­ nterschiedlichen Logiken und Weltanschauungen zu einer der zentralen Herausforderungen in der vernetzten Weltordnung, die dadurch erleichtert und verbessert wird, wenn zwischen den maßgeblichen Akteuren der unterschiedlichen Rechtsordnungen ein normativer Grundkonsens hinsichtlich der grundlegenden Prinzipien und Normen besteht.

B. Inter- und supranationale Gerichte Im Rahmen der Übertragungsfunktion lassen sich für inter- und supranationale Gerichte zwei Konstellationen unterscheiden: In der ersten Konstellation übertragen sie rechtsordnungseigene Prinzipien in andere inter- und supranationale Rechtsordnungen, in der zweiten Konstellation in die Mitgliedstaaten. In der ersten Konstellation befinden sich inter- und supranationale Gerichte typischerweise in einer einem nationalen Verfassungsgericht gleich gelagerten Situation: Sie erstreben die Beachtung der grundlegenden Prinzipien ihrer Rechtsordnung durch rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Institutionen und verwenden zu diesem Zweck die gleichen Mechanismen wie nationale Verfassungsgerichte. Wie ein supranationales Verfassungsgericht durch accountability-Mechanismen die konstitutionellen Belange seiner Rechtsordnung auf eine andere internationale Rechtsordnung übertragen kann, zeigt das bereits erwähnte Beispiel der Geschichte der Antiterror-Listen des Sanktionskomitees des UN-Sicherheitsrats, in dem die von den europäischen Gerichten deutlich artikulierten  – und im Fall des EuGH auch sanktionierten – verfassungsrechtlichen Bedenken an dem Listing-Verfahren zu einer signifikanten Reform dieses Verfahrens und gleichzeitig zu einer Berücksichtigung von verfassungsrechtlichen Prinzipien der europäischen Rechtsordnung durch den UN-Sicherheitsrat geführt haben. Auf ganz ähnliche Weise hat der EGMR gegenüber dem EuGH auf die Beachtung der Konventionsrechte hingewirkt. In der zweiten Konstellation lässt sich inter- und supranationalen Gerichten ebenfalls eine Übertragungsfunktion zuschreiben, obwohl sie hier strukturell nicht gleichartig wie ein nationales Verfassungsgericht situiert sind. Das liegt an dem zuvor im Hinblick auf nationale Verfassungsgerichte dargestellten Zusammenhang zwischen der Inkorporations- und der Übertragungsfunktion: Wie gezeigt, wirken nationale Verfassungsgerichte auf die Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien durch inter- und supranationale Gerichte hin, die letztere dann, etwa in Form

B. Inter- und supranationale Gerichte

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ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze, in ihre Rechtsordnung inkorporieren. Ein solcher Zusammenhang besteht aber auch umgekehrt: Nationale Verfassungsgerichte übernehmen, wie dargelegt,9 eine wichtige Rolle bei der Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts in die nationale Rechtsordnung, damit inter- und supranationale Institutionen die ihnen übertragenen Aufgaben wirksam erfüllen können; inter- und supranationale Gerichte üben dabei insoweit eine Übertragungsfunktion aus, als sie Mechanismen entwickeln, damit die Prinzipien und Normen ihrer Rechtsordnung, im EU-Kontext etwa der Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit oder Verordnungen, von mitgliedstaatlichen Institutionen angewendet werden. Im Hinblick auf die zweite Konstellation ist folgende Klarstellung erforderlich, die am Beispiel der EU vorgenommen werden soll: Inter- und supranationale Institutionen werden eingesetzt, um gesellschaftliche Interessen wie die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts zu realisieren. In Reaktion auf die Herausforderungen der Globalisierung streben Staaten in vielen Sachbereichen nach einem einheitlichen Regelungsregime, das von inter- und supranationalen Institutionen geschaffen und dessen Beachtung von diesen kontrolliert wird. Im Rahmen der Europäischen Union geht dieser Vereinheitlichungsdrang so weit, dass etwa 50 % der nationalen Gesetze durch die EU vorbestimmt werden.10 Wenn in diesem Zusammenhang von der Übertragung des unionsrechtlichen Regelungsrahmens in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gesprochen wird, dann bezieht sich das erst einmal nicht auf die europäischen Gerichte, denn das europäische Primärrecht wird von den Mitgliedstaaten gesetzt, das Sekundärrecht durch Rat, Kommission und Europäisches Parlament. Der EuGH kontrolliert dann die Beachtung der unionsrechtlichen Prinzipien und Normen durch die Unionsorgane und durch die Mitgliedstaaten. Dennoch lässt sich von einer Übertragungsfunktion des EuGH sprechen, soweit der Gerichtshof spezifische rechtliche Konstruktionen entwickelt, die die Europäisierung nationaler Rechtsordnungen vorantreiben und damit die Übertragung unionsrechtlicher Prinzipien und Normen in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen begünstigen. In der Diskussion um den Prozess der Europäisierung hat sich gezeigt, wie sehr der EuGH durch die Entwicklung der Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts sowie durch die aktive Einbindung nationaler Gerichte in das Vorlageverfahren die Rahmenbedingungen für eine durchgreifende Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen  – und damit für eine Übertragung unionsrechtlicher Prinzipien und Normen in diese – geschaffen hat.11 Unter dem Topos der Kontrollfunktion allein lassen sich diese Übertragungsmechanismen nicht adäquat erfassen. Aus dem Zusammenspiel der Übertragungsfunktion nationaler Verfassungsgerichte und der Übertragungsfunktion inter- und supranationaler Gerichte resultiert eine bemerkenswerte inhaltliche Konvergenz und wechselseitige Beeinflussung von

 Oben Zweiter Teil, Kap. 9, A., II.  BVerfGE 89, 155 (173) – Maastricht (1993). 11  Oben Erster Teil, Kap. 2, H. 9

10

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Kapitel 11: Übertragungsfunktion

nationalem und inter- und supranationalem Recht.12 Anne Peters beschreibt zutreffend, wie ausreichend konsentierte Prinzipien des nationalen Rechts in inter- und supranationale Rechtsordnungen übertragen werden, die dann wieder, nach einer kreativen Anpassung durch inter- und supranationale Gerichte, in die nationalen Rechtsordnungen anderer Staaten zurückfließen und auf diese Weise eine Harmonisierung des nationalen Rechts bewirken.13

C. Zusammenfassung Die Übertragungsfunktion ist im Unterschied zur Kontrollfunktion offensiv und gestalterisch ausgerichtet: Sie zielt auf die Übertragung rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen in andere Rechtsordnungen ab. Im Hinblick auf nationale Verfassungsgerichte resultiert die Übertragungsfunktion aus dem grundlegenden Dilemma der vernetzten Weltordnung, dass die politische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in einer globalisierten Welt sichergestellt werden soll, ohne dabei die demo­ kratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats aufzugeben. Aus diesem Grund wirken nationale Verfassungsgerichte auf die Übertragung rechtsordnungseigener verfassungsrechtlicher Prinzipien und Normen in inter- und supranationale Rechtsordnungen hin, damit diese ihre konstitutionellen Defizite beheben und äquivalente Prinzipien und Normen entwickeln. Dahinter steht die Erwägung, dass damit die „konstitutionalistische“ Diskrepanz zwischen den Rechtsordnungen reduziert und die Entstehung von rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten präventiv verhindert wird, indem konstitutionalistische Prinzipien und Normen auf inter- und supranationale Institutionen übertragen werden. Indem nationale Verfassungsgerichte auf die Berücksichtigung ihrer verfassungsrechtlichen Prinzipien und Normen durch inter- und supranationale Institutionen hinwirken, initiieren sie einen rechtsordnungsübergreifenden konstitutionalistischen Dialog, durch den trotz divergierender, rechtsordnungsspezifischer Perspektiven ein normativer Grundkonsens zwischen den Rechtsordnungen herbeigeführt werden kann. Denn wenn nationale Verfassungsgerichte sich inhaltlich mit der Rechtsprechung inter- und supranationaler Gerichte auseinandersetzen, auf diese Bezug nehmen, Kritik äußern und Warnungen formulieren, dann setzen sie damit auch Lernund Sozialisierungsprozesse in Gang. Im Hinblick auf inter- und supranationale Gerichte lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden: In der ersten Konstellation befinden sich inter- und supranationale Gerichte typischerweise in einer einem nationalen Verfassungsgericht gleich gelagerten Situation und sie erstreben die Beachtung der grundlegenden Prinzipien ihrer Rechtsordnung durch rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Institu Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (22). 13  Ebd. 12

C. Zusammenfassung

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tionen. In der zweiten Konstellation entwickeln inter- und supranationale Gerichte Mechanismen, damit die Prinzipien und Normen ihrer Rechtsordnung von mitgliedstaatlichen Institutionen angewendet werden. Zwischen der Übertragungs- und der Inkorporationsfunktion besteht ein Zusammenhang: Einerseits entwickeln inter- und supranationale Gerichte Übertragungsmechanismen, damit nationale Gerichte das inter- und supranationale Recht in die nationale Rechtsordnung inkorporieren, andererseits wirken nationale Verfassungsgerichte auf die Übertragung nationaler Verfassungsprinzipien und -normen hin, die wiederum von inter- und supranationalen Gerichten inkorporiert werden müssen. Aus diesem Zusammenspiel der Übertragungsfunktion nationaler Verfassungsgerichte und der Übertragungsfunktion inter- und supranationaler Gerichte resultiert ein Prozess wechselseitiger Beeinflussung, in dem Prinzipien des nationalen Rechts in inter- und supranationale Rechtsordnungen übertragen werden, um nach kreativer Anpassung durch inter- und supranationale Gerichte wieder in die nationalen Rechtsordnungen zurückzufließen.

Teil III

Die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen

Im ersten und im zweiten Teil wurde ein normativ und analytisch ausgerichteter, rechtsordnungsübergreifender Analyserahmen entwickelt, mit dem die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung im Kontext der vernetzten Weltordnung verstanden, eingeordnet und angeleitet werden kann. In diesem Teil soll nunmehr die Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte sowie inter- und supranationaler Gerichte im Kontext der vernetzten Weltordnung auf der Folie des entwickelten Analyserahmens rechtsvergleichend analysiert werden. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte, insbesondere der ausgefeilten Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis des nationalen Rechts zum Unionsrecht liegen,1 allerdings werden auch rechtsvergleichende Bezüge außerhalb des EU-Kontexts hergestellt. Die Rechtsprechungsanalyse soll demonstrieren, dass Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung auf vergleichbare strukturelle Herausforderungen reagieren, die gleichen Bedenken thematisieren und vergleichbare Lösungsmechanismen entwickeln. Das Vorhaben ist, die Bedeutsamkeit struktureller Problemzusammenhänge aufzuzeigen, die über einzelne Rechtsordnungen hinausreichen. Es sollen bestimmte rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen identifiziert, die hinter den gewählten dogmatischen Konstruktionen der verschiedenen Verfassungsgerichte liegenden übergeordneten Erwägungen offengelegt und angedeutet werden, welche Hintergrundnormen sich dabei als Bausteine der vernetzten Weltordnung herausbilden könnten. Zur Erinnerung: Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen sind stabilisiertes Richterrecht, das sich aus der Interaktion der Gerichte verschiedener Rechtsordnungen entwickelt.2 Im dritten Teil geht es nicht darum, mit Gewissheit festzustellen, welche Rechtsprechungsentwicklungen sich 1  Dazu jüngst Thomas Giegerich, Zwischen Europafreundlichkeit und Europaskepsis – Kritischer Überblick über die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur europäischen Integration, ZEuS 2016, 3  ff.; Angela Schwerdtfeger, Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts- ultra-vires- und Identitätskontrolle im gewaltenteiligen Mehrebenensystem, EuR 2015, 290 ff. 2  Siehe oben Erster Teil, Kap. 8, C., II., 2.

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Teil III  Die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen

schon zu einer Hintergrundnorm verdichtet haben und welche nicht. Vielmehr soll die sich abzeichnende Rechtsprechungspraxis normativ evaluiert, rekonstruiert und weiterentwickelt werden, um ihre potenzielle Eignung als Hintergrundnorm zu eruieren. Damit soll zur Entwicklung von Entscheidungsmaßstäben und -kriterien beigetragen werden, nach denen sich Verfassungsgerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen richten sollten, und damit eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage gegeben werden, was Verfassungsgerichte im Kontext der vernetzten Weltordnung tun sollten. Die Rechtsprechungsanalyse wird entsprechend der im zweiten Teil entwickelten Inkorporationsfunktion (Kap. 8), der Kontrollfunktion (Kap. 9) und der Übertragungsfunktion (Kap.  10) organisiert. Denn durch diese Funktionen, die als Zwischenkategorie zwischen den abstrahierten Ausführungen des ersten Teils und der Rechtsprechungsanalyse dieses Teils fungieren, wird ein Vergleichsbereich funktional-­äquivalenter Leistungen konstruiert, durch den die Rechtsprechung verschiedener Verfassungsgerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen geordnet, systematisiert, vergleichbar gemacht und miteinander verglichen werden kann.3 Dabei soll die Rechtsprechung nicht in umfassender Weise miteinander verglichen werden, sondern es werden selektiv bestimmte rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen identifiziert. Unter dem Vergleichsmaßstab der Inkorporationsfunktion soll die Stellung des inter- und supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung (Kap. 11) und die Inkorporation rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Gerichtsurteile in die eigene Rechtsordnung (Kap.  12) diskutiert werden.4 Dabei soll dargelegt  Vgl. oben Einleitung, C.  Aufgrund des Vergleichsmaßstabs der verfassungsgerichtlichen Inkorporationsfunktion in der vernetzten Weltordnung könnte man auch erörtern, inwieweit Verfassungsgerichte unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung i) die Inkorporation des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts durch unterinstanzliche Gerichte durch die Aufwertung des EuGH und des EGMR zum gesetzlichen Richter überwachen, ii) die unmittelbare Wirkung des inter- und supranationalen Rechts anerkennen und iii) dieses unmittelbar als Prüfungsmaßstab für das nationale Recht heranziehen sollten. Einige nationale Verfassungsgerichte in Europa weisen dem EuGH und/oder dem EGMR den Status eines gesetzlichen Richters zu. Durch diese dogmatische Kon­ struktion eröffnen Verfassungsrichter dem Einzelnen Klage- und Beschwerdemöglichkeiten gegen die Entscheidungen nationaler Fachgerichte, die gebotene Vorlagen an den EuGH unterlassen oder Urteile des EGMR nicht hinreichend berücksichtigen – und stellen damit gleichsam die Inkorporation des supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung sicher. Mit einer rechtsvergleichenden Analyse: Alexander Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013. Die Frage der Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung wird insbesondere für das WTORecht im Rahmen der EU-Rechtsordnung diskutiert und wurde dabei vom EuGH bislang verneint. Dagegen haben die EU-Mitgliedstaaten die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts anerkannt. In einer pluralistisch-heterarchischen Konfiguration wie der vernetzten Weltordnung steht bei der Frage der unmittelbaren Wirkung des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts die Balance zwischen einer möglichst weitreichenden Realisierung der Belange dieser Rechtsordnung und der Wahrung der eigenen Entscheidungsautonomie im Vordergrund. Darüber hinaus hat diese Frage auch Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen dem rechtlichen und dem politischen Prozess. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Anerkennung der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts und des WTO-Rechts besteht jedenfalls darin, dass nur der EuGH, und nicht der 3 4

Teil III  Die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen

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­ erden, welche dogmatischen Konstruktionen Verfassungsgerichte im Hinblick auf w die Inkorporationsfunktion entwickelt haben und wie sie die durch die unbestimmte und deutungsoffene Formulierung der verfassungsrechtlichen Rang- und Integrationsklauseln vorhandenen Interpretationsspielräume zugunsten einer weitreichenden Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts in die nationale Rechts­ ordnung nutzen, freilich ohne dabei die konstitutionalistischen Belange ihrer eigenen Rechtsordnung sowie ihre institutionellen Eigeninteressen völlig zu vernachlässigen. Unter dem Topos der verfassungsgerichtlichen Kontrollfunktion sollen zwei Rechtsprechungskomplexe näher untersucht werden: Der erste betrifft den Kon­ trollgegenstand, den Verfassungsgerichte als Anknüpfungspunkt für die Ausübung ihrer Kontrolle wählen, also die Frage, ob sie inter- und supranationale Gründungsverträge und/oder das von inter- und supranationalen Institutionen auf deren Grundlage erzeugte abgeleitete Recht kontrollieren und welchen Unterschied diese unterschiedlichen Anknüpfungspunkte überhaupt machen (Kap. 13 und 14). Der zweite Problemkomplex bezieht sich auf den Kontrollmaßstab, anhand dessen Verfassungsgerichte das rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Recht mittelbar kontrollieren. Hier stellt sich die Frage, ob Verfassungsgerichte die Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts aufgrund der entsprechenden rechtsordnungsfremden Bestimmungen oder auf der Grundlage der Prinzipien und Normen ihrer eigenen Rechtsordnung ausüben sollten (Kap. 15) und wie streng der Prüfungsmaßstab ausgestaltet wird (Kap. 16). Unter dem Gesichtspunkt der Übertragungsfunktion werden zwei unterschiedliche Übertragungsmechanismen unterschieden, durch die ein Verfassungsgericht seine konstitutionalistischen Belange in die Rechtsprechungspraxis eines anderen Verfassungsgerichts einspeisen kann. Zum einen gibt es materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen, wie der Solange-Grundsatz und die Ultra-vires-Kontrolle, WTO Appellate Body, die unmittelbare Wirkung eingefordert hat. Wenn aber selbst die rechtsordnungsfremden Institutionen keine unmittelbare Wirkung fordern, fehlt es an einem hinreichenden Grund für die rechtsordnungseigenen Gerichte, ihre Entscheidungsautonomie zu beschränken, indem sie dem rechtsordnungsfremden Recht eine unmittelbare Wirkung zuweisen, zumal dadurch auch – anders als im EU-Kontext – die Reziprozität zu den anderen WTO-Mitgliedstaaten nicht mehr gewährleistet bleibt. Grundlegend und verallgemeinernd zur Frage der unmittelbaren Wirkung des WTO-Rechts im Unionsrecht: Jan Klabbers, International Law in Community Law: The Law and Politics of Direct Effect, YB Eur. L. 21 (2002), 263 ff.; Thomas Cottier, A Theory of Direct Effect in Global Law, in: Armin von Bogdandy/Petros Mavroidis/Yves Mény (Hrsg.), FS Ehlermann, 2002, 99 ff.; Armin von Bogdandy, Legal Effects of World Trade Organization Decisions Within European Union Law, JWT 39 (2005), 45 ff.; Hélène Ruiz Fabri, Is There a Case – Legally and Politically – for Direct Effect of WTO Obligations?, EJIL 25 (2014), 151 ff. Die Balance zwischen der Realisierung rechtsordnungsfremder Belange und eigener Entscheidungsautonomie ist auch bei der Frage betroffen, ob das rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Recht als Prüfungsmaßstab für das Recht der eigenen Rechtsordnung herangezogen werden sollte. Die Bedeutung und Durchsetzung dieses Rechts würde dadurch erheblich gestärkt. In seinem Recht auf Vergessen II-Beschluss hat das BVerfG entschieden, im Bereich des vollständig vereinheitlichten Unionsrechts die Europäische Grundrechtecharta anstatt der deutschen Grundrechte als Prüfungsmaßstab für nationale Maßnahmen anzuwenden. Siehe BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019  – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, Rn. 57 ff.

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Teil III  Die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen

bei denen die Aussicht auf Nichtanwendung des rechtsordnungsfremden Rechts Anreize zur Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Prinzipien und Normen schafft (Kap. 17). Zum anderen lässt sich das Vorlageverfahren, durch das nationale und supranationale Gerichte zu einem rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialog verbunden werden, als ein prozeduraler Übertragungsmechanismus verstehen (Kap. 18). Bei der Analyse der Rechtsprechung zu diesen verschiedenen Problemkomplexen soll jeweils in zwei Schritten vorgegangen werden: In einem ersten Schritt soll die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung rechtsvergleichend rekonstruiert werden, um bestimmte Rechtsprechungsentwicklungen aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang soll auch die abstrakte Darstellung der Strukturen richterlicher Normbildung in rechtsordnungsübergeifenden Zusammenhängen (Kap.  6, 7, 8) punktuell am Beispiel der rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungspraxis hinsichtlich bestimmter Rechtsfragen konkretisiert werden. Dadurch soll gezeigt werden, wie Verfassungsgerichte im Rahmen eines Gerichtsdialogs ihre Rechtsprechung durch wechselseitige Bezugnahmen koordinieren und um die überzeugendsten Rechtsprechungsmodelle für dieselben Herausforderungen ringen. In einem zweiten Schritt werden die verschiedenen verfassungsgerichtlichen Lösungsansätze unter dem Blickwinkel analysiert, wie Verfassungsgerichte das konstitutionalistische Potenzial der vernetzten Weltordnung ausschöpfen und die Risiken und potenziellen Konflikte reduzieren können. Das Ziel ist dabei nicht, darzulegen, ob ein bestimmter verfassungsgerichtlicher Fall im Einzelnen „richtig“ oder „falsch“ entschieden wurde, sondern bestehende Mechanismen und Verfahren weiterzuentwickeln, mit denen Verfassungsgerichte das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung meistern können. Im Vordergrund steht der Ansatz und nicht der Ausgang eines konkreten Falls. Dieser Fokus auf institutionelle Strukturen und Koordinationstechniken entspricht der institutionellen und prozeduralen Perspektive dieser Arbeit.5

 Vgl. oben Einleitung, B., I.

5

Kapitel 12: Inkorporation inter- und supranationaler Normen

In Kap. 9 wurde argumentiert, dass Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung eine Inkorporationsfunktion erfüllen: Damit die mit der Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf inter- und supranationale Institutionen verbundenen normativen Erwartungen erfüllt werden können, müssen inter- und supranationale Normen durch nationale Stellen in die nationale Rechtsordnung inkorporiert werden.1 Verfassungsgerichte nehmen im Zusammenhang mit der Einordnung des inter- und supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung eine zentrale Rolle ein.2 Zwar richten sich Verfassungsgerichte nach den Rang- und Integrationsklauseln ihrer Verfassung, diese spiegeln die vielschichtigen Erscheinungsformen institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation jedoch nur in begrenztem Maße wider. Bei näherer Betrachtung lässt sich eine interessante Dynamik beobachten: Der normative Regelungsrahmen zum Verhältnis zwischen dem nationalen und dem inter- und supranationalen Recht wird maßgeblich in einem iterativen Verständigungsprozess zwischen den inter- und supranationalen Gerichten und dem nationalen Verfassungsgericht entwickelt, das für Fragen der Rangbestimmung in der nationalen Rechtsordnung die maßgebende Instanz verbleibt.3 Bei der Diskussion über den Prozess richterlicher Normbildung in Kap. 7 wurde dargelegt, wie Verfassungsgerichte im Rahmen eines Gerichtsdialogs um die überzeugendsten Rechtsprechungsmodelle ringen und dabei durch gegenseitiges Bezugnehmen und Elaborieren, durch wechsel1  Zur Unterscheidung zwischen den Begriffen der Inkorporation und der unmittelbaren Wirkung, siehe Zweiter Teil, Kap. 9, A., I., 2. 2  Siehe oben Zweiter Teil, Kap. 9, A., II. 3  Oben Zweiter Teil, Kap. 9, A., II., 1.

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_12

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Kapitel 12: Inkorporation inter- und supranationaler Normen

seitiges Akzeptieren der Rechtsprechung, rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen entstehen können.4 Dieser Prozess lässt sich auch im Zusammenhang mit der Inkorporation inter- und supranationaler Normen anhand bestimmter rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungsentwicklungen nachvollziehen (A.). Welche Erwägungen hinter diesen Entwicklungen stehen, soll auf der Folie der Konzeption der vernetzten Weltordnung näher untersucht werden (B.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen In der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte der EU-Mitgliedstaaten zur Stellung des inter- und supranationalen Recht gibt es eine grundlegende Unterscheidung: Auf der einen Seite gibt es das Unionsrecht, dem grundsätzlich ein Vorrang vor dem nationalen Recht, selbst vor Verfassungsregelungen, zugestanden wird,5 auf der anderen Seite steht das andere inter- und supranationale Recht.6 Auf den ersten Blick scheint diese Binarität zwischen dem Unionsrecht und allen anderen Formen des Völkerrechts in den verfassungsrechtlichen Integrationsklauseln angelegt zu sein: Einerseits enthalten die Verfassungen der meisten europäischen Mitgliedstaaten spezielle Europa-Artikel, aus denen sich im Grundsatz der Vorrang des Unionsrechts ergibt,7 andererseits gibt es allgemeine Rangbestimmungen für das Völkergewohnheits- und das Völkervertragsrecht, die in der Regel nicht zwischen den diversen inter- und supranationalen Organisationen und Regimen unterscheiden. Indes wird durch die nachfolgenden rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungsentwicklungen deutlich, dass nationale Verfassungsgerichte und rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion eine bedeutsame Rolle bei der Einordnung des inter- und supranationalen Rechts in die nationale Rechtsordnung haben. Das soll anhand von zwei Problemkomplexen verdeutlicht werden: In einem ersten Schritt soll die Geschichte der Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts durch nationale Verfassungsgerichte in der EU nachgezeichnet werden (I.), bevor anschließend – auch über den europäischen Kontext hinaus – die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis zum Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung umrissen wird (II.).

 Oben Erster Teil, Kap. 7, C.  Zum Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht: Dana Burchardt, Die Rangfrage im europäischen Normenverbund, 2015. 6  Die unterschiedlichen Stellungen im deutschen innerstaatlichen Recht völkerrechtlicher Verträge und allgemeiner Regeln des Völkerrechts einerseits und des europäischen Unionsrechts andererseits arbeitet Alexander Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 2014, 18 ff., 57 ff., heraus. 7  Für einen Überblick: Mattias Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011, 613 ff. 4 5

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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I . Die Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts durch nationale Verfassungsgerichte in der EU Heute ist der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht im Grundsatz unumstritten und wird von den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten anerkannt.8 Diese Vorrangstellung als Selbstverständlichkeit zu betrachten, die quasi rechtslogisch aus der Natur des Unionsrechts fließt, würde jedoch die vielfältigen Verständigungen und Konflikte zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH und damit den komplexen netzwerkartigen Prozess verkennen, aus dem heraus sich diese Stellung Schritt für Schritt entwickelte.9 Im historischen Rückblick wird deutlich, dass auch der Vorrang des Unionsrecht nicht von vorneherein vom nationalen Verfassungsrecht vorgegeben war, sondern durch den EuGH – in rechtsordnungsübergreifender Interaktion mit nationalen Gerichten – erkämpft werden musste.10 Betrachtet man die geschichtlichen Entwicklungslinien der verfassungsrechtlichen Integrationsklauseln im europäischen Inte­ grationsprozess, wird deutlich, dass es sich bei den Europa-Artikeln um eine verfassungsrechtliche Neuerung handelt.11 Die europäischen Gründungsverträge wurden allesamt auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Ermächtigungen ratifiziert, die allgemein auf die zwischenstaatliche Zusammenarbeit bezogen waren.12 Die ersten großen Europa-Entscheidungen mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte

 Tobias Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, 57.  Dieser komplexe Prozess, an dem auch eine Vielzahl nicht-verfassungsgerichtlicher Akteure beteiligt war, wurde in der Literatur bereits ausführlich nachgezeichnet. Siehe nur Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001; Tobias Kruis, Der Anwendungsvorrang des EURechts in Theorie und Praxis, 2013; Monica Claes, The Primacy of EU Law in European and National Law, in: Anthony Arnull/Damian Chalmers (Hrsg.), The Oxford Handbook of European Union Law, 2015, 178 ff. 10  In der Andengemeinschaft ist der Ausgang des Kampfes um den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht offen. Der Gerichtshof der Andengemeinschaft beansprucht einen solchen Vorrang, dieser wird von den mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Höchstgerichten aber nur teilweise anerkannt. Instruktiv zu diesem rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikt am Beispiel der Entscheidungen des Gerichtshofs der Andengemeinschaft, des kolumbianischen Verfassungsgerichts und des ecuadorianischen Supreme Courts zur Frage der Vereinbarkeit des staatlichen Monopols für Alkohol in Kolumbien mit dem Gemeinschaftsrecht, Karen Alter, The New Terrain of International Law: Courts, Politics, Rights, 2014, 310 ff. 11  Mattias Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011, 104 ff. 12  Nach Art. 24 Abs. 1 GG kann der Bund „durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen“. Nach Art. 55 der französischen Verfassung gehen Verträge oder Abkommen „[b]ei ordnungsgemäßer Ratifizierung oder Zustimmung […] mit ihrer Veröffentlichung den Gesetzen vor, vorbehaltlich der jeweiligen Anwendung des Abkommens oder des Vertrages durch die andere Partei“. Art. 11 der italienischen Verfassung lautet wörtlich: „Italien lehnt den Krieg als Mittel des Angriffes auf die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Streitigkeiten ab; unter der Bedingung der Gleichstellung mit den übrigen Staaten stimmt es den Beschränkungen der staatlichen Oberhoheit zu, sofern sie für eine Rechtsordnung nötig sind, die den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistet; es fördert und begünstigt die auf diesen Zweck gerichteten überstaatlichen Zusammenschlüsse.“ 8 9

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Kapitel 12: Inkorporation inter- und supranationaler Normen

beruhten auf verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die der schon frühzeitig erkennbaren bemerkenswerten Integrationsdichte der Europäischen Gemeinschaften nicht hinreichend Rechnung trugen.13 Erst die atemberaubenden Reformschritte des Vertrags von Maastricht wurden von den Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich und Portugal zum Anlass genommen, um spezifisch auf das europäische Integrationsprojekt zugeschnittene Integrationsklauseln in die eigene Verfassung ein­ zufügen.14 Zu diesem Zeitpunkt war in diesen Mitgliedstaaten der Vorrang des Unionsrechts im Grundsatz jedoch schon durch die Gerichte anerkannt worden. Die Problematik der Vorrangfrage im EU-Kontext ist demnach ein Beispiel für die He­ rausbildung eines rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungsentwicklungen, der sich später zu einer Hintergrundnorm verdichtet und danach in manchen Rechtsordnungen positiv-rechtlich verankert wird. Im Folgenden soll es darum gehen, diesen Prozess am Beispiel der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in groben Zügen nachzuvollziehen.15 Den Anfang nahm die rechtsordnungsübergreifende Verfassungsgerichtsinteraktion mit dem bahnbrechenden Urteil des EuGH in Van Gend en Loos 1963, mit dem der Gerichtshof die dualistische Trennung zwischen nationaler und europäischer Rechtsordnung durchbrach und das Recht der Gemeinschaft für unmittelbar anwendbar erklärte.16 Europäische Normen, deren Bedeutungsgehalt der EuGH selbst bestimmt, waren nunmehr für nationale Gerichte genauso anwendbar wie nationale Normen. Damit erhob der EuGH nicht nur einen bemerkenswerten Autoritätsanspruch gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, den die jungen Verfassungsgerichte in Deutschland und in Italien als Herausforderung verstehen durften, sondern es stellte sich auch die Frage, was ein nationales Gericht in dem nun möglichen Fall tun sollte, dass eine europäische und eine nationale Vorschrift auf denselben Sachverhalt anwendbar sind, aber divergierende Regelungsanordnungen vorsehen. Kurz gesagt: Es stellte sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht.

 Art. 24 Abs. 1 GG beispielsweise diente nicht nur als verfassungsrechtliche Grundlage für die Europäischen Gemeinschaften, sondern auch für die NATO. Vgl. BVerfGE 68, 1 (93 ff.) – Atomwaffen (1984). 14  Siehe z. B. Art. 23 GG, Art. 88-I der französischen Verfassung und Art. 7 Abs. 6 der portugiesischen Verfassung. 15  Zur Rolle nationaler Verfassungsgerichte bei der Anerkennung und Beschränkung des Vorrangs des Unionsrechts: Alina Berger, Anwendungsvorrang und nationale Verfassungsgerichte, 2015. 16  EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62  – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1. Für eine grundlegende Analyse der Bedeutung des Urteils für die europäische Integration anlässlich seines 50. Jahrestags, siehe J.H.H. Weiler, Van Gend en Loos: The Individual as Subject and Object and the Dilemma of European Legitimacy, ICON 12 (2014), 94 ff.; Eyal Benvenisti/George Downs, The Premises, Assumptions, and Implications of Van Gend en Loos: Viewed from the Perspectives of Democracy and Legitimacy of International Institutions, EJIL 25 (2014), 85 ff.; Damian Chalmers/Luis Barroso, What Van Gend en Loos Stands For, ICON 12 (2014), 105 ff.; Morten Rasmussen, Revolutionizing European Law: A History of the Van Gend en Loos Judgment, ICON 12 (2014), 136 ff. 13

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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Die Antwort des italienischen Verfassungsgerichtshofs auf diese Frage und auf die Van Gend en Loos-Rechtsprechung des EuGH ließ nicht lange auf sich warten.17 In einem Rechtsstreit um die Verstaatlichung der italienischen Elektrizitätswerke entschied die Corte Costituzionale 1964 in Costa v. E.N.E.L., dass Normkollisionen nach der traditionellen, für nationales Recht und Völkerrecht entwickelten lex posterior derogat legi priori-Regel gelöst werden sollten. Danach kommt der zeitlich jüngeren stets Vorrang vor der älteren Norm zu.18 Diese Konstruktion räumt dem nationalen Gesetzgeber die Möglichkeit ein, die Anwendbarkeit eines völkerrechtlichen Vertrages im innerstaatlichen Bereich durch nachfolgenden Erlass eines nationalen Gesetzes mit widersprüchlichem Regelungsinhalt auszuschließen19 und steht damit offensichtlich in einem Spannungsverhältnis zu der vom EuGH in Van Gend en Loos skizzierten Konzeption der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“, die dem Einzelnen ebenso „Pflichten auferlegt“ wie Rechte verleiht, und „zu deren Gunsten die Staaten […] ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben“.20 Denn implizit wird die Vorrangfrage in Van Gend en Loos durch den EuGH bereits angesprochen, weil hinter dem Grundsatz der unmittelbaren Wirkung die Vorstellung steht, dass die Normen des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten gleich angewendet werden müssen und ihre Wirksamkeit nicht durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden können.21 Nur fünf Monate später, in dem gleichen Rechtsstreit, antwortete der EuGH, dass die im Gründungsvertrag eingegangen Verpflichtungen „keine unbedingten mehr, sondern nur noch eventuelle“ wären, „wenn die sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signatarstaaten infrage gestellt werden könnten“ und proklamierte den „Vorrang des Gemeinschaftsrechts“, weil anderenfalls „die Verwirklichung der […] Ziele des Vertrages“ gefährdet und „die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in  Für einen Überblick über die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs zum Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und dem italienischen Recht, siehe Vittoria Barsotti/Paolo Carozza/Marta Cartabia/Andrea Simoncini, Italian Constitutional Justice in Global Context, 2015, 207 ff. 18  Corte Costituzionale, Entsch. v. 07.03.1964, Nr.  14/64  – Costa v. E.N.E.L., CML Rev. 1964, 224 ff. 19  Für den anhängigen Rechtsstreit zwischen der Beklagten, dem verstaatlichten italienischen Elektrizitätsunternehmen E.N.E.L. und dem Kläger, einem Aktionär einer von der Verstaatlichung betroffenen privatrechtlichen Aktiengesellschaft, der die Unvereinbarkeit der Verstaatlichung mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht geltend machte, weil er sich durch die Verstaatlichung um seine Dividende gebracht sah, bedeutete diese Konstruktion, dass es auf das Gemeinschaftsrecht überhaupt nicht ankam, da das italienische Verstaatlichungsgesetz zeitlich jünger war als die Europäischen Verträge von Rom. 20  EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62  – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1, Slg. 1963, 1 (25). 21  Ulrich Haltern, Europarecht, 2. Aufl., 2007, 361 f. Explizit musste der EuGH in dem Rechtsstreit nicht auf die Vorrangfrage eingehen, weil ihm das vorlegende niederländische Gericht, die Tariefcommissie Amsterdam, diesbezüglich keine Frage gestellt hatte, da dem Völkerrecht in den Niederlanden nach der Niederländischen Verfassung ohnehin Vorrang vor nationalem Recht zukommt. Ebd., 362. 17

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Frage gestellt“ wäre.22 An dieser Aufeinanderfolge der Entscheidungen in demselben Rechtsstreit wird die besondere Dynamik des Zusammenspiels zwischen unmittelbarer Wirkung und Vorrang des Unionsrechts, sowie dem Vorabentscheidungsverfahren – und die damit verbundene Herausforderung für die institutionelle Stellung der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit  – sichtbar. Unterinstanzliche Gerichte können die  – an für sich letztverbindliche  – Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte vor dem EuGH infrage stellen. Eine Möglichkeit, die ihnen für unliebsame Entscheidungen im rein nationalen Kontext nicht offensteht. Vor diesem Hintergrund lehnte es ein von der Rechtsprechung des EuGH unbeeindruckter Conseil d‘État 1968 in der Rechtssache Syndicat général des fabricants de semoule de France daher ab, einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts über zeitlich nachfolgende nationale Gesetze anzuerkennen.23 Der EuGH hingegen wendete die in Costa v. E.N.E.L. entwickelte Logik konsequent an. Danach folgt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus der Autonomie der europäischen Rechtsordnung und der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft. In Internationale Handelsgesellschaft erklärte der EuGH 1970 den Vorrang selbst von Sekundärrecht im konkreten Fall den Vorrang der Kautionsregelung einer gemeinschaftsrechtlichen Verordnung über Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen vor den Grundrechten und Strukturprinzipien der nationalen Verfassung.24 Im Unterschied zur Corte Costituzionale und zum Conseil d’État zeigte sich das Bundesverfassungsgericht in seinen ersten Urteilen zum Verhältnis des nationalen Rechts zum Gemeinschaftsrecht gegenüber dem Vorranganspruch des EuGH dagegen durchaus aufgeschlossen, obwohl auch in der deutschen Justiz erhebliche Vorbehalte gegen die integrationsfreundliche Rechtsprechung des EuGH bestanden.25 Zunächst wich in der ersten Entscheidung des Gerichts zu diesem Problemkomplex ein zerstrittener Zweiter Senat mit einer Mehrheit von 4 zu 3 Richtern 1967 der Prüfung der Gültigkeit einer europäischen Verordnung aus.26 Der Zweite Senat ließ  EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Rs. C-6/64  – Costa v. E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66, Slg. 1964, 1259 (1270). 23  Conseil d’État, Urt. v. 01.03.1968  – Syndicat général des fabricants de semoule de France, Rec. 149. 24   EuGH, Urt. v. 17.12.1970, Rs. C-11/70  – Internationale Handelsgesellschaft, ECLI:EU:C:1970:114. 25  Die erste Europa-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 22, 134 (152) – EWGRecht (1967), wurde durch eine Vorlage des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz gem. Art. 100 Abs. 1 GG initiiert, in der das Finanzgericht die Ermächtigung des Rates, dem „Exekutivorgan“ der EWG, zum Erlass unmittelbar anwendbarer Verordnungen als Verstoß gegen „den im Art.  79 Abs.  3 GG liegenden Schutz der Gewaltenteilung“ bezeichnete und die Zustimmung deutscher Europarechtler zur EuGH-Rechtsprechung mit der laxen Haltung der Juristen in der Weimarer Republik gegenüber dem Aufstieg des Nationalsozialismus gleichsetzte, die „in der Weimarer Republik zur Aufhebung der Gewaltenteilung und damit zum Untergang des Rechtsstaates geführt“ hätten. FG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 14.11.1963, RML Nr. III 77/63, DÖV 1964, 306 (306). 26  Die Richtermehrheit begründete diese Herangehensweise damit, dass selbst wenn die Ermächtigung der EWG zum Erlass von Verordnungen nach Art. 189 EWG (heute: Art. 288 AEUV) verfassungswidrig sei, daraus nicht die „Nichtigkeit des ganzen (Zustimmungs-)Gesetzes“ folge. BVerfGE 22, 134 (152) – EWG-Recht (1967). 22

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aber die Frage der Verfassungsmäßigkeit des ganzen deutschen Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag offen und deutete an, dass er eine verfassungsrechtliche Prüfungskompetenz für sich in Anspruch nimmt.27 Im selben Jahr verweigerte der – im Vergleich mit dem Zweiten Senat in seiner Vorgehensweise vorsichtigere, in seiner Grundhaltung integrationsfreundlichere – Erste Senat die Prüfung der Vereinbarkeit von Verordnungen mit dem Grundgesetz im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde, weil es sich bei Verordnungen des Rats nicht um „Akte der deutschen öffentlichen Gewalt“, sondern um „Akte einer besonderen, durch den Vertrag geschaffenen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten deutlich geschiedenen ‚supranationalen‘ öffentlichen Gewalt“ handele.28 In diesem Zusammenhang machte sich der Erste Senat weite Teile der konstitutionalistischen Rechtsprechung des EuGH in Van Gend en Loos und Costa v. E.N.E.L. zu eigen,29 ließ allerdings auch ausdrücklich offen, „ob und in welchem Umfang das Bundesverfassungsgericht […] Gemeinschaftsrecht an den Grundrechtsnormen des Grundgesetzes messen kann“.30 An diese integrationsfreundliche Positionsbestimmung knüpfte der Zweite Senat in seinem Lütticke-Beschluss von 1971 an, als er in dem politisch brisanten, finanziell für die Bundesrepublik relevanten Rechtsstreit um die Gemeinschaftsrechtskonformität der damaligen Umsatzausgleichssteuer in Deutschland, in dem der EuGH Art. 95 EWG für unmittelbar anwendbar erklärt und damit für eine Vielzahl von Klägern Anreize zu einem gerichtlichen Vorgehen gegen die diversen Umsatzausgleichssteuern geschaffen hatte, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zumindest vor deutschem Gesetzesrecht anerkannte, indem er der Logik des EuGH in Van Gend en Loos folgte.31 Nach der Auffassung des BVerfG in Lütticke besagt die damals einschlägige Integrationsklausel des Art.  24 Abs.  1 GG „bei sachgerechter  Der Zweite Senat erklärt, dass es „für die Entscheidung des Finanzgerichts auf die Gültigkeit von Art. 1 des Vertragsgesetzes“ nicht ankomme, und hebt anschließend im obiter dictum hervor, dass „die Gültigkeit der übrigen Vertragsbestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland […] unberührt“ bliebe, falls das Bundesverfassungsgericht eine einzelne Vertragsbestimmung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erachten sollte. BVerfGE 22, 134 (151 f.) – EWG-Recht (1967). Freilich ist diese Eingrenzung der Nichtigkeitsfolge gerade für den Fall von Bedeutung, dass das Gericht eine Kontrolle durchführt. 28  In der Konsequenz war die erste Entscheidung des Ersten Senats zum Verhältnis zwischen dem Gemeinschaftsrecht und dem nationalen Recht für lange Zeit die letzte Entscheidung zu diesem Problemkomplex. Indem der Erste Senat mit seinem Beschluss signalisierte, dass er Verfassungsbeschwerden gegen Verordnungen für unzulässig betrachtet, um nicht zur Berufungsinstanz für all diejenigen Beschwerdeführer zu werden, die mit den Urteilen des EuGH nicht einverstanden waren, stärkte er zwar einerseits die Position des EuGH, beraubte sich aber andererseits der Möglichkeit, den Integrationsprozess zukünftig zu beeinflussen. Ulrich Haltern, Europarecht, 2. Aufl., 2007, 386; Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 78 ff. 29  Es erkannte das Gemeinschaftsrecht als aus einer autonomen Rechtsquelle fließend an und qualifizierte den EWG-Vertrag als „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“ und als „eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der Mitgliedstaaten sind“. BVerfGE 22, 293 (298 f.) – EWG-Verordnungen (1967). 30  Ebd. 31  BVerfGE 31, 145 – Lütticke (1971). 27

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Auslegung nicht nur, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, dass die Hoheitsakte ihrer Organe […] vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind“.32 Freilich ließ das Gericht die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem europäischen Unionsrecht und dem deutschen Grundgesetz unbeantwortet. Dennoch hatte das BVerfG – anders als andere mitgliedstaatliche Verfassungs- und Höchstgerichte – die bahnbrechende konstitutionalistische EuGH-Rechtsprechung in Van Gend en Loos und Costa v. E.N.E.L. akzeptiert, den grundsätzlichen Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht anerkannt und zumindest in Aussicht gestellt, dass es keinerlei Kontrolle über europäisches Gemeinschaftsrecht ausüben werde. Damit folgte das BVerfG der belgischen Cour de cassation, die in ihrem Grundsatzurteil Le Ski aus dem Jahr 1971 den Vorrang des Unionsrechts mit dem besonderen Charakter der europäischen Rechtsordnung begründet hatte.33 Wenig später nahm auch die Corte Costituzionale einen Kurswechsel von Konfrontation zu Kooperation vor und deutete mit seiner Frontini-Entscheidungen von 1973 darauf hin, dass es zukünftig den Vorrang des Unionsrechts anerkennen werde.34 Schließlich vollzog auch der französische Conseil d’État in der Rechtssache Nicolo als letztes mitgliedstaatliches Obergericht eine Kehrtwende und erkannte den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht an.35 Mittlerweile ist der Vorrang des Unionsrechts – abgesehen von verfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalten – in allen europäischen Mitgliedstaaten anerkannt.36 Die Verfassungsgerichte der osteuropäischen Mitgliedstaaten akzeptierten den Vorrang des Unionsrechts in ihren Europa-Urteilen zu den Beitrittsverträgen dann im Grundsatz wie selbstverständlich.37 Diese knappe Rechtsprechungsanalyse hat gezeigt, dass bereits der Vorrang des Unionsrechts lange umstritten war und nach und nach durch den EuGH gegenüber den einzelnen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten im Zuge eines „negotiated compromise“ erstritten werden musste.38 Nachdem allerdings eine kritische Masse an Verfassungsgerichten den Vorrang des Unionsrechts grundsätzlich anerkannt hatte, fielen die Widerstände der anderen Gerichte um wie Dominosteine. Die  BVerfGE 31, 145 (174) – Lütticke (1971).  Cour de cassation, Entsch. v. 27.05.1971 – État Belge v. Fromagerie Franco-Suisse le Ski, EuR 1971, 261 ff. Siehe näher zu der Entscheidung: Weitere Hinweise zu Besprechungen bei Hervé Bribosia, Report on Belgium, in: Anne-Marie Slaughter/Alec Stone-Sweet/J.H.H. Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, 3 (14 ff.). 34  Corte Costituzionale, Entsch. v. 27.12.1973, Nr. 183/1973 – Frontini e altro v. Ministero delle Finanze, EuGRZ 1975, 311 ff. Dazu Ruggeri Laderchi, Report on Italy, in: Anne-Marie Slaughter/ Alec Stone-Sweet/J.H.H.  Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts, 1998, 147 (162 ff.). 35  Conseil d’État, Urt. v. 20.10.1989 – Nicolo, EuR 1989, 62. Dazu Jean Dewost, Vorrang internationaler Verträge auch vor nachfolgenden nationalen Gesetzen. Zum Urteil Nicolo des französischen Staatsrats vom 20.10.1989, EuR 1990, 1 ff. 36  Tobias Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, 54 ff. 37  Vgl. ebd. 38  Karen Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, 38. 32 33

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­ erichte folgten dem Rechtsprechungstrend, obwohl die Sorge vor einer übermäßiG gen Beschränkung der nationalen Autonomie durch die Akzeptanz des Vorrangs des Unionsrechts nach wie vor bestand.39 Die Bedeutung der Rechtsprechung anderer mitgliedstaatlicher Gerichte für die eigene Entscheidung lässt sich dabei anhand der Entscheidungen illustrieren.40 Der Nicolo-Entscheidung des französischen Conseil d‘État ging eine Schlussfolgerung des damaligen Commissaire du Gouvernement Frydman voraus,41 der den Conseil nachdrücklich auf dessen Ausnahmestellung im europäischen Vergleich hinwies.42 Wenige Jahre zuvor hatte die italienische Corte Costituzionale in der Leitentscheidung Granital von 1984, in der der Vorrang des Unionsrechts nun grundlegend begründet wurde, darauf hingewiesen, dass „in all the Member States‘ legal systems, Community regulations immediately apply to the exclusion of conflicting provisions – whether antecedent or subsequent of municipal law“.43 Hier zeigt sich, dass nationale Verfassungs- und Obergerichte im EU-Kontext ungern Außenseiterpositionen dauerhaft aufrechterhalten und einen gewichtigen Anpassungsdruck verspüren, der sie dazu verleitet, Rechtsprechungsentwicklungen zu folgen.44

I I. Der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung und die Beschränkung der lex posterior-Regelung Ein Blick in den Text verfassungsrechtlicher Rangbestimmungen suggeriert, dass dem Völkerrecht – und damit all jenem inter- und supranationalen Recht, das dieser Normkategorie zugeordnet wird – in vielen nationalen Rechtsordnungen eine solche Vorrangbehandlung nicht zukommt.45 Zwar gibt es auch ­Verfassungsdokumente,  J.H.H.Weiler, A Quiet Revolution. The European Court of Justice and Its Interlocutors, Comp. Polit. Stud. 26 (1994), 510 (522). 40  Die folgenden Beispiele stammen von J.H.H.Weiler, ebd., 522 f. 41  Heute firmiert das Amt unter der Bezeichnung des „rapporteur public“. 42  Zitiert in J.H.H.Weiler, A Quiet Revolution. The European Court of Justice and Its Interlocutors, Comp. Polit. Stud. 26 (1994), 510 (522): „So far as foreign courts are concerned […] all I would say is that your Court is now the last which formally refuses to apply Community measures which are contradicted by later laws. By way of example, it is sufficient to mention that the Constitutional Court of the Federal Republic of Germany for its part finally accepted the opposite principle no less than eighteen years ago. And even more significant is the case of the Italian Constitutional Court which, although hindered by a dualistic legal tradition […] finally went so far as to authorize the ordinary courts of their own motion not to apply laws contrary to Community regulations by an important judgment of [1984].“ 43  Corte Costituzionale, Entsch. v. 08.06.1984, Nr. 170/84 – Spa Granital v. Ministro delle Finanze, CML Rev. 21 (1984), 756 ff., zitiert in: J.H.H.Weiler, ebd. 44  So auch ebd.: „[W]hen national courts are satisfied that they are part of a trend, their own acceptance is facilitated. Additionally, holding out against accepting a new doctrine when other similar positioned courts have committed themselves might be seen to compromise the professional pride and prestige of the recalcitrant court.“ 45  Für einen rechtsvergleichenden Überblick zum Verhältnis zwischen dem Völkerrecht und dem 39

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die entweder dem Völkerrecht insgesamt46 oder zumindest einer völkerrechtlichen Quelle,47 entweder dem Völkergewohnheitsrecht oder dem Völkervertragsrecht, eine Stellung in der nationalstaatlichen Normenhierarchie über einem nationalen Gesetz (und unterhalb der Verfassung) einräumen. Insbesondere internationalen Menschenrechtsverträgen wird in einigen Verfassungsordnungen ein Rang über dem Gesetz48 oder sogar auf einer Stufe mit der Verfassung49 eingeräumt. Ausnahmsweise stehen völkerrechtliche Verträge sogar über der nationalen Verfassung.50 Eine Vielzahl von Nationalstaaten verfügt jedoch über Verfassungsbestimmungen, die dem Völkerrecht den Rang eines einfachen Gesetzes zuweisen.51 Darüber hinaus unterscheiden zahlreiche nationalstaatliche Verfassungsdokumente in Europa, einschließlich des deutschen Grundgesetzes, nicht zwischen dem Recht der ­Europäischen Menschen-

nationalen Recht: Fulvio Palombino (Hrsg.), Duelling for Supremacy: International Law vs. National Fundamental Principles, 2019. 46  Nach Art. 91 Abs. 2 der polnischen Verfassung hat ein völkerrechtlicher Vertrag, dessen Ratifizierung ein Zustimmungsgesetz vorausgegangen ist, Vorrang einem Gesetz gegenüber, falls das Gesetz mit dem Vertrag unvereinbar ist. 47  In den USA sind nach Art. 6 Abs. 2 der US-amerikanischen Verfassung völkerrechtliche Verträge das „supreme law of the land“ und haben damit Vorrang vor dem formellen Gesetz. In der Bundesrepublik Deutschland sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes, also insbesondere das Völkergewohnheitsrecht, Bestandteil des Bundesrechtes und stehen in der Normenhierarchie damit über dem Bundesgesetz. 48  Art. 20 Abs. 2 der rumänischen Verfassung legt fest, dass „[w]enn zwischen den Pakten und den Verträgen hinsichtlich der fundamentalen Rechte des Menschen an denen Rumänien beteiligt ist, und den internen Gesetzen Unstimmigkeiten bestehen, […] die internationalen Reglementierungen Vorrang [haben]“. In Art. 7 Abs. 5 der Verfassung der Slowakei heißt es: „International treaties on human rights and fundamental freedoms […] shall have precedence over laws“. Nach Art. 10 der Verfassung der Tschechischen Republik sind „[d]ie ratifizierten und proklamierten internationalen Konventionen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch die die Tschechische Republik gebunden ist, […] unmittelbar verbindlich und haben vor dem Gesetz Priorität“. In Art. 93 Abs. 1 der Verfassung Kolumbiens steht: „International treaties and agreements ratified by Congress that recognize human rights and prohibit their limitation in states of emergency have domestic priority.“ 49  Die Verfassungen Argentiniens, Mexikos und Boliviens räumen bestimmten Menschenrechtsverträgen, einschließlich der IAMRK, explizit Verfassungsrang ein. Siehe Art. 75, Nr. 22 der Argentinischen Verfassung; Art. 1 Abs. 1 der Mexikanischen Verfassung; Art. 13.IV der Bolivianischen Verfassung. In gleicher Weise hat die EMRK in Österreich infolge des Bundesverfassungsgesetzes vom 04.03.1964, BGBl. 59/1964, Verfassungsrang. 50  Nach Art. 93 der niederländischen Verfassung, dem Grondwet, haben „Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen, die ihrem Inhalt nach allgemein verbindlich sein können, […] Verbindlichkeit nach ihrer Verkündung“. In Bolivien und in Ecuador haben die in internationalen Menschenrechtsverträgen gewährleisteten Rechte Vorrang vor nationalen Verfassungsbestimmungen, soweit sie über die in der Verfassung gewährten Rechte hinausgehen. Siehe Art. 256.I der Bolivianischen Verfassung und Art. 424 der Ecuadorianischen Verfassung. 51  Selbst in Verfassungsordnungen wie der französischen, in der nach Art. 55 CF vorschriftsmäßig ratifizierte völkerrechtliche Verträge oder Abkommen – unter dem Vorbehalt der Reziprozität – den Gesetzen vorgehen, wurde der Vorrang völkerrechtlicher Verträge von den Gerichten nicht immer selbstverständlich anerkannt. Dazu Constance Grewe, Die Grundrechte und ihre richterliche Kontrolle in Frankreich, EuGRZ 2002, 209 ff.

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rechtskonvention und dem allgemeinen Völkerrecht.52 In der Bundesrepublik werden völkerrechtliche Verträge, einschließlich der EMRK, nach Art 59 Abs. 2 GG in der „Form“ – und damit anerkanntermaßen auch im Rang53 – „eines Bundesgesetzes“ erlassen.54 Die gleiche Rangzuweisungstechnik gilt nach Art. 231 Abs. 4 der Verfassung in Südafrika: Ein völkerrechtlicher Vertrag, der durch ein Parlamentsgesetz in die nationale Rechtsordnung inkorporiert wird, gilt im Rang eines Parlamentsgesetzes.55 Wie aber lässt sich eine Normkollision zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einem nationalen Gesetz auflösen, wenn beide den gleichen Rang innerhalb der Normenhierarchie einnehmen? In diesen Konstellationen wird traditionell auf die lex posterior derogat legi priori-Regel zurückgegriffen, um zu entscheiden, ob das Gesetz oder der Vertrag Vorrang hat. Danach hat die später erlassene Regelung Vorrang vor der früher erlassenen Regelung, d. h. der jüngere völkerrechtliche Vertrag hat Vorrang vor dem älteren Gesetz, genauso wie das jüngere Gesetz Vorrang vor dem älteren Vertrag hat. Die Ratio, die hinter dieser Regelung steht, ist mit dem Respekt vor den Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers verbunden: Die später erlassene Norm hat Vorrang, weil sie als Ausdruck der letzten Willensbekundung des Gesetzgebers gedeutet werden kann. Ein parlamentarisches Gesetz nicht anzuwenden, lässt sich nur deshalb rechtfertigen, weil der Wille des Gesetzgebers so ausgelegt werden kann, dass der Gesetzgeber mit der Ratifikation des subsekutiven völkerrechtlichen Vertrages implizit zum Ausdruck bringt, dass der jüngere Vertrag dem älteren Gesetz vorgehen soll. Denn der Gesetzgeber wusste ja von dem älteren Gesetz und damit von dem Normkonflikt oder hätte zumindest davon wissen können. Allerdings haben nationale Verfassungsgerichte in aller Welt mit dem Grundsatz der völkerrechtskonformen bzw. der völkerrechtsfreundlichen Auslegung eine Auslegungstechnik entwickelt, die den Anwendungsbereich der lex posterior-Regel erheblich einschränkt und dadurch – trotz des formalen, dem Parlamentsgesetz gleichgestellten Status von Völkerrecht in der nationalen Rechtsordnung – völkerrechtlichen Regelungsanordnungen zur Durchsetzung verhelfen.56 Nach diesem Grundsatz, der  So auch die Verfassungen Frankreichs und Italiens.  Ausdrücklich regelt die Vorschrift zwar nicht den Rang völkerrechtlicher Verträge; sie bezieht sich unmittelbar nur auf die Einbindung der Gesetzgebungsorgane in die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weist Art. 59 Abs. 2 GG den anwendbaren völkervertraglichen Regelungen aber auch den Rang eines Bundesgesetzes zu. Siehe BVerfGE 141, 1 (19) – Treaty Override (2015). 54  Voraussetzung für das gesetzgeberische Zustimmungserfordernis ist allerdings, dass die Verträge „die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen“. Siehe Art. 59 Abs. 2 GG. 55  Siehe John Dugard, South Africa, in: David Sloss (Hrsg.), The Role of Domestic Courts in Treaty Enforcement. A Comparative Study, 2009, 448 (463). 56  Eine die Wirkung des internationalen Rechts im innerstaatlichen Bereich noch verstärkende Spielart der völkerrechtskonformen Auslegung ist die völkerrechtsfreundliche Interpretation der verfassungsrechtlichen Grundrechtsbestimmungen, wonach die typischerweise an der Spitze der innerstaatlichen Normenhierarchie angesiedelten (Grundrechts-)Bestimmungen der Verfassung im 52 53

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Kapitel 12: Inkorporation inter- und supranationaler Normen

Ähnlichkeiten zu der Maxime der verfassungskonformen Auslegung aufweist, müssen Gerichte das jüngere Gesetz zunächst so weit wie möglich so auslegen, dass es den Vorgaben des völkerrechtlichen Vertrages entspricht, bevor sie von einer Normenkollision ausgehen dürfen. Von mehreren möglichen Auslegungsvarianten ist diejenige zu bevorzugen, die mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Dem liegt die rechtliche Fiktion zugrunde, dass es nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sein konnte, ein Gesetz zu verabschieden, dass im Widerspruch zu einer völkerrechtlichen Verpflichtung steht. In der Bundesrepublik Deutschland, wie in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ist der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung fest in der Gerichtspraxis etabliert. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Gesetze „im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.“57 Auch durch den Treaty Override-Beschluss des BVerfG wird die fortwährende Bedeutung dieses Grundsatzes nicht infrage gestellt, sondern lediglich in ihrer Reichweite beschränkt.58 In den USA ist der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung unter der Bezeichnung Charming Betsy-Doktrin seit Anfang des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil der Gerichtspraxis.59 In Kanada, wo der für das Commonwealth-Modell Lichte völkerrechtlicher Menschenrechtsverträge ausgelegt werden. Siehe für die BRD: BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung (1987); BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü (2004); BVerfGE 148, 296 (Rn. 128) – Beamtenstreik (2018). Für weitere Beispiele aus anderen Ländern: Anne Peters, The Globalization of State Constitutions, in: Janne Nijman/André Nollkaemper (Hrsg.), New Perspectives on the Divide Between National and International Law, 2007, 251 (300). Darüber hinaus hat das BVerfG in seinem Recht auf Vergessen I-Beschluss entschieden, dass die Grundrechte des Grundgesetzes nunmehr auch „im Lichte der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union] auszulegen sind“. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I, Rn. 60. 57  BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung (1987). 58  BVerfGE 141, 1 – Treaty Override (2015). Das BVerfG betont den „Verfassungsrang“ des ungeschriebenen Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (ebd., Rn. 65) und konzipiert diesen als Auslegungshilfe, nach der „nationale[] Gesetze nach Möglichkeit so auszulegen [sind], dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht“ und „im Rahmen geltender methodischer Grundsätze von mehreren möglichen Auslegungen eines Gesetzes grundsätzlich eine völkerrechtsfreundliche zu wählen ist“ (ebd., Rn. 71). Gleichzeitig weist das Gericht darauf hin, dass der Grundsatz „keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen“ beinhalte und „die differenzierten Regelungen des Grundgesetzes über den Rang der unterschiedlichen Quellen des Völkerrechts nicht verdrängen und ihre Systematik nicht unterlaufen“ könne. Ebd., Rn. 67. 59  US Supreme Court, Urt. v. Februar 1804 – Murray v. The Schooner Charming Betsy, 6 U.S. 64 (1804). Kritisch zur gegenwärtigen Anwendungspraxis amerikanischer Gerichte hinsichtlich der Charming Betsy-Doktrin: Andreas Paulus, From Neglect to Defiance? The United States and International Adjudication, EJIL 15 (2004), 783 (803 f.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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charakteristische Grundsatz der Parlamentssouveränität noch eine relevante verfassungsrechtliche Doktrin ist, werden nach der presumption of conformity with international law nationale Parlamentsgesetze völkerrechtskonform ausgelegt. Das hat der kanadische Supreme Court in R. v. Hape deutlich zum Ausdruck gebracht: „It is a well-established principle of statutory interpretation that legislation will be presumed to conform to international law.“60 Bemerkenswert ist, dass der kanadische Supreme Court in R. v. Hape den Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung als rule of judicial policy kategorisiert.61 Damit streicht das Gericht heraus, dass dieser Grundsatz nicht wirklich auf einem tatsächlichen oder eingebildeten Willen des Gesetzgebers beruht, sich völkerrechtskonform zu verhalten, sondern um einen gerichtlichen Beitrag zur Inkorporation des internationalen Rechts in die nationale Rechtsordnung.62 In Indien hat der Supreme Court in der Rechtssache People’s Union for Civil Liberties v. Union of India festgestellt: „It is also well accepted that in construing any provision in domestic legislation which is ambiguous, in the sense that it is capable of more than one meaning, the meaning which conforms most closely to the provisions of any international instrument is to be preferred, in the absence of any domestic law to the contrary.“63 Begründet hat der Gerichtshof diese Auslegungsfigur mit der bekannten Erwägung des Völkerrechtsbefolgungswillen des Parlaments: „[T]here is a prima facie presumption that Parliament did not intend to act in breach of international law“.64 In Israel werden nationale Gesetze ebenfalls durch die Figur der völkerrechtskonformen Auslegung mit den bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen in Einklang gebracht.65 Der israelische Supreme Court hat diesen Grundsatz erstmals in Steinberg v. Attorney General ausdrücklich artikuliert: „It is  Supreme Court of Canada, Entsch. v. 07.06.2007, R. v. Hape, [2007] 2 S.C.R. 292, Rn. 53.  Siehe ebd.: „The presumption of conformity is based on the rule of judicial policy that, as a matter of law, courts will strive to avoid constructions of domestic law pursuant to which the state would be in violation of its international obligations, unless the wording of the statute clearly compels that result.“ 62  So Gib van Ert, Canada, in: David Sloss (Hrsg.), The Role of Domestic Courts in Treaty Enforcement. A Comparative Study, 2009, 166 (189). 63  Supreme Court of India, Urt. v. 18.01.2005, Writ Petition (civil) 105/2004 – People’s Union for Civil Liberties v. Union of India & Anr. 64  Ebd. Als Vorreiter dieser völkerrechtsfreundlichen Position in Indien kann der ehemalige Richter des indischen Supreme Courts Khanna gelten, der in seinem Minderheitsvotum zu der kontroversen Entscheidung des Gerichts in Supreme Court of India, Urt. v. 28.04.1976, (1976) 2 SCC 521, ADM Jabalpur v. Shivkant Shukla, in der die Gerichtsmehrheit die Aussetzung der Grundrechte durch die Regierung Indira Ghandi aufrecht erhielt, feststellte: „If […] two constructions of the municipal law are possible, the courts should lean in favour of adopting such construction as would make the provisions of municipal law to be in harmony with the international law or treaty obligations. […] Every statute, according to this rule, is interpreted so far as its language permits, so as not to be inconsistent with the comity of nations, or the established rules of international law, and the court will avoid a construction which would give rise to such inconsistency unless compelled to avoid it by plain and unambiguous language.“ Siehe ebd., 754. 65  David Kretzmer, Israel, in: David Sloss (Hrsg.), The Role of Domestic Courts in Treaty Enforcement. A Comparative Study, 2009, 273 (287). 60 61

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a well-known rule that in interpreting the law the court will try if possible to avoid a clash between the national law and norms of international law that bind the state […].“66 Vor dem Hintergrund dieser einhelligen Gerichtspraxis hat die junge Verfassung von Südafrika, das nach der Überwindung des international geächteten Apartheidregimes die Wiedereingliederung in die Staatengemeinschaft zum Ziel erklärt hat,67 den Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung zum geschriebenen Verfassungsrecht erhoben. In Art. 233 Abs. 1 der südafrikanischen Verfassung heißt es: „When interpreting any legislation, every court must prefer any reasonable interpretation of the legislation that is consistent with international law over any alternative interpretation that is inconsistent with international law.“ In der Entscheidung AZAPO v. President of the Republic of South Africa hat der südafrikanische Verfassungsgerichtshof dazu angemerkt: „[T]he lawmakers of the Constitution should not lightly be presumed to authorize any law which might constitute a breach of the obligations of the state in terms of international law.“68

 . Analyse: Differenzierende Vorrangvermutung zugunsten B des inter- und supranationalen Rechts Welche Schlüsse lassen sich aus der Diskussion um die verfassungsgerichtliche Rechtsprechungspraxis in Hinsicht auf verfassungsrechtliche Integrationsklauseln und Rangbestimmungen für das inter- und supranationale Recht ziehen? Es scheint, dass die verfassungsrechtlichen Normen den Status des inter- und supranationalen Rechts in der nationalen Rechtsordnung nicht immer adäquat widerspiegeln. Auf der einen Seite wurde der Vorrang des Unionsrechts in der transformativen Gründerphase der EU in den 1960er- und 70er-Jahren in den mitgliedstaatlichen Verfassungen nicht ausdrücklich vorgesehen, sondern musste erst durch den EuGH gegenüber den nationalen Gerichten, insbesondere den Verfassungsgerichten, erkämpft werden. Auf der anderen Seite haben nationale Verfassungsgerichte eine Vielzahl dogmatischer Konstruktionen und Auslegungssätze entwickelt, um die formale Gleichrangigkeit völkerrechtlicher Verträge und formeller Gesetze und die Anwendung der lex posterior-Regel zu umgehen oder zumindest einzuschränken.  Supreme Court of Israel, Urt. v. 19.07.1951, Cr. A. 5/51 (1951) – Steinberg v. Attorney General, 5 P.D. 1061. Siehe auch Urt. v. 14.08.2002, HCJ 2599/00 (2000) – Yated – Friendly Society of Downs Syndrome Children’s Parents v. Ministry of Education, 56 (5) P.D. 834 (846): „Another rule of interpretation expresses the presumption of compatibility between the laws of the state and the norms of international law with which Israel is bound to comply. According to this presumption, the laws will be interpreted, as far as possible, as being compatible with these norms.“ 67  In der Präambel heißt es: „We, the people of South Africa […] adopt this Constitution as the supreme law of the Republic so as to […] build a united and democratic South Africa able to take its rightful place as a sovereign state in the family of nations.“ 68  Constitutional Court of South Africa, Urt. v. 25.07.1996, CCT 17/96 – Azanian Peoples Organization (AZAPO) v. President of the Republic of South Africa, Rn. 26. 66

B. Analyse: Differenzierende Vorrangvermutung zugunsten des inter- und …

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Letzteres lässt sich damit erklären, dass die lex posterior-Regel vor dem Hintergrund der veränderten Bedingungen der vernetzten Weltordnung problematisch ist.69 Denn bei einfacher Anwendung von lex posterior würde ein nach Abschluss des völkerrechtlichen Vertrages erlassenes Gesetz Vorrang vor dem Vertrag haben. Das hätte in zahlreichen Fällen zur Folge, dass völkerrechtliche Regelungsanordnungen hinter jüngeren Gesetzen zurücktreten müssten. Der Umstand allein, dass die ungeschriebene lex posterior-Regel traditionell als Kollisionsregel für Normenkollisionen zwischen dem (in die nationale Rechtsordnung inkorporierten) Völkerrecht und dem nationalen Recht verwendet wird, ist dafür keine hinreichende Rechtfertigung.70 Nach normativen Gesichtspunkten aber wird die lex posterior-­Regel der Bedeutung der inter- und supranationalen Kooperation in einer globalisierten Welt nicht gerecht. Denn sie ist eine formalistische, inhaltlich indifferente Konfliktlösungsregel, die Normkonflikte allein durch den Gesichtspunkt der Temporalität entscheidet und damit nach einer materiellen, inhaltsorientierten Betrachtung eher zu zufälligen Ergebnissen führt. „[I]n einer globalisierten Welt, in der die Staaten durch eine Vielzahl völkerrechtlicher Verträge in einem weiten Spektrum von Regelungsbereichen miteinander verflochten sind“,71 verlassen sich die an der Entstehung des Vertrages beteiligten und die von dem Vertrag betroffenen Akteure darauf, dass die völkervertraglichen Regelungen in einer Weise in die nationale Rechtsordnung inkorporiert werden, die ihre praktische Wirksamkeit sicherstellt.72 Es besteht ein gegenseitiges, rechtsordnungsübergreifendes Interesse an der Beachtung interund supranationaler Verpflichtungen, dem die lex posterior-Regel nicht hinreichend Rechnung trägt. Daraus folgt nicht notwendig, dass das inter- und supranationale Recht stets mechanisch in die nationale Rechtsordnung inkorporiert werden muss. Das demokratische Prinzip gebietet es, Entscheidungen des nationalen demokratischen Geset­z­ gebers unter bestimmten Voraussetzungen auch dann in einem Rechtsstreit anzuwenden, wenn sie in einem Widerspruch zu einer inter- oder supranationalen Norm stehen. Da Demokratie immer nur „Herrschaft auf Zeit“ begründet,73 darf das hinter der lex posterior-Regel stehende Bedürfnis nach der Aktualisier- und ­Revidierbarkeit demokratischer Entscheidungen nicht dadurch leerlaufen, dass das

69  Kritisch auch Florian Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, 220 ff. 70  Zwar kann Tradition aus soziologischer Perspektive Legitimität vermitteln. Siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, 1980 (1921/221), 124. Aus normativer Perspektive aber begründet der Umstand, dass eine bestimmte Norm in der Vergangenheit bislang galt, keine Rechtfertigung dafür, dass diese auch gelten soll. Andrej Lang, Legitimität der Verfassung und historischer Umbruch, in: Markus Abraham/Till Zimmermann/Sabrina Zucca-Soest (Hrsg.), Vorbedingungen des Rechts, ARSP-Beiheft 150, 2016, 131 (133). 71  König, abw. Meinung, BVerfGE 141, 1 (44) – Treaty Override (2015). Kritisch dazu Michael Heinke, Höher oder Schwerer? Ist die Vorrangrelation zwischen Völkervertragsrecht und Bundesrecht eine Frage der Abwägung?, Der Staat 55 (2016), 393 (408 ff.). 72  Dazu im Einzelnen: Oben Zweiter Teil, Kap. 9, A., I., 2. 73  BVerfGE 141, 1 (21) – Treaty Override (2015).

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dichte Netz inter- und supranationaler Verpflichtungen faktisch wie eine „Änderungssperre“ für spätere Gesetzgeber wirkt.74 Im Treaty Override-Beschluss begründet das BVerfG die Anwendung der lex posterior-Regel mit der „demokratischen Selbstbestimmung“ des späteren Gesetzgebers,75 der nicht durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge durch den früheren Gesetzgeber gebunden und in seinen Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt werden dürfe.76 Der Zweck des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge liegt aber gerade darin, handlungsbeschränkende Bindungen einzugehen. Diese Bindungen sind durch die Zustimmung des Gesetzgebers nach Art. 59 Abs. 2 GG demokratisch legitimiert und lassen sich nicht einfach durch eine Aufspaltung des Gesetzgebers als Zurechnungssubjekt in zwei Gesetzgeber (einen früheren und einen späteren) auflösen. Unter den Bedingungen einer vernetzten Weltordnung ist die Nichtbefolgung völkerrechtlicher Verpflichtungen in einer Weise rechtfertigungsbedürftig, die sich nicht in dem Hinweis auf die demokratische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erschöpfen kann. Anderenfalls könnte der Gesetzgeber nach Belieben völkerrechtliche Verpflichtungen unilateral überschreiben, die zuvor mit anderen Staaten unter seiner Zustimmung zur Regelung grenzüberschreitender Sachverhalte vereinbart wurden.77 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Motiv der judiziellen Konstruktion der völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts darin erblicken, die Anwendung der lex posterior-Regel weitgehend auszuschalten. Zwar wird die lex posterior-­Regel und der damit einhergehende Vorrang des jüngeren Gesetz vor dem älteren Vertrag durch die völkerrechtskonforme Auslegung nicht abgeschafft, aber doch „weitgehend außer Kraft gesetzt“.78 Auch wenn das BVerfG im Treaty Override-­Beschluss betont, dass der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit kein Regel-Ausnahme-Verhältnis in dem Sinne begründe, „dass sich der Gesetzgeber nur in Ausnahmefällen […] über völkervertragliche Bindungen hinwegsetzen dürfte“,79 so wird dadurch nicht dessen Funktion als Konfliktvermeidungsregel berührt.80 Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Normkollision auftritt, welche die Anwendung der lex posterior-Regel erfordert, ist auch weiterhin signifikant reduziert, weil eine Normkollision schon im Vorfeld – durch völkerrechtskonforme Auslegung selbst eines nicht zwanglos mit dem völkerrechtlichen Vertrag vereinbaren späteren

 Vgl. BVerfGE 141, 1 (22) – Treaty Override (2015).  BVerfGE 141, 1 (30) – Treaty Override (2015). 76  BVerfGE 141, 1 (21 f.) – Treaty Override (2015). 77  In diesem Sinne auch Mehrdad Payandeh, Grenzen der Völkerrechtsfreundlichkeit. Der Treaty Override-Beschluss des BVerfG, NJW 2016, 1279 (1281 f.). 78  Heiko Sauer, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur, ZaöRV 65 (2005), 35 (48). Skeptisch Alexander Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: Hartmut Rensen/Stefan Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I 2009, 553 (559). 79  BVerfGE 141, 1 (30) – Treaty Override (2015). 80  Näher zu dieser Funktion: Mehrdad Payandeh, Völkerrechtsfreundlichkeit als Verfassungsprinzip, JöR 57 (2009), 465 (481). 74 75

B. Analyse: Differenzierende Vorrangvermutung zugunsten des inter- und …

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Gesetzes81 – abgewendet wird. Damit wird die formale Gleichrangigkeit zwischen dem Völkerrecht und dem Parlamentsgesetz stark relativiert und „eine faktische Höherrangigkeit des Völkerrechts jedenfalls vor dem einfachen Recht begründet“.82 Im Ergebnis läuft der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung damit auf eine Umkehr des Vorrangs des jüngeren Gesetzes vor der älteren völkerrechtlichen Bestimmung hinaus. Konzeptionell lässt sich diese Rechtsprechungspraxis in Anknüpfung an Mattias Kumm angemessener mit einer allgemeinen Vermutung des Vorrangs des inter- und supranationalen Rechts erfassen, die gegenüber nationalen Gesetzen und Verfassungsvorschriften gilt. Nach Kumm besteht für das europäische Unionsrecht,83 aber auch für das Völkerrecht,84 eine Vermutung, dass nationale Gerichte verpflichtet sind, EU-Recht in der nationalen Rechtsordnung unabhängig von nationalem Recht durchzusetzen.85 Kumm leitet diese Vorrangvermutung für das Unionsrecht und für das Völkerrecht aus dem sogenannten formalen Prinzip der Legalität her, das er mit den Idealen der rule of law in Verbindung bringt.86 Bezogen auf den EU-Kontext hebt Kumm darüber hinaus die Bedeutung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts hervor, die dazu beitrage, dass Interessenkonflikte zwischen Nationalstaaten nicht in blutigen Kriegen ausarten, sondern im Rahmen einer einheitlichen Rechtsordnung gelöst werden können.87 Diese Vorrangvermutung könne jedoch widerlegt werden, insofern und insoweit gegenläufigen Prinzipien höheres Gewicht zukommt.88 Die Konstruktion einer solchen allgemeinen Vorrangvermutung zugunsten des inter- und supranationalen Rechts ist sinnvoll, obwohl das nationale Recht potenzielle Normkonflikte zwischen dem nationalen Recht und dem Völkerrecht anders auflöst, nämlich durch den Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung und  Die Grenze für eine solche völkerrechtskonforme Auslegung zieht das BVerfG dort, wo „[e]ine Auslegung entgegen eindeutig entgegenstehendem Gesetzes- oder Verfassungsrecht […] methodisch nicht vertretbar“ ist. BVerfGE 141, 1 (30) – Treaty Override (2015). 82  Heiko Sauer, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur, ZaöRV 65 (2005), 35 (48). 83  Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (299). 84  Ebd., 261 f. 85  Ebd., 299. 86  Ebd., 291. Dieses formale Prinzip der Legalität gewährleiste „the regularity, predictability, and procedural due process generally associated with the Rule of Law“. Ebd. 87  Ebd., 299. 88  Ebd. Wie sich diese Abwägung dogmatisch in der deutschen Verfassungsordnung umsetzen lässt, zeigt die abweichende Meinung von Doris König im Treaty Override-Beschluss. König, abw. Meinung, BVerfGE 141, 1 (44 ff.) – Treaty Override (2015). Dort stellt sie in Anlehnung an die Prinzipientheorie Alexys dem  – „für eine völlige Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers“ streitenden  – Demokratieprinzip das  – „für eine vollständige Bindung“ an völkerrechtliche Verträge sprechende  – Rechtsstaatsprinzip gegenüber. Ebd., Rn.  6. Nach König muss die „zwischen den beiden Prinzipien bestehende Konfliktlage […] zu einem möglichst schonenden Ausgleich gebracht werden, bei dem das Ziel kein ‚Alles oder Nichts‘, sondern ein ‚Sowohl als auch‘ ist“. Ebd. Siehe für Alexys Prinzipientheorie insbesondere Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 71 ff. 81

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der damit verbundenen Fiktion, dass der Gesetzgeber mit seinen Gesetzen nicht gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen will. Damit aber wird der Rang des Völkerrechts effektiv auf das Niveau einer Vorrangvermutung gehoben. Ganz ähnlich wie bei der widerlegbaren Vorrangvermutung liegt der Sinn dieser Kon­ struktion in der Begründung einer besonderen Rechtfertigungsbedürftigkeit für die Abweichung von inter- und supranationalen Verpflichtungen. Das setzt aber voraus, dass diese Verpflichtungen grundsätzlich als vorrangig anerkannt werden. Allerdings bestehen zwischen dem Unionsrecht und dem Völkerrecht aus legitimationstheoretischer Perspektive signifikante Unterschiede, die es als unangemessen erscheinen lassen, dass die Vorrangvermutung in gleicher Weise für die EU wie für andere inter- und supranationale Organisationen gilt. Anstatt durch rigide und formalistische Rangbestimmungen lässt sich diesem Umstand aber besser durch Variationen beim Grad bzw. der Stärke der Vorrangvermutung Rechnung tragen. Nationalen konstitutionalistischen Belangen lässt sich dann bei der Frage der Widerlegbarkeit der Vorrangvermutung Rechnung tragen. So macht es einen Unterschied, ob ein völkerrechtlicher Vertrag den multilateralen Menschenrechtsschutz oder die Koordination bilateraler Steuerregelungen zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen zum Gegenstand hat. Dieser Unterschied wird durch positiv-rechtliche Rangzuordnungen wie Art. 59 Abs. 2 GG nur unzureichend abgebildet.89 Deshalb ist es sinnvoll, die Last der Umkehr der Vermutung von bestimmten Merkmalen der inter- oder supranationalen Rechtsordnung, wie etwa ihrem Regelungsgegenstand, abhängig zu machen.90 Im Kontext der EU, in der eigenständige Legitimitätsstrukturen relativ ausgeprägt und gefestigt sind, kann die Vermutung nur unter sehr engen Voraussetzungen widerlegt werden, etwa wenn die mitgliedstaatliche Verfassungsidentität betroffen ist.91 Im Zusammenhang mit anderen inter- und supranationalen Organisationen oder völkerrechtlichen Verträgen kann die Vorrangvermutung hingegen – auch ganz erheblich – abgeschwächt werden. Man sollte sich die Vorrangvermutung zugunsten inter- und supranationalen Rechts als Kontinuum zwischen zwei Polen vorstellen, von denen ein Pol die ­Europäische Union als ein „immer engere[r] Zusammenschluss der europäischen  Mattias Kumm, Democratic Constitutionalism Encounters International Law: Terms of Engagement, in: Sujit Choudhry (Hrsg.), The Migration of Constitutional Ideas, 2006, 256 (275 ff.). 90  Doris König schlägt für die Abwägung zwischen völkervertraglicher Bindung und demokratischer Gestaltungsmöglichkeit folgende Kriterien vor: „[D]as mit dem späteren Gesetz verfolgte Regelungsziel und dessen Bedeutung für das Gemeinwohl, die Auswirkungen auf die Rechtsstellung der durch die völkerrechtliche Regelung begünstigten Individuen, die Dringlichkeit der abweichenden Regelung, die Möglichkeit des Rückgriffs auf zumutbare völkerrechtsgemäße Mittel zur Beendigung der völkerrechtlichen Bindung, wie etwa Abgabe einer interpretativen Erklärung, Kündigung oder Modifizierung des Vertrags, und die bei einem Völkerrechtsbruch im Raume stehenden Rechtsfolgen.“ König, abw. Meinung, BVerfGE 141, 1 (48) – Treaty Override (2015). Allerdings fehlt eine Unterscheidung nach dem Regelungsgegenstand und der Bedeutung des völkerrechtlichen Vertrages. Wie gezeigt, muss es einen Unterschied machen, ob es sich um ein bilaterales Doppelbesteuerungsabkommen oder um einen multilateralen Menschenrechtsvertrag handelt. Auch sind diese Kriterien insgesamt zu streng, insoweit auf eine besondere Dringlichkeit und die mangelnde Zumutbarkeit völkerrechtlicher Kündigungsmöglichkeiten abgestellt wird. 91  Ausführlich unten Dritter Teil, Kap. 17, A., II. und B. 89

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Völker“92 und Leitbild inter- und supranationaler Integration ist und der andere Pol durch in sehr viel geringerem Maße integrierte inter- und supranationale Regime mit nur rudimentär ausgebildeten Legitimationsmechanismen repräsentiert wird. Das wirft freilich die Frage auf, nach welchen Kriterien beurteilt werden soll, an welcher Stelle auf dem Spektrum zwischen den zwei Polen das Recht einer bestimmten inter- und supranationalen Rechtsordnung eingeordnet werden soll, oder, mit anderen Worten: Wie stark die Vermutung des Vorrangs zugunsten eines bestimmten inter- und supranationalen Regimes ist. Als Paradigma zur Bewertung, ob und in welchem Ausmaß eine Vermutung des Vorrangs gegeben ist, bietet sich ein Rückgriff auf Neil Walkers Kriterien für konstitutionelle Regime an. Walker, der sich, wie bereits dargelegt,93 mit der Öffnung des Konstitutionalismus gegenüber inter- und supranationalen und nicht-staatlichen Regimen beschäftigt, fragt sich, wie gewährleistet werden kann, die Idee des Konstitutionalismus in einer Weise auszudehnen, welche die Kohärenz der verschiedenen staatlichen und post-­ staatlichen Gemeinwesen sicherstellt. In seinem inklusiven, abgestuften Kon­ stitutionalismus-­Modell entwickelt Walker mehrere lose miteinander verbundene Faktoren und Indizien, wie etwa die Existenz eines konstitutionellen Diskurses, der im Rahmen inter- und supranationaler Menschenrechtsregime typischerweise entsteht, sowie eigenständiger Institutionen mit abgrenzbarem Kompetenzbereich, anhand derer die unterschiedlichen Konstitutionalismus-Modi und -Grade verschiedener inter- und supranationaler Organisationen identifiziert und gemessen werden und unterschiedliche Formen des Konstitutionalismus unterschieden werden können.94  Siehe 1. Erwägungsgrund der Präambel des AEUV.  Für eine Repositionierung der Idee einer immer engeren Union angesichts der gegenwärtigen europäischen Verfassungskrise: Armin von Bogdandy, European Law Beyond „Ever Closer Union“, ELJ 22 (2016), 519 ff. 93  Zu Walkers Konzeption des Verfassungspluralismus: Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 3. 94  Zu diesen Kriterien im Einzelnen: Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 3. In Walkers abgestuftem Konstitutionalisierungsmodell ließe sich auch das Phänomen privater Rechtsetzung integrieren, das insbesondere auch im Zusammenhang mit der Netzwerktheorie diskutiert wird, dem sich diese Arbeit aber aus Platzgründen nicht angenommen hat. Soweit ein pluralistisch-heterarchisches Arrangement normativ erstrebenswert erscheint, kann es auch sinnvoll sein, Formen privater Rechtsetzung, wie die lex mercatoria, private Sportverbände oder die Verwaltung des Internets durch ICANN, anzuerkennen, die den wachsenden Regulierungsbedarf in bestimmten gesellschaftlichen Teilbereichen durch Selbstregulierung befriedigen. Eine Frage, die sich dann stellt ist, inwieweit Gerichte die Entscheidungsautonomie dieser privaten Institutionen respektieren sollten. Gilt hier auch eine widerlegbare Vorrangvermutung zu Gunsten des durch diese Institutionen gesetzten privaten Rechts? Einerseits lässt sich die Konstruktion einer solchen Vorrangvermutung für das privat gesetzte Recht legitimatorisch schwerer rechtfertigen als im Zusammenhang mit dem inter- und supranationalem Recht. Andererseits lässt sich mit Walkers Konstitutionalisierungsmodell solchen legitimatorischen Unterschieden durchaus Rechnung tragen. Wenn nationale Gerichte dem Recht dieser Regime eine Anerkennung in der nationalen Rechtsordnung in Aussicht stellen, insoweit diese bestimmte konstitutionalistische Grundsätze beachten, schaffen sie Anreize zur Beachtung dieser Grundsätze und können durch die Verwendung dieses Rechenschaftspflicht-Mechanismus einen konstitutionellen Dialog mit diesen Institutionen in Gang setzen. Mit einem stärker auf das Phänomen privater Rechtsetzung ausgerichteten Modell für rechtliche Zusammenhänge jenseits des Nationalstaats: Lars Viellechner, Transnationalisierung des Rechts, 2013. 92

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Kapitel 12: Inkorporation inter- und supranationaler Normen

C. Zusammenfassung In der vernetzten Weltordnung gewährleisten nationale Verfassungsgerichte die Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts, indem sie diesem rechtsordnungsfremden Recht eine  – über die textlichen Vorgaben rechtsordnungseigener Rang- und Integrationsklauseln hinausreichende – besondere Stellung in der nationalen Rechtsordnung einräumen. Zum einen wird der Vorrang des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte in der EU heute im Grundsatz allgemein anerkannt, obwohl dieser Vorrang ursprünglich umstritten war. Wie der historische Rückblick auf die Rechtsprechungsentwicklung gezeigt hat, musste der Vorrang des Unionsrechts erst schrittweise durch einen rechtsordnungsübergreifenden Verständigungsprozess zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten erkämpft werden. Mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte gaben nach und nach – mit zunehmender Anerkennung des Vorrangs durch andere Verfassungsgerichte – ihren Widerstand auf. Die Verfassungsgerichte folgten dem sich abzeichnenden Rechtsprechungstrend, obwohl die Sorge einer übermäßigen Beschränkung der nationalen Autonomie durch die Akzeptanz des Vorrangs des Unionsrechts nach wie vor bestand. Die Rechtsprechungsanalyse hat gezeigt, dass in diesem Prozess rechtsordnungsübergreifende Rezeptionszusammenhänge eine wesentliche Rolle gespielt haben. Dieses Beispiel illustriert damit den netzwerkartigen Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen unter den plur­a­ listisch-­heterarchischen Bedingungen der vernetzten Weltordnung.95 Zum anderen setzen Verfassungsgerichte in der ganzen Welt, u. a. in Deutschland, Kanada, Israel, Indien und Südafrika, die klassische lex posterior-Regel durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung weitgehend außer Kraft, um dem inter- und supranationalen Recht effektiv zu einer Vorrangstellung zu verhelfen. Nach dem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ist von mehreren möglichen Auslegungsvarianten diejenige zu bevorzugen, die mit dem Völkerrecht vereinbar ist, wodurch die Gefahr des Auftretens einer Normkollision, die Voraussetzung für die Anwendung der lex posterior-Regel ist, signifikant reduziert wird. Diese Entwicklung ist zu begrüßen, denn die lex posterior-Regel ist eine formalistische, auf einem zeitlichen Kriterium beruhende Konfliktlösungsregel, die dem gegenseitigen, rechtsordnungsübergreifenden Interesse an der Inkorporation inter- und supranationaler Verpflichtungen in der vernetzten Weltordnung nicht gerecht wird. Konzeptionell lässt sich die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis zum Vorrang des Unionsrechts und zum Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung angemessen mit einer widerlegbaren Vermutung des Vorrangs des interund supranationalen Rechts erfassen, die gegenüber nationalen Gesetzen und Verfassungsvorschriften gilt. Mit anderen Worten entspricht das Festhalten an der lex posterior-Regel bei gleichzeitiger völkerrechtsfreundlicher Auslegung am besten den Normen und Auslegungsregeln vieler nationaler Rechtsordnungen, während  Zur Umschreibung dieses Prozesses richterlicher Normbildung allgemein: Oben Erster Teil, Kap. 7, insb. C.

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C. Zusammenfassung

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aber die dahinter erkennbare rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnorm die widerlegbare Vorrangvermutung ist, nach der Verfassungsgerichte ihre Rechtsprechung ausrichten sollten. Danach unterliegt die Abweichung von einer inter- und supranationalen Verpflichtung einer besonderen materiellen – und nicht bloß einer temporalen – Rechtfertigungslast. Unterschieden in der legitimatorischen Qualität zwischen den verschiedenen inter- und supranationalen Rechtsordnungen lässt sich dabei durch ein abgestuftes Konstitutionalismus-Modell Rechnung tragen, in dem der Grad der Vorrangvermutung des Unionsrechts nur unter sehr engen Voraussetzungen widerlegt werden kann.

Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

Die Frage der Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile unterscheidet sich insofern von der Frage der Inkorporation inter- und supranationaler Normen, als es kaum Regeln gibt, die die Bedeutung eines solchen rechtsordnungsfremden Urteils im rechtsordnungseigenen oder innerstaatlichen Bereich regeln: Rang- und Integrationsbestimmungen beziehen sich in aller Regel auf Normen, aber nicht auf Urteile, weil Urteile herkömmlich nicht als Rechtsquelle anerkannt sind.1 Aus diesem Grund ist der Rechtfertigungsaufwand zur Berücksichtigung rechtsordnungsfremder Urteile im rechtsordnungseigenen Bereich höher als bei rechtsordnungsfremden Normen, denen durch rechtsordnungseigene Rangvorschriften bereits eine bestimmte Stellung im rechtsordnungseigenen Bereich zugewiesen ist.2 In Kap.  2 wurde dargelegt, dass die kennzeichnende Dynamik der vernetzten Weltordnung entscheidend darauf beruht, dass inter- und supranationale Rechtsordnungen durch Institutionen repräsentiert werden, die einen volonté distincte haben,3 selbst Normen erzeugen und diese auch noch selbst auslegen. In der Folge gelten diese Normen nunmehr mit dem Bedeutungsgehalt, den ihm inter- und supranationale Gerichte zugeschrieben haben.4 Die beachtliche Konkretisierungswirkung der inter- und supranationalen Rechtsprechung für das inter- und supranationale Recht würde jedoch teilweise leerlaufen, wenn ihre Entscheidungen nicht durch nationale oder andere internationale Gerichte berücksichtigt würden. Wie wir sehen werden,  Zur Diskussion: Heinrich Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971. 2  Instruktiv zur Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile inter- und supranationaler Gerichte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Alexander Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 2014, 107 ff. 3  Oben Erster Teil, Kap. 2, C., II. 4  Oben Erster Teil, Kap. 2, D., II. 1

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_13

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Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

setzen sich Verfassungsgerichte in der Regel inhaltlich intensiv mit rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Gerichtsurteilen zu derselben Sachfrage ausei­ nander, ohne aber uneingeschränkt eine Bindung an das Urteil anzunehmen (A.). Konzeptionell lässt sich diese rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklung als eine widerlegbare Präjudizvermutung konzipieren (B.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen Die Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile ist nicht nur ein europäisches Phänomen: Die Institutionalisierung der inter- und supranationalen Kooperation im Allgemeinen und die Einrichtung inter- und supranationaler Gerichte und Spruchkörper im Besonderen führt dazu, dass auch Verfassungsgerichte auf anderen Kontinenten vermehrt mit inter- und supranationalen Gerichtsentscheidungen konfrontiert werden. In Lateinamerika spielt der IAGMR eine dem EGMR in vielerlei Hinsicht vergleichbare Rolle. Dementsprechend hat sich ein – in der verfassungsrechtlichen Literatur als ein Baustein zur Herausbildung eines Ius Constitutionale Commune en América Latina charakterisierter5  – intensiver Verfas­ sungsgerichtsdialog zwischen dem IAGMR und nationalen Verfassungs- und Höchstgerichten entwickelt.6 Katalysator dieses „überstaatlichen transformativen Konstitutionalismus“7 war die bahnbrechende Barrios Altos-Entscheidung des IAGMR, in der sich dieser entschieden gegen die weit verbreitete politische Praxis von Amnestien selbst bei schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit positioniert hat und trotz seines Status als internationales Gericht nicht davor zurückgeschreckt ist, ein nationales Amnestiegesetz für nichtig zu befinden.8 Dieser Rechtsprechung sind die nationalen Verfassungs- und Höchstgerichte aus Chile, Peru, Argentinien und Kolumbien mit unterschiedlichen Begründungen weitgehend gefolgt.9 Inwieweit sich diese Gerichte auch dann noch an die Rechtsprechung des 5  Armin von Bogdandy, Ius Constitutionale Commune en América Latina. Beobachtungen zu einem transformatorischen Ansatz demokratischer Verfassungsstaatlichkeit, ZaöRV 75 (2015), 345 ff. 6  Instruktiv: Raffaela Kunz, Weder entfesselt noch geknebelt – Rechtsfindung nationaler Gerichte in Zeiten globalen Regierens am Beispiel des Zusammenspiels mit EGMR und IAGMR, in: Marje Mülder u. a. (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit, 2018, 299 ff.; Christina Binder, Auf dem Weg zum lateinamerikanischen Verfassungsgericht? Die Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs im Bereich der Amnestien, ZaöRV 71 (2011), 1 ff. Zum horizontalen Verfassungsgerichtsdialog zwischen nationalen Verfassungsgerichten in Lateinamerika über die Stellung der IAMRK in der nationalen Rechtsordnung: Michael Freitas Mohallem, Horizontal Judicial Dialogue on Human Rights. The Practice of Constitutional Courts in South America, in: Amrei Müller (Hrsg.), Judicial Dialogue and Human Rights, 2017, 67 ff. 7  Zum Phänomen: Armin von Bogdandy, Überstaatlicher Transformativer Konstitutionalismus. Bemerkenswertes vom Interamerikanischen System für Menschenrechte, Der Staat 58 (2019), 41 ff. 8  IAGMR, Urt. v. 14.3.2001, Barrios Altos v. Peru, Series C, No. 75. 9  Für einen guten Überblick: Christina Binder, Auf dem Weg zum lateinamerikanischen Verfassungsgericht? Die Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs im Bereich der Amnestien, ZaöRV 71 (2011), 1 (17 ff.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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IAGMR gebunden fühlen, wenn diese nicht als Legitimitätsverstärkung gegen unliebsame Amnestiegesetzgebungen fungiert, sondern eine Änderung ihrer eigenen Rechtsprechungspraxis erfordert, wird sich erst noch erweisen müssen.10 Eine Frage, die sich in einem solchen Zusammenhang stellt‚ ist, inwieweit nationale Verfassungs- und Höchstgerichte dazu verpflichtet sind, die Rechtsprechung des IAGMR zu befolgen oder zumindest zu berücksichtigen. Während das peruanische Tribunal Constitucional und die panamaische Corte Suprema de Justicia eine Befolgungspflicht annehmen,11 behalten sich die nationalen Verfassungs- und Höchstgerichte in Lateinamerika in den meisten Fällen ein höheres Maß an Entscheidungsautonomie vor und beschränken ihre Bindung an IAGMR-Urteile auf eine Berücksichtigungspflicht.12 So erblickt der argentinische Supreme Court in den Entscheidungen des IAGMR einen Interpretationsleitfaden („guía para la interpretación“),13 das kolumbianische Verfassungsgericht ein entscheidungserhebliches hermeneutisches Kriterium („criterio hermenéutico relevante“).14 Auch die Obergerichte in Chile und in Mexiko beanspruchen für sich eine gewisse Einpassungsflexibilität.15 In Europa gibt es mit dem EuGH und dem EGMR zwei einflussreiche supranationale Verfassungsgerichte, die die Konstitutionalisierung ihrer jeweiligen Rechtsordnung maßgeblich vorangetrieben haben,16 und an deren Rechtsprechung mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte nicht vorbeikommen. Allerdings bestehen hinsichtlich der Anerkennung der Entscheidungen dieser beiden Gerichte noch er-

 In Corte Suprema de Justicia de la Nación, Entsch. v. 14.2.2017, Nr.  368/1998 (34-M)/CS1, Sentencia del Caso Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto s/ informe sentencia dictada en el caso „Fontevecchia y D’Amico vs. Argentina“, wertete der argentinische Supreme Court, der bis dahin einen wichtigen Beitrag zur Inkorporation der Rechtsprechung des IAGMR geleistet hatte, eine Entscheidung des IAGMR als Verstoß gegen die argentinische Verfassung. 11  Siehe für Panama: Corte Suprema de Justicia, Entsch. v. 12.5.2010, Nr. 240, Diálogo Jurisprudencial 8 (2010), 99 (100); für Peru: Tribunal Constitucional, Entsch. v. 29.11.2005, Nr. 4587-2004AA/TC – Santiago Martín Rivas. Allerdings relativiert das peruanische Verfassungsgericht diese Bindungspflicht insofern, als es betont, dass die Rechtsprechung des IAGMR das nationale Recht nicht automatisch verdränge und sich die peruanischen Gerichte darum bemühen sollten, die Urteile des IAGMR mit dem nationalen Recht zu harmonisieren. Siehe Tribunal Constitucional, Entsch. v. 02.03.2007, Nr. 679-2005-PA/TC – Martin Rivas v. Constitutional and Social Chamber of the Supreme Court, Rn. 35. 12  Raffaela Kunz, Weder entfesselt noch geknebelt – Rechtsfindung nationaler Gerichte in Zeiten globalen Regierens am Beispiel des Zusammenspiels mit EGMR und IAGMR, in: Marje Mülder u. a. (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit, 2018, 299 (320). 13  Corte Suprema de Justicia de la Nación, Entsch. v. 07.04.1995, Nr. 32/93 – Giroldi, Horacio David y otros s/ recurso de casación, Rn. 11. 14  Kolumbianisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 19.01.2000, C-01/00 – IAGMR, Rn. 7. 15  Siehe für Chile: Chilenischer Oberster Gerichtshof, Entsch. v. 13.12.2006, Nr.  559-2004  – Molco, Rn.  19  f.; für Mexiko: Suprema Corte de Justicia de la Nación, Entsch. v. 03.09.2013, Nr. 293/2011 – Contradicción de Tesis, I.2. 16  Näher zur Konstitutionalisierung inter- und supranationaler Rechtsordnungen oben Erster Teil, Kap. 2, E. 10

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Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

hebliche Unterschiede: Während das europäische Unionsrecht auch im innerstaatlichen Bereich nur in der Interpretationsvariante zugrunde gelegt wird, die ihm der EuGH beimisst,17 lehnen in den EMRK-Konventionsstaaten nationale Verfassungsgerichte eine strenge Bindung an die Urteile des EGMR überwiegend ab und bewahren sich einen gewissen Entscheidungsspielraum in der Frage, wie sie die EGMR-Entscheidungen konkret in die eigene Rechtsordnung inkorporieren. Damit lassen sich hinsichtlich der Inkorporation der Rechtsprechung des EGMR durch die Verfassungs- und Höchstgerichte der europäischen Konventionsstaaten auffällige Parallelen zu der Inkorporation der Rechtsprechung des IAGMR in Lateinamerika erkennen. In den meisten Konventionsstaaten werden die Urteile des EGMR im innerstaatlichen Bereich in aller Regel befolgt. Konzeptionell schwanken die Gerichte zwischen der Annahme einer Bindungswirkung und einer bindenden Auslegungsleitlinie. Übereinstimmung herrscht darin, dass trotz des dualistischen Trennungsgebots zwischen Völkerrecht und nationalem Recht zumindest eine Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR bei der innerstaatlichen Anwendung des EGMR besteht. Im Folgenden soll die Untersuchung dieses Rechtsprechungsphänomens exemplarisch auf die Inkorporation der Rechtsprechung des EGMR als M ­ enschenrechtsgerichtshof (I.) und anschließend auf die Inkorporation der Entscheidungen des IGH (II.) konzentriert werden.

I. Inkorporation der Urteile des EGMR Zunächst soll skizzenhaft ein Überblick über die Inkorporation der Rechtsprechung des EGMR durch nationale Verfassungsgerichte in Europa vermittelt werden (1.), bevor im Anschluss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage eingehender erörtert wird (2.).

 Das war nicht immer so. Vgl. etwa Laurence Helfer/Karen Alter, Legitimacy and Lawmaking: A Tale of Three International Courts, Theoretical Inq. L. 14 (2013), 479 (490): „When the CJEU was established in the 1950s, its judgments were binding“ under international law, but the court had no way to enforce its decisions or to penetrate national legal orders.“ Exemplarisch kann auf die Entscheidung Cohn-Bendit verwiesen werden, in der der französische Conseil d’État, nachdem der EuGH 1974 in Van Duyn bereits entschieden hatte, das Richtlinien unmittelbare Wirkung entfalten können, diese unionsrechtliche Interpretation mit dem Hinweis auf den Wortlaut des Art.  189 EWGV (heute: Art. 288 AEUV) zurückwies, der dies „klarerweise“ nicht zulasse. Siehe Conseil d’État, Urt. v. 22.12.1978  – Ministre de l’Intérieur v. Sieur Cohn-Bendit, Rec. 524, EuR 1979, 292 ff. Dazu näher unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., a. Heute lässt sich die Ultra-vires-Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte als Ausnahme von der Bindung an die Urteile des EuGH verstehen, denn dabei behalten es sich die Verfassungsgerichte vor, unionsrechtliche Vertragsbestimmungen  – mittelbar über das Zustimmungsgesetz  – abweichend vom EuGH auszulegen.

17

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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1 . Überblick über die Inkorporationspraxis nationaler Verfassungsgerichte in Europa Besonders weitreichend ist die Bindung an die Rechtsprechung des EGMR in den Niederlanden und in Belgien. In den Niederlanden gibt es weder ein Verfassungsgericht noch eine gerichtliche Normenkontrollbefugnis. Zudem hat das inter- und supranationale Recht Vorrang selbst vor der Verfassung. Vor diesem institutionellen und rechtlichen Hintergrund ist der EGMR zu einer Art Ersatzverfassungsgericht für Menschenrechtsfragen geworden, dessen Entscheidungen von nationalen Gerichten weitgehend als bindend erachtet werden.18 Auch in der belgischen Rechtsordnung spielt die Rechtsprechung des EGMR eine überragende Rolle, vor allem auch weil einige nationale Grundrechtsbestimmungen vom Verfassunggeber bewusst mit den Menschenrechtsbestimmungen der EMRK abgestimmt wurden.19 Darüber hinaus richtet das belgische Verfassungsgericht seine Rechtsprechung auch deshalb ganz signifikant nach der Rechtsprechung des EGMR aus, um die für die belgische Rechtskultur ungewöhnliche verfassungsgerichtliche Normenkontrolle am Maßstab von Grundrechtsbestimmungen zu legitimieren.20 Auch in den baltischen und den skandinavischen Staaten erachten die Verfassungs- und Höchstgerichte die Rechtsprechung des EGMR weitgehend als bindend, wobei sie sich einen gewissen Entscheidungsspielraum bei der Inkorporation dieser Rechtsprechung in die eigene Rechtsordnung, insbesondere im Hinblick auf nationale Grundrechtsbestimmungen, vorbehalten.21 Einen bemerkenswerten Kurswechsel hat die italienische Corte Costituzionale in den vergangenen Jahren hinsichtlich der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR vollzogen.22 In Italien wird das Verhältnis zwischen dem italienischen Recht und dem Völkerrecht traditionell dualistisch konzipiert. In der Folge wurde auch  Monica Claes/Gert Leenknegt, A Case of Constitutional Leapfrog. Fundamental rights protection under the Constitution, the ECHR and the EU Charter in the Netherlands, in: Patricia Popelier/ Catherine Van de Heyning/Piet Van Nuffel (Hrsg.), Human rights protection in the European legal order, 2011, 287 (301 ff.). 19  Ein Beispiel ist Art. 22 der belgischen Verfassung, der dem Art. 8 EMRK nachgeahmt wurde. Darauf verweist Patricia Popelier, Report on Belgium, in: Giuseppe Martinico/Oreste Pollicino (Hrsg.), The National Judicial Treatment of the ECHR and EU Laws. A Comparative Constitutional Perspective, 2010, 81 (85). 20  Zur Sicherung menschenrechtlicher Mindeststandards durch inter- und supranationale Menschenrechtsgerichtshöfe: Oben Erster Teil, Kap. 4, A., I., 2. 21  Siehe zur Inkorporation der Rechtsprechung des EGMR in den baltischen Staaten: Irmantas Jarukaitis, Report on Estonia, Latvia and Lithuania, in: Giuseppe Martinico/Oreste Pollicino (Hrsg.), The National Judicial Treatment of the ECHR and EU Laws. A Comparative Constitutional Perspective, 2010, 167 ff.; zur Inkorporation in Schweden, Dänemark und Norwegen: Carl Lebeck, Report on Scandinavian Countries, in: Giuseppe Martinico/Oreste Pollicino (Hrsg.), ebd., 389 ff. 22  Zum Überblick über die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs zur Inkorporation der Urteile des EGMR in die italienische Rechtsordnung: Giuseppe Martinico/Oreste Pollicino, Report on Italy, in: dies. (Hrsg.), The National Judicial Treatment of the ECHR and EU Laws. A Comparative Constitutional Perspective, 2010, 269 ff.; Vittoria Barsotti/Paolo Carozza/Marta Cartabia/Andrea Simoncini, Italian Constitutional Justice in Global Context, 2015, 222 ff. 18

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Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

eine bindende Wirkung der Urteile des EGMR im innerstaatlichen Bereich für lange Zeit nicht anerkannt. In ihren Entscheidungen 348 und 349 von 2007 legte die Corte nunmehr dar, dass sich die genaue Bedeutung der Bestimmungen der EMRK nur aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben kann.23 Maßgebend ist danach also nicht der Wortlaut der EMRK-Bestimmung, sondern die Interpretation dieser Bestimmungen durch den EGMR.24 Allerdings schränkte die Corte ein, dass die Straßburger Urteile im Zusammenhang mit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nicht uneingeschränkt bindend sind.25 Etwas zurückhaltender bei der Inkorporation der Rechtsprechung des EGMR zeigt sich das slowakische Verfassungsgericht, das dessen Urteile zwar vielfach ­zitiert und befolgt, diesen aber lediglich den Stellenwert einer bindenden Auslegungsleitlinie zugesteht.26 In England und in Irland ist in den nationalen EMRK-­ Inkorporationsgesetzen ausdrücklich eine Pflicht zur Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung – und damit im Umkehrschluss keine Bindungswirkung – statuiert.27

 Siehe Giuseppe Martinico/Oreste Pollicino, Report on Italy, in: dies. (Hrsg.), The National Judicial Treatment of the ECHR and EU Laws. A Comparative Constitutional Perspective, 2010, 269 (281 ff.). Einschränkend aber Corte Costituzionale, Urt. v. 14.01.2015, Nr. 49/2015. Kritisch Davide Paris/Karin Oellers-Frahm, Zwei weitere völkerrechts „unfreundliche“ Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2015 (Nr. 49 und 50), EuGRZ 2016, 245 ff. 24  Corte Costituzionale, Entsch. v. 22.10.2007, Nr. 348/2007, Rn. 4.6: „[T]he constitutional scrutiny is not based on the text of the ECHR provision, but rather on the interpretation of the provision by the European Court of Strasbourg.“ 25  Ebd., Rn. 4.7.: „It must also be emphasized that the judgments of the Strasbourg Court are not unconditionally binding for the purposes of the verification of the constitutionality of national laws. Such controls must always aim to establish a reasonable balance between the duties flowing from international law obligations […] and the safeguarding of the constitutionally protected inte­ rests contained in other articles of the Constitution.“ In der jüngeren Entscheidung Nr. 311 von 2009 hat die Corte allerdings eine stärkere Bereitschaft angedeutet, die Rechtsprechung des EGMR maßgeblich bei der Interpretation nationaler Grundrechtsvorschriften zu berücksichtigen. Siehe Corte Costituzionale, Entsch. v. 16.11.2009, Nr. 311/2009. Dazu Giuseppe Martinico/Oreste Pollicino, Report on Italy, in: dies. (Hrsg.), The National Judicial Treatment of the ECHR and EU Laws. A Comparative Constitutional Perspective, 2010, 269 (294 f.). 26  Siehe Michal Bobek/David Kosar, Report on the Czech Republic and Slovakia, in: Giuseppe Martinico/Oreste Pollicino (Hrsg.), The National Judicial Treatment of the ECHR and EU Laws. A Comparative Constitutional Perspective, 2010, 117 (139). 27  Nach Art. 2 Abs. 1 des britischen Human Rights Act müssen nationale Gerichte bei der Auslegung der Konventionsrechte „take into account any judgment, decision, declaration or opinion of the European Court of Human Rights […] [that] is relevant to the proceedings in which that question has arisen.“ Ebenso verlangt Art. 4 des irischen EMRK-Akts von 2003, dass Gerichte „shall, when interpreting the Convention provisions, take due account of the principles laid down by [the] declarations, decisions, advisory opinions, opinions and judgments [of the ECHR]“. 23

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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2. Die Inkorporation durch das Bundesverfassungsgericht Welche Bedeutung misst das Bundesverfassungsgericht den Urteilen des EGMR in der deutschen Rechtsordnung bei? Die drei maßgeblichen Entscheidungen zu dieser Frage, die im Folgenden diskutiert werden, sind der Görgülü-Beschluss von 2004 (a.), das Sicherungsverwahrungs-Urteil von 2011 (b.), sowie das Urteil zum beamtenrechtlichen Streikverbot von 2018 (c.).28 a. Der Görgülü-Beschluss vom 14.10.2004 Der Görgülü-Entscheidung liegt ein Sorgerechts- und Adoptionsstreit zugrunde, in dem der leibliche Vater gerichtlich um das Sorge- und Umgangsrecht für sein Kind kämpfte, das kurz nach der Geburt ohne Wissen des Vaters zur Adoption freigegeben wurde.29 Das OLG Naumburg versagte ihm das Sorge- und jedes Umgangsrecht. Der EGMR sah darin einen Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art.  8 EMRK.  Um seine Entscheidung trotz des EGMR-Urteils aufrechtzuerhalten, bemühte das OLG Naumburg die klassisch-dualistische Kon­ struktion der Wirkungen völkerrechtlicher Verpflichtungen: Der Urteilsspruch binde nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht jedoch deren rechtsanwendende Organe; er sei für die nationalen Gerichte ein unverbindlicher Ausspruch.30 Mit anderen Worten: Im völkerrechtlichen Kreis wirkt er verbindlich, im innerstaatlichen Kreis aber bleibt er ohne Relevanz. Es liegt auf der Hand, dass eine so weitreichende Dissonanz zwischen den Wirkungen einer völkerrechtlichen Verpflichtung in der nationalen Rechtsordnung einerseits, und einer inter- oder supranationalen Rechtsordnung andererseits, nicht der verfassungsgerichtlichen Inkorporationsfunktion in der vernetzten Weltordnung entspricht.31 Denn das Anliegen, mit der institutionell maßgeblich durch den EGMR repräsentierten EMRK ein effektives, multilaterales, europäisches Menschenrechtsregime einzusetzen, kann nicht realisiert werden, wenn nationale Gericht und Behörden den Entscheidungen des EGMR keinerlei Bedeutung beimessen müssen. Umgekehrt würde die Anerkennung einer uneingeschränkten Bindung an die Urteile des EGMR die Entscheidungsautonomie deutscher Gerichte in erheblichem Maße beschränken. Wie also  Zum Überblick: Heiko Sauer, Principled Resistance to and Principled Compliance with ECtHR Judgments in Germany, in: Breuer (Hrsg.), Principled Resistance to ECtHR Judgments – A New Paradigm?, 2019, 55 ff. Darüber hinaus hat sich das BVerfG inhaltlich mit der Rechtsprechung des EGMR im Rahmen des NPD-Verbotsverfahren auseinandergesetzt, freilich ohne dabei neue Maßstäbe für die Bedeutung der Entscheidungen des EGMR im innerstaatlichen Bereich zu entwickeln. Siehe BVerfGE 144, 20 (234 ff.) – NPD-Verbotsverfahren (2017). Dazu Thorsten Kingreen, Auf halbem Weg von Weimar nach Straßburg: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren, JURA 2017, 499 ff. 29  BVerfGE 111, 307 – Görgülü (2004). 30  OLG Naumburg, Beschl. v. 30.06.2006, 14 WF 64/04, EuGRZ 2006, 749 (751). 31  Hierzu oben Zweiter Teil, Kap. 9. 28

302

Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

löst das Bundesverfassungsgericht das Dilemma zwischen Achtung der Urteile des EGMR und Bewahrung der rechtsordnungsinternen Entscheidungsautonomie? Auf der einen Seite legt das BVerfG die Bestimmungen der EMRK so aus, dass sie keine innerstaatliche Bindungswirkungen von EGMR-Urteilen begründen wollen: Zum einen spreche Art.  46 Abs.  1 EMRK nur eine Bindung der beteiligten (nationalstaatlichen) Vertragspartei – und daher eben nicht wie § 31 Abs. 1 BVerfGG der innerstaatlichen Gerichte und Behörden  – aus.32 Zum anderen setzt Art.  41 EMRK nach Auffassung des BVerfG die Möglichkeit einer unzureichenden innerstaatlichen Umsetzung einer Konventionspflicht voraus, wenn er dem Beschwerdeführer einen Anspruch auf eine „gerechte Entschädigung“ in Geld zuspricht.33 Auf der anderen Seite weist das Gericht unter Heranziehung des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit eine klassisch-dualistische Konstruktion zurück, um Urteilen des EGMR im innerstaatlichen Bereich – und damit auch gegenüber nationalen Gerichten – ein gewisses Maß an Wirksamkeit zu verleihen.34 Das bedeutet mit anderen Worten, dass die Bundesrepublik Deutschland aus völkerrechtlicher Perspektive an die Bestimmungen der EMRK gebunden ist  – und zwar mit dem Bedeutungsgehalt, den ihnen der EGMR zuschreibt. Diese Bindung an die EMRK gilt auch aus innerstaatlicher Perspektive, weil die Bundesrepublik die EMRK im Rang eines formellen Gesetzes ratifiziert hat. Eine Dissonanz zwischen der nationalen und der völkerrechtlichen Perspektive besteht jedoch im ­Hinblick auf die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR fort. Denn nur weil die Bestimmungen der EMRK im innerstaatlichen Bereich im Rang eines Gesetzes gelten, folgt daraus aus innerstaatlicher Perspektive noch nicht, dass sie innerstaatlich auch in der Auslegungsvariante des EGMR gelten. Hier zieht das Gericht den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit heran: Aus dem Anliegen, Völkerrechtsverletzungen zu vermeiden, leitet es das Erfordernis einer Anpassung an die Rechtsprechung des EGMR her.35 Im Ergebnis konstruiert das Bundesverfassungsgericht als Ausgleich zwischen der Achtung der EGMR-Entscheidungen und der Bewahrung der rechtsordnungsinternen Entscheidungsautonomie eine verfassungsrechtliche Berücksichtigungs-

 BVerfGE 111, 307 (320) – Görgülü (2004). Nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichten sich die Hohen Vertragsparteien, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. 33  BVerfGE 111, 307 (321 f.) – Görgülü (2004). 34  Genauer verweist das Gericht zur Begründung auf den Rechtsanwendungsbefehl des deutschen Zustimmungsgesetzes zur EMRK, die Bindung des Richters an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), einschließlich des Zustimmungsgesetzes, den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, dabei insbesondere auch der „besondere[] Schutz“, den „Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten“ zuweist, sowie die Art. 13 und 52 EMRK, die die Vertragsstaaten verpflichten, „eine innerstaatliche Instanz zu schaffen, bei der die betroffene Person eine ‚wirksame Beschwerde‘ gegen ein bestimmtes staatliches Handeln einlegen kann (Art. 13 EMRK)“ und „die ‚wirksame Anwendung aller Bestimmungen‘ der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrem innerstaatlichen Recht zu gewährleisten“. BVerfGE 111, 307 (322) – Görgülü (2004). 35  BVerfGE 111, 307 (319 f.) – Görgülü (2004). 32

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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pflicht, nach der weder eine „fehlende Auseinandersetzung“, noch eine „schematische ‚Vollstreckung‘“ der Urteile des EGMR mit dem Grundgesetz vereinbar ist.36 „Berücksichtigen“ bedeutet nach der Auslegung des BVerfG, dass deutsche Gerichte die Auslegung des EGMR grundsätzlich „zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden“ haben.37 Die Auslegung des Gerichtshofs muss „in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, das Gericht muss sich zumindest gebührend mit ihr auseinander setzen“.38 Das BVerfG verlangt von deutschen Fachgerichten, „sich in einer nachvollziehbaren Form damit auseinander [zu] setzen“, wie nationale Grundrechte „in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise […] ausgelegt werden können“.39 „Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet“ seien, treffe „deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“.40 Für den Fall der Abweichung von einem Urteilsausspruch des EGMR statuiert das BVerfG eine Rechtfertigungspflicht: Gerichte müssen sich „erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen“.41 Auf der anderen Seite begründet die Berücksichtigungspflicht nach der Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts eben keine strenge Befolgungspflicht. Eine Abweichung ist insbesondere geboten, wenn die Anwendung der EMRK in der Auslegungsvariante des EGMR „gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht verstößt“ oder soweit sich die Entscheidungen des EGMR nicht mehr „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ bewegen.42 Umgekehrt gilt die Berücksichtigungspflicht für deutsche Gerichte nur, soweit dem nationalen Recht „im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind“.43 In jedem Fall werden sie vom BVerfG angehalten, „die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwendung einzubeziehen“, insbesondere dann, wenn es sich bei dem einschlägigen nationalen Recht um ein „ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will“.44 In diesem Zusammenhang weist das BVerfG auf einen prozeduralen  BVerfGE 111, 307 (323 f.) – Görgülü (2004). Freilich lässt sich mit den verschiedenen, vom Bundesverfassungsgericht vorgetragenen Topoi eine Bindung an die Urteile des EGMR ebenso wie die innerstaatliche Irrelevanz der Urteile des EGMR dogmatisch begründen. Für eine Bindungswirkung: Jörg Polakiewicz, Die Verpflichtung der Staaten aus Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993. 37  BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü (2004). 38  BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü (2004). 39  BVerfGE 111, 307 (330) – Görgülü (2004). 40  BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü (2004). 41  BVerfGE 111, 307 (324) – Görgülü (2004). 42  BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü (2004). 43  BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü (2004). 44  BVerfGE 111, 307 (327) – Görgülü (2004). 36

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Mangel hin, den es in dem Verfahren vor dem EGMR in Fällen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse erblickt: Dieses bilde „die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig ab[…]“,45 weil einer der beteiligten Grundrechtsträger vor dem EGMR möglicherweise „gar nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte“.46 Für die Rechte und Pflichten als Prozesspartei aber gäbe es „kein institutionelles Äquivalent“.47 Es besteht nach Auffassung des BVerfG die Gefahr, dass die „sensible[n] Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen […] bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits […] im Ergebnis anders ausfallen […] “.48 b. Das Sicherungsverwahrungs-Urteil vom 04.05.2011 In seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung bekräftigt und präzisiert das Bundesverfassungsgericht die Pflicht deutscher Gerichte, die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen und weitet diese über den konkreten Streitgegenstand hinaus auch auf Fälle aus, in denen die Bundesrepublik Deutschland nicht Verfahrenspartei ist.49 In dem Urteil wird nicht nur die Berücksichtigungspflicht erheblich ausgeweitet, sondern die rechtlichen Konsequenzen der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR in dem konkreten Fall sind bemerkenswert: Weite Teile der gesetzlichen Regelung der Sicherungsverwahrung werden für verfassungswidrig erklärt.50 Dem Regime der Sicherungsverwahrung liegt eine überaus diffizile Abwägung zugrunde: Einerseits geht es um den Schutz der Allgemeinheit vor „gefährlichen“ Personen, andererseits handelt es sich um einen überaus schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, wenn diesen Personen die Freiheit entzogen wird für eine Straftat, die sie bereits verbüßt oder über BVerfGE 111, 307 (328) – Görgülü (2004).  BVerfGE 111, 307 (324) – Görgülü (2004). 47  BVerfGE 111, 307 (328) – Görgülü (2004). 48  BVerfGE 111, 307 (324) – Görgülü (2004). Diese Ausführungen sind als kritische Reaktion auf die EGMR-Entscheidung im Fall Caroline von Monaco zu sehen, in der der Gerichtshof das Verhältnis zwischen der Pressefreiheit und dem Persönlichkeitsschutz anders als das Bundesverfassungsgericht balancierte. Vgl. EGMR, Urt. v. 24.06.2004, Nr. 59320/00 – Caroline von Hannover v. Deutschland, dt. Übers. in: EuGRZ 2004, 404 ff. Kritisch Martin Scheyli, Konstitutioneller Anspruch des EGMR und Umgang mit nationalen Argumenten. Kommentar zum Urteil des EGMR vom 24. Juni 2004 im Fall Caroline von Hannover vs. Deutschland, EuGRZ 2004, 628 ff. 49  BVerfGE 128, 326 – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). Das Görgülü-Urteil betrifft vorwiegend die innerstaatlichen Wirkungen eines EGMR-Urteils für den konkreten Streitgegenstand. Eine darüber hinausreichende Berücksichtigungspflicht wird nur vorsichtig angedeutet, wenn das Bundesverfassungsgericht darauf hinweist, dass „[d]ie Entscheidungen des Gerichtshofs in Verfahren gegen andere Vertragsparteien […] den nicht beteiligten Staaten lediglich Anlass [geben], ihre nationale Rechtsordnung zu überprüfen und sich bei einer möglicherweise erforderlichen Änderung an der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu orientieren“. BVerfGE 111, 307 (320) – Görgülü (2004). Herv. Verf. 50  BVerfGE 128, 326 (329 ff.) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 45 46

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haupt noch nicht begangen haben. Der EGMR wertete zunächst die verlängerte Sicherungsverwahrung,51 anschließend die nachträgliche Sicherungsverwahrung52 als Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK und des nulla poena sine lege-Grundsatzes aus Art. 7 Abs. 1 EMRK und beanstandete in diesem Zusammenhang sogar die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Diese Urteile des EGMR veranlassten das BVerfG in der Sicherungsverwahrungs-­ Entscheidung dazu, seine das deutsche Sicherungsverwahrungsregime weitgehend billigende Rechtsprechung aufzugeben und sich inhaltlich der Bewertung des EGMR anzuschließen. Das Gericht erklärt, dass „Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, […] zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen können“.53 Selbst wenn die Entscheidungen des EGMR „nicht denselben Streitgegenstand“ beträfen, käme diesen eine „faktische[] Orientierungs- und Leitfunktion […] über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus“ zu.54 Im Sicherungsverwahrungs-Urteil arbeitet das BVerfG die auf dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes beruhende verfassungsrechtliche Herleitung der Berücksichtigungspflicht präziser heraus und verdeutlicht zudem, wie die Berücksichtigungspflicht von den deutschen Gerichten umgesetzt werden soll. Das Gericht begründet die Berücksichtigungspflicht zum einen mit dem Anliegen, „den Garantien der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen“.55 Zum anderen soll diese „Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland vermeiden helfen“.56 Denn wenn, wie das Gericht feststellt, Entscheidungen internationaler Gerichte eine „zumindest faktische[] Präzedenzwirkung zukommt, dann müssen deutsche Gerichte diese ­Entscheidungen berücksichtigen“, um, ganz im Sinne des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit, „Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit [zu] vermeiden“.57 Auch inhaltlich präzisiert das Bundesverfassungsgericht, was es mit „Berücksichtigung“ meint: Die „menschenrechtlichen Gehalte“ des völkerrechtlichen Vertrages müssten „im Rahmen eines aktiven (Rezeptions-)Vorgangs in den Kontext der aufnehmenden Verfassungsordnung ‚umgedacht‘ werden“.58 Aufgabe der deutschen Fachgerichte sei es, diese „möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen“.59 Dabei bringt das Ge EGMR, Urt. v. 17.12. 2009, Nr. 19359/04 – M. v. Deutschland.  EGMR, Urt. v. 13.01.2011, Nr. 6587/04 – Haidn v. Deutschland. 53  BVerfGE 128, 326 (326, Ls. 1) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 54  BVerfGE 128, 326 (368) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 55  BVerfGE 128, 326 (369) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 56  BVerfGE 128, 326 (369) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 57  BVerfGE 128, 326 (368 f.) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 58  BVerfGE 128, 326 (370) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 59  BVerfGE 128, 326 (371) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 51 52

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richt auch zum Ausdruck, warum es eine reflektierte Berücksichtigung einer schematischen Bindung vorzieht: Eine „unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe“ verbiete sich,60 eine „schematische Parallelisierung“ völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Begriffe sei unerwünscht.61 Darüber hinaus betont das Gericht die „Grenzen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung“, die „nicht dazu führen [dürfte], dass der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt wird“.62 Insbesondere erblickt das Gericht, wie es schon im Görgülü-Urteil ausgeführt hatte, ein potenzielles „Rezeptionshemmnis […] vor allem in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen“.63 c. Das Beamtenstreik-Urteil vom 12.06.2018 In seinem Urteil64 zur Vereinbarkeit des Streikverbots für Beamte mit der Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG und aus Art. 11 Abs. 1 EMRK berief sich das BVerfG – anders als im Sicherungsverwahrungs-Urteil – nicht auf den EGMR, um die Feststellung der Grundgesetzwidrigkeit einer gesetzlichen Regelung zusätzlich abzusichern, sondern es stellte stattdessen die Kontextabhängigkeiten und Wertungen der EGMR-Rechtsprechung dar, um zu begründen, dass das deutsche Streikverbot nicht im Widerspruch zur EMRK steht und damit aufrecht erhalten werden kann. In dem Verfahren hatten sich beamtete Lehrerinnen und Lehrer unter Verweis auf die EGMR-Rechtsprechung gegen Disziplinierungsmaßnahmen wegen Streikmaßnahmen während ihrer Dienstzeit gewehrt. Der EGMR hatte die Türkei wiederholt wegen Verstoßes gegen Art. 11 Abs. 1 EMRK verurteilt, weil die Türkei pauschal und ohne Abwägung Angehörigen der Staatsverwaltung die Gründung einer Gewerkschaft65 sowie Beamten die Durchführung von Streiks66 untersagt hatte. Wie im Sicherungsverwahrungs-Urteil ging es im Beamtenstreik-Urteil folglich um die Wirkungen der EGMR-Rechtsprechung jenseits der konventionsrechtlichen Befolgungspflicht für staatliche Verfahrensparteien aus Art. 46 EMRK. Das BVerfG rekapituliert zunächst seine frühere Rechtsprechung aus den Rs. Görgülü und Sicherungsverwahrung, indem es den Entscheidungen des EGMR einerseits eine „faktische[] Orientierungs- und Leitfunktion“ zur Vermeidung von „Konflikte[n] zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht“ zuspricht,67 andererseits aber vor einer  BVerfGE 128, 326 (371) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011).  BVerfGE 128, 326 (370) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 62  BVerfGE 128, 326 (371) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 63  BVerfGE 128, 326 (371) – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). 64  BVerfGE 148, 296 – Beamtenstreik (2018). 65  EGMR, Urt. v. 12.11.2008, Nr. 34503/97 – Demir und Baykara v. Türkei. 66  EGMR, Urt. v. 21.4.2009, Nr. 68 959/01 – Enerji Yapi-Yol Sen v. Türkei. 67  BVerfGE 148, 296 (Rn. 130) – Beamtenstreik (2018). 60 61

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„schematische[n] ‚Vollstreckung‘“68 warnt und von den Fachgerichten verlangt, „die Rechtsprechung des EGMR möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen“.69 Einen neuen Akzent setzt das Gericht durch die Einführung der dogmatischen Figur der Kontextualisierung.70 Danach sind bei der Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung zur Vermeidung „einer undifferenzierten Übertragung“ stets der „konkrete Sachverhalt des entschiedenen Falles“, „sein (rechtskultureller) Hintergrund“ sowie „mögliche spezifische Besonderheiten der deutschen Rechtsordnung“ zu beachten.71 Damit schafft das Gericht ein weiteres Rechtfertigungsinstrument, welches einerseits zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des EGMR zwingt, andererseits aber eine wohl begründete Abweichung von dessen Rechtsprechung ermöglicht. Darüber hinaus mahnt das Gericht an, dass „[e]in Konflikt mit Grundwertungen der Konvention […] nach Möglichkeit zu vermeiden“72 sei – und wirft damit die Frage auf, ob Konflikte unterhalb der Schwelle einer „Grundwertung“ ohne weiteres in Kauf genommen werden.73 Zuletzt beansprucht das BVerfG „das ‚letzte Wort‘ der deutschen Verfassung“ als „normative Grundlage“ eines „internationalen und europäischen Dialog der Gerichte“74 und setzt der Berücksichtigung des ­Rechtsprechung des EGMR eine Grenze, wo anderenfalls „ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung“ erfolgen würde.75 Auf der Grundlage dieser flexiblen Maßstäbe kommt das Gericht zu dem Schluss, dass „sich eine Konventionswidrigkeit der gegenwärtigen Rechtslage in Deutschland und damit eine Kollision zwischen nationalem Recht und EMRK nicht feststellen“ lassen.76 Während die Türkei das Streikverbot allein mit „Verweis auf die privilegierte Position von Beamten“77 begründet habe, sei das beamtenrechtliche Streikverbot in Deutschland eng mit der „Treuepflicht des Beamten“, dem „Lebenszeitprinzip“ und dem „Alimentationsprinzip“ verbunden und die „Zuerkennung eines Streikrechts für Beamte würde das System des deutschen Beamtenrechts im Grundsatz verändern und damit in Frage stellen“.78 Einerseits legt das BVerfG überzeugend den spezifischen Kontext der deutschen Rechtsordnung dar und entwickelt  BVerfGE 148, 296 (Rn. 190) – Beamtenstreik (2018).  BVerfGE 148, 296 (Rn. 135) – Beamtenstreik (2018). 70  Matthias Jacobs/Mehrdad Payandeh, Das beamtenrechtliche Streikverbot: Konventionsrechtliche Immunisierung durch verfassungsgerichtliche Petrifizierung, JZ 2019, S. 19 (22). 71  BVerfGE 148, 296 (Rn. 132) – Beamtenstreik (2018). 72  BVerfGE 148, 296 (Rn. 132) – Beamtenstreik (2018). 73  So auch Laura Hering, Beamtenstreik zwischen Karlsruhe und Straßburg: Art. 11 EMRK und die konventionskonforme Auslegung durch das BVerfG, ZaöRV 79 (2019), 241 (261 f.). 74  BVerfGE 148, 296 (Rn. 129) – Beamtenstreik (2018). 75  BVerfGE 148, 296 (Rn. 133) – Beamtenstreik (2018). 76  BVerfGE 148, 296 (Rn. 172) – Beamtenstreik (2018). 77  BVerfGE 148, 296 (Rn. 165) – Beamtenstreik (2018). 78  BVerfGE 148, 296 (Rn. 181) – Beamtenstreik (2018). 68 69

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plausible Gründe dafür, die Vereinbarkeit der Rechtslage in Deutschland mit der EMRK anders zu beurteilen als die Rechtslage in der Türkei, andererseits vermeidet es eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Standpunkt des EGMR, der im Gegensatz zu einem ausschließlich statusbezogenen Streikverbot für alle Beamte einen differenzierenden Ansatz zu bevorzugen scheint, der nach der Bedeutung der Ausübung hoheitlicher Befugnisse unterscheidet.79 Stattdessen spricht das Gericht durch die Andeutung, dass – auch wenn (noch) nicht klärungsbedürftig – „viel“ für eine Einordnung des Streikverbots als konventionsfester tragender Grundsatz der Verfassung „sprechen dürfte“,80 eine implizite Drohung an den EGMR aus: Sollte dieser das deutsche Streikverbot als konventionswidrig werten, könnte es zu einem offenen Rechtsprechungskonflikt zwischen dem EGMR und dem BVerfG kommen.81 Statt nach einem Kompromiss mit dem Standpunkt des EGMR zu suchen, markiert das BVerfG eine verfassungsrechtliche Grenze. Es verdeutlicht damit auch die Kooperationsgrenzen einer Berücksichtigungspflicht.

II. Inkorporation der Entscheidungen des IGH Die Frage einer Pflicht nationaler Gerichte zur innerstaatlichen Berücksichtigung inter- bzw. supranationaler Urteile wird auch im Zusammenhang mit dem IGH diskutiert. Wie im Fall der EMRK ergibt sich eine solche Pflicht aus völkerrechtlicher Perspektive für den IGH nicht eindeutig aus der UN-Charta. Nach Art. 92 S. 1 UN-­ Charta ist der Internationale Gerichtshof das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Nach Art. 94 Abs. 1 UN-Charta verpflichtet sich jedes Mitglied der Vereinten Nationen, bei jeder Streitigkeit, in der es Partei ist, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zu befolgen. Was daraus innerstaatlich folgen soll, bleibt aber offen. Im Folgenden sollen fünf Rechtsprechungsansätze aus verschiedenen Zusammenhängen zur Bedeutung von IGH-Entscheidungen im rechtsordnungseigenen Bereich diskutiert werden: Die Urteile des U.S.  Supreme Court in Sanchez-Llamas und in Medellín (1.), ein Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2006 (2.), das Urteil Nr. 238 der italienischen Corte Costituzionale zum Verhältnis zwischen völkerrechtlicher Staatenimmunität und nationalen Grundrechten (3.), das Urteil des israelischen Supreme Courts in Alfei Menashe (4.) und die Rechtsprechung der Berufungskammer des ICTY (5.).

 Matthias Jacobs/Mehrdad Payandeh, Das beamtenrechtliche Streikverbot: Konventionsrechtliche Immunisierung durch verfassungsgerichtliche Petrifizierung, JZ 2019, S. 19 (24). 80  BVerfGE 148, 296 (Rn. 172) – Beamtenstreik (2018). 81  Mit dieser Lesart auch Matthias Jacobs/Mehrdad Payandeh, Das beamtenrechtliche Streikverbot: Konventionsrechtliche Immunisierung durch verfassungsgerichtliche Petrifizierung, JZ 2019, S. 19 (26). 79

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1 . Die Urteile des U.S. Supreme Court in Sanchez-Llamas vom 28.06.2006 und in Medellín vom 25.03.2008 Den Hintergrund für die Diskussion um die innerstaatliche Berücksichtigung der Urteile des IGH in den USA bilden das politisierte Rechtssystem und das drakonische Strafzumessungsregime, die in der Kombination gewichtige Anreize für verurteilte Straftäter zur Ausschöpfung aller rechtlichen Einwendungen setzen, einschließlich der Berufung auf das internationale Recht und die Rechtsprechung des IGH. Den beiden zentralen Urteilen des U.S. Supreme Court zu der Frage der gerichtlichen Berücksichtigungspflicht, Sanchez-Llamas v. Oregon82 und Medellín v. Texas,83 liegen Verurteilungen mexikanischer Staatsangehöriger zu hoher Haftstrafe bzw. zur Todesstrafe zugrunde. In beiden Fällen stellten die Kläger nach ihrer rechtskräftigen Verurteilung einen habeas corpus-Antrag mit der Begründung, dass sie nicht über ihr Recht aus Art. 36 Abs. 1 WÜK informiert wurden, sich im Fall einer Verhaftung an die konsularische Vertretung ihres Heimatstaats zu wenden. In Reaktion auf die – von US-Gerichten geduldete – hartnäckige Weigerung der Strafverfolgungsbehörden in einigen US-Bundesstaaten, verhaftete Personen über das Recht auf konsularische Unterstützung nach Art. 36 Abs. 1 WÜK zu belehren, entwickelte der IGH in gegen die USA als Partei gerichteten Verfahren eine für seine Verhältnis kühne Rechtsprechung: In LaGrand transformierte der Gerichtshof Art. 36 Abs. 1 WÜK zu einem unmittelbar vom nationalen Richter anwendbares subjektives Recht des Einzelnen,84 in Avena befand er nicht nur die Anwendung der US-amerikanischen procedural default rule für unvereinbar mit Art.  36 Abs.  2 WÜK, sondern statuierte darüber hinaus die völkerrechtliche Verpflichtung, den betroffenen Personen die Möglichkeit einer Nachprüfung vor US-amerikanischen Gerichten einzuräumen.85 Inwieweit sind US-amerikanische Gerichte aus der Perspektive des innerstaatlichen Rechts verpflichtet, diese IGH-Urteile zu berücksichtigen? In Sanchez-Llamas entschied ein gespaltener U.S. Supreme Court mit einer Mehrheit von 5 zu 4 Richtern, dass das Konsularrechtsübereinkommen einer Anwendung der procedural default rule nicht entgegenstehe, da Art. 36 WÜK den Vertragsstaaten für den innerstaatlichen Bereich keine Vorgaben mache.86 Daran ändern nach Auffassung des Gerichtshofs auch die Entscheidungen des IGH nichts: Diese entfalteten eine Bindungswirkung nur im völkerrechtlichen Bereich gegenüber den am Verfahren beteiligten Staaten, im innerstaatlichen Bereich verdienten sie aber nur „respectful

 US Supreme Court, Urt. v. 28.06.2006 – Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S. Ct. 2669 (2006).  US Supreme Court, Urt. v. 25.03.2008 – Medellín v. Texas, 128 S. Ct. 1346 (2008). 84  IGH, Urt. v. 27.06.2001 – Germany v. United States of America, ICJ-Rep. 2001, 464, Rn. 77. 85  IGH, Urt. v. 31.03.2004 – Case concerning Avena and other Mexican Nationals, ICJ Reports 2004, 12, Rn. 121. 86  US Supreme Court, Urt. v. 28.06.2006 – Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S. Ct. 2669 (2006). 82 83

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consideration“.87 Dass „respectful consideration“ keine große Bedeutung für die Entscheidungsfindung des Supreme Courts hat, zeigen die nachfolgenden Ausführungen: Die rechtsprechende Gewalt der Vereinigten Staaten sei in einem Supreme Court und in den unterinstanzlichen Gerichten konzentriert. Dazu zählt nach Überzeugung des Gerichtshofs die Befugnis festzustellen, was geltendes Recht ist und damit auch den Bedeutungsgehalt völkerrechtliche Bestimmungen im innerstaatlichen Bereich festzulegen. Anschließend wird die Interpretation des IGH zu Art. 36 Abs. 2 WÜK kurz als unzutreffend zurückgewiesen.88 Der Sachverhalt in Medellin unterscheidet sich von Sanchez-Llamas dadurch, dass Herr Medellín zu den 51 mexikanischen Staatsangehörigen zählte, die Mexiko in dem Avena-Verfahren gegen die USA vor dem IGH genannt hatte.89 Jedenfalls aus völkerrechtlicher Perspektive waren die USA damit als unterlegene Streitpartei in dem konkreten Streitfall an die Entscheidung des IGH gebunden. Nach Auffassung des U.S. Supreme Court hatte dieser Umstand jedoch keine Auswirkungen auf die Bindung US-amerikanischer Gerichte an die Entscheidung des IGH im innerstaatlichen Bereich. Der Gerichtshof beruft sich im Wesentlichen auf die dualistische Trennung zwischen der Völkerrechtsordnung und der nationalen Rechtsordnung und die mangelnde Befugnis der Judikative, das Verhältnis dieser beiden Rechtsordnungen zueinander mitzugestalten. Zum einen wird nach Überzeugung des Supreme Courts eine innerstaatliche Bindung oder Berücksichtigungspflicht aus völkerrechtlicher Perspektive nicht gefordert. Insbesondere ergebe sich dies nicht aus dem Wortlaut in Art. 94 Abs. 1 UN-Charta. Danach verpflichtet sich jedes Mitglied der Vereinten Nationen,90 bei jeder Streitigkeit, in der es Partei ist, die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zu befolgen. Nach Auffassung des Supreme Court ist diese Bestimmung nicht self-executing und begründet nur eine völkerrechtliche Verpflichtung der politischen Gewalten. Sie ist nicht darauf ausgerichtet, Berücksichtigungspflichten nationaler Gerichte zu begründen.91 Nur weil eine Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte aus völkerrechtlicher Per­ spektive nicht geboten ist, folgt daraus aber noch nicht, dass eine Berücksichtigungspflicht nicht aus dem nationalen Recht  – wie durch das Bundesverfas­ sungsgericht im Kontext der EMRK auf Grundlage des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes  – hergeleitet werden kann. Dem steht – zum anderen – nach Meinung des Supreme Courts jedoch der Grundsatz der Gewaltenteilung entgegen. Der Logik der political question-Doktrin folgend, sieht  Ebd., 2685.  Ebd., 2687 f. Kritisch Justice Breyer in seinem dissenting opinion. Siehe US Supreme Court, Urt. v. 28.06.2006 – Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S. Ct. 2669, 2690 ff. (2006) (Breyer, J., dissenting opinion). Kritisch auch Steven Koh, „Respectful Consideration“ After Sanchez-Llamas v. Oregon: Why the Supreme Court Owes More to the International Court of Justice, Cornell L.  Rev. 93 (2007), 243 ff. 89  US Supreme Court, Urt. v. 25.03.2008 – Medellín v. Texas, 128 S. Ct. 1346 (2008). 90  Im Englischen heißt es „undertakes to comply“. 91  US Supreme Court, Urt. v. 25.03.2008 – Medellín v. Texas, 128 S. Ct. 1346, 1358 (2008). 87 88

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der Gerichtshof die Außenpolitik als Domäne der politischen Gewalten. Selbst eine Verurteilung durch den IGH ist danach eine Angelegenheit der Diplomatie und nicht der nationalen Gerichte. Eine Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte könne sich nur aus einem Legislativakts des Kongresses ergeben, in dem er den self-executing Charakter einer völkerrechtlichen Vertragsbestimmung eindeutig zum Ausdruck bringe. 92 2. Der IGH-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.09.2006 In einer bemerkenswerten Kammerentscheidung vom 19.09.2006 hat das Bundesverfassungsgericht die im Kontext der sich konstitutionalisierenden EMRK entwickelte Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte auf die Urteile des IGH im Bereich des Konsularrechts ausgeweitet.93 Den Hintergrund bildet die kühne Rechtsprechung des IGH zum Recht auf konsularische Unterstützung nach Art. 36 Abs. 1 WÜK, die dieser schrittweise in mehreren Verfahren gegen die USA entwickelte, von denen eines, das LaGrand-Verfahren, von der Bundesrepublik Deutschland initiiert worden war.94 Alle diese Verfahren führten zu Verurteilung der USA – ohne dass daraus eine Veränderung der Belehrungspraxis im innerstaatlichen Bereich der USA resultierte. Vor diesem Hintergrund wollte das Bundesverfassungsgericht erkennbar ein Gegenzeichen setzen.95 In dem vor dem BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren hatte der BGH die Revisionen der Beschwerdeführer wegen unterlassener Belehrung ausländischer Beschuldigter über das Recht auf konsularische Unterstützung als unbegründet verworfen. Das BVerfG hob die Revisionsbeschlüsse des BGH mit der Begründung auf, dass sich dieser nicht hinreichend mit der Rechtsprechung des IGH auseinander gesetzt habe.96 Wie später im Sicherungsverwahrungs-Urteil begründet das BVerfG eine Pflicht zur Berücksichtigung der Urteile des IGH mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und dem daraus resultierenden Gebot, die „Durchsetzung des Völkerrechts“ zu gewährleisten und „das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts“ zu vermindern.97 Deutlicher noch als im Sicherungsverwahrungs-Urteil unterscheidet das BVerfG zwischen den inner-

 Ebd., 1360 ff.  BVerfGK 9, 174 – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). 94  IGH, Urt. v. 27.06.2001 – Germany v. United States of America, ICJ-Rep. 2001, 464. 95  Der Beschluss enthält lange Ausführungen zur Rechtsprechung des IGH mit deutlichem US-amerikanischem Bezug. Siehe BVerfGK 9, 174 (176 ff.) – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). Für eine zusammenhänge Betrachtung der Rechtsprechung des U.S.  Supreme Court und des BVerfG zum Wiener Konsularrechtsabkommen, siehe Karen Alter, National Perspectives on International Constitutional Review: Diverging Optics, in: Erin Delaney/Rosalind Dixon (Hrsg.), Comparative Judicial Review, 2018, 244 (252 ff.). 96  BVerfGK 9, 174 (193) – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). 97  BVerfGK 9, 174 (191) – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). 92 93

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staatlichen Wirkungen, die eine IGH-Entscheidung in einer konkreten Streitsache zeitigt einerseits und den Wirkungen, die aus einer Entscheidung folgen, in denen die Bundesrepublik Deutschland nicht Verfahrenspartei ist andererseits. Im ersten Fall ergibt sich für deutsche Gerichte uneingeschränkt eine Berücksichtigungspflicht, im zweiten spricht das Gericht von einer „Orientierungswirkung“98 und einer „normative[n] Leitfunktion“99 der Urteile des IGH. An letzterer hätten sich Gerichte schon deshalb zu orientieren, damit Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht erst gar nicht entstehen können.100 Diese Orientierungswirkung begründet das Gericht u. a. mit „der institutionellen Stellung des Internationalen Gerichtshofs“ als „Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen“.101 3 . Das Urteil der italienischen Corte Costituzionale vom 22.10.2014 zur Staatenimmunität Das im Schrifttum kontrovers diskutierte Urteil „Sentenza Nr.  238“ der italienischen Corte Costituzionale betrifft das Spannungsverhältnis zwischen völkerrechtlicher Staatenimmunität und grundrechtlich verbürgter Rechtschutzgarantie.102 Den Sachverhalt zu diesem Fall bildet das während der deutschen Besatzung Norditaliens am Ende des Zweiten Weltkriegs begangene nationalsozialistische Unrecht. Für ihre Deportation und Verpflichtung zur Zwangsarbeit forderten Herr Ferrini103 und zwei weitere italienische Staatsangehörige Schadensersatz von der Bundesrepublik Deutschland vor italienischen Gerichten. Nachdem die italienische Corte di cassazione, das oberste italienische Zivilgericht, die Immunität Deutschlands wegen des Verstoßes gegen völkerrechtliches ius cogens-Recht abgelehnt hatte,104 italienische  BVerfGK 9, 174 (192) – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006).  BVerfGK 9, 174 (193) – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). 100  BVerfGK 9, 174 (193) – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). 101  BVerfGK 9, 174 (192) – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). 102  Siehe dazu Massimo Lando, Intimations of Unconstitutionality: The Supremacy of International Law and Judgment 238/2014 of the Italian Constitutional Court, Mod. L. Rev. 78 (2015), 1028 ff.; Fulvio Palombino, Compliance with International Judgments: Between Supremacy of International Law and National Fundamental Principles, ZaöRV 75 (2015), 503 (511 ff.); Anne Peters, Let Not Triepel Triumph – How To Make the Best Out of Sentenza No. 238 of the Italian Constitutional Court for a Global Legal Order, EJIL talk v. 22.12.2014; Felix Würkert, Historische Immunität? Anmerkung zu Sentenza Nr. 238 der Corte Costituzionale vom 22. Oktober 2014, AVR 53 (2015), 90 ff. Siehe auch die beiden dem Urteil gewidmeten Hefte des Italian Yearbook of International Law, Focus: Judgment No. 238/2014, Vol. 24, No. 1 (2014), 1 ff. und des Journal of International Criminal Justice, Symposium: The Italian Constitutional Court Judgment 238/2014: On State Immunity and Fundamental Principles of the Constitutional Order, Vol. 14, No. 3 (2016), 569 ff. 103  In der italienischen Verfassungsrechtswissenschaft firmiert Sentenza Nr. 238 als „Ferrini“-Saga. Vgl. Palombino, ebd., 512; Lando, ebd., 1029. 104  Siehe Corte di cassazione, Entsch. v. 11.02.2003, Nr. 5044/2004 – Ferrini. Dazu Andrea Bianchi, State Immunity and Human Rights – The Italian Supreme Court Decision on the Ferrini case, EJIL 16 (2005), 89 ff. 98 99

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Gerichte den Klägern Schadensersatz zugesprochen hatten und bereits auf deutsches Eigentum in Italien, genauer auf die Villa Vigoni am Comer See, ein Grundpfandrecht eingetragen worden war, klagte Deutschland vor dem IGH wegen Verletzung seiner Immunität. Der IGH gab der Klage statt.105 Zwar erkannte er an, dass Deutschland zwischen 1943 und 1945 auf italienischem Territorium Verstöße gegen zwingendes Völkerrecht begangen hatte.106 Nach seiner Auffassung hatte dies jedoch keine Auswirkungen auf die völkergewohnheitsrechtlich hergeleitete Staatenimmunität Deutschlands. Dies begründete der IGH im Wesentlichen mit einem empirischen und mit einem formalen Argument: Zum einen gäbe es in der Staatenpraxis keine hinreichenden Hinweise für eine Einschränkbarkeit des allgemeinen Grundsatzes der Staatenimmunität im Fall schwerer Völkerrechtsverstöße.107 Zum anderen fehle es schon an einer Normkollision zwischen dem Recht der Staatenimmunität und dem ius cogens-Recht, in dem letzteres Vorrang beanspruchen könne, weil beide unterschiedliche Zielrichtungen verfolgten.108 Insbesondere seien die Regeln über die Staatenimmunität „procedural in character“ und beschränkten sich auf die Frage, ob ein Staat seine Gerichtsbarkeit über einen anderen Staat ausüben dürfte.109 Die materiellrechtliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit eines bestimmten Verhaltens sei für die prozessuale Frage der Staatenimmunität unerheblich.110 Daher stellte der IGH wegen der Zulassung eines Gerichtsverfahrens gegen Deutschland sowie der Vornahme von Vollstreckungsmaßnahmen gegen die Villa Vigoni einen Verstoß Italiens gegen seine völkerrechtliche Verpflichtung zur Wahrung der Staatenimmunität Deutschlands fest.111 Während die Corte di cassazione daraufhin unter Verweis auf das IGH-Urteil ihre Rechtsauffassung über die (von ihr ursprünglich angenommene) Einschränkbarkeit der Staatenimmunität bei Verstößen gegen ius cogens revidierte,112 erblickte das Tribunale di Firenze in der Abweisung der Schadensersatzklagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als unzulässig eine Verletzung des in Art.  2 i.  V.  m. Art.  24 Cost. gewährleisteten Rechts auf einen Richter und befasste die  IGH, Urt. v. 03.02.2012 – Jurisdictional Immunities of the State, ICJ Reports 2012, 99. Zustimmend: Matthias Kloth/Manuel Brunner, Staatenimmunität im Zivilprozess bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen, AVR 50 (2012), 218 ff.; kritisch: Markus Krajewski/Christoph Singer, Should Judges be Front-Runners? The ICJ, State Immunity and the Protection of Fundamental Human Rights, Max Planck UNYB 16 (2012), 1 ff. 106  IGH, ebd., Rn. 52 und 92. 107  Ebd., Rn. 82. 108  Ebd., Rn. 93. 109  Ebd. 110  Ebd. 111  Ebd., Rn. 139. 112  Die Corte di cassazione begründete dies damit, dass „the doctrines put forward by the Court of Cassation in Judgment No. 5044/2004 have remained isolated and have not been upheld by the international community, of which the ICJ is the highest manifestation”. Siehe Corte di cassazione, Entsch. v. 09.08.2012, Nr.  32139/2012, 4284/2013, zitiert nach: Corte Costituzionale, Urt. v. 22.12.2014, Nr. 238/2014, inoffizielle englische Übersetzung, Conclusion in Point of Fact 1.2. 105

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Corte Costituzionale im Wege einer Vorlagefrage mit dieser Angelegenheit.113 Neben der – im Schrifttum vorrangig erörterten – Frage der Inkorporation von Völkergewohnheitsrecht in den italienischen Rechtsraum ging es dabei auch um die Frage der Bindung italienischer Gerichte an die Urteile des IGH.114 Im Grundsatz nimmt die Corte Costituzionale aufgrund von Art. 94 Abs. 1 UN-Charta – über den Umweg des italienischen Zustimmungsgesetzes zur UN-Charta  – grundsätzlich eine Bindung an IGH-Urteile an,115 lehnt aber im Ergebnis eine Bindung italienischer Gerichte an das konkrete Urteil des IGH im Jurisdictional Immunities-Fall ab. Die Annahme einer grundsätzlichen Bindung von nationalen Gerichten an IGH-Urteile geht über die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Berücksichtigungspflicht und erst recht über die vom U.S. Supreme Court statuierte Pflicht zu „respectful consideration“ hinaus. Ebenso wie diese beiden Gerichte konstruiert die Corte das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem Völkerrecht dualistisch. Die institutionelle Autorität des IGH zur Bestimmung der Reichweite des Grundsatzes der Staatenimmunität im Völkerrecht wird nicht infrage gestellt. Die Corte erkennt an, dass „auf der Ebene des Völkerrechts die Interpretation der Regel des Völkergewohnheitsrechts über die Staatenimmunität von der Zivilgerichtsbarkeit anderer Staaten in Bezug auf acta iure imperii durch den IGH eine besonders qualifizierte Interpretation darstellt, die keine Beurteilung seitens der nationalen Verwaltung und/oder Richter, diesen Gerichtshof eingeschlossen, zulässt“.116 Eine andere Frage sei aber die Frage nach der Vereinbarkeit der – in die nationale Rechtsordnung inkorporierten – völkerrechtlichen Norm mit den Prinzipien und Normen der italienischen Verfassung.117 Der Corte obliege „die Prüfung der Verfassungskompatibilität” und durch sie müsse „im konkreten Fall die Unantastbarkeit der  Vgl. Corte Costituzionale, ebd. Die Corte Costituzionale charakterisiert das Verhältnis zwischen Art. 2 und Art. 24 Cost. als „unlösbar verbunden“. Während Art. 2 Cost. allgemein „die Unantastbarkeit der Grundrechte“ statuiere, schütze Art. 24 Cost. das „Recht auf Zugang zu den Gerichten“ des Einzelnen, damit dieser sein „unantastbares Recht geltend machen“ könne. Corte Costituzionale, Urt. v. 22.12.2014, Nr. 238/2014, inoffizielle dt. Übers., Rechtserwägung 3.4. 114  Mit seinem im Wesentlichen zulässigen Vorlageersuchen fragte das Tribunale di Firenze nach der Vereinbarkeit von drei verschiedenen Normen mit der italienischen Verfassung, nämlich erstens der Norm, die durch die nach Art. 10 Abs. 1 Cost. erfolgte Umsetzung der völkergewohnheitsrechtlichen Regel über die Staatenimmunität von der Zivilgerichtsbarkeit anderer Staaten in die italienische Rechtsordnung eingeführt wurde, zweitens des Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Charta der Vereinten Nationen und drittens des Art. 1 des Gesetzes über den Beitritt Italiens zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit. Siehe Corte Costituzionale, Urt. v. 22.12.2014, Nr. 238/2014, inoffizielle dt. Übers., Rechtserwägung 1. Während die erste Norm die Frage der Inkorporation von Völkergewohnheitsrecht in den italienischen Rechtsraum berührt, betrifft die zweite Norm die Frage der Bindung italienischer Richter an die Urteile des IGH. 115  Nach dem Urteil Nr.  238 der Corte Costituzionale „binden“ Entscheidungen des IGH jeden UN-Mitgliedstaat „in jedem Rechtsstreit […], an dem er teilhat“ und diese „Bindung“, die durch das italienische Zustimmungsgesetz zur UN-Charta „in der „internen Rechtsordnung ihre Effekte“ entfalte, stelle „einen Fall der Souveränitätsbeschränkung“ dar. Corte Costituzionale, Urt. v. 22.12.2014, Nr. 238/2014, inoffizielle dt. Übers., Rechtserwägung 4.1. 116  Ebd., Rechtserwägung 3.1. 117  Ebd. 113

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Verfassungsprinzipien der internen Rechtsordnung garantiert bzw. deren Opferung auf ein Mindestmaß reduziert werden“.118 Das zu diesen grundlegenden Prinzipien das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gem. Art. 2 i.V.m. Art. 24 Cost. zählt, daran lässt die Corte keine Zweifel: „[D]as Recht auf einen Richter und effektiven gerichtlichen Schutz unantastbarer Rechte [gehört] sicherlich in jedem demokratischen System unserer Epoche zu den bedeutenden Prinzipien der juristischen Kultur […].“119 Die grundsätzliche Bindung italienischer Gerichte an die Urteile des IGH findet ihre Grenzen in den „höchsten Prinzipien der Verfassungsordnung“.120 Rechtsdogmatisch erinnert die Konstruktion der Corte Costituzionale an die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz einerseits und der – hinter dem Zustimmungsgesetz zur UN-Charta stehenden – verfassungsrechtlichen Integrationsklausel des Art. 11 Cost. andererseits. Den Ausschlag gegen eine Befolgung des IGH-Urteils in Jurisdictional Immunities gibt der Umstand, dass anderenfalls die Belange des Rechtsschutzgehörs leergelaufen wären, obwohl im Gegenzug die Schutzbedürftigkeit der hoheitlichen Maßnahmen Deutschlands wegen der begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wenn nicht zweifelhaft, dann zumindest verringert war.121 In diesem Zusammenhang erfolgt auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Urteil des IGH.  Die Corte bezweifelt, dass die deutschen Kriegsverbrechen als ein vom Grundsatz der Staatenimmunität umfasster acta iure imperii zu qualifizieren ­seien.122 Im Gegenzug kritisiert sie den IGH für die „Versperrung der gerichtlichen Überprüfung für den Grundrechtschutz der Opfer“, die trotz schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf die vage Hoffnung auf „die Wiedereröffnung von [zwischenstaatlichen] Verhandlungen“ in diplomatischen Foren verwiesen würden.123 Zur Selbstvergewisserung der Akzeptabilität ihres Widerstandes gegen den IGH beruft sich die Corte auf die Kadi-Rechtsprechung des EuGH,124 indem sie herausstreicht, dass dieser „in Ermangelung eines angemessenen Kontrollmechanismus für den Respekt der Grundrechte im System der Vereinten Nationen“ eine „Gemeinschaftsverordnung […] wegen Verletzung des Prinzips des effektiven Rechtsschutzes“ für nichtig erklärt habe.125 In diesem Zusammenhang kontrastiert die Corte die italienische Verfassungsordnung als einen „institutionellen Kontext, der sich durch

 Ebd.  Ebd., Rechtserwägung 3.4. 120  Ebd., Rechtserwägung 4.1. 121  Ebd., Rechtserwägung 3.4. 122  Ebd. 123  Ebd. Die Corte bezeichnet „die Opferung der beiden höchsten in der Verfassung angelegten Prinzipien“ zudem als „völlig unverhältnismäßig“. Ebd. 124  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P  – Kadi v. Rat und Kommission, ECLI:EU:C:2008:461. Dazu näher unten Dritter Teil, Kap. 16, A., II. und Kap. 18, A., I., 4. 125  Corte Costituzionale, Urt. v. 22.12.2014, Nr.  238/2014, inoffizielle dt. Übers., Rechtserwägung 3.4. 118 119

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die zentrale Rolle der Menschenrechte auszeichnet“126 einerseits und die vom IGH für den völkerrechtlichen Bereich ausdrücklich anerkannte „fehlende[] Möglichkeit eines effektiven, richterlichen Schutzes der Grundrechte“127 andererseits. Ihr kritisches Urteil betrachtet die Corte ausdrücklich als Beitrag „zu einer erstrebenswerten und von mehreren Subjekten erwünschten Entwicklung des Völkerrechts selbst“.128 Keine Erwähnung finden indes die beachtlichen Belange, die hinter dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität stehen, wie die Stabilität des internationalen Staatensystems und die Vorzüge diplomatischer Verhandlungen zur Regelung von Fragen des Schadenersatzes.129 Zur Unterstreichung ihrer Völkerrechtsfreundlichkeit trotz Nichtbefolgung eines IGH-Urteils beschränkt die Corte den Entscheidungsausspruch strikt auf das eine IGH-Urteil in der Rechtssache Jurisdictional Immunities; weder die fortwährende Geltung des Zustimmungsgesetzes zur UN-Charta noch die Pflicht zur Einhaltung künftiger IGH-Urteile sei davon betroffen.130 4. Das Alfei Menashe-Urteil des Supreme Court of Israel vom 15.09.2005 Der israelische Supreme Court beschäftigte sich im Zusammenhang mit dem international kritisierten israelischen Mauerbau in den besetzten Palästinensergebieten mit den innerstaatlichen Wirkungen des IGH-Gutachtens vom 9. Juli 2004 über „Rechtliche Konsequenzen des Baus einer Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten “.131 Die Alfei Menashe-Entscheidung des Supreme Courts von 2005 ist ein eindrucksvolles Beispiel für die schwierige verfassungsgerichtliche Navigation zwischen sicherheitspolitischen Imperativen, humanitären Belangen und der Kritik internationaler Institutionen.132 Den Ausgangspunkt des Urteils bildet die in Reaktion auf die zweite Intifada getroffene politische Entscheidung, entlang der sogenannten Grünen Linie zwischen dem israelischen Staatsgebiet und dem besetzten Westjordanland einen Sicherheitszaun zu errichten. Während Israel den Bau der Mauer mit dem Schutz der israelischen Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen begründete, wurde an dem Vorhaben von Seiten der Palästinenser und von Teilen der internationalen Staatengemeinschaft kritisiert, dass erstens die Mauer nicht exakt auf der Grünen Linie verläuft, sondern teilweise auf dem Gebiet der Westbank  Ebd.  Ebd., 3.5. 128  Ebd., 3.3. 129  Kritisch Felix Würkert, Historische Immunität? Anmerkung zu Sentenza Nr. 238 der Corte Costituzionale vom 22. Oktober 2014, AVR 53 (2015), 90 (112 ff.). 130  Corte Costituzionale, Urt. v. 22.12.2014, Nr.  238/2014, inoffizielle dt. Übers., Rechtserwägung 4.1. 131  IGH, Gut. v. 09.07.2004 – Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, ICJ Rep. 2004, 136 ff. 132  Supreme Court of Israel, Urt. v. 15.09.2005, HCJ 7957/04 – Mara’abe v. The Prime Minister of Israel, 60 (2) P.D. 477 (2005). 126 127

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und damit eine faktische Annexion darstellt, zweitens durch die Mauer teilweise palästinensische Enklaven geschaffen werden, die nicht nur vom Rest des Westjordanlandes abgeschnitten werden, sondern für die auch der Zugang zu medizinischen Leistungen erschwert wird. In seinem Grundlagenurteil in Beit Sourit hatte der israelische Supreme Court die Grundlagen seiner rechtlichen Bewertung des Mauerbaus abgesteckt.133 Zehn Tage nach der Beit Sourik-Entscheidung verkündete der IGH sein auf Vorlage der UN-Generalversammlung gemäß Art. 96 Abs. 1 UN-Charta erstattetes Gutachten nach Art. 65 IGH-Statut, in dem er den Mauerbau als Ganzes einer völkerrechtlichen Prüfung unterzog und zu dem Ergebnis kam, dass die Errichtung der Mauer gegen das Völkerrecht verstößt.134 In seiner etwa ein Jahr später ergangenen Alfei Menashe-Entscheidung setzt sich der israelische Supreme Court eingehend mit dem IGH-Gutachten auseinander. Im Hinblick auf den rechtlichen Status des Gutachtens stellt der Supreme Court einerseits fest, dass das Gutachten – auch nach Ansicht des IGH – rechtlich unverbindlich ist, betont aber andererseits – wie das Bundesverfassungsgericht  – die Stellung des IGH als das höchste völkerrechtliche Rechtsprechungsorgan.135 Vor diesem Hintergrund kommt der Supreme Court zu dem Schluss, dass er die völkerrechtliche Auslegung des IGH vollständig angemessen berücksichtigen sollte.136 Anschließend legt der Supreme Court großen Wert auf die Feststellung, dass beide Gerichtshöfe hinsichtlich des anwendbaren völkerrechtlichen Rahmens übereinstimmen: Beide nähmen an, dass das Westjordanland ein besetztes Gebiet ist, auf das das Kriegsvölkerrecht anwendbar sei; nach Auffassung beider Gerichtshöfe müsse der besetzende Staat die Haager Landkriegsordnungen und das Genfer Abkommens IV über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten beachten; nach beiden sei eine Annexion des besetzten Gebiets unzulässig.137

 Supreme Court of Israel, Urt. v. 30.06.2004, HCJ 2056/04 – Beit Sourik Village Council v. The Government of Israel, 58 (5) P.D. 807 (2004). Danach ist das Westjordanland als besetztes Gebiet zu qualifizieren, auf das israelisches Recht keine Anwendung findet, so dass sich der Mauerbau insbesondere nach den Vorschriften des humanitären Völkerrechts richtet. Darüber hinaus sei der Mauerbau nur aus Sicherheitszwecken gerechtfertigt; aus politischen Gründen, geschweige denn zum Zweck der Annexion, dürfe die Mauer nicht errichtet werden. Darüber hinaus bedürfe jeder Streckenabschnitt einer gesonderten Einzelfallprüfung. Ebd., 829 ff. 134  Siehe IGH, Gut. v. 09.07.2004 – Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, ICJ Rep. 2004, 136  ff. Dazu Florian Becker, IGH-Gutachten über „Rechtliche Konsequenzen des Baus einer Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten“, AVR 43 (2005), 218 ff. 135  Supreme Court of Israel, Urt. v. 15.09.2005, HCJ 7957/04 – Mara’abe v. The Prime Minister of Israel, 60 (2) P.D. 477 (2005), Rn. 56: „The opinion of the ICJ – as its title testifies […] – is an Advisory Opinion. It does not bind the party who requested it. As the ICJ itself noted in its opinion (paragraph 31), it does not bind the states. […] However, the opinion of the International Court of Justice is an interpretation of international law, performed by the highest judicial body in international law.“ 136  Ebd.: „The ICJ’s interpretation of international law should be given its full appropriate weight.“ 137  Ebd., Rn. 57. 133

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Den Umstand, dass der Supreme Court trotz Verwendung des gleichen normativen Rahmens wie der IGH zu einer anderen rechtlichen Bewertung des Mauerbaus kommt, schiebt der Supreme Court auf die unterschiedlichen Tatsachengrundlagen, die die beiden Gerichtshöfe zugrunde gelegt hätten.138 Das hätte dazu geführt, dass der IGH den Mauerbau als politisch motiviert erachtete und der Supreme Court hingegen als militärisch motiviert.139 Im Hinblick auf die prozessuale Rekonstruktion der Tatsachen stellt der Supreme Court daraufhin seine institutionelle Überlegenheit gegenüber dem IGH heraus: Während dieser sein Urteil nur auf Grundlage verschiedener Berichte getroffen habe, hätte der Supreme Court hingegen neben dem Vortrag der palästinensischen Kläger auch Gutachten militärischer Sachverständiger berücksichtigt.140 Dann führt der Supreme Court detailliert aus, in welchen Fragen der IGH in seinem Gutachten von unvollständigen oder gar falschen Tatsachen ausgegangen war. Dieser Punkt trägt insofern Parallelen der Görgülü-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, als dieses auf die institutionellen Defizite des EGMR im Fall von Grundrechtskonflikten hingewiesen hatte, um sich selbst eine größere Entscheidungsautonomie zu bewahren.141 5. Die Entscheidung des ICTY in Tadic vom 15.07.1999 Ein Beispiel für die Rezeption von Urteilen zwischen internationalen Spruchkörpern ist die Tadic-Entscheidung der Berufungskammer des ICTY.142 In der Entscheidung spielte der Begriff der effektiven Kontrolle eine zentrale Rolle, mit dem die Zurechnung privater Handlungen zu Staaten bestimmt wird. Der IGH hatte in seinem Nicaragua-Urteil von 1986 zur Bestimmung der Frage der Staatenverantwortlichkeit den „effective control“-Test entwickelt,143 das ICTY verwendete den Begriff der effektiven Kontrolle als Vorfrage für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der angeklagten Individuen. Für das ICTY stellte sich die Frage, ob es seiner Entscheidung diesen Begriff in der Interpretationsvariante des IGH zugrunde legen oder einen eigenständigen Begriff der effektiven Kontrolle entwickeln sollte. Ein wichtiger Aspekt bei dieser Frage ist, dass beide Institutionen Spruchkörper der Vereinten Nationen sind: Der IGH ist nach Art. 92 S. 1 UN-Charta das Hauptrecht Ebd., Rn. 61: „The main difference between the two judgments stems primarily from the difference in the factual basis upon which each court made its decision. Once again, the simple truth is proven: the facts lie at the foundation of the law, and the law arises from the facts (ex facto jus oritur).“ 139  Ebd., Rn. 71. 140  Ebd., Rn. 69 f. 141  BVerfGE 111, 307 (324, 328) – Görgülü (2004). 142  ICTY, Appeals Chamber, Urt. v. 15.07.1999, Case No. IT-94-1-A – Prosecutor v Dusko Tadic („Prijedor“). Dazu Carmen Thiele, Fragmentierung des Völkerrechts als Herausforderung für die Staatengemeinschaft, AVR 46 (2008), 1 (15); Michael Nunner, Kooperation internationaler Gerichte, 2009, 200 ff. 143  IGH, Urt. v. 26.06.1986 – Case concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, ICJ Reports 1986, 14, Rn. 110 ff. 138

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sprechungsorgan der Vereinten Nationen, das ICTY wurde durch den UN-­ Sicherheitsrat eingerichtet.144 Das ICTY setzt sich detailliert und kritisch mit dem Nicaragua-Urteil des IGH auseinander. Im Ergebnis kommt das ICTY zu dem Schluss, dass die vom IGH aufgestellten Anforderungen an eine effektive Kontrolle, nach denen Private als ein de facto-Organ des Staats handeln müssten, zu streng seien und entscheidet sich ganz bewusst zu einer Abweichung von der IGH-Rechtsprechung. Dabei ist auffällig, dass das ICTY nicht darauf bedacht ist, die Unterschiede zwischen der eigenen Fallkonstellation und der des IGH, zwischen individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit einerseits und staatlicher Verantwortlichkeit andererseits herauszuarbeiten, sondern den Begriff der effektiven Kontrolle des IGH frontal angreift.145 Das ICTY wirft dem IGH vor, dass dessen effective control-Test nicht der Logik des Rechts der Staatenverantwortlichkeit entspreche,146 das gerade nicht auf rigiden und einheitlichen Kriterien beruhe.147 Auf welchen konzeptionellen Erwägungen die Tadic-Entscheidung in Hinsicht auf die Bedeutung der IGH-Rechtsprechung für das ICTY beruht, legt die Berufungskammer in den Rechtssachen Delalie und Kvocka dezidiert dar: Obwohl der IGH das Hauptrechtsprechungsorgan im Regime der Vereinten Nationen sei, zu dem auch das Tribunal zähle, sei dieses ein „autonomous international judicial body“.148 In der Konsequenz besteht keine hierarchische Beziehung zwischen den beiden Gerichten. Auch wenn die Berufungskammer die Entscheidungen des IGH notwendig berücksichtige, so könne sie doch – nach sorgfältiger Überlegung – zu einer unterschiedlichen Schlussfolgerung kommen.149 Es bestehe keine rechtliche Grundlage für die Annahme, dass das ICTY an die Entscheidungen des IGH gebunden sei.150 Dennoch seien IGH-Entscheidungen zu allgemeinen völkerrechtlichen Fragen von größter Bedeutung und das ICTY werde diese Entscheidungen berücksichtigen und ihrer Autorität gebührend Rechnung getragen.151 Dennoch müsse das ICTY letztlich eine eigene Entscheidung auf Grundlage seiner eigenen Kompetenzen treffen.152 Daher könne es zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen.153

 S/RES/827 v. 25.05.1993.  Kritisch Koskenniemi und Leino, denen zufolge die Tadic-Entscheidung von einem auffälligen Missionsbewusstsein geprägt ist. Siehe Martti Koskenniemi/Päivi Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, LJIL 15 (2002), 553 (567). 146  ICTY, Appeals Chamber, Urt. v. 15.07.1999, Case No. IT-94-1-A – Prosecutor v Dusko Tadic („Prijedor“), Rn. 116. 147  Ebd., 117. 148  ICTY, Appeals Chamber, Urt. v. 20.02.2001, Case No. IT-96-21-A  – Prosecutor v. Zejnil Delalić, Zdravko Mucić, Hazim Delić und Esad Landžo („Ćelebići Case“), Rn. 24. 149  Ebd. 150  ICTY, Appeals Chamber, Entsch. v. 25.05.2001, Case No. IT-98 -30/1-A  – Kvocka et  al., Rn. 17 f. 151  Ebd. 152  Ebd. 153  Ebd. 144 145

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III. Zwischenfazit Die Untersuchung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungsentwicklungen bei der Inkorporation der rechtsordnungsfremden Entscheidungen des EGMR und des IGH hat gezeigt, dass sich Verfassungsgerichte in dem folgenden Spannungsfeld bewegen: Zum einen lässt es sich in der vernetzten Weltordnung nicht mehr rechtfertigen, die Entscheidungen inter- und supranationaler Gerichte im innerstaatlichen Bereich einfach zu ignorieren. Denn der Zweck hinter der Einrichtung interund supranationaler Gerichte und Tribunale liegt gerade auch darin, dass die interund supranationalen Verpflichtungen der Staaten nicht durch staatliche Institutionen ausgelegt werden und diese gleichsam zum Richter in eigener Sache werden. Wenn die Urteile inter- und supranationaler Gerichte nicht berücksichtigt werden, büßen diese ihre Fähigkeit ein, die ihnen übertragenen Aufgaben adäquat zu erfüllen.154 Zum anderen bewahren sich die inkorporierenden Gerichte einen gewissen Entscheidungsspielraum, um der institutionellen Konsequenz der Einsetzung inter- und supranationaler Gerichte zu entgehen, dass diese Gerichte den Inhalt inter- und supranationaler Normen in einer Weise konkretisieren, der den Verpflichtungsadressaten kaum mehr eigenständigen Interpretationsspielraum belässt. Wie wir gesehen haben, lösen viele Gerichte dieses Spannungsfeld dadurch auf, dass sie einerseits eine Bindungswirkung rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Gerichtsurteile ablehnen, sich aber andererseits zur Berücksichtigung dieser Urteile verpflichtet sehen: Im Rahmen der Menschenrechtskonventionen EMRK und IAMRK erachtet sich die Mehrzahl der inkorporierenden nationalen Verfassungs- und Obergerichte verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, die Entscheidungen des EGMR und des IAGMR zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit eine verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht für Entscheidungen des EGMR und des IGH her, der israelische Supreme Court bekundet, eine IGH-Entscheidung vollständig angemessen berücksichtigen zu wollen und das ICTY betont seine Stellung als „autonomous international judicial body“, sieht sich aber als spezialisiertes Völkerrechtstribunal zu Recht verpflichtet, die Entscheidungen des IGH zu allgemeinen völkerrechtlichen Fragen zu berücksichtigen und ihrer Autorität gebührend Rechnung zu tragen.155 Einen dogmatisch anderen, im Ergebnis aber vergleichbaren Weg schlägt die Corte Costituzionale ein: Diese nimmt grundsätzlich eine  – über die Berücksichtigungspflicht hinausgehende  – Bindung italienischer Gerichte an IGH-Urteile an,156 setzt dieser Bindung aber verfassungsrechtliche Grenzen, soweit  Dazu im Einzelnen oben Zweiter Teil, Kap. 9, A., I.  Für ein Zurückhaltungsgebot spezialisierter internationaler Gerichte bei allgemeinen völkerrechtlichen Fragen, die über den Sachbereich des eigenen Regimes hinausreichen: Geir Ulfstein, The International Judiciary, in: Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 126 (151). 156  Oben Dritter Teil, Kap. 13, A., II., 2. Eine innerstaatliche Bindungswirkung nehmen auch die Ober- und Verfassungsgerichte in Peru, Panama, Belgien und den Niederlanden an. Oben Dritter Teil, Kap. 13, A. 154 155

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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grundlegende Prinzipien und unveräußerbare Grundrechte der Verfassung betroffen sind. Im Ergebnis laufen alle diese Ansätze auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Urteilen rechtsordnungsfremder inter- und supranationale Gerichte, wie dem IGH, und eine Abwägung zwischen den – hinter diesen Urteilen stehenden – rechtsordnungsfremden Belangen und den konkurrierenden rechtsordnungseigenen Belangen hinaus. Eine Ausnahme von diesem rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungstrend stellt die Rechtsprechung des US Supreme Court dar, der zwar von „respectful consideration“ spricht, die er dem IGH schulde, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des IGH aber mit dem Hinweis auf die political question-­Doktrin und die Prärogative des US-Kongresses zur Bestimmung der innerstaatlichen Relevanz dieser Rechtsprechung gerade unterlässt.157 Das spricht aber nicht gegen die Existenz eines solchen Rechtsprechungsentwicklungen, sondern lässt sich mit der Sonderstellung der USA als Weltmacht erklären,158 in der sich der US Supreme Court den Bedingungen der vernetzten Weltordnung entziehen kann.159 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des BVerfG zur Berücksichtigung von IGH-Urteilen, in der sich das Gericht ausführlich mit der Rechtsprechung des US Supreme Court auseinandersetzt und ganz bewusst ein Zeichen setzt, um seine Rechtsprechung von dieser abzugrenzen.160 Diese Form der rechtsvergleichenden Kontrastierung lässt sich auch als Ausdruck eines Ringens um die Deutungshoheit bei der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen lesen.161

 Oben Dritter Teil, Kap. 13, A., II., 1.  Man kann aus einer ausschließlich ergebnisgeleiteten Perspektive zu der Schlussfolgerung kommen, dass kein nennenswerter Unterschied hinsichtlich der Inkorporation von IGH-Urteilen durch die italienischen Corte Costituzionale und den U.S. Supreme Court besteht. So Jack Goldsmith/ Eric Posner, Does Europe Believe in International Law?, Wall Street Journal v. 25.11.2008: „Europeans hold their values and interests dear, just as Americans do, and will not subordinate them to the requirements of international law. When a conflict arises, international law must yield.“ Diese Sichtweise verkennt aber, dass nach dem Ansatz der Corte Costituzionale grundsätzlich eine Bindung an das IGH-Urteil besteht und eine Abweichung nur durch überwiegende gegenläufige verfassungsrechtliche Belange gerechtfertigt werden kann. Dagegen spielen IGH-Urteile ohne explizite Inkorporation durch den US-Kongress für den U.S. Supreme Court nur eine untergeordnete Rolle. Für eine differenzierende Perspektive, siehe Gráinne de Búrca, International Law Before the Courts: the EU and the US Compared, Va. J. Int’l L. 55 (2015), 685 ff. 159  Kritisch gegenüber dem „American Exceptionalism“: Michael Ignatieff, Introduction: American Exceptionalism and Human Rights, in: ders. (Hrsg.), American Exceptionalism and Human Rights, 2005, 1 ff.; Harold Koh, On American Exceptionalism, Stan. L. Rev. 55 (2003), 1479 ff. Als Ausdruck dieses „American Exceptionalism“ sieht das US Supreme Court-Urteil in Sanchez-Llamas v. Oregon: William Thro, American Exceptionalism: Some Thoughts on Sanchez-Llamas v. Oregon, Tex. Rev. L. & Pol. 11 (2007), 219 ff. Gegen die Qualifizierung des US-amerikanischen Ansatzes gegenüber dem Völkerrecht als „exceptionalism“: Anu Bradford/Eric Posner, Universal Exceptionalism in International Law, Harv. Int’l L. J. 52 (2011), 1 ff. 160  BVerfGK 9, 174 – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). 161  Näher zum Phänomen: Oben Erster Teil, Kap. 7, C.; andere Beispiele für dieses Phänomen unten Dritter Teil, Kap. 14, A., I., 1. 157 158

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Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

 . Analyse: Differenzierende Präjudizvermutung zugunsten B rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Gerichtsurteile Wie lässt sich die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklung in Richtung einer Berücksichtigungspflicht der Entscheidungen inter- und supranationaler Gerichte konzeptionell auf der Folie der vernetzten Weltordnung einfangen? Konzeptionell lässt sich diese rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis – in Anknüpfung an die Vorrangvermutung zugunsten des inter- und supranationalen Rechts – als widerlegbare Präjudizvermutung erfassen.162 Nach dem – im innerstaatlichen Recht der common law-Staaten geltenden  – Grundsatz des stare decisis binden Präjudizien unterinstanzliche Gerichte an die Entscheidung eines höherinstanzlichen Gerichts im gleichen Instanzenzug über den konkreten Rechtsstreit hinaus.163 Durch den hier verwendeten Begriff der widerlegbaren ­Präjudizvermutung wird zum Ausdruck gebracht, dass im Verhältnis zwischen nationalen und übernationalen Gerichten eine Bindungswirkung wie im nationalen common law-Kontext zwar nicht besteht, unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung aber sehr wohl eine daran angelehnte Berücksichtigungspflicht. ­Dahinter steht die Überlegung, dass es der verfassungsgerichtlichen Inkorporationsfunktion in der vernetzten Weltordnung nicht entsprechen würde, wenn ein Verfassungsgericht in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsstreitigkeiten seine Erwägungen ohne Weiteres an die Stelle der Erwägungen anderer, mit der gleichen Problematik befasster Gerichte setzt. Zwar folgt aus einer Präjudizvermutung umgekehrt auch keine Bindungswirkung oder sonstige Befolgungsverpflichtung gegenüber rechtsordnungsfremden inter- oder supranationalen Gerichten. Allerdings bedarf es in jedem Fall einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung mit rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Gerichtsurteilen und eine Abweichung von diesen Urteilen verlangt widerstreitende Belange von besonderem Gewicht, um die Präjudizvermutung zu widerlegen.164  Kumm spricht von „presumptive weight“. Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (302). 163  Zwar gilt die Präjudizienbindung grundsätzlich nicht in civil law-Systemen, wie Deutschland oder Italien, weil der Richter regelmäßig nur an die Verfassung und an das Gesetz gebunden ist, nicht jedoch an eine bestimmte Auslegung eines letztinstanzlichen Gerichts. Nichtsdestotrotz befolgen auch im civil law unterinstanzliche Gerichte in aller Regel die Entscheidungen höherin­ stanzlicher Gerichte außerhalb des konkreten Rechtsstreits, schon weil sie eine Aufhebung ihrer Entscheidung vermeiden möchten. Daher dient das Vorhandsein bzw. die Abwesenheit der stare decisis-Doktrin heute kaum mehr als zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen dem common law und civil law. So zutreffend Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, 146; Roberto Summers/Michele Taruffo, Intepretation and Comparative Analysis, in: Neil MacCormick/Roberto Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes. A Comparative Study, 1991, 461 ff. Grundlegend zu Präjudizien in der deutschen Rechtsordnung: Mehrdad Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017. 164  Als Gegenstück für eine solche Präjudizvermutung inkorporierender Gerichte lässt sich im Hinblick auf übertragende inter- und supranationale Gerichte, deren Entscheidungen auf eine Inkorpo162

B. Analyse: Differenzierende Präjudizvermutung zugunsten rechtsordnungsfremder …

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Aus ganz ähnlichen Erwägungen verwenden Fischer-Lescano und Teubner den Begriff der „default deference“, die einerseits „gegenüber dem formalen ‚stare decisis‘ der Präjudizienbindung schwächer“, andererseits „aber stärker als ein bloßer persuasiver Präzedenzfall“ sei.165 Dieser Entscheidungsmodus ist nach Teubners Auffassung von dem folgenden Regel-Ausnahme-Verhältnis gekennzeichnet: „Die Regel ist: Ohne dass sie deren Prämissen erneut überprüfen, akzeptieren dezentrale Instanzen die Entscheidungen anderer dezentraler Instanzen und bauen ihre Anschlussentscheidungen ohne weiteres auf ihnen auf. Die Ausnahme ist: Nur mit besonderen Informations- und Begründungslasten können sie die Vorentscheidung infrage stellen und dürfen anders entscheiden.“166 In diesem Sinne lässt sich auch der ehemalige IGH-Richter Buergenthal verstehen, wenn er feststellt, dass „if other courts decide not to follow these precedents, they have an obligation, in my opinion, to distinguish these precedents, that is, to explain why they cannot or need not follow them, and do so by reference to generally accepted methods of international legal analysis and discourse“.167 Eine solche Präjudizvermutung, die sich auch als „default deference“ beschreiben oder mit einer „obligation to distinguish precedents“ vergleichen lässt, geht weiter als die nach Slaughter aus dem Prinzip richterlicher Höflichkeit („judicial comity“) folgende gebührende Beschäftigung mit den Urteilen anderer Gerichte.168 Die Umschreibung als judicial comity passt nicht, weil es sich bei der Präjudizvermutung um eine über Respekt und Höflichkeit hinausgehende – wie auch immer dogmatisch konstruierte – rechtliche Verpflichtung handelt. Die Konstruktion einer solchen Präjudizvermutung entspricht der netzwerkartigen Struktur der rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Interaktion in der vernetzten Weltordnung.169 Zwischen dem EGMR und den Verfassungsgerichten der Konventionsstaaten oder zwischen dem IGH und nationalen Verfassungsgerichten bzw. internationalen Gerichten fehlt es an rechtlichen Bestimmungen, die die Bindungswirkung der EGMR- oder IGH-Entscheidungen gegenüber anderen Gerichten ration durch andere Gerichte ausgerichtet sind, die in der Rechtsprechung des EGMR fest eta­ blierte „margin of appreciation“-Doktrin auffassen, die nationalen Stellen einen Beurteilungsspielraum gewährt. Siehe exemplarisch: EGMR, Urt. v. 08.07.2003, Nr. 36022/97 – Hatton v. Großbritannien, Rn. 97: „The national authorities have a direct democratic legitimation and are, as the Court has held on many occasions, in principle better placed than an international court to evaluate local needs and conditions.“ Siehe zum Potenzial der Doktrin über den Kontext der EMRK hinaus: Eyal Benvenisti, Margin of appreciation, consensus, and universal standards, N.Y.U. J. Int’l L. & Pol. 31 (1999), 843 ff.; Yuval Shany, Toward a General Margin of Appreciation Doctrine in International Law, EJIL 16 (2005), 907 ff. 165  Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, 124. 166  Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (124). 167  Thomas Buergenthal, Proliferation of International Courts and Tribunals: Is it Good or Bad?, LJIL 14 (2001), 267 (274). 168  Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 86 ff. 169  Ebenfalls eine Verbindung zwischen dem Entscheidungsmodus der „default deference“ und der netzwerkartigen Struktur nicht-hierarchisch aufgebauter richterlicher Beziehungsgeflechte herstellend: Gunther Teubner, „So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, …“: Zur Diabolik des Netzwerkversagens, in: Ino Augsberg (Hrsg.), Ungewissheit als Chance, 2009, 109 (124).

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Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

anordnen.170 Die Beziehungen zwischen diesen Gerichten stellt sich somit als heterarchisch und informell dar: Niemand kann den anderen auf eine verbindliche Letztentscheidung festlegen. Auch der IGH steht nicht und stand nie an der Spitze einer internationalen Gerichtshierarchie,171 wie das ICTY mit seiner Selbstbeschreibung als „autonomous international judicial body“ deutlich macht.172 Die Interaktion zwischen diesen Gerichten ist vielmehr von einer netzwerktypischen Ambivalenz gekennzeichnet, die sich in dem Entscheidungsmodus der Präjudizvermutung widerspiegelt.173 Denn einerseits beharren die mit rechtsordnungsfremden Gerichtsurteilen konfrontierten Gerichte auf ihrer Autonomie und Letztentscheidungsbefugnis, andererseits ist die eingehende inhaltliche Auseinandersetzung mit und die Orientierung an diesen Urteilen Ausdruck einer deutlichen Bereitschaft zur Kooperation und zu einer Einengung der eigenen Entscheidungsautonomie.174 Aus kritischer Sichtweise lässt sich gegen eine solche Deutung der Rechtsprechungspraxis einwenden, dass die von den Gerichten selbst entwickelte Berücksichtigungspflicht den Gerichten genau die Flexibilität belässt, die sie brauchen, um den Fall so zu entscheiden, wie sie den Fall entscheiden möchten: Aus dieser Sicht ließen sich der israelische Supreme Court und das ICTY auch durch die ­widersprechenden Interpretationen des IGH nicht von ihren Entscheidungen abbringen; das Bundesverfassungsgericht nutzte die EGMR-Rechtsprechung im Sicherungsverwahrungs-­Fall zweckdienlich als Legitimitätsverstärkung, um die grundrechtlich höchst problematische Praxis der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig zu erklären, unterschied die Rechtsprechung im Beamtenstreik-Fall aber vom spezifischen deutschen Kontext, um das beamtenrechtliche Streikverbot aufrechtzuerhalten. Eine solche Sichtweise unterschätzt allerdings die Qualität des rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialogs, die durchaus von herrschaftsfreien Diskursbedingungen geprägt ist.175 Die Lektüre der diskutierten Entscheidungen offenbart eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des richterlichen Gegenparts und eine nachvollziehbare Begründung für die erfolgte Abweichung von dessen Entscheidung. Wenn etwa die italienische Corte Costituzionale die Einordnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit als immunitätsbedürftige hoheitliche Maßnahme anzweifelt und den Ausschluss eines effektiven Rechtsschutzes für die Opfer dieser Verbrechen kritisiert, dann bezeichnet sie auf Grundlage eines konstitutionalistischen Maßstabs176 einen Schwachpunkt im ge-

 Vgl. oben Dritter Teil, Kap. 13, A., I., 2., a.  So explizit: Martti Koskenniemi/Päivi Leino, Fragmentation of International Law? Postmodern Anxieties, LJIL 15 (2002), 553 (576). 172  ICTY, Appeals Chamber, Urt. v. 20.02.2001, Case No. IT-96-21-A  – Prosecutor v. Zejnil Delalić, Zdravko Mucić, Hazim Delić und Esad Landžo („Ćelebići Case“), Rn. 24. 173  Zu dieser netzwerktypischen Ambivalenz zwischen Kooperation und Autonomie: Oben Erster Teil, Kap. 6. 174  Vgl. zu den Gründen für diese Ambivalenz: Oben Erster Teil, Kap. 6, A., II. 175  Dazu oben Erster Teil, Kap. 6, D. 176  Zum Konstitutionalismus als normative Richtschnur, siehe oben Erster Teil, Kap. 5, B. 170 171

B. Analyse: Differenzierende Präjudizvermutung zugunsten rechtsordnungsfremder …

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genwärtigen Stand des von Staaten bestimmten Rechts auf Staatenimmunität.177 Wenn der israelische Supreme Court die Mängel der Mauerbau-Entscheidung des IGH im Hinblick auf die Fakten im Detail herausarbeitet, dann trifft er damit ein zentrales Problem des Gutachtenverfahrens, in dem – jedenfalls im konkreten Fall – die Sachverhaltsrekonstruktion des IGH weitgehend auf Berichten beruhte.178 Und wenn das Bundesverfassungsgericht im Görgülü-Urteil, in dem die EGMR-­ Entscheidung im Ergebnis befolgt wurde, die mit der institutionellen Struktur des EGMR verbundenen Schwächen bei Fragen konkurrierender Menschenrechtsposition bemängelt, dann weist es damit auf ein ernst zu nehmendes prozedurales Defizit hin.179 Diese Form der kritischen Auseinandersetzung lässt sich als wertvoller Beitrag zu einem rechtsordnungsübergreifenden konstitutionalistischen Diskurs und als Ausdruck einer Weltinnenperspektive verstehen,180 die einer höflich-diplomatischen „respectful consideration“, wie durch den U.S. Supreme Court in Sanchez-Llamas, vorzuziehen ist.181 Die Konstruktion einer Präjudizvermutung ist auch normativ auf der Folie der pluralistisch-heterarchischen Strukturen der vernetzten Weltordnung wünschenswert, denn sie stellt einen angemessenen Entscheidungsmodus dar zur Koordination der konkurrierenden Belange des Schutzes der demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaats einerseits und der Verankerung rechtsstaatlicher Grundsätze in inter- und supranationalen Strukturen andererseits. Für eine Bindungswirkung der Urteile inter- und supranationaler Gerichte sprechen vor allem die Einheit und Kohärenz der Rechtsauslegung und -anwendung. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt,182 wird es der Vielfalt der Perspektiven und unterschiedlichen Interessen in der vernetzten Weltordnung aber nicht gerecht, Einheit rechtlich zu erzwingen, wo keine Einheit besteht und Möglichkeiten der Kontestation trotz grundlegendem Dissens abzuschneiden.183 Unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung erscheint ein konstruktiver Dialog, wie ihn die Entscheidungstechnik einer widerlegbaren Präjudizvermutung fördert, daher gegenüber einer starren Bindungswirkung vorzuziehen.184

 Zur Kritik der Corte im Einzelnen: Oben Dritter Teil, Kap. 13, A., II., 3. Mit einer kritischen Analyse des gegenwärtigen Stands des Rechts auf Staatenimmunität aus konstitutionalistischer Perspektive, siehe Anne Peters/Evelyne Lagrange/Stefan Oeter/Christian Tomuschat (Hrsg.), Immunities in the Age of Global Constitutionalism, 2015. 178  Siehe dazu oben Dritter Teil, Kap. 13, A., II., 4. 179  Näher: Oben Dritter Teil, Kap. 13, A., I., 2., a. 180  Zum Begriff der Weltinnenperspektive: Oben Erster Teil, Kap. 5, A. 181  Oben Dritter Teil, Kap. 13, A., II., 1. 182  Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. 183  So auch für den Kontext der EMRK: Victor Ferreres Comella, Constitutional Courts and Democratic Values, 2009, 144. 184  In diesem Sinne auch Andreas Voßkuhle, Rechtspluralismus als Herausforderung, ZaöRV 79 (2019), 481 (487 f.), der die verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht gegenüber Gerichtsentscheidungen des EGMR als ein Instrument zur Herstellung und Förderungen eines „dialogische[n] Prozess[es]“ sowie einer „enge[n] Vernetzung beider Gerichte“ versteht. 177

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Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

Ebenso wie im Zusammenhang mit der Vorrangvermutung zugunsten des interund supranationalen Rechts ist es auch bei der Präjudizvermutung angemessen, zwischen verschiedenen Variationen beim Grad bzw. der Stärke der Vermutung zu unterscheiden.185 Dieser hängt zum einen vom Konstitutionalisierungsgrad des betreffenden inter- oder supranationalen Regimes ab. Zu dessen Bestimmung lässt sich auch hier an Walkers Konstitutionalismus-Kriterien anknüpfen.186 Zum anderen erscheint es ergänzend geboten, an gerichtliche Faktoren wie die institutionelle Stellung des Gerichts oder die Verfahrensausgestaltung anzuknüpfen. Auch im Kontext der Präjudizvermutung besteht damit ein zwischen unterschiedlichen Konstitutionalismuspolen angesiedeltes Spektrum, ein „continuum of deference“,187 auf dem an einem Ende der mit der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und ­Anwendung der Verträge“188 beauftragte EuGH steht, dessen Urteile mittlerweile allgemein als bindend anerkannt werden.189 Für andere internationale Gerichte lässt sich als ein positiver Faktor etwa die „institutionelle[] Stellung des Internationalen Gerichtshofs als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen“ konstruieren.190 Ein negativer Faktor kann darin gesehen werden, wenn, wie im Fall der WTO gemäß Art. 3 Abs. 2 DSU, die Entschließungen des internationalen Spruchkörpers nach den Vertragsbestimmungen der internationalen Organisation „die in den erfassten Abkommen vorgesehenen Rechte und Pflichten weder erweitern noch verringern“ können.191 Wie diese unterschiedlichen Konstitutionalisierungsgrade bereits in der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte ihren Niederschlag finden, lässt sich am Beispiel des Bundesverfassungsgericht belegen: Im Görgülü-Beschluss begründet das Gericht einerseits die Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte u.  a. mit Verweis auf Art. 1 Abs. 2 GG, mit dem das Grundgesetz dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz zuweist, durch den es implizit die Kon­ stitutionalisierung der EMRK und die besondere Rolle des EGMR im europäischen Menschenrechtsschutz verfassungsdogmatisch nachvollzieht.192 Andererseits lassen sich die Stellungnahmen des Gerichts zu der defizitären Verfahrensausgestaltung des EGMR im Hinblick auf multipolare Grundrechtskonstellationen als Gründe für  Zur Vorrangvermutung des inter- und supranationalen Rechts: Oben Dritter Teil, Kap. 12, B.  Dazu näher oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 3. Nationale konstitutionalistische Belange lassen sich dann – wie im Rahmen der Vorrangvermutung des inter- und supranationalen Rechts – auf der Ebene der Widerlegbarkeit der Präjudizvermutung berücksichtigen. 187  Roger Alford, Federal Courts, International Tribunals, and the Continuum of Deference, Va. J. Int’l L. 43 (2003), 675 (792 f.). 188  Siehe Art. 19 EUV. 189  Exemplarisch: Conseil d’État, Urt. v. 22.12.1978 – Ministre de l’Intérieur v. Sieur Cohn-Bendit, Rec. 524, EuR 1979, 292 ff. 190  So etwa rechtfertigt, wie gesehen, das Bundesverfassungsgericht die Berücksichtigungspflicht gegenüber den Urteilen des IGH.  BVerfGK 9, 174 (192)  – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006), 191  Vgl. Geir Ulfstein, The International Judiciary, in: Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 126 (148 f.). 192  Oben Dritter Teil, Kap. 13, A., I., 2., a. 185 186

C. Zusammenfassung

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eine Absenkung der Präjudizvermutung von EMRK-Urteilen in solchen Konstellationen lesen.193 In der Kopplung der Stärke der widerlegbaren Präjudizvermutung an unterschiedliche Konstitutionalisierungsgrade liegt ein erhebliches Konstitutionalisierungspotenzial: Ein inter- oder supranationales Gericht, das will, dass ein anderes nationales, internationales oder supranationales Gericht seine Entscheidung befolgt, verbessert die Befolgungsaussichten, wenn es konstitutionelle Belange ernst nimmt und einen plausiblen Anspruch auf einen konstitutionellen Status erheben kann. Durch eine solche Auseinandersetzung werden also konstitutionelle Erwartungen geweckt und konstitutionelle Argumente mobilisiert. Es entsteht ein konstitutioneller Dialog,194 der Debatten strukturiert und institutionelle Arrangements ­beeinflusst.195

C. Zusammenfassung Die rechtsordnungsübergreifende Analyse der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung unter dem Vergleichsmaßstab der Inkorporationsfunktion zeigt, dass Verfassungsgerichte in Europa, Lateinamerika und Israel sowie internationale Spruchkörper wie das ICTY sich als verpflichtet ansehen, die Entscheidungen rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Gerichte zu derselben Sachfrage zu berücksichtigen und sich inhaltlich gebührend mit ihnen auseinandersetzen, freilich ohne dabei eine schematische Bindungswirkung anzunehmen. Diese Rechtsprechungspraxis entspricht der netzwerkartigen Struktur der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion in der vernetzten Weltordnung: Einerseits beharren die mit rechtsordnungsfremden Gerichtsurteilen konfrontierten Gerichte auf ihrer Autonomie und Letztentscheidungsbefugnis, andererseits ist die Ausrichtung nach diesen Urteilen Ausdruck einer Bereitschaft zur Kooperation und zur Einengung der eigenen Entscheidungsautonomie. Als Hintergrundnorm konzipiert, lässt sich diese rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis als widerlegbare Präjudizvermutung einfangen, nach der der Grad der Vorrangvermutung vom Konstitutionalisierungsgrad der betreffenden inter- oder supranationalen Rechtsordnung abhängt. Im Fall des EuGH kann das zu einer weitgehenden Bindungswirkung führen. In jedem Fall erfordert die Abweichung von rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Urteilen zu derselben Problematik eine besondere Rechtfertigung. Die Konstruktion einer Präjudizvermutung ist auch normativ auf der Folie der pluralistisch-heterarchischen Strukturen der vernetzten Weltordnung wünschenswert: Zum einen erscheint es nicht angemessen, wenn ein Verfassungsgericht in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsstrei Oben Dritter Teil, Kap. 13, A., I., 2., a.  Anne-Marie Slaughter, Judicial Globalization, Va. J. Int’l L. 40 (2000), 1103 (1108): „dialogue of constitutionalism“. 195  Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Mod. L. Rev. 65 (2002), 317 (344 f.). 193 194

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Kapitel 13: Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile

tigkeiten seine Erwägungen ohne Weiteres an die Stelle der Erwägungen anderer, mit der gleichen Problematik befasster Gerichte setzt. Zum anderen ist ein kon­ struktiver Dialog, wie ihn die Entscheidungstechnik einer widerlegbaren Präjudizvermutung fördert, gegenüber einer starren Bindungswirkung zu bevorzugen. Durch einen solchen Dialog können konstitutionelle Erwartungen geweckt und konstitutionelle Argumente mobilisiert werden.

Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

Es hat sich gezeigt, dass Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung eine Kontrollfunktion ausüben.1 Verfassungsgerichte prüfen verstärkt, meist indirekt über den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt, ob die Verträge und Rechtsakte inter- und supranationaler Organisationen mit rechtsordnungseigenen Prinzipien und Normen vereinbar sind. Dadurch wirken sie der Entstehung eines konstitutionellen Vakuums in der Konstellation der vernetzten Weltordnung entgegen.2 Dieses Vakuum entsteht dadurch, dass einerseits immer mehr Entscheidungen durch interund supranationale Institutionen getroffen werden, die individualbezogen sind und nationalen Stellen kaum mehr eigenen Gestaltungsspielraum belassen,3 andererseits nach konstitutionalistischen Maßstäben teilweise defizitär sind.4 Dann aber entspricht es der Kontrollfunktion nationaler Verfassungsgerichte, die den Schutz verfassungsrechtlicher Prinzipien und Normen gewährleisten sollen, auch gegenüber diesen Entscheidungen eine Kontrolle auszuüben.5 Allerdings ist die Ausübung einer solchen Kontrolle angesichts der „Zerbrechlichkeit überstaatlicher Strukturen“6 auch nicht unbedenklich: Sie kann die Funktionsfähigkeit institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation beein­ trächtigen und die prekäre Legitimität inter- und supranationaler Institutionen beschädigen. Deshalb kommen der Art und Weise der Ausübung der verfassungs­

 Oben Zweiter Teil, Kap. 10.  Vgl. oben Zweiter Teil, Kap. 10, A., I. 3  Dazu oben Erster Teil, Kap. 2, H. 4  Oben Erster Teil, Kap. 2, G. 5  Siehe näher zu diesem Gesichtspunkt: Oben Zweiter Teil, Kap. 10, A., I. 6  Mit diesem Ausdruck: Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit. Konflikt und Harmonie in den auswärtigen Beziehungen Deutschlands, 2007, 246. 1 2

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_14

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

gerichtlichen Kontrollfunktion entscheidende Bedeutung zu. Dabei stellt sich die Frage, auf welche Gegenstände sich die Kontrolle bezieht. Im Recht internationaler Organisationen besteht eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Vertragsrecht, also dem durch die Mitgliedstaaten vereinbarten Gründungsvertrag einerseits und dem abgeleiteten Recht, also dem durch die Institutionen der internationalen Organisation selbst erzeugten Recht andererseits. Internationale Organisationen werden durch einen völkerrechtlichen Gründungsvertrag konstituiert. Entscheidende Voraussetzung zur staatlichen Ratifizierung dieses Vertrages ist in allen demokratischen Rechtsordnungen, in dualistisch wie in monistisch geprägten, die parlamentarische Zustimmung.7 Der ratifizierte Gründungsvertrag, also etwa die UN-Charta für die Vereinten Nationen oder die Römischen Verträge und die nachfolgenden Änderungsverträge für die Europäische Union, stellt insofern die „Verfassung“ der internationalen Organisation dar als er ihre In­ stitutionen einrichtet, die Kompetenzen absteckt und die Verfahren der Rechtserzeugung festlegt.8 Vom Vertragsrecht zu unterscheiden ist das abgeleitete Recht, also die Rechtsakte inter- und supranationaler Institutionen, die auf Grundlage des ratifizierten völkerrechtlichen Vertrages erlassen werden.9 In beiden Konstellationen, der Kontrolle des Vertragsrechts und des abgeleiteten Rechts, ziehen nationale und supranationale Verfassungsgerichte in aller Regel den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt als Kontrollgegenstand heran. Im Verhältnis zwischen einer nationalen und einer inter- oder supranationalen Rechtsordnung wird der Gründungsvertrag durch das nationale Übertragungs-, Ratifikationsoder Zustimmungsgesetz inkorporiert, das Entscheidungskompetenzen an eine inter- oder supranationale Organisation überträgt, und das abgeleitete Recht, etwa eine europäische Verordnung oder eine UN-Sicherheitsratsresolution, durch ein Gesetz, eine Rechtsverordnung oder auch nur einen Verwaltungsakt. Allerdings ist es wichtig, sich dabei zu vergegenwärtigen, dass inhaltlich zwischen dem rechtsordnungsfremden inter- oder supranationalen Recht und dem rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt regelmäßig kein relevanter Unterschied besteht, so dass die Gerichte effektiv das rechtsordnungsfremde Recht einer gerichtlichen Kontrolle unterwerfen. Ein Beispiel: Das deutsche Zustimmungsgesetz zu einem europäischen Vertrag besteht – neben der Aussage, dass der Bundestag dem Vertrag zustimmt – vor

7  In dualistisch geprägten Rechtsordnung ist ein Inkorporationsakt (erforderlich, in monistisch geprägten Rechtsordnungen eine weniger förmliche parlamentarische. Nach Bleckmann sind wegen dieses Erfordernisses eines Zustimmungsakts letztlich auch sogenannte monistische Rechtsordnungen dualistisch ausgerichtet. Alfred Bleckmann, Völkerrecht, 2001, 138 f. 8  Zur Doppelnatur der Gründungsverträge inter- und supranationaler Organisationen zwischen Vertrag und Verfassung: Anne Peters, Das Gründungsdokument internationaler Organisationen als Verfassungsvertrag, ZÖR 68 (2013), 1 ff. 9  Das Verhältnis zwischen Vertragsrecht und abgeleitetem Recht entspricht insoweit dem Verhältnis einer Verfassung zu Gesetz und Recht, als das abgeleitete Recht den vom höherrangigen Vertragsrecht vorgegebenen Rahmen einhalten soll. Dem folgend wird im Kontext der Europäischen Union das Vertragsrecht als Primärrecht bezeichnet, das abgeleitete Recht als Sekundärrecht, das Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen umfasst.

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

331

allem aus seinem Anhang, der den Vertrag enthält. Der Vertrag und das Zustimmungsgesetz sind damit inhaltlich praktisch identisch. Gegen die verfassungsgerichtliche Kontrolle eines inter- oder supranationalen Gründungsvertrages lässt sich einwenden, dass ein Verfassungsgericht mit dieser Kontrolle des Rechts einer fremden inter- und supranationalen Rechtsordnung die eigenen Befugnisse überschreitet und die Funktionsfähigkeit internationaler Kooperation beeinträchtigt. In den USA enthalten sich Gerichte einer solchen Kon­ trolle unter Berufung auf die political question-Doktrin.10 Der Grund für diese richterliche Zurückhaltung liegt nicht nur in der oft erheblichen politischen Tragweite solcher Verträge, denn auch der constitutional review von parlamentarischen Gesetzen stellt sich häufig als heikle politische Angelegenheit dar. Die – nach der abgeschlossenen Vertragsverhandlung vorgenommene  – verfassungsgerichtliche Kon­ trolle inter- und supranationaler Verträge ist aber mit signifikanten strukturellen Problemen verbunden, die, wie wir noch sehen werden,11 mit den Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung bei der Aushandlung inter- und supranationalen Verträgen zusammenhängen. Man kann daher die Frage stellen, was überhaupt der Zweck einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Vertragsrechts inter- und supranationaler Institutionen ist. Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst nachgezeichnet werden, wie sich die verfassungsrechtliche Vertragskontrolle – jedenfalls im europäischen Kontext – immer mehr zu einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm herauszubilden scheint und sich zu einem bedeutsamen Forum für die Kontrolle der i­ nstitutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation entwickelt, durch das Verfas­sungsgerichte verschiedener Rechtsordnungen in einen rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog treten, um ihre unterschiedlichen Rechtsprechungsmodelle zu diskutieren und miteinander zu koordinieren (A.). Daran anschließend soll auf der Folie der Konzeption der vernetzten Weltordnung ein Erklärungsansatz entwickelt werden, mit dem sich diese verfassungsgerichtliche Praxis erklären lässt und die damit verbundenen Chancen und Probleme aufgezeigt werden (B.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen In einem ersten Schritt soll ein Überblick über die Vielzahl nationaler Verfassungsgerichte gegeben werden, die mittlerweile eine Vertragskontrolle am Maßstab ihrer Verfassung vornehmen (I.). In einem zweiten Schritt sollen bestimmte rechtsordnungsübergreifende Gemeinsamkeiten zwischen diesen Vertragsurteilen herausgearbeitet werden, um ein besseres Verständnis für die Zwecke und Mechanismen der Vertragskontrolle zu entwickeln (II.).

 Exemplarisch in Hinsicht auf die NAFTA: US District Court, Urt. v. 23.07.1999 – Made in the USA Foundation v. United States, 56 F. Supp. 2d 1226 (N.D. Ala. 1999). 11  Unten Dritter Teil, Kap. 14, B., I. 10

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

I . Die Herausbildung der Kontrolle des Vertragsrechts zur rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm Bei der Auseinandersetzung mit den Strukturen richterlicher Normbildung in der vernetzten Weltordnung hat sich gezeigt, wie sich durch die netzwerkartige verfassungsgerichtliche Interaktion rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen herausbilden können.12 Soweit sich eine kritische Masse von Gerichten für einen bestimmten Rechtsprechungsansatz entschieden hat, sinken die Rechtfertigungs­ anforderungen und diese Position lässt sich leichter verteidigen.13 Ein Rechtsprechungstrend bildet sich heraus, dem sich Verfassungsgerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen nach und nach anschließen.14 In groben Zügen lässt sich dieser Prozess bei der Herausbildung der Vertragskontrolle als Forum für die Kontrolle des inter- und supranationalen Rechts erkennen. Die Kontrolle der rechtsordnungseigenen Inkorporation des Gründungsvertrages durch mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte ist vor allem im EU-Kontext gängige Praxis (1.). Selbst wenn die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte in Europa in ihren Vertragsurteilen nicht immer zu denselben Ergebnissen kommen, nutzen sie das in der öffentlichen Wahrnehmung präsente Vertragsurteil gleichermaßen als Medium, um ihre Positionen zu strukturellen Problemen der europäischen Integration zu formulieren. Auch in der Rechtsprechung des EuGH spielt die Kontrolle völkerrechtlicher Gründungs- und Beitrittsverträge eine bedeutsame Rolle (2.). In groben Zügen lässt sich diese Form der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auch in anderen Teilen der Welt beobachten (3.).15

 Zu diesem sozialen Prozess: Oben Erster Teil, Kap. 7.  Siehe dazu näher oben Erster Teil, Kap. 7, C. 14  Oben Erster Teil, Kap. 7, C. 15  Ein weiteres, sich anbahnendes Feld der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle betrifft das internationale Investitionsschutzregime und ist vor dem Hintergrund der wachsenden legitimationstheoretischen und gesellschaftlichen Kritik am Investititonsschutz zu betrachten. Das CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada, das ein Investitionskapitel (Chapter 8) enthält, wurde am Maßstab des unionalen Primärrechts bzw. der nationalen Verfassung durch den EuGH, siehe EuGH, Gut. v. 30.04.2019, Rs. 1/17 – CETA, ECLI:EU:C:2019:341, das Bundesverfassungsgericht, siehe BVerfGE 143, 65 – CETA (2016), und den Conseil constitutionnel, siehe Entsch. v. 31.07.2017, Nr.  2017-749  – CETA, überprüft. Darüber hinaus hat das kolumbianische Verfassungsgericht ein 2014 geschlossenes Bilateral Investment Agreement (BIT) zwischen Kolumbien und Frankreich geprüft und dabei, ohne das Abkommen als verfassungswidrig einzustufen, mehrere verfassungsrechtliche Vorgaben für eine verfassungskonforme Auslegung der in dem BIT enthaltenen Schutzstandards zugunsten ausländischer Investoren gemacht. Siehe Kolumbianisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 06.06.2019, C-252/19 – Kolumbien–Frankreich BIT. 12 13

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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1 . Kontrolle der europäischen Verträge durch nationale Verfassungsgerichte In Europa wird mittlerweile kein EU-Vertrag mehr ratifiziert ohne eine gründliche Prüfung durch mehrere nationale Verfassungsgerichte. Insbesondere die Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte zum Vertrag von Lissabon zeugt von einer neuen Qualität der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle, die sich in den Urteilen zum europäischen Rettungsschirm fortgesetzt hat. Mittlerweile scheint es in vielen Rechtsordnungen etablierte Verfassungsgerichtspraxis zu sein, dass das Zustimmungsgesetz zu einem neuen europäischen Vertrag vor der Ratifikation des Vertrages auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung geprüft wird.16 Diese Entwicklung ist keine Selbstverständlichkeit. Dies zeigt sich auch daran, dass in diesem Punkt in Europa ein beachtlicher Kurswechsel stattgefunden hat. In  Darstellungen der Integrationsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bleibt häufig unerwähnt, dass bereits 1952 die Vereinbarkeit des Vertrages über die – letztlich aufgrund des Vetos des damaligen französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle gescheiterte – Europäische Verteidigungsgemeinschaft mit dem Grundgesetz beim Gericht anhängig war.17 Damals sah das Bundesverfassungsgerichtsgesetz noch ein Gutachtenverfahren vor18 und der damalige Bundespräsident Heuss ersuchte das Bundesverfassungsgericht um ein solches Gutachten, um das Gericht als vermittelnden Streitentscheider mit dem erbitterten politischen Streit zwischen der Regierung Adenauer und der pazifistisch gesinnten sozialdemokratischen Opposition über die Wiederbewaffnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrauen. Während heute, wie wir noch sehen werden,19 das BVerfG – mangels eines gesetzlich geregelten Gutachtenverfahrens  – beachtliche verfassungsdogmatische Verrenkungen macht, um potenziellen Beschwerdeführern die Möglichkeit zu geben, das Gericht mit der verfassungsrechtlichen Prüfung europäischer Verträge zu befassen, schöpfte das Gericht damals in dem Bestreben, nicht zwischen den politischen Lagern zerrieben zu werden, erfolgreich alle verfassungsprozessualen Möglichkeiten aus, um eine Entscheidung in der Sache zu vermeiden.20 Der Umgang des Gerichts mit dieser Streitfrage entsprach folglich dem traditionellen verfassungsgerichtlichen Dogma, dass internationale Gründungsverträge political questions sind, die ausschließlich in die Zuständigkeit des politischen Prozesses fallen.

 Auch in der Rechtsprechung des EuGH lassen sich gewisse Parallelen zu der Vertragskontrolle mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte erkennen, wenn der Gerichtshof prüft, ob und auf welcher vertraglicher Grundlage die EU Kompetenzen an andere inter- und supranationale Institutionen, etwa an den EGMR, übertragen darf. Siehe EuGH, Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140. 17  Dazu aus historischer Sicht: Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, 54 ff. 18  § 97 BVerfGG a.F. 19  Unten Dritter Teil, Kap. 14, A., I., 1. 20  Instruktiv zu dieser als „erste große Krise“ bezeichneten geschichtlichen Episode des Bundesverfassungsgerichts: Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, 54 ff. 16

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

Es kam daher überraschend, als der irische Supreme Court 1987 in der berühmten Crotty-Entscheidung die Vereinbarkeit der Zustimmung Irlands zur Einheitlichen Europäischen Akte mit der Verfassung prüfte und aus dieser das Erfordernis einer Verfassungsänderung in Form des Referendums herleitete,21 auch wenn es sich dabei um einen prozeduralen Ansatz handelt, der die Integrationsentscheidung uneingeschränkt dem demokratischen Prozess überlässt. Diese Rechtsprechung ist außerhalb Irlands in vielerlei Hinsicht einzigartig geblieben, auch weil der Supreme Court sich damit selbst aus dem Spiel nimmt und vergleichsweise anspruchsvolle Anforderungen an die irische Zustimmung zu einem europäischen Vertrag statuiert.22 Den entscheidenden Wendepunkt im verfassungsgerichtlichen Umgang mit europäischen Verträgen vom traditionellen Dogma des none of my business zur Vertragskontrolle als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnorm im europäischen Kontext leiten die Urteile mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte zum Vertrag von Maastricht ein. Zunächst entschieden der französischen Conseil constitutionnel23 und das spanische Tribunal Constitucional,24 beide jeweils von der Exekutive im Rahmen eines Ex-ante-Normenkontrollverfahrens mit der verfassungsrechtlichen Kontrolle befasst, dass der Vertrag grundsätzlich ratifizierungsfähig sei, solange für bestimmte „souveränitätssensible“ Vertragsänderungen die Zustimmung mit verfassungsändernder Mehrheit erfolgt. Diese verfassungsgerichtliche Kontrolle des Vertrages durch andere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte dürfte das Bundesverfassungsgericht, das bereits mit seiner Solange-Rechtsprechung grundlegende Entscheidungen zum Verhältnis ­zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht getroffen hatte,25 motiviert haben, das Verfahren über die Vereinbarkeit des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Maastricht mit dem Grundgesetz förmlich an sich zu ziehen, um in grundlegender Weise seine Position zum Vertrag von Maastricht im Besonderen und zum euro­ päischen Integrationsprozess im Allgemeinen zu artikulieren. Mit diesem Ziel transformierte das Gericht die grundgesetzliche Gewährleistung allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl in Art.  38 Abs.  1 GG durch eine

21  Supreme Court of Ireland, Urt. v. 09.04.1987, No. 12036P – Raymond Crotty v. An Taoiseach, [1987] IR 713. Dazu näher Eoin Daly, Constitutional Identity in Ireland, in: Christian Calliess/ Gerhard van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2019, 182 (186). 22  Kritisch: Gavin Barrett, Building a Swiss Chalet in an Irish Legal Landscape? Referendums on European Union Treaties in Ireland & the Impact of Supreme Court Jurisprudence, EuConst 5 (2009), 32 ff. 23  Conseil constitutionnel, Entsch. v. 09.04.1992, Nr. 92-308 DC – Maastricht I, Rec. 55, EuGRZ 1993, 187 ff.; Entsch. v. 02.09.1992, Nr. 92-312 DC – Maastricht II, Rec. 76, EuGRZ 1993, 193 ff.; Entsch. v. 23.09.1992, Nr. 92-313 DC– Maastricht III, Rec. 94, EuGRZ 1993, 196 ff. Siehe zu diesen Entscheidungen: Peter Oliver, The French Constitution and the Treaty of Maastricht, I.C.L.Q. 43 (1994), 1 ff. 24  Tribunal Constitucional, Erkl. v. 24.07.1992, DTC 1/1992 – Maastricht, EuGRZ 1993, 285 ff. 25  Siehe BVerfGE 37, 271 – Solange I (1974); BVerfGE 73, 339 – Solange II (1986).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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akrobatische Uminterpretation zu einem subjektiven „Recht auf Demokratie“.26 Das integrationskritische Maastricht-Urteil des BVerfG von 1993 erfolgte zu einem Zeitpunkt, zu dem die EU entscheidend in der lange geforderten Transformation von einer wirtschaftlichen Gemeinschaft zu einer politischen Union voranzuschreiten schien und sendete Schockwellen durch die Lager der Föderalisten.27 Das Gericht betonte die Bedeutung staatlicher Souveränität und den intergouvernementalen Charakter der Europäischen Union mit den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“.28 Mit diesen Aussagen zur Rolle des Nationalstaats im europäischen Integrationsprozess traf das BVerfG anscheinend die Befindlichkeiten anderer mitgliedstaatlicher Verfassungs- und Höchstgerichte und wirkte gleichsam als Symbol, Katalysator und Ansporn in anderen Mitgliedstaaten.29 Jedenfalls das Urteil des Obersten Gerichtshofs Dänemarks in Carlsen v. Premierminister Rasmussen orientiert sich ersichtlich an der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.30 Die Wirkungen des Maastricht-Urteils des BVerfG gingen jedoch weit über die – mittelbare – Kontrolle des Vertrages von Maastricht hinaus: Ermutigt durch das Urteil erhoben die Verfassungsgerichte der jungen osteuropäischen Demokratien in Polen,31 Tschechien32 und Lettland,33 die erst vor kurzem der sowjetischen Fremdherrschaft entflohen waren, einen Kontrollanspruch über die Beitrittsverträge. Jede dieser Entscheidungen bestätigte die Vereinbarkeit des EU-Beitritts mit der ­Verfassung, machte jedoch zugleich grundlegende Aussagen zur staatlichen Souveränität und zur Stellung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung. Mit dem Vertrag von Lissabon nahm die Vertragskontrolle eine neue Dimension an: Nicht weniger als neun Verfassungsgerichte, die Verfassungsgerichte in Frank-

 Mit dieser Umschreibung auch BVerfGE 142, 123 (200) – OMT-Urteil (2016). Kritisch: Heiko Sauer, Demokratische Legitimation zwischen Staatsorganisationsrecht und grundrechtlichem Teilhabeanspruch, Der Staat 58 (2019), 7 ff. 27  Julio Baquero Cruz, The Legacy of the Maastricht-Urteil and the Pluralist Movement, ELJ 14 (2008), 389 (390 f.). 28  Motiviert wurde das Urteil wohl unter anderem durch die Maastricht-Entscheidungen des französischen Conseil constitutionnel und des spanischen Tribunal Constitucional, die – anders als das Bundesverfassungsgericht ohne jede Notwendigkeit der Selbstermächtigung  – von den anderen staatlichen Gewalten im Rahmen Ex-ante-Normenkontrollverfahrens mit der verfassungsrechtlichen Kontrolle befasst wurden. 29  Julio Baquero Cruz, The Legacy of the Maastricht-Urteil and the Pluralist Movement, ELJ 14 (2008), 389 (397). 30  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.04.1998, I 361/1997 – Carlsen u. a. v. Rasmussen, ZaöRV 58 (1998), 901 ff. 31  Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 11.05.2005, K 18/04 – Beitrittsvertrag. 32  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 04.03.2004, PL ÚS 1/04 – Beitrittsvertrag. 33  Lettisches Verfassungsgericht, Urt. v. 07.07.2004, Nr. 2004-01-06 – Lettischer Ordnungswidrigkeitenkodex. 26

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

reich,34 Tschechien,35 Lettland,36 Deutschland,37 Ungarn,38 Polen,39 Belgien,40 Slowenien,41 Dänemark,42 setzten sich in einer beispiellosen Aufeinanderfolge verfassungsgerichtlicher Grundlagenurteile zur europäischen Integration in der Sache mit der Vereinbarkeit des nationalen Zustimmungsgesetzes zum Vertrag mit ihrer Verfassung auseinander.43 Darüber hinaus hatten bereits die Verfassungsgerichte in Spanien,44 Frankreich,45 Belgien46 und der Slowakei47 die Vereinbarkeit des europäischen Verfassungsvertrages mit ihrer Verfassung geprüft.48 Wer dachte, dass vor dem Hintergrund der besonderen politischen Zwänge der europäischen Staatsschuldenkrise „das Ende der Fahnenstange“ einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle erreicht war, sah sich getäuscht. In nervenaufreibenden Verhandlungen beschlossen die von den internationalen Finanzmärkten gehetzten europäischen Staatsfrauen und -männer zur Rettung der Währungsunion vor dem Verfall  Conseil constitutionnel, Entsch. v. 20.12.2007, Nr. 2007-560 – Lissabon, Rec. 459.  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 26.11.2008, PL ÚS 19/08  – Lissabon I; Urt. v. 03.11.2009, Pl. ÚS 29/09 – Lissabon II. Siehe zum zweiten Lissabon-Urteil: Isabelle Ley, Brünn betreibt die Parlamentarisierung des Primärrechts, JZ 65 (2010), 165 ff. 36  Lettisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 07.04.2009, Nr. 2008-35-01 – Lissabon. 37  BVerfGE 123, 267 – Lissabon (2009). 38  Ungarisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 12.07.2010, Nr. 143/2010 – Lissabon. 39  Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 24.11.2010, K 32/09 – Lissabon. 40  Belgische Cour constitutionnelle, Entsch. v. 19.03.2009, Nr. 58/2009 – Lissabon I; Entsch. v. 16.06.2009, Nr. 125/2009 – Lissabon II; Entsch. v. 13.10.2009, Nr. 156/2009 – Lissabon III. 41  Slowenisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 17.10.2008, Nr. UI-49/08 – Lissabon. 42  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 20.02.2013, I 199/2012 – Hausgaard u. a. v. Prime Minister. Dazu Henrik Palmer Olsen, The Danish Supreme Court’s decision on the constitutionality of Denmark’s ratification of the Lisbon Treaty, CML Rev. 50 (2013), 1489 ff.; Helle Krunke, The Danish Lisbon Judgment, EuConst 10 (2014), 542 ff. 43  Für einen Überblick über die Lissabon-Vertragsverfahren aus rechtsvergleichender Sicht, siehe Mattias Wendel, Lisbon Before the Courts: Comparative Perspectives, EuConst 7 (2011), 96 ff.; Stefan Theil, What Red Lines, If Any, Do the Lisbon Judgments of European Constitutional Courts Draw for Future EU Integration?, GLJ 15 (2014), 599 ff. 44  Tribunal Constitucional, Erklär. v. 13.12.2004, DTC 1/2004  – Verfassungsvertrag, EuR 2005, 339 ff. Dazu Anne Becker, Vorrang versus Vorherrschaft. Anmerkung zum Urteil des spanischen Tribunal Constitucional DTC 1/2004, EuR 2005, 353 ff.; Camilo Schutte, Spain. Tribunal Constitucional on the European Constitution, EuConst 1 (2005), 281 ff. 45  Conseil constitutionnel, Entsch. v. 19.11.2004, Nr.  2004-505 DC  – Verfassungsvertrag, Rec. 173, EuGRZ 2005, 45 ff. 46  Dazu Francis Delpérée, Le Conseil d’État de Belgique et le traité établissant une Constitution pour l’Europe, RFDA 21 (2005), 242 ff. 47  Slowakisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 27.02.2008, Nr.  II. ÚS 171/05-175  – Verfassungsvertrag. 48  Allerdings gibt es auch Verfassungsgerichte, die die Zulässigkeit für eine solche verfassungsgerichtliche Kontrolle verneinen. Siehe insbesondere Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Beschl. v. 30.09.2008, SV 2/08-3, G 80/08-3, SV 3/08-6, G 81/08-6  – Lissabon I; Beschl. v. 11.03.2009, G 149-152/08-5, SV 5-8/08-5 – Lissabon II; Beschl. vom 12.06.2010, SV 1/10-9 – Lissabon III. Siehe zuvor bereits Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Beschl. v. 18.06.2005, G 62/05 – Verfassungsvertrag. 34 35

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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im Wesentlichen drei Maßnahmen: den im Jahr 2010 temporär errichteten Euro-­ Rettungsschirm,49 den Europäischen Stabilitätsmechanismus50 und den Europäischen Fiskalpakt.51 Trotz des dramatischen politischen Kontexts erhoben mehrere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte einen Kontrollanspruch und prüften teilweise die Vereinbarkeit der Inkorporation des ESM, teilweise die des Fiskalpakts, mit ihrer Verfassung, nämlich der estnische Supreme Court,52 der französische Conseil constitutionnel,53 der österreichische Verfassungsgerichtshof,54 der polnische Verfassungsgerichtshof,55 sowie das Bundesverfassungsgericht.56 Dabei zog insbesondere die Entscheidung des BVerfG eine beispiellose weltweite mediale Aufmerksamkeit auf sich. Bemerkenswert ist auch die Kontrolle durch den – in Fragen der Kontrolle des supranationalen Rechts typischerweise zurückhaltenden – österreichischen Verfassungsgerichtshof, der noch im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Verfassungsvertrages und des Vertrages von Lissabon die Zulässigkeit der dagegen eingelegten Verfassungsbeschwerden verneint hatte, nun aber  – dem rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungstrend folgend  – eine Prüfung des ESM vornahm und sich dabei inhaltlich erkennbar an der Position des BVerfG orientierte.57

 Der Euro-Rettungsschirm besteht aus dem durch die EU-Verordnung Nr. 407/2010 verabschiedeten Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM), der intergouvernemental vereinbarten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), sowie aus finanziellen Beiträgen des IWF. 50  Der ESM ist als dauerhafter Mechanismus zur Stabilisierung des Euro konzipiert. Er wurde durch den völkerrechtlichen Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) gezielt außerhalb des unionsrechtlichen Vertragswerks eingerichtet. Zu diesem Zweck wurde auf Grundlage des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens des Art. 48 Abs. 6 EUV in Art. 136 AEUV ein neuer Absatz 3 eingefügt, dem zufolge die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, einen Stabilitätsmechanismus einrichten können, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Zum Ganzen: Lena Ketterer, Zustimmungserfordernis beim Europäischen Stabilitätsmechanismus, 2016. 51  Der Fiskalpakt vom 02.03.2012 heißt offiziell „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“. Darüber hinaus kündigte hat die EZB an, Staatsanleihen hoch verschuldeter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe auf dem Sekundärmarkt anzukaufen. Dieser Ankündigung zugrunde liegt der sogenannte „OMT-Beschluss“ der EZB vom 6. September 2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions. Dazu BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss (2014); BVerfGE 142, 123 – OMT-Urteil (2016). 52  Estnischer Staatsgerichtshof, Urt. v. 12.07.2012, Nr. 3-4-1-6-12 – Stabilitätsmechanismus. 53  Conseil constitutionnel, Entsch. v. 09.08.2012, Nr. 2012-653 DC – Fiskalvertrag. 54  Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Entsch. v. 16.03.2013, SV 2/12-18 – ESMV & Auslegungserklärung. 55  Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 26.06.2013, K 33/12 – Stabilitätsmechanismus. 56  BVerfGE 132, 195 – Europäischer Stabilitätsmechanismus (2012). Siehe dazu die Beiträge in: GLJ 14 (2013), 1 ff. 57  Dazu näher Mattias Wendel, Richterliche Rechtsvergleichung als Dialogform: Die Integrationsrechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in gemeineuropäischer Perspektive, Der Staat 52 (2013), 339 (348  f.). Vgl. Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Entsch. v. 16.03.2013, SV 2/12-18 – ESMV & Auslegungserklärung. 49

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

2 . Kontrolle völkerrechtlicher Gründungs- und Beitrittsverträge durch den EuGH Der EuGH hat frühzeitig im europäischen Integrationsprozess eine zentrale Rolle in der EU-Außenpolitik eingenommen.58 Im Unterschied zu den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten, die sich eine solche Rolle für die Kontrolle europäischer Verträge erst nach und nach vor dem Hintergrund der veränderten Bedingungen der vernetzten Weltordnung erschlossen haben, war diese Rolle für den EuGH bereits im europäischen Primärrecht angelegt. Das hat folgende Gründe: Zunächst sieht Art. 218 Abs. 11 AEUV ausdrücklich ein – bereits im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 in Art. 228 Abs. 1 EWG vorgeschriebenes – Gutachten- bzw. Vertragsschlussverfahren vor, in dessen Rahmen ein Gutachten des Gerichtshofs über die Vereinbarkeit einer geplanten völkerrechtlichen Übereinkunft mit den Verträgen eingeholt werden kann.59 Der EuGH wird also primärrechtlich ausdrücklich dazu ermächtigt, auf Antrag die Vereinbarkeit eines völkerrechtlichen Vertrags mit dem Primärrecht noch vor dessen Abschluss zu prüfen. Die Existenz dieses speziellen Gerichtsverfahrens lässt sich auf den besonderen Charakter der supranationalen Außenpolitik der EU zurückführen. Zum einen fehlt es der EU – im Unterschied zum Bund in föderal gegliederten Nationalstaaten – an einer allgemeinen Zuständigkeit für die Außenpolitik. Entsprechend dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung60 sind die Außenkompetenztitel der Union fragmentiert, können sich nach der im AETR-Urteil61 des EuGH entwickelten „implied powers“-Doktrin auch aus einer Innenkompetenz ergeben und unterteilen sich in ausschließliche und in – mit den Mitgliedstaaten – geteilte Zuständigkeiten. Zum anderen liegt die Kompetenz für die Außenpolitik selbst im Zuständigkeitsbereich der Union – anders als in Nationalstaaten – nicht überwiegend in den Händen einer Institution, der Regierung, sondern erfordert grundsätzlich das Zusammenwirken von drei verschiedenen Institutionen, der Kommission, dem Rat und dem Europä­ ischen Parlament. Beide Faktoren begründen einen hohen Koordinationsbedarf, ein hohes Maß an Verrechtlichung und damit das institutionelle Bedürfnis nach einer judiziellen Institution als einem unparteilichen Streitentscheider im Bereich der Außenpolitik. Vor diesem Hintergrund hat der EuGH bereits in einer Vielzahl von Verfahren eine gerichtliche Kontrolle der Vereinbarkeit geplanter völkerrechtlicher Abkommen mit den europäischen Verträgen ausgeübt, etwa der OECD-Vereinbarung über eine Norm für die lokalen Kosten,62 des Übereinkommens über die Errichtung ei Siehe für einen guten Überblick: Marise Cremona/Anne Thies (Hrsg.), The European Court of Justice and External Relations Law, 2014; Pieter Kuijper, Fifty Years of EC/EU External Relations: Continuity and the Dialogue Between Judges and Member States as Constitutional Legislators, Fordham Int’l L.J. 31 (2007), 1571 ff. 59  Grundlegend zum Gutachtenverfahren: Stanislas Adam, La procédure d‘avis devant la Cour de justice de l‘Union européenne, 2011. 60  Dazu im Einzelnen: Dirk Kiekebusch, Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, 2017. 61  EuGH, Urt. v. 31.03.1971, Rs. C-22/70 – AETR, ECLI:EU:C:1971:32. 62  EuGH, Gut. v. 11.11.1975, Rs. 1/75 – Lokale Kosten, ECLI:EU:C:1975:145. 58

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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nes europäischen Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt,63 des internationalen Naturkautschuk-­Übereinkommens,64 des Abkommens über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums,65 des ILO-Übereinkommens über Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit,66 des Beschlusses des OECED-­ Rates über die Inländerbehandlung,67 des WTO, des GATS- und des TRIPS-­ Abkommens,68 des Beitritts zur EMRK69 bzw. der Übereinkunft über den EMRK-Beitritt,70 des Rahmenabkommens über Bananen,71 des Übereinkommens über die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Luftverkehrsraums,72 des Protokolls von Cartagena,73 des Lugano-Übereinkommens,74 des Marrakesch-Vertrags,75 des Abkommens zur Änderung der Listen spezifischer Verpflichtungen nach dem GATS,76 des ­Übereinkommens zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems,77 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung,78 des Fluggastdaten-Abkommens79 und der Freihandelsabkommen der EU mit Singapur80 und mit Kanada.81 Dabei prüft der EuGH zum einen rechtsordnungsinterne Kompetenzfragen der geeigneten Rechtsgrundlage zum Abschluss des Abkommens und der damit verbundenen Kompetenzverteilung zwischen Rat, Kommission und Europäischem Parlament.82 Zum anderen nimmt der EuGH unter dem Topos der Autonomie des Unionsrechts die Auswirkungen rechtsordnungsfremder Normen und institutionel-

 EuGH, Gut. v. 26.04.1977, Rs. 1/76  – Stilllegungs fonds für die Binnenschifffahrt, ECLI:EU:C:1977:63. 64  EuGH, Gut. v. 04.10.1979, Rs. 1/78  – Internationales Naturkautschuk-Übereinkommen, ECLI:EU:C:1979:224. 65  EuGH, Gut. v. 14.12.1991, Rs. 1/91 –EWR I, ECLI:EU:C:1991:490; EuGH, Gut. v. 10.04.1992, Rs. 1/92 –EWR II, ECLI:EU:C:1992:189. 66  EuGH, Gut. v. 19.03.1993, Rs. 2/91 – ILO-Konvention, ECLI:EU:C:1993:106. 67  EuGH, Gut. v. 24.03.1995, Rs. 2/92 – OECD-Beschluss, ECLI:EU:C:1995:83. 68  EuGH, Gut. v. 15.11.1994, Rs. 1/94 – WTO, ECLI:EU:C:1994:384. 69  EuGH, Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140. 70  EuGH, Gut. v. 18.12.2014, Rs. 2/13 – EMRK-Beitritt II, ECLI:EU:C:2014:2454. 71   EuGH, Gut. v. 13.12.1995, Rs. 3/94  – GATT-Rahmenabkommen über Bananen, ECLI:EU:C:1995:436. 72  EuGH, Gut. v. 18.04.2002, Rs. 1/00 – Europäischer Luftverkehrsraum, ECLI:EU:C:2002:231. 73  EuGH, Gut. v. 06.12.2001, Rs. 2/00 – Protokoll von Cartagena, ECLI:EU:C:2001:664. 74  EuGH, Gut. v. 07.02.2006, Rs. 1/03 – Lugano-Übereinkommen, ECLI:EU:C:2006:81. 75  EuGH, Gut. v. 14.02.2017, Rs. 3/15 – Marrakesch-Vertrag, ECLI:EU:C:2017:114. 76  EuGH, Gut. v. 30.11.2009, Rs. 1/08 – GATS-Listen, ECLI:EU:C:2009:739. 77  EuGH, Gut. v. 08.03.2011, Rs. 1/09 – Europäisches Patentgericht, ECLI:EU:C:2011:123. 78  EuGH, Gut. v. 14.10.2014, Rs. 1/13 – Kindesentführung, ECLI:EU:C:2014:2303. 79  EuGH, Gut. v. 26.07.2017, Rs. 1/15 – Fluggastdaten-Abkommen, ECLI:EU:C:2017:592. 80  EuGH, Gut. v. 16.05.2017, Rs. 2/15 – EU-Singapur Freihandelsabkommen, ECLI:EU:C:2017:376. 81  EuGH, Gut. v. 30.04.2019, Rs. 1/17 – CETA, ECLI:EU:C:2019:341. 82  Diese Fragen stehen im Vordergrund bei: EuGH, Gut. v. 15.11.1994, Rs. 1/94  – WTO, ECLI:EU:C:1994:384; Gut. v. 06.12.2001, Rs. 2/00 – Protokoll von Cartagena, ECLI:EU:C:2001:664. 63

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

ler Arrangements auf die Unionsrechtsordnung in den Blick.83 Hinter dem Topos der Autonomie des Unionsrechts steht das Anliegen, die verfassungsrechtlichen Strukturmerkmale sowie das interne institutionelle Gleichgewicht der EU zu wahren und Verschiebungen durch die Einbindung der EU in Formen institutionalisierter internationaler Kooperation zu verhindern.84 Insbesondere diese Dimension der Vertragskontrolle des EuGH entspricht in ihrer Ausrichtung der oben umschriebenen Vertragskontrolle nationaler Verfassungsgerichte.85 Wie diese, verwendet der EuGH die Vertragskontrolle dazu, um das Verhältnis zwischen der Unionsrechtsordnung und einer anderen inter- oder supranationalen Rechtsordnung bzw. zwischen den Unionsorganen und anderen inter- oder supranationalen Institutionen abzustecken.86  So erstmals in EuGH, Gut. v. 26.04.1977, Rs. 1/76 – Stilllegungs fonds für die Binnenschifffahrt, ECLI:EU:C:1977:63, Rn. 12, insoweit er „Probleme“ anspricht, „welche sich aus den Erfordernissen der auswärtigen Beziehungen der Gemeinschaft notwendigerweise ergeben, sondern zugleich die Handlungsfreiheit der Gemeinschaft in ihren auswärtigen Beziehungen aufgibt und die innere Verfassung der Gemeinschaft modifiziert, indem es im Hinblick sowohl auf die Vorrechte der Organe als auch auf die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten zueinander wesentliche Strukturelemente der Gemeinschaft verändert“. 84  Andrej Lang, Der Europäische Gerichtshof und die Investor-Staat-Streitbeilegung in TTIP und CETA: Zwischen Konfrontation, Konstitutionalisierung und Zurückhaltung, in: Sinthiou Buszewski/Stefan Martini/Hannes Rathke (Hrsg.), Freihandel vs. Demokratie, 2016, 83 (89). Grundlegend zu der hinter dem Begriff der Autonomie stehenden Souveränitätskonzeption des EuGH: Andreas Bergmann, Zur Souveränitätskonzeption des Europäischen Gerichtshofs, 2018. 85  Oben Dritter Teil, Kap. 14, A., I., 1. 86  So nahm der EuGH im Gutachten 1/76 Stellung zu der geplanten Besetzung des Gerichts des Binnenschifffahrt-Stilllegungsfonds mit EuGH-Richtern und den daraus resultierenden Folgen für die Unbefangenheit der EuGH-Richter bei parallel, also vor dem EuGH und dem Gericht des Fonds, anhängigen Verfahren. EuGH, Gut. v. 26.04.1977, Rs. 1/76 – Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt, ECLI:EU:C:1977:63, Rn. 22. Im Gutachten 1/91 thematisierte der EuGH die Ausgestaltung der Koordination zwischen der Rechtsprechung des geplanten EWR- und später eingerichteten EFTA-Gerichtshof mit der des EuGH. EuGH, Gut. v. 14.12.1991, Rs. 1/91 –EWR I, ECLI:EU:C:1991:490, Rn. 37 ff. Im Gutachten 2/94 prüfte der EuGH, ob der Beitritt der damaligen EG zur EMRK auf Grundlage der Generalklausel des damaligen Art. 235 EGV (heute Art. 352 AEUV) vollzogen werden durfte oder ob die Einfügung einer speziellen Rechtsgrundlage in das Primärrecht erforderlich war, weil die Einbindung der EG in das EMRK-System „von verfassungsrechtlicher Dimension“ ist und „grundlegende institutionelle Auswirkungen“ auf die Gemeinschaftsrechtsordnung hat. EuGH, Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94  – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140, Rn. 35. Im Gutachten 1/09 befasste sich der EuGH mit den Konsequenzen des geplanten Vorlagemechanismus zwischen dem europäischen Patentgericht und dem EuGH auf das unionale Vorabentscheidungsverfahren zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten. EuGH, Gut. v. 08.03.2011, Rs. 1/09  – Europäisches Patentgericht, ECLI:EU:C:2011:123, Rn. 81 ff. Schließlich beschäftigte sich der EuGH im grundlegenden Gutachten 2/13 mit dem Entwurf der Übereinkunft über den Beitritt der EU zur EMRK (Übereinkunftsentwurf – „ÜE“) und dessen Auswirkungen auf die Autonomie der Unionsrechtsordnung und die Stellung des Gerichtshofs selbst. Dabei setzte sich der EuGH eingehend mit rechtsordnungsfremden Normen und institutionellen Arrangements auseinander, wie der Befugnis der Konventionsstaaten zu einem höheren Grundrechtsschutz nach Art.  53 EMRK (Rn.  187  ff.), dem Staatenbeschwerdeverfahren nach Art. 33 EMRK (Rn. 201 ff.), der Ausgestaltung des Mitbeschwerdegegner-Mechanismus zwischen der EU und den EU-Mitgliedstaaten vor dem EGMR gem. Art.  3 ÜE (Rn.  215  ff.), der in 83

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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3. Fälle der Vertragskontrolle außerhalb Europas Auch wenn die mittlerweile im EU-Kontext routinemäßig durchgeführte Vertragskontrolle im globalen Vergleichsmaßstab hinsichtlich ihrer Intensität und ihrem Verbreitungsgrad einzigartig ist, zeichnet sich auch außerhalb Europas in Grundzügen eine Praxis der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle ab. In Lateinamerika etwa haben die Verfassungsgerichte Kolumbiens und Chiles die Inkorporation des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs am Maßstab ihrer jeweiligen Verfassung geprüft.87 Wie ihre Kollegen aus den EU-Mitgliedstaaten wählen die Verfassungsrichter das Ratifizierungsgesetz als Kontrollgegenstand. Das kolumbianische Verfassungsgericht bestätigte nach differenzierter verfassungsrechtlicher Prüfung die Vereinbarkeit des Ratifikationsgesetzes zum Römischen Statut mit der Verfassung,88 mahnte jedoch gleichzeitig eine enge Auslegung bestimmter Vertragsbestimmungen durch nationale Gerichte an, die der nationalen Rechtstradition fremd seien,89 wie etwa der Ausschluss von Verjährungsregelungen90 und vermutlich von Amnestien.91 Das chilenische Tribunal Constitucional ging einen anderen Weg: In einer Entscheidung von 2002 befand es die Gerichtsbarkeit des IStGH ohne entsprechende Verfassungsänderung für verfassungswidrig.92 Dabei erinnert die Argumentation EMRK-Protokoll Nr. 16 vorgesehenen Möglichkeit für die höchsten Gerichte der Konventionsstaaten, den EGMR um Gutachten über Grundsatzfragen zu ersuchen (Rn.  196  ff.) sowie der Rechtsprechung des EGMR betreffend den unionalen Raum der Freiheit, Sicherheit und Justiz (Rn. 191 ff.). EuGH, Gut. v. 18.12.2014, Rs. 2/13 – EMRK-Beitritt II, ECLI:EU:C:2014:2454. 87  Kolumbianisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 30.07.2002, C-578/02  – Rom Statut; Chilenisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 08.04.2002, Nr. 346 – Rom Statut. 88  Kolumbianisches Verfassungsgericht, ebd., Rn. 53. 89  Ebd., Rn. 50 ff. 90  Siehe Art. 29 des ISG-Statuts. 91  Zwar enthält das ISG-Statut keine Bestimmung zur Zulässigkeit von Amnestien, allerdings wurde nach der Verabschiedung des Statuts diskutiert, ob Amnestien mit dem ISG-Statut unvereinbar sind, weil dessen Ziel gerade in der Beendigung von Straffreiheit liegt. Zu dieser Diskussion: Diba Majzub, Peace or Justice? Amnesties and the International Criminal Court, MJIL 3 (2002). Für lateinamerikanische Staaten liegt hier ein Problem, weil Amnestien in Lateinamerika traditionell ein zentrales Instrument zur Befriedung politischer Konflikte sind. Dieser Praxis ist der IAGMR insbesondere in seiner berühmten Barrios Altos-Entscheidung von entgegengetreten. Siehe IAGMR, Urt. v. 14.03.2001, Series C, No. 75 – Barrios Altos v. Peru. Diese Rechtsprechung des IAGMR zitiert das kolumbianische Verfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Römischen Statut, wenn es darauf hinweist, dass auch nach der kolumbianischen Verfassung Amnestien für schwere Menschenrechtsverletzungen unzulässig sind. Kolumbianisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 30.07.2002, C-578/02 – Rom Statut, Teil 4.3.2.1.7. Das Gericht besteht allerdings da­ rauf, dass Amnestien in bestimmten Konstellationen, etwa im Fall politischer Verbrechen, zulässig bleiben müssen. Instruktiv zur Rolle des IAGMR im Bereich der Amnestien: Christina Binder, Auf dem Weg zum lateinamerikanischen Verfassungsgericht? Die Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs im Bereich der Amnestien, ZaöRV 71 (2011), 1 ff. 92  Chilenisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 08.04.2002, Nr.  346  – Rom Statut. Dazu Rodrigo Correa, Chile, ICON 1 (2003), 130 ff.; José Estay, The Impact of the Jurisprudence Inter-American Court of Human Rights on the Chilean Constitutional System, in: Rainer Arnold (Hrsg.), The

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

des Tribunals in Teilen an die Rechtsprechung des französischen Conseil constitutionnel. Danach zählt die Gerichtsbarkeit der chilenischen Gerichte zu elementaren Gewährleistungen der nationalen Souveränität. Da die Gerichtsbarkeit des IStGH nicht ausschließlich komplementären, sondern teilweise auch korrektiven oder substitutiven Charakter habe, beeinträchtige das Römische Statut die Souveränität Chiles und könne daher nur durch eine Verfassungsänderung ratifiziert werden.93 In der Folge wurde das Römische Statut in Chile erst im Jahr 2009 ratifiziert. Eine Sonderkonstellation betrifft die Entscheidung des Judicial Committee des Privy Council über die Anerkennung des Karibischen Gerichtshofs durch Jamaika als oberste Berufungsinstanz.94 Gegenwärtig ist der in London ansässige Privy Council das oberste Berufungsgericht für die überseeischen Gebiete des Vereinigten Königreichs, einschließlich Jamaikas. Für die Mitgliedstaaten der Karibischen Gemeinschaft erfüllt der Karibische Gerichtshof eine doppelte Funktion: Er ist einerseits das zuständige Gericht für die Auslegung und Anwendung des Rechts der Karibischen Gemeinschaft, andererseits kann er auch als oberste Berufungsinstanz in den Mitgliedstaaten der Karibischen Gemeinschaft fungieren, soweit diese dessen Gerichtsbarkeit als Berufungsgericht verbindlich anerkennen. In Jamaika wurden 2004 entsprechende Gesetze verabschiedet. Aufgrund der dagegen erhobenen Verfassungsbeschwerden musste der Privy Council ironischerweise darüber entscheiden, ob es mit der jamaikanischen Verfassung vereinbar ist, dass er selbst durch den Karibischen Gerichtshof als oberstes Berufungsgericht Jamaikas ersetzt wird. Mit anderen Worten: Der Privy Council wurde zum Richter in eigener Sache. Der Privy Council entschied, dass die Übertragung der Funktion als oberstes jamaikanisches Berufungsgericht auf den Karibischen Gerichtshof zwar grundsätzlich zulässig sei, wegen Veränderung der Struktur der durch Kapitel VII der Verfassung von Jamaika gewährleisteten Judikative aber einer Verfassungsänderung bedürfe. Im Ergebnis bleibt das Judicial Committee des Privy Council damit – mangels verfassungsändernder Mehrheit für eine Ersetzung – das oberste Berufungsgericht Jamaikas.95

universalism of human rights, 2012, 63 (71). 93  Rodrigo Correa, ebd., 131 f. 94  Privy Council, Urt. v. 03.02.2005, [2005] UKPC 3 (Jamaica) – Independent Jamaica Council for Human Rights (1998) Ltd v Marshall-Burnett. Dazu Nadia Bernaz, Delivering justice in the Caribbean: A human rights assessment of the Caribbean Court of Justice, P.L. 2012, 703 (706 f.). 95  Hier lassen sich gewisse Parallelen zum Gutachten des EuGH zum Beitritt der EU zur EMRK erkennen. Der EuGH entschied, dass ein Beitritt zur EMRK auf Grundlage der gegenwärtigen vertraglichen Rechtsgrundlage nicht möglich sei, sondern einer Vertragsänderung bedürfe. EuGH, Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140. Dadurch erschwerte der Gerichtshof die Anforderungen für einen Beitritt in einer Weise, die die politischen Akteure für einen langen Zeitraum nicht erfüllten. Gleichzeitig wehrte der EuGH damit – ähnlich wie der Privy Council – einen verstärkten Einfluss seines gerichtlichen Konkurrenten, des EGMR, im Bereich der EU ab. Dazu Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuR 2006, 79 (79 f.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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II. Mechanismen der Vertragskontrolle 1. Die Mechanismen der Europa-Urteile nationaler Verfassungsgerichte a. Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ohne Feststellung der Verfassungswidrigkeit Ein auffälliges Merkmal der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle ist die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Aufmerksamkeit, mit der diese Urteile begleitet werden, durch die der Eindruck entstehen kann, dass die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses maßgeblich von dem konkreten Vertragsurteil abhängt, und dem Mangel an materiell-rechtlichen Hindernissen für die Ratifizierung eines Vertrages, die aus einem solchen Urteil resultieren. Verfassungsgerichte prüfen bereitwillig die Verfassungsmäßigkeit eines europäischen Vertrages, schrecken aber gleichzeitig davor zurück, die Unvereinbarkeit des Vertrages mit der Verfassung festzustellen und damit die Ratifizierung eines inter- oder supranationalen Gründungsvertrages zu verhindern. Obwohl die Entscheidungsgründe regelmäßig die zentrale Bedeutung nationaler Souveränität oder Demokratie hervorheben und dem europäischen Integrationsprozess mit einer gewissen Skepsis begegnen, wird der Vertrag im Ergebnis mit der Verfassung für vereinbar erklärt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie Verfassungsgerichte den durch das positive Recht vorgegebenen verfassungsprozessualen Rahmen kreativ ausweiten und weiterentwickeln, um die prozedurale Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Kontrolle des inter- und supranationalen Vertragsrechts zu gewährleisten, obwohl dann im Ergebnis die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages bestätigt wird. Dahinter steht folgende Erwägung: Wenn Verfassungsgerichte die Vertragskontrolle als Vehikel für die Einflussnahme auf das inter- und supranationale Recht nutzen möchten, müssen sie prozedurale Möglichkeiten schaffen, damit sie „angerufen“ werden können. Das markanteste Beispiel ist das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem das Gericht die „normale“ Verfassungsbeschwerde zur „Integrationsverfassungsbeschwerde“ transformiert,96 um die verfassungsprozessuale Abwesenheit einer präventiven Normenkontrolle97 oder eines Gutachten Roman Lehner, Die „Integrationsverfassungsbeschwerde“ nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG: prozessuale und materiell-rechtliche Folgefragen zu einer objektiven Verfassungswahrungsbeschwerde, Der Staat 52 (2013), 535 ff. 97  Der französische Conseil constitutionnel, der nach dem Kelsenschen Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestaltet wurde, verfügt über eine weitreichende präventive Normenkontrollbefugnis, die sich nach Art. 54 der französischen Verfassung ausdrücklich auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von inter- und supranationalen Verträgen vor ihrer Ausfertigung bzw. Verkündung erstreckt. Im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht war der Verfassungsrat jedoch lange darauf beschränkt, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ausschließlich ex-ante vor der Verkündung zu überprüfen. Erst mit der Verfassungsänderung vom 23.07.2008 wurde in Form der question prioritaire de constitutionnalité eine konkreten Normenkontrollbefugnis eingefügt, die dem Verfassungsrat eine ex-post Kontrolle von bereits in Kraft getretenen Gesetzen ermöglicht. Verfassungsgesetz Nr. 2008-724 v. 23.07.2008. Siehe zur konkreten Normenkontrolle durch den 96

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

verfahrens98 zu kompensieren. Das grundrechtsgleiche Recht auf Wahl der Bundestagsabgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl in Art. 38 GG wird so ausgelegt, dass es auch das subjektive Recht auf die Repräsentation durch ein Parlament mit substanziellen Entscheidungsbefugnissen umfasst. Dem Bürger wird ein Anspruch auf die Wahl eines Bundestages zugesprochen, dem „Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischen Gewicht“ verbleiben.99 Durch diese Konstruktion macht das BVerfG den Einzelnen zum „privaten Staatsanwalt“ für die Gewährleistung des Schutzes verfassungsrechtlicher Prinzipien im Zuge des europäischen Integrationsprozesses100 und verschafft sich selbst gleichsam eine von der Bereitschaft der politischen Organe zur Initiierung eines Verfassungsprozesses unabhängige prozedurale Möglichkeit zur Kontrolle über europäische Vertragsänderungen.101 Ergänzt – und insofern an eine präventive Conseil: Nikolaus Marsch, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Nikolaus Marsch/Yoan Vilain/Mattias Wendel (Hrsg.), Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, 2015, § 6, Rn. 59 ff. 98  Nach Art. 218 Abs. 11 AEUV können ein Mitgliedstaat, das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission vor Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages ein Gutachten des Gerichtshofs über die Vereinbarkeit einer geplanten Übereinkunft mit den Verträgen einholen. Von dieser Möglichkeit einer präventiven Rechtmäßigkeitskontrolle wurde u. a. in folgenden Fällen Gebrauch gemacht: EuGH, Gut. v. 11.11.1975, Rs. 1/75  – Lokale Kosten, ECLI:EU:C:1975:145; Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt II, ECLI:EU:C:1996:140; Gut. v. 06.12.2001, Rs. 2/00 – Protokoll von Cartagena, ECLI:EU:C:2001:664. Zur rechtspolitischen Frage der Einführung eines Gutachtenverfahrens in Deutschland: Frank Burmeister, Gutachten des Bundesverfassungsgerichts zu völkerrechtlichen Verträgen, 1998. 99  BVerfGE 89, 155 (207) – Maastricht (1993). Art. 38 GG hat demzufolge einen „grundlegende(n) demokratische(n) Gehalt“. Ebd., 171. Das Recht auf Teilnahme an der Wahl der Bundestagsabgeordneten ist verletzt, „wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages so weitgehend auf ein von den Regierungen gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften übergeht, dass die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden“. Ebd., 172. 100  Im Kontext der EU hat J.H.H. Weiler die Kombination aus dem Grundsatz der unmittelbaren Wirkung des Unionsrecht und dem Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV treffend als „Modell des privaten Staatsanwalts“ bezeichnet. Siehe J.H.H. Weiler, Journey to an Unknown Destination: A Retrospective and Prospective of the European Court of Justice in the Arena of Political Integration, JCMS 31 (1993), 417 (421). Inwieweit die prozessuale Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts tatsächlich mit der Rechtsprechung des EuGH vergleichbar ist, wird in der deutschen Rechtswissenschaft kontrovers diskutiert. Dafür: Klaus Gärditz/Christian Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen, JZ 64 (2009), 872 (872  f.); dagegen: Matthias Ruffert, Die Europäische Schuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht, EuR 2011, 842 (845 f.). 101  Die abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG setzt einen Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages voraus. Wenn aber nur eine handvoll europakritischer Abgeordneter eine verfassungsgerichtliche Überprüfung des Zustimmungsgesetzes zu einem europäischen Vertrag begehren, muss das Bundesverfassungsgericht, will es in der Sache entscheiden, eine alternative prozedurale Zugangsmöglichkeit schaffen. Diese Funktion erfüllt die „Integrationsverfassungsbeschwerde“, die im CETA-Verfahren eine neue Dimension erreicht hat. Dort haben sich in der größten Bürgerklage in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland fast 200.000 Bürger – genau: 193.092 Bürger – als Beschwerdeführer an den Verfassungsbeschwerden gegen die Rati-

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Normenkontrolle oder ein Gutachtenverfahren weiter angenähert – wird die Inte­ grationsverfassungsbeschwerde durch ein sich herausbildendes institutionelles Arrangement, das vom Grundgesetz in dieser Form nicht vorgesehen ist. Danach setzt der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin die Ratifizierung des Vertrages bis nach der Überprüfung durch das BVerfG aus.102 Auf den ersten Blick erscheinen die Rechtsprechung des französischen Conseil constitutionnel sowie des spanischen und des chilenischen Tribunal Constitucional als Ausnahme zu der These, dass Verfassungsgerichte die Ratifizierung eines Vertrages nicht mit nur schwer überwindbaren materiell-rechtlichen Hindernissen belasten wollen. Im Rahmen ihrer Kontrolle des Maastricht-Vertrages bzw. des Römischen Statuts haben das spanische bzw. das chilenische Tribunal Constitucional die Inkorporation des Vertrages für unvereinbar mit ihrer Verfassung erklärt.103 In Frankreich hat sich sogar eine fest etablierte Praxis entwickelt, wie die Entscheidungen zu den europäischen Verträgen von Maastricht, zum Verfassungsvertrag und von Lissabon sowie – außerhalb der EU – zum Römischen Statut belegen, nach der der Verfassungsrat den nationalen Inkorporationsakt in der zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Fassung für unvereinbar mit der französischen Verfassung betrachtet.104 So sah der Conseil bei der Übertragung von Kompetenzen an die EU in Bereichen, die traditionell als wesentliche Bestandteile staatlicher Souveränität verstanden werden, wie Polizei, Währung oder Justiz, oder in der Einführung von ­Verfahren auf europäischer Ebene, durch die Frankreich sein Veto-Recht verliert, eine mit der Verfassung – in ihrer gegenwärtigen Form – unvereinbare Beeinträchtigung der sogenannten conditions essenzielles d‘exercice de la souveraineté, der essenziellen Bedingungen für die Ausübung nationaler Souveränität. Wie passt das mit der Beobachtung zusammen, dass Verfassungsgerichte davor zurückschrecken, die Ratifizierung eines inter- oder supranationalen Gründungsvertrages zu verhindern? In keinem dieser Fälle wurde die Ratifizierung des Vertrages im Ergebnis verhindert. Und das war für den Verfassungsrat nicht nur absehbar, sondern er konnte fest mit diesem Ausgang rechnen. Einerseits sind die Anforderungen an eine Verfassungsänderung in Frankreich niedrig,105 andererseits wurde das Verfahren in alfizierung des Comprehensive Economic and Trade Agreement zwischen der EU und Kanada durch Deutschland gewendet. Vgl. BVerfGE 143, 65 – CETA (2016). 102  Jedenfalls haben die Bundespräsidenten Herzog und Köhler die Ratifizierung der Verträge von Maastricht und des Europäischen Verfassungsvertrag bis nach der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ausgesetzt. 103  Für das spanische Verfassungsgericht: Tribunal Constitucional, Erklärung v. 24.07.1992, DTC 1/1992 – Maastricht, EuGRZ 1993, 285 ff. Grund war, dass nach Auffassung des Tribunals ein Kommunalwahlrecht für EU-Bürger nicht ohne Änderung der spanischen Verfassung eingeführt werden durfte. Für das chilenische Verfassungsgericht: Chilenisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 08.04.2002, Nr. 346 – Rom Statut. 104  David Marrani, A Love-Hate Relationship: France and European law, CJEL 16 (2010), 171 (180). 105  In Frankreich kann die Verfassung grundsätzlich durch eine Mehrheit von drei Fünfteln der Abgeordneten in der Nationalversammlung und im Senat geändert werden.

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len diesen Fällen von der Exekutive eingeleitet, die den Vertrag selbst ausgehandelt und ein vitales Interesse an seiner Ratifizierung hatte. Eine nähere Betrachtung dieser Rechtsprechungspraxis zeigt, dass auch in Frankreich aus der Vertragskontrolle kein wesentliches Hindernis für den europäischen Integrationsprozess folgt, sondern diese vor allem der innerstaatlichen Legitimierung durch Einforderung verfassungsändernder Mehrheiten sowie der Vorbeugung zukünftiger rechtsordnungsübergreifender Verfassungskonflikte zu dienen scheint.106 Die verfassungsgerichtliche Kontrolle trägt regelmäßig zur Legitimierung der geprüften Gesetze bei.107 Dieser Aspekt tritt bei der Vertragskontrolle deutlich hervor: Diese Rechtsprechungspraxis zielt nicht darauf ab, die nationalstaatliche Zustimmung zu einem ausgehandelten völkerrechtlichen Vertrag zu vereiteln, sondern darauf, eine höhere legitimatorische Wirkung der Vertragsratifikation zu erreichen, indem es zu einem Legitimationsakt durch den Verfassungsgeber – und nicht nur durch den einfachen Gesetzgeber – kommt. Genau das will der Conseil constitutionnel mit seiner weiten Auslegung der conditions essenzielles im Rahmen der präventiven Normenkontrolle des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag anscheinend erreichen.108 Die vom Verfassungsrat so definierten verfassungsrechtlichen Grenzen haben nicht dazu geführt, dass Frankreich dem jeweiligen europäischen Vertrag in dieser Form nicht zustimmen konnte. Vielmehr kann eine Beeinträchtigung der conditions essenzielles – im Unterschied zu der selbst der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogenen Ewigkeitsklausel des Art.  79 Abs.  3 GG  – durch eine Verfassungsänderung durch den französischen Verfassungsgeber geheilt werden.109 Hindernisse für die Teilnahme Frankreichs am europäischen Integrationsprozess sind durch diese Rechtsprechung bislang nicht entstanden, weil der französische Gesetzgeber mit verfassungsändernder Mehrheit stets einen vom Conseil festgestellten Widerspruch zwischen Vertrag und Verfassung durch eine Verfassungsänderung beseitigt hat.110  Vgl. François-Xavier Millet, Constitutional Identity in France, in: Christian Calliess/Gerhard van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2019, 134 (138 f.). Ein Sonderfall ist das Crotty-Urteil, in dem der irische Supreme Court für die Zustimmung zu einem europäischen Vertrag ein Referendum forderte. Supreme Court of Ireland, Urt. v. 09.04.1987, No. 12036P – Raymond Crotty v. An Taoiseach, [1987] IR 713. Hier zielt das Gericht zwar – wie der französische Verfassungsrat – ersichtlich auf eine stärkere Legitimierung der Übertragung von Hoheitsrechten ab, nimmt aber – anders als der Verfassungsrat – ein erhebliches Risiko in Kauf, dass angesichts der relativen Unberechenbarkeit von Volksentscheiden die Zustimmung zum Vertrag vereitelt wird. 107  Oben, Kap. 5, C. Eingehend: Charles Black, The People and the Court, 1960, 34 ff. 108  Christian Walter, Der französische Verfassungsrat und das Recht der Europäischen Union, EuGRZ 2005, 77 (83). 109  Dazu Fromont süffisant: „In der französischen Rechtsordnung ist der Verfassungsgeber souverän, nicht das Verfassungsgericht wie in der deutschen Rechtsordnung.“ Michel Fromont, Europa und nationales Verfassungsrecht nach dem Maastricht-Urteil  – Kritische Bemerkungen, JZ 50 (1995), 800 (803). 110  Catherine Haguenau-Moizard, Offene Staatlichkeit: Frankreich, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd II, 2008, § 15, 37 (55). So wurde die Unvereinbarkeit des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger mit der französi106

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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In dieses Schema fügt sich auch die sich seit einigen Jahren herauskristallisierende Neigung mancher Verfassungsgerichte ein, etwa des ­Bundesverfassungsgerichts und des Conseil constitutionnel, bestimmte parlamentarische Beteiligungs- und Entscheidungsrechte im innerstaatlichen Bereich einzufordern, um das nationale System der Gewaltenteilung im europäischen Integrationsprozess zu g­ ewährleisten und in diesem Zusammenhang insbesondere den Einfluss des nationalen Parlaments zu sichern.111 Obwohl diese Verfassungsgerichte die Inkorporation des betreffenden europäischen Vertrages ohne die Einrichtung entsprechender parlamentarischer Rechte als verfassungswidrig eingestuft haben, stellen diese verfassungsrechtlichen Bedingungen nicht die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages als solches infrage, ­sondern beschränken sich auf die Einrichtung ergänzender ­rechtsordnungsinterner ­Verfahren. Der ausgehandelte Vertrag kann bestehen bleiben, die Vertragsparteien werden nicht mit Verlangen nach der Änderung des Vertragswerks belastet. Die ­geltend gemachten verfassungsrechtlichen Einwände können durch innerstaatliche Maßnahmen behoben werden. Die Einwände werden nicht externalisiert, sondern internalisiert. Zudem resultierten aus dieser Internalisierung keine politisch ­unüberwindbaren Ratifizierungshindernisse, weil die Erfüllung dieser Bedingungen zum Zeitpunkt des Urteils – und wie sich herausstellte mit Recht – als sehr wahrscheinlich erschien.112 Differenziert ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des chilenischen Tribunal Constitucional zum Römischen Statut aus dem Jahr 2002 zu beurteilen, die, wie bereits angesprochen, viele Parallelen zu der – in der Entscheidung auch schen Verfassung durch die Einführung des Art.  88-3 CF geheilt, der in Frankreich ansässigen Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten das Wahlrecht bei Kommunalwahlen gewährt. Ebd., 56. Siehe auch Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008 63 (69). Eine Ausnahme ist die Entscheidung des Verfassungsrats zur Europä­ ischen Charta zum Schutze von Minderheiten, wo mangels Verfassungsänderung die Ratifikation nicht erfolgte. Siehe Christian Walter, Der französische Verfassungsrat und das Recht der Europä­ ischen Union, EuGRZ 2005, 77 (78). 111  In Deutschland bestimmte das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil, dass im Zusammenhang mit den unionsrechtlichen Verfahren der dynamischen Vertragsentwicklung, dem vereinfachten Vertragsänderungsverfahren nach Art.  48 Abs.  6 EUV, der allgemeinen Brückenklausel nach Art. 48 Abs. 7 EUV, der Flexibilitätsklausel nach Art. 352 AEUV, dem Notbremseverfahren nach Art. 82 Abs. 3, Art. 83 Abs. 3 AEUV sowie der dynamischen Blankettermächtigung nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. AEUV, jeweils die Zustimmung Deutschlands eine vorherige Zustimmung des Gesetzgebers voraussetzt. BVerfGE 123, 267 (434 ff.) – Lissabon (2009). In Frankreich forderte der Conseil Constitutionnel  – deutlich weniger weitgehend als das Bundesverfassungsgericht – in seinen Urteilen zum Verfassungsvertrag und zum Vertrag von Lissabon die Schaffung nationaler Verfahren, die den beiden Kammern des Parlaments die Möglichkeit verschaffen, bestimmte im Verfassungsvertrag eingeräumte Rechte nationaler Parlamente wahrzunehmen. Conseil constitutionnel, Entsch. v. 19.11.2004, Nr.  2004-505 DC  – Verfassungsvertrag, Rec. 173, Rn. 36; Entsch. v. 20.12.2007, Nr. 2007-560 DC – Lissabon, Rec. 459, Rn. 26. Anders aber der polnischer Verfassungsgerichtshof, der die Einbindung des Parlaments nicht als Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern des politischen Prozesses betrachtet. Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 24.11.2010, K 32/09 – Lissabon, Teil III.2.6. 112  In Deutschland etwa wurde wenige Monate nach dem Lissabon-Urteil das sog. Integrationsverantwortungsgesetz vom 22.09.2009 verabschiedet, BGBl. I, 3022.

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zitierten – Rechtsprechung des Conseil constitutionnel aufweist. Wie für den Conseil steht für das Tribunal die Gewährleistung der nationalen Souveränität im Vordergrund, und wie in Frankreich sind in Chile die Anforderungen an eine Verfassungsänderung vergleichsweise gering.113 Darüber hinaus dürfte das Erfordernis einer verfassungsändernden Mehrheit zur Ratifizierung des Römischen Status im Endeffekt zu einer breiteren Akzeptanz des Statuts in Chile beigetragen haben.114 Im Unterschied zur Situation in Frankreich verzögerte sich der Ratifizierungsprozess durch die Entscheidung des chilenischen Verfassungsgerichts allerdings um mehrere Jahre. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass die aus einer mangelnden Vertragsratifizierung resultierenden Probleme des kollektiven Handelns und die damit verbundenen politischen Komplikationen im EU-Kontext beträchtlich größer sind als im Zusammenhang mit dem Römischen Statut.115 Es ist deshalb fraglich, ob das chilenische Tribunal Constitucional am Erfordernis einer Verfassungsänderung auch in einem anderen Zusammenhang festgehalten hätte, wenn Zweifel am Zustandekommen einer solchen Mehrheit bestanden hätten. Es bleibt dabei: Im Ergebnis ist die Ratifizierung eines inter- oder supranationalen Gründungsvertrages in keinem der diskutierten Fälle vereitelt worden; in den internationalen Beziehungen wurden keine Probleme des kollektiven Handelns verursacht. Soweit das Verfassungsgericht Verfassungsänderungen als Bedingung für die Ratifizierung eines Vertrages verlangte, bestand regelmäßig Gewissheit, dass die politischen Akteure diese verfassungsrechtlichen Voraussetzungen schaffen würden. b. Die Zielrichtung des Vertragsurteils: Abstecken der Grundlagen des Verhältnisses zwischen dem rechtsordnungseigenen und dem rechtsordnungsfremden Recht Verfassungsgerichte mögen davor zurückschrecken, den rechtsordnungseigenen Übertragungsakt zu kassieren, jedenfalls soweit Unsicherheiten bestehen, ob der Vertrag dennoch ratifiziert werden kann; sie – ganz besonders das Bundesverfassungsgericht – sind aber selbstbewusst genug, um bestimmte Leitlinien für den Um-

 Erforderlich ist eine Mehrheit von 3/5 der Abgeordneten in beiden Kammern.  Denn zum Zeitpunkt des Urteils war der Beitritt Chiles zum Statut Gegenstand einer hitzigen politischen Kontroverse und die für eine Verfassungsänderung erforderliche Mehrheit gab es nicht. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Festnahme Pinochets in London im Jahr 1998, in dem auch das Rom-Statut unterzeichnet wurde. Insbesondere die politische Rechte erblickte in der Festnahme des früheren chilenischen Staatschefs eine Verletzung chilenischer Souveränität, die auch die Einstellung zum Römischen Statut belastete. Dazu näher Rodrigo Correa, Chile, ICON 1 (2003), 130 ff. Im Jahr 2009 aber stimmten das Abgeordnetenhaus und der Senat der Ratifizierung des Statuts mit großer Mehrheit zu. Im Senat stimmten 34 von 36, im Abgeordnetenhaus 89 von 96 Abgeordneten für die Ratifizierung. Siehe www.pgaction.org/news/chile-rome-statute-icc.html (30.12.2019). 115  Auch im Fall der Entscheidung des Privy Councils stand – insofern durchaus vergleichbar mit der Ratifizierung des Rom-Statuts – nicht die Mitgliedschaft Jamaikas oder eine für alle Mitgliedstaaten der Karabischen Gemeinschaft verbindlich geltende Vereinbarung auf dem Spiel. 113 114

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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gang mit dem Recht der fremden Rechtsordnung vorzugeben – für die eigenen wie für die rechtsordnungsfremden Institutionen. Bei der Lektüre der Europa-Urteile anlässlich der Vertragskontrolle verschiedener nationaler Verfassungsgerichte fällt auf, dass die konkrete, normbezogene, auf den Streitgegenstand begrenzte Entscheidungsbegründung, wie sie traditionell dem Idealtypus richterlichen Entscheidens entspricht, schnell in den Hintergrund gerät und einer – regelmäßig im obiter dictum verfassten – verfassungsrechtlichen Melange aus teils sehr grundlegenden, teilweise schon verfassungstheoretischen Erwägungen zur Rolle des Nationalstaats im Prozess der europäischen Integration, teils konkreten Verhaltenshinweisen für rechtsordnungseigene und -fremde Institutionen weicht. Zum einen nutzen mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte die Europa-Urteile, um grundlegend zur Bedeutung der rechtsordnungseigenen Verfassung und der Rolle des Nationalstaats im europäischen Integrationsprozess Stellung zu nehmen. So nutzte der französische Conseil constitutionnel seine Maastricht-Entscheidung dazu, um – in Abgrenzung zu seiner früheren Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen dem französischen und dem internationalen Recht – das Verhältnis zum europäischen Unionsrecht grundlegend neu zu gestalten.116 Der spanische Verfassungsgerichtshof führt in seiner Erklärung über die Vereinbarkeit des Vertrags über eine Verfassung für Europa mit der Verfassung die Unterscheidung zwischen dem Vorrang des Unionsrecht, der primacia, und der Vorherrschaft der nationalen Verfassung, der supremacia, ein.117 Darüber hinaus finden sich in den Vertragsurteilen verstärkt verfassungstheoretische Aussagen: Robertsons bekannte These, dass der Verfassungsrichter verstärkt Züge eines „political theorist“ trägt,118 findet in den Europa-Entscheidungen mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte, ganz besonders dem Lissabon-Urteil des BVerfG,119 Bestätigung. Das französische und das polnische Verfassungsgericht denken den europäischen Integrationsprozess  – entsprechend ihrer jeweiligen Verfassungstradition – schwerpunktmäßig auf der Grundlage  Catherine Haguenau-Moizard, Offene Staatlichkeit: Frankreich, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 15, 37 (52). 117  Nach Auffassung des Tribunals ist das Verhältnis zwischen dem spanischen Recht und dem Unionsrecht durch primacia und nicht durch supremacia gekennzeichnet. Ersteres „stellt sich nicht als hierarchische Überordnung, sondern als ein ‚existenzielles Erfordernis‘ dieses Rechts dar, um in der Praxis die unmittelbare und die einheitliche Anwendung in allen Staaten zu erreichen.“ Tribunal Constitucional, Erklär. v. 13.12.2004, DTC 1/2004 – Verfassungsvertrag, EuR 2005, 339 (343). Primacia behaupte „sich nicht notwendigerweise über Hierarchie, sondern besteht in der Unterscheidung der Anwendungsbereiche verschiedener, grundsätzlich gültiger Normen, von denen trotz- dem die eine oder einige die Fähigkeit besitzen, andere aus verschiedenen Gründen aufgrund ihrer vorzugsweisen oder vorgehenden Anwendung zu verdrängen“. Ebd., 346. Dagegen steht hinter der supremacia „der hierarchisch höherrangige Charakter einer Norm, weswegen sie Geltungsgrund der ihr nachgeordneten Normen ist, mit der Folge der Ungültigkeit der niedrigeren Normen, wenn sie gegen das in der höherrangigen Norm zwingend Angeordnete verstoßen“. Ebd. Nach Überzeugung des Tribunals ist die primacia des Unionsrechts mit der supremacia der Verfassung vereinbar, „vorausgesetzt, dass die Verfassung selbst es so bestimmt hat“. Ebd. 118  David Robertson, The judge as political theorist, 2010. 119  BVerfGE 123, 267 – Lissabon (2009). 116

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

des Souveränitätsprinzips als zentralem Bezugspunkt ihrer verfassungsrechtlichen Argumentation.120 Das Bundesverfassungsgericht – und in Grundzügen das tschechische Verfassungsgericht – entwickeln dagegen im Lissabon-Urteil eine vom Demokratieprinzip gedachte – in wichtigen Aspekten konkurrierende – Verfassungstheorie der europäischen Integration.121 Zum anderen enthalten die Europa-Urteile eine Vielzahl allgemeiner Vorgaben, welche Kompetenzen die rechtsordnungseigenen Institutionen übertragen dürfen, wie die rechtsordnungsfremden Institutionen bestimmte Kompetenzvorschriften handhaben sollten und wie das Verhältnis zwischen der eigenen und der fremden Rechtsordnung zu verstehen ist. So entwickeln die Verfassungsgerichte aus Deutschland, Dänemark, Polen und Tschechien ihre dogmatischen Konstruktionen der Ultra-­vires-Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts jeweils im Rahmen der Vertragskontrolle, ohne von diesem – auf das abgeleitete Recht ausgerichteten – Institut im Urteil selbst Gebrauch zu machen.122 In vergleichbarer Weise wird der Begriff der Verfassungsidentität rechtsordnungsübergreifend als Kontrollmaßstab für das Unionsrecht in den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zum Verfassungsvertrag und zum Vertrag von Lissabon in Spanien, Frankreich, Deutschland und Polen eingeführt.123 Das BVerfG leitet zudem aus der gebotenen Achtung der Verfassungsidentität konkrete Sachbereiche ab, in denen den Mitgliedstaaten ein „ausreichender Raum zur politischen Gestaltung“ verbleiben muss, insbesondere „die Staatsbürgerschaft, das militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme“ sowie „die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis“.124 Charakteristisch für das Vertragsurteil ist in diesem Zusammenhang, wie das Gericht die diffizile Balance zwischen den Anliegen bewältigt, die Ratifizierung des Vertrages nicht leichtfertig zu vereiteln und dennoch den Integrationsprozess in seinem Sinne zu beeinflussen. Einerseits wird die durch das Zustimmungsgesetz bewirkte Kompetenzübertragung an die EU für verfassungsgemäß befunden, ande­ rerseits aber darauf hingewiesen, dass zukünftige Kompetenzübertragungen  Vgl. Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 24.11.2010, K 32/09 – Lissabon, Teil III.3.8.; Conseil constitutionnel, Entsch. v. 19.11.2004, Nr. 2004-505 DC – Verfassungsvertrag, Rec. 173, EuGRZ 2005, 45, 7., 24., 27., 29. und 33. Begründungserwägung. Siehe näher Christian Walter, Der französische Verfassungsrat und das Recht der Europäischen Union, EuGRZ 2005, 77 (83). Zum Souveränitätsverständnis in Frankreich: Jacques Ziller, Sovereignty in France: Getting Rid of the Mal de Bodin, in: Neil Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, 261 (271 ff.). 121  Im Maastricht-Urteil wurde zwar ebenfalls das Demokratieprinzip zum Zweck der Vertragskontrolle operationalisiert, allerdings waren die demokratietheoretischen Erwägungen des Gerichts noch stärker mit staatlichen Souveränitätsbelangen vermischt. Vgl. BVerfGE 89, 155 (182 ff.) – Maastricht (1993). Kritisch: J.H.H. Weiler, The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, in: Ole Due/Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), FS Everling, Bd. 2, 1995, 1651 ff. 122  Zur Ultra-vires-Kontrolle im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 18, B. 123  Dazu unten Dritter Teil, Kap. 17, A., II. 124  BVerfGE 123, 267 (358) – Lissabon (2009). 120

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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verfassungswidrig sein könnten, wenn sie den Mitgliedstaaten keinen ausreichenden Raum zur politischen Gestaltung der genannten Sachbereiche belassen. Dabei stellt das BVerfG vordergründig verfassungsrechtliche Grenzen für die Institutionen der eigenen Rechtsordnung auf, indem es auf die „Integrationsverantwortung der deutschen Verfassungsorgane“ verweist.125 Allerdings ist darin auch ein expliziter Hinweis an die Institutionen der Europäischen Union enthalten, dass der demokratische Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten respektiert wird.126 Im Zusammenhang mit den Diskussionen über Richternetzwerke und über den Prozess richterlicher Normbildung wurde darauf hingedeutet,127 dass Urteile in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken eine doppelte Bedeutung haben, weil Richter zum einen den anhängigen Fall auf der Grundlage rechtsordnungseigener Normen und Methoden entscheiden, zum anderen aber einen vom konkreten Fall unabhängigen Beitrag zur Errichtung und Förderung eines rechtsordnungsübergreifenden netzwerkinternen Arrangements, einer Art Netzwerkverfassung, leisten. Diese Doppelbezüglichkeit des Urteils im Richternetzwerk tritt im Zuge der Vertragskontrolle besonders deutlich zum Vorschein: Hier wird einerseits das nationale Zustimmungsgesetz zu einem Vertrag unter dem Blickwinkel des konkreten Rechtsschutzbegehrens eines bestimmten Beschwerdeführers oder Antragstellers geprüft, andererseits gehen die Entscheidungsgründe aber regelmäßig weit über dieses unmittelbare Rechtsschutzbegehren hinaus und stellen sich als Diskursbeitrag zu einem rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialog dar, in dem durch gegenseitiges Bezugnehmen und Elaborieren schrittweise gemeinsame Netzwerknormen oder Hintergrundnormen ausgehandelt werden. Der verfassungsgerichtliche Rückgriff auf das Vertragsurteil lässt sich dabei selbst als potenzielle Hintergrundnorm begreifen, es bilden sich aber im Rahmen dieses Mediums auch Hintergrundnormen für andere Fragen, wie etwa die Grenzen des europäischen Unionsrechts, heraus. Auffällig ist das Ausmaß der wechselseitigen Verweisungen auf die Urteile anderer Verfassungsgerichte, die insbesondere im Kontext der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Vertrages von Lissabon sichtbar wird. Wendel beobachtet hier „eine neue Qualität verfassungsvergleichender Argumentation“, die sich insbesondere in  BVerfGE 123, 267 (356) – Lissabon (2009). Kritisch zum bundesverfassungsgerichtlichen Konzept der Integrationsverantwortung: Michael Tischendorf, Theorie und Wirklichkeit der Integrationsverantwortung deutscher Verfassungsorgane, 2017. Differenzierend: Matthias Ruffert, Das Bundesverfassungsgericht als Akteur im Prozess der europäischen Integration, EuGRZ 2017, 241 (246 ff.). 126  Der gleiche Mechanismus findet sich im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Grundrechte. Danach dürfen keine Durchgriffsbefugnisse an die Europäische Union in grundrechtssensiblen Bereichen übertragen werden, ohne dass auf europäischer Ebene ein adäquater Grundrechtsschutz besteht. Dabei stellt das Bundesverfassungsgericht aber nicht fest, dass das Zustimmungsgesetz aus diesem Grund verfassungswidrig ist, sondern dass zukünftige Kompetenzübertragungen verfassungswidrig sein könnten, wenn den übertragenen Durchgriffsbefugnissen im grundrechtssensiblen Bereichen kein adäquater Grundrechtsschutz korrespondiert. Der darin enthaltene Auftrag an die europäischen Institutionen liegt darin, einen adäquateren Grundrechtsschutz in der EU zu entwickeln, will man auch zukünftig noch Kompetenzen übertragen bekommen. 127  Oben Erster Teil, Kap. 6, E. und Kap. 7, C. 125

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

der begründungsentlastenden Funktion und der kritischen Kontrastierungen zu Positionen anderer Verfassungsgerichte niederschlage.128 Ein Beispiel für die begründungsentlastende Funktion sind die Ausführungen des polnischen Verfassungsgerichtshofs im Lissabon-Urteil zum Begriff der Verfassungsidentität: Dieser arbeitet in Hinsicht auf Souveränität und Verfassungsidentität detailliert Gemeinsamkeiten zwischen den Lissabon-Entscheidungen der Verfassungsgerichte aus Frankreich, Österreich, Tschechien, Lettland, Deutschland und Ungarn heraus, gerade auch um den Rechtfertigungsaufwand für seine eigene Konstruktion zu verringern.129 Ein Beispiel für eine kritische Würdigung mit Kontrastierungswirkung ist das zweite Lissabon-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts. Zum einen kontrastiert das Gericht seine Demokratiekonzeption von der des Bundesverfassungsgerichts: Während letzteres „das nationale Parlament als Repräsentant des souveränen deutschen Staatsvolkes in das Zentrum seiner Erwägungen“ stellt, betont ersteres „den genuinen Verbundcharakter demokratischer Legitimationsstrukturen in der EU sowie die unmittelbare (wenn auch nicht alleinige) legitimatorische Eigenkraft des Europä­ ischen Parlaments“.130 Zum anderen äußert sich das Gericht ablehnend gegenüber der Herleitung übertragungsfester Kernbereiche nationaler Gestaltung durch das BVerfG. Beide Gerichte kämpfen mit ihren Urteilen offenbar um die verfassungsgerichtliche Deutungshoheit im Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen. In diesem Prozess spielen auch die diversen Kläger, Beschwerdeführer und Antragsteller eine zentrale Rolle, insoweit sie die Verfassungsgerichte ihrer Rechtsordnung ganz gezielt mit ausländischen Judikaten konfrontieren.131 Deshalb müssen die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte noch nicht zu denselben Ergebnissen kommen, es entsteht aber ein gemeinsamer Bezugsrahmen, in dem die Befolgung des Lösungsmodells anderer Verfassungsgerichte begründungsentlastend und die Abweichung von einem Rechtsprechungstrend begründungserschwerend wirkt.

 Mattias Wendel, Richterliche Rechtsvergleichung als Dialogform: Die Integrationsrechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte in gemeineuropäischer Perspektive, Der Staat 52 (2013), 339 (353 f.). 129  Ebd., 348. Zur Herausbildung der Verfassungsidentität als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnorm im EU-Kontext im Zusammenhang mit der Frage des Kontrollmaßstabs, siehe oben Dritter Teil, Kap. 17, A., II. 130  Ebd., 350. 131  Aus den Entscheidungsgründen des tschechischen Verfassungsgerichts geht hervor, dass die Antragsteller das Verfassungsgericht durch Verweisung auf die Rechtsprechung des BVerfG dazu bewegen möchten, strengere verfassungsrechtliche Grenzen für den europäischen Integrationsprozess zu statuieren. Vgl. Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 03.11.2009, Pl. ÚS 29/09 – Lissabon II, Rn. 110. 128

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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2. Die Mechanismen der Vertragskontrolle des EuGH Die Handhabung der Vertragskontrolle durch den EuGH passt nur teilweise in das oben – vor dem Hintergrund der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte zu den europäischen Verträgen  – beschriebene Muster der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle. Einerseits verwendet auch der EuGH  – wie nationale Verfassungsgerichte  – die Vertragskontrolle, um das Verhältnis zwischen der Unionsrechtsordnung und der anderen inter- oder supranationalen Rechtsordnung abzustecken.132 Während sich aber die Europa-Urteile nationaler Verfassungsgerichte weitgehend auf grundlegende, allgemein formulierte, thematisch weitgefächerte Ausführungen über die Bedeutung der nationalen Verfassung im europäischen Integrationsprozess beschränken, sind die Vorgaben des EuGH detaillierter formuliert und thematisch enger gefasst. Für den EuGH stehen nicht demokratische und rechtsstaatliche Verfassungsstrukturen im Vordergrund, sondern der Schutz der Autonomie des Unionsrechts, die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Wahrung des Unionsrechts und sein Verhältnis zu dem im völkerrechtlichen Gründungsvertrag vorgesehenen Gericht.133 Andererseits schreckt der EuGH – im Unterschied zu nationalen Verfassungsgerichten – nicht davor zurück, den Abschluss eines völkerrechtlichen Gründungsvertrags oder den Beitritt zu einem solchen zu vereiteln. In einer Vielzahl von Gutachten hat der EuGH die Unvereinbarkeit des geplanten Abkommens mit dem Primärrecht der EU festgestellt.134 Zwar wurde in den meisten dieser Fälle der geplante völkerrechtliche Vertrag im Hinblick auf die vom EuGH geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken modifiziert.135 Das geplante Vertragsvorhaben  Vgl. oben Dritter Teil, Kap. 14, A., II., 1., b.  Grundlegend zum Verhältnis des EuGH zu internationalen Gerichten: Tobias Lock, The European Court of Justice and International Courts, 2015. 134  Siehe nur EuGH, Gut. v. 26.04.1977, Rs. 1/76  – Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt, ECLI:EU:C:1977:63, Rn. 22; Gut. v. 14.12.1991, Rs. 1/91 – EWR I, ECLI:EU:C:1991:490, Rn. 72; Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140, Rn. 36; Gut. v. 08.03.2011, Rs. 1/09  – Europäisches Patentgericht, ECLI:EU:C:2011:123, Rn.  89; Gut. v. 18.12.2014, Rs. 2/13 – EMRK-Beitritt II, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 258. 135  Im Gutachten 1/91 hatte der EuGH den ursprünglichen Entwurf zum EWR-Vertrag vor allem deshalb für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erachtet, weil er angesichts der Vielzahl gleichlautender Bestimmungen im EWR-Vertragsentwurf und im Gemeinschaftsrecht erhebliche Inkonsistenzen in der Interpretation gleichlautender Normen durch den EuGH und den EWR-Gerichtshof befürchtete. Vgl. EuGH, Gut. v. 14.12.1991, Rs. 1/91 – EWR I, ECLI:EU:C:1991:490, Rn.  45  f. In Reaktion auf die Bedenken des EuGH wurde statt des EWR-Gerichtshofs der EFTA-Gerichtshof eingerichtet und ein institutioneller Mechanismus zur Gewährleistung der homogenen Auslegung und Anwendung des Rechts im Europäischen Wirtschaftsraum vorgesehen. Vor diesem Hintergrund bestätigte der EuGH im Gutachten 1/92 die Vereinbarkeit des EWR-Vertrags mit dem Gemeinschaftsrecht. EuGH, Gut. v. 10.04.1992, Rs. 1/92  – EWR II, ECLI:EU:C:1992:189, Rn. 42. Im Gutachten 2/94 hatte der EuGH entschieden, dass der Beitritt der EU zur EMRK wegen seiner „verfassungsrechtliche[n] Dimension“ einer Vertragsänderung bedürfe. EuGH, Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94  – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde in Form von Art.  6 Abs.  2 EUV eine spezielle primärrechtliche Rechtsgrundlage für den Beitritt geschaffen. Im Gutachten 1/09 befand der EuGH das geplante 132 133

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

konnte verwirklicht werden. In diesen Fällen erscheint die Annahme plausibel, dass der EuGH davon ausgehen konnte, dass seine rechtlichen Bedenken – und damit die bestehenden Hindernisse für die Ratifizierung des Vertrags  – ausgeräumt werden würden. Diese Annahme gilt indes nicht für den Beitritt der EU zur EMRK. Die bislang gescheiterte Umsetzung des seit langem von den politischen EU-Institutionen geplanten EU-Beitritts zur EMRK136 zeigt, dass der EuGH die Vertragskontrolle auch einsetzt, um sein Veto gegen die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Gründungsoder Beitrittsvertrages einzulegen. Nach dem ersten Gutachten 1/94 des EuGH zum EMRK-Beitritt der damaligen Europäischen Gemeinschaften von 1996, in dem der Gerichtshof wegen der „verfassungsrechtliche[n] Dimension“ des Beitritts eine spezielle Rechtsgrundlage für den Beitritt forderte, dauerte es 13 Jahre, bis durch den Vertrag von Lissabon von 2009 in Form von Artikel 6 Abs. 2 AEUV eine ausreichende Rechtsgrundlage für den Beitritt in das europäische Primärrecht eingefügt wurde. Es besteht damit auch ein signifikanter Unterschied zur Rechtsprechung des Conseil constitutionnel.137 Zwar haben beide Gerichtshöfe, der Conseil und der EuGH, die Vereinbarkeit des Vertragsentwurfs mit der französischen Verfassung bzw. mit dem Primärrecht von einer Verfassungs- bzw. Primärrechtsänderung ­abhängig gemacht. Für den Conseil war es jedoch – im Unterschied zum EuGH – absehbar, dass aus dieser Bedingung kein wesentliches Hindernis für den europä­ ischen Integrationsprozess resultieren würde.138 Das ist für den EuGH keine Bedingung für die Ausübung seiner Vertragskontrolle. Das Gutachten 2/13 zeigt dies in aller Deutlichkeit: Darin bewertete der EuGH den – über einen Zeitraum von vier Jahren zwischen der EU und den Konventionsstaaten der EMRK ausgehandelten  – Entwurf der Übereinkunft über den Beitritt der Europäischen Union zur ­Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Übereinkunftsentwurf  – „ÜE“) als unvereinbar mit dem Unionsrecht und stellte überdies hohe rechtliche und institutionelle Hürden für den geplanten EMRK-Beitritt auf.139 Es ist Übereinkommen über das Gericht für europäische Patente und Gemeinschaftspatente insbesondere deshalb für unionsrechtswidrig, weil der geplante Vorlagemechanismus zwischen dem Europäischen Patentgericht und dem EuGH eine Umgehung der nationalen Gerichte ermöglichte. EuGH, Gut. v. 08.03.2011, Rs. 1/09 – Europäisches Patentgericht, ECLI:EU:C:2011:123, Rn. 89. Mittlerweile wurde das Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht, das keine Einbindung des EuGH vorsieht, von 25 EU-Mitgliedstaaten – freilich ohne Beteiligung der EU selbst – unterzeichnet. 136  Siehe für einen Überblick über die bereits seit Ende der 1970er-Jahre laufenden politischen Diskussionen über einen Beitritt der EU zur EMRK: Walther Michl, Die Überprüfung des Unionsrechts am Maßstab der EMRK, 2014, 51 ff. 137  Siehe oben Dritter Teil, Kap. 14, A., II., 1., a. 138  Oben Dritter Teil, Kap. 14, A., II., 1., a. 139  Kritik am Gutachten 2/13 üben Stian Johansen, The Reinterpretation of TFEU Article 344 in Opinion 2/13 and its Potential Consequences, GLJ 16 (2015), 169  ff.; Adam Lazowski/Ramses Wessel, When Caveats Turn into Locks: Opinion 2/13 on Accession of the European Union to the ECHR, GLJ 16 (2015), 179 ff.; Steve Peers, The EU’s Accession to the ECHR: The Dream Becomes a Nightmare, GLJ 16 (2015), 213 ff.; Piet Eeckhout, Opinion 2/13 on EU Accession to the ECHR and Judicial Dialogue  – Autonomy or Autarky?, Fordham Int’l L.  J. 38 (2015), 955  ff.;

B. Analyse: Das Vertragsurteil als Medium für das Einspeisen rechtsordnungseigener …

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ungewiss, ob ein erforderlicher zwischenstaatlicher Kompromiss gefunden werden kann, um die strengen Vorgaben des EuGH zu erfüllen.140 Genauso wie für nationale Verfassungsgerichte ist die Kontrolle inter- und supranationaler Verträge vor der Ratifikation für den EuGH keine nicht-justiziable political question, sondern fällt unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung in den verfassungsgerichtlichen Aufgabenbereich. Im Unterschied zu nationalen Verfassungsgerichten im Kontext der Kontrolle europäischer Verträge schreckt der EuGH aber nicht davor zurück, die Unvereinbarkeit eines inter- oder supranationalen Gründungsvertrages mit dem Unionsrecht festzustellen und damit die Ratifizierung des Vertrags zu verhindern.

 . Analyse: Das Vertragsurteil als Medium für das Einspeisen B rechtsordnungseigener Belange in rechtsordnungsfremde Entscheidungsprozesse Die Vertragskontrolle nationaler Verfassungsgerichte ist durch ein Paradoxon gekennzeichnet: Einerseits beanspruchen nationale Verfassungsgerichte eine (mittelbare) Kontrolle inter- und supranationaler Gründungsverträge, andererseits zeigen sie sich bei der Realisierung der potenziellen Rechtsfolgen ihrer Kontrollbefugnis zurückhaltend, also dabei, das Zustimmungsgesetz tatsächlich für verfassungswidrig zu erklären. Sie kontrollieren, aber sie sanktionieren nicht. Welche Erwägungen hinter dieser auf den ersten Blick eigentümlichen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungspraxis stecken, soll im Folgenden analysiert werden. In einem ersten Schritt erscheint es dabei erforderlich, sich die funktionalen Grenzen der Vertragskontrolle zu vergegenwärtigen (I.). Die verfassungsgerichtliche Kontrolle inter- und supranationaler Verträge sieht sich mit einem strukturellen Problem konfrontiert, das sich bei der Kontrolle rechtsordnungseigener Gesetze nicht stellt: Ein Verfassungsgericht kann vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung – jedenfalls bei politisch wichtigen Gründungsverträgen – realistisch kein Veto gegen die Ratifizierung des Vertrages einlegen. Daraus folgt allerdings bei näherer Betrachtung noch nicht, dass ein VerfasTurkuler Isiksel, European Exceptionalism and the EU’s Accession to the ECHR, EJIL 27 (2016), 565 ff.; Marten Breuer, „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ Das zweite Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt der Europäischen Union, EuR 2015, 330 ff.; Mattias Wendel, Der EMRK-Beitritt als Unionsrechtsverstoß, NJW 2015, 921 ff.; Daniel Engel, Der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK, 2015, 313 ff. Verteidigend: Daniel Halberstam, „It’s the Autonomy, Stupid!“ A Modest Defense of Opinion 2/13 on EU Accession to the ECHR, and the Way Forward, GLJ 16 (2015), 105 ff.; Christoph Krenn, Autonomy and Effectiveness as Common Concerns: A Path to ECHR Accession After Opinion 2/13, German L.J. 16 (2015), 147 ff.; Stefanie Schmahl, Der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention: Wo liegt das Problem?, JZ 71 (2016), 921 ff. 140  Zu den Aussichten eines Beitritts der EU zur EMRK nach dem Gutachten 2/13: Tobias Lock, The future of the European Union’s accession to the European Convention on Human Rights after Opinion 2/13: Is it still possible and is it still desirable?, EuConst 11 (2015), 239 ff.

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

sungsgericht nicht mittelbar eine Form der Kontrolle der inter- und supranationalen und der nationalen Institutionen ausüben kann oder sollte (II.). Die verfassungsgerichtliche Vertragskontrolle ist nicht Ausdruck einer verfassungsgerichtlichen Entgrenzung,141 sondern lässt sich als Versuch verstehen, bestimmte Maßgaben für die Auslegung und Anwendung der Gründungsverträge vorzugeben und den verfassungsrechtlichen Diskurs über das betreffende Vertragsregime mitzugestalten.142

I. Die funktionalen Grenzen der Vertragskontrolle Unter dem Blickwinkel der Temporalität ist die verfassungsgerichtliche Vertragskontrolle in doppelter Hinsicht mit einem strukturellen Problem behaftet: Einerseits findet die verfassungsgerichtliche Vertragskontrolle zu einem Zeitpunkt statt, an dem der Vertrag bereits von Vertretern der beteiligten Staaten ausgehandelt und unterschrieben wurde. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung des Übertragungsakts erfolgt also zu spät, um nennenswerte Veränderungen zu bewirken. Andererseits ist zum Zeitpunkt der Vertragskontrolle für ein Gericht noch schwer zu überblicken, welche rechtlichen Konsequenzen sich aus dem inter- und supranationalen Vertragsregime konkret für die nationale Rechtsordnung, insbesondere für den Einzelnen, ergeben. Es besteht folglich eine gewisse Spannung zu dem typischerweise retrospektiven Charakter richterlichen Entscheidens.143 Man könnte sagen, dass die Vertragskontrolle aus dieser Perspektive insofern zu früh stattfindet. Bei rein dogmatischer Betrachtung erscheint die Prüfung des Ratifikationsgesetzes des Vertrages als Anknüpfungspunkt für die verfassungsgerichtliche Kontrolle inter- und supranationaler unproblematisch, wenn der Gründungsvertrag noch nicht ratifiziert worden ist. Denn zu diesem Zeitpunkt bestehen noch keine völkerrechtlichen Verpflichtungen.144 Es kann daher nicht überraschen, dass die französische  Siehe aber Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011. 142  In diesem Sinne auch Closa, demzufolge der verfassungsgerichtliche Einfluss auf den europä­ ischen Integrationsprozess „can be channelled, for instance, through mechanisms such as strong interpretative verdicts or parallel domestic reforms“. Carlos Closa, National Higher Courts and the Ratification of EU Treaties, WEP 36 (2013), 97 (117). Siehe auch Christian Walter, Der französische Verfassungsrat und das Recht der Europäischen Union, EuGRZ 2005, 77 (84), nach dem „[ü]ber solche Appelle in Entscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte […] ein informeller Dialog zwischen den Gerichten statt[findet], der auf Sensibilitäten aufmerksam macht und so auch jenseits der sich üblicherweise aus dem Prozessrecht ergebenden Förmlichkeit des Verhältnis von Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen wichtige Impulse für die Fortentwicklung der jeweiligen Rechtsprechung oder das Festhalten am bestehenden Stand geben kann“. 143  Dazu näher Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 100 ff. Freilich stellen sich im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle teilweise vergleichbare Probleme. Allerdings ist das dynamische Entwicklungspotenzial im Zusammenhang mit inter- und supranationalen Gründungsverträgen besonders ausgeprägt. 144  Sobald ein Völkerrechtsvertrag durch das parlamentarische Zustimmungsgesetz ratifiziert wurde, ist der Nationalstaat völkerrechtlich gebunden, auch wenn das Verfassungsgericht nach141

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Verfassung und die Verfassungspraxis in Deutschland die verfassungsgerichtliche Überprüfung von völkerrechtlichen und insbesondere von europäischen Verträgen auf einen Zeitpunkt vor der Ratifizierung des Vertrages verlegen. Zu diesem Zeitpunkt kann auch nicht, wie bei der Kontrolle des abgeleiteten Rechts einer interoder supranationalen Organisation, argumentiert werden, dass die Befugnis zum Erlass eines abgeleiteten Rechtsakts auf die internationale Organisation übertragen wurde und daher nicht mehr Gegenstand der Kontrolle durch die nationalstaatlichen Institutionen sein kann.145 Denn die nationalstaatlichen Institutionen, einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit, entscheiden hier selbstbestimmt, ob sie eine internationale Verpflichtung eingehen wollen. Soweit die Theorie. In der Praxis ist selbst die verfassungsgerichtliche Kontrolle eines noch nicht ratifizierten Vertrages politisch äußerst problematisch, auch wenn noch keine völkerrechtlichen Verpflichtungen bestehen. Das hat seine Ursache in der Struktur inter- und supranationaler Entscheidungsprozesse, insbesondere den Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung bei der Aushandlung inter- und supranationaler Verträge. Die Aushandlung inter- und supranationaler Verträge ist ein komplizierter Prozess, in dem sich die Regierungsvertreter einer Vielzahl von Staaten in zähen Verhandlungsrunden Konzessionen abringen lassen, um einen für alle beteiligten Staaten akzeptablen Kompromiss herbeizuführen. Das traditionelle Erfordernis einer einheitlichen staatlichen Willensbildung im auswärtigen Bereich erklärt sich insbesondere auch mit den Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung. Wenn Parlamente oder Gerichte zur Entscheidung über das Ergebnis dieser Verhandlungen aufgerufen sind, können sie diesen Kompromiss nicht mehr ohne weiteres aufschnüren. Denn auch wenn der Vertrag noch nicht ratifiziert worden ist, handelt es sich um einen zwischen den Regierungsvertretern aller Vertragsstaaten fertig ausgehandelten, unterzeichneten Vertrag. Die Teilnehmer an den Verhandlungen verlassen sich darauf, dass der geschlossene Kompromiss Bestand hat und das Paket nicht wieder aufgeschnürt wird. Kurz gesagt: Der völkerrechtliche Vertrag wird also zu einem Zeitpunkt der Kontrollgegenstand in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren, in dem seine Ratifizierung nicht mehr ohne politische Verwerfungen gestoppt werden kann. Die Konsequenz einer – nicht ohne Weiteres durch innerstaatliche Verfassungsanpassung behebbaren – negativen verfassungsrechtlichen Beurteilung wäre, dass insoweit keine Kompetenzen an die inter- oder supranationale Organisation übertragen werden, das Vertragsrecht nicht Bestandteil der eigenen Rechtsordnung wird und daher auch nicht von den rechtsordnungseigenen Institutionen angewendet werden kann. Konzeptionell gibt es in einer solchen Situation nur zwei Auswege: Entweder wird der Vertrag – entsprechend der Vorgaben des Verfassungsgerichts – träglich die Verfassungswidrigkeit des Zustimmungsgesetzes feststellt. Obwohl das Gesetz aus verfassungsrechtlicher Perspektive (teil-)nichtig ist, ist der Staat nach Art. 46 Abs. 1 WVRK völkerrechtlich grundsätzlich gebunden. 145  So die Argumentation der Bundesverfassungsrichter Rupp, Hirsch und Wand zum abgeleiteten Gemeinschaftsrecht in ihrer abweichenden Meinung zum Solange I-Beschluss. Siehe BVerfGE 37, 271(299) – Solange I (1974).

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

zwischen allen Vertragsstaaten neu ausgehandelt oder der betreffende Mitgliedstaat kann kein Mitglied bleiben. Aber warum sollte ein zwischen einer Vielzahl von Staaten ausgehandelter Vertrag wegen des Widerstandes des Verfassungsgerichts eines Mitgliedstaats komplett neu ausgehandelt werden? Wenn selbst in Fällen, in denen das Volk eines Mitgliedstaats in einem Referendum gegen die Ratifizierung des Vertrages gestimmt hat, wie es in Irland, in Frankreich oder in den Niederlanden der Fall war, der Vertrag – freilich zeitlich versetzt und mit minimalen Konzessionen – einfach noch mal dem Volk vorgelegt und der Vertrag ratifiziert wird, belegt das, wie groß der politische Druck und wie begrenzt der verfassungsgerichtliche Spielraum ist. Wenn aber in der politischen Realität signifikante Neuverhandlungen des Vertrages ausgeschlossen sind, haben Verfassungsgerichte effektiv nur noch zu entscheiden, ob sie den Vertrag als Ganzes billigen oder ablehnen. Hier stoßen Verfassungsgerichte freilich an ihre politisch-institutionellen Grenzen, denn es ist eine Frage, ob das Ratifizierungshindernis in einem Volksentscheid liegt und eine andere Frage, ob ein Verfassungsgericht als „the least dangerous branch“ dafür verantwortlich zeichnet. Dass sich Verfassungsgerichte dieser Zusammenhänge sehr wohl bewusst sind, zeigt der Umstand, dass sich die einzigen unmittelbaren Rechtsfolgen der Europa-Entscheidungen im rechtsordnungsinternen Bereich bei der Sicherung der parlamentarischen Beteiligung ergeben, wodurch der zwischenstaatliche Kompromiss nicht infrage gestellt wird. Ein weiteres strukturelles Problem der verfassungsgerichtlichen Vertragskon­ trolle liegt in der Schwierigkeit abzuschätzen, welche rechtlichen Folgen für den Einzelnen konkret aus dem inter- und supranationalen Vertragsregime resultieren. Mit der Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags zur Gründung einer internationalen Organisation richten die Mitgliedstaaten Institutionen ein, übertragen Entscheidungskompetenzen und legen Verfahren der Rechtserzeugung fest. Wie soll ein Verfassungsgericht zum Zeitpunkt der Übertragung von Kompetenzen wissen, ob die inter- und supranationalen Institutionen diese Kompetenzen in einer Weise ausüben, durch die Grundrechte unverhältnismäßig beeinträchtigt oder die übertragenen Befugnisse überschritten werden? Dass der UN-Sicherheitsrat seine Befugnis zur Einrichtung eines Nebenorgans gemäß Art. 29 UN-Charta nutzt, um einen Sanktionsausschuss einzusetzen, der der Unterstützung von Al-Qaida Verdächtige zwecks Einfrieren der Bankkonten auflistet,146 konnten die UN-Mitgliedstaaten bei der Verabschiedung der UN-Charta ebenso wenig ahnen wie die europäischen Mitgliedstaaten bei der Aushandlung der Römischen Verträge voraussehen konnten, dass die Europäischen Gemeinschaften auf Grundlage der Ermächtigung zur ­Regelung der europäischen Agrarpolitik in den ehemaligen Art. 42, 43 EWG mit der Verordnung 404/93 die Bananenmarktordnung in einer Weise organisieren würden, die deutschen Bananenimporteuren potenziell existenzgefährdende Einfuhrbeschränkungen auferlegt.147 Das Problem einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu diesem frühen Zeitpunkt liegt darin, dass das Gericht letztlich eine Prognoseentscheidung treffen 146 147

 Zum Hintergrund: Unten Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2., a.  Vgl. BVerfGE 102, 147 – Bananenmarkt (2000).

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muss, für die es aus institutioneller Perspektive schlecht ausgerüstet ist. Das gerichtliche Verfahren ist als individualisierendes, retrospektives Verfahren ausgestaltet, einer der komparativen institutionellen Vorteile der Judikative gegenüber den anderen Gewalten, aus dem sich auch die Legitimität der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle herleitet, liegt gerade darin, dass das verfassungsgerichtliche ­ ­Verfahren darauf ausgerichtet ist, die Auswirkungen einer abstrakten Norm auf ver­ fassungsrechtliche Normen und Prinzipien im Kontext eines konkretisierten Sachverhalts zu evaluieren, also etwa die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Rechtsakts, der in die grundrechtlich geschützte Sphäre eines Individuums eingreift, oder die übertragenen Kompetenzen überschreitet.148 Bei der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle hingegen fehlt eine solche Struktur, was sich in dem verfassungstheoretischen Charakter der Entscheidungsgründe der Europa-Ent­ scheidungen äußert.

II. Die Vertragskontrolle durch den EuGH als Sonderkonstellation Wie gezeigt,149 unterscheidet sich die Handhabung der Vertragskontrolle durch den EuGH von Handhabung durch nationale Verfassungsgerichte insofern, dass der EuGH trotz der bekannten Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung nicht davor zurückgeschreckt ist, den Beitritt der EU zur EMRK (jedenfalls bislang) zu verhindern. Das wirft die Frage nach der Generalisierbarkeit der oben angestellten Erwägungen zu den funktionalen Grenzen der Vertragskontrolle auf.150 Es spricht jedoch viel dafür, dass es sich bei der Vertragskontrolle des EuGH um eine Sonderkonstellation handelt, die die grundlegenden Annahmen zu den Grenzen der Vertragskon­trolle nicht infrage stellt, sondern die sich durch kontextspezifische Unterschiede erklären lässt.151 Erstens bestehen gravierende Unterschiede hinsichtlich der (zu erwartenden) Folgen eines gerichtlichen Vetos gegen die Ratifizierung eines europäischen ­Vertrags einerseits und gegen die Ratifizierung des Beitrittsvertrags der EU zur EMRK andererseits. Die Frage nach den Folgen richterlicher Entscheidungen aber zählt zu den „Voraussetzungen hermeneutischer Richtigkeitskontrolle“.152 Auch nationale Verfassungsgerichte und der EuGH orientieren sich bei ihren Entscheidungen an den erwarteten Folgen.153 Ein wichtiger Grund, warum nationale Verfas Die Legitimation der Judikative beruht Möllers zufolge in erster Linie auf ihrem individuell ausgerichteten, individualisierenden Entscheidungscharakter. Siehe Christoph Möllers, Die drei Gewalten, 2008, 100 ff. 149  Oben Dritter Teil, Kap. 14, A., II., 2. 150  Oben Dritter Teil, Kap. 14, B., I. 151  In diesem Sinne auch Matthias Kottmann, Introvertierte Rechtsgemeinschaft, 2014, 296 ff. 152  Winfried Hassemer, Juristische Hermeneutik, ARSP 72 (1986), 195 (200). 153  Vgl. Gunther Teubner, Folgenkontrolle und Responsive Dogmatik, Rechtstheorie 6 (1975), 179 (181 f.), dem zufolge Folgenorientierung – offen oder verdeckt – zum Gerichtsalltag zählt. 148

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sungsgerichte davor zurückschrecken, die Ermöglichung der Ratifizierung eines europäischen Vertrags zu verweigern und damit entweder unerlässliche Reformen der rechtlichen und institutionellen Architektur der EU oder die Mitgliedschaft ihres Staats in der EU infrage zu stellen, sind die zu erwartenden politischen und wirtschaftlichen Kosten. Zwar muss die Quantifizierung dieser Kosten spekulativ bleiben, weil bislang noch nie ein EU-Mitgliedstaat einen Austritt vollzogen hat. Allerdings deutet der im Referendum vom 23. Juni 2016 beschlossene Brexit darauf hin, dass diese Kosten sehr hoch sein werden.154 Es ist aber eine Frage, ob das Volk diese Entscheidung getroffen hat und eine andere Frage, ob ein Verfassungs- oder Höchstgericht diese Folgen zu verantworten hat. Dagegen sind die Auswirkungen eines Nicht-Beitritts der EU in die EMRK auf den Grundrechtsschutz in der EU überschaubar. Auch wenn das Beitrittsvorhaben von großer symbolischer Bedeutung ist, spielen die Konventionsrechte und die Rechtsprechung des EGMR in der EU gem. Art.  52 Abs.  3 GrCH auch ohne Beitritt eine wichtige Rolle. Auch ohne einen EMRK-­Beitritt wacht der EuGH über die Unionsgrundrechte.155 Zweitens ist es im Vergleich wesentlich unproblematischer, das ausgehandelte Vertragspaket zum EMRK-Beitritt der EU wieder aufzuschnüren und zu modifizieren als einen europäischen Vertrag. Bei der Aushandlung eines europäischen Vertrags, wie dem Vertrag von Lissabon, steht für die Vertragsparteien so viel auf dem Spiel, dass die Kompromissfindung so schwierig wie notwendig für das europäische Integrationsprojekt ist. In dieser Konstellation ist es den anderen Mitgliedstaaten kaum vermittelbar, warum dieser Kompromiss wegen des Widerstands eines Verfassungsgerichts eines Mitgliedstaats in erheblicher Weise verändert werden sollte.156 Bei der Übereinkunft über den Beitritt der EU zur EMRK liegt der Fall anders.  Exemplarisch: OECD, The Economic Consequences of Brexit: A Taxing Decision, Policy Paper No. 16 (April 2016). Zum rechtlichen Rahmen für einen Austritt aus der EU, siehe Vassilios Skouris, Brexit: Rechtliche Vorgaben für den Austritt aus der EU, EuZW 2016, 806  ff.; Alexander Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, 281 ff. 155  Grundlegend zur Rolle des EuGH als Wächter der Unionsgrundrechte: Meike Hentschel-Bednorz, Derzeitige Rolle und zukünftige Perspektive des EuGH im Mehrebenensystem des Grundrechtsschutzes in Europa, 2012. 156  Eine spieltheoretisch vergleichbare Konstellation liegt vor, wenn das Volk eines Mitgliedstaats mittels eines Referendums über die Ratifizierung eines von allen Mitgliedstaaten beschlossenen europäischen Vertrags entscheidet. Seit der Gründung der EWG wurden insgesamt 17 solcher Referenden im Zusammenhang mit der Ersten Erweiterung der EG 1973, der Einheitlichen Europä­ ische Akte, den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon, sowie der geplanten Europäischen Verfassung und dem Europäischen Fiskalpakt durchgeführt, allein 7 davon in Irland. Nach der ursprünglichen Ablehnung der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht durch Dänemark 1992 und des Vertrags von Nizza durch Irland 2001 wurde nach überwiegend symbolischen Zugeständnissen der anderen Mitgliedstaaten der Vertrag in einer zweiten Volksabstimmung durch das Volk abgesegnet. Dagegen brachten die ablehnenden Referenden in Frankreich vom 29.05.2005 und in den Niederlanden vom 01.06.2005 gegen die geplante Europäische Verfassung das Verfassungsprojekt zum Scheitern. Instruktiv zum Phänomen der EU-Vertragsreferenden: Patricia Roberts-Thomson, EU treaty referendums and the European union, J. Eur. Integrat. 23 (2001), 105 ff. Kritisch zur geringen Rolle von Vertragsreferenden in der EU: Andreas Auer, Editorial: The people have spoken: abide? A critical view of the EU’s dramatic referendum (in)experience, EuConst 12 (2016), 397 ff. 154

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Der EMRK-Beitritt der EU ist ein rechtlich hochkomplexes Projekt der Integration von zwei verschiedenen supranationalen Rechtsordnungen, das schon deshalb erhebliche Anpassungen erfordert, weil das Vertragsregime der EMRK auf Staaten – und nicht auf supranationale Gebilde wie die EU – zugeschnitten ist.157 Die spezifischen Modalitäten des Beitritts haben eine ausgeprägte EU-interne Dimension und sind für die Konventionsstaaten der EMRK, die nicht Mitglied der EU sind, von begrenzter Bedeutung.158 Ihre Rolle konzentrierte sich in den Verhandlungen über die Beitrittsübereinkunft weniger auf Regelungsdetails, sondern vornehmlich darauf, die Gleichbehandlung aller EMRK-Mitglieder sicherzustellen.159 Mit der ausgeprägten EU-internen Dimension des Beitrittsvorhabens hängt drittens zusammen, dass von dem EMRK-Beitritt der EU kein EU-Mitgliedstaat und keine EU-Institution so sehr betroffen ist wie der EuGH. Inhaltlich konzentriert sich das Beitrittsübereinkommen auf die Koordination des Verhältnisses zwischen dem EuGH und dem EGMR.160 Spezifische Regelungen, wie das Verfahren der Vorabbefassung und der Mitbeschwerdegegner-Mechanismus, betreffen in erster Linie die Tätigkeit des EuGH und des EGMR. Dieser „court-centric approach“161 hat dazu geführt, dass sogar der EuGH und der EGMR als Gerichte in den Prozess der Vertragsverhandlungen eingebunden waren: In einer Gemeinsamen Erklärung ­nahmen die Präsidenten des EuGH und des EGMR zu den Beitrittsverhandlungen Stellung und setzten sich insbesondere für die Einführung eines gerichtlichen Verfahrens der Vorabbefassung des EuGH ein.162 Wenn aber ein Abkommen vorrangig die Tätigkeit eines Gerichts betrifft, dann erscheint eine Intervention des betroffenen Gerichts eher vertretbar als bei einem inhaltlich erheblich weiter gefassten Abkom Diese Anpassungserfordernisse ergeben sich erstens daraus, dass infolge des geplanten Beitritts mit der EU und den Mitgliedstaaten erstmals zwei verschiedene Einheiten desselben föderalen Gebildes parallel Mitglieder der EMRK sein werden. Zweitens zeichnet sich der Vollzug in der EU dadurch aus, dass Regeln der EU in der Regel durch die Mitgliedstaaten vollzogen werden. Beides erschwert die Verantwortlichkeit für und Zurechenbarkeit von Konventionsverstößen. Siehe dazu näher Christoph Krenn, Autonomy and Effectiveness as Common Concerns: A Path to ECHR Accession After Opinion 2/13, German L.J. 16 (2015), 147 (150 f.). 158  Exemplarisch lässt sich dies am Verfahren der Vorabbefassung des EuGH in Mitbeschwerdegegnerfällen gemäß Art.  3 Abs.  6 ÜE illustrieren, das eine Umgehung des EuGH durch die EU-Mitgliedstaaten verhindern soll. 159  Siehe Robert Harmsen, The (Geo-)Politics of the EU Accession to the ECHR: Democracy and Distrust in the Wider Europe, in: Vasiliki Kosta/Nikos Skoutaris/Vassilis Tzevelekos (Hrsg.), The EU Accession to the ECHR, 2014, 199 (206 f.). Zum Verhandlungsprozess im Einzelnen, siehe Andrew Drzemczewski, The EU Accession to the ECHR: The Negotiation Process, in: Vasiliki Kosta/Nikos Skoutaris/Vassilis Tzevelekos (Hrsg.), The EU Accession to the ECHR, 2014, 17 ff. 160  Vgl. Lucas Lixinski, Taming the Fragmentation Monster through Human Rights?, in: Vasiliki Kosta/Nikos Skoutaris/Vassilis Tzevelekos (Hrsg.), The EU Accession to the ECHR, 2014, 219 (230 ff.). 161  Ebd., 232. 162  Gemeinsame Erklärung der Präsidenten von EGMR (Jean-Paul Costa) und EuGH (Vassilios Skouris) vom 24.01.2011, EuGRZ 2011, 95. 157

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men. Diese besonderen Umstände verdeutlichen, warum es eine Frage ist, ob der EuGH die Ratifizierung des Übereinkunftsentwurfs zum Beitritt der EU zur EMRK verhindert und eine andere Frage, ob das Verfassungsgericht eines EU-­Mitgliedstaats die Ratifizierung eines europäischen Vertrags vereitelt. Sie stellen aber nicht die grundsätzliche Annahme infrage, dass die gerichtliche Kontrolle bereits ausgehandelter völkerrechtlicher Verträge problematisch bleibt, weil sich der nach zähen Verhandlungsrunden geschlossene zwischenstaatliche Kompromiss regelmäßig nicht mehr ohne politische Verwerfungen wieder aufschnüren lässt. Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung wäre es auch vorzugswürdig gewesen, wenn der EuGH seine Bedingungen für die Unionsrechtskonformität der Beitrittsübereinkunft nicht an Modifikationen der Übereinkunft selbst gekoppelt, sondern von einseitigen völkerrechtlichen Vorbehalten der EU oder von rechtsordnungsinternen Änderungen im Unionsrecht abhängig gemacht, wenn er also seine verfassungsrechtlichen Einwände nicht externalisiert, sondern internalisiert hätte.

III. Entgrenzte Verfassungsgerichte? Die gegenwärtige verfassungsgerichtliche Praxis der Vertragskontrolle wirft folgende Frage auf: Wenn Verfassungsgerichte die Ratifizierung eines inter- oder supranationalen Vertrages aufgrund ihrer politisch-institutionellen Grenzen ohnehin nicht mehr aufhalten können, warum strapazieren sie dann die verfassungsprozessualen Antrags- und Beschwerdevoraussetzungen auf kreative Weise, nur um eine – den Vertrag im Rechtsfolgenausspruch bestätigende – (mittelbare) Vertragskontrolle vornehmen zu können? Auf der Folie der Kritik der rechtswissenschaftlichen angelsächsischen Debatte über die „global expansion of judicial power“,163 die mittlerweile auch in Deutschland angekommen ist,164 könnte man diese verfassungsgerichtliche Praxis als Entgrenzungssymptom auffassen: Das Bundesverfassungsgericht legt fest, wie ein europäischer Bundesstaat im Einklang mit dem Grundgesetz gegründet werden müsste; schreckt nicht davor zurück, die komplexen Maßnahmen der durch die Euro-­Krise gehetzten europäischen Staatsfrauen und -männer zum Gegenstand ­seiner Kontrolle zu machen; schreibt dem Bundestag vor, wie er seine parlamentarische Kontrolle im europäischen Integrationsprozess auszuüben hat. Bestätigt die rechtsordnungsübergreifende Praxis der Vertragskontrolle also das Bild von enthemmten imperialistischen Verfassungsgerichten, die frei von jeglicher politischen Verantwortlichkeit die zentralen Fragen des Gemeinwesens entscheiden? Wer die Verfassungsgerichtsbarkeit als die „Instanz des letzten Wortes“ begreift und die obiter dicta des BVerfG zur europäischen Demokratie als rechtsverbindli Vgl. Neal Tate/Torbjorn Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, 1995.  Vgl. Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011.

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che Anordnungen versteht, wird die Vertragskontrolle mit großer Skepsis beurteilen.165 Eine differenzierte Betrachtung erscheint allerdings weiterführender: Verfassungsgerichte zeichnen sich durch ein dialektisches Wesen aus. Der autoritative Stil der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsbegründung verdeckt, dass Verfassungsgerichte nicht urteilen, ohne den politisch-institutionellen Kontext ihrer Entscheidung und die vermeintlichen Reaktionen der anderen Gewalten zu berücksichtigen. Die verfassungsgerichtliche Vertragskontrolle ist nicht darauf ausgerichtet, um eine rigoros verstandene Klarstellungsfunktion des Rechts zu erfüllen, sondern stellt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer hohen Visibilität, für das Verfassungsgericht vor allem ein Forum dar, um rechtsordnungseigene verfassungsrechtliche Gesichtspunkte in den europäischen Integrationsprozess oder in den Entscheidungsprozess anderer inter- oder supranationaler Organisationen einzuspeisen. Mit der Wegweiser-Metapher lässt sich die verfassungsgerichtliche Praxis der Vertragskontrolle adäquat erklären.166 Die verfassungstheoretisch angeleiteten Europa-­Urteile tragen dazu bei, die maßgeblichen europäischen und nationalen politischen Akteure in einen verfassungsrechtlichen Diskurs zu verwickeln, der die Maßgeblichkeit verfassungsrechtlicher Prinzipien für inter- und supranationale Entscheidungsprozesse hervorkehrt und das soziale Narrativ über Bedeutung und Inhalt der Verfassung und des kollektiven nationalen Selbstverständnisses für die Prozesse und Strukturen der vernetzten Weltordnung fortentwickelt. Wenn Verfassungsgerichte Lehrmeister in einem Grundlagenkurs nationaler Norm- und Identitätsbildung sind,167 dann erscheint es sinnvoll, wenn sie auch im Hinblick auf die Prozesse der Europäisierung und Internationalisierung grundlegende verfassungsrechtliche Normen formen und beeinflussen und das Selbstverständnis ihrer Gemeinschaft prägen. Aus dieser Perspektive erscheinen die diversen Vorgaben und Warnungen, die in Vertragsurteilen etwa hinsichtlich der Übertragung und Ausübung von Kompetenzen ausgesprochen werden, nicht als kategoriale Grenzen des Integrationsprozesses, sondern als Versuch, verfassungsrechtliche Prinzipien in ­inter- und supranationale Entscheidungsprozess einzuspeisen, dadurch zukünftige Entscheidungen zu beeinflussen und allgemein einen rechtsordnungsübergreifenden Dialog zu diesen Fragen einzuleiten. Solche Mahnungen, Aufforderungen und Appelle sind regelmäßig die einzige Möglichkeit der Einflussnahme auf den europäischen Integrationsprozess, die nationale Verfassungsgerichten in der Situation des Ratifizierungsverfahrens verbleibt, denn ein einzelnes Verfassungsgericht ver-

 Kritisch zum Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit als die „Instanz des letzten Wortes“: Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 ff. 166  Dazu schon ebd. 167  So ausdrücklich im Hinblick auf den US Supreme Court: Eugene Rostow, The Democratic Character of Judicial Review, Harv. L. Rev. 66 (1952), 193 (208): „[T]he Justices are inevitably teachers in a vital national seminar.“ Zustimmend Marna Tucker, The Judge’s Role in Educating the Public About the Law, Cath. U. L. Rev. 31 (1982), 201 (205); Aharon Barak, The Judge in a Democracy, 2006, 23. 165

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

fügt, wie wir gesehen haben, kaum über die notwendige legitime Autorität, um die Verabschiedung eines europäischen Vertrages für 27 Mitgliedstaaten zu stoppen. Auch aus anderen Gründen wäre es zu einseitig, die verfassungsgerichtliche Vertragskontrolle ausschließlich als potenzielles Integrationshindernis zu betrachten: Zum einen erscheint es in der pluralistisch-heterarchischen Konstellation der vernetzten Weltordnung unverzichtbar, inter- und supranationale Entscheidungsprozesse für die verfassungsrechtlichen Belange der nationalen politischen Gemeinschaft zu erweitern und für neue Entscheidungsoptionen zu öffnen.168 Zum anderen trägt diese Form der Rückkoppelung inter- und supranationaler Prozesse an die nationale Verfassung auch zur Legitimierung dieser Prozesse bei. Die verfassungsgerichtliche Bescheinigung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes kann, wie schon dargelegt,169 auch ein Verfahren zur Legitimation des Gesetzgebers darstellen kann. Diese Annahme erscheint auch im Zusammenhang der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle als plausibel: Jedenfalls hat das BVerfG mit seiner Maastricht-­ Entscheidung einen breiteren öffentlichen Diskurs über den europäischen Integrationsprozess angestoßen, den der deutsche politische Prozess unter dem politischen Druck zur Zustimmung zu vermeiden suchte.170 Aus der Perspektive der Verfassungsgerichtsbarkeit als Wegweiser ergibt sich auch im Hinblick auf die Verfassungsgerichtsentscheidungen zur Euro-Krise ein differenziertes Bild: Zum einen stellt sich hier der legitimatorische Einwand gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit in besonderer Schärfe. Denn die Folgen eines Urteils in dieser Angelegenheit reichen weit über die eigene Rechtsordnung hinaus und betreffen potenziell Millionen von Menschen in anderen Ländern. Wenn etwa das BVerfG mit seinem ESM-Urteil und seinem OMT-Beschluss171 die weiteren Maßnahmen der europapolitischen Akteure in der Euro-Krise beeinflusst, kann das Auswirkungen auf die Situation der Griechen, Spanier und Portugiesen haben. Darüber hinaus wiegen die in der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit angelegten Input-­ Defizite im Zusammenhang mit den äußerst komplexen ökonomischen ­Zusammenhängen der Euro-Krise besonders schwer, tiefgreifende Verständigungsprobleme zwischen juristisch gebildeten Verfassungsrichten und Bankern drohen zu schweren, kaum kalkulierbaren Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten zu führen. Denn auch im obiter dictum formulierte verfassungsrechtliche Standpunkte können den politischen Diskurs insofern beeinflussen, als bestimmte Positionen mit einem „Makel der Verfassungswidrigkeit“ behaftet werden – und damit

 Zu diesem normativen Gesichtspunkt: Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II.  Vgl. oben, Erster Teil, Kap. 5, C. und Kap. 14, A., II., 1, a. 170  Zumal in Deutschland sowohl die Konservativen als auch die Linken traditionell europafreundlich sind. Es gibt keine relevante parlamentarische Opposition, die europaskeptische Bestrebungen in der Bevölkerung in das parlamentarische Verfahren einbringen könnte, so dass diese dort gehört, abgewogen und verworfen werden. 171  Der OMT-Beschluss betrifft nicht das europäische Vertragsrecht, sondern das abgeleitete Recht, übernimmt aber teilweise äquivalente Funktionen. Die Abgrenzung zwischen den Zwecken der Vertragskontrolle und der Kontrolle des abgeleiteten Rechts ist nicht immer trennscharf. 168 169

B. Analyse: Das Vertragsurteil als Medium für das Einspeisen rechtsordnungseigener …

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finanzpolitisch erforderlich erscheinende Maßnahmen nicht mehr durchsetzbar sein könnten. Zum anderen ist es aber eine Frage, ob ein Verfassungsgericht sich – der Logik der political question-Doktrin folgend – jeglicher Stellungnahme zu Maßnahmen zur Euro-Krise enthält und eine andere Frage, ob es bei seiner Kontrolle die – in besonderem Maße – gebotene richterliche Vorsicht und Selbstbeschränkung walten lässt. Solange Verfassungsgerichte in dieser Frage ihre politisch-institutionellen Grenzen hinreichend reflektieren, erscheint die Ausübung einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle durchaus angemessen. Das zwischenstaatliche Management der Euro-Krise ist ein Beispiel für politische Schnelllebigkeit, für eine von den Finanzmärkten getriebene Politik, für die Dominanz der Exekutive in inter- und supranationalen Entscheidungsprozessen, für das bewusste Hinwegsehen über Bestimmungen der nationalen und europäischen Finanzverfassung. Dabei kann niemand mit Gewissheit wissen, ob die unter diesen Umständen vereinbarten Maßnahmen wirksam sind. Erst die Geschichte wird zeigen, welche Maßnahmen sich rückblickend als richtig und welche sich als falsch erweisen. Unter diesen Umständen kann der institutionell auf Prinzipienorientierung und Unabhängigkeit vom politischen Tagesgeschäft ausgerichtete verfassungsgerichtliche Entscheidungsprozess ein sinnvolles Gegengewicht zu den Entscheidungen exekutivischer Regierungskonferenzen bilden und zu einem rechtsordnungsübergreifenden System der checks and balances beitragen. Bedenklich stimmt allerdings die selbstverstärkende Eigenlogik des verfassungsgerichtlichen Entscheidens. Es besteht die Gefahr, dass bestimmte strukturelle ­Faktoren, die im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Koordinations- und Kon­ trollfunktionen im nationalen Gemeinwesen herausgearbeitet wurden, im Zusammenhang mit der Vertragskontrolle in Richtung einer verfassungsgerichtlichen ­Entgrenzung drängen. Zum Ersten besteht eine gewisse symbiotische Verbindung zwischen dem zum Tätigwerden auf Anrufung angewiesenen Verfassungsgericht und der politischen Opposition, soweit diese das Gericht mit Verfassungsstreitigkeiten befassen kann. Im Kontext der europäischen Vertragskontrolle des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich diese Verbindung in einer kleinen, dem europäischen Integrationsprozess mit Skepsis begegnenden Gruppe CSU-Abgeordneter um Herrn Gauweiler, die das BVerfG mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Zustimmung zu mehreren europäischen Verträgen befasst haben. Hier besteht die Gefahr, dass das BVerfG dieser politischen Minderheit, die als Beschwerdeführer im Verfassungsprozess zudem eine tragende Rolle einnimmt, zumindest mit kleinen Zugeständnissen entge­ genkommt, damit diese weiterhin Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz zu europäischen Verträgen einlegen.172  Jedenfalls erhalten die Beschwerdeführer um Herrn Gauweiler in den Vertragsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht regelmäßig die Kosten erstattet, obwohl sie im Rechtsstreit unterliegen, weil sie zur „Klärung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen“ beitragen. Siehe Christian Rath, Der Schiedsrichterstaat: Die Macht des Bundesverfassungsgerichts, 2013, 20. Grundsätzlich zu dieser Anreizstruktur: Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, 141 ff.

172

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Kapitel 14: Das Vertragsrecht als Kontrollgegenstand

Zum Zweiten ist die Verfahrensweise von Gerichten nicht darauf angelegt, Fehler zu korrigieren, sondern – ganz im Gegenteil – darauf, eine verfassungsgerichtliche Entscheidungspraxis fortwährend zu bestätigen. Im Zusammenhang mit der Vertragskontrolle könnte das bedeuten, dass diese Praxis selbst dann noch fortgesetzt wird, obwohl sie dem politisch-institutionellen Kontext unangemessen erscheint.173 Zum Dritten drohen Verfassungsgerichten Glaubwürdigkeits- und Autoritätseinbußen, insofern sie inter- und supranationale Gründungsverträge weiterhin regelmäßig kontrollieren, ohne zu sanktionieren.174 Auf Dauer leidet die Glaubwürdigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn sie der Regierungsmehrheit niemals in die Quere kommt.175 Dementsprechend lastet ein gewisser Druck auf Verfassungsgerichten, „zur Wahrung ihrer Autorität“ auch einmal ein verfassungsrechtliches Veto gegen die rechtsordnungsinterne Ratifizierung eines inter- oder supranationalen Vertrages einzulegen, obwohl dies aufgrund der strukturellen Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Entscheidungsfindung als problematisch erscheint.

C. Zusammenfassung Im Recht internationaler Organisationen besteht eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Vertragsrecht, also dem durch die Mitgliedstaaten vereinbarten Gründungsvertrag, der wie eine „Verfassung“ der internationalen Organisation ihre Institutionen einrichtet, die Kompetenzen absteckt und die Verfahren der Rechtserzeugung festlegt einerseits und dem abgeleiteten Recht, also dem auf Grundlage des Vertrages durch die Institutionen der internationalen Organisation selbst erzeugten Recht andererseits. Obwohl die Prüfung des Zustimmungsgesetzes zu einem interoder supranationalen Vertrag vor der Ratifikation auf die Vereinbarkeit mit der Verfassung wegen der Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung bei der Aushandlung inter- und supranationalen Verträgen strukturelle Probleme des kollektiven Handelns verursachen kann, wird die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Vertragsrechts im EU-Kontext in vielen Mitgliedstaaten mittlerweile fast ­routinemäßig durchgeführt. Insbesondere die Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte zum Vertrag von Lissabon zeugt von einer neuen Qualität der Vertragskontrolle, die sich in den Urteilen zum europäischen Rettungsschirm fortgesetzt hat. Im europäischen Kontext bildet sich die Vertragskontrolle, die regelmäßig durch den EuGH und durch nationale Verfassungsgerichte durchgeführt wird, immer mehr zu einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm heraus.  In Deutschland wird diese Gefahr durch die signifikante Rolle der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG für den europäischen Integrationsprozess noch verstärkt, der selbst der Dispositionsbefugnis des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen ist. 174  In diesem Sinne J.H.H. Weiler, Editorial: Judicial Ego, ICON 9 (2011), 1 (2), der meint, dass das Bundesverfassungsgericht „has cried Wolf too many times to be taken seriously“. 175  Vgl. Reinhard Müller, Noch ein „Ja, aber“? Im EZB-Verfahren ruht wieder eine große Last auf dem Bundesverfassungsgericht, FAZ v. 31.01.2014, 10. 173

C. Zusammenfassung

367

Auch außerhalb Europas zeichnet sich in Grundzügen eine Praxis der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle ab, wie die Kontrolle der Inkorporation des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs durch die Verfassungsgerichte Kolumbiens und Chiles zeigt. Die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechung zum Vertragsrecht kennzeichnet sich durch einen Gegensatz: Einerseits beanspruchen Verfassungsgerichte eine (mittelbare) Kontrolle inter- und supranationaler Gründungsverträge, andererseits verzichten sie darauf, die Ratifizierung des Vertrags zu vereiteln. Das lässt sich damit erklären, dass die definitive Vereitelung der Ratifikation eines Gründungsvertrags vor dem Hintergrund der strukturellen Probleme bei der zwischenstaatlichen Kompromissbildung die politisch-institutionellen Grenzen eines Verfassungsgerichts übersteigen würde und daher auch nicht der Zielrichtung des Vertragsurteils entspricht. Die Kontrolle des Vertragsrechts dient Verfassungsgerichten als Medium, um bestimmte rechtsordnungseigene konstitutionalistische Belange in die Entscheidungsprozesse rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Institutionen einzuspeisen. Sie dient als Forum, um mit Verfassungsgerichten verschiedener Rechtsordnungen in einen rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog treten, um sich miteinander auf unterschiedliche Rechtsprechungsmodelle zu verständigen, wie die verfassungsgerichtliche Auseinandersetzung um die Ultra-vires-Kontrolle und die Verfassungsidentität als Kontrollmaßstab belegen. Das Anliegen der kon­ trollierenden Verfassungsgerichte liegt darin, den konstitutionellen Diskurs über das betreffende Vertragsregime mitzugestalten, inter- und supranationale Entscheidungsprozesse für die verfassungsrechtlichen Belange der nationalen politischen Gemeinschaft zu erweitern und damit auch stärker zu legitimieren, sowie seine Rechtsprechung mit anderen Verfassungsgerichten zu koordinieren. Zwar bestehen aufgrund der tendenziell selbstverstärkenden Eigenlogik des verfassungsgerichtlichen Entscheidens Bedenken gegen die Praxis der Vertragskon­ trolle. Insbesondere unterliegen Verfassungsgerichte einem gewissen Druck, Konzessionen an die Antragsteller des Vertragsverfahrens zu machen, um auch in Zukunft „angerufen“ zu werden und ein Zustimmungsgesetz auch einmal für unvereinbar mit der Verfassung zu erklären, um keine Glaubwürdigkeits- und Autoritätseinbußen zu erleiden. Insgesamt bildet der institutionell auf Prinzipienorientierung und Unabhängigkeit vom politischen Tagesgeschäft ausgerichtete verfassungsgerichtliche Entscheidungsprozess jedoch ein sinnvolles Gegengewicht zu den gehetzten, unter hohem politischem Druck stehenden Entscheidungen exekutivischer ­Regierungskonferenzen.

Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen Zwischen der Kontrolle des Vertragsrechts und der Kontrolle des abgeleiteten Rechts bestehen signifikante, strukturelle Unterschiede, die sich maßgeblich auf die Art und Weise der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auswirken und die Verfassungsgerichte bei ihren Entscheidungen daher berücksichtigen sollten. Im Rahmen der Kontrolle des Vertragsrechts steht, wie wir gesehen haben,1 politisch viel auf dem Spiel, weil es um die Teilnahme eines Nationalstaats an einer inter- oder supranationalen Organisation geht und es wird für ein Verfassungsgericht auch kaum abschätzbar sein, ob etwa aus den im Gründungsvertrag übertragenen Entscheidungskompetenzen Grundrechtsbeeinträchtigungen der eigenen Bürger resultieren werden. Das ist bei der Kontrolle des abgeleiteten Rechts anders: Hier liegt der Grundrechtseingriff bereits vor, das Verfassungsgericht kann einen individualisierten, abgeschlossenen Sachverhalt retrospektiv prüfen. Andererseits wird durch die Konkretisierungswirkung dieser Konstellation die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer rechtsordnungsübergreifenden Normenkollision erhöht. Dennoch haben sich Verfassungsgerichte gerade im Zusammenhang mit der Kontrolle des abgeleiteten Rechts lange in Zurückhaltung geübt. Zwar bestehen berechtigte Bedenken, durch diese Kontrolle die Funktionsfähigkeit dieser – in einer globalisierten Welt – unverzichtbaren Einrichtungen zu beeinträchtigen.2 Im Unterschied zur Kontrolle des Vertragsrechts erscheint es im Zusammenhang mit der  Oben Dritter Teil, Kap. 14, B., I.  Eingehend: Oben Erster Teil, Kap. 4, A., I., 1.

1 2

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_15

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

Kontrolle des abgeleiteten Rechts aufgrund des begrenzteren Sachverhalts (Gründungsvertrag versus Rechtsakt) jedoch eher vertretbar, in bestimmten Konstellationen einem rechtsordnungsfremden inter- oder supranationalen Rechtsakt die Anwendung in der eigenen Rechtsordnung zu versagen. Aber dürfen Verfassungsgerichte wirklich rechtsordnungsfremde Rechtsakte kontrollieren, zu deren Inkorporation sich mit der Regierung und dem Parlament rechtsordnungseigene Institutionen verpflichtet haben? Ist es nicht die Aufgabe inter- und supranationaler Gerichte wie dem EuGH, anstatt die Aufgabe der mitgliedstaatlichen Gerichte, die Rechtmäßigkeit unionsrechtlicher Maßnahmen inhaltlich zu beurteilen? Im Hinblick auf die Kontrolle des abgeleiteten Rechts lassen sich zwei Problemkomplexe unterscheiden: zum einen die Frage, ob Verfassungsgerichte eine solche Kontrolle trotz der in den obigen Fragen skizzierten Bedenken ausüben und zum anderen die Frage, wie sie diese Kontrolle ausüben. Wie wir sehen werden, unterwerfen Verfassungsgerichte unter den Gegebenheiten der vernetzten Weltordnung neben dem rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Vertragsrecht verstärkt das abgeleitete Recht inter- und supranationaler Organisationen ihrer Kon­ trolle (I.). Bei der Frage nach der Art und Weise der Ausübung dieser Kontrolle zeichnet sich hingegen kein eindeutiger Rechtsprechungstrend ab. Es lassen sich aber bei näherer rechtsvergleichender Betrachtung der Rechtsprechung zwei konkurrierende Kontrollmodelle unterscheiden, die im Folgenden als engagement-Modell und als Modell harmonisierender Auslegung bezeichnet werden (II.). Hier stellt sich die Frage welches Modell vorzuziehen ist, in Richtung welchen Modells sich die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis also entwickeln sollte.

I . Die Herausbildung der Kontrolle des abgeleiteten Rechts zur rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm Mittlerweile scheint sich die Kontrolle des abgeleiteten Rechts immer mehr zur rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungspraxis herauszubilden.3 Eine wegweisende Rolle hat dabei das institutionell einflussreiche und selbstbewusste Bundesverfassungsgericht gespielt, das in seinem Solange I-Beschluss erstmals die Kontrolle über die rechtsordnungseigene Inkorporation einer unionsrechtlichen Verordnung beanspruchte und zudem eine für viele andere Gerichte überzeugende normative Rechtfertigung für diese Praxis entwickelt hat.4 Im EU-Kontext sind dem  Vgl. die folgenden Ausführungen: Unten Dritter Teil, Kap. 15, A., I.  Dagegen lehnt das BVerfG eine unmittelbare Kontrolle des Handelns deutscher Ratsvertreter ab. Verfassungsbeschwerden bzw. einstweilige Anordnungen gegen geltend gemachte Grundrechtseingriffe, die durch die Zustimmung der deutschen Regierung zu europäischen Sekundärrechtsakten hervorgerufen wurden, hat das Gericht wegen Fehlens eines selbstständig, angreifbaren Rechtsetzungsakts als unzulässig abgewiesen. Siehe BVerfGE 80, 74 –Tabaketikettierungs-Richtlinie (1989). Für eine solche Bindung des deutschen Vertreters im Rat: Annette Kersting, Der Umfang des Schutzes der deutschen Grundrechte und ihrer Funktionen durch die Grundrechtsbindung 3 4

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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BVerfG mehrere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte gefolgt (1.). Ein weiterer wichtiger Schritt in der Herausbildung einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm ist der Widerstand einer Vielzahl von Gerichten aus verschiedensten Rechtsordnungen gegen das nach konstitutionalistischen Maßstäben defizitäre, vom Sicherheitsrat eingerichtete UN-­Sanktionsregime (2.). Wie wir sehen werden, nehmen nationale und europäische Gerichte – trotz der Anordnung des Vorrangs der für die UN-Mitgliedstaaten aus den Sicherheitsratsresolutionen resultierenden Verpflichtungen vor allen anderen internationalen Verpflichtungen nach den Art. 25, 48 und 103 der UN-Charta – eine Kontrolle vor. Darüber hinaus unterwirft der EGMR nach anfänglicher Zurückhaltung selbst Kriegshandlungen der Konventionsstaaten unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen in bestimmten Konstellationen einer Kontrolle (3.). Wie hinsichtlich des Vertragsrechts wählen diese Gerichte bei ihrer Kontrolle des abgeleiteten Rechts, also etwa einer europäische Verordnung oder einer UN-Sicherheitsratsresolution, den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt als Anknüpfungspunkt, also ein Gesetz, eine Rechtsverordnung oder auch nur einen Verwaltungsakt.5 1 . Kontrolle des unionsrechtlichen Sekundärrechts durch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte Nachdem der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts zunächst eine Verfassungsbeschwerde gegen eine EWG-Verordnung mit der Begründung zurückgewiesen hatte, dass eine unionsrechtliche Verordnung nicht unmittelbarer Kontrollge-

des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 1 Abs. 3 GG und die Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von sekundärem G ­ emeinschaftsrecht, 2002. 5  Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert in seinem Solange I-Beschluss nicht unmittelbar die europäische Verordnung, sondern die Bescheide deutscher Zollbehörden, die die unionsrechtliche Verordnung anwenden. BVerfGE 37, 271 (283) – Solange I (1974). In der Saga um das UN-Sanktionsregime gegen Unterstützer von Al-Qaida ist Kontrollgegenstand der nationalen und europä­ ischen Gerichte nicht unmittelbar die UN-Sicherheitsratsresolution 1267, die gezielte Sanktionen gegen solche Personen vorsieht, sondern die rechtsordnungseigene Verordnung, die die Antiterrormaßnahmen in die eigene Rechtsordnung inkorporiert.  Vgl. nur EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 157. In vergleichbarer Weise zieht der EGMR bei seiner menschenrechtlichen Kontrolle der EU-Institutionen den konventionsstaatlichen Inkorporations- oder Vollzugsakt, und nicht den Unionsrechtsakt, als Anknüpfungspunkt heran. Ein Unterschied im Zusammenhang mit dem EGMR liegt jedoch darin, dass dieser an den Inkorporations- oder Vollzugsakt des Konventionsstaats anknüpft, weil ein Inkorporationsakt der Konventionsinstitutionen in der rechtlichen Struktur der EMRK grundsätzlich nicht vorgesehen ist. Dementsprechend hob der Gerichtshof auch im Zusammenhang mit den gezielten Al Qaida-Sanktionen des UN-Sicherheitsrats in der zuvor vom schweizerischen Bundesgericht entschiedenen Rechtssache Nada v. Schweiz hervor, dass Kontrollgegenstand nicht die Sicherheitsratsresolution selbst sei, sondern die Implementierung durch die staatlichen Stellen der Schweiz. Daher sei die Schweiz im konventionsrechtlichen Sinne für diese Maßnahmen verantwortlich. Siehe EGMR, Urt. v. 12.09.2012, Nr. 10593/08 – Nada v. Schweiz, Rn. 102, 104.

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

genstand sein könne,6 entschied der Zweite Senat in seinem Solange I-Beschluss vor dem Hintergrund der wachsenden Kritik an dem unzureichenden Grundrechtsschutz im Zusammenhang mit europäischen Rechtsakten, dass zwar nicht die Verordnung selbst, aber der Vollzug der Verordnung durch deutsche Verwaltungsbehörden einen zulässigen Kontrollgegenstand darstellt.7 Die Entscheidung ist von epochaler Bedeutung: Aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte kann man sie als das Marbury v. Madison der vernetzten Weltordnung charakterisieren,8 weil das Bundesverfassungsgericht die Grundsatzentscheidung trifft, eine richterliche Kontrollbefugnis über europäische Rechtsakte zu beanspruchen,9 gleichzeitig aber die Ausübung dieser Kontrolle  – signalisiert durch die Formulierung „Solange“ – von bestimmten konstitutionellen Entwicklungen innerhalb der EU abhängig macht, nämlich von dem durch europäische Institutionen gewährleisteten Niveau des Grundrechtsschutzes. Die Entscheidung des Zweiten Senats stellt auch deshalb eine zentrale Weichenstellung dar, weil zum ersten und letzten Mal die Frage der Erhebung eines Kontrollanspruchs über das abgeleitete Unionsrecht innerhalb des Senats im Grundsatz umstritten war und in der Entscheidung grundsätzlich diskutiert wurde. Mittlerweile wird der grundsätzliche verfassungsgerichtliche Kontrollanspruch in Deutschland anerkannt und das BVerfG übt auch eine Kon­ trolle von EU-Richtlinien (und zwischenzeitlich von Rahmenbeschlüssen) aus, wobei es seine Prüfung in einen unionsrechtlich determinierten und einen allein auf rechtsordnungsinternen Gesichtspunkten beruhenden Teil aufspaltet.10 Die maßgebliche Begründung für diese Form der Kontrolle des unionsrechtlichen Sekundärrechts entwickelte das BVerfG bereits in Solange I: Danach haben die Bürger der Bundesrepublik Deutschland „einen Anspruch auf gerichtlichen Schutz ihrer im Grundgesetz garantierten Grundrechte“, der nicht einfach deshalb beeinträchtigt werden kann, „weil sie durch Rechtsakte von Behörden oder Gerichten der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar betroffen werden, die sich auf Gemeinschaftsrecht stützen.“11 Das Gericht befürchtet, dass ohne eine solche Kon­ trolle „gerade für die elementarsten Statusrechte des Bürgers eine empfindliche Lücke des gerichtlichen Schutzes“ entstünde.12  BVerfGE 22, 293 – EWG-Verordnungen (1967).  BVerfGE 37, 271 – Solange I (1974). 8  Vgl. US Supreme Court, Urt. v. 24.02.1803 – Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 177 (1803). 9  Unmittelbar erstreckt sich der Kontrollanspruch des BVerfG in Solange I nur auf deutsche Rechtsakte, mittelbar wird dadurch aber auch die unionsrechtliche Verordnung geprüft. Dazu im Einzelnen oben Dritter Teil, Kap. 14. 10  BVerfGE 118, 79 (95 ff.) – Emissionshandel (2007). Wo die Trennlinie zwischen dem unionsrechtlich determinierten und dem auf nationalen Erwägungen beruhenden Teil genau verlaufen soll, erörtert das BVerfG in BVerfGE 129, 186 – Investitionszulagengesetz (2011). Dazu Mattias Wendel, Neue Akzente im europäischen Grundrechtsverbund. Die fachgerichtliche Vorlage an den EuGH als Prozessvoraussetzung der konkreten Normenkontrolle, EuZW 2012, 213 ff. Grundlegend zur Frage des Grundrechtsschutzes gegen EU-Richtlinien: Benjamin Maier, Grundrechtsschutz bei der Durchführung von Richtlinien, 2014. 11  BVerfGE 37, 271 (282) – Solange I (1974). 12  Ebd. 6 7

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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In Italien erweiterte die Corte Costituzionale im Fragd-Urteil ihre Kompetenz zur Kontrolle des Zustimmungsgesetzes zu den europäischen Verträgen um die Auslegung und Anwendung dieser Verträge durch die EU-Institutionen – und damit um das abgeleitete Unionsrecht.13 In Carlsen v. Rasmussen und in Ajos beanspruchte der Oberste Gerichtshof Dänemarks eine Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts zum Zwecke einer Ultra-vires-Kontrolle.14 In jüngeren Entscheidungen unterwarfen der polnische Verfassungsgerichtshof und das tschechische Verfassungsgericht bestimmte EU-Verordnungen einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle.15 Der französische Conseil constitutionnel prüft im Rahmen einer Ex-ante-Kontrolle die Verfassungsmäßigkeit eines nationalen Gesetzes, das Richtlinienvorgaben umsetzt und zwar auch in Hinsicht auf solche Bestimmungen, die durch die Richtlinie determiniert sind, bei denen der nationale Gesetzgeber also keinen Umsetzungsspielraum hat.16 Allerdings beschränkt der Verfassungsrat seine Kontrolle auf Fälle, in denen die Bestimmungen der Richtlinie im ausdrücklichen Widerspruch zu einer Bestimmung der Verfassung stehen.17 Auch der Conseil d’État zieht in seiner Arcelor-­ Entscheidung – mittelbar – eine EU-Richtlinie als Kontrollgegenstand heran.18

 Siehe Corte Costituzionale, Entsch. v. 13.04.1989, Nr. 232/1989 – Spa Fragd v. Ministro delle Finanze. Dazu Thomas Kröll, Der letzte (?) Schritt auf dem cammino comunitario der Consulta: Die Corte costituzionale im direkten Dialog mit Luxemburg, ZfV 2011, 162 (165 f.). Näher zum Fragd-Urteil: Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 2., a. 14  Zu diesen Urteilen, siehe unten Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., b. 15  Dazu: Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 2., c. und B., I., 2., c. 16  Catherine Haguenau-Moizard, Offene Staatlichkeit: Frankreich, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd II, 2008, §  15, 37 (50 f.). Die Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts durch den Conseil constitutionnel scheint die These zu bestätigen, dass nationale Verfassungsgerichte dazu neigen, ihre Kompetenzen auszubauen, um das Recht inter- oder supranationaler Organisationen umfangreicher kontrollieren zu können. Zum Hintergrund: Aufgrund der begrenzten prozessualen Befugnisse des Conseil constitutionnel war die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Unionsrechts in Frankreich lange auf das nationale Zustimmungsgesetz zum europäischen Vertrag ausgerichtet. Die Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Sekundärrecht hingegen ist begrenzt. Bis zur Verfassungsreform vom 23.07.2008 waren die Prüfungsbefugnisse des Conseil constitutionnel auf die Ex-ante-Kontrolle von Gesetzen beschränkt. Dadurch ist der Verfassungsrat prozessual nur für die Prüfung nationaler Übertragungsgesetze berufen. Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts einer su­ pranationalen Organisation ist ihm dagegen grundsätzlich verwehrt, soweit dieses nicht durch ein formelles Gesetz in die nationale Rechtsordnung inkorporiert werden muss. Entgegen seiner zurückhaltenden Haltung in den ersten Jahrzehnten der Fünften Republik nutzt der Verfassungsrat aber die Möglichkeit der Kontrolle europäischer Richtlinien, weil diese zur Umsetzung eines nationalen Umsetzungsgesetzes bedürfen. Man muss abwarten, wie sich die Einführung der konkreten Normenkontrolle, der Möglichkeit der Vorlage durch unterinstanzliche Gerichte an den Conseil constitutionnel, die allerdings durch den Conseil d’État und die Cour de Cassation überwacht wird, auf die institutionellen Praxis niederschlägt. 17  Conseil constitutionnel, Entsch. v. 19.11.2004, Nr.  2004-505 DC  – Verfassungsvertrag, Rec. 173, EuGRZ 2005, 45 ff. 18  Zu dieser Entscheidung: Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 2., b. 13

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

2. Kontrolle der gezielten Sanktionen des UN-Sicherheitsrats Ein entscheidendes Moment für die vernetzte Weltordnung stellt der gerichtliche Widerstand einer Vielzahl nationaler und europäischer Gerichte (b.) gegen das nach konstitutionalistischen Maßstäben offensichtlich defizitäre UN-Sanktionsregime (a.) vor dem Hintergrund der herausragenden Stellung des UN-Sicherheitsrats dar. Ein nicht zu unterschätzender Faktor in dieser bemerkenswerten Entwicklung dürfte darin liegen, dass die Gerichte dem übermächtigen UN-Sicherheitsrat nicht allein gegenüberstehen, sondern sich gerade aufgrund der rechtsordnungsübergreifenden Dynamik als Teil einer „global community of courts“ fühlen und damit ihr Vorgehen leichter rechtfertigen können.19 a. Hintergrund: Das „kafkaeske“ Sanktionsregime des UN-Sicherheitsrats Individualbezogene Resolutionen des UN-Sicherheitsrats im Kampf gegen den transnationalen Terrorismus haben nationale und europäischen Gerichte über Jahre hinweg beschäftigt und die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit diese Gerichte zur Kontrolle über diese abgeleiteten rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechtsakte befugt sind. Der Hintergrund dieser Saga ist folgender: Mit dem Ziel der Austrocknung der Geldquellen zunächst des Taliban-Regimes,20 dann von Personen und Einrichtungen, die unter dem dringenden Verdacht stehen, Al-Qaida finanziell zu unterstützen,21 hat der UN-Sicherheitsrat sogenannte „smart Santinos“ eingesetzt, insbesondere das Einfrieren von Geldern und Finanzmitteln sowie Reisebeschränkungen der verdächtigen Personen, die die UN-Mitgliedstaaten umsetzen sollen.22 Zur Bestimmung der verdächtigen Personen hat der Sicherheitsrat Sanktionskomitees als UN-Nebenorgane eingerichtet, in dem die Vertreter der Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats regelmäßig korrigierte Namenslisten mit Terrorverdächtigen erstellen.23 Die Sicherheitsratsresolutionen einschließlich dieser UN-Terroristenlisten im Anhang inkorporierten die UN-Mitgliedstaaten bzw. die EU für die meisten europäischen UN-Mitgliedstaaten – meistens in Form von Verordnungen  – spiegelbildlich in ihre Rechtsordnung. Weil die angeordneten Maß-

 Bereits oben Erster Teil, Kap. 6, A., II.  In Reaktion auf die Al-Qaida zugerechneten Terroranschläge auf die US-amerikanischen Botschaften in Kenia und in Tansania vom 07.08.1998 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die gegen das Taliban-Regime gerichtete Resolution 1267 (1999), um dieses zur Aufgabe seiner Unterstützung von Al-Qaida zu bewegen. 21  Durch die Resolution 1333 (2000) wurde der Anwendungsbereich der Resolution 1267 (1999) auf Mitglieder und Unterstützer von Al-Qaida ausgeweitet. 22  Zum Überblick Clemens Feinäugle, Hoheitsgewalt im Völkerrecht. Das 1267-Sanktionsregime der UN und seine rechtliche Fassung, 2011, 141 ff.; John Beuren, Das Al Qaida-Sanktionsregime als Ausübung supranationaler Kompetenzen durch den Sicherheitsrat, 2016, 30 ff. 23  Das 1267-Komitee, hier als UN-Sanktionskomitee bezeichnet, wurde bereits durch die Resolution 1267 (1999) eingerichtet. Seine Rechtsgrundlage ist Art. 29 der UN-Charta. 19 20

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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nahmen für die betroffenen Personen einerseits besonders einschneidend sind,24 andererseits der personelle Anwendungsbereich mit vermuteten Unterstützern von Al-Qaida relativ weit gefasst ist,25 kommt dem Verfahren im UN-Sanktionskomitee für den Grund- und Menschenrechtsschutz der Betroffenen eine herausragende Bedeutung zu. Zu den Betroffenen zählen die Herren Kadi, Nada, Al-Dulimi, Ahmed, Abdelrazik und noch viele andere, die gerichtlich gegen ihre Listung vorgegangen sind und damit den noch detaillierter zu schildernden Verfahren ihren Namen gegeben haben.26 Die Bedenken gegen das UN-Sanktionsregime liegen nicht im Einsatz von smart sanctions gegen Al-Qaida an sich, sondern in der Ausgestaltung des Verfahrens, durch das die betroffenen Personen designiert werden.27 In seiner ursprünglichen Ausgestaltung war das Verfahren aus der Sicht der Betroffenen geradezu „kafkaesk“:28 Weder wurden sie vor dem Einfrieren ihres Vermögens informiert, noch teilte man ihnen die Gründe für ihre Aufnahme in die UN-Terroristenlisten mit. Zur Listung genügte es schon, dass auf Vorschlag eines UN-Mitgliedstaats hin Einstimmigkeit in der Weise erzielt werden konnte, dass kein Mitglied des Sanktionskomitees Einspruch erhob.29 Die seiner Empfehlung zugrunde liegenden Erkenntnisse musste der Vorschlagsstaat dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagenden Sanktionskomitee zum Schutz geheimdienstlicher Informationen dabei nicht notwendig vorlegen.30 Die einzige Möglichkeit des Betroffenen, sich vor dem Sanktionskomi Der EuGH stellte dazu fest, dass „sowohl das Berufs- als auch das Familienleben der betroffenen Person aufgrund der Einschränkungen des Gebrauchs ihres Eigentumsrechts, die sich aus der umfassenden Geltung und, wie hier, der tatsächlichen Dauer der Anwendung dieser Maßnahmen ergeben, beträchtlich erschüttert wird, und zum anderen dadurch, dass sie die betroffene Person stigmatisieren und das Misstrauen der Öffentlichkeit ihr gegenüber erwecken. EuGH, Urt. v. 18.07.2013, Rs. C-584/10 P, C-593/10 P, C-595/10 P  – Kommission v. Kadi („Kadi II“), ECLI:EU:C:2013:518, Rn.  132.“ Diese Maßnahmen waren gegenüber den Herren Kadi und Nada über mehrere Jahre in Kraft, wodurch diese präventive Maßnahmen den Charakter von Strafen annahmen. So zutreffend Machiko Kanetake, The Interfaces between the National and International Rule of Law: The Case of UN Targeted Sanctions, IOLR 9 (2012), 267 (283): „Arguably, the longer a suspected individual remains on the list, the more likely it is that the effect of sanctions will resemble a criminal charge.“ 25  Das UN-Sanktionskomitee hat über 500 Personen – die große Mehrheit davon auf Vorschlag der USA – auf die Terrorliste gesetzt. Zwar hatte der UN-Sicherheitsrat bereits in der Vergangenheit sogenannte smart sanctions eingesetzt, allerdings sind die hohe Zahl der betroffenen Personen, gepaart mit der Einbeziehung nicht-staatlichen Akteure bislang einzigartig geblieben. Siehe Ian Johnstone, Legislation and Adjudication in the UN Security Council: Bringing Down the Deliberative Deficit, AJIL 102 (2008), 275 (295 f.). 26  Vgl. unten Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2., b. und 6, A., I. 27  Ian Johnstone, Legislation and Adjudication in the UN Security Council: Bringing Down the Deliberative Deficit, AJIL 102 (2008), 275 (297). 28  Siehe Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (239). 29  Iain Cameron, UN Targeted Sanctions, Legal Safeguards and the European Convention on Human Rights, NJIL 72 (2003), 159 (166). 30  Dieses Transparenzdefizit wurde erst durch die SR-Res. 1390 (2002) behoben. Seitdem ist der 24

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

tee zur Wehr zu setzen, bestand zunächst darin, seinen Heimatstaat um die Gewährung von diplomatischem Schutz zu ersuchen, um dabei den Staat von der Streichung des Betroffenen zu überzeugen, der die Eintragung veranlasst hatte. Soweit ein Einvernehmen zwischen diesen beiden Staaten nicht erzielt werden konnte, musste die Streichung einstimmig durch das Sanktionskomitee beschlossen werden.31 Eine gerichtliche Kontrollmöglichkeit durch die UN-Institutionen bestand und besteht für die Betroffenen bis heute nicht: Der IGH ist nicht zuständig32 und der Sicherheitsrat konnte sich nicht dazu entschließen, zur Gewährleistung des Rechtsschutzes der Betroffenen ein unabhängiges Sanktionsgericht einzurichten. Zwar wurde das Verfahren vor dem UN-Sanktionskomitee über die Jahre mehrfach reformiert: Zunächst wurde mit dem „Focal Point“ im UN-Generalsekretariat eine Anlaufstelle eingerichtet, an die der Betroffene selbsttätig seinen Einspruch gegen die Aufnahme in die Namensliste richten konnte, später ersetzte man für den sogenannten Al-Qaida-Ausschuss den Focal Point durch eine Ombudsstelle. Es verbleibt allerdings ein zentrales konstitutionalistisches Defizit: Der Betroffene kann die Vorwürfe gegen ihn nicht vor einem unabhängigen Gericht entkräften, die Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen ihn liegt weiterhin allein bei den sicherheitsorientierten Vertretern im Sanktionskomitee.33 b. Die Reaktionen des EuG, des EuGH und nationaler Gerichte Konfrontiert mit diesen drastischen Grundrechtsschutzlücken einerseits und der herausragenden Stellung der UN-Charta und des UN-Sicherheitsrats im Völkerrecht andererseits, standen europäische und nationale Gerichte aufgrund von Klagen der von den Sanktionen betroffenen Personen vor der Frage, ob sie diese Sanktionen überhaupt einer gerichtlichen Kontrolle unterziehen. Eine Vielzahl der mit diesem beantragende Mitgliedstaat vor einer Eintragung verpflichtet, dem Sanktionskomitee die zugrunde liegenden Erkenntnisse vorzulegen. Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, JZ 61 (2006), 349 (350). 31  Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (239). 32  Bislang hat der IGH die Existenz einer eigenen Kontrollkompetenz gegenüber dem UN-Sicherheitsrat nur vorsichtig angedeutet, aber noch nicht tatsächlich ausgeübt. Eine Diskussion über die gerichtliche Kontrolle des UN-Sicherheitsrats gibt es seit langem, insbesondere seit dieser verstärkt als Legislativorgan der Weltorganisation auftritt. Siehe nur José Alvarez, Judging the Security Council, AJIL 90 (1996), 1  ff.; Bernd Martenczuk, The Security Council, the International Court and Judicial Review: What Lessons from Lockerbie?, EJIL 10 (1999), 517 ff. 33  Andreas von Arnauld spricht von der „doppelte[n] Achillesferse“ der mangelnden „Gewährleistung effektiver Verteidigungsrechte in einem Sanktionsverfahren, das sich überwiegend auf Geheimdiensterkenntnisse stützt“ und der „drohende[n] Re-Politisierung der Entscheidung durch Zurückweisung von Empfehlungen der Ombudsperson im Sanktionsausschuss oder Sicherheitsrat“. Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (243).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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Sachverhalt befassten Gerichte hat sich, trotz signifikanter Unterschiede bei der Kontrolldichte und dem Kontrollmaßstab, dafür entschieden, eine Kontrolle – mittels Anknüpfung an den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt34  – gegenüber diesen Maßnahmen auszuüben.35 In dem Verfahren Kadi v. Rat und Kommission, in dem sich der saudische Geschäftsmann Kadi gegen seine Listung in der Verordnung 881/2002 wendete, die die Sicherheitsratsresolution 1267 spiegelbildlich in das Unionsrecht inkorporierte, wählten das EuG und der EuGH beide die angegriffene Verordnung als Kontrollgegenstand.36 Der EuGH gab der Klage statt und erklärte die angegriffene Verordnung, soweit sie Herrn Kadi betraf, wegen Verletzung der Unionsgrundrechte des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und der Eigentumsfreiheit für nichtig.37 In seinem zweiten Kadi-Urteil begründet das EuG die Ausübung der gerichtlichen Kontrolle damit, dass es in seiner Funktion als Gericht eine „grundsätzlich umfassende“ Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verordnung im Hinblick auf die Grundrechte zu gewährleisten hat, ohne dieser Verordnung eine wie auch immer geartete Nichtjustiziabilität zuzubilligen, weil sie zur Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta dient.38 Dementsprechend prüfte der UK Supreme Court in HM Treasury v. Ahmed die Al Qaida-Verordnung der britischen Regierung, die die UN-Sicherheitsratsresolution in die britische Rechtsordnung inkorporierte und erklärte diese wegen Unvereinbarkeit mit dem United Nations Act von 1946 für nichtig.39 Nachdem das schweizerische Bundesgericht in Nada v. SECO zwar die – zur Inkorporation der Sicherheitsratsresolution verabschiedete – Talibanverordnung des Bundesrates geprüft, aber im Ergebnis als rechtmäßig eingestuft hatte,40 kam der EGMR in Nada zu dem Schluss, dass die Schweiz als Konventionsstaat bestimmte Konventionsrechte verletzt hatte, weil sie bei der Inkorporation der Sicherheitsratsresolution den ihr trotz der klaren und deutlichen Sprache der Resolution durch Begriffe wie „necessary“ oder „where appropriate“ eingeräumten Entscheidungsspielraum nicht ausgenutzt hatte, um die missliche Lage von Herrn Nada zu verbessern.41 Außerdem warf der EGMR der  Hierzu oben Dritter Teil, Kap. 14.  Für eine Aufzählung sämtlicher Gerichtsentscheidungen zu dem 1267-Sanktionsregime von 2001 bis 2011: Machiko Kanetake, The Interfaces between the National and International Rule of Law: The Case of UN Targeted Sanctions, IOLR 9 (2012), 267 (305 ff.). 36  Die Unterschiede zwischen dem Ansatz des EuG in seinem ersten Kadi-Urteil und dem EuGH betreffen nicht den Kontrollgegenstand, sondern den Kontrollmaßstab. Näher dazu unten Dritter Teil, Kap. 16. 37  Allerdings beschränkt der EuGH die Nichtigkeitsfolge seines Urteils und hält die Wirkungen der streitigen Verordnung, soweit sie Herrn Kadi und die Al Barakaat International Foundation betrifft, für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten ab dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils aufrecht. 38  EuG, Urt. v. 30.09.2010, Rs. T-85/09 – Kadi v. Kommission („Kadi II“), ECLI:EU:T:2010:418, Rn. 126. 39  UK Supreme Court, Urt. v. 27.01.2010, UKSC 2 (2010) – Ahmed u. a. v. Her Majesty’s Treasury. 40  Schweizerisches Bundesgericht, Urt. v. 14.01.2007, BGE 133 II 450 (457) – Nada v. SECO. 41  EGMR, Urt. v. 12.09.2012, Nr. 10593/08 – Nada v. Schweiz, Rn. 177 f. 34 35

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

Schweiz vor, ihre Schutzpflicht, auf eine Delistung von Herrn Nada hinzuwirken, nicht erfüllt zu haben.42 Den gleichen Ansatz wählte die Große Kammer des EGMR im Fall Al-Dulimi:43 Sie verurteile die Schweiz wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil das schweizerische Bundesgericht eine gerichtliche Überprüfung des behördlichen Bescheids zur Einziehung des Vermögens von Herrn Al-Dulimi mit der Begründung abgelehnt hatte, dass die Sicherheitsratsresolution Nr. 1483 (2003) eine unbedingte Verpflichtung zur Vermögenseinziehung der gelisteten Personen vorschreibe und damit eine gerichtliche Überprüfung durch die UN-Mitgliedstaaten ausschließen wolle.44 Dahingegen muss die Resolution nach Auffassung des EGMR gerade so ausgelegt werden, dass sie eine gerichtliche Überprüfung durch die UN-Mitgliedstaaten nicht ausschließt.45 Der kanadische Federal Court of Ottawa verfügte in seiner Entscheidung in Abdelrazik v. Canada die Rückkehr eines auf der UN-Terrorliste gelisteten kanadischen Staatsbürgers von Somalia nach Kanada, die die kanadischen Behörden unter Verweis auf die Sicherheitsratsresolutionen verweigert hatten.46 Die Entscheidung ist auch deshalb bemerkenswert, weil Justice Zinn im obiter dictum deutliche Kritik an der Ausgestaltung des 1267-Sanktionsregime übt: Dieses betrachtet er als „de Ebd., Rn. 194.  EGMR, Urt. v. 21.06.2016, Nr. 5809/08 – Al-Dulimi und Montana Management v. Schweiz. 44  Ebd., Rn. 29. Para. 23 der SR-Resolution Nr. 1483 (2003) sieht vor, dass die UN-Mitgliedstaaten „shall freeze without delay those funds or other financial assets or economic resources and […] immediately shall cause their transfer to the Development Fund for Iraq“. 45  Der EGMR begründet seine  – nach den überkommenen Methoden der völkerrechtlichen Vertragsauslegung zweifelhafte – Interpretation damit, dass „a resolution such as that in the present case, namely Resolution 1483, [that] does not contain any clear or explicit wording excluding the possibility of judicial supervision of the measures taken for its implementation, […] must always be understood as authorising the courts of the respondent State to exercise sufficient scrutiny so that any arbitrariness can be avoided“. Ebd., Rn. 146. 46  Siehe Federal Court of Ottawa, Entsch. v. 04.06.2009, Abdelrazik v. Canada (Minister of Foreign Affairs), 2009 FC 580. In der Entscheidung des kanadischen Federal Court spielt das 1267-Sanktionsregime eine zentrale Rolle, auch wenn der Rechtsstreit unabhängig von dem Sanktionsregime beginnt. Im Kern ging es um die Verstoßung eines der Unterstützung von Al-Qaida verdächtigen kanadischen Staatsangehörigen. Der kanadisch-sudanesische Staatsangehörige Abdelrazik wurde zwischen 2003 und 2006 mehrfach für jeweils längere Zeit von sudanesischen Behörden interniert, woraufhin er jeweils erfolglos einen kanadischen Reisepass und Unterstützung durch kanadische Behörden für seine Rückkehr nach Kanada beantragte. Erst 2006 listete ihn das UN-Sanktionskomitee schließlich auf der UN-Terroristenliste. Gegen die Klage von Herrn Abdelrazik vor dem Federal Court, dass die Weigerung der kanadischen Behörden, seine Rückkehr nach Kanada zu ermöglichen, einen Verstoß gegen das Recht eines kanadischen Staatsbürgers auf Einreise nach Kanada aus Section 6 der kanadischen Charter of Rights and Freedoms darstellt, trug die kanadische Regierung in dem Verfahren vor, dass sie aufgrund ihrer Verpflichtungen aus der Sicherheitsratsresolution 1267 völkerrechtlich daran gehindert sei, Abdelrazik bei seiner Rückkehr nach Kanada zu unterstützen. Mit den Verpflichtungen, das Vermögen der gelisteten Personen einzufrieren und ihnen Reisebeschränkungen aufzuerlegen, sei es nicht vereinbar, ihm ein Flugticket zu kaufen und ihm dadurch den Transit durch andere Staaten nach Kanada zu gewähren. Justice Zinn vom Federal Court sah das anders und gab der Klage von Herr Abdelrazik statt. Instruktiv zu dem Urteil: Antonios Tzanakopoulos, United Nations Sanctions in Domestic Courts. From Interpretation to Defiance in Abdelrazik v. Canada, JICJ 8 (2010), 249 ff. 42 43

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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nial of basic legal remedies untenable under the principles of international human rights“. Die Situation der gelisteten Personen sei vergleichbar mit der Situation des Josef K. aus Kafkas „Der Prozess“.47 Deshalb sei es unaufrichtig von der kanadischen Regierung, den Kläger auf die Delistung-Prozedur des Sanktionsregimes als einzige Rechtsschutzmöglichkeit zu verweisen.48 3. Kontrolle inter- und supranationaler Organisationen durch den EGMR a. Kontrolle der EU Der EGMR hat frühzeitig eine menschenrechtliche Kontrollbefugnis gegenüber den EU-Institutionen für sich in Anspruch genommen.49 In der Rechtssache Cantoni v. Frankreich wendete sich der Beschwerdeführer gegen seine strafrechtliche Verurteilung wegen des Verkaufs apothekenpflichtiger Produkte in einem Supermarkt, indem er eine Verletzung des durch Art. 7 EMRK gewährleisteten Grundsatzes des nulla poena sine lege rügte.50 Dem hielt Frankreich entgegen, dass die Beschwerde schon deshalb unzulässig sei, weil der Art. L 511 des französischen Code de la santé publique, der die Strafbarkeit normiert, „Wort für Wort“ auf einer EG-Richtlinie beruhe. Demgegenüber macht der EGMR deutlich, dass die Erfüllung einer interoder supranationalen Verpflichtung kein Hindernis für eine konventionsrechtliche Verantwortlichkeit sein kann: „Der von der Regierung betonte Umstand, dass Art. L 511 des französischen Code de la santé publique nahezu wortgleich der Gemeinschaftsrichtlinie entspricht, entzieht diese Bestimmung nicht dem Anwendungsbereich des Art. 7 der Konvention.“51 Auf den Grund für diese gerichtliche Kontrolle deutet die Entscheidung des EGMR in der – freilich sehr spezifisch gelagerten – Rechtssache Matthews v. Vereinigtes Königreich hin.52 Dort ging es um das Wahlrecht der – zu Großbritannien gehörenden – Einwohner Gibraltars zum Europäischen Parlament, die durch einen unionsrechtlichen Wahlrechtsakt von der Wahl ausgeschlossen worden waren.53 In  Siehe Justice Zinn in Federal Court of Ottawa, Entsch. v. 04.06.2009, Abdelrazik v. Canada (Minister of Foreign Affairs), 2009 FC 580, Rn. 53: „The 1267 Committee regime is, as I observed at the hearing, a situation for a listed person not unlike that of Josef K. in Kafka’s The Trial, who awakens one morning and, for reasons never revealed to him or the reader, is arrested and prosecuted for an unspecified crime.“ 48  Ebd. 49  Für einen guten Überblick über die Rechtsprechung des EGMR zum Unionsrecht, siehe Luis Gordillo, Interlocking Constitutions, 2012, 122 ff. 50  EGMR, Urt. v. 15.11.1996, Nr. 17862/91 – Cantoni v. Frankreich, EuGRZ 1999, 193 ff. Siehe dazu die Besprechung von Sebastian Winkler, Der EGMR zum innerstaatlich und gemeinschaftsrechtlich (RL 65/65/EWG) definierten Arzneimittelbegriff beim Apothekenmonopol, EuGRZ 1999, 181 ff. 51  EGMR, ebd., Rn. 30. 52  EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Nr. 24833/94 – Rechtssache Matthews v. Vereinigtes Königreich. 53  Diesen Wahlrechtsakt hatte Großbritannien – zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten – rati47

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

dem zugrunde liegenden Sachverhalt in Matthews offenbart sich ein Dilemma interund supranationalen Kooperation: Einerseits treffen Regierungen (die britische Regierung) in einem inter- oder supranationalen Rahmen bestimmte Entscheidungen zu Lasten (einiger) ihrer Bürger (die Einwohner Gibraltars), andererseits berufen sie sich dann vor Gericht (dem EGMR) auf die Unzulässigkeit einer gerichtlichen Überprüfung dieser inter- bzw. supranationalen Entscheidung.54 Weil nach der Überzeugung des EGMR, der als Institution mit dem Schutz der Konventionsrechte beauftragt ist,55 diese Rechte nicht theoretisch oder illusorisch, sondern praktisch und effektiv zu sein haben,56 unterwirft der Gerichtshof auch die – auf der Übertragung von Entscheidungskompetenzen durch die Konventionsstaaten beruhenden – Entscheidungen inter- und supranationaler Organisationen mit den folgenden Maßgaben seiner gerichtlichen Kontrolle: „The Convention does not exclude the transfer of competences to international organisations provided that Convention rights continue to be ‚secured‘. Member States’ responsibility therefore continues even after such a transfer.“57 Diesen Ansatz entwickelt der EGMR dann in seinem Bosphorus-Urteil weiter,58 dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Während der Jugoslawienkriege verhängte der UN-Sicherheitsrat Wirtschaftssanktionen gegen das ehemalige Jugoslawien und untersagte dabei durch die UN Resolution 820 (1993) den gesamten Flugverkehr mit Drittstaaten, welche die EU durch die Verordnung 990/9315 detailgetreu in die europäische Rechtsordnung inkorporierte.59 Davon betroffen war die Türkische Charterfluggesellschaft Bosphorus Airways, die vor Verhängung der Sanktionen zwei Flugzeuge von der staatlichen Jugoslawischen Fluggesellschaft JAT geleast hatte, denn die irischen Behörden hatten eines der beiden Flugzeuge auf dem Flughafen in Dublin auf Grundlage der Verordnung beschlagnahmt, wogegen Bosphorus vor den irischen Gerichten klagte. Auf Vorlage des irischen Supreme Court entschied der EuGH, dass die verhängten Sanktionen unter Berücksichtigung des damit verfolgten Zwecks der Beendigung des Kriegszustandes im ehemaligen Jugofiziert und damit in Form eines nationalen Wahlgesetzes, dem Beschwerdegegenstand vor dem EGMR, in die eigene Rechtsordnung inkorporiert. 54  Vgl. EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Nr. 24833/94 – Rechtssache Matthews v. Vereinigtes Königreich, Rn.  26: „According to the Government, the applicant’s real objection was to Council Decision 76/787 and to the 1976 Act concerning elections to the European Parliament (see paragraph 18 above). That Act, which had the status of a treaty, was adopted in the Community framework and could not be revoked or varied unilaterally by the United Kingdom. The Government underlined that the European Commission of Human Rights had refused on a number of occasions to subject measures falling within the Community legal order to scrutiny under the Convention.“ 55  Nach Art. 19 EMRK wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte errichtet, um die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in der Konvention und den Protokollen übernommen haben. 56  EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Nr.  24833/94  – Rechtssache Matthews v. Vereinigtes Königreich, Rn 34. 57  Ebd., Rn. 32. 58  EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nr. 45036/98 – Bosphorus v. Irland, NJW 2006. 197 ff. 59  Siehe insbesondere S/RES/820 v. 17.04.1993.

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slawien eine verhältnismäßige Beeinträchtigung des Eigentumsrechts der Klägerin darstelle.60 Daraufhin verklagte Bosphorus Irland vor dem EGMR wegen Verletzung der konventionsrechtlichen Eigentumsgewährleistung des Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK. Der EGMR beanspruchte in seinem Bosphorus-Urteil im Grundsatz eine Kontrollbefugnis über das abgeleitete Unionsrecht und verfeinerte seinen Ansatz zur Ausübung dieser Kontrolle,61 im Ergebnis aber wies er die Klage als unbegründet ab. Seine Kontrollbefugnis begründete der EGMR damit, dass die EMRK einerseits die Übertragung von Hoheitsgewalt auf eine inter- oder supranationale Organisation nicht ausschließe, andererseits eine Vertragspartei nach Art. 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen ihrer Organe verantwortlich sei.62 In Abwägung dieser beiden Positionen aber wäre es mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar, die Vertragsstaaten in jenen Bereichen, in denen sie ihre Hoheitsgewalt an eine inter- oder supranationale Organisation übertragen haben, gänzlich aus der Verantwortlichkeit zu entlassen.63 b. Bereichsausnahme für Militäreinsätze unter dem Dach einer internationalen Organisation? In einer gewissen Spannung zu diesem Bestreben nach einem weiten Verständnis von der konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten steht die restriktive Rechtsprechung des EGMR im Hinblick auf Militäreinsätze unter dem Dach internationaler Organisationen.64 Obwohl der Gerichtshof seit Loizidou v. Türkei die Anwendbarkeit ratione personae der EMRK auch außerhalb des Staatsgebiets eines Konventionsstaats anerkennt, soweit dieser Hoheitsgewalt in einem fremden Staatsgebiet ausübt, legt er diesen Begriff im Zusammenhang mit internationalen Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen, auffällig restriktiv aus, so dass in der Literatur bereits über die Herausbildung einer Bereichsausnahme für die Vereinten Nationen spekuliert wurde. Als Kriterien für den Begriff der Ausübung von Hoheitsgewalt zieht der EGMR alternativ die Kriterien der Ausübung effektiver Staatsgewalt, etwa im Fall der Besatzungsmacht, oder die Kontrolle über Personen auf fremdem Staatsgebiet heran. In seiner Banković-Entscheidung, in der die Beschwerdeführer gegen die Bombardierung eines serbischen Radiosenders durch die NATO-Staaten klagten, verneinte der Gerichtshof die extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK mit der Begründung, dass effektive Kontrolle über Personen im Fall von Luftangriffen nicht gegeben sei. Auch in den verbundenen Rechtssachen Behrami und Behrami und Saramati verneinte der EGMR die Anwendbarkeit ratione personae der EMRK – und  EuGH, Urt. v. 30.07.1996, Rs. C-84/95 – Bosphorus, ECLI:EU:C:1996:312, Rn. 26 f.  Dazu eingehend unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 3. 62  EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nr. 45036/98 – Bosphorus v. Irland, NJW 2006, 197 (202), Rn. 152 f. 63  Ebd., Rn. 154. 64  Zum Überblick: Timo Schwander, Extraterritoriale Wirkungen von Grundrechten im Mehrebenensystem, 2019, 96 ff. 60 61

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

damit eine gerichtliche Kontrolle – im Kontext der Vereinten Nationen, obwohl Anknüpfungspunkte für eine Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten bestanden.65 In beiden Fällen ging es um die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit von EMRK-Mitgliedstaaten für die internationale Verwaltung im Kosovo unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen. Im Fall Behrami und Behrami verklagten Vater und Sohn Frankreich vor dem EGMR, weil die Kosovo Sicherheitstruppe (KFOR), die mit französischen Soldaten besetzt war, aber im Auftrag der zivilen Übergangsverwaltung im Kosovo (UNMIK) handelte, es versäumt hatte, ein mit Streubomben aus der NATO-Bombardierung vermintes Gelände zu räumen oder zu entschärfen. Es kam, wie es kommen musste: Beim Spielen der beiden ­Behrami-­Söhne detonierte eine Bombe, ein Sohn verstarb, der andere erblindete (und klagte). Im Fall Saramati verklagte der auf Anordnung der KFOR auf Grundlage einer Sicherheitsratsresolution66 mehrere Jahre ohne richterliche Verurteilung durch französische und norwegischen Soldaten festgehaltene Beschwerdeführer Norwegen und Frankreich wegen Verstoßes gegen sein Recht auf Freiheit und Sicherheit aus Art. 5 EMRK. In beiden Fällen verneinte der EGMR die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten und damit die Anwendbarkeit der EMRK.  Zuzurechnen sei der Vorfall dem UN-Sicherheitsrat und der UNMIK, die die „letzte Verantwortung und Kontrolle“67 ausübten. Nach der Auffassung des EGMR wird dadurch die Verantwortlichkeit der beteiligten Konventionsstaaten ausgeschlossen, obwohl diese die handelnden Truppen stellen. Es ist aber nicht nur zweifelhaft, warum sich die Kontrolle der UN-Institutionen und der Truppenstaaten gegenseitig ausschließen müssen, sondern auch, ob Staaten wie Frankreich tatsächlich die Befehlsgewalt über ihr Militär den UN-Institutionen überlassen und inwieweit das Abstellen auf militärische Befehlsstrukturen überhaupt ein taugliches Abgrenzungskriterium darstellt. In jedem Fall wäre es dogmatisch möglich gewesen, die Handlungen der französischen und (in Saramati) der norwegischen Soldaten als Anknüpfungspunkt für die Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten zu wählen. Wahrscheinlich ist ohnehin, dass es dem EGMR weniger um dogmatische Feinheiten ging, sondern rechtspolitische Gründe für eine Sonderstellung der Vereinten Nationen sprechen. Dafür sprechen einige Argumente, die der Gerichtshof in seiner Entscheidung anführt. Nach Auffassung des Gerichtshofs scheint „ein grundlegender Unterschied zwischen der Natur“ der Europäischen Union und den Vereinten Nationen zu bestehen. Das „primäre Ziel der Vereinten Nationen [sei] die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“. Die Kontrolle dieser „einzigartig[en]“ Verantwortlichkeit durch den EGMR „würde in die Erfüllung der Kernaufgaben der Vereinten Nationen in diesem Gebiet und die effektive Durchführung ihrer Missionen eingreifen“.68 Außerdem würde die Forde EGMR, Urt. v. 31.05.2007, Nr. 71412/01, 78166/01 – Behrami und Behrami v. Frankreich, und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen. 66  Siehe S/RES/1244 v. 10.06.1999. 67  EGMR, Urt. v. 31.05.2007, Nr. 71412/01, 78166/01 – Behrami und Behrami v. Frankreich, und Saramati v. Frankreich, Deutschland und Norwegen, Rn. 137: „ultimate authority and control“. 68  Ebd., Rn. 149. 65

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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rung der Beachtung konventionsrechtlicher Standards „der Einführung von Bedingungen für die Durchführung der Resolution gleichkommen, die im Text der Resolution selbst nicht vorgesehen sind“.69 Nachdem es nach dem Urteil in Behrami und Behrami und Saramati den Anschein hatte, dass der Gerichtshof militärische Handlungen der Konventionsstaaten unter dem Dach internationaler Organisationen keiner gerichtlichen Kontrolle unterziehen wollte, lässt sich insbesondere das Urteil Al-Jedda als Abwendung von diesem Standpunkt interpretieren.70 Anlass der zunächst vor dem House of Lords, anschließend vor dem EGMR anhängigen Rechtssache war – ganz ähnlich wie im Fall Saramati – die Beschwerde einer im Irak vom britischen Militär aus p­ räventiven Gründen auf Grundlage einer Sicherheitsratsresolutionen inhaftierten Person, die eine Verletzung des Art. 5 EMRK rügte. Das House of Lords und der EGMR bejahten die Zurechnung der Inhaftierung zu Großbritannien und damit die Anwendung ratione personae der EMRK. Nach Auffassung des EGMR hatte „der Sicherheitsrat weder effektive Kontrolle noch die letzte Autorität und Kontrolle über die Handlungen und Unterlassungen der Soldaten der Multinationalen Streitkräfte“, so dass diese „nicht den Vereinten Nationen zurechenbar war“, sondern Großbritannien.71 Auch wenn beide Spruchkörper Al-Jedda von Saramati aufgrund unterschiedlicher Sachverhaltsgrundlage abgrenzen, deutet insbesondere die Begründung des EGMR, wonach auch eine duale Verantwortlichkeit zwischen den UN und dem Staat möglich erscheint, auf eine Abwendung von der Sonderstellung von Militäreinsätzen unter dem Dach internationaler Organisationen hin.72 4. Zwischenfazit Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts internationaler Organisationen – mittels Anknüpfung an den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt – bildet sich verstärkt zur rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungspraxis heraus. Eine wegweisende Rolle hat dabei das institutionell einflussreiche und selbstbewusste Bundesverfassungsgericht gespielt, das in seinem Solange I-Beschluss erstmals die Kontrolle über die rechtsordnungseigene Inkorporation einer unionsrechtlichen Verordnung beanspruchte. Im EU-Kontext sind dem BVerfG mehrere mitgliedstaatliche ­ ­Verfassungsgerichte gefolgt. Ein weiterer wichtiger Schritt in der Herausbildung einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm war der Widerstand einer Vielzahl von Gerichten aus verschiedensten Rechtsordnungen gegen das kon­ stitutionalistisch defizitäre UN-Sanktionsregime. Konfrontiert mit diesen drastischen Grundrechtsschutzlücken haben sich supranationale Gerichte, wie das EuG und der EuGH in Kadi und der EGMR in Nada und in Al-Dulimi, sowie nationale  Ebd.  EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Nr. 27021/08 – Al-Jedda v. Vereinigtes Königreich. 71  Ebd., Rn. 84 ff. 72  In diese Richtung geht auch das Al-Skeini-Urteil des EGMR. Siehe EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Nr. 55721/07 – Al-Skeini v. Vereinigtes Königreich. 69 70

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

Gerichte, wie der britische Supreme Court in Ahmed und der kanadische Federal Court of Ottawa in Abdelrazik, dafür entschieden, eine Kontrolle gegenüber dem Sanktionsregime auszuüben – trotz der Anordnung des Vorrangs der für die UN-­ Mitgliedstaaten aus den Sicherheitsratsresolutionen resultierenden Verpflichtungen vor allen anderen internationalen Verpflichtungen nach den Art. 25, 48 und 103 der UN-Charta. Darüber hinaus hat der EGMR frühzeitig eine menschenrechtliche Kontrollbefugnis gegenüber den Rechtsakten der EU-Institutionen für sich in Anspruch genommen. Nach anfänglicher Zurückhaltung unterzieht der EGMR selbst Kriegshandlungen der Konventionsstaaten unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen in bestimmten Konstellationen einer Kontrolle.

I I. Mechanismen der Kontrolle des abgeleiteten Rechts: Das engagement-Modell und das Modell der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts Von der Frage, ob Verfassungsgerichte rechtsordnungsfremde abgeleitete Rechtsakte – mittelbar oder unmittelbar – kontrollieren, ist die Frage zu unterscheiden, wie sie diese Kontrolle ausüben. In der rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungspraxis lassen sich zu dieser Frage bedeutsame Unterschiede beobachten, die im Folgenden holzschnittartig in zwei konkurrierende Modelle gerichtlicher Kon­ trolle unterteilt werden, die hier als engagement-Modell und als Modell der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts bezeichnet werden sollen.73 In beiden Modellen nehmen die Gerichte eine Kontrolle vor und knüpfen dafür an den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt an, allerdings bestehen teilweise erhebliche Unterschiede bei der Begründung und der Reichweite dieser Kontrolle. Im engagement-Modell nimmt das Gericht eine – mittelbare – Prüfung des abgeleiteten Rechts vor, erkennt dabei aber explizit an, dass es dadurch die Erfüllung der rechtsordnungsfremden inter- oder supranationalen Verpflichtung infrage stellt und einen Konflikt mit den rechtsordnungsfremden Institutionen riskiert. Im Rahmen des Modells der harmonisierenden Auslegung dagegen respektiert das Gericht auf den ersten Blick die rechtsordnungsfremde Verpflichtung und beschränkt seine Kontrolle auf den Teil des rechtsordnungseigenen Inkorporationsakts, der nicht durch die rechtsordnungsfremde Norm determiniert ist.74 Aufgrund einer scheinbar  Der Begriff des engagement-Modells knüpft an Jackson an, siehe Vicki Jackson, Constitutional Engagement in a Transnational Era, 2010, die drei verschiedene Ansätze im Umgang mit dem transnationalen Recht unterscheidet: resistance, convergence und engagement. Ebd., 8 f. 74  Soweit keine rechtsordnungsfremde Determinierung des rechtsordnungseigenen Inkorporationsakts vorliegt, ist eine Prüfung des Inkorporationsakts unbedenklich, da dieser insoweit nicht mit einer inter- oder supranationalen Verpflichtung korrespondiert. Wenn etwa eine unionsrechtliche Richtlinie dem deutschen Gesetzgeber ausreichend Spielraum gewährt, um die Richtlinie ohne Verstoß gegen deutsche Grundrechte zu inkorporieren, ist eine verfassungsgerichtliche Kontrolle 73

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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hierarchischen Konstruktion wird der Inhalt des Inkorporationsakts nicht geprüft, soweit sein Inhalt zwingend vorgegeben wird. Im Hinblick auf das UN-­Sank­ tionsregime bedeutet dies, dass der Vorrang der aus Sicherheitsratsresolutionen ­resultierenden Verpflichtungen gemäß den Art. 25, 48 und 103 der UN-Charta anerkannt wird. Ein rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikt kann so nicht entstehen. Allerdings – und deshalb handelt es sich um ein Kontrollmodell – wird die Reichweite dieser Verpflichtung einschränkend interpretiert und damit der Gestaltungsspielraum bei der Inkorporation dieser Verpflichtung in die eigene Rechtsordnung ausgeweitet. Der Fehlervorwurf richtet sich hier gegen die ­rechtsordnungseigenen Rechtsetzungsorgane, die den ihnen bei der Inkorporation zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielraum nicht hinreichend zum Schutz rechtsordnungseigener Grund- und Menschenrechte ausgenutzt haben. Bei näherer Betrachtung dieser Fälle erscheint jedoch zweifelhaft, ob dieser Gestaltungsspielraum tatsächlich so erheblich ist, wie das Gericht vorgibt, oder ob nicht doch infolge der Auslegung des Gerichts – quasi durch die Hintertür – die rechtsordnungsfremden Vorgaben nicht vollständig befolgt werden. Denn die harmonisierende Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts läuft regelmäßig darauf hinaus, dessen determinierenden Anteil einschränkend auszulegen.75 1. Das engagement-Modell Dem engagement-Modell lassen sich zum Beispiel der Solange I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts76 sowie die Urteile des EuGH in den oben kurz skizzierten Rechtssachen Bosphorus77 und Kadi78 zuordnen. In Solange I unterstreicht das BVerfG zwar den besonderen Charakter des Gemeinschaftsrechts und bekräftigt seine „Pflicht, sich um die Konkordanz beider Rechtsordnungen […] zu bemühen“.79 Allerdings erkennt es auch explizit die Möglichkeit einer Normkollision an, soweit die Herstellung einer Konkordanz „nicht gelingt“.80 Im Fall eines solchen Konflikts setzt sich nach Auffassung des BVerfG „die Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes durch, solange nicht entsprechend dem Vertragsmechanismus die genauso selbstverständlich, wie wenn nationale Behörden einer gelisteten Person Reisebeschränkungen auferlegen, die von einer Sicherheitsratsresolution überhaupt nicht verlangt werden. 75  Diese harmonisierende Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts ist nicht zu verwechseln mit den Auslegungsfiguren einer völkerrechtskonformen oder unionsrechtskonformen Auslegung, denn hier wird nicht das rechtsordnungseigene im Lichte des rechtsordnungsfremden Rechts interpretiert, sondern vielmehr wird das rechtsordnungsfremde Recht im Lichte des rechtsordnungseigenen Rechts interpretiert. Es handelt sich also um einen Übergriff in und nicht eine Anpassung an das rechtsordnungsfremde Recht. 76  BVerfGE 37, 271 (278) – Solange I (1974). 77  EuGH, Urt. v. 30.07.1996, Rs. C-84/95 – Bosphorus, ECLI:EU:C:1996:312. 78  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461. 79  BVerfGE 37, 271 (278) – Solange I (1974). 80  Ebd., 278.

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

zuständigen Organe der Gemeinschaft den Normenkonflikt behoben haben“.81 Anschließend entwickelt das Gericht ein abgestuftes Kontrollmodell in Abhängigkeit von dem durch die europäischen Institutionen gewährleisteten Grundrechtsschutzniveau.82 Der EuGH unterzieht im Bosphorus-Urteil die europäische Verordnung 990/93 einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung,83 obwohl diese inhaltlich vollständig durch eine Sicherheitsratsresolution determiniert ist. Dem Umstand, dass die Verordnung der Inkorporation einer Sicherheitsratsresolution dient, misst der Gerichtshof eine wichtige, aber keine allein ausschlaggebende Bedeutung bei. Dennoch beschränkt sich der EuGH bei seiner Prüfung nicht auf die Berücksichtigung rechtsordnungsinterner Aspekte, sondern bezieht die Aufgabe des Sicherheitsrats zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit in seine Abwägung ein.84 Auch in seiner Kadi-Entscheidung prüft der EuGH die umsetzende Unionsrechtsverordnung trotz inhaltlicher Determinierung durch die Sicherheitsratsresolution, im Unterschied zu dem außenorientierten Ansatz in Bosphorus wählt der EuGH in Kadi jedoch einen dissoziativ-dualistischen Ansatz.85 Danach mögen die Verpflichtungen aus der UN-Charta zwar Vorrang in der Völkerrechtsordnung haben, einen damit verbundenen Vorrang gegenüber den „allgemeine[n] Grundsätze[n] des Gemeinschaftsrechts“ will der EuGH aber nicht akzeptieren, schon allein um „einer generellen Nichtjustiziabilität“ der unionsrechtlichen Umsetzung der Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats und der daraus resultierenden Aushöhlung der Unionsgrundrechte vorzubeugen.86 Durch die Betonung des konstitutionellen Charakters der Unionsrechtsordnung grenzt sich der EuGH vom Völkerrecht ab und konzentriert seine Prüfung auf den unionsrechtlichen Rahmen.87  Ebd., 281.  Dazu im Detail: Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 1. 83  EuGH, Urt. v. 30.07.1996, Rs. C-84/95 – Bosphorus, ECLI:EU:C:1996:312, Rn. 21 ff. 84  In den Entscheidungsgründen weist der EuGH frühzeitig darauf hin, dass die rechtsordnungseigene Verordnung das Ziel hat, „in der Gemeinschaft bestimmte Aspekte der Sanktionen zu verwirklichen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen […] gegen die Bundesrepublik Jugoslawien verhängt hat.“ Ebd., Rn.  13. In dem Hinweis auf dieses „für die internationale Völkergemeinschaft derart grundlegende[], dem Gemeinwohl dienende[] Ziel[]“, ebd., Rn.  21, lässt sich eine Erwägung institutionell-jurisdiktioneller Art erkennen, wonach der Sanktionsentscheidung des Sicherheitsrats gerade deshalb besonderes Gewicht zukommt, weil dieser sich als globale Institution in besonderem Maße für eine Entscheidung über die erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit eignet. Siehe Mattias Kumm, Democratic Constitutionalism Encounters International Law: Terms of Engagement, in: Sujit Choudhry (Hrsg.), The Migration of Constitutional Ideas, 2006, 256 (287). 85  Kritisch Gráinne de Búrca, The European Court of Justice and the International Legal Order After Kadi, Harv. Int’l L. J. 51 (2010), 1 (44): „[T]he court in Kadi opted for an internally-oriented approach and a form of legal reasoning which emphasized the particular requirements of the EU’s general principles of law and the importance of the autonomous authority of the EC legal order.“ 86  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 300: Eine solche Nichtjustiziabilität „findet zudem keine Grundlage im EG-Vertrag.“ 87  Allerdings gibt es neben diesem selbstbezogenen Duktus in den Entscheidungsgründen des 81 82

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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2 . Das Modell der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts Dagegen lassen sich die Al-Jedda-Entscheidungen des House of Lords vom 12.12.200788 und des EGMR vom 07.07.2011,89 die Entscheidung des EGMR in Nada vom 12.09.201290 und in Al-Dulimi vom 21.06.201691 sowie das Abdelrazik-­ Urteil des kanadischen Federal Court vom 04.06.200992 unter das Modell der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts fassen. In ihrer Al Jedda-Entscheidung legen die Lords, insbesondere Lord Bingham, einerseits dar, dass ein Normkonflikt zwischen Art. 5 EMRK und Art. 103 UN-Charta grundsätzlich zugunsten des Art. 103 aufgelöst werden müsse. Andererseits müssten bei der Durchführung einer Internierung auf Grundlage der Sicherheitsratsresolution die durch Art. 5 EMRK geschützten Belange so weitgehend wie möglich berücksichtigt werden: „[T]he power to detain authorised by UNSCR 1546 […] must ensure that the detainee’s rights under article 5 are not infringed to any greater extent than is inherent in such detention.“93 Diesen Ansatz greift der EGMR in Al-Jedda auf und entwickelt ihn weiter: Auch wenn der EGMR vom Vorrang des Art. 103 UN-Charta auszugehen scheint, stellt der Gerichtshof strenge Anforderungen an die Realisierung dieses Vorrangs, sprich: Der Sicherheitsrat müsse „klare und deutliche Worte“ verwenden, „wenn er von Staaten besondere Maßnahmen erwartet, die in Konflikt zu deren internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen stehen“.94 Liege dagegen eine „Mehrdeutigkeit einer Formulierung einer Resolution“ vor, müsse der Gerichtshof „jene Auslegung wählen, die am ehesten im Einklang mit den Anforderungen der EMRK steht“.95 Nach Überzeugung des EGMR gibt es eine „Vermutung …, dass der Sicherheitsrat nicht beabsichtigt, den Mitgliedstaaten die Verpflichtung aufzuerlegen, fundamentale menschenrechtliche Grundsätze zu verletzen.“96 EuGH auch einen Teil im Kadi-Urteil, in dem sich der Gerichtshof eingehender mit dem Verfahren vor dem UN-Sanktionskomitee auseinandersetzt. Ebd., Rn.  318  ff. Dazu unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 4. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der außenorientierte, kooperationsbereite Duktus des EuGH in Bosphorus einfacher anzuwenden ist, soweit das Gericht nicht gedenkt, den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt aufzuheben und damit den rechtsordnungsfremden Institutionen die eingeforderte Mitwirkung verweigert. 88  House of Lords, Entsch. v. 12.12.2007, UKHL 58 (2007) – Al-Jedda v. Secretary of State for Defence. 89  EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Nr. 27021/08 – Al-Jedda v. Vereinigtes Königreich. 90  EGMR, Urt. v. 12.09.2012, Nr. 10593/08 – Nada v. Schweiz. 91  EGMR, Urt. v. 21.06.2016, Nr. 5809/08 – Al-Dulimi und Montana Management v. Schweiz. 92  Federal Court of Ottawa, Entsch. v. 04.06.2009, Abdelrazik v. Canada (Minister of Foreign Affairs), 2009 FC 580. 93  House of Lords, Entsch. v. 12.12.2007, UKHL 58 (2007) – Al-Jedda v. Secretary of State for Defence, Rn. 39. 94  EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Nr. 27021/08 – Al-Jedda v. Vereinigtes Königreich, Rn. 102. 95  Ebd. 96  Im Ergebnis kommt der EGMR zu dem Schluss, dass der Sicherheitsrat nicht beabsichtigt habe,

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

In den Rechtssachen Nada und Al-Dulimi verfolgt der EGMR seinen in Al-Jedda entwickelten Ansatz weiter: Der Gerichtshof bestätigt die Vermutung zugunsten einer menschenrechtskonformen Auslegung und nimmt seine Prüfung vor, als ob die aus der Sicherheitsratsresolution resultierenden Verpflichtungen Vorrang hätten.97 Die entscheidende Frage ist nicht, ob das Listing-Verfahren und der Mangel eines gerichtlichen Kontrollmechanismus als solches zu beanstanden ist, sondern ob die Schweiz die ihr zustehenden Entscheidungsspielräume genutzt hat, um die Wirkungen der Sanktionen gegen die Herren Nada und Al-Dulimi soweit wie möglich zu beschränken. Der EGMR beschäftigt sich also nur mit dem Teil der anwendbaren schweizerischen Verordnungen, der nach seiner Auffassung nicht durch die einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen determiniert wird. Dieser Ansatz wird durch die besondere Sachverhaltskonstellation in beiden Fällen allerdings erkennbar auf die Probe gestellt: In Nada verpflichtete die SR-Resolution Nr. 1390 (2002) die Mitgliedstaaten ausdrücklich und spezifisch dazu, das Vermögen der gelisteten Personen einzufrieren und diesen Reisebeschränkungen aufzuerlegen;98 in Al-Dulimi ist die Annahme nicht plausibel, dass der Sicherheitsrat eine gerichtliche Kontrolle durch die UN-Mitgliedstaaten möchte, wenn er in Paragraf 23 der SR-Resolution Nr.  1483 (2003) die unverzügliche und unmittelbare Verpflichtung zur Vermögensbeschlagnahme anordnet.99 Auch im Abdelrazik-Urteil des kanadischen Federal Court of Ottawa liegt der Schwerpunkt der Entscheidungsgründe darauf zu begründen, dass ein Normkonflikt zwischen den Bestimmungen der Sicherheitsratsresolution 1267 einerseits und Section 6 der kanadischen Charter of Rights and Freedoms andererseits nicht besteht. Wie der EGMR in Nada beruft sich Justice Zinn dabei auf Ziff. 2(b) der SR-Res. Nr. 1390 (2002). Danach gilt eine Ausnahme vom Verbot der Einreise, soweit dies zur Durchführung justizieller Verfahren notwendig ist. Den Begriff des justiziellen Verfahrens legt Justice Zinn dabei so weit aus, dass er auch gerichtlich angeordnete

„den an den Multinationalen Streitkräften beteiligten Mitgliedstaaten die Verpflichtung aufzuerlegen, Maßnahmen der unbefristeten Internierung ohne Anklage und ohne gerichtliche Garantien zu ergreifen und damit gegen internationale Menschenrechtsinstrumente einschließlich der EMRK zu verstoßen“. Angesichts des Fehlens einer klaren gegenteiligen Anordnung sei zu vermuten, „dass der Sicherheitsrat von den Staaten erwartete, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Irak beizutragen, ohne gegen ihre internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen zu verstoßen“. Ebd. 97  Allerdings lässt der EGMR die Frage nach dem Rangverhältnis zwischen der UN-Charta und den grundrechtlichen Verbürgungen der EMRK im Ergebnis offen. 98  Folgerichtig kommt der EGMR in Nada hinsichtlich der Reisebeschränkungen zu dem Ergebnis, dass die Vermutung einer menschenrechtskonformen Auslegung in diesem Fall wegen der klaren und deutlichen Formulierung der Resolution 1390 widerlegt sei: „[C]ontrary to the situation in Al-Jedda, where the wording of the resolution at issue did not specifically mention internment without trial, Resolution 1390 (2002) expressly required States to prevent the individuals on the United Nations list from entering or transiting through their territory. As a result, the above-mentioned presumption is rebutted in the present case, having regard to the clear and explicit language, imposing an obligation to take measures capable of breaching human rights, that was used in that resolution […].“ EGMR, Urt. v. 12.09.2012, Nr. 10593/08 – Nada v. Schweiz, Rn. 172. 99  Vgl. Para. 23 der SR-Resolution.

B. Analyse: Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts als echter Kontrollmechanismus

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Maßnahmen umfasst  – und der Normkonflikt zwischen Resolution und Charter „weginterpretiert“ wird.100

 . Analyse: Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts als B echter Kontrollmechanismus Es hat sich gezeigt, dass Verfassungsgerichte in der vernetzten Weltordnung – ohne sich diese Entscheidungen einfach zu machen – immer weniger vor einer Kontrolle des abgeleiteten Rechts inter- oder supranationaler Organisationen zurückschrecken. Im Folgenden soll zunächst in Auseinandersetzung mit der skizzierten Rechtsprechung das normative Argument für diesen Kontrollanspruch entwickelt werden (I.), bevor anschließend die Vorzüge des engagement-Modells gegenüber dem Modell der harmonisierenden Auslegung dargelegt werden (II.).

I . Keine Ausübung von öffentlicher Gewalt ohne gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten Die Ratio hinter diesem Vorgehen scheint darin zu liegen, dass Verfassungsgerichte in „die Bresche springen“, soweit Bedenken hinsichtlich des durch rechtsordnungsfremde inter- oder supranationale Institutionen gewährleisteten Grundrechtsschutzniveaus bestehen, um konstitutionalistischen Defiziten entgegenzuwirken. Das lässt sich damit begründen, dass in der vernetzten Weltordnung, in der zentrale Aufgaben des Gemeinwesens über den Nationalstaat hinaus- und in einen inter- und supranationalen Maßstab hineingewachsen sind,101 die Wahl der Governance-Form, sei es national, sei es inter- und supranational, keine Auswirkungen auf den zur Verfügung stehenden Grundrechtsschutz haben sollte. Im Rahmen der Diskussion über die Kontrollfunktion in der vernetzten Weltordnung hat sich gezeigt, dass Verfassungsgerichte gerade eingesetzt werden, um verfassungsrechtliche Prinzipien und Normen zu schützen.102 Ihre Organisation, Zusammensetzung und Verfahrensweise ist spezifisch darauf ausgerichtet, Situationen zu identifizieren und zu sanktionieren, in denen der Einzelne übermäßig durch Maßnahmen betroffen wird, die aus konsequentialistischer Perspektive sinnvoll erscheinen mögen – eine Situation also, die insbesondere im Zusammenhang mit den abgeleiteten Rechtsakten einer inter- oder supranationalen Organisation entstehen kann.

 So Antonios Tzanakopoulos, United Nations Sanctions in Domestic Courts, JICJ 8 (2010), 249 (255). 101  Näher zu der durch den Globalisierungsprozess beförderten Transformation des Nationalstaats, siehe schon oben Erster Teil, Kap. 2, B. 102  Oben Zweiter Teil, Kap. 10. 100

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

Gegen eine Kontrolle des rechtsordnungseigenen Inkorporationsakts kann man einwenden, dass Verfassungsgerichte den eigenen Staat in eine rechtlich unmögliche Situation bringen, wenn sie den Inkorporationsakt aufheben.103 Denn damit verweigern sie diesem die Inkorporation einer inter- oder supranationalen Norm, ­obwohl dieser völkerrechtlich zur Erfüllung – und damit regelmäßig zur Inkorporation – dieser Norm verpflichtet ist.104 Für die anderen Gewalten kann sich aus dieser Situation ein unauflösbarer Normkonflikt ergeben: Sie sind völkerrechtlich zum Erlass eines Inkorporationsakts verpflichtet, der ihnen aber innerstaatlich versagt wird. Wenn wir aber statt der klassisch völkerrechtlichen Perspektive auf den Staat als Einheit die unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung gebotene Weltinnenperspektive einnehmen,105 erscheint ein anderes Bild, das sich am Beispiel der Rolle Großbritanniens (als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat) im 1267-Sanktionsregimes illustrieren lässt. Danach hat die britische Regierung im Sicherheitsrat – trotz aller konstitutionalistischen Bedenken – für die Verabschiedung der Resolution 1267 gestimmt und im UN-Sanktionskomitee an der Listung bestimmter Personen mitgewirkt bzw. diese zumindest nicht durch ein Veto verhindert. Wenn nun der UK Supreme Court die Taliban-Verordnung der britischen Regierung aufhebt, mit der diese die einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen in die britische Rechtsordnung inkorporiert hat, dann mag das die Regierung in eine unauflösbare Normkonfliktsituation bringen – diese Situation aber hat die Regierung selbst hervorgerufen. Anderenfalls könnten sich Regierungen, Behörden und Parlamente ihrer Verpflichtungen zur Achtung der Grund- und Menschenrechte entledigen.106 Eine solche Flucht in das Recht der internationalen Organisationen darf es nicht geben.107 Die grundlegenden verfassungsrechtlichen Normen und Prinzipien bilden eine Hypothek, die den staatlichen Akteuren in die internationale Organisation folgt.108 Unabhängig davon, ob rechtsordnungseigene Institutionen mit der Über Antonios Tzanakopoulos, Domestic Court Reactions to UN Security Council Sanctions, in: August Reinisch (Hrsg.), Challenging Acts of International Organizations Before National Courts, 2010, 54 (69). 104  Dazu oben Zweiter Teil, Kap. 9, A., I., 2. 105  Zu dieser in der vernetzten Weltordnung gebotenen Perspektive: Oben Erster Teil, Kap. 5, A. 106  In diesem Sinne auch EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Nr. 24833/94 – Matthews v. Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Nr.  26083/94  – Waite und Kennedy v. Deutschland, Rn.  67: „Under Article 1 […] of the Convention the Member States are responsible for all acts and omissions of their domestic organs allegedly violating the Convention regardless of whether the act or omission in question is a consequence of domestic law or regulations or of the necessity to comply with international obligations.“ 107  So auch schon Cornelia Janik, Die EMRK und internationale Organisationen  – Ausdehnung und Restriktion der equivalent protection-Formel in der neuen Rechtsprechung des EGMR –, ZaöRV 70 (2010), 127 (177); Anne Peters, Die Anwendbarkeit der EMRK in Zeiten komplexer Hoheitsgewalt und das Prinzip der Grundrechtstoleranz, AVR 48 (2010), 1 (2 f., 19). 108  Siehe für die Verwendung des Hypothekenbegriffs in diesem Zusammenhang schon Andreas von Arnauld, Das (Menschen-) Recht im Auslandseinsatz: Rechtsgrundlagen zum Schutz von Grund- und Menschenrechten, in: Dieter Weingartner (Hrsg.), Streitkräfte und Menschenrechte, 2008, 61 (68); Anne Peters, Die Anwendbarkeit der EMRK in Zeiten komplexer Hoheitsgewalt und das Prinzip der Grundrechtstoleranz, AVR 48 (2010), 1 (6). 103

B. Analyse: Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts als echter Kontrollmechanismus

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tragung von Entscheidungskompetenzen an rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Institutionen tatsächlich beabsichtigen, sich ihren Grundrechtsverpflichtungen strukturell zu entziehen, sollte der Ausübung jeglicher Form von öffentlicher Gewalt die Gewährleistung grundlegender verfassungsrechtlicher Prinzipien kor­ respondieren. Nur weil der Kampf gegen den transnationalen Terrorismus durch UN- oder durch EU-Institutionen wahrgenommen wird, muss daraus nicht folgen, dass rechtsordnungsfremde europäische oder nationale Gerichte in diesem grundrechtssensiblen Bereich keine Kontrolle ausüben sollten. Allerdings sind bei der Ausübung dieser Kontrolle die institutionellen und legitimatorischen Unterschiede zwischen den verschiedenen inter- und supranationalen Organisationen zu berücksichtigen. So besteht etwa ein entscheidender Unterschied zwischen der Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts und des abgeleiteten UN-­ Rechts. Während die EU mit dem EuGH über ein Gericht mit obligatorischer Zuständigkeit verfügt, das Sekundärrechtsakte am Maßstab der Unionsgrundrechte kontrolliert, bestand im Fall des 1267-Sanktionsregimes keine Zuständigkeit des IGH.  Aus diesem Grund sind die konstitutionalistischen Bedenken im Fall des 1267-Sanktionsregimes besonders gewichtig, denn hier zeichnet der UN-­Sicher­ heitsrat für einschneidende Maßnahmen gegen einzelne Personen verantwortlich, ohne dass gegen diese irgendeine Form gerichtlichen Rechtsschutzes im Rahmen der Vereinten Nationen zur Verfügung steht. Der in der Kontrolle des abgeleiteten inter- und supranationalen Rechts strukturell angelegte Konflikt zwischen den konkurrierenden Bedürfnissen nach dem Schutz konstitutionalistischer Prinzipien einerseits und nach der Handlungsautonomie inter- und supranationaler Institutionen andererseits potenziert sich im Zusammenhang mit der Kontrolle militärischer Handlungen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen durch den EGMR. Einerseits sind die konstitutionellen Defizite in diesem Feld besonders massiv, wie sich etwa in den mangelnden Rechtsschutzmöglichkeiten der Familie Behrami oder bei der präventiven Internierung des Herrn Al-Jedda gezeigt hat, andererseits ist die politische Handlungsfreiheit in diesem Bereich unverzichtbar, während der spezifisch verfassungsgerichtliche Entscheidungsmodus an seine Grenzen zu stoßen droht. Einerseits erscheint der EGMR selbst als regionales Gericht aufgrund seiner globalen Ausstrahlungswirkung als eine der wenigen Institutionen, die eine stärkere Berücksichtigung konstitutionalistischer Belange bewirken könnten, andererseits ist die Stellung und Legitimität des EGMR bei der Kontrolle militärischer UN-Operationen besonders prekär. Verwandelt sich der EGMR zur ultimativen Entscheidungsinstanz zur rechtlichen Beurteilung europäischer Militäreinsätze, soweit er eine solche Kontrolle bejaht? Droht dann nicht eine kaum zu bewältigende Klagewelle der Kriegsopfer? Ist der EGMR institutionell für die hohen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung gewappnet? Muss der EGMR nicht zwangsläufig seine hohen Menschenrechtsstandards absenken, die für Friedenszeiten entwickelt wurden?109

 So pointiert Marko Milanovic, Al-Skeini and Al-Jedda in Strasbourg, EJIL 23 (2012), 121 (123 f.).

109

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

Diese gewichtigen Bedenken haben den EGMR in den Verfahren Banković, Saramati und Behrami und Behrami, wie wir gesehen haben, zunächst dazu verleitet, eine Art Bereichsausnahme für Militäreinsätze unter dem Dach internationaler Organisationen zu schaffen, indem der Gerichtshof den Begriff der Ausübung von Hoheitsgewalt restriktiv in der Weise auslegte, dass ein gewisses Maß an Kontrolle der beteiligten UN-Institutionen jegliche Verantwortung der Konventionsstaaten für das Handeln ihres Militärpersonals ausschloss. Die Möglichkeit einer dualen ­Verantwortlichkeit wurde damit ausgeschlossen. Ein entscheidender Grund dafür war ausweislich der Urteilsbegründung die Befürchtung des EGMR, dass die Bereitschaft der UN-Mitgliedstaaten, Truppen für UN-Missionen zu stellen, sinken würde, sollte ihr Handeln der Kontrolle des EGMR unterliegen. Für diesen effektiven Ausschluss jeglicher gerichtlichen Kontrolle ist der EGMR aber mit Recht kritisiert worden.110 Denn damit entledigt sich der Gerichtshof seiner Kontrollfunktion gerade im Bereich der Sicherheits- und Militärpolitik, in dem alternative Verfahren und Kontrollmechanismen zur Sicherung konstitutioneller Belange, insbesondere des Minderheitenschutzes, fehlen.111 Dabei besteht die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit gerade auch darin, als ein zusätzliches, nachgeschaltetes Entscheidungsforum, andere Gesichtspunkte, wie etwa die Situation der betroffenen Grundrechtsträger, in Entscheidungsprozesse einzuspeisen. Dem Anliegen des Grund- und Menschenrechtsschutzes entspricht ein völliger Ausschluss verfassungsgerichtlicher Kontrolle nicht, obwohl genau darin die Kernaufgabe des EGMR liegt. Der Partikularität sicherheitspolitischer Erwägungen und der Sorge über eine drohende Vergerichtlichung der Sicherheitspolitik kann hingegen auch durch ein differenziertes gerichtliches Prüfungsprogramm Rechnung getragen werden. Daher erscheint es aus Sicht eines Verfassungsgerichts vorzugswürdig, die verfassungsgerichtliche Zuständigkeit weit auszulegen und die eigene Kontrollbefugnis prinzipiell zu bejahen, um dann sachgerechte Differenzierungen im Rahmen des Prüfungsprogramms vorzunehmen.112 Die Frage sollte also nicht lauten, ob inter- und supranationale Institutionen der gerichtlichen Kontrolle unterliegen, sondern wie diese Kontrolle ausgestaltet werden soll.

 Heike Krieger, A Credibility Gap: The Behrami and Saramati Decision of the European Court of Human Rights, JIP 13 (2009), 159 ff.; Marko Milanović/Tadjana Papić, As Bad as It Gets: The European Court of Human Rights’s Behrami und Saramati Decision and General International Law, I.C.L.Q. 58 (2009), 267 (295); Alexander Breitegger, Sacrificing the Effectiveness of the European Convention on Human Rights on the Altar of the Effective Functioning of Peace Support Operations: A Critique of Behrami & Saramati and Al Jedda, ICLR 11 (2009), 155 (174). 111  In den Verfahren Banković, Saramati und Behrami und Behrami waren die Beschwerdeführer allesamt Staatsbürger von Nicht-Konventionsstaaten. 112  So auch Anne Peters, Die Anwendbarkeit der EMRK in Zeiten komplexer Hoheitsgewalt und das Prinzip der Grundrechtstoleranz, AVR 48 (2010), 1 (45 f.). Die Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH im Bosphorus-Urteil zeigt exemplarisch, wie sich ein solches differenziertes Prüfungsprogramm methodisch realisieren lässt. Dazu näher Mattias Kumm, Democratic Constitutionalism Encounters International Law: Terms of Engagement, in: Sujit Choudhry (Hrsg.), The Migration of Constitutional Ideas, 2006, 256 (282 ff.). 110

B. Analyse: Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts als echter Kontrollmechanismus

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I I. Das Modell der harmonisierenden Auslegung und das Problem des institutionellen Bias In diesem Argument für die Ausübung einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle, insbesondere soweit adäquate gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen, liegt auch der Haupteinwand gegen das Modell der harmonisierenden Auslegung. Nach diesem Modell ist die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle inhaltlich signifikant beschränkt. Zwar wird der determinierende Teil des rechtsordnungsfremden Rechtsakts, soweit wie mit dessen Wortlaut vereinbar, harmonisierend – und damit einschränkend – ausgelegt. Soweit dies aber nicht möglich ist, wird das rechtsordnungsfremde Recht als zwingend anerkannt und von einer Kontrolle gänzlich abgesehen. Im Kontext des 1267-Sanktionsregimes hat das dazu geführt, dass interpretationsoffene Begriffe wie „necessary“ und „appropriate“ durch den EGMR in Nada und den kanadischen Federal Court in Abdelrazik in einer Weise ausgelegt wurden, die insbesondere bestimmte Ausnahmen und Erleichterungen von den in der Sicherheitsratsresolution angeordneten Reisebeschränkungen vorsahen.113 Die fundamentalen Defizite des Sanktionsregimes, der Mangel jeglicher gerichtlicher Kontrollinstanz und der politische Charakter der Entscheidung über eine Delistung, unterliegen dabei jedoch keiner Kontrolle und werden bestenfalls im obiter dictum kritisiert.114 Dagegen ist für das engagement-Modell gerade kennzeichnend, dass der rechtsordnungseigene Inkorporationsakt selbst dann zum Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle wird, wenn sein Inhalt durch das rechtsordnungsfremde Recht determiniert wird und eine harmonisierende Auslegung nicht mehr methodisch vertretbar erscheint. Ein kategorischer Vorrang des rechtsordnungsfremden inter- oder supranationalen Rechts, selbst insoweit ihn die UN-Charta anordnet, wird abgelehnt. Das entspricht der pluralistisch-­heterarchischen Struktur der vernetzten Weltordnung besser, in dem Möglichkeiten der Kontestation nicht durch hierarchische Vorrangkonstruktionen abgeschnitten, sondern grundlegende Dissense offengelegt und im Rahmen eines rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialogs konfrontiert werden.115 Dem Modell der harmonisierenden Auslegung scheint die Sorge vor einem offenen, unaufgelösten rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikt zugrunde zu liegen. Das hängt damit zusammen, dass die Grundsätze der Widerspruchsfreiheit und der Kohärenz tief im Rechtsdenken verankert sind. Dazu kommt, dass die apokalyptische Dammbruch-Rhetorik föderalistischer Vertreter eine abschreckende Wirkung auf viele Verfassungsgerichte entfaltet haben dürfte.116  Oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2., b.  Federal Court of Ottawa, Entsch. v. 04.06.2009, Abdelrazik v. Canada (Minister of Foreign Affairs), 2009 FC 580, Rn. 53. 115  Dazu oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. 116  Liest man die Entscheidungsgründe der Gerichte, die das Modell der harmonisierenden Auslegung anwenden, dann gibt es keinen Rechtsprechungskonflikt. Das rechtsordnungsfremde Recht wird in einer Weise harmonisch ausgelegt, die einen Konflikt mit den rechtsordnungseigenen Prinzipien und Normen gar nicht erst entstehen lässt. Und soweit sich eine harmonisierende Auslegung 113 114

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

Darüber hinaus scheint dieses Modell darauf abzuzielen, der Fragmentierung im inter- und supranationalen Recht entgegenzuwirken.117 Dahinter steht folgende Erwägung: In einer pluralistisch-heterarchischen Konfiguration, in der Verfassungsgerichte rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungskonflikte jeweils auf der Grundlage rechtsordnungseigener Normen aus einer rechtsordnungsinternen Per­ spektive behandeln können, besteht die Gefahr, die bestehenden Fragmentierungstendenzen zu verschärfen. Soweit Verfassungsgerichte aber das rechtsordnungsfremde Recht harmonisch auslegen, setzen sie sich zwangsläufig mehr mit den Normen und Belangen dieser Rechtsordnung auseinander. Damit liegt in diesem Kontrollmodell auch eine Chance, den fortschreitenden Bedeutungsverlust des allgemeinen Völkerrechts einzudämmen, der eng mit dem – auf der beschränkten Gerichtsbarkeit des IGH beruhenden  – Mangel eines obligatorisch zuständigen Gerichts zusammenhängt. Wenn aber nationale, regionale oder sektoral spezialisierte Gerichte, wie der EGMR in Nada und in Al-Dulimi, völkerrechtliche Normen auslegen, anstatt, wie der EuGH im Kadi-Urteil, die eigene Autonomie zu bekräftigen, tragen sie zu einem harmonischen Miteinander der unterschiedlichen Rechtsordnungen bei, so die Vorstellung hinter dem Modell der harmonisierenden Auslegung. Idealiter schlüpfen Verfassungsgerichte danach in die Rolle des Amtswalters des rechtsordnungsfremden Rechts und überwinden damit den potenziellen Rechtsprechungskonflikt zwischen dem rechtsordnungseigenen und dem rechtsordnungsfremden Recht. Legt man jedoch institutionelle Prämissen zugrunde, erscheint diese Annahme naiv. Verfassungsgerichte sind Repräsentanten ihrer Rechtsordnung. Ihre Legitimität leiten sie, wie an anderer Stelle dargelegt,118 aus den demokratisch legitimierten Normen ihrer Rechtsordnung ab. Die rechtsordnungsinterne Rechtskultur und -tradition bilden den Rahmen richterlichen Entscheidens. Anne Peters zufolge ist dementsprechend kaum „anzunehmen, dass identische Normen auf identische Art und Weise von allen Akteuren interpretiert würden“.119 Vielmehr sei „[j]ede Auslegung einer Vorschrift durch ein nationales oder durch ein internationales Gericht […] wahrscheinlich zu einem gewissen Grad vom institutionellen ‚bias‘ der jeweiligen Institution“ geprägt.120 Deshalb ist auch nicht davon auszugehen, dass Verfassungsgerichte rechtsordnungsfremde Normen im besten Interesse der rechtsordnungsfremden Institutionen interpretieren.121 Die harmonisierende Auslegung des rechtsmethodisch vertretbar nicht mehr mit dem Wortlaut der rechtsordnungsfremden Norm rechtfertigen lässt, wird der Vorrang dieser Norm anerkannt. 117  Zum Phänomen der Fragmentierung: Oben Erster Teil, Kap. 2, F. 118  Dazu oben Erster Teil, Kap. 8, B., II. 119  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (58 f.). 120  Ebd. 121  Diese Vermutung wird durch die Lektüre der Urteile des EGMR in Al-Jedda, in Nada und in Al-Dulimi bestätigt: Wenn der EGMR in Al-Jedda die Vermutung formuliert, „dass der Sicherheitsrat nicht beabsichtigt, den Mitgliedstaaten die Verpflichtung aufzuerlegen, fundamentale menschenrechtliche Grundsätze zu verletzen“, siehe EGMR, Urt. v. 07.07.2011, Nr. 27021/08 – AlJedda v. Vereinigtes Königreich, Rn. 102, dann scheint das eher der menschenrechtlichen Agenda

C. Zusammenfassung

395

ordnungsfremden Rechts stellt sich somit auch als verdeckter Übergriff in die Interpretationshoheit rechtsordnungsfremder Institutionen über das Recht ihrer Rechtsordnung dar, die dem Gebot des wechselseitigen Respekts vor der Autonomie der Partner im Netzwerk widerspricht.122

C. Zusammenfassung Im Unterschied zur Vertragskontrolle lässt sich der Schutz von Grundrechten im Rahmen der Kontrolle des abgeleiteten Rechts einfacher realisieren. Hier liegt der Grundrechtseingriff bereits vor, das Verfassungsgericht kann einen individualisierten, abgeschlossenen Sachverhalt retrospektiv prüfen. Wie sich gezeigt hat, entwickelt sich die  – mittelbare  – Kontrolle des abgeleiteten Rechts immer mehr zur rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm. Nationale und supranationale Verfassungsgerichte kontrollieren das unionsrechtliche Sekundärrecht und UN-­ Sicherheitsratsresolutionen. Richtungsweisende Etappen in dieser Entwicklung waren der Solange I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und der rechtsordnungsübergreifende gerichtliche Widerstand gegen das UN-Sanktionsregime. Auch die Kontrolle durch den EGMR von Militäreinsätzen unter dem Dach einer internationalen Organisation ist von Bedeutung. Hinter der Ausübung dieser Kontrolle steht die Ratio, dass die Wahl der Governance-­Form in der vernetzten Weltordnung keine gravierenden Auswirkungen auf das gewährleistete Grundrechtsschutzniveau haben sollte, weil sich Regierungen, Behörden und Parlamente sonst ihrer Verpflichtungen zur Achtung der Grund- und Menschenrechte durch Kompetenzübertragungen auf inter- und supranationale Institutionen entledigen könnten. Nur weil der Kampf gegen den transnationalen Terrorismus durch UN- oder durch EU-Institutionen wahrgenommen wird, muss daraus nicht folgen, dass rechtsordnungsfremde europäische oder nationale Gerichte in diesem grundrechtssensiblen Bereich keine Kontrolle ausüben sollten. Der Ausübung jeglicher Form von öffentlicher Gewalt sollte die Gewährleistung grundlegender verfassungsrechtlicher Prinzipien korrespondieren. Dem in der Kontrolle des abgeleiteten inter- und supranationalen Rechts strukturell angelegten Konflikt zwischen dem Schutz konstitutionalistischer Prinzipien einerseits und der Gewährleistung der Handlungsautonomie inter- und ­supranationaler des EGMR als den sicherheitspolitischen Belangen des UN-Sicherheitsrats gerecht zu werden. Im Al-Dulimi-Urteil wirft Nußberger in ihrer abweichenden Meinung der Mehrheit der Richter triftig vor, statt einer „harmonious interpretation“ eine „fake harmonious interpretation“ vorzunehmen, die mit den „basic methodological requirements of international treaty interpretation“ unvereinbar sei. Nußberger, diss. op., EGMR, Urt. v. 21.06.2016, Nr. 5809/08 – Al-Dulimi und Montana Management v. Schweiz. Für einen Überblick zur Auslegung von Resolutionen des Sicherheitsrats in der Rechtsprechung des EGMR, siehe Ulrike Brandl, Auslegung von Resolutionen des Sicherheitsrats: Einheitliche völkerrechtliche Regelungen oder „pick and choose“ aus möglichen Auslegungsregeln?, AVR 53 (2015), 279 (294 ff.). 122  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 6, B.

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Kapitel 15: Das abgeleitete Recht als Kontrollgegenstand

Institutionen andererseits lässt sich durch ein abgestuftes gerichtliches Kontroll­ programm hinreichend Rechnung tragen, in dem die Bereitschaft und die Ausgestaltung zum Grundrechtsschutz in diesen Institutionen ein maßgeblicher Ge­ sichtspunkt ist. Die entscheidende Frage ist nicht, ob inter- und supranationale Institutionen der gerichtlichen Kontrolle unterliegen sollten, sondern wie diese Kontrolle ausgestaltet werden soll. Hier kristallisieren sich, wie gezeigt, zwei konkurrierende Modelle der Kontrolle des abgeleiteten Rechts heraus: Einerseits das engagement-Modell, dem sich u. a. der Solange I-Beschluss des BVerfG sowie die Urteile des EuGH in den oben kurz skizzierten Rechtssachen Bosphorus und Kadi zuordnen lassen, andererseits das Modell der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts, unter das sich die Al-Jedda-Entscheidungen des House of Lords und des EGMR, sowie die Entscheidungen des EGMR in Nada und in Al-Dulimi, aber auch das Abdelrazik-­ Urteil des kanadischen Federal Court fassen lassen. Im engagement-Modell nimmt das Gericht eine  – mittelbare  – Prüfung des abgeleiteten Rechts vor und erkennt explizit an, dass es dadurch die Erfüllung der rechtsordnungsfremden inter- oder supranationalen Verpflichtung infrage stellt und einen Konflikt mit den rechtsordnungsfremden Institutionen riskiert. Im Rahmen des Modells der harmonisierenden Auslegung dagegen respektiert das Gericht auf den ersten Blick die rechtsordnungsfremde Verpflichtung und beschränkt seine Kontrolle auf den Teil des rechtsordnungseigenen Inkorporationsakts, der nicht durch die rechtsordnungsfremde Norm determiniert ist. Allerdings wird die Reichweite dieser Verpflichtung einschränkend interpretiert und damit der Gestaltungsspielraum bei der Inkorporation dieser Verpflichtung in die eigene Rechtsordnung ausgeweitet. Wie dargelegt, ist das engagement-Modell dem Modell der harmonisierenden Auslegung vorzuziehen. Nach letzterem ist von einer Kontrolle des rechtsordnungsfremden internationalen- oder supranationalen Rechts gänzlich abzusehen, soweit eine einschränkende Auslegung methodisch nicht möglich ist. Dagegen ist für das engagement-Modell gerade kennzeichnend, dass der rechtsordnungseigene Inkorporationsakt selbst dann zum Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle wird, wenn sein Inhalt durch das rechtsordnungsfremde Recht determiniert wird. Dadurch ermöglicht das engagement-Modell Möglichkeiten der Kontestation auch in grundlegenden Fragen und nicht nur im Hinblick auf Regelungsdetails. Es fördert dadurch einen rechtsordnungsübergreifenden konstitutionellen Dialog. Dahingegen widerspricht die hinter dem Modell der harmonisierenden Auslegung stehende Vorstellung eines harmonischen Miteinanders der unterschiedlichen Rechtsordnungen grundsätzlichen institutionellen Prämissen.

Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit in Kadi um den „richtigen“ Kontrollmaßstab

Die Ausübung einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts muss stets die Balance wahren zwischen dem Schutz rechtsordnungseigener Belange, die in der fremden Rechtsordnung unterrepräsentiert sein können, und dem gebotenen Respekt vor der Autonomie inter- und supranationaler Institutionen. Die Diskussion zur Kontrollfunktion1 und zum Kon­ trollgegenstand2 hat dabei gezeigt, dass es unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung geboten ist, grundsätzlich eine Kontrolle über rechtsordnungsfremdes Recht auszuüben. Diese Einsicht bildet sich schrittweise zu einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm heraus.3 Die entscheidende Frage ist dann nicht, ob Kontrolle über rechtsordnungsfremdes Recht auszuüben ist, sondern wie diese Kontrolle ausgestaltet werden soll. Ein maßgebliches Instrument zur Feinsteuerung der angesprochenen Balance ist dabei der Kontrollmaßstab, den Verfassungsgerichte heranziehen. Dabei stellt sich die Frage, ob ein rechtsordnungseigener oder ein rechtsordnungsfremder Kontrollmaßstab heranzuziehen ist. Soweit etwa nationale Gerichte jede Entscheidung inter- und supranationaler Institutionen vollumfänglich am Maßstab rechtsordnungseigener Normen kontrollieren, würde der oftmals mit der Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf diese Institutionen verfolgte Zweck der Gewährleistung von Handlungseinheit durch die Harmonisierung nationaler Vorschriften komplett leerlaufen.4 Die  Oben Zweiter Teil, Kap. 10.  Oben Dritter Teil, Kap. 14 und Kap. 15. 3  Vgl. oben Dritter Teil, Kap. 14, A., I. und Kap. 15, A., I. 4  Diesen Aspekt reflektiert die Eurocontrol I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar, wenn es dort heißt, dass „eine derart weitgehende Ausrichtung der rechtlichen Ausgestaltung einer zwischenstaatlichen Einrichtung an den innerstaatlichen Bestimmungen eines beteiligten Staates letztlich der in Art. 24 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit (Klaus Vogel) zuwider [liefe]; sie wäre gegenüber den ande1 2

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_16

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Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit …

­ unktionsfähigkeit und Autonomie dieser Institutionen wäre dann ganz erheblich F beeinträchtigt. Überprüfen Verfassungsgerichte rechtsordnungsfremde Normen hingegen am Maßstab einer hinsichtlich ihres Umfangs traditionell sehr restriktiv gehandhabten Normkategorie, wie die des ius cogens, dann droht andererseits die effektive Kontrolle dieser Normen leerzulaufen. Die Kadi-Urteile des EuG und des EuGH stellen ein entscheidendes Moment für die vernetzte Weltordnung dar.5 Das liegt nicht nur an der Kontroverse zwischen zwei der prononciertesten inter- bzw. supranationalen Institutionen überhaupt, dem UN-Sicherheitsrat und dem EuGH, sondern auch an den gegensätzlichen Ansätzen des EuG und des EuGH, die unterschiedliche Alternativen für die Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts in der vernetzten Weltordnung aufzeigen. Dieser Ausstrahlungswirkung ihrer Entscheidung waren sich beide Gerichte bewusst. Um die Gemeinsamkeiten zunächst vorwegzunehmen: Das EuG und der EuGH entscheiden sich beide dazu, dass 1267-Sanktionsregime einer Kontrolle zu unterwerfen. Beide wählen dabei als Kontrollgegenstand den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt: Die EU-Verordnung 881/2002.6 Beide prüfen die Vereinbarkeit dieser Verordnung inhaltlich mit den Grundsätzen des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und der Eigentumsfreiheit. Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Urteilen, der die Frage des „richtigen“ Kontrollmaßstabs betrifft: Das EuG prüft diese Grundsätze in der Gestalt des eng gefassten ius cogens,7 der EuGH in der Gestalt der strengeren Unionsgrundrechte.8 Das EuG wählt einen rechtsordnungsfremden, der EuGH einen rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstab. Das EuG hält die Verordnung aufrecht,9 der EuGH erklärt sie für nichtig.10 Ein Menschenrechtsadvokat wird die Kadi-Urteile der europäischen Gerichte anders beurteilen als ein Sicherheitsexperte. Maßgeblich für die Analyse dieser konkurrierenden Ansätze soll jedoch nicht das „richtige“ Ergebnis im konkreten Fall Kadi sein, sondern die Frage, welche Modi und Strukturen der Ausübung verfassungsgerichtlicher Kontrolle den Gegebenheiten der vernetzten Weltordnung am ren beteiligten Staaten schwerlich durchzusetzen und würde die Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Einrichtungen im Sinne des Art. 24 GG nicht selten faktisch ‚vertragsunfähig‘ machen“. Siehe BVerfGE 58, 1 (40) – Eurocontrol I (1981). Dezidiert auch die Senatsminderheit im Solange I-Beschluss: „Kein Mitgliedstaat kann verlangen, dass die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene gerade in der Gestalt gewährleistet werden, wie sie die nationale Verfassung kennt.“ BVerfGE 37, 271 (297) – Solange I (1974). 5  Entsprechend diskutiert Yang das Urteil des EuGH weiterführend unter dem Topos der Leitentscheidung. Siehe Nele Yang, Die Leitentscheidung. Zur Grundlegung eines Begriffs und seiner Erforschung im Unionsrecht anhand des EuGH-Urteils Kadi, 2018. 6  Verordnung Nr. 881/2002, ABl. EU 2002 L 139/9. 7  Siehe unten Dritter Teil, Kap. 16, A., I., 1. 8  Unten Dritter Teil, Kap. 16, A., II. 9  Unte Dritter Teil, Kap. 16, A., I., 1. 10  Oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2., b.

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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besten entsprechen. Bevor allerdings erörtert wird, ob für die Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts grundsätzlich ein rechtsordnungseigener oder ein rechtsordnungsfremder Kontrollmaßstab vorzuziehen ist (B.), sollen die beiden bereits diskutierten Kadi-Entscheidungen in der gebotenen Kürze skizziert werden (A.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen Zunächst sollen kurz die Entscheidungen des EuG in Kadi und des schweizerischen Bundesgerichts in Nada dargestellt werden, die beide auf das rechtsordnungsfremde ius cogens als Kontrollmaßstab rekurrieren (1.), um dann das Kadi-Urteil des EuGH in groben Zügen in Erinnerung zu rufen (2.).

I. Rechtsordnungsfremdes ius cogens als Kontrollmaßstab 1. Das Kadi-Urteil des EuG vom 21.09.2005 Der Hintergrund des UN-Sanktionsregimes, der den Entscheidungen des EuG und des schweizerischen Bundesgerichts zugrunde lag, wurde bereits an anderer Stelle beschrieben.11 Im Verfahren Kadi v. Rat und Kommission erhob Herr Kadi Nichtigkeitsklage vor dem EuG gegen seine Listung in der Verordnung 881/2002, die die Sicherheitsratsresolution 1267 spiegelbildlich in die Unionsrechtsordnung inkorporierte. Das EuG wies die Klage von Herrn Kadi trotz der signifikanten Grundrechtsdefizite im UN-Sanktionsregime im Ergebnis ab.12 In den Entscheidungsgründen ist das große Thema des EuG die herausragende Stellung des UN-Sicherheitsrats im Völkerrecht und der Vorrang der UN-Charta: Weil die Art. 25, 48 und 103 der UNCharta den Vorrang der aus den Sicherheitsratsresolutionen resultierenden Verpflichtungen vor allen anderen internationalen Verpflichtungen anordnen, sieht sich das Gericht an einer Prüfung der Verordnung am Maßstab der Unionsgrundrechte gehindert, da die Sicherheitsratsresolution 1267 (1999) nach seiner Auffassung den Mitgliedstaaten für die Umsetzung keinen eigenen Gestaltungsspielraum belässt und die EU-Verordnung damit vollständig durch diese determiniert ist.13 Stattdessen kontrolliert das EuG die unionsrechtliche Verordnung am Maßstab zwingender Menschenrechtsgarantien.14

 Oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2., a.  EuG, Urt. v. 21.09.2005, Rs. T-315/01  – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:T:2005:332, Rn. 292. 13  Ebd., Rn. 221 ff. 14  Ebd. Rn. 226 ff. 11 12

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Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit …

Dahinter steht die Prämisse, dass die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats an das ius cogens gebunden sind.15 Allerdings erstreckt das EuG seine Prüfung formal nicht auf die UN-Sicherheitsratsresolution, sondern nur auf die inkorporierende EU-Verordnung, um sich als regionales Gericht keine Kompetenz zur Gültigkeitskontrolle über eine Resolution anzumaßen.16 Im Ergebnis verneint das Gericht einen Verstoß gegen die im zwingenden Völkerrecht kaum entwickelten Garantien des rechtlichen Gehörs und des Eigentums17 und nimmt die damit verbundenen Grundrechtsschutzlücken zugunsten des Vorrangs der UN-Charta in Kauf.18 Dennoch ­handelt es sich bei der Entscheidung um eine Form der Kontrolle, weil der Prüfungsansatz des EuG konzeptionell die Möglichkeit einer Nichtbefolgung der UN-Sicherheitsratsresolution und damit eines Verfassungskonflikts miteinschließt. Obwohl das Gericht der Auffassung ist, dass die Resolution des Sicherheitsrats den Mitgliedstaaten zur Umsetzung keinen eigenen Gestaltungsspielraum belässt, akzeptiert es die Verpflichtungen aus der Resolution nicht uneingeschränkt, sondern nur, soweit diese den Vorgaben des zwingenden Völkerrechts entsprechen.19 2 . Das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts in Nada v. SECO vom 14.11.2007 Dem Ansatz des EuG schließt sich das schweizerische Bundesgericht in seinem Urteil in Nada v. SECO ausdrücklich an und betont, dass „[d]ie Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gemäß der Charta [und der „für die Mitgliedstaaten verbindlichen Resolution des Sicherheitsrats“] […] nicht nur Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten, sondern […] auch Vorrang vor Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften“ hätten.20 Soweit ein Normkonflikt „nicht im Wege der Auslegung ausgeräumt werden“ könne, müsse „auf die völkerrechtliche Normenhierarchie abgestellt werden“.21 Allerdings sieht das Bundesgericht den Sicherheitsrat an das ius cogens gebunden und zieht dieses folglich – unter ausdrücklicher Berufung auf das EuG – als Kontrollmaßstab h­ eran.22 Im Unterschied zum  Ebd., Rn. 230.  Ebd., Rn. 282 f. 17  Ebd., Rn. 242 und Rn. 286. 18  Soweit das EuG einen Verstoß der Sicherheitsratsresolution bejaht hätte, bestünde keine Durchführungsverpflichtung der Mitgliedstaaten aus der UN-Charta, so dass der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte nicht mehr „gesperrt“ gewesen wäre und das Gericht die Verordnung dann ohne Weiteres am Maßstab dieser Unionsgrundrechte hätte prüfen können. Kirsten Schmalenbach, Bedingt kooperationsbereit: Der Kontrollanspruch des EuGH bei gezielten Sanktionen der Vereinten Nationen, JZ 64 (2009), 35 (36). 19  Instruktiv zum Kadi-Urteil des EuG: Helmut Aust/Nina Naske, Rechtsschutz gegen den UN-Sicherheitsrat durch europäische Gerichte? Die Rechtsprechung des EuG zur Umsetzung „gezielter Sanktionen“ aus dem Blickwinkel des Völkerrechts, ZÖR 61 (2006), 587 ff. 20  Schweizerisches Bundesgericht, Urt. v. 14.01.2007, BGE 133 II 450 (457) – Nada v. SECO. 21  Ebd., 460. 22  Ebd., 460 f. 15 16

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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EuG streicht das Bundesgericht jedoch den restriktiven Anwendungsbereich der Normkategorie des ius cogens heraus und kommt zu dem Schluss, dass weder die „Grundrechte der Eigentumsgarantie und der Wirtschaftsfreiheit“ noch die vom Beschwerdeführer „geltend gemachten Verfahrensgarantien“ zum ius cogens gezählt werden könnten.23

II. Das Kadi-Urteil des EuGH vom 03.09.2008: Rechtsordnungseigenes Recht als Kontrollmaßstab Das EuGH-Urteil wurde an anderer Stelle bereits zusammengefasst.24 Deshalb hier nur kurz: Der Gerichtshof verfolgt in Kadi einen dualistischen Ansatz und unterscheidet zwischen internationalen Verpflichtungen, die weder ein „bestimmtes Modell für die Umsetzung“ vorsehen25 noch durch die Nichtigkeit der unionsrechtlichen Verordnung „in Frage“ gestellt werden einerseits, sowie der „Autonomie des Rechtssystems der Gemeinschaft“ und den „Verfassungsgrundsätze[n] des EG-Vertrag[es]“, die durch internationale Verpflichtungen nicht beeinträchtigen werden können andererseits.26 In der Folge prüft der EuGH die unionale Verordnung am Maßstab der Unionsgrundrechte. Eine Auseinandersetzung mit dem UN-Sanktionsregime vermeidet der EuGH weitgehend.27 Damit wählt der EuGH für die Kontrolle des UN-Sanktionsregimes ebenso einen rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstab wie nationale Verfassungsgerichte für die Kontrolle des Unionsrechts im EU-Kontext. Ausgangspunkt und Maßstab der Kontrolle mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte ist die nationale Verfassung, für den EuGH ist es der Gründungsvertrag. Bei der Diskussion um den Föderalismus-­ Intergouvernementalismus-­Gegensatz haben wir gesehen,28 dass nach der Konzeption der Verfassungsgerichte ein nationaler Rechtsanwendungsbefehl erforderlich ist, der die nationale Rechtsordnung für das inter- und supranationale Recht öffnet und dieses im innerstaatlichen Bereich anwendbar macht. Durch diese Konstruktion wird aber gleichsam die Verfassung zum rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstab des inter- und supranationalen Rechts. Das gleiche Anliegen verfolgt der EuGH mit seinem dualistischen Ansatz.

 Ebd., 461 f.  Oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2, b. 25  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 298. 26  Ebd., Rn. 282, 285. 27  Allerdings gibt es in dem Urteil auch einen sog. Solange-Teil, in dem sich der Gerichtshof mit dem UN-Sanktionsregime auseinandersetzt. Dazu unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 4. 28  Oben Erster Teil, Kap. 3, A., I. 23 24

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Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit …

 . Analyse: Die komparativen Vorzüge eines B rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstabs Die Urteilsbegründung des EuG bewegt sich vorwiegend in den Gewässern des rechtsordnungsfremden internationalen Rechts, insbesondere in den Tiefen des zwingenden Völkerrechts. Zwar nimmt das EuG in Kadi keine harmonisierende Auslegung, aber es nimmt eine Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts vor. Deshalb kann hier an die Diskussion über die Modelle des engagement und der harmonisierenden Auslegung des rechtsordnungsfremden Rechts im Rahmen des Kontrollgegenstandes angeknüpft werden,29 denn Fragen nach der institutionellen Legitimität eines Gerichts zur Interpretation eines bestimmten Rechtsbestands und nach der Fragmentierung des internationalen Rechts spielen in beiden Konstellationen eine bedeutende Rolle. Für den Ansatz des EuG, rechtsordnungsfremdes ius cogens als Kontrollmaßstab heranzuziehen, lässt sich anführen, dass die Kontrolle völkerrechtlicher Normen legitimer erscheint, wenn sie am Maßstab des global geltenden ius cogens erfolgt. Ius cogens als Kontrollmaßstab heranzuziehen, könnte auch dazu beitragen, die Fragmentierungstendenzen im internationalen Recht einzudämmen. Denn im Unterschied zu den Unionsgrundrechten handelt es sich um einen Kontrollmaßstab, auf den auch Gerichte außerhalb Europas rekurrieren können, der als gemeinsamer Nenner für Verfassungsgerichte aus der ganzen Welt dienen könnte. Andreas von Arnauld fasst diesen Aspekt so zusammen: „Wer der UNO die Gefolgschaft verweigern will, muss sich auf eine gemeinsame Werteordnung stützen, also auf universell konsensfähige Argumente.“30 Darüber hinaus lässt sich die Auslegung und Fortentwicklung einer globalen Normkategorie durch ein regionales Gericht damit rechtfertigen, dass es bewährte Völkerrechtspraxis ist, dass nationale Gerichte völkerrechtliche Normen im Rahmen nationaler Gerichtsprozesse auslegen und anwenden. Dem EuGH dagegen kann man vorwerfen, dass er völkerrechtliche Belange vernachlässigt, um seine Stellung in der Unionsrechtsordnung zu untermauern. Vor dem Hintergrund der Forderung mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte, wie dem Bundesverfassungsgericht oder der Corte Costituzionale, nach einem Grundrechtsschutz durch die EU-Institutionen, der dem nationalen Grundrechtsschutzniveau „im wesentlichen gleichzuachten ist“,31 erhebt sich der EuGH zum entschlossenen Wächter der Unionsgrundrechte, der auch vor dem UN-Sicherheitsrat nicht zurückschreckt. Der Gerichtshof nimmt sich die Erfolgsgeschichte dieser Verfassungsgerichte zum Vorbild, die ihre institutionelle Autorität maßgeblich über den Schutz

 Oben Dritter Teil, Kap. 15, A., II.  Andreas von Arnauld, UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz, AVR 44 (2006), 201 (210). 31  BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II (1986). Siehe auch BVerfGE 102, 147 (162 f.) – Bananenmarkt (2000).

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B. Analyse: Die komparativen Vorzüge eines rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstabs

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rechtsordnungseigener Grundrechte erlangt haben.32 Indem der EuGH allerdings die Autonomie der europäischen Rechtsordnung gegenüber dem Völkerrecht bekräftigt, nimmt er es trotz seiner völkerrechtlichen Herkunft in Kauf, die prekäre Autorität des allgemeinen Völkerrechts in schweren Zeiten weiter zu schwächen. Dennoch würde es zu weit gehen, dem EuGH generell eine Abwendung vom Völkerrecht zu unterstellen. Das Kadi-Urteil enthält einen langen Passus über die Völkerrechtsfreundlichkeit der Unionsrechtsordnung. Der Gerichtshof erteilt mit seiner Bekräftigung der Autonomie der von ihm behaupteten europäischen Verfassungsordnung33 nur einer bestimmten Konzeption des Völkerrechts eine Absage – einer föderalistischen Konzeption. Teile des EuG-Urteils dagegen lesen sich wie eine Blaupause für ein föderalistisches Manifest: Das Unionsrecht gliedert sich in eine einheitliche Völkerrechtsordnung ein, die als hierarchische Ordnung mit der  UN-Charta an der Spitze der Normenpyramide konzipiert wird. Der UN-­ Sicherheitsrat wird mittels Bindung an die Normen des zwingenden Völkerrechts der Herrschaft des Rechts unterworfen. Durch ein außergewöhnlich weites, inklusives Verständnis von ius cogens wird dieses als gemeinsame Wertegrundlage der internationalen Gemeinschaft34 fruchtbar gemacht und gleichsam die Konstitutionalisierung des Völkerrechts vorangetrieben.35 Mit dieser föderalistischen Konzeption wird ein tief liegendes Bedürfnis nach Widerspruchsfreiheit und Kohärenz im Recht befriedigt. Der Ansatz des EuG hat jedoch bereits einen Haken, soweit er maßgeblich auf die Normkategorie des ius cogens als den Leim abstellt, der die Einheit der Völkerrechtsordnung zusammenhält. Zum einen ist ius cogens eine aus legitimatorischer Perspektive besonders bedenkliche Normkategorie, zum anderen lässt sich allein auf Grundlage des ius cogens kein  – nach europäischen Standards  – adäquater Grundrechtsschutz gewährleisten.36 Das im positiven Völkerrecht rudimentär in den Art. 53 und 64 WVRK fixierte ius cogens ist eine maßgeblich von demokratisch durch nichts legitimierten Rechtsgelehrten, vom „invisible college of international

 Diese Neigung, sich institutionell als Wächter der Unionsgrundrechte zu profilieren, lässt sich auch in der weiten Auslegung des in Art. 51 GRC geregelten Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta im Fransson-Urteil erkennen. EuGH, Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-617/10  – Aklagare v. Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:105, Rn. 16 ff. 33  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 281 f., 316, 326. 34  Zum Zusammenhang zwischen ius cogens und völkerrechtlicher Wertegemeinschaft: Christian Tomuschat, Reconceptualizing the Debate on Jus Cogens and Obligations Erga Omnes – Concluding Observations, in: ders./Jean-Marc Thouvenin (Hrsg.), The Fundamental Rules of the International Legal Order: Jus Cogens and Obligations Erga Omnes, 2006, 425  ff.; Elena Katselli, Holding the Security Council Accountable for Human Rights Violations, Hum. Rts. & Int’l L. Discourse 1 (2007), 301 (323). 35  Jan Klabbers, Setting the Scene, in: Jan Klabbers/Anne Peters/Geir Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2009, 1 (2). 36  Grundlegend zur Normkategorie des ius cogens: Stefan Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992. 32

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Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit …

lawyers“,37 entwickelte und verfochtene Normkategorie.38 Das für das Völkergewohnheitsrecht bekannte Problem, wie die Entstehung einer Norm festgestellt werden kann, stellt sich für das ius cogens als besondere Form des Völkergewohnheitsrechts aufgrund seines unabdingbaren Charakters mit besonderer Dringlichkeit. Wie kann das EuG bestimmen, ob ius cogens den Grundsatz der effektiven gerichtlichen Kontrolle umfasst? Jedenfalls dürfte es Staaten wie China und Russland überraschen zu erfahren, dass die Entscheidungen, die sie als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats treffen, an den Grundsatz der effektiven gerichtlichen Kontrolle in der Gestalt des zwingenden Völkerrechts gebunden sind. Damit ist keine grundsätzliche Kritik an der Kategorie des Völkergewohnheitsrechts intendiert, sondern lediglich der Hinweis darauf, dass die Legitimität des ius cogens maßgeblich an eine bedachte, evolutive Normkreation gekoppelt ist, wie die strengen Anforderungen des Art. 53 WVRK belegen.39 Bedenkt man, dass ius cogens anerkanntermaßen nur schwerste Menschenrechtsverletzungen wie die Folter, den Menschenhandel und die Sklaverei untersagt, dann wäre es bedenklich, dem Grundsatz der effektiven gerichtlichen Kontrolle im herkömmlichen Gewährleistungsgehalt kon­ stitutionalistischer Demokratien ius cogens-Status zuzuschreiben.40 Das hat das EuG zwar nicht getan. Es betrachtet das Recht auf Zugang zu Gerichten jedoch als in Grundzügen vom zwingenden Völkerrecht erfasst, sieht in dem UN-­ Sank­ tionsregime aber keine Verletzung dieses rudimentären Gewährleistungsgehalts. Hier offenbart sich ein Dilemma: Gemessen am herkömmlichen Verständnis von ius cogens ist die Interpretation des EuG geradezu avantgardistisch. Zum Vergleich: Nach Auffassung des schweizerischen Bundesgerichts in Nada werden Verfahrensrechte nicht einmal durch das zwingende Völkerrecht geschützt.41 Aus der Perspektive des überlieferten Niveaus des Grundrechtsschutzes in Europa, wie es nationale Verfassungsgerichte, der EGMR und mittlerweile der EuGH im rechtsordnungsinternen Kontext selbstverständlich voraussetzen, ist die vom EuG durchgeführte Grundrechtsprüfung jedoch gänzlich ungenügend. Soweit in der Gewährleistung eines im Wesentlichen gleichzuachtenden Grundrechtsschutzes eine der wesentlichen Herausforderungen der Europäischen Union in ihrem Streben nach Legitimation liegt,42 dann ist der vom EuG zugrunde gelegte Maßstab beunruhigend. In der Auseinandersetzung des EuG mit dem rechtsordnungsfremden ius cogens zeigt sich ein grundsätzlicheres Problem: Für die Frage nach dem geeigneten Kon Oscar Schachter, The Invisible College of International Lawyers, Nw. U. L. Rev. 72 (1977), 217 ff.  Kritisch Yoram Dinstein, The Interaction Between Customary International Law and Treaties, RdC 322 (2006), 243 (426). 39  Nach Art. 53 WVRK setzt ius cogens voraus, dass die Norm von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird. 40  Mit einem weiten Verständnis aber: Erika de Wet/André Nollkaemper, Review of Security Council Decisions by National Courts, GYBIL 45 (2003), 166 ff. 41  Schweizerisches Bundesgericht, Urt. v. 14.01.2007, BGE 133 II 450 (460 f.) – Nada v. SECO. 42  Als Ausdruck der legitimatorischen Bedeutung eines hinreichenden Grundrechtsschutzes durch die europäischen Institutionen lässt sich der Umstand erkennen, dass nach der gescheiterten Verabschiedung des ambitionierten Europäischen Verfassungsvertrages zumindest der Grundrechte-Charta (durch den Vertrag von Lissabon) Rechtsverbindlichkeit zugesprochen wurde. 37 38

B. Analyse: Die komparativen Vorzüge eines rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstabs

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trollmaßstab genügt es nicht, bestimmte Normen auszuwählen, sondern es muss auch die institutionelle Dimension berücksichtigt werden, also die Frage danach, wer institutionell dafür prädestiniert ist, diesen Normen ihren Inhalt zuzuschreiben. In Konfliktsituationen, in denen die Belange verschiedener Rechtsordnungen miteinander konkurrieren, wie es in Kadi der Fall ist, erscheint das Gericht einer Rechtsordnung aufgrund seines institutionellen Bias nicht als Interpret des rechtsordnungsfremden Rechts angemessen.43 Diesen institutionellen Zusammenhang hat das Gericht der Europäischen Union entgegen dem Meta-Prinzip der institutionellen Reflexion nicht hinreichend berücksichtigt. Danach sollten Verfassungsgerichte ihre institutionelle Rolle im Kontext der vernetzten Weltordnung reflektieren.44 Durch seine Prüfung der UN-Sicherheitsratsresolution am Maßstab von jus cogens erhebt das Gericht einen Anspruch, der über seine Kompetenzen und Legitimität als regionales Gericht hinausgeht. Wenn das EuG zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass die Sicherheitsratsresolution gegen Normen des ius cogens verstößt, dann würde es damit effektiv seine Rechtsauffassung kundtun, dass die Resolution ungültig ist und gegenüber keinem UN-Mitgliedstaat Geltung beanspruchen dürfte.45 Das EuG prüft inzident einen rechtsordnungsfremden Rechtsakt (der UN-­Sicher­ heitsratsresolution) am Maßstab einer rechtsordnungsfremden Norm (ius cogens). Der darin implizierte Anspruch reicht über das bipolare Verhältnis zwischen der europäischen Rechtsordnung und dem UN-Regime hinaus und erscheint gegenüber den nicht-europäischen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats illegitim. Darüber hinaus unterminiert das Gericht mit diesem Ansatz umgekehrt auch seine Autorität gegenüber den Akteuren der europäischen Rechtsordnung, weil es mit dem Rückgriff auf den rechtsordnungsfremden ius cogens-Kontrollmaßstab seiner Aufgabe nicht nachkommt, die Unionsgrundrechte hochzuhalten, auch unterhalb der Schwelle schwerster Menschenrechtsverletzungen zu schützen und als bestimmenden Referenzpunkt in der Rechtsordnung zu positionieren.46 Dieser Zusammenhang würde sich grundlegend anders darstellen, hätte das EuG – wie der EuGH – die Resolution mittels des rechtsordnungseigenen Inkorporationsakts am Maßstab der rechtsordnungseigenen Unionsgrundrechte kontrolliert. Anstatt der eigenen Rechtsordnung einen schwer zu handhabenden rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab – gleichsam wie einen Fremdkörper – zu implantieren,47 bewegt sich ein Gericht, das einen rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstab anwen Bereits oben Dritter Teil, Kap. 15, B., II.  Oben Erster Teil, Kap. 8, C., I. 45  Zwar erklärt das EuG ausschließlich die EU-Verordnung zum Kontrollgegenstand, betont den inzidenten Charakter seiner Prüfung und lehnt eine eigene Verwerfungsbefugnis ausdrücklich ab. Der dogmatische Sinn hinter dieser Inzidenzprüfung scheint allerdings darin zu liegen, die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte zu prüfen, die nur dann gegeben zu sein scheint, soweit die Resolution wegen Verstoßes gegen ius cogens ungültig ist und damit keinen Vorrang vor dem Unionsrecht haben kann. 46  Zur Kontrollfunktion inter- und supranationaler Gerichte in der vernetzten Weltordnung: Oben Zweiter Teil, Kap. 10, B. 47  Kritisch Jörn Kämmerer, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall „Kadi“: Ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit?, EuR 2009, 114 (117). 43 44

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Kapitel 16: Rechtsordnungseigenes oder rechtsordnungsfremdes Recht: Der Streit …

det, in einem Normenfeld, in dem es die legitime Autorität und die erforderliche Expertise hat. Wenn das Gericht die Verordnung wegen Unvereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten für nichtig erklärt, erhebt es zudem keinen impliziten Geltungs­ anspruch, der über die eigene Rechtsordnung hinaus- und in andere Rechtsordnungen hineinreicht, sondern verweigert nur die Mitwirkung am UN-Sanktionsregime auf der Grundlage rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen. Umgekehrt muss ein rechtsordnungseigener Kontrollmaßstab nicht notwendig die Funktionsfähigkeit der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation übermäßig beeinträchtigen, solange das Gericht die Meta-Prinzipien der institutionellen und holistischen Reflexion beachtet und den rechtsordnungseigenen Kon­trollmaßstab auf den rechtsordnungsübergreifenden Kontext anpasst.48

C. Zusammenfassung Wenn nationale oder supranationale Verfassungsgerichte das inter- oder supranationale Recht kontrollieren, stellt sich die Frage, ob sie einen rechtsordnungseigenen oder einen rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab heranzuziehen. Die Kadi-­ Urteile des EuG und des EuGH entwickeln zu dieser Frage jeweils konkurrierende Ansätze. Das EuG wählt einen rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab, indem es die EU-Verordnung – und damit mittelbar die UN-Sicherheitsratsresolution – am Maßstab des ius cogens prüft. Der EuGH wählt einen rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstab in Gestalt der Unionsgrundrechte. Beide Urteile sind deshalb von ­Bedeutung, weil von ihnen eine Ausstrahlungswirkung für die Frage nach dem „richtigen“ Kontrollmaßstab ausgeht. Bislang lässt sich in der rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungsentwicklung eine Tendenz zugunsten eines rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstabs erkennen. Zwar ist dem Ansatz des EuG das schweizerische Bundesgericht in Nada gefolgt. Allerdings ist der EuGH gegenüber dem EuG das letztinstanzliche Unionsgericht und der Ansatz des EuGH orientiert sich an der Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte zur Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts, die das rechtsordnungseigene Verfassungsrecht als Kontrollmaßstab heranziehen. Die Analyse in diesem Kapitel hat ergeben, dass in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen ein rechtsordnungseigener einem rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab auch für die Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts grundsätzlich vorzuziehen ist. Im Fall der Heranziehung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs sieht sich ein Gericht einerseits dem Einwand ausgesetzt, dass es wegen seines institutionellen Bias zugunsten der eigenen Rechtsordnung in Konfliktsituationen, in denen die Belange verschiedener Rechtsordnungen miteinander konkurrieren, nicht als angemessener Interpret des rechtsordnungsfremden Rechts erscheint. Prüft ein supranationales Gericht, wie der EuGH oder das EuG, hinge A.A. Andreas von Arnauld, UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz, AVR 44 (2006), 201 (210).

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C. Zusammenfassung

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gen – wenn auch nur mittelbar – das rechtsordnungsfremde Recht (UN-­Sicherheits­ ratsresolution) anhand eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs (ius cogens), erhebt es implizit einen Anspruch, der über seine Kompetenzen und Legitimität als regionales Gericht hinausgeht. Andererseits droht die Gefahr, dass das Gericht rechtsordnungsinternen Erwartungen an seine institutionelle Rolle nicht gerecht wird. Wie dargelegt, würde der EuGH seine Rolle als Wächter der Unionsgrundrechte nicht angemessen erfüllen, wenn er die vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen einschneidenden Sanktionen gegen Individuen nur am Maßstab des ius cogens prüfen würde. Das Anliegen einer effektiven verfassungsgerichtlichen Kontrolle droht dann leerzulaufen. Soweit das Gericht stattdessen rechtsordnungseigene konstitutionalistische Prinzipien als Kontrollmaßstab anwendet, bewegt es sich in einem Normenfeld, in dem es die legitime Autorität und die erforderliche Expertise hat. In diesem Zusammenhang erscheint es auch legitim, rechtsordnungsfremden Institutionen die Mitwirkung auf der Grundlage rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen zu verweigern, insofern das Gericht die Meta-Prinzipien der institutionellen und holistischen Reflexion beachtet.

Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der Verfassung, zu Verfassungsprinzipien, zur „Verfassungsidentität“

Die bisherige Rechtsprechungsanalyse hat gezeigt, dass nationale Verfassungsgerichte in der EU einerseits den Vorrang des Unionsrechts grundsätzlich anerkannt haben, andererseits aber die vorrangige Anwendbarkeit des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung aus rechtsordnungseigenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen herleiten.1 Daraus folgt, wie wir gesehen haben, dass sich nationale Verfassungsgerichte die Kontrolle des Unionsrechts vorbehalten, und zwar auf Grund­lage eines rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstabs, der in der eigenen Verfassung verortet ist. Die Frage ist, wo genau in der Verfassung diese Grenze gezogen wird. Diese Frage ist von fundamentaler Bedeutung für das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem Unionsrecht. Je schwieriger der Verfassungsvorbehalt zu aktivieren ist, desto geringer ist die externe Kontrolle des Unionsrechts; je niedriger Verfassungsgerichte die Grenze ansetzen bzw. je mehr Verfassungsnormen Vorrang vor dem Unionsrecht haben, desto stärker wird die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten gefährdet.2 In einem ersten Schritt soll die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis im EU-Kontext aus rechtsvergleichender Perspektive in den Blick genommen werden (A.). Dabei zeigt sich, wie wir  Oben Dritter Teil, Kap. 12, A., I.  Dieses Dilemma umschreibt das Bundesverfassungsgericht in Honeywell mit Blick auf die Ultra-vires-Kontrolle treffend: „Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe.“ BVerfGE 126, 286 (303) – Honeywell (2010). Zur Ultra-vires-Kontrolle unten Dritter Teil, Kap. 18, B. 1 2

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_17

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Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der …

sehen werden, dass sich in der Frage des Kontrollmaßstabs eine rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnorm herausbildet, die in Form der „Verfassungsidentität“ sogar positiv-rechtlich nachvollzogen zu werden scheint.3 Daran anschließend soll diese sich abzeichnende Hintergrundnorm dann auf der Grundlage der hier entwickelten Konzeption der vernetzten Weltordnung analysiert werden (B.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen Nationale Verfassungsgerichte in der EU erblicken – bis auf wenige Ausnahmen – in der Verfassung keine allgemeine Schranke für das Unionsrecht. Bereits die ersten Verfassungsgerichtsurteile, die zu der Frage des adäquaten Kontrollmaßstabs Stellung beziehen, beschränken den Kontrollmaßstab auf grundlegende Verfassungsstrukturprinzipien (I.). Anne Peters beschreibt mit Blick auf diese Entwicklung einen „globalen Trend zu einem Verfassungsvorbehalt, indem materiell-rechtlich die Staatsverfassung oder zumindest ein harter Kern derselben als maßgeblich gegenüber konfligierendem internationalem Recht erklärt wird“.4 Seit der Vertrag von Lissabon dieser Rechtsprechung in Art. 4 Abs. 2 EUV rezipierend unter das Gebot der Achtung der „nationale[n] Identität in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ fasst, werden die verschiedenen Verfassungsstrukturprinzipien, vom Wesensgehalt der Grundrechte, zum Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, in der Rechtsprechung zunehmend unter dem Oberbegriff der Verfassungsidentität diskutiert (II.).5 In dieser Entwicklung ist das Potenzial eines von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten geteilten positiv-­rechtlichen Arrangements zur Frage der Grenzen des Unionsrechts angelegt.

I. Verfassungsrechtliche Strukturprinzipien Die ersten nationalen Verfassungsgerichte in der EU, die verfassungsrechtliche Kontrollvorbehalte geltend machen, sind die Corte Costituzionale und das Bundesverfassungsgericht. Beide erheben zunächst die Grund- und Menschenrechte ihrer Verfassung zur Integrationsschranke für das Handeln der europäischen Institutio3  Zum Verhältnis zwischen Hintergrundnormen und positivem Recht: Oben Erster Teil, Kap.  8, C., II., 3. 4  Siehe zu dieser Tendenz: Anne Peters, Supremacy Lost: International Law Meets Domestic Constitutional Law, ICL-Journal 3 (2009), 170 (170). 5  Für eine sorgfältige Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Schutz von Verfassungsstrukturprinzipien und Verfassungsidentität und dem Potenzial des Begriffs der Verfassungsidentität für die europäische Rechtsordnung: Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 ff.

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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nen. Das lässt sich damit erklären, dass die institutionelle Erfolgsgeschichte dieser beiden – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Reaktion auf die Überwindung des Faschismus eingerichteten – Gerichte eng mit dem Schutz der Grund- und Menschenrechte verbunden ist.6 In darauffolgenden Entscheidungen, auch durch andere Verfassungsgerichte, wird dieser Kontrollmaßstab auf andere Verfassungsstrukturprinzipien ausgeweitet. Auffällig ist, dass diese Grundsätze teilweise auf der Grundlage solcher Verfassungsbestimmungen entwickelt werden, die einen nicht oder nur erschwert abänderbaren Kern der Verfassung begründen.7 Grenzen für den europäischen Integrationsprozess formuliert das BVerfG erstmals in seinem Solange I-Beschluss, indem es den „Grundrechtsteil des Grundgesetzes“ zum „unaufgebbare[n], zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörende[n] Essentiale der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland“ erklärt, den „zu relativieren […] Art. 24 GG nicht vorbehaltlos“ gestatte. 8 Mittlerweile beschränkt sich das Gericht bei seiner Kontrolle des Unionsrechts nicht auf den Grundrechtsschutz, sondern hat in seinen Maastricht-, Lissabon- und OMT-Urteilen aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes Grenzen für das Unionsrecht abgeleitet.9 Zur Bestimmung der verschiedenen Integrationsschranken orientiert es sich an der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, der neben dem Menschenwürdegehalt der Grundrechte die in Art. 20 aufgeführten Grundprinzipien der Rechts-, Bundes-, und Sozialstaatlichkeit, sowie der demokratischen und republikanischen Staatsform unterliegen. Seine Kontrolle über die Vereinbarkeit des Unionsrechts mit diesen verfassungsrechtlichen Kernbereichen begründet das BVerfG damit, dass die grundgesetzliche Integrationsklausel, die zur Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union ermächtigt, als „Teil eines Verfassungsmosaiks“10 im Zusammenhang mit anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen ausgelegt werden muss, wobei Art. 79 Abs. 3 GG – gerade weil dieser einen unabänderbaren Verfassungskern statuiert – besonderes Gewicht zukommt. Die – mittlerweile vom verfassungsändernden Gesetzgeber in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG bestätigte – Ratio da­ hinter ist, dass wenn Art.  79 Abs.  3 GG Grenzen markiert, die selbst der Verfügungsbefugnis des verfassungsändernden Gesetzgeber entzogen sind, diese Grenzen folgerichtig auch für den Integrationsgesetzgeber gelten müssen.11 Das erste mitgliedstaatliche Verfassungsgericht, das aus der nationalen Verfassung Grenzen für das Unionsrecht hergeleitet hat, war aber nicht das Bundesverfas Zu diesem Zusammenhang: Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, 31 ff.  So etwa BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon (2009); Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 08.03.2006, Pl. ÚS 50/04 – Zuckerquoten II. 8  BVerfGE 37, 271 (280) – Solange I (1974). 9  Siehe BVerfGE 89, 155 (182 ff.) – Maastricht (1993). BVerfGE 123, 267 (341 ff.) – Lissabon (2009). BVerfGE 142, 123 (188 ff.) – OMT-Urteil (2016). 10  Paul Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, 63 (96). 11  Diese Erwägung findet sich explizit im Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wenn es dort heißt, dass „[m]it der sogenannten Ewigkeitsgarantie […] die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen“ wird. BVerfGE 123, 267 (343) – Lissabon (2009). 6 7

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Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der …

sungsgericht, sondern die italienische Corte Costituzionale. Im Frontini-Urteil von 1973 gibt die Corte ihren ursprünglichen Widerstand gegen die Vorrang-Rechtsprechung des EuGH auf und erkennt den Vorrang des Unionsrechts an, erhebt jedoch gleichzeitig durch ihre controlimiti-Lehre einen eigenen Kontrollanspruch für den Fall, dass das Unionsrecht „die grundlegenden Prinzipien unserer Verfassungsordnung oder die unveräußerlichen Menschenrechte“ verletzt.12 Im Einklang mit dem BVerfG und der Corte Costituzionale verortet das tschechische Verfassungsgericht die maßgeblichen Kriterien für die Kontrolle des Unionsrechts in den unabänderbaren „Grundlagen der Staatssouveränität“ und den „wesentlichen Attribute[n] des demokratischen Rechtsstaats“.13 Bemerkenswert ist, dass sich das tschechische Verfassungsgericht bei der Herleitung der verfassungsrechtlichen Grenzen für das Unionsrecht erkennbar nach dem BVerfG richtet und sich ausdrücklich auf die Ewigkeitsklausel der tschechischen Verfassung, den Art. 9 Abs. 2, bezieht.14 Hier zeigt sich die Bedeutung gegenseitiger richterlicher Bezugnahmen für die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen.15 Der polnische Verfassungsgerichtshof, das litauische und das kroatische Verfassungsgericht, sowie der französische Conseil constitutionnel scheinen die verfassungsrechtlichen Grenzen des Unionsrechts etwas weiter zu ziehen und nicht auf verfassungsrechtliche Strukturprinzipien beschränken zu wollen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass in diesen Ländern die Idee nationaler Souveränität aus geschichtlichen Gründen besonders einflussreich ist. Der polnische Verfassungsgerichtshof sowie das litauische und das kroatische Verfassungsgericht gehen prinzipiell von einem allgemeinen Vorrang der polnischen bzw. der litauischen bzw. der kroatischen Verfassung vor dem Unionsrecht aus.16 Allerdings besteht bei näherer Betrachtung eine gewisse Spannung zwischen der Proklamation des allgemeinen Vorrangs der ganzen Verfassung vor dem Unionsrecht einerseits und der konkreten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung andererseits. Letztere zieht die verfassungsrechtlichen Grenzen deutlich enger. In der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs wird neben der Bedeutung bestimmter verfassungsrechtli-

 Corte Costituzionale, Entsch. v. 27.12.1973, Nr. 183/1973 – Frontini e altro v. Ministero delle Finanze, EuGRZ 1975, 311 (315). Bereits in der Rechtssache San Michele hatte die Corte darauf hingedeutet, dass „Art 11 der Verfassung gestatte […] nur solche Beschränkungen der staatlichen Souveränität, welche die nach Art 2 der Verfassung geschützten, unverletzlichen Menschenrechte […] nicht verletzen“. So Thomas Kröll, Der letzte (?) Schritt auf dem cammino comunitario der Consulta: Die Corte costituzionale im direkten Dialog mit Luxemburg, ZfV 2011, 162 (164). Zur controlimiti-Doktrin im Einzelnen: Lisa-Karen Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, 2017, 176 ff. 13  Vgl. Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. vom 08.03.2006, Pl. ÚS 50/04 – Zuckerquoten II, 24. 14  Ebd. 15  Dazu oben Erster Teil, Kap. 7., C. 16  Litauisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 14.03.2006, Nr.17/02-24/02-06/03-22/04 – Grundeigentumsrechte, Teil III.9.4.; Kroatisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 21.05.2015, Nr. U-VIIR1158/2015 – Referendum über Autobahnmonetarisierung; Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 11.05.2005, K 18/04 – Beitrittsvertrag. Das polnische Verfassungsgericht beruft sich dafür auf Art. 8 Abs. 1 der Verfassung, wonach die Verfassung das oberste Recht der Republik Polen ist. 12

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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cher Grundprinzipien die europarechtsfreundliche ­Ausgestaltung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Unionsrechts betont.17 Das deutet darauf hin, „eine verfassungsgerichtliche Kontrolle nur sehr beschränkt wahrzunehmen und grundsätzlich dem EuGH Vorrang bei der Kontrolle von Unionshandeln einzuräumen“.18 Im Fall Litauens ist zu bedenken, dass sich das Verfassungsgericht – im Vergleich zu anderen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten, die verfassungsrechtliche Kontrollvorbehalte geltend gemacht haben – nur relativ sporadisch zum Verhältnis zwischen dem litauischen Recht und dem Unionsrecht geäußert hat. Deshalb ist die allgemeine Anordnung des Vorrangs der litauischen Verfassung folgenlos geblieben. Außerdem steht diese im Widerspruch zur bislang – durch Vorlagen an den EuGH – gezeigten Kooperationsbereitschaft. Mit anderen Worten: In der Frage der Beschränkung des Kontrollmaßstabes auf grundlegende Verfassungsprinzipien liegt die konkrete Rechtsprechungspraxis der Verfassungsgerichte Polen und Litauens mit der Konzeption der Verfassungsgerichte Deutschlands, Italiens und Tschechiens näher beieinander als es der geltend gemachte allgemeine Vorrang der Verfassung suggeriert. Das gilt auch für die Rechtsprechung des Conseils constitutionnel. Dieser entwickelte zunächst drei alternative Kontrollmaßstäbe für das Unionsrecht: Danach darf der Vertrag erstens nicht in Widerspruch zu einer ausdrücklichen Verfassungsregel stehen („clause contraire a la Constitution“), zweitens nicht die durch die französische Verfassung garantierten Grundrechte beeinträchtigen („droits et libertés constitutionnellement garantis“) und drittens auch nicht die Grundvoraussetzungen der nationalen Souveränität beeinträchtigen („conditions essenzielles d’exercice de la souveraineté nationale“).19 Insbesondere das erste Kriterium suggeriert in allgemeiner Form auf einen Vorrang der französischen Verfassung vor dem Unionsrecht hinauszulaufen. Mittlerweile scheint der Verfassungsrat jedoch, wie wir noch sehen werden, dieses Kriterium durch den Begriff der Verfassungsidentität ersetzt zu haben.20

 Unten Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 2., c.  Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (718). 19  Catherine Haguenau-Moizard, Offene Staatlichkeit: Frankreich, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/Peter Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd II, 2008, § 15, 37 (53). 20  Monica Claes, Negotiating Constitutional Identity or Whose Identity Is It Anyway?, in: dies./ Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning (Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2012, 205 (223). 17 18

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Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der …

II. Verfassungsidentität Mit der Einfügung des – dem Entwurf des Vertrag über eine Verfassung für Europa entnommenen21 – Art. 4 Abs. 2 EUV in das europäische Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon haben die konstitutionalistischen Belange mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte einen primärrechtlichen Referenzpunkt erhalten.22 Bogdandy und Schill erblicken in der Vorschrift eine „Schlüsselnorm für das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht“,23 die „die Vorstellung eines absoluten Vorrangs des Unionsrechts gegenüber nationalem Verfassungsrecht“ überwindet24 und damit als Baustein eines pluralistischen Verständnisses gelten kann.25 Nach Art.  4 Abs.  2 S.  1 EUV achtet die Union die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Durch den systematischen Zusammenhang mit den grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedstaaten lässt sich der Identitätsbegriff als Verfassungsidentität verstehen.26 Es scheint, dass Art. 4 Abs. 2 EUV die in der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte zum Schutz verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien in Anspruch genommene „Möglichkeit verfassungsrechtlicher Einwände gegen den absoluten Vorrang unionsrechtlicher Bestimmungen primärrechtlich an­ erkannt“ hat.27 In diesem Sinne jedenfalls wird die weitgehend inhaltsgleiche Vorgängerregelung des Art. I-5 Abs. 1 VerfEU durch die Entscheidungen des spanischen Tribunal Constitucional in seiner Erklärung über die Vereinbarkeit des Vertrages über eine Verfassung für Europa mit der spanischen Verfassung interpretiert: Das Gericht erblickt darin eine Rezeption der „Vorbehalte gegenüber dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor der Verfassung, die zuvor in den einschlägigen Entscheidungen der Verfassungsgerichtsbarkeiten einiger Staaten formuliert worden sind“.28 Der neue primärrechtliche Anknüpfungspunkt des Art. 4 Abs. 2 EUV für die verfassungsgerichtlichen Bedenken gegenüber einem unbegrenzten Vorrang des Uni Art. I-5 Abs. 1 VerfEU.  Grundlegend zum Konzept der Verfassungsidentität im EU-Kontext: Elke Cloots, National Identity in EU Law, 2015; Alejandro Saiz Arnaiz/Carina Alcoberro Llivina (Hrsg.), National Constitutional Identity and European Integration, 2013; François-Xavier Millet, L‘Union européenne et l’identité constitutionnelle des États membres, 2013; Monika Polzin, Verfassungsidentität: Ein normatives Konzept des Grundgesetzes?, 2018. 23  Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (701 f.). 24  Ebd. 25  Ebd., 705. 26  Ebd., 711. 27  Ebd., 706. 28  Tribunal Constitucional, Erkl. v. 13.12.2004, DTC 1/2004  – Verfassungsvertrag, EuR 2005, 339 (344). 21 22

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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onsrechts gibt dem richterlichen Dialog über die Grenzen des Unionsrechts einen einheitlichen Rahmen. Mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte heben den herausragenden Stellenwert ihrer rechtsordnungseigenen Verfassungsprinzipien nunmehr in der – weiten und interpretationsoffenen – „unional vorgegebenen Begrifflichkeit“ hervor29 und ringen im Rahmen des rechtsordnungsübergreifenden Richterdialogs, dessen Medium vorrangig die europäischen Leitentscheidungen im Rahmen der Vertragskontrolle sind,30 um das „richtige“ Verständnis der „Verfassungsidentität“. In diesem Zusammenhang offenbaren sich die Eigenheiten des Prozesses der He­ rausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen, wie das gegenseitige Bezugnehmen und wechselseitige Akzeptieren, in besonderer Deutlichkeit.31 Dabei ist bemerkenswert, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte diesem Begriff trotz „einiger Unterschiede in der Akzentuierung und dem Grad sachbereichsspezifischer Ausdifferenzierung […] überwiegend ähnliche Verständnisse“ zugrunde legen.32 Den Anfang machten das spanische und das französische Verfassungsgericht in ihren Entscheidungen über den europäischen Verfassungsvertrag: Das Tribunal Constitucional fasst unter den Begriff der Verfassungsidentität die „grundlegenden Verfassungsstrukturen“ sowie das grundrechtliche „System der Grundwerte und -prinzipien“33 und erblickt in der Missachtung der Verfassungsidentität gleichzeitig eine Verletzung der spanischen Verfassung und der unionsrechtlichen Identitätsklausel im europäischen Verfassungsvertrag.34 Nach Auffassung des Conseil constitutionnel ändert sich durch den Verfassungsvertrag insbesondere deshalb nichts an der verfassungsrechtlichen Begrenzung des Vorrangs des Unionsrechts, weil Art. I-5 Abs. 1 VerfEU die nationale Identität der Mitgliedstaaten in ihren grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen achtet.35 Auf Grundlage dieser neuen Bestimmung stellt der Verfassungsrat später – in einer Entscheidung über die Anwendbarkeit einer unionsrechtlichen Urheberrechtsrichtlinie in der französischen Rechtsordnung – die verfassungsrechtliche Bedingung auf, dass „die Umsetzung einer Richtlinie nicht gegen eine Bestimmung oder einen Grundsatz, in welchen die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs zum Ausdruck kommt, verstoßen darf, es sei denn, der Verfassungsge29  Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (725). 30  Zu dieser Dimension der Vertragskontrolle: Oben Dritter Teil, Kap. 14, A., II., 1., b. 31  Grundsätzlich zu diesem Prozess oben Erster Teil, Kap. 7. 32  Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (724 f.). Allerdings bestehen auch nennenswerte Unterschiede. Dazu im Hinblick auf Deutschland und Frankreich: Jan-Herman Reestman, The Franco-German Constitutional Divide, EuConst 5 (2009), 374  ff.; Maja Walter, Integrationsgrenze Verfassungsidentität – Konzept und Kontrolle aus europäischer, deutscher und französischer Per­ spektive, ZaöRV 72 (2012), 177 (179 ff.). 33  Tribunal Constitucional, Erkl. v. 13.12.2004, DTC 1/2004 – Verfassungsvertrag, EuR 2005, 339 (343 f.). 34  Ebd., 345. 35  Siehe insbesondere Conseil constitutionnel, Entsch. v. 19.11.2004, Nr. 2004-505 DC – Verfassungsvertrag, Rec. 173, EuGRZ 2005, 45 (46), 12. und 13. Begründungserwägung.

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setzgeber hätte dem zugestimmt“.36 Im Rahmen der Kontrolle des Lissabon-­ Vertrages nehmen die verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Verfassungsidentität dann eine neue Dimension an: Die Verfassungsgerichte aus Deutschland,37 Polen,38 Tschechien39 und Lettland40 beziehen allesamt zum Begriff der Verfassungsidentität Stellung. In dem Bestreben, „meinungsbildend voranzuschreiten“, setzt sich das Bundesverfassungsgericht ausführlich mit diesem Konzept auseinander, leitet daraus einen umfangreichen Katalog an Kompetenzbereichen ab,41 die dem Nationalstaat im europäischen Integrationsprozess verbleiben müssen, entwickelt die Konstruktion der Identitätskontrolle als eigenständigen Kontrollmechanismus und deutet, nachdem es sich in seiner Rechtsprechung zu den Grenzen des Unionsrechts stets an Art. 79 Abs. 3 GG orientiert hatte, Art. 4 Abs. 2 EUV als unionsrechtliche Entsprechung der grundgesetzlichen Ewigkeitsklausel:42 Danach achtet Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbare Verfassungsidentität43 und „gehen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität im europäischen Rechtsraum Hand in Hand“.44 In einem bemerkenswerten Schritt unternimmt der polnische Verfassungsgerichtshof eine detaillierte rechtsvergleichende Analyse der Lissabon-­Entscheidungen mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte, um seinen Standpunkt zu entwickeln, dass der Begriff der Verfassungsidentität vor allem die staatliche Souveränität gewährleistet. Das tschechische Verfassungsgericht bekräftigt in seiner zweiten Lissabon-­ Entscheidung, dass es als ultima ratio Unionsrecht daraufhin kontrolliert, ob dadurch die „identity of values“ aufgehoben wird.45 Das lettische Verfassungsgericht  Conseil constitutionnel, Entsch. v. 27.07.2006, 2006-540 DC – Urheberrechtsrichtlinie, 19. Begründungserwägung. 37  BVerfGE 123, 267 (344 ff., 350 ff., 353 ff., 400 ff.) – Lissabon (2009). 38  Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 24.11.2010, K 32/09 – Lissabon, Teil III.2.1, III.3.8. Zum Begriff der Verfassungsidentität in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs: Anna Sledzinska-Simon, Constitutional Identity in 3D: A Model of Individual, Relational, and Collective Self and Its Application in Poland, ICON 13 (2015), 124 ff. 39  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 26.11.2008, PL ÚS 19/08 – Lissabon I, Rn. 120; Urt. v. 03.11.2009, Pl. ÚS 29/09 – Lissabon II, Rn. 150. 40  Lettisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 07.04.2009, Nr. 2008-35-01 – Lissabon, Teil 16.3. 41  Daran orientiert sich später der polnische Verfassungsgerichtshof, der in seinem Lissabon-Urteil ebenfalls einen Katalog unübertragbarer Kompetenzen aufführt. Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 24.11.2010, K 32/09 – Lissabon., Teil III.3.3. 42  Ingolf Pernice, Der Schutz nationaler Identität in der Europäischen Union, AöR 136 (2011), 185 (186). Das legt nach von Bodgdandy und Schill die Vermutung nahe, dass „Identitätsrelevanz und Tiefe des spezifischen verfassungsrechtlichen Schutzes korrespondieren“. Armin von Bogdandy/ Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (715 f.). 43  So BVerfGE 123, 267 (400) – Lissabon (2009). 44  BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon (2009). Zu den historischen Ursprüngen des Begriffs der Verfassungsidentität in der deutschen Geschichte: Monika Polzin, Verfassungsidentität: Ein normatives Konzept des Grundgesetzes?, 2018, 9 ff. 45  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 03.11.2009, Pl. ÚS 29/09 – Lissabon II, Rn. 150. 36

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen

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erblickt in Art.  4 Abs.  2 EUV die folgende unionsrechtliche Gewährleistung: „[T]here will be States and their fundamental constitutional structures, as well as their values, principles, and fundamental rights that cannot be lost by reinforcing a supranational organization.“46 Darüber hinaus hat der UK Supreme Court kürzlich – außerhalb des Verfahrens zur Ratifizierung des Lissabon-Vertrages – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Bedeutung der „identity of the national constitutional order“ hervorgehoben, um die in Großbritannien durch den konstitutionellen Grundsatz der Parlamentssouveränität gewährleistete Autonomie in der Ausgestaltung parlamentarischer Verfahren im Rahmen des Baus einer Hochgeschwindigkeitsstrecke vor der unionsrechtlichen UVP-Richtlinie abzuschirmen.47 Auch das allgemein als besonders „europafreundlich“ bekannte belgische Verfassungsgericht hat an den Verfassungsidentitätsdiskurs nationaler Verfassungsgerichte angeknüpft und dem Vorrang des Unionsrechts durch die Feststellung eine verfassungsrechtliche Grenze gezogen, dass es Artikel 34 der belgischen Verfassung nicht erlaube, „dass auf diskriminierende Weise die nationale Identität verletzt wird, die den politischen und verfassungsmäßigen Basisstrukturen oder den Kernwerten des Schutzes, der den Rechtsunterworfenen durch die Verfassung gewährt wird, eigen ist“.48 Mittlerweile hat sich auch die italienische Corte Costituzionale in der Taricco-­ Sage in das europäische Gespräch zwischen Verfassungsrichtern über den Begriff der Verfassungsidentität eingeschaltet und eine verfassungspluralistische Konzeption des Verhältnisses zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten entwickelt, in dessen Zentrum die Verfassungsidentität steht.49 Die Corte betont zunächst, dass das Unionsrecht für Italien aus der italienischen Verfassung abgeleitet ist – und zwar sowohl die „Anerkennung des Vorrangs des EU-Rechts“ als auch „die Einhaltung der obersten Grundsätze der italienischen Verfassungsordnung und der unveräußerlichen Menschenrechte [als] Voraussetzung für die Anwendbarkeit des EU-Rechts in Italien“.50 Anschließend legt sie ihre verfassungspluralistisches Konzeption vom Zusammenspiel zwischen Einheit und Vielfalt in der Europäischen Union, in der die Union und die Mitgliedstaaten seien „in Vielfalt vereint“51 seien, dar: Einerseits „gäbe es keinen Respekt, wenn die Anforderungen der Einheit die  Lettisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 07.04.2009, Nr. 2008-35-01 – Lissabon, Teil 16.3  UK Supreme Court, Urt. v. 22.01.2014, R (on the application of HS2 Action Alliance Ltd) v. The Secretary of State for Transport, UKSC 3 (2014), Rn. 111. Siehe zu diesem Urteil: Patrick Birkinshaw, Das Verhältnis der Richter des Vereinigten Königreichs zu Europa und der europäischen Integration. Kompetenzen, Grundrechte und Identität, EuR 2015, 267 (279 ff.). 48  Belgische Cour constitutionnelle, Entscheidung. v. 28.04.2016, Nr.  62/2016, B.8.7. Dazu in­ struktiv: Philippe Gérard/Willem Verrijdt, Belgian Constitutional Court Adopts National Identity Discourse, in: EuConst 13 (2017), 182  ff.; Elke Cloots, Constitutional Identity in Belgium. A Thing of Mystery, in: Christian Calliess/Gerhard van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2019, 59 (65 ff.). 49  Für weiterführende Ausführungen zur Taricco-Sage, siehe unten Dritter Teil, Kap. 18, C., I., 3. 50  Corte Costituzionale, Entsch. v. 23.11.2016, Nr. 24/2017 – Taricco I, Rn. 2. 51  Ebd., Rn. 6. 46 47

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Aufhebung des eigentlichen Wertekerns, auf dem der Mitgliedstaat beruht, fordern würden“, andererseits gäbe es „keinen Respekt, wenn die Verteidigung der Vielfalt über diesen Kern hinausgehen würde“.52 Zwar rechtfertige „das Ziel der Einheit“ einen „Verzicht auf Souveränitätsbereiche“,53 es sei jedoch ein „Mindestmaß an Vielfalt“ erforderlich, „um die der Grundstruktur des Mitgliedstaats innewohnende nationale Identität zu bewahren (Artikel 4 Absatz 2 EUV)“.54 Das Schlüsselprinzip zur Steuerung des Verhältnisses zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht ist, mit anderen Worten, die Verfassungsidentität als Wertekern, in der die Grenze des Vorrangs des Unionsrechts besteht, auf den sie sich aber gleichsam beschränkt. Umgekehrt lassen sich auch in der Rechtsprechung des EuGH Anzeichen dafür erkennen, dass Aspekte der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden.55 „Bereits vor der Einfügung des Art. 4 Abs. 2 EUV hat der Gerichtshof damit begonnen, nationale Grundrechtsgewährleistungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als Rechtfertigung für die Beschränkung der Grundfreiheiten anzuerkennen.56 In einem Fall betonte er dabei ausdrücklich, dass der Schutz der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ein rechtmäßiges Ziel dar[stellt]“.57 Ein Beispiel für die Achtung der nationalen Verfassungsidentität durch den EuGH ist das Omega-Urteil, in dem der Gerichtshof – freilich ohne den Begriff der Identität zu nennen – eine vom Bundesverwaltungsgericht im Vorabentscheidungsverfahren geltend gemachte Beeinträchtigung der Menschenwürde durch das Spiel „Laserdrome“ zum Anlass nahm, um eine – vergleichsweise großzügige – Rechtfertigung der Beschränkung der Grundfreiheiten zuzulassen und den zuständigen innerstaatlichen Behörden einen „Beurteilungsspielraum“ zuzubilligen.58 Auf seine Omega-­ Entscheidung nimmt der Gerichtshof ausdrücklich Bezug, als er in der Rechtssache Sayn-Wittgenstein eine Beeinträchtigung des unionsrechtlichen Freizügigkeitsgrundsatzes mit der Begründung für gerechtfertigt betrachtete, „dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, zu der

 Ebd.  Ebd. 54  Ebd. 55  Für einen Überblick: Julia Villotti, National Constitutional Identities and the Legitimacy of the European Union – Two Sides of the European Coin, ZEuS 2015, 475 (497 ff.). 56  Siehe beispielhaft im Bereich der Versammlungs- und Meinungsfreiheit: EuGH, Urt. v. 12.06.2003, Rs. C-112/00 – Schmidberger, ECLI:EU:C:2003:333, Rn. 71 ff.; im Bereich der Koalitionsfreiheit: EuGH, Urt. v. 11.12.2007, Rs.  C-438/05  – Viking, ECLI:EU:C:2007:772, Rn. 45 ff., 75 ff.; im Bereich der Medienvielfalt: EuGH, Urt. v. 26.06.1997, Rs. C-368/95 – Familiapress, ECLI:EU:C:1997:325, Rn. 18. 57  EuGH, Urt. v. 02.07.1996, Rs.  C-473/93  – Kommission v. Luxemburg, ECLI:EU:C:1996:263, Rn. 35. Ähnlich bereits zum Schutz und zur Förderung des Irischen als erste Amtssprache in Irland: EuGH, Urt. v. 28.11.1989, Rs. 379/87 – Groener, ECLI:EU:C:1989:599, Rn. 18 ff. Freilich befand der EuGH die im konkreten Fall zur Verfolgung dieses Ziels auferlegte Beschränkung für unverhältnismäßig. 58  EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Rs. C-36/02 – Omega, ECLI:EU:C:2004:614, Rn. 31. 52 53

B. Analyse: Verfassungsidentität als angemessener Kontrollmaßstab im EU-Kontext

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auch die republikanische Staatsform gehört“.59 Das kürzlich ergangene ­M.A.S.-Urteil des EuGH, das auf Vorlage der Corte Costituzionale in der Taricco-Sage ergangen ist, lässt sich  – allerdings ohne auf den Begriff der Verfassungsidentität einzugehen  – als vorsichtige Relativierung des uneingeschränkten Vorrangs des Unionsrechts zugunsten nationaler Grundrechtsgewährleistungen lesen.60 Anstatt seine absolute Vorrangrechtsprechung à la Internationale Handelsgesellschaft zu bekräftigen, scheint der EuGH – angesichts des regen rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Gesprächs um die Norm des Art. 4 Abs. 2 EUV – gegenüber einer kooperativen Ausgestaltung des Vorrangs des Unionsrechts aufgeschlossen zu sein.

 . Analyse: Verfassungsidentität als angemessener B Kontrollmaßstab im EU-Kontext Es entspricht der pluralistisch-heterarchischen Struktur der vernetzten Weltordnung, wenn Verfassungsgerichte das rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Recht kontrollieren.61 Aber welchen Kontrollmaßstab sie dabei heranziehen, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es hängt vom konkreten politisch-rechtlichen Kontext ab. In der EU scheint sich rechtsordnungsübergreifend der Kontrollmaßstab auf den Begriff der Verfassungsidentität einzupendeln. Diese Grenzziehung für den Vorrang des Unionsrechts ist angemessen.62 Denn, wie gezeigt,63 erscheint es sinnvoll, den Grad der Vorrangvermutung des inter- und supranationalen Rechts vom Grad der Konstitutionalisierung der dieses Recht erzeugenden inter- oder sup EuGH, Urt. v. 22.12.2010, Rs. C-208/09 – Sayn-Wittgenstein, ECLI:EU:C:2010:806, Rn. 92. In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit begehrte die Beschwerdeführerin, einen in Deutschland gerichtlich anerkannten Adelstitel in Österreich führen zu dürfen, was allerdings im Widerspruch zu Bestimmungen des österreichischen Adelsaufhebungsgesetzes stand, das in Österreich Verfassungsrang hat. Die Beschwerdeführerin berief daher sich auf den unionsrechtlichen Freizügigkeitsgrundsatz. Dazu näher Jürgen Schwarze, Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Bd. II, 2013, 31. In mehreren darauffolgenden Rechtssachen strich der EuGH erneut die Bedeutung der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art.  4 Abs.  2 EUV heraus. Siehe EuGH, Urt. v. 12.05.2011, Rs.  C-391/09  – Runevic-Vardyn und Wardyn, ECLI:EU:C:2011:1756, Rn.  86; EuGH, Urt. v. 12.06.2014, Rs. C-156/13 – Digibet und Albers, ECLI:EU:C:2014:1756, Rn. 34; EuGH, Urt. v. 16.04.2013, Rs. C-202/11 – Las, EU:C:2013:239, Rn. 26; EuGH, Urt. v. 21.12.2016, Rs. C-51/15 – Remondis, EU:C:2016:985, Rn. 40. 60  EuGH, Urt. v. 05.12.2017, Rs. C-42/17 – M.A.S. und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Rn. 61. Mit dieser Lesart: Dana Burchardt, Kehrtwende in der Grundrechts- und Vorrangrechtsprechung des EuGH? – Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 05.12.2017 in der Rechtssache M.A.S. und M.B., EuR 2018, 248 ff. 61  Zur verfassungsgerichtlichen Kontrollfunktion in der vernetzten Weltordnung: Oben Zweiter Teil, Kap. 10. 62  In diesem Sinne auch Thomas Wischmeyer, Nationale Identität und Verfassungsidentität, AöR 140 (2015), 415 ff. 63  Oben Dritter Teil, Kap. 12, B. 59

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Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der …

ranationalen Rechtsordnung abhängig zu machen. Für die hochgradig konstitutionalisierte Europäische Union, die über ein eigenes Parlament und mittlerweile auch über ein anspruchsvolles Grundrechtsschutzregime verfügt, folgt daraus, dass die Voraussetzungen für die Verweigerung der Anwendung des Unionsrechts strikt ­begrenzt sein müssen.64 Das gewährleistet der Begriff der Verfassungsidentität. Im Hinblick auf in geringerem Maße oder überhaupt nicht konstitutionalisierte Erscheinungen des internationalen Rechts erscheint es dagegen legitim, den Kontrollmaßstab abzusenken.65 Einen solchen – auf die unterschiedlichen Integrations- und Konstitutionalisierungsgrade abgestimmten  – abgestuften Kontrollmaßstab wählt auch das BVerfG: Im Beamtenstreik-Urteil verortet das Gericht die verfassungsrechtliche Grenze für das Recht der EMRK in den „tragende[n] Grundsätze[n] der Verfassung“ – eine Grenze, die unterhalb der höheren Schwelle der Verfassungsidentität liegt, die das BVerfG für die in höherem Maß konstitutionalisierte Europä­ ische Union entwickelt hat.66 Mit der Begrenzung des Kontrollmaßstabs auf grundlegende verfassungsrechtliche Prinzipien, wie sie im Begriff der Verfassungsidentität zum Ausdruck kommt, ist eine „nicht-formalistische und inhaltsorientierte Sichtweise impliziert“.67 Denn Vorrang vor dem Unionsrecht hat dann nicht mehr jede Regel, die sich formal der rechtsordnungseigenen Verfassung zuordnen lässt, sondern nur noch Verfassungsregelungen mit herausragendem Stellenwert, die sich unter den Begriff der Verfassungsidentität fassen lassen. Ein solches Arrangement führt zwar zu Einbußen hinsichtlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit. Denn es lässt sich nicht verlässlich und vorhersehbar bestimmen, welche Verfassungsnorm Ausdruck der Verfassungsidentität ist und welche nicht. Aber die Alternative einer formalistischen Vorrangregelung, nach der auch relativ bedeutungslose Vorschriften des Unionsrechts bzw. der nationalen Verfassung uneingeschränkt Vorrang beanspruchen, ist noch unbefriedigender.68

 So in allgemeinerer Form: Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (58). 65  Ebenfalls allgemein formuliert, aber wohl mit Blick auf die USA schlägt Martinez folgendes vor: „National courts should presumptively enforce the decisions of international courts to which their nation has acceded by treaty, unless such enforcement would violate the domestic constitution, would violate national legislation explicitly declaring the judgments of that international court unenforceable domestically, or would create some other fundamental conflict with domestic law, or unless there has been express repudiation of the treaty obligation by the appropriate branch of government.“ Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stan. L. Rev. 56 (2003), 429 (504). 66  So auch Matthias Jacobs/Mehrdad Payandeh, Das beamtenrechtliche Streikverbot: Konventionsrechtliche Immunisierung durch verfassungsgerichtliche Petrifizierung, JZ 2019, S. 19 (25). Zu dem Urteil oben Dritter Teil, Kap. 13, A., I., 2., c. 67  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (58). 68  Dazu Anne Peters, The Globalization of State Constitutions, in: Janne Nijman/André Nollkaemper (Hrsg.), New Perspectives on the Divide Between National and International Law, 2007, 251 (306). 64

B. Analyse: Verfassungsidentität als angemessener Kontrollmaßstab im EU-Kontext

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Ein materielles, inhaltsorientiertes Modell des Verhältnisses zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht entwickelt, wie gezeigt, Kumm im Rahmen seines Universellen Best Fit-Konstitutionalismus.69 Darin rekonstruiert Kumm die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis in der Form von vier ­Prinzipien, von denen keinem absoluter Vorrang zukommt, sondern stets eine praktische Konkordanz im Einzelfall erforderlich ist.70 Grundprinzip ist das sogenannte formale Prinzip der Legalität. Dieses verpflichtet nationale Gerichte, das Unionsrecht sowie anderes inter- und supranationales Recht anzuwenden.71 Diese Vorrangvermutung ist allerdings widerlegbar, wenn und soweit den folgenden drei Prinzipien im konkreten Fall größeres Gewicht zukommt. Das ist erstens das materielle Prinzip des Respekts der Grundrechte, das die Begrenzung des Vorranganspruchs des Unionsrechts zum Schutz der Grundrechte des Einzelnen erlaubt.72 Zweitens schützt das jurisdiktionelle Prinzip der Subsidiarität die Mitgliedstaaten vor der ungerechtfertigten Usurpation nationaler Kompetenzen durch die Europäische Union, um den legitimen Anspruch einer nationalen Gemeinschaft nach selbstbestimmter Regelung nationaler Angelegenheiten aufrechtzuerhalten.73 Drittens ermöglicht das prozedurale Prinzip der demokratischen Legitimität bzw. der angemessenen Beteiligung, Unionsrecht unangewendet zu lassen, insofern es im Widerspruch zu einer hinreichend bestimmten und spezifischen Verfassungsbestimmung steht, welche Ausdruck eines besonderen politischen Bekenntnisses der nationalen Gemeinschaft ist.74 Diese (dem Vorrang des Unionsrechts gegenläufigen) Prinzipien lassen sich unter den weiten Begriff der Verfassungsidentität fassen.75 Die Pointe ist, dass selbst im EU-Kontext verfassungsrechtliche Vorbehalte gegen einen absoluten Vorrang des Unionsrechts normativ rechtfertigbar erscheinen, insoweit diese Vorbehalte Ausdruck besonderes wichtiger verfassungsrechtlicher Belange sind, oder mit anderen Worten: soweit Aspekte der Verfassungsidentität betroffen sind. Allerdings bestehen auch Bedenken dagegen, die Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts am Begriff der Verfassungsidentität festzumachen. Mayer/Lenski/Wendel sorgen sich, dass der „Appell an das Nationale […] im Kontext der europäischen Integration leicht zur Öffnung der Büchse der Pandora werden“ könne.76 Peters  Oben Erster Teil, Kap. 3, C., I., 2.  Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 ff. Siehe auch Mattias Kumm, Democratic Constitutionalism Encounters International Law: Terms of Engagement, in: Sujit Choudhry (Hrsg.), The Migration of Constitutional Ideas, 2006, 256 ff. 71  Hierzu näher oben Dritter Teil, Kap. 12, B. 72  Mattias Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), 262 (299). 73  Ebd., 300. 74  Ebd. 75  In Solange II ordnet das Bundesverfassungsgericht den „Grundrechtsteil des Grundgesetzes“ explizit der „Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland“ zu. BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II (1986). 76  Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63 (85 f.). 69 70

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Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der …

sieht die Gefahr, dass die Einführung zulässiger inhaltsorientierter Ausnahmen „minimalistisch oder sogar subversiv wirken“ und dazu führen könnte, dass „das internationale Recht nicht als inhaltsunabhängig und strikt verbindlich (kraft seines formellen Status), sondern als eine inhaltsbezogene Autorität angesehen wird, der man folgt, wenn sie inhaltlich überzeugt (und den eigenen Interessen dient)“.77 Maduro befürchtet, dass sich nationale Gerichte ein „race to the bottom“ um die weitreichendsten Ausnahmen von den unionsrechtlichen Verpflichtungen liefern,78 das zur Desintegration der europäischen Rechtsordnung führt.79 Maduro entwickelt vor dem Hintergrund dieser Bedenken ein Alternativmodell. Diesem liegt ein noch restriktiveres Verständnis zulässiger Ausnahmetatbestände zugrunde, als es in dem Begriff der Verfassungsidentität zum Ausdruck kommt. Dabei orientiert sich Maduro am vertragstheoretischen Grundgedanken des pacta sunt servanda und propagiert eine Ganz-oder-gar-nicht-Logik: Weil die Mitgliedstaaten sich vertraglich zur Umsetzung aller auf der Grundlage der europäischen Verträge erlassener Rechtsakte verpflichtet haben, wäre es vertragswidrig, vereinzelte europarechtliche Regeln nicht anzuwenden. Deshalb beschränkt sich bei Maduro die Kontrolle europarechtlicher Rechtsakte durch nationale Verfassungsgerichte einerseits auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines europäischen Vertrages vor seiner Ratifizierung. Denn bis zu diesem Zeitpunkt besteht noch keine vertragliche Verpflichtung in Hinsicht auf diesen Vertrag. Andererseits erstreckt sich die Kontrolle auf systemische Konflikte, die so gravierend sind, dass ein Austritt aus der Europäischen Union für den Fall der unabdingbaren Pflicht zur Übernahme dieser gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung ernsthaft erwogen werden müsste. Eine derart strikte Begrenzung der zulässigen Abweichung von unionsrechtlichen Vorgaben ist normativ nicht überzeugend. Es sind durchaus spezifische Konfliktsituationen denkbar, in denen durch eine relativ unbedeutende unionsrechtliche Regelung bedeutsame verfassungsrechtliche Belange eines Mitgliedstaats betroffen sind, ohne dass die mitgliedstaatlichen Institutionen den Austritt aus der Europäischen Union der Hinnahme dieser Beeinträchtigung vorziehen würden. Denn die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten eines Austritts aus der Europäischen Union wären für jeden Mitgliedstaat immens. Folgt daraus, dass nur weil die mit Siehe in diesem Sinne den Obersten Gerichtshof von Kanada: „[I]n seeking the meaning of the Canadian Constitution, the courts may be informed by international law. Our concern is not with Canada’s international obligations qua obligations; rather, our concern is with the principles of fundamental justice. We look to international law as evidence of these principles and not as controlling itself.“ Siehe Supreme Court of Canada, Entsch. v. 11.01.2002, Suresh v Canada (Minister of Citizenship and Immigration), [2002] 1 S.C.R. 3, Rn. 60. 78  Miguel Maduro, Europe and the Constitution: What If This Is As Good As It Gets?, in: Marlene Wind/J.H.H. Weiler (Hrsg.), Constitutionalism Beyond the State, 2003, 74 (99). 79  Kritisch auch Christoph Schönberger, Identitäterä: Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, JöR 63 (2015), 41 ff.; Albert Ingold, Die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland. Karriere – Konzept – Kritik, AöR 140 (2015), 1 ff.; Monica Claes, National Identity: Trump Card or up for Negotiation?, in: Saiz Arnaiz/ Alcoberro Llivina (Hrsg.), National Constitutional Identity and European Integration, 2013, 109 ff.; Generalanwalt Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14.01.2015, Rs. C-62/14 – Gauweiler u. a., ECLI:EU:C:2015:7, Rn. 59. 77

B. Analyse: Verfassungsidentität als angemessener Kontrollmaßstab im EU-Kontext

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gliedstaatlichen Institutionen nicht bereit sind, diese immensen Kosten zu tragen, die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte verfassungswidrigen Unionsrechtsakten hilflos ausgeliefert sind? Nur aus dem Grundgedanken des pacta sunt servanda und der vage angedeuteten potenziellen Gefahr eines Auseinanderbrechens der ­Europäischen Union lässt sich normativ schwer rechtfertigen, dass mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte selbst konkrete schwere Grundrechtsverletzungen oder gewichtige Beeinträchtigungen ihrer Verfassungsidentität durch das Unionsrecht tolerieren müssen. Kelemen und Pech wenden gegen den Begriff der Verfassungsidentität ein, dass autokratische Regime wie die Orban-Regierung in Ungarn und die PiS-Regierung in Polen diesen dazu instrumentalisierten, um die mangelnde Umsetzung ihrer unionsrechtlichen Verpflichtungen mit denselben Argumenten zu rechtfertigen, die unabhängige und unparteiliche Verfassungsgerichte in liberalen Verfassungsordnungen verwendeten.80 Während die Konzepte des Verfassungspluralismus und der Verfassungsidentität von ihren Erfindern gut gemeint wären, seien sie in Zeiten des wachsenden Rechtspopulismus und der zunehmenden Kontestation des liberalen Konstitutionalismus fehl am Platz.81 Diese negative Vorbildwirkung, so unerfreulich sie auch ist, stellt aber allein noch keinen hinreichenden Grund dar, um darauf zu verzichten, dem Vorrang des Unionsrechts eine eng umgrenzte verfassungsrechtliche Grenze in Form der Verfassungsidentität zu setzen, soweit dies als die „richtige“ Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht erscheint, denn eine unredliche argumentative Instrumentalisierung durch Illiberale kann das Verfassungsrecht des demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsstaats angesichts der Kontingenz des Rechts ohnehin nicht verhindern. Anders ausgedrückt: Gäbe es das Konzept der Verfassungsidentität nicht, würden illiberale Regime andere unredliche Rechtsargumente zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda entwickeln. Ganz grundsätzlich erscheint es auch zweifelhaft, ob rigide Vorrangregeln das beste Mittel gegen politische Desintegrationserscheinungen darstellen. Den vorgetragenen Bedenken am Kontrollmaßstab der Verfassungsidentität ist aber insofern Rechnung zu tragen, als die mit der verfassungsgerichtlichen Kon­ trolle der Vereinbarkeit des Unionsrechts mit der nationalen Verfassungsidentität verbundenen Gefahren durch die Verwendung bestimmter Konfliktvermeidungstechniken eingehegt werden. Ein Beitrag dazu besteht darin, die Ausübung der Kontrolle konsequent am Grundsatz loyaler Zusammenarbeit auszurichten.82 Dafür spricht schon der systematische Zusammenhang zwischen der Achtung nationaler  Daniel Kelemen/Laurent Pech: The Uses and Abuses of Constitutional Pluralism: Undermining the Rule of Law in the Name of Constitutional Identity in Hungary and Poland, CYELS 21 (2019), 1 ff. Siehe auch Kriszta Kovács, The Rise of an Ethnocultural Constitutional Identity in the Jurisprudence of the East Central European Courts, GLJ 18 (2017), 1703 ff. Ebenfalls auf die Gefahren des Konzepts der Verfassungsidentität weisen hin Federico Fabbrini/András Sajó, The dangers of constitutional identity, ELJ 25 (2019), 457 ff. 81  Ebd., 15 f. 82  Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (732). 80

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Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der …

Verfassungsidentität gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV und dem Gebot loyaler Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV.83 Das bedeutet im Einzelnen, dass die Geltendmachung des Verfassungsidentitätsvorbehalts mit dem EuGH zu koordinieren ist – und zwar idealerweise im Rahmen des unionsrechtlichen Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV.84 Darüber hinaus sollten die unter den Begriff der Verfassungsidentität gefassten verfassungsrechtlichen Vorbehalte restriktiv ausgelegt, an rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen ausgerichtet und europäische Belange eingehend berücksichtigt werden.85 Umgekehrt kann der EuGH Art. 4 Abs. 2 EUV dadurch Rechnung tragen, dass er nationalen Gerichten einen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Frage zugesteht, welche Belange der nationalen Verfassungsidentität zuzuordnen sind.86 Aus der unionsrechtlichen Verankerung der Identitätsklausel folgt nicht notwendig eine Europäisierung der nationalen Verfassungsidentität in dem Sinne, dass nunmehr dem EuGH eine Letztentscheidungsbefugnis in dieser Frage zusteht. Ein solches Verständnis würde jedenfalls einem echten Pluralismus der Rechtsordnungen widersprechen.87 Schon aus institutioneller Sicht ist fragwürdig, ob der EuGH den grundlegenden konstitutionalistischen Belangen der Mitgliedstaaten in gleicher Weise Rechnung tragen wird, wie die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten, die spezifisch für diese Aufgabe eingesetzt wurden. Der pluralistisch-heterarchischen Struktur der vernetzten Weltordnung entspricht es, dass nationale Verfassungsgerichte – in Abstimmung mit dem EuGH und den anderen Verfassungsgerichten – selbst entscheiden, welche konstitutionalistischen Belange so bedeutsam sind, dass sie die Verfassungsidentität ausmachen.88 Das können, je nach den verfassungskulturellen Besonderheiten des jeweiligen Mitgliedstaats, etwa bestimmte Facetten des Grundsatzes der Parlamentssouveränität in Großbritannien oder Belange des Grundrechtsschutzes in Deutschland sein. Darin lässt, wie gezeigt, sich eine Form der Gewaltenteilung in der vernetzten Weltordnung erkennen.89 Der Umstand, dass ein  Diesen Zusammenhang stellt auch das Bundesverfassungsgericht her, siehe BVerfGE 140, 317 (337 f.) – Europäischer Haftbefehl II (2015); BVerfGE (142, 123/196) – OMT-Urteil (2016). 84  Armin von Bogdandy/Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (729). 85  Vgl. ebd., 732. 86  Ebd., 731. 87  Auch nach von Bodgdandy und Schill ist es dem europäischen Verfassungspluralismus „immanent, dass eine Entscheidung des EuGH eine entsprechende Rechtsfrage nicht abschließend entscheidet, da es an einer hierarchischen Ordnung fehlt“. Ebd., 731 f. 88  Diesen Standpunkt bekräftigt das Bundesverfassungsgericht nachdrücklich im Lissabon-Urteil: „Mitgliedstaatlichen Rechtsprechungsorganen mit verfassungsrechtlicher Funktion kann im Rahmen der ihnen übertragenen Zuständigkeit – dies ist jedenfalls der Standpunkt des Grundgesetzes – nicht die Verantwortung für die Grenzen ihrer verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung und die Wahrung der unverfügbaren Verfassungsidentität genommen werden“. BVerfGE 123, 267 (398 f.) – Lissabon (2009). 89  Schon oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. 83

C. Zusammenfassung

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solches Verständnis nun mit Art. 4 Abs. 2 EUV einen primärrechtlichen Anknüpfungspunkt findet, muss nicht notwendig nationale Fliehkräfte stärken. Vielmehr können das Abrücken von der – für viele nationale Verfassungsgerichte inakzeptablen – Maximalposition eines absoluten Vorrangs des Unionsrechts und die Einbindung nationaler Verfassungsgerichte auch zur Konfliktvermeidung beitragen und einen konstitutionellen rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialog über den Inhalt der Verfassungsidentität fördern.

C. Zusammenfassung Grundsätzlich entspricht es der pluralistisch-heterarchischen Struktur der vernetzten Weltordnung, wenn Verfassungsgerichte das rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Recht kontrollieren. Im Zusammenhang mit dem rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstab für nationale Verfassungsgerichte stellt sich die Frage, wo in der nationalen Verfassung die Grenze für das inter- und supranationale Recht gezogen werden soll. Im EU-Kontext beschränken Verfassungsgerichte den Kontrollmaßstab grundsätzlich auf grundlegende Verfassungsstrukturprinzipien. Seit der Einfügung des Art. 4 Abs. 2 EUV in das europäische Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon kristallisiert sich der unionale Begriff der Verfassungsidentität schrittweise als Grenze und damit gleichsam als einheitlicher inhaltlicher Kontrollmaßstab für das Unionsrecht heraus. Was genau unter „Verfassungsidentität“ zu verstehen ist, darum ringen der EuGH sowie mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte, etwa aus Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen, Tschechischen, Lettland, Italien und Belgien, durch gegenseitiges Bezugnehmen und wechselseitiges Akzeptieren im Rahmen eines rechtsordnungsübergreifenden Richterdialogs. Welcher inhaltliche Kontrollmaßstab für die Kontrolle des inter- und supranationalen Rechts heranzuziehen ist, hängt vom konkreten politisch-rechtlichen Kontext ab. Die Verfassungsidentität ist ein geeigneter Kontrollmaßstab für den EU-Kontext. Zum einen bringt der Begriff zum Ausdruck, dass ein nationaler Verfassungsvorbehalt nur insoweit gerechtfertigt ist, als besonders wichtige verfassungsrechtliche Belange beeinträchtigt werden. Der Grad der Vorrangvermutung des inter- und supranationalen Rechts ist vom Grad der Konstitutionalisierung der dieses Recht erzeugenden inter- oder supranationalen Rechtsordnung abhängig zu machen. Für die weitgehend konstitutionalisierte EU bedeutet dies, dass die Voraussetzungen für die Widerlegbarkeit der Vorrangvermutung zugunsten des Unionsrechts besonders streng sein müssen. Im Zusammenhang mit weniger konstitutionalisierten Erscheinungen des internationalen Rechts erscheint es dagegen legitim, den Kontrollmaßstab abzusenken. Zum anderen steckt in dem Begriff eine Absage an einen absoluten Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht. Er belässt den nationalen Verfassungsordnungen einen gewissen Spielraum, um nationalen Besonderheiten ge-

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Kapitel 17: Kontrollmaßstab nationaler Verfassungsgerichte in der EU: Von der …

recht werden zu können. Die damit verbundenen Gefahren für die generelle Be­ folgung des Unionsrechts lassen sich durch die Verwendung bestimmter Konfliktvermeidungstechniken, wie der Einbindung des EuGH durch das Vorlageverfahren, einhegen. Damit lässt sich das Konzept der Verfassungsidentität als ein Baustein für das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung erblicken.

Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

Es hat sich gezeigt, dass Verfassungsgerichte grundsätzlich Kontrolle gegenüber rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Normen ausüben sollten, um die Beachtung konstitutionalistischer Prinzipien sicherzustellen. Andererseits haben wir auch gesehen, dass von der Ausübung einer solchen Kontrolle gewisse Risiken ausgehen. Sie kann die Funktionsfähigkeit institutionalisierter inter- und supranationaler Kooperation beeinträchtigen und die prekäre Legitimität inter- und supranationaler Institutionen beschädigen. Sie beeinträchtigt die einheitliche Anwendung des inter- und supranationalen Rechts, sobald und soweit nationale Verfassungsgerichte unterschiedliche Kontrollmaßstäbe verwenden. Deshalb erscheint es sinnvoll, wenn inter- und supranationale Verfassungsgerichte die Beachtung konstitutionalistischer Prinzipien gewährleisten und sich nationale Verfassungsgerichte auf eine subsidiäre Kontrolle beschränken können. In diesem Zusammenhang kommt der Übertragungsfunktion eine entscheidende Bedeutung zu: Je mehr Verfassungsgerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen einen normativen Grundkonsens teilen und die gleichen konstitutionalistischen Prinzipien beachten, desto geringer ist die Gefahr, dass die Normen dieser Rechtsordnungen miteinander konfligieren. Aus diesem Grund erscheint es geboten, dass Verfassungsgerichte auf die Übertragung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Prinzipien in rechtsordnungsfremde Institutionen hinwirken. Damit besteht zwischen der Kontroll- und der Übertragungsfunktion ein Zusammenhang: Die Kontrolle des Rechts einer anderen Rechtsordnung kann Veränderungen in dieser Rechtsordnung bewirken. Deshalb wird die Ausübung von Kontrolle auch gezielt eingesetzt, um Anreize für bestimmte Veränderungen zu schaffen. Die Grenzen bestimmter Kontrollmechanismen zur Übertragungsfunktion, etwa der weg-

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_18

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

weisenden Vertragskontrolle1 oder des diskutierten engagement-Modells,2 sind fließend. Denn soweit sich Verfassungsgerichte offen mit rechtsordnungsfremden Belangen auseinandersetzen und nach der Entwicklung gemeinsamer Grundsätze für den Umgang mit dem rechtsordnungsfremden Recht streben, suchen sie die Normentwicklung in der anderen Rechtsordnung offensiv und gestalterisch zu beeinflussen. Wie bereits an anderer Stelle angesprochen wurde,3 ist der in vielfältigen Formen und Foren stattfindende rechtsordnungsübergreifende richterliche Dialog das maßgebliche Medium, durch das ein Verfassungsgericht seine konstitutionalistischen Belange in die Rechtsprechungspraxis eines anderen Verfassungsgerichts einspeisen kann. Im Hinblick auf die Übertragungsfunktion haben Verfassungsgerichte verschiedene Rechtsprechungspraktiken herausgebildet und dogmatische Konstruktionen entwickelt, die den rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog fördern bzw. in ihrem Sinne steuern sollen. Eine Möglichkeit der Beeinflussung liegt in der Herstellung von Rechenschaftspflicht-Mechanismen, mit denen Verfassungsgerichte die Inkorporation rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Rechtsakte davon abhängig machen, ob die Prinzipien und Normen ihrer Verfassung hinreichend beachtet werden. Im Folgenden werden drei solcher materiell-­rechtlicher Übertragungsmechanismen unterschieden, die ursprünglich vom Bundesverfassungsgericht entwickelt, aber mittlerweile von zahlreichen Verfassungsgerichten anderer Rechtsordnungen aufgegriffen wurden: der Solange-­Grundsatz (A.), die Ultra-vires-Kontrolle (B.) und die Identitätskontrolle (C.). Diese Mechanismen beziehen sich auf das abgeleitete Recht inter- und supranationaler Institutionen. Sie dienen also der Kontrolle der durch diese Institutionen auf der Grundlage des Gründungsvertrages erzeugten Rechtsakte,4 sind aber erkennbar offensiv und gestalterisch ausgerichtet.

A. Der Solange-Grundsatz Die Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat es zu Weltruhm gebracht. Im Kern zielt diese auf eine subsidiäre, abgestufte verfassungsgerichtliche Kontrolle des abgeleiteten Rechts inter- und supranationaler Organisationen ab, die von dem inter- und supranationalen Grundrechtsniveauniveau abhängt. Mit dem Solange-Grundsatz kann ein Verfassungsgericht durch Inaussichtstellen einer Sanktion eine Änderung der Entscheidungspraxis rechtsordnungsfremder In­stitutionen bewirken, ohne die angedrohte Sanktion tatsächlich einsetzen zu müssen.5

 Oben Dritter Teil, Kap. 14, B.  Oben Dritter Teil, Kap. 15, A., II., 1. 3  Oben Erster Teil, Kap. 6, A., I. 4  Dazu näher oben Dritter Teil, Kap. 15. 5  Mit einem weiteren als dem hier zugrunde gelegten Verständnis von „Solange“, nach dem „Solange“ teilweise synonym verwendet wird für jegliche Form von Kontrolle von Unionsrecht durch nationale Verfassungsgerichte, siehe Wojciech Sadurski, ‚Solange, chapter 3‘: Constitutional Courts in Central Europe – Democracy –, ELJ 14 (2008), 1 ff. 1 2

A. Der Solange-Grundsatz

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Bislang wurde der Solange-Grundsatz nur im Bereich des Grundrechtsschutzes durch die Gerichte der inkorporierenden Rechtsordnung gegenüber den Institutionen einer rechtsordnungsfremden inter- oder supranationalen Organisation eingesetzt, die auf die Inkorporation ihrer Rechtsakte angewiesen sind – also etwa durch das BVerfG gegenüber dem EuGH oder durch den EuGH gegenüber dem UN-­ Sicherheitsrat. Allerdings ist der Anwendungsbereich des Solange-Mechanismus konzeptionell keineswegs notwendig auf diese Konstellation beschränkt. Genauso können etwa der EuGH den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta der Union – und damit seine eigene Kontrollbefugnis – auch in Abhängigkeit davon definieren, inwieweit einzelne Mitgliedstaaten den Wesensgehalt der Unionsgrundrechte gewährleisten,6 oder die EU-Mitgliedstaaten untereinander die Reichweite des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in Bereichen wie dem Europäischen Haftbefehl oder dem Europäische Asylsystem von dem durch die jeweiligen Mitgliedstaaten gewährleisteten Niveau des Grundrechtsschutzes abhängig machen.7 Dabei lässt sich der Solange-Grundsatz als richterlicher Rechenschaftspflicht-­ Mechanismus auch über den Grundrechtsschutz hinaus auf andere Felder, wie Rechtsstaatlichkeits- und Demokratiestandards, ausweiten.8 Im Folgenden soll zunächst die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis nachgezeichnet werden (I.), bevor diese dann eingehend analysiert wird (II.).

6  Armin von Bogdandy u. a., Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte. Grundlagen einer unionsrechtlichen Solange-Doktrin gegenüber Mitgliedstaaten, ZaöRV 72 (2012), 45  ff.; Armin von Bogdandy/Luke Spieker, Countering the Judicial Silencing of Critics: Article 2 TEU Values, Reverse Solange, and the Responsibilities of National Judges, EuConst 15 (2019), 391 ff. Zur Sicherung menschen- und grundrechtlicher Mindeststandards in den Nationalstaaten durch interund supranationale Gerichte, siehe oben Erster Teil, Kap. 4, A., I., 2. 7  Iris Canor, Solange horizontal – Der Schutz der EU-Grundrechte zwischen Mitgliedstaaten, ZaöRV 73 (2013), 249 ff. Diesen horizontalen Solange-Mechanismus treibt der EuGH maßgeblich voran. So entschied der Gerichtshof im N.S.-Fall, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 4 GRC daran gehindert sind, einen Asylbewerber gemäß den Regelungen der Dublin II-Verordnung an einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn „die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ tatsächlich die Gefahr begründen, dass der Antragsteller „einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt“ wird. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs C-411/10, C-493/10 – N.S., ECLI:EU:C:2011:865, Rn. 94. Dazu im Einzelnen Iris Canor, ebd. Siehe auch Claudio Franzius, Strategien der Grundrechtsoptimierung in Europa, EuGRZ 2015, 139 (145 ff.). In Ansätzen lässt sich ein solcher Mechanismus – freilich ohne Mitwirkung des EuGH – im Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl erkennen, wenn das Gericht fordert, dass „die rechtsstaatlichen Strukturen unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union materiell synchronisiert sind und eine entsprechende nationale Einzelfallprüfung deshalb überflüssig ist. Insoweit kann durch das Inkraftsetzen eines strikten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung und der damit verbundenen weitgehenden gegenseitigen Vertrauensbekundung der Staaten untereinander die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte nicht eingeschränkt werden.“ So Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuR 2006, 79 (92). 8  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (55).

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

I. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen Der Solange-Grundsatz entwickelt sich in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen zu einem beliebten verfassungsgerichtlichen Kontroll- und Übertragungsmechanismus für das abgeleitete Recht rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Institutionen. Als das Bundesverfassungsgericht in Solange I erstmals einen abgestuften Kontrollanspruch über eine europäische Verordnung erhob, handelte es sich um ein Novum. Mittlerweise hat das Gericht diesen Kontrollanspruch durch die Fortentwicklung seiner Solange-Rechtsprechung auf eine weitgehend theoretische Reservekompetenz zurückgeführt (1.). Dafür haben andere nationale Verfassungsgerichte in Europa (2.) und ganz besonders der EGMR (3.) und der EuGH (4.) den Solange-Mechanismus zur Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts aufgegriffen.9 Diese Rezeptionszusammenhänge zeigen, dass die Anknüpfung an das existierende Rechtsprechungsmodell eines anderen Verfassungsgerichts die Verwendung dieses Modells erleichtert. Im Zusammengang mit dem bestehenden globalen richterlichen Kommunikationszusammenhang kann daraus eine Migrationsdynamik für konstitutionelle Ideen – und damit verbunden ein rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrend – entstehen.10 1. Die Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Der Solange I-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts ist von epochaler Bedeutung. Aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte kann man die Entscheidung als das Marbury v. Madison der vernetzten Weltordnung charakterisieren. In Reaktion auf die bahnbrechende konstitutionalistische EuGH-Rechtsprechung in Van Gend en Loos und Costa v. E.N.E.L. einerseits und dem  – trotz der 9  Andreas Haratsch, Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Das Kooperationsverhältnis zwischen EGMR und EuGH –, ZaöRV 66 (2006), 927 (928, 929 f.); Sebastian Winkler, Die Vermutung des „äquivalenten“ Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht nach dem Bosphorus-Urteil des EGMR, EuGRZ 2007, 641 (642, 647). Ein weiteres Beispiel für den Solange-Grundsatz außerhalb des EU-Kontexts lässt sich in der Rukundo-Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts erkennen, in der sich der mittlerweile verurteilte Kriegsverbrecher Emmanuel Rukundo gerichtlich gegen seine Auslieferung an das internationale Kriegsverbrechertribunal für Ruanda mit dem Argument wehrte, dass das Verfahren vor dem Tribunal den Anforderungen internationaler Menschenrechtsstandards nicht genüge. Das Bundesgericht stellte die widerlegbare Vermutung auf, dass das Tribunal im Einklang mit internationalen Menschenrechtsbestimmungen sei und wies den Einwand Rukundos im Ergebnis mit der Begründung zurück, dass dieser diese Vermutung nicht widerlegt habe. Dabei erhob das Bundesgericht aber gleichsam einen abgestuften Kontrollanspruch gegenüber dem Kriegsverbrechertribunal. Siehe Schweizerisches Bundesgericht, Entscheid vom 03.09.2001, 1A.129/2001, 1A.130/2001/ viz –Rukundo v. Office fédéral de la justice. Zu dem Entscheid: August Reinisch, Should Judges Second-Guess the UN Security Council?, IOLR 6 (2009), 257 (265). 10  Dazu im Einzelnen Erster Teil, Kap. 7, C.

A. Der Solange-Grundsatz

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­EuGH-­Urteile in Stauder, Internationale Handelsgesellschaft und Nold – durchaus bescheidenen Grundrechtsschutz, den die europäischen Gemeinschaftsinstitutionen bis dato gewährleisteten, entschied das BVerfG in seinem Solange I-Beschluss, dass es europäische Verordnungen – mittelbar über das deutsche Zustimmungsgesetz – am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüft, solange „der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist“.11 Mit anderen Worten: Das Bundesverfassungsgericht trifft die Grundsatzentscheidung, eine richterliche Kontrollbefugnis über europä­ ische Rechtsakte zu beanspruchen,12 gleichzeitig aber die Ausübung dieser Kon­ trolle – signalisiert durch die Formulierung „Solange“ – von bestimmten konstitutionellen Entwicklungen innerhalb der EU abhängig zu machen, nämlich von dem durch europäische Institutionen gewährleisteten Niveau des Grundrechtsschutzes. Die Entscheidung stellt auch deshalb eine zentrale Weichenstellung dar, weil zum ersten und letzten Mal die Frage der Erhebung eines Kontrollanspruchs über das abgeleitete Unionsrecht innerhalb des entscheidenden Zweiten Senats im Grundsatz umstritten war und zwischen der Senatsmehrheit und der Senatsminderheit grundsätzlich diskutiert wurde. Konkret macht das BVerfG in Solange I die Einstellung seiner Kontrolle von europäischen Sekundärrechtsakten und damit von der Erfüllung einer formellen und einer materiellen Bedingung abhängig: In formeller Hinsicht fordert das Gericht die Verabschiedung eines „von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden ausformulierten Katalog[s] von Grundrechten“,13 in materieller Hinsicht verlangt es, dass dieser europäische Katalog von Grundrechten dem „Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist“.14 Solange diese beiden Bedingungen nicht erfüllt seien, wovon die Senatsmehrheit – im Gegensatz zu der Senatsminderheit, die in ihrem Votum die bisherige Grundrechtsrechtsprechung detailliert analysiert15 – zum Zeitpunkt des Beschlusses ausgeht, prüft das Gericht den nationalen Inkorporationsakt des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts umfassend am Maßstab deutscher Grundrechte.16 Allerdings ließ sich das BVerfG durch die heftige Kritik im deutschen föderalistisch-­integrationsfreundlichen Schrifttum, sowie durch neuere Entwick-

 BVerfGE 37, 271 (285) – Solange I (1974).  Unmittelbar erstreckt sich der Kontrollanspruch des BVerfG in Solange I nur auf deutsche Rechtsakte, mittelbar wird dadurch aber auch die unionsrechtliche Verordnung geprüft. Dazu im Einzelnen unten Dritter Teil, Kap. 14. 13  BVerfGE 37, 271 (280) – Solange I (1974). 14  BVerfGE 37, 271 (285) – Solange I (1974). 15  BVerfGE 37, 271 (292 ff.) – Solange I (1974). Auf Grundlage dieser Betrachtung kommt die Senatsminderheit in ihrer abweichenden Meinung zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen des Grundgesetzes für den „Verzicht auf die Ausübung von Hoheitsgewalt […] bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfüllt“ sind. BVerfGE 37, 271 (296) – Solange I (1974). 16  BVerfGE 37, 271 (288 ff.) – Solange I (1974). 11 12

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

lungen im europäischen Grundrechtsschutz, insbesondere der entschlossenen Grundrechtsrechtsprechung des EuGH, beeindrucken. Nachdem das Gericht in seinem Vielleicht-Beschluss von 1979 bereits in Aussicht gestellt hatte, nicht mehr uneingeschränkt an seiner Solange I-Entscheidung festhalten zu wollen,17 schwächte es 1986 in Solange II nicht nur seine strengen Bedingungen aus Solange I ab, sondern erklärte diese milderen Bedingungen auch für erfüllt – mit der Folge, dass das Gericht ankündigte, „seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht […] nicht mehr ausüben“ zu wollen.18 In der durch Solange II modifizierten Solange-Formel ist von dem formellen Erfordernis eines geschriebenen Grundrechtskataloges keine Rede mehr.19 Auch von einer eigenen umfassenden Kontrolle sieht das Bundesverfassungsgericht nunmehr ab, solange die Europäischen Gemeinschaften „einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt“.20 Nach ausführlicher Würdigung der Rechtsprechung des EuGH zum Grundrechtsschutz kommt das Gericht in Solange II zu dem Schluss, dass der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz mittlerweile „nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist“21 und die Gemeinschaft damit den vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen

 BVerfGE 52, 187 – Vielleicht (1979). In dem Beschluss heißt es: „Der Senat läßt offen, ob und gegebenenfalls inwieweit – etwa angesichts mittlerweile eingetretener politischer und rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich  – für künftige Vorlagen von Normen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts die Grundsätze des Beschlusses vom 29. Mai 1974 (BVerfGE 37, 271 ff.) weiterhin uneingeschränkt Geltung beanspruchen können.“ Siehe BVerfGE 52, 187 (202 f.) – Vielleicht (1979). 18  BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II (1986). Zustimmend: Ulrich Everling, Brauchen wir „Solange III“?, EuR 1990, 195 ff.; Christian Tomuschat, Aller guten Dinge sind III? Zur Diskussion um die Solange-Rechtsprechung des BVerfG, EuR 1990, 340  ff.; kritisch: Rupert Scholz, Wie lange bis „Solange III“?, NJW 1990, 941 ff. 19  Zwar hat das Gericht diese Forderung niemals aufgegeben, sondern stattdessen abgeschwächt und in Form der Rechtsprechung des EuGH als erfüllt angesehen. BVerfGE 73, 339 (384 f.) – Solange II (1986). Siehe hierzu Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 64, 296 f. In der Praxis hat das jedoch jegliche Relevanz verloren. 20  BVerfGE 73, 339 (340, 387) – Solange II (1986). Siehe auch BVerfGE 102, 147 (162 f.) – Bananenmarkt (2000). 21  BVerfGE 73, 339 (378) – Solange II (1986). Herv. Verf. An dem vom Bundesverfassungsgericht formulierten materiellen Erfordernis, dass der europäische Grundrechtsschutz den vom Grundgesetz unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten sein und den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgen muss, hat auch die Reform des Art. 23 GG und sein abweichender, scheinbar strengere Anforderungen an die Qualität des europäischen Grundrechtsschutzes stellende Wortlaut nichts geändert, wonach ein „diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz“ auf europäischer Ebene gefordert wird. So hat das Gericht im Maastricht-Urteil, in dem der neue Art. 23 GG bereits geltendes Recht war, an der Formulierung aus seiner Solange II-Entscheidung festgehalten ohne insofern auf Art. 23 GG einzugehen. 17

A. Der Solange-Grundsatz

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Grundrechtsschutz beachte.22 In der Konsequenz sind Verfassungsbeschwerden und konkrete Normenkontrollanträge gegen die Anwendung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, die Grundrechtsverletzungen geltend machen, unzulässig. Aber welche Voraussetzungen stellte das BVerfG damit zur Reaktivierung seiner Kontrolle auf? Aus der Bedingung einer lediglich „generellen“ Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes geht hervor, dass nicht jede Unterschreitung des als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutzes durch den EuGH im Einzelfall die Prüfungskompetenz des BVerfG wieder aktiviert.23 Erforderlich ist danach vielmehr, dass der EuGH die Grundrechte „schlechthin und generell nicht anzuerkennen oder zu schützen bereit und in der Lage und […] das vom Grundgesetz geforderte Ausmaß an Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts generell und offenkundig unterschritten [ist]“.24 Das deutet darauf hin, dass das BVerfG „Betriebsunfälle“ hinnehmen25 und nur bei Systemfehlern wieder eingreifen wollte.26 Allerdings blieb zunächst offen, ob ein solches grundsätzliches Defizit bereits in einem – dafür gravierenden – Einzelfall angenommen werden konnte oder in einer Vielzahl von Fällen auftreten musste.27 Nachdem infolge des integrationskritischen, von einer intergouvernementalen Anschauung geprägten Maastricht-Urteils von 1993  in der Literatur28 und bei  „Nach Auffassung des erkennenden Senats ist mittlerweile im Hoheitsgebiet der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist“. Siehe BVerfGE 73, 339 (378) – Solange II (1986). Auch hinsichtlich der in Solange I geforderten Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards sah das BVerfG in Solange II „keine durchgreifenden Anhaltspunkte“ dafür, dass dieser nicht erfüllt sei. BVerfGE 73, 339 (378) – Solange II (1986). 23  So Steinberger, der Berichterstatter des Solange II-Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Siehe Helmut Steinberger, Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis zwischen Europäischem Gemeinschaftsrecht und deutschem Recht, in: Kay Hailbronner/Georg Ress/Torsten Stein (Hrsg.), FS Döhring, 1989, 951 (962). Ebenso Doris König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, 432. 24  BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II (1986). 25  So die Beschreibung von Torsten Stein, Umgekehrt! Bemerkungen zum „Solange II“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, in: Walther Fürst/Roman Herzog/Dieter Umbach (Hrsg.), FS Zeidler, Bd. 2, Berlin 1987, 1713 (1725). 26  Christian Tomuschat, Artikel 24 GG, Bonner-Kommentar, Lfg. 41, 1981, Rn. 96; Doris König, Die Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, 2000, 432. Steinberger begründet dies damit, dass auch die Grundrechte als Teil des einheitlichen Verfassungsgefüges im Einklang und in Abstimmung mit dem Bekenntnis des Grundgesetzes zur europäischen Integration ausgelegt und angewendet werden müssten. Siehe Helmut Steinberger, Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis zwischen Europä­ ischem Gemeinschaftsrecht und deutschem Recht, in: Kay Hailbronner/Georg Ress/Torsten Stein (Hrsg.), FS Döhring, 1989, 951 (962 f.). 27  Claus Classen, Anmerkung zu BVerfG, 07.06.2000 – 2 BvL 1/97, JZ 55 (2000), 1155 (1158). 28  Vgl. Volkmar Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 48 (1993), 1081 (1083); Hans-Detlef Horn, „Grundrechtsschutz in Deutschland“ – Die Hoheitsgewalt der Europä­ ischen Gemeinschaften und die Grundrechte des Grundgesetzes nach dem Maastricht- Urteil des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1995, 89 (92). 22

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

­unterinstanzlichen Gerichten29 Zweifel aufgekommen waren, ob das Gericht noch an seiner Solange II-Rechtsprechung festhalten wollte,30 zerstreute das BVerfG diese Zweifel im Bananenmarkt-Beschluss.31 Darin präzisierte es die Darlegungslast, die ein Beschwerdeführer oder ein nationales Gericht erbringen muss, damit ihre Verfassungsbeschwerden und Vorlagen nicht „von vornherein unzulässig“ sind und die bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle wieder aktiviert werden kann. Danach „muss die Begründung der Vorlage eines nationalen Gerichts oder einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist“.32 Dies erfordere „eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise“, wie sie das BVerfG in Solange II „geleistet hat“.33 Diese Anforderungen sind freilich schwer zu erfüllen: Vergleichbar mit der sorgfältigen Prüfung, die das BVerfG in seiner Solange II-Entscheidung vorgenommen hatte, muss durch eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene im Einzelnen nachgewiesen werden, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist.34 Dem vorlegenden VG Frankfurt am Main jedenfalls gelang dieser Nachweis nicht.35 Das BVerfG möchte offenbar nicht mehr mit Verfassungsbeschwerden und Gerichtsvorlagen befasst werden, die das europäische Grundrechtsschutzniveau bemängeln. Das Gericht strebt ersichtlich ein „prozessuales Ventil“ an, um den durch die

 Dem Vorlagebeschluss des VG Frankfurt/Main, der in die Bananenmarkt-Entscheidung des BVerfG mündete, lag die Annahme zugrunde, dass das BVerfG seine im Solange II-Beschluss zurückgenommene Prüfungskompetenz gegenüber dem unionsrechtlichen Sekundärrecht wieder ausüben wollte. 30  Teilweise wurde das Maastricht-Urteil so verstanden, dass das Bundesverfassungsgericht – im Unterschied zu Solange II – die Beachtung des unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz wieder in jedem Einzelfall prüfen will. Die umstrittene Passage im Urteil lautet: „Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeit […], dass ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt“. BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht (1993). Hierzu Hans-Detlef Horn, „Grundrechtsschutz in Deutschland“  – Die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaften und die Grundrechte des Grundgesetzes nach dem Maastricht- Urteil des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1995, 89 ff. 31  Diese Interpretation des Maastricht-Urteils wurde als „Missverständnis“ abgetan. BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarkt (2000). 32  Ebd. 33  Ebd. Herv. Verf. 34  Ebd. In seiner Solange II-Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht eine ausführliche Würdigung der Rechtsprechung des EuGH zum Grundrechtsschutz vorgenommen. Siehe BVerfGE 73, 339 (378 ff.) – Solange II (1986). 35  Es wäre dem im vorliegenden Fall „nicht möglich gewesen, ein generelles Absinken des Grundrechtsstandards in der Rechtsprechung des EuGH“ zu begründen; BVerfGE 102, 147 (166) – Bananenmarkt (2000). 29

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materiell-­ rechtliche Kollision zwischen gemeinschaftsrechtlichem Vorranganspruch und Vorranganspruch der deutschen Grundrechtsprinzipien aufgebauten Druck zu neutralisieren,36 ohne dabei seinen grundsätzlichen Kontrollanspruch bzw. seine Reservezuständigkeit aufgeben zu wollen.37 Im Recht auf Vergessen II-Beschluss hat das BVerfG die Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts am Maßstab deutscher Grundrechte durch die Feststellung zurückgestellt, dass „[n]ach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts – zumal unter Geltung der Charta  – […] davon auszugehen [ist], dass diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind“.38 Zusätzlich betont das Gericht die „Reservefunktion“ der deutschen Grundrechte sowie die „hohen Substantiierungsanforderungen“ zum Nachweis, dass der als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz im Unionsrecht dem des Grundgesetzes nicht im Wesentlichen gleich zu achten sei.39 Gleichzeitig kündigt das Gericht an, zukünftig im Bereich des vollständig vereinheitlichten Unionsrechts die Europäische Grundrechtecharta an Stelle der deutschen Grundrechte als Prüfungsmaßstab für nationale Maßnahmen anzuwenden.40 Die Mitwirkung des BVerfG an der Fortentwicklung der Charta dürfte aber eher zur Stärkung als zur Schwächung des unionalen Grundrechtsschutzes beitragen.41 Es wäre auch nur schwer vertretbar, zum Schutz deutscher Grundrechtsträger auf die Charta-­ Grundrechte zu rekurrieren, wenn diese unterhalb des Grundrechtsschutzniveaus der deutschen Grundrechte verbleiben würden. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass der Solange-Vorbehalt angesichts des gegenwärtig hohen Grundrechtsschutzniveaus in der Europäischen Union für unbestimmte Zeit ruht, jedenfalls solange, wie sich das unionale Grundrechtsschutzniveau nicht substanziell verschlechtert. 2. Die Solange-Rechtsprechung anderer nationaler Verfassungsgerichte in der EU Im Folgenden sollen die Solange-Konstruktionen der italienischen Corte Costituzionale in Fragd (a.), des französischen Conseil d’État in Arcelor (b.), sowie des polnischen Verfassungsgerichtshofs in der Supronowicz-Entscheidung (c.) diskutiert werden.

 Siehe Thomas Giegerich, Luxemburg, Karlsruhe, Straßurg – Dreistufiger Grundrechtsschutz in Europa?, ZaöRV 50 (1990), 836, 851. 37  Vgl. Gert Nicolaysen/Carsten Nowak, Teilrückzug des BVerfG aus der Kontrolle der Rechtmäßigkeit gemeinschaftlicher Rechtsakte: Neuere Entwicklungen und Perspektiven, NJW 2001, 1233 (1234); Jutta Limbach, Das Bundesverfassungsgericht und der Grundrechtsschutz in Europa, NJW 2001, 2913 ff. 38  BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, Rn. 48. 39  Ebd. 40  Ebd., Rn. 57 ff. 41  Vgl. Walther Michl, In Vielfalt geeinte Grundrechte, VerfBlog, 2019/11/27. 36

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

a. Das Fragd-Urteil der Corte Costituzionale vom 21.04.1989 In Grundzügen lässt sich eine Solange-Konstruktion auch in dem Fragd-Urteil der italienischen Corte Costituzionale von 1989 erkennen.42 Problematisiert wurde in der Entscheidung die damalige Rechtsprechungspraxis des EuGH zur Beschränkung der zeitlichen Geltung seiner Vorabentscheidungen. Danach galt die Nichtigkeit einer Verordnung in bestimmten Konstellationen erst ab dem Zeitpunkt der Feststellung durch den EuGH – und zwar selbst für den Kläger des Ausgangsverfahrens, der sich gegen die Verordnung gewendet hatte. Dadurch schaffte der EuGH zwar Rechtssicherheit: Alle betroffenen Akteure konnten sich auf die vom EuGH festgestellte Rechtslage einstellen. Allerdings wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens damit den Früchten seines Prozesssieges beraubt. Alle vor dem Zeitpunkt der EuGH-Entscheidung entstandenen Ansprüche wurden dadurch ausgeschlossen. Das Tribunale di Venezia, das das Fragd-Urteil durch seine Vorlage an die Corte Costituzionale einleitete, erblickte darin einen Verstoß gegen das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 24 Cost. Die Corte wies die Vorlage zwar im Ergebnis als unzulässig ab: Denn obwohl dieses Recht ein fundamentales Prinzip der italienischen Rechtsordnung darstelle, garantiere das Rechtsschutzsystem der Gemeinschaftsrechtsordnung dem Einzelnen einen vollständigen und umfassenden Rechtsschutz. Allerdings warnte die Corte den EuGH in einem obiter dictum, dass schwerwiegende Bedenken gegen die Vereinbarkeit mit Art. 24 Cost. dann bestünden, wenn die „Vorlageentscheidung selbst vom vorlegenden Gericht nicht verwendet werden dürfe“.43 Hier zeigt sich das Solange-Muster: Die Corte Costituzionale nimmt ihre Kontrolle der Rechtsschutzgewährleistung aus der italienischen Verfassung unter der Bedingung zurück, dass der EuGH einen umfassenden Rechtsschutz gewährleistet, stellt jedoch für die Zukunft eine Ausübung seiner Kontrolle in Aussicht, solange der EuGH seine Rechtsprechung zu den zeitlichen Wirkungen seiner Vorabentscheidungen nicht korrigiert. b. Die Arcelor-Entscheidung des Conseil d’État vom 08.02.2007 In seiner Arcelor-Entscheidung von 200744 macht auch der französische Conseil d’État erstmals von dem Solange-Mechanismus Gebrauch.45 Hintergrund der Entscheidung war die Klage des Stahlproduktionsunternehmens Arcelor. Dieses rügte  Siehe Corte Costituzionale, Entsch. v. 13.04.1989, Nr. 232/1989 – Spa Fragd v. Ministro delle Finanze. So schon Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 170 f. Siehe zu dem Urteil auch Thomas Kröll, Der letzte (?) Schritt auf dem cammino comunitario der Consulta: Die Corte costituzionale im direkten Dialog mit Luxemburg, ZfV 2011, 162 (165 f.). 43  Franz Mayer, ebd. 44  Conseil d’État, Urt. v. 08.02.2007, Nr. 287110 – Arcelor, Rec. 11, EuR 2008, 57 ff. 45  Bei dieser Einschätzung ist deshalb Vorsicht geboten, weil der Urteilsstil der Verwaltungsgerichte in Frankreich typischerweise sehr knapp und förmlich und deshalb oft nur eingeschränkt aufschlussreich ist. Siehe zu dem Urteil die Besprechung von Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich – zugleich Anmerkung zur Entscheidung des 42

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eine Verletzung seiner Eigentums- und Berufs- bzw. Unternehmensfreiheit durch die europäische Emissionshandelsrichtlinie 2003/87/EG. Im Ergebnis wies der Verwaltungsrat die Klage ab.46 Aufschlussreich ist das Prüfungsprogramm des Conseil: Zunächst sei es die Aufgabe des Verwaltungsrichters „zu prüfen, ob es eine Regel oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts gibt, welcher im Hinblick auf seine Natur und Tragweite, so wie er nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit ausgelegt wird, durch seine Anwendung die effektive Beachtung der Verfassungsbestimmung bzw. des verfassungsrechtlichen Prinzips garantiert, auf das sich berufen wurde“.47 Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht macht der Conseil demnach die Ausübung seiner Kontrollfunktion bzw. seine Prüfungsdichte abhängig vom Niveau des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene.48 Je ausgeprägter der Grundrechtsschutz durch europäische Institutionen ist, desto entbehrlicher wird der nationale Grundrechtsschutz im Hinblick auf inter- und supranationale Rechtsakte. Konkret heißt das im Fall Arcelor: Soweit ein allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgrundsatz „die effektive Beachtung der Verfassungsbestimmung oder des verfassungsrechtlichen Prinzips garantiert“, richtet sich die Vereinbarkeit des euro­ päischen, grundrechtsbeeinträchtigenden Rechtsakts allein nach europäischen Grundrechten; der Conseil d’État legt dann die Frage dem EuGH im Rahmen des Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV vor. Das gleicht in der Sache den Entscheidungen des BVerfG in Solange II und in Bananenmarkt. Danach sind Verfassungsbeschwerden und gerichtliche Vorlagen, die eine Grundrechtsverletzung durch einen europäischen Rechtsakt rügen, von vorneherein unzulässig, es sei denn, die Beschwerdeführer oder die vorlegenden Gerichte legen dar, dass die europäische

französischen Conseil d’État vom 8. Februar 2007 (Arcelor u. a.) –, EuR 2008, 63 ff., die das Urteil als „Solange“-Entscheidung charakterisieren. Instruktiv auch Mattias Wendel, Verfassungsrecht – Völkerrecht  – Europarecht, in: Nikolaus Marsch/Yoan Vilain/Mattias Wendel (Hrsg.), Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, 2015, § 8, Rn. 103 ff. 46  In der Bundesrepublik klagten ebenfalls das Land Sachsen-Anhalt sowie einige Unternehmen in separaten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz, das deutsche Umsetzungsgesetz der Emissionshandelsrichtlinie. BVerfGE 118, 79 – Emissionshandel (2007). Allerdings verwarf das Gericht die Klagen auf Grundlage seiner Solange-Rechtsprechung als unzulässig; den Klägern sei der Nachweis nicht gelungen, dass die Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der Eigentums- und der Berufsfreiheit durch die europäischen Institutionen gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell unter den unabdingbar gebotenen Schutzstandard gesunken sei. Siehe hierzu Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, ebd., 81 f. 47  Conseil d’État, Urt. v. 08.02.2007, Nr. 287110 – Arcelor, Rec. 11, EuR 2008, 57 (59). 48  Weil die französische Verfassung von 1958 keinen Grundrechtskatalog hat, leiten die französischen Gerichte ihre Befugnis zur Grundrechtskontrolle aus dem Verweis der Präambel auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sowie auf die Präambel der Verfassung von 1946 her.

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

Rechtsentwicklung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist.49 Eine Kontrolle durch das BVerfG und den Conseil d’État wird nur durch den klägerischen Nachweis wieder aktiviert, dass die „effektive Beachtung“ des Grundrechts auf europäischer Ebene nicht gewährleistet wird.50 Im Unterschied zum BVerfG, das von dem Beschwerdeführer den Nachweis verlangt, dass der unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell, also über den Einzelfall hinaus, nicht gewährleistet wird, kann der Kläger in Frankreich die Gerichtsbarkeit des Conseil d’État bereits durch Darlegung eines Absinkens des verfassungsrechtlich erforderlichen Grundrechtsschutzes im Einzelfall aktivieren.51 c. Die Supronowicz-Entscheidung des Trybunal Konstytucyjny vom 16.11.2011 Die Solange-Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR greift der polnische Verfassungsgerichtshof, das Trybunal Konstytucyjny, in seiner Supronowicz-­Entschei­ dung auf.52 Dabei verweist der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich auf die Ähnlichkeit seiner Entscheidung zur Solange-­ Rechtsprechung. In dem zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren wendete sich der Beschwerdeführer gegen die Vollstreckung eines belgischen Gerichtsbeschlusses in Polen auf der Grundlage des Art. 41 EuGVVO. Nach dieser Vorschrift wird das Vollstreckungsverfahren einseitig auf Antrag des Gläubigers eingeleitet. Der Schuldner erhält keine Gelegenheit, eine Erklärung abzugeben. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die Verordnung wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung in Polen nicht anwendbar sei. Denn sein Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 45 der Polnischen Verfassung werde durch die Vollstreckung verletzt.53

49  BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarkt (2000). Streinz charakterisiert diese Rechtsprechung als auflösend bedingte Suspendierung der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts über die Anwendbarkeit sekundären Gemeinschaftsrechts im deutschen Rechtsraum. Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 150. 50  Die Gemeinsamkeiten zwischen der Arcelor-Entscheidung des Conseil d’État und der Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervorhebend: Florence Chaltiel, Les rapports de système entre le droit constitutionnel et le droit européen, RMC 2007, 361 (369). Erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen ergeben sich freilich in Hinsicht auf die Dialogbereitschaft mit dem EuGH. Siehe dazu mehr unten Dritter Teil, Kap. 19, A. 51  Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63 (79 f.). 52  Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 16.11.2011, SK 45/09 – Supronowicz. Dazu Katarzyna Granat, Kontrolle des EU-Sekundärrechts durch den polnischen Verfassungsgerichtshof, EuR 2013, 205 ff.; Sławomir Dudzik/Nina Półtorak, ‚The Court of the Last Word‘. Competences of the Polish Constitutional Tribunal in the Review of European Union Law, YPES 15 (2012), 225 ff. Siehe zu der mit dem Regelungsmechanismus der EuGVVO verbundenen Grundrechtsproblematik allgemein: Gabriele Britz, Grundrechtsschutz in der justiziellen Zusammenarbeit – zur Titelfreizügigkeit in Familiensachen, JZ 68 (2013), 105 ff. 53  Katarzyna Granat, ebd., 205 (207).

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Wie das Bundesverfassungsgericht in Solange I, prüfte der polnische Verfassungsgerichtshof die angegriffene unionsrechtliche Verordnung uneingeschränkt am Maßstab des einschlägigen Grundrechts. Er bejahte die Vereinbarkeit mit dem Grundrecht und wies die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis als unbegründet zurück. Allerdings beschränkte sich der polnische Verfassungsgerichtshof  – ebenso wie das BVerfG – nicht auf die Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechtsakts. Vielmehr betonte er, dass die Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde dann zu bejahen sei, „wenn ein EU-Rechtsakt hinter dem von der Verfassung geforderten Grundrechtsschutz zurückbliebe“.54 Es reiche aus, wenn das europäische mit dem nationalen Grundrechtsschutzniveau „vergleichbar“ sei.55 Dies sei aufgrund des hohen Rangs der Grundrechte in der EU und des im nationalen und im EU-Rechtssystem vergleichbar ausgestalteten Verhältnismäßigkeitsprinzips gegenwärtig der Fall.56 Weiterhin wies der Verfassungsgerichtshof auf die – durch seine Kontrolle der Vereinbarkeit von unionsrechtlichen Verordnungen mit der polnischen Verfassung begründete  – Möglichkeit einer „Kollision der Zuständigkeiten der beiden Gerichte“ hin.57 Deshalb müsse diese „Kontrolle besonders vorsichtig“ unter Berücksichtigung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und unter Beachtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 EUV ausgeübt werden.58 Vor diesem Hintergrund kündigte der Gerichtshof an, zukünftig vor der Ausübung einer solchen Kontrolle dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit des angegriffenen Sekundärrechtsakts mit dem unionsrechtlichen Primärrecht vorzulegen.59 Für künftige Verfassungsbeschwerden stellte er zudem  – in expliziter Anlehnung an das BVerfG  – die zusätzliche Bedingung auf, dass „die Beschwerdeführer hinreichend glaubhaft machen müssen, dass das Sekundärrecht das Niveau des Grundrechtsschutzes im Vergleich zur polnischen Verfassung erheblich absinken lässt“.60 Freilich erscheinen diese Anforderungen weniger streng als die des BVerfG in Bananenmarkt. Denn der Verfassungsgerichtshof fordert nicht den Nachweis eines generellen Absinkens. Auffällig ist auch, dass der Verfassungsgerichtshof eine Begründetheitsprüfung vornimmt, obwohl er das europäische und das nationale Grundrechtsschutzniveau gegenwärtig als hinreichend vergleichbar erachtet.

 Ebd., 210.  Ebd. 56  Ebd. 57  Ebd., 209. 58  Ebd. 59  Ebd. Freilich hatte der Verfassungsgerichtshof in diesem Verfahren von einer Vorlage an den EuGH abgesehen, was er mit einem – nach der EuGH-Rechtsprechung keine Ausnahme von der Vorlagepflicht rechtfertigenden – Verweis auf das Foto-Frost-Urteil des EuGH begründete. Siehe Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 16.11.2011, SK 45/09 – Supronowicz, Teil III, 2.3. 60  Katarzyna Granat, Kontrolle des EU-Sekundärrechts durch den polnischen Verfassungsgerichtshof, EuR 2013, 205 (205). 54 55

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

3. Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte In dem bereits erwähnten Bosphorus-Urteil61 beschränkt sich der EGMR nicht nur darauf, einen Kontrollanspruch gegenüber EU-Rechtsakten – mittels des konventionsstaatlichen Inkorporationsakts – zu erheben,62 sondern der Gerichtshof verwendet darüber hinaus den Solange-Mechanismus.63 Wie das BVerfG prüft der EGMR solche staatlichen Rechtsakte, die das EU-Recht inkorporieren, nicht in derselben Weise wie staatliche Rechtsakte, die nicht durch inter- oder supranationales Recht determiniert sind. Staatliches Handeln, das in Erfüllung der sich aus der Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation ergebenden Verpflichtungen erfolgt, ist dem EGMR zufolge „solange gerechtfertigt, als die jeweilige Organisation die Grundrechte in einer Weise schützt, die hinsichtlich der materiellen Garantien und des Mechanismus zur Überprüfung ihrer Einhaltung als zumindest gleichwertig mit dem durch die EMRK gewährten Schutz angesehen werden kann.“64 Solange „ein solcher gleichwertiger Schutz anzunehmen“ sei, gelte „die Vermutung, dass ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht widersprochen hat, wenn er bloß seine sich aus der Mitgliedschaft in dieser Organisation ergebenden rechtlichen Verpflichtungen erfüllt hat“.65 Diese Vermutung könne jedoch „widerlegt werden, wenn unter den Umständen des Einzelfalls die Konventionsrechte offensichtlich unzureichend geschützt wurden“.66 In einem solchen Fall behalte „die EMRK als Verfassungsinstrument eines europäischen ordre public im Bereich der Menschenrechte gegenüber dem Interesse an einer internationalen Kooperation die Oberhand“.67 Aus diesem Urteil ergibt sich der folgende dogmatische Ansatz: Der Solange-­ Rechtsprechung des BVerfG folgend, beschränkt der EGMR seine Prüfung grundsätzlich auf die Frage, ob ein äquivalenter Grundrechtsschutz besteht. Dafür muss der Grundrechtsschutz der inter- oder supranationalen Organisation nicht identisch mit dem der eigenen Rechtsordnung sein, sondern es genügt, wie bei der 61  EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nr. 45036/98 – Bosphorus v. Irland, NJW 2006, 197 ff. Dazu bereits oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 3., a. 62  So noch in EGMR, Urt. v.  15.11.1996, Nr.  17862/91  – Cantoni v. Frankreich, EuGRZ 1999, 193 ff.; EGMR, Urt. v. 18.02.1999, Nr. 24833/94 – Matthews v. Vereinigte Königreich. Zur Kon­ trolle des abgeleiteten Unionsrechts durch den EGMR, siehe oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 3., a. 63  Vgl. Andreas Haratsch, Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Das Kooperationsverhältnis zwischen EGMR und EuGH –, ZaöRV 66 (2006), 927 (928, 929 f.); Sebastian Winkler, Die Vermutung des „äquivalenten“ Grundrechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht nach dem Bosphorus-Urteil des EGMR, EuGRZ 2007, 641 (642, 647). 64  EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nr. 45036/98 – Bosphorus v. Irland, NJW 2006, 197 (202), Rn. 155 (Herv. Verf.). Siehe dazu Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuR 2006, 79 ff. Kritisch zum Bosphorus-Urteil: Sionaidh Douglas-Scott, A Tale of Two Courts: Luxembourg, Strasbourg and the Growing European Human Rights Acquis, CML Rev. 43 (2006), 629 ff. 65  EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nr. 45036/98 – Bosphorus v. Irland, NJW 2006, 197 (202), Rn. 156. 66  Ebd. 67  Ebd.

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­Solange-­Rechtsprechung des BVerfG, ein gleichwertiger Grundrechtsschutz.68 Ist ein solcher gegeben, gilt eine Vermutung zugunsten der Vereinbarkeit des Rechtsakts mit der Konvention.69 Der EGMR sieht dann von einer Grundrechtsprüfung im Einzelfall ab. Im Bosphorus-Urteil prüfte der Gerichtshof das Vorliegen der Voraussetzungen der Bosphorus-Vermutung anhand einer eingehenden Analyse des durch die EU-Institutionen gewährleisteten Grundrechtsschutzes und seiner Gleichwertigkeit mit dem der EMRK.70 Dabei stellt er aus materiell-rechtlicher Hinsicht auf die Wirksamkeit der Grundrechtsgarantien und aus prozeduraler Hinsicht auf die bestehenden „Kontrollmechanismen zur Sicherstellung der Beachtung dieser Rechte“ ab.71 Im Ergebnis zog der EGMR den Schluss, dass der EU-Grundrechtsschutz nicht offensichtlich unzureichend und die Vermutung damit nicht widerlegt sei.72 Die Beschwerde von Bosphorus hatte damit im Ergebnis keinen Erfolg. In seinem Urteil in der Rs. Michaud73 hat der EGMR die Voraussetzungen der Bosphorus-Vermutung insbesondere mit Blick auf die prozedurale Dimension des Grundrechtsschutzes konkretisiert.74 Das Michaud-Urteil betraf die Vereinbarkeit einer durch EU-Richtlinien veranlassten, sanktionsbewehrten Rechtspflicht von Rechtsanwälten in Frankreich, Verdachtsmomente betreffend Geldwäsche an eine französische Behörde (konkret: der TRACFIN75) zu melden, mit der durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Rechtsanwälten und ihren Klienten. In dem Fall hatte sich der französische Conseil d’État geweigert, dem EuGH eine Vorlagefrage zur Vereinbarkeit dieser Meldungspflicht mit den Unionsgrundrechten zu stellen. Vor diesem Hintergrund erachtete der EGMR die Bosphorus-Vermutung für widerlegt: „Aufgrund der Weigerung des Conseil d’État, die strittige Frage dem EuGH vorzulegen, konnte der an und für sich mit der Konvention gleichwertige EU-­ Schutzmechanismus nicht sein volles Potenzial entfalten“.76 Anders ausgedrückt: Das Rechtsschutzsystem der EU, einschließlich des Vorlageverfahrens, ist dem der EMRK hinreichend gleichwertig; es muss aber auch durch nationale Gerichte in Form von Vorlagen an den EuGH aktiviert werden. Verweigern nationale Gerichte die Einbindung des EuGH über das Vorlageverfahren gemäß Art. 267 AEUV, gilt die Bosphorus-Vermutung nicht. Damit sichert der EGMR die unionsrechtliche Vorlagepflicht nationaler Höchstgerichte gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV konventi Ebd., Rn. 155.  Ebd. 70  Ebd., Rn. 159 ff. 71  Ebd., Rn. 160. 72  Ebd., Rn. 166. 73  EGMR, Urt. v. 06.12.2012, Nr. 12323/11 – Michaud v. Frankreich, NJW 2013, 3423 ff. 74  Siehe zu dem Michaud-Urteil: Manuel Indlekofer/Daniel Engel, Solange II revisited: Die „Michaud“-Entscheidung des EGMR und der Beitritt der EU zur EMRK, ZEuS 2015, 75 ff. 75  TRACFIN steht für Traitement du renseignement et action contre les circuits financiers clandestins. Es handelt sich um eine dem Finanzministerium zugehörige Behörde zur Geldwäschebekämpfung. 76  EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nr. 45036/98 – Bosphorus v. Irland, NJW 2006, 197 (199), Rn. 115. 68 69

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

onsrechtlich ab, indem die Verweigerung einer Vorlage an den EuGH die Anwendung der Bosphorus-Vermutung entfallen lässt und damit gleichsam zu einem verschärften konventionsrechtlichen Prüfungsmaßstab führt. Im konkreten Fall nahm der EGMR angesichts der Weigerung des Conseil d’État, den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen, eine Grundrechtsprüfung über die Vereinbarkeit der französischen Meldungspflicht mit Art.  8 EMRK vor.77 Die Große Kammer des EGMR hat die Michaud-Rechtsprechung in der Rs. Avotiņš bestätigt.78 Das Michaud-Urteil ist bislang die einzige Entscheidung des EGMR, in der die Bosphorus-Vermutung im EU-Kontext widerlegt war.79 77  Im Rahmen seiner Einzelfallprüfung bewertete der EGMR die Meldungspflicht dennoch als vereinbar mit Art. 8 EMRK. 78  EGMR, Urt. v.  23.05.2016, Nr.  17502/07  – Avotiņš v. Lettland. Dazu Paul Gragl, An Olive Branch from Strasbourg. Interpreting the European Court of Human Rights’ Resurrection of Bosphorus and Reaction to Opinion 2/13 in the Avotiņš Case, EuConst 13 (2017), 551 ff. In dem Fall ging es im Kern um die Vereinbarkeit der Vollstreckung eines zypriotischen Gerichtsurteils gegen einen – im Gerichtsverfahren in Zypern nicht anwesenden – lettischen Staatsbürger durch ein lettisches Gericht aufgrund von Art. 34 Abs. 2 der Brüssel I-Verordnung mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art.  6 Abs.  1 EMRK.  Wie der Conseil d’État in Michaud legte der lettische Oberste Gerichtshof in Avotiņš dem EuGH keine Vorlagefrage zu Auslegung des einschlägigen Unionsrechts vor. Im Unterschied zu Michaud hatte der Beschwerdeführer in Avotiņš eine solche Vorlage im nationalen Ausgangsverfahren aber auch nicht gefordert. Vor diesem Hintergrund entschied der EGMR in Avotiņš, dass es ein „übertriebener Formalismus“ wäre, die Anwendbarkeit der Bosphorus-Vermutung „in ausnahmslos allen Fällen“ von einem Vorlagersuchen des letztin­ stanzlichen nationalen Gerichts an den EuGH abhängig zu machen. Ebd., Rn. 109. Vielmehr müsse die Frage, ob der EU-Schutzmechanismus sein volles Potenzial entfalten konnte, „in jedem einzelnen Fall unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Sachverhalts beurteilt werden“. Ebd., Rn. 111. Weil aber der Kläger in Avotiņš den lettischen Supreme Court nicht um eine Vorlage an den EuGH ersucht hatte, sei der Fall von der Konstellation in Michaud „eindeutig unterscheidbar“. Ebd., Rn. 111. Obwohl das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV als ein Verfahren „von Gericht zu Gericht“ ausgestaltet ist, in dem der Einzelne keinen Anspruch auf eine Vorlage an den EuGH hat, koppelt der EGMR die Widerlegbarkeit der Bosphorus-Vermutung folglich an einen prozessrechtlichen Antrag des Einzelnen auf ein Vorlagersuchen des zuständigen nationalen Gerichts an den EuGH. Vordergründig schwächt der EGMR dadurch das Erfordernis einer Vorlage an den EuGH für die Anwendbarkeit der Bosphorus-Vermutung ab. Im Ergebnis schafft das Avotiņš -Urteil aber Anreize für Klägeranwälte, prozessual auf Vorlageersuchen nationaler Gerichte hinzuwirken und dürfte dadurch indirekt auch die Bereitschaft nationaler Höchstgerichte zu Vorlagen an den EuGH erhöhen. 79  In mehreren weiteren Entscheidungen prüfte der EGMR – und bejahte dagegen das Vorliegen – der Bosphorus-Vermutung im konkreten Fall. Siehe EGMR, Urt. v. 10.10.2006, Nr. 16931/04 – Coopérative des agriculteurs de Mayenne v. Frankreich; Urt. v. 09.12.2008, Nr. 13762/04 – Biret v. 15 Staaten; Urt. v. 20.01.2009, Nr. 13645/05 – Kokkelvisserij v. Niederlande; Urt. v. 18.06.2013, Nr. 3890/11 – Povse v. Österreich; EGMR, Urt. v. 17.04.2018, Nr. 21055/11 – Pirozzi v. Belgien. Darüber hinaus hatte eine Kammer des EGMR in ihrer Entscheidung in der Rs. Al-Dulimi die Bosphorus-Vermutung im Fall des auf der UN-Sicherheitsrats-Resolution Nr. 1483 (2003) beruhenden Irak-Sanktionsregimes mangels eines äquivalenter Grundrechtsschutz für widerlegt erachtet und im Ergebnis eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK angenommen. EGMR, Urt. v. 26.11.2013, Nr. 5809/08 – Al-Dulimi und Montana Management v. Schweiz. Das Urteil zutreffend dogmatisch in den Kontext des Solange-Grundsatzes einordnend: Sébastien Platon, The ‚Equivalent Protection Test‘. From European Union to United Nations, from Solange II to Solange I, EuConst 10

A. Der Solange-Grundsatz

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Im Grundsatz weist der Prüfungsansatz des EGMR deutliche Parallelen zu den Entscheidungen des BVerfG in Solange II und in Bananenmarkt auf. Danach haben Verfassungsbeschwerden und Gerichtsvorlagen keine Aussicht auf Erfolg, wenn sie nicht darlegen, dass die europäische Rechtsentwicklung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken ist. Allerdings bestehen Unterschiede hinsichtlich der Anforderungen an die Widerlegbarkeit der Vermutung: Das BVerfG fordert den Nachweis, „dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist“.80 Der Nachweis, dass der unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz in einem Einzelfall nicht gewährleistet ist, reicht dafür nicht. Der EGMR hingegen nimmt eine Einzelfallprüfung vor, wenn der Grundrechtsschutz durch die Institutionen der internationalen Organisationen „unter den Umständen des Einzelfalls […] offensichtlich unzureichend“ erscheint.81 Wie im Michaud-Urteil gesehen, ist dies bereits dann der Fall, wenn ein nationales Höchstgericht eine Vorlage an den EuGH verweigert und damit die Aktivierung des EU-Rechtsschutzsystem verhindert. 4. Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Kadi Das Kadi-Urteil des EuGH von 2008 macht ebenfalls von dem Solange-­Mechanismus Gebrauch.82 Diese Einordnung ist zwar nicht unumstritten.83 Das hängt damit zusammen, dass das Urteil, wie wir gesehen haben,84 durch einen dualistischen Ansatz gekennzeichnet ist, indem die Abgrenzung von  – anstatt die Auseinandersetzung mit – der Völkerrechtsordnung im Vordergrund steht. Es gibt aber auch einen Teil in dem Urteil, in dem sich der EuGH mit dem Verfahren vor dem UN-­Sanktionskomitee auseinandersetzt - der Solange-Teil des Kadi-Urteils.85 Hier betont der EuGH den gebotenen „Respekt[]“ gegenüber den „Organen der Vereinten Nationen“86 und registriert die vom Sicherheitsrat vorgenommenen Reformen im Verfahren des

(2014), 226 ff. Mittlerweile hat die Große Kammer des EGMR diese Kammerentscheidung jedoch durch das Urteil vom 21. Juli 2016 gem. Art. 43 EMRK verworfen. EGMR, Urt. v. 21.06.2016, Nr. 5809/08 – Al-Dulimi und Montana Management v. Schweiz. Siehe zu dem Urteil bereits oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I., 2., b. 80  BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarkt (2000). 81  EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nr. 45036/98 – Bosphorus v. Irland, NJW 2006, 197 (202), Rn. 156. 82  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461. 83  Skeptisch: Jörn Kämmerer, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall „Kadi“: Ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit?, EuR 2009, 114 (121 f.); Heiko Sauer, Rechtsschutz gegen völkerrechtsdeterminiertes Gemeinschaftsrecht?, NJW 2008, 3685 (3687). 84  Oben Dritter Teil, Kap. 16, A., II. 85  So André Nollkaemper, The European Courts and the Security Council, EJIL 20 (2009), 862 (863). 86  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 318.

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

­Sanktionskomitees anerkennend.87 Vor allem aber stellt der Gerichtshof eine Verbindung zwischen der Ausgestaltung dieses Verfahrens und einer richterlichen Kontrolle der – die Sicherheitsratsresolution inkorporierenden – Verordnung her. Eine Nichtjustiziabilität der Verordnung erscheint dem EuGH auch deshalb „nicht gerechtfertigt“, weil „das betreffende Verfahren der Überprüfung offenkundig nicht die Garantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes bietet“.88 Wenn aber die Unionsrechtsordnung autonom und unabhängig vom allgemeinen Völkerrecht ist, wieso kommt es dann überhaupt darauf an, wie das Verfahren vor dem UN-­Sanktionskomitee ausgestaltet ist? Hier zeigt sich nicht nur, dass die Prüfung der unionsrechtlichen Verordnung am Maßstab der Unionsgrundrechte nicht unabhängig von der Rechtslage im Völkerrecht, insbesondere dem defizitären Verfahren des Sanktionskomitees, vorgenommen werden kann.89 Dies deutet auch darauf hin, dass der EuGH Umfang und Dichte seiner Kontrolle von der Ausgestaltung dieses Verfahrens abhängig macht. Das Kadi-Urteil ist also auch „vermittelnd“, insoweit es durch die „Verwendung des Begriffs ‚gerechtfertigt‘ […] grundsätzlich die Möglichkeit zur Rücknahme seines Kontrollanspruchs zugunsten eines UN-Rechtsschutzsystems“ in Aussicht stellt.90 Der EuGH deutet damit sogar auf eine mögliche „Abweichung von dem im EG-­ Vertrag vorgesehenen System des gerichtlichen Rechtsschutzes der Grundrechte“ hin, soweit das Verfahren vor dem UN-Sanktionskomitee „die Garantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes bietet“.91 Weil aber die Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem „im Wesentlichen diplomatisch[] und zwischenstaatlich[]“ ausgestalteten Verfahren vor dem Sanktionskomitee „keine echte Möglichkeit haben, ihre Rechte zu verteidigen“,92 nimmt der EuGH – ganz ähnlich wie das BVerfG in Solange I oder der polnische Verfassungsgerichtshof in der Supronowicz-­ Entscheidung – „eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit“ der Verordnung am Maßstab der Unionsgrundrechte vor.93 Diesen Solange-Teil des EuGH-Urteils arbeitet das EuG in der zweiten Etappe der Kadi-Saga vor den europäischen Gerichten noch deutlicher heraus.94 Das EuG  Ebd., Rn. 320, 323.  Ebd., Rn. 322. 89  Jörn Kämmerer, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall „Kadi“: Ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit?, EuR 2009, 114 (120). 90  Kirsten Schmalenbach, Bedingt kooperationsbereit: Der Kontrollanspruch des EuGH bei gezielten Sanktionen der Vereinten Nationen, JZ 64 (2009), 35 (39). 91  EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461, Rn.  322. Darauf verweist Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (239). 92  EuGH, ebd., Rn. 323. 93  Ebd., Rn. 326. 94  Zu dieser zweiten Etappe kam es, weil der EuGH zwar die europäische Verordnung, die die Vorgaben der UN-Sicherheitsratsresolution in die europäische Rechtsordnung inkorporierte, für nichtig erklärt hatte, die Kommission aber anschließend Herrn Kadi Gelegenheit zur Stellungnahme gab, um diesen dann – zur Erfüllung der Verpflichtungen aus der Resolution – im Rahmen einer 87 88

A. Der Solange-Grundsatz

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folgte der Marschroute des EuGH, prüfte die angegriffene Verordnung vollumfänglich am Maßstab der Unionsgrundrechte und erklärte diese, soweit sie Kadi betraf, für nichtig.95 Nach Auffassung des EuG ist eine solche „‚grundsätzlich umfassende‘ Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verordnung im Hinblick auf die Grundrechte“96 geboten, „solange die vom Sanktionsausschuss geschaffenen Überprüfungsverfahren offenkundig nicht die Garantien eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes bieten“.97 Davon scheint das EuG vor allem deshalb auszugehen, weil „es der Sicherheitsrat noch immer nicht für angebracht gehalten [hat], ein unabhängiges und unparteiliches Organ zu schaffen, das in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht über Klagen gegen die Einzelfallentscheidungen des Sanktionsausschusses zu befinden hat“.98 5. Zwischenfazit Der Solange-Grundsatz zielt im Kern auf eine subsidiäre, abgestufte verfassungsgerichtliche Kontrolle des abgeleiteten Rechts inter- und supranationaler Organisationen. Das BVerfG hat diesen richterlichen Übertragungsmechanismus erstmals in seinem Solange I-Beschluss eingeführt. Darin beanspruchte das Gericht eine richterliche Kontrollbefugnis über europäische Rechtsakte, machte aber die Ausübung seiner Kontrolle von dem durch europäische Institutionen gewährleisteten Niveau des Grundrechtsschutzes abhängig. Dieses Solange-Muster übernahmen in der Folge mehrere nationale und europäische Verfassungs- und Obergerichte. Im Fragd-Urteil nahm die italienische Corte Costituzionale ihre Kontrolle der Rechtsschutzgewährleistung aus der italienischen Verfassung unter der Bedingung zurück, dass der EuGH einen umfassenden Rechtsschutz gewährleistet. Für die Zukunft stellte die Corte jedoch eine Ausübung ihrer Kontrolle in Aussicht, solange der EuGH seine Rechtsprechung zu den zeitlichen Wirkungen seiner Vorabentscheidungen nicht korrigierte. Der französische Conseil d’État wendete den Solange-­ Mechanismus in seiner Arcelor-Entscheidung an, in der er die Ausübung seiner Kontrollfunktion bzw. seiner Prüfungsdichte vom Niveau des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene abhängig machte. Im Bosphorus-Urteil beschränkte der EGMR seine Kontrolle staatlicher Rechtsakte, die das EU-Recht inkorporieren, auf solche Fälle, in denen kein äquivalenter Grundrechtsschutz besteht. Dazu zählen

Änderung der Verordnung 881/2002 durch die Verordnung 1190/2008 erneut auf die Terroristen-Liste zu setzen. Diese erneute Listung griff Kadi wiederum mit der Nichtigkeitsklage vor dem EuG an. Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (238 ff.). 95  EuG, Urt. v. 30.09.2010, Rs. T-85/09 – Kadi v. Kommission („Kadi II“), ECLI:EU:T:2010:418. 96  Ebd., Rn. 126. 97  Ebd., Rn. 127. 98  EuG, Urt. v. 30.09.2010, Rs. T-85/09 – Kadi v. Kommission („Kadi II“), ECLI:EU:T:2010:418, Rn. 128.

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

nach dem Michaud-Urteil des EGMR auch Fälle, in denen nationale Höchstgerichte die Entfaltung des vollen Potenzials des EU-Rechtsschutzsystems verhindern, indem sie die Einbindung des EuGH mittels einer Vorlage verweigern. Der polnische Verfassungsgerichtshof griff die Solange-Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR in seiner Supronowicz-Entscheidung ausdrücklich auf und stellte in Aussicht, EU-Rechtsakte in der polnischen Rechtsordnung unangewendet zu lassen, die hinter dem von der Verfassung geforderten Grundrechtsschutz zurückbleiben. Schließlich enthält auch das Kadi-Urteil des EuGH einen Solange-Teil, insoweit der Gerichtshof eine Verbindung zwischen der Ausgestaltung des Verfahrens des UN-Sanktionskomitees und einer richterlichen Kontrolle der inkorporierenden EU-Verordnung herstellt. Zwischen diesen rechtsordnungsübergreifenden Anwendungen des Solange-­ Mechanismus bestehen Unterschiede beim Umfang und bei der Aktivierbarkeit der gerichtlichen Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht in Solange I, der EuGH in Kadi und der polnische Verfassungsgerichtshof im Supronowicz-Fall nehmen in ihren Entscheidungen eine umfassende Prüfung am Maßstab der rechtsordnungseigenen Grundrechte vor. Dagegen beschränken sich das BVerfG in Bananenmarkt, der EGMR in Bosphorus und der Conseil d’État in Arcelor auf eine Reservejurisdiktion, solange ein äquivalenter Grundrechtsschutz durch inter- und supranationale Institutionen gewährleistet wird. Auch hinsichtlich der Aktivierbarkeit der Kon­ trolle haben sich Unterschiede gezeigt: Während das BVerfG in Bananenmarkt entschieden hat, dass es seine Kontrolle nur bei Systemfehlern ausübt, also wenn der „unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist“,99 lässt sich nach den Entscheidungen des Conseil d’État in Arcelor, des EGMR in Bosphorus und des polnischen Verfassungsgerichtshofs in Supronowicz die Kontrolle bereits durch Darlegung eines Absinkens des verfassungsrechtlich erforderlichen Grundrechtsschutzes im Einzelfall aktivieren.

I I. Analyse: Der Solange-Mechanismus als Baustein für die vernetzte Weltordnung Unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung entsteht das folgende Dilemma: Zum einen wollen wir, dass inter- und supranationale Institutionen zur Bewältigung grenzüberschreitender Probleme einheitliche Regelungen für eine Vielzahl von Mitgliedstaaten treffen, zum anderen sollen nationale  – oder auch europäische  – Institutionen demokratisch-rechtsstaatliche Errungenschaften sichern. Wenn nun inter- und supranationale Institutionen einerseits auf der einheitlichen Anwendung ihrer Regeln in den Mitgliedstaaten bestehen, andererseits rechtsordnungsfremde Verfassungsgerichte auf der Kontrolle dieser Regeln am Maßstab ihrer Verfassungsprinzipien beharren, dann wird die Entstehung von

99

 BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarkt (2000).

A. Der Solange-Grundsatz

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r­echtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten umso wahrscheinlicher, je größer die Diskrepanz zwischen den konstitutionalistischen Maßstäben der verschiedenen Rechtsordnungen ist. Der Solange-Mechanismus stellt einen Ausweg aus diesem Dilemma dar: Mit der Solange-Formel signalisieren Verfassungsgerichte inkorporierender Rechtsordnungen, dass sie von einer eigenen umfassenden Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts absehen, solange die konstitutionalistischen Maßstäbe dieser Rechtsordnungen denen der eigenen Rechtsordnung im Wesentlichen gleichzuachten sind. Die Kontrolle wird zunächst den rechtsordnungsfremden Institutionen überlassen, aber nur, wenn sie diese Kontrolle adäquat, also unter Berücksichtigung der Verfassungsprinzipien der inkorporierenden Rechts­ ordnung, ausüben. Im Folgenden soll der Solange-Mechanismus in drei Schritten näher in den Blick genommen werden: Zunächst wird die Idee von „Solange“, also die konzeptionelle Funktionsweise dieses richterlichen Mechanismus, analysiert (1.), um anschließend anhand von Fallstudien zu untersuchen, ob und auf welche Weise der Solange-­ Mechanismus in der Praxis tatsächlich zur Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien von der eigenen auf eine andere Rechtsordnung beiträgt (2.). Dadurch soll die Komplexität des Übertragungsprozesses, der in ein größeres politisch-­ institutionelles Umfeld eingebettet ist und natürlich auch nicht-gerichtliche Akteure umfasst, zumindest angedeutet werden. Auf der Grundlage dieser Fallstudien soll dann in einem letzten Schritt erörtert werden, wie der Solange-Grundsatz dogmatisch ausgestaltet werden soll und welche Unterschiede sich durch verschiedene dogmatische Konstruktionen ergeben (3.). 1 . Die Idee von „Solange“: Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien nach der „Zuckerbrot und Peitsche“-Methode „Solange“ ist ein passender Rechenschaftspflicht-Mechanismus für rechtsordnungsübergreifende Zusammenhänge. Das accountability-Konzept beruht, wie bereits dargelegt wurde,100 auf der Prämisse, dass die Aussicht eines Rechenschaftspflichtigen, gegenüber einer anderen Person Rechenschaft ablegen zu müssen, die bei negativer Bewertung den Rechenschaftspflichtigen sanktionieren kann, bei diesem Anreize schafft, die Interessen der anderen Person zu berücksichtigen.101 In der Solange-Konstellation sind der EuGH im Verhältnis zum EGMR und zu mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Obergerichten, wie dem Bundesverfassungsgericht, dem polnischen Verfassungsgerichtshof, der italienischen Corte Costituzionale und dem französischen Conseil d’État, ebenso rechenschaftspflichtig wie der UN-­ Sicherheitsrat im Verhältnis zum EuGH und zum EuG. Weil für diese Institutionen die Inkorporation ihrer Rechtsakte in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen von essenzieller Bedeutung ist, stellt die Kontrolle und potenzielle Nichtanwendung  Oben Erster Teil, Kap. 6, A., II.  Vgl. Mark Bovens/Robert Goodin/Thomas Schillemans, Public Accountability, in: dies. (Hrsg.), The Oxford Handbook Public Accountability, 2014, 1 (6).

100 101

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

i­ hrer Rechtsakte eine Form der Sanktion dar, die durch die Solange-Formel in Aussicht gestellt wird. Dadurch schafft der Solange-Mechanismus Anreize für diese Institutionen, die von den Verfassungsgerichten inkorporierender Rechtsordnungen eingeforderten Verfassungsprinzipien zu berücksichtigen, um die Sanktion einer umfassenden Kontrolle der Rechtsakte ihrer Rechtsordnung zu vermeiden. Allerdings droht der Solange-Mechanismus nicht nur mit „negativen“ Sanktionen, sondern umgekehrt wird auch die erwünschte Berücksichtigung konstitutionalistischer Prinzipien dadurch belohnt, dass das Gericht seinen Kontrollanspruch zurücknimmt und von einer eigenen umfassenden Kontrolle absieht. Diese Aussicht auf eine Absenkung der Kontrollintensität schafft zusätzliche Anreize für die rechenschaftspflichtigen Institutionen der rechtssetzenden Rechtsordnung, auf die Forderungen der Institutionen der inkorporierenden Rechtsordnung einzugehen. Mit dem Solange-Mechanismus kann, in Reaktion auf die Entscheidungspraxis der rechenschaftspflichtigen Institutionen nach der „Zuckerbrot und Peitsche“-Methode, gezielt positives Feedback (Absenkung der Kontrollintensität) oder negatives Feedback (Erhöhung der Absenkung der Kontrollintensität oder sogar Nichtanwendung von Rechtsakten) gegeben werden. In der vernetzten Weltordnung, in der die Koordination der divergierenden Logiken und Weltanschauungen verschiedener Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen eine zentrale Herausforderung darstellt, lässt sich der Solange-­ Mechanismus als richterliche Koordinierungstechnik verstehen.102 Durch die Verwendung dieses Rechenschaftspflicht-Mechanismus wird ein komplexer rechtsordnungsübergreifender Verhandlungsprozess zwischen den Gerichten und Institutionen verschiedener Rechtsordnungen in Gang gesetzt. Dieser bietet den Rahmen für einen konstitutionellen Dialog zu der Frage, inwieweit die Institutionen der rechtssetzenden Rechtsordnung die Belange der inkorporierenden Rechtsordnung berücksichtigen müssen bzw. inwieweit die Institutionen der inkorporierenden Rechtsordnung die Entscheidungskompetenzen der rechtssetzenden Rechtsordnung akzeptieren müssen. Im Idealfall resultiert dieser Prozess in der Herausbildung eines normativen Grundkonsenses über gemeinsame Verfassungsprinzipien. Damit stellt der Solange-Mechanismus auch ein probates Mittel gegen die Fragmentierungstendenzen in der vernetzten Weltordnung dar.103 Denn er schafft Anreize dafür, dass die der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbundenen Institutionen die konstitutionalistischen Belange der inkorporierenden Rechtsordnung beachten und wirkt somit integrierend auf die auseinanderdriftenden Rationalitäten ein. Ein wichtiger Faktor dürfte dabei sein, dass das Verfassungsgericht, also das BVerfG in Solange I oder der EuGH in Kadi, einen rechtsordnungseigenen Kon­ trollmaßstab anwendet. Damit respektiert es die  – für Netzwerkbeziehungen  In diese Richtung auch Nikolaos Lavranos, The Solange-Method as a Tool for Regulating Competing Jurisdictions Among International Courts and Tribunals, Loy. L.A. Int’l & Comp. L. Rev. 30 (2008), 275 ff.; August Reinisch, Should Judges Second-Guess the UN Security Council?, IOLR 6 (2009) 257 (287 ff.). 103  Zur Fragmentierung des inter- und supranationalen Rechts: Oben Erster Teil, Kap. 2, F. 102

A. Der Solange-Grundsatz

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e­ ssenzielle – Autonomie des institutionellen Gegenparts, also des EuGH in Solange I oder des UN-Sicherheitsrats in Kadi.104 Zwar zielen die Verfassungsgerichte der inkorporierenden Rechtsordnung durch das Inaussichtstellen einer Sanktion darauf ab, die Institutionen der rechtssetzenden Rechtsordnung zu Änderungen in ihrer Entscheidungspraxis zu bewegen. Dabei beschränken sie sich im Fall der Fälle jedoch darauf, die Unvereinbarkeit eines rechtsordnungsfremden Rechtsakts mit den rechtsordnungseigenen Verfassungsprinzipien festzustellen und überlassen damit den rechtsordnungsfremden Institutionen die Entscheidung darüber, durch welche Veränderungen in ihren Rechtsordnungen sie eine Vereinbarkeit herstellen können, um das Verfassungsgericht von der erstrebten Inkorporation des strittigen Rechtsakts zu überzeugen. Den rechenschaftspflichtigen Institutionen wird also keine bestimmte Lösung oktroyiert, sondern es wird ein Handlungsdruck erzeugt und damit ein ergebnisoffener Prozess der Übertragung rechtsordnungseigener verfassungsrechtlicher Prinzipien auf die rechtssetzende Rechtsordnung initiiert. Der Solange-Mechanismus eignet sich auch deshalb für diese komplexen Koordinationsaufgaben der vernetzten Weltordnung, weil es sich um ein flexibles Instrument handelt, das stets auf die Reformbemühungen der rechenschaftspflichtigen Institutionen einer anderen Rechtsordnung angepasst werden kann.105 Das zeigt schon das Beispiel der Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das ursprünglich die Verabschiedung eines parlamentarischen Grundrechtskataloges forderte, sich dann aber mit der entschlossenen Grundrechtsrechtsprechung des EuGH zufrieden gab und in der Folge seine Kontrolle über europäische Sekundärrechtsakte auf eine Reservezuständigkeit beschränkte.106 Dazu kommt, dass der Solange-­Mechanismus als jurisdiktionelle Kompetenzverteilungsregelung auch zur Vermeidung von unnötigen richterlichen Doppel- und Mehrfachprüfungen und damit zur rechtsordnungsübergreifenden verfahrensökonomischen Arbeitsteilung beitragen kann.107 Es handelt sich um einen abgestuften Kontrollmechanismus, denn mit der Verwendung der Solange-Formel bringt ein Gericht zum Ausdruck, dass Art und Umfang seiner Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts von der Berücksichtigung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Belange durch die rechtsordnungsfremden Institutionen abhängig sind. 2 . Der Solange-Mechanismus in der Praxis: Der Prozess der Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien Der Solange-Mechanismus überzeugt in der Theorie. Aber bewirkt er auch in der Praxis die – von den Verfassungsgerichten angestrebte – Berücksichtigung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Belange durch rechtsordnungsfremde  Vgl. oben Dritter Teil, Kap. 16, B.  Nikolaos Lavranos, The Solange-Method as a Tool for Regulating Competing Jurisdictions Among International Courts and Tribunals, Loy. L.A. Int’l & Comp. L. Rev. 30 (2008), 275 (323). 106  Ebd. 107  Vgl. zu diesem Aspekt ebd., 275 ff. 104 105

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

I­ nstitutionen? Lassen sich Institutionen wie der EuGH oder der UN-Sicherheitsrat durch die Kontestationen rechtsordnungsfremder Gerichte tatsächlich beeinflussen? Diese Fragen sind von ganz entscheidender Bedeutung, nicht nur für die vernetzte Weltordnung, sondern für zahlreiche rechtswissenschaftliche Konzeptionen, die die Interaktion zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen in den Mittelpunkt stellen. Denn wenn der EuGH oder der UN-Sicherheitsrat aufgrund ihrer institutionellen Rolle als Repräsentanten einer Organisation, die eine Vielzahl von Mitgliedstaaten umfasst, institutionell daran gehindert sind, die Kontestationen der Verfassungsgerichte einzelner Mitgliedstaaten zu berücksichtigen oder gar als Anlass für Änderungen ihrer Entscheidungspraxis zu nehmen, dann werden grundlegende Prämissen pluralistischer Konzeptionen infrage gestellt. Dann verursacht die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts vor allem Kosten in Form von Rechtsunsicherheit, ohne im Gegenzug auf der Habenseite konstitutionalistische Belange in inter- und supranationale Entscheidungsprozesse einzuspeisen. Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass eine eingehendere Auseinandersetzung mit den Wirkungen des Solange-Mechanismus in der rechtswissenschaftlichen Literatur bislang unterblieben ist. So wichtig diese Fragen erscheinen, so wenig sind sie behandelt worden. Die große Mehrheit der Abhandlungen, die den Solange-Mechanismus thematisieren, beschränkt sich bestenfalls auf ein paar kurze Sätze, in denen eine Kausalität zwischen der Solange-Rechtsprechung des BVerfG und der Grundrechtsjudikatur des EuGH unterstellt wird.108 Dies deutet daraufhin, dass eine Vielzahl von Argumenten und Erwägungen der vorgeblich normativen Sollenswissenschaft des Rechts auf ungeprüften empirischen Grundannahmen  Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (62): „Schließlich kann konstruktiver Widerstand gegen illegitimes internationales Recht dessen Konstitutionalisierung befördern. So führte bekanntlich die Solange-Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Anerkennung und schließlich Kodifizierung von EU-Grundrechten. Die Kadi-Entscheidung des EuGH setzte zusätzlichen Druck gegenüber dem Sicherheitsrat auf, was möglicherweise zur Einrichtung der Ombudsstelle für gezielte Sanktionen beitrug.“; Albert Bleckmann, Europarecht, 1987, 400: „[D]er EuGH [hat] nur durch das ständige ‚Damoklesschwert‘ der drohenden Kontrolle durch die nationalen Gerichte seine Rechtsauffassung entwickelt.“; Hans Peter Ipsen, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, EuR 1994, 1 (9): „Echte Kooperation zwischen beiden Gerichten hat sich erwiesen und bewährt, als die Karlsruher Richter den Gerichtshof mit seiner stringenten Weigerung, Grundrechtsbeeinträchtigungen von Marktbürgern durch Gemeinschaftsrecht auch nur zur Kenntnis zu nehmen, durch ihre Grundrechts-Judikatur zum Grundrechtsbewußtsein bekehrten und damit letztlich sogar eine proklamierte Grundrechts-Aufrüstung aller Gemeinschaftsorgane herbeiführten.“; Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuR 2006, 79 (79): „Der EuGH hat vor allem auch wegen der so genannten So-Lange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Laufe der Zeit den Grundrechtsschutz in das EG-Recht mit einbezogen.“; Jutta Limbach, Das Bundesverfassungsgericht und der Grundrechtsschutz in Europa, NJW 2001, 2913 (2916): „Getreu seinem Ethos als Bürgergericht hat das BVerfG eine Lanze für den Grundrechtsschutz auch in der Europäischen Gemeinschaft zu brechen versucht. Es hat deutlich gemacht, dass es Aufgabe der Gerichte sei, den Schutz der Freiheitsrechte im Einzelfall sicherzustellen, gleichgültig, ob eine nationale oder eine supranationale öffentliche Gewalt in diese eingreife. Der EuGH hat sich das nicht zweimal sagen lassen und hat diese Herausforderung angenommen.“

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A. Der Solange-Grundsatz

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b­ eruhen. Denn die normative Frage nach den besten verfassungsgerichtlichen Übertragungsmechanismen gegenüber Institutionen anderer Rechtsordnungen beruht maßgeblich auf der empirischen Frage, ob die Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts rechtsordnungsfremde Institutionen tatsächlich zu einer Änderung ihrer Entscheidungspraxis veranlasst hat.109 Dieser Frage soll in zwei Schritten nachgegangen werden: Zuerst sollen die Auswirkungen des Solange-Mechanismus auf die Entscheidungspraxis der rechenschaftspflichtigen rechtsordnungsfremden interund supranationalen Institutionen beleuchtet werden (a.), um dann die Erwiderung des Verfassungsgerichts auf die (veränderte oder nicht veränderte) Entscheidungspraxis in den Blick zu nehmen (b.). a. Die Auswirkungen des Solange-Mechanismus auf rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Institutionen Die Auswirkungen des Solange-Mechanismus auf rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Institutionen werden exemplarisch am Beispiel der zwei folgenden Fallstudien untersucht: Zum einen anhand der Reaktion europäischer Institutionen auf den Solange I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (aa.), zum anderen anhand der Reaktion des UN-Sicherheitsrats auf die Kadi-Urteile des EuGH und des EuG (bb.).110  Zur Bedeutung empirischer Fragen für normative Entscheidungen im Kontext des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: Niels Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, 78 ff. 110  In anderen Zusammenhängen zeigt sich ebenfalls, dass mit dem Solange-Mechanismus Veränderungen in der Entscheidungspraxis rechtsordnungsfremder Institutionen bewirkt werden können. In seinem Fragd-Urteil hatte die italienische Corte Costituzionale, wie wir gesehen haben, eine Kontrolle des Unionsrechts am Maßstab der Rechtsschutzgewährleistungen der italienischen Verfassung für den Fall in Aussicht gestellt, dass der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Beschränkung der zeitlichen Geltung seiner Vorabentscheidungen weiterhin ausschließt, dass sich selbst die Parteien des Ausgangsverfahrens auf die Nichtigerklärung einer Verordnung berufen können. Siehe Corte Costituzionale, Entsch. v. 13.04.1989, Nr. 232/1989 – Spa Fragd v. Ministro delle Finanze. Seitdem Fragd-Urteil aber schließt der EuGH Ansprüche der Parteien des Ausgangsverfahrens nicht mehr aus. Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 170 f.; Thomas Kröll, Der letzte (?) Schritt auf dem cammino comunitario der Consulta: Die Corte costituzionale im direkten Dialog mit Luxemburg, ZfV 2011, 162 (165 f.). In einer etwas anders gelagerten Konstellation lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Rechtsprechung des EGMR und der Entscheidungspraxis des EuG in Senator Lines erkennen. Dieser Rechtssache lag die Beschwerde einer deutschen Reederei gegen eine von der EU-Kommission verhängte Geldbuße in Höhe von 13,75 Millionen ECU zugrunde. Dabei rügte die Beschwerdeführerin im März 2000 vor dem EGMR eine Verletzung ihres Konventionsrechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK durch die Entscheidung des EuG im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, sie nicht von dem Erfordernis der Beibringung einer Bankgarantie zu befreien, obwohl ihr dadurch schon im vorläufigen Rechtsschutz die Insolvenz drohte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der EGMR in Cantoni und in Matthews bereits einen mittelbaren Kontrollanspruch über das europäische Unionsrecht erhoben. Nachdem der EGMR das Verfahren wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung an die Große Kammer verwiesen und eine mündliche Verhandlung angesetzt hatte, hob das EuG wenige Wochen vor diese Termin die Geldbuße auf und entzog dem Verfahren vor dem EGMR damit seinen Grund. Dazu instruktiv Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, 312 ff. 109

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

aa. Die Reaktion europäischer Institutionen auf den Solange I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Einen kausalen Zusammenhang zwischen der Solange-Rechtsprechung des BVerfG und der Grundrechtsjudikatur des EuGH bestreitet insbesondere der ehemalige EuGH-Richter Ulrich Everling. Nach seiner Überzeugung handelt es sich bei der These, dass „der Gerichtshof seine Grundrechtsrechtsprechung unter dem Damoklesschwert des Solange I-Beschlusses entwickelt habe“, um eine „weit verbreitete[] Legende“.111 Für seinen Standpunkt führt Everling im Wesentlichen drei Argumente an: Erstens verweist er auf die Chronologie der Rechtsprechung des EuGH, der bereits 1969 in Stauder, 1970 in Internationale Handelsgesellschaft und am 14. Mai 1974  in Nold, zwei Wochen vor dem Solange I-Beschluss vom 29. Mai 1974, Grundrechte im Zuge richterlicher Rechtsfortbildung als ungeschriebene ­allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anerkannt hatte. Weil diese Grundrechtsrechtsprechung „viel früher [als Solange I] eingeleitet“ worden war, ist nach Everling die Behauptung eines kausalen Zusammenhangs „historisch falsch“.112 Zweitens beruft sich Everling auf den Ethos der EuGH-Richter, die „sich durch Drohungen […] nicht beeindrucken“ ließen und nach seiner Erfahrung auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht niemals „erschreckt oder eingeschüchtert“ reagierten hätten.113 Vielmehr würden „Ankündigungen einer Verweigerungshaltung“ vor dem Gerichtshof „eher kontraproduktiv“ wirken.114 Dieser Aspekt, der an die Bedeutung eines konstruktiven, sachorientierten Dialogs in Netzwerkzusammenhängen erinnert,115 wirft die Frage auf, ob die ­Androhung einer Sanktion in Form der Nichtanwendung des Unionsrechts überhaupt eine ziel Ulrich Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, 57 (74). An anderer Stelle schreibt Everling, man solle nicht „den Eindruck überschätzen, den Urteile nationaler Gerichte selbst höchsten Ranges auf aus anderen Mitgliedstaaten stammende Richter des Gerichtshofs ausüben“. Der Gerichtshof schütze „die Grundrechte aus eigenem Antrieb“, er müsse „nicht durch einen praeceptor auf dem Pfade der Tugend gehalten werden“. Siehe Ulrich Everling, Brauchen wir „Solange III“? – Zu den Forderungen nach Revision der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts –, EuR 1990, 195 (210). 112  Ulrich Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, 57 (74). So auch Brun-Otto Bryde, The ECJ’s fundamental rights jurisprudence – a milestone in transnational constitutionalism, in: Miguel Maduro/Loïc Azoulai (Hrsg.), The Past and Future of EU Law, 2010, 119 (120): „Unfortunately, this narrative does not fit with the sequence of events.“ Der föderalistisch-orientierte ehemalige Bundesverfassungsrichter Bryde trägt dieses Argument noch ein Stück weiter und beharrt darauf, dass infolge der Solange-Saga nicht der EuGH, sondern das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung geändert habe. Denn europäische Grundrechte habe der Gerichtshof bereits vor dem Solange I-Beschluss durch Stauder, Internationale Handelsgesellschaft und Nold gewährleistet, hingegen habe sich das Bundesverfassungsgericht in Solange II von seiner Forderung eines geschriebenen europäischen Grundrechtskatalogs verabschieden müssen. Ebd. 113  Ulrich Everling, ebd., 74. 114  Ebd., 75. 115  Oben Erster Teil, Kap. 6, D. 111

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führende Form der rechtsordnungsübergreifenden Interaktion sein kann. Das haben insbesondere zeitgenössische Kritiker des Solange I-Beschlusses angezweifelt, denen zufolge es besser gewesen wäre, wenn das BVerfG nur „eine Bemühungspflicht der Bundesregierung und aller deutschen Staatsorgane“ statuiert hätte, um auf eine Verbesserung des Grundrechtsschutzes durch europäische Institutionen hinzuwirken.116 In der Argumentation von Everling lässt sich drittens ein Hinweis auf die institutionelle Rolle des EuGH als Repräsentant des Unionsinteresses entdecken. Danach kann dieser schon deshalb nicht auf die Forderungen der Verfassungsgerichte einzelner Mitgliedstaaten eingehen, weil er die Verpflichtung habe, die Belange aller Mitgliedstaaten gleichermaßen zu berücksichtigen.117 Wir können nicht mit Sicherheit wissen, was in den Köpfen der EuGH-Richter vorging, aus welchen Motiven sie ihre Grundrechtsrechtsprechung entwickelt haben und welche Rolle dabei die Solange I-Entscheidung des BVerfG gespielt hat. Eine sorgfältige Analyse des historischen Kontexts legt jedoch nahe, dass der Solange I-Beschluss nicht nur die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH maßgeblich beeinflusst hat. Vielmehr hat sich der Beschluss auch auf die Berücksichtigung von Grundrechtsbelangen durch die Europäische Union insgesamt ausgewirkt. Das zeigt insbesondere die von Bill Davies durchgeführte umfangreiche historische Rekonstruktion des gerichtlichen Widerstandes in Deutschland gegen das Unionsrecht und den EuGH,118 auf die im Folgenden Bezug genommen wird. Der Solange I-Beschluss des BVerfG war gezielt darauf ausgerichtet, Reformen im europäischen Grundrechtsschutzregime zu bewirken.119 Im Rückblick erwies  Jochen Abr. Frowein, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Bundesverfassungsgericht, in: Christian Starck (Hrsg.), FS BVerfG, Bd. I, 1976, 187 (205). In diese Richtung auch Hans Peter Ipsen, BVerfG versus EuGH re „Grundrechte“, EuR 1975, 1 ff., der für eine „Aufforderung an die zuständigen politischen Instanzen“ plädiert, den „grundrechtlich noch nicht voll befriedigenden Rechtszustand[] durch Verwirklichung der seit langem proklamierten und beschlossenen Stärkung der Gemeinschaftsverfassung“ zu überwinden, ebd. 16, dabei aber nicht ausschließt, diesen einen „Appell“ mit einer „Sanktions-Androhung“ zu verkoppeln. Ebd., 19. 117  Ulrich Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, 57 (74): „Es verkennt vor allem aber die Haltung von Gemeinschaftsrichtern gegenüber Gerichten einzelner Mitgliedstaaten; Gemeinschaftsrichter, die von der Verantwortung für ihre Aufgabe durchdrungen sind.“ 118  Bill Davies, Resisting the European Court of Justice, 2012. Weiterführend auch Bill Davies, Resistance to European Law and Constitutional Identity in Germany: Herbert Kraus and Solange in its Intellectual Context, ELJ 21 (2015), 434 ff. 119  Ebd., 185: „[T]he court deliberately aimed to place pressure on the ECJ and the supranational institutions to improve rights protection and parliamentary representation to a standard equivalent to that at the national level.“ Siehe auch ebd., 88: „[I]t was the intention of the FCC to put this pressure on the ECJ.“ Diese Sichtweise belegt auch ein Interview des damaligen BVerfG-Präsidenten Benda im Anschluss an die Entscheidung, der in dieser „die Aufforderung an die politischen Kräfte“ erblickt, „den gegenwärtig vom Gericht als nicht voll befriedigend erachteten Zustand in einem Sinne zu verändern und zu verbessern, dass die vom Gericht geäußerten Bedenken für die Zukunft entfallen konnten“. Deutsche Welle, Interview mit Ernst Benda v. 09.04.1975, zitiert, in: Bill Davies, ebd., 132 f. Benda war Vorsitzender Richter im Ersten Senat. Solange I wurde vom Zweiten Senat entschieden. 116

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sich diese Strategie als erfolgreich, auch wenn sicherlich nicht alles so lief, wie es sich die Bundesverfassungsrichter vorgestellt hatten. Es ist zweifelhaft, ob die Richter in Karlsruhe mit den heftigen Reaktionen auf ihre Entscheidung rechneten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass Verfassungsgerichtsentscheidungen in einem größeren gesellschaftlichen Kontext wirken und sich dementsprechend die Kausalitäten zwischen der verfassungsgerichtlichen Verwendung des Solange-Mechanismus einerseits und den Reaktionen rechtsordnungsfremder Institutionen andererseits als äußerst komplex darstellen. Es wäre daher irreführend, die Wirkungen des Solange-Mechanismus auf ein simplistisches ­ Reiz-Reaktions-Schema zu reduzieren und anzunehmen, dass eine konkrete verfassungsgerichtliche Forderung wie selbstverständlich unmittelbar eins-zu-eins umgesetzt wird. Das zeigt schon das Schicksal der Forderung des BVerfG in Solange I nach einem „von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden“ Grundrechtskatalog. Diese wurde durch den Vertrag von Lissabon erst zu einem Zeitpunkt erfüllt, als das Gericht die Forderung bereits aufgegeben hatte. Dennoch war die Forderung, wie wir noch sehen werden, prägend für das Handeln der europäischen Institutionen. Denn dahinter steckten ernsthafte – sich rückblickend nicht bestätigende  – Zweifel der Bundesverfassungsrichter, wie ein wirksamer Grundrechtsschutz ohne geschriebene Grundrechtsbestimmungen gewährleistet werden kann, die letztlich durch eine starke Orientierung des EuGH an der EMRK zerstreut wurden. Führt man sich die Komplexität der Wirkungen des Solange-Mechanismus einmal vor Augen, wird auch klar, warum sich mit dem einfachen Hinweis auf die Chronologie zwischen den EuGH-Urteilen in Stauder, Internationale Handelsgesellschaft und Nold einerseits und der zeitlich nachfolgenden Entscheidung in Solange I andererseits die These nicht widerlegen lässt, dass der Solange I-Beschluss des BVerfG die Entscheidungspraxis des EuGH maßgeblich beeinflusst hat. Denn damit ist nicht gemeint und kann nicht gemeint sein, dass Solange I den EuGH ­überhaupt erst dazu veranlasst hat, Grundrechtsbelange zu berücksichtigen. Dahingegen lässt sich schwer widerlegen, dass die Ende der 1960er und Anfang der 1970er aufkommende Grundrechtsrechtsprechung des EuGH eine Reaktion auf den wachsenden Widerstand von unterinstanzlichen Gerichten und von Teilen des rechtswissenschaftlichen Schrifttums in Deutschland gegen den unzureichenden Grundrechtsschutz durch europäische Institutionen war,120 der schließlich im Solange I-Beschluss des BVerfG kulminierte.121

 Diese Einschätzung bekundete auch der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Benda: „Daß in den Entscheidungen der letzten Jahre mindestens das Bemühen des EuGH sichtbar wird, durch die Anerkennung und Entwicklung der allen europäischen Ländern gemeinsamen Rechtsgrundsätze zu einem wirksameren Grundrechtsschutz zu gelangen, beruht zu einem wesentlichen Teil auf der Kritik, die gegen die recht schroffe und alle Erwägungen aus unserem Grundrechtsverständnis abweisende frühere Rechtsprechung gerade von deutschen Gerichten geäußert worden ist. Der Ausbau der rechtsstaatlichen Struktur der Europäischen Gemeinschaft ist daher auch ein Verdienst der nationalen Gerichte.“ Ernst Benda/Eckart Klein, Das Spannungsverhältnis von Grundrechten und übernationalem Recht, DVBl. 1974, 389 (396). 121  So auch Alec Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, 171: „[T]he move (to fundamental rights protection), however, was not voluntary. An incipient rebellion against supremacy, led by national courts, drove the process.“ 120

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Diese These wird durch das folgende Narrativ belegt: In den ersten Jahren seines Bestehens betrachtete der EuGH den Schutz von Grundrechten nicht als seine ­Aufgabe. Zwar stand der Grundrechtsschutz in der Gründungsphase der Europä­ ischen Gemeinschaften sehr wohl auf der politischen Agenda. Insbesondere E ­ ntwürfe zur letztlich gescheiterten Europäischen Politischen Gemeinschaft Anfang der 1950er-Jahren enthielten ein bemerkenswert anspruchsvolles Grundrechtsregime.122 Dennoch entschieden sich die europäischen Gründungsmütter und -väter in den Römischen Verträgen aus pragmatischen Gründen letztlich gegen Bestimmungen zum Grundrechtsschutz. Nach dieser Grundentscheidung der mitgliedstaatlichen Prinzipale richtete sich der EuGH als neueingesetzter Agent zunächst.123 In seinen Urteilen in Stork und in Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften 1959 und 1960 betont der Gerichtshof noch, dass er nicht dazu befugt sei, für die Beachtung von Grundrechtspositionen Sorge zu tragen.124 Dieser Standpunkt geriet allerdings unter Druck, nachdem der EuGH, im Zuge seiner Konstitutionalisierung der europäischen Rechtsordnung, dem Gemeinschaftsrecht 1963 in Van Gend en Loos unmittelbare Wirkung und 1964 in Costa v. E.N.E.L. Vorrang vor nationalem Recht zugeschrieben hatte. Die Rechtsakte europäischer Institutionen erhielten dadurch ungefilterte Durchgriffsbefugnisse auf individuelle Grundrechtspositionen, ohne dass gleichzeitig adäquater Grundrechtsschutz gewährleistet wurde. Dagegen formierte sich entschiedener Widerstand nationaler Gerichte, der sich auch in kritisch formulierten Vorlagefragen an den EuGH äußerte.125 Der Gerichtshof registrierte, dass seine Vorrang-Rechtsprechung ohne europäischen Grundrechtsschutz von den mitgliedstaatlichen Gerichten dauerhaft nicht akzeptiert werden würde.126 Diesen Zusammenhang hat Stone Sweet auf  Dazu Gráinne de Búrca, The Road Not Taken: The European Union as a Global Human Rights Actor, AJIL 105 (2011), 649 ff. 123  Dazu bereits differenzierend: Oben Erster Teil, Kap. 2, C., II. 124  EuGH, Urt. v.  04.02.1959, Rs. C-1/58  – Stork, ECLI:EU:C:1959:4; Urt. v.  15.07.1960, Rs. C-36-38/59, 40/59  – Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften, ECLI:EU:C:1960:36, Slg.  1960, 891 (920 f.): „Der Gerichtshof ist […] nicht befugt, für die Beachtung solcher innerstaatlichen Vorschriften Sorge zu tragen, die in dem einen oder anderen Mitgliedstaat gelten, mag es sich hierbei auch um Verfassungsrechtssätze handeln. […]. [D]as Recht der Gemeinschaft, wie es im EGKS-Vertrag niedergelegt ist, [enthält] weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, daß ein erworbener Besitzstand nicht angetastet werden darf.“ 125  Siehe exemplarisch die Begründung des Vorlagebeschlusses des VG Stuttgart vom 18.06.1969, der zum Stauder-Urteil des EuGH führt: „Das Gericht geht […] davon aus, dass ein Teil des deutschen Grundrechtsschutzes nun von den EWG-Organen unter dem Aspekt des Schutzes des übergeordneten Gemeinschaftsrechts zu übernehmen ist […] würde hier die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht helfend eingreifen, dann wären die deutschen Gerichte ungeachtet aller rechtlichen Probleme auf die Dauer wohl doch genötigt, sich selbst Prüfungskompetenzen zuzubilligen“. Darauf verweist Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 48. 126  Diesen Eindruck bestätigt der Aufsatz des damaligen EuGH-Richters Pescatore: Pierre Pescatore, Les droits de l’homme de l’intégration européenne, Cahiers de droit européen 4 (1968), 629 ff. 122

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den Punkt gebracht: „Without supremacy, the ECJ had decided, the common market was doomed. And without a judicially enforceable charter of rights, national courts had decided, the supremacy doctrine was doomed.“ 127 Dabei kann dahingestellt bleiben, ob „der EuGH anfangs die Grundrechtsrelevanz der Befugnisse und Tätigkeiten der Gemeinschaftsorgane und damit die Grundrechtsdogmatik im Gemeinschaftsrecht unterschätzt“ hat,128 oder ob dem Gerichtshof als junge Institution zunächst der Mut gefehlt hat, durch richterliche Rechtsfortbildung ein europäisches Grundrechtsregime zu entwickeln, obwohl die Verträge keinerlei grundrechtliche Bestimmungen enthielten. Jedenfalls führte der Widerstand von unterinstanzlichen Gerichten und von Teilen des Schrifttums dem EuGH die Dringlichkeit des Anliegens nach europäischen Grundrechten vor Augen, und dürfte damit zu einem Umdenken gegenüber seinem in Stork und in Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften formulierten Standpunkt beigetragen haben. Folgerichtig fasst der Gerichtshof die Grundrechte in Stauder erstmals unter die „allgemeinen Grundsätze[] der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“.129 In Internationale Handelsgesellschaft betont der EuGH darüber hinaus, dass diese allgemeinen Rechtsgrundsätze, „von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein“ müssen, schränkt aber gleichzeitig ein, dass sich die Grundrechte „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“ müssen.130 Bedenkt man, dass die Römischen Verträge keine Grundrechtsbestimmungen enthalten, dann ist diese Rechtsprechung durchaus mutig. Vergleicht man sie hingegen insbesondere mit der späteren EuGH-Entscheidung in Hauer, dann handelt es sich nur um recht vage Proklamationen, die dazu in Internationale Handelsgesellschaft mit einer äußerst weitreichenden Interpretation des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts verbunden werden. ­Danach sollen selbst banale europäische Verordnungen Vorrang vor den „Strukturprinzipien der nationalen Verfassung“ haben.131 Der Solange I-Beschluss verlieh dem aufkeimenden europäischen Grundrechtsschutz eine andere Dynamik. Schon die Erwartung der Entscheidung dürfte sich auf das Nold-Urteil des EuGH ausgewirkt haben. In diesem Urteil zog der Gerichtshof, neben den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen, erstmals die EMRK als Rechtserkenntnisquelle heran. Obwohl Nold zwei Wochen vor Solange I verkündet wird, scheint das EuGH-Urteil bereits unter dem Eindruck der erwarteten Solange I-Entscheidung des BVerfG zu stehen. Dafür spricht, dass sich im Vorfeld der Entscheidung die Anzeichen für eine negative Beurteilung des BVerfG verdichtet hatten. In einem ausführlichen Interview erinnerte sich der damalige EuGH-Richter Pescatore, der auch der Berichterstatter in der Rechtssache Internationale Handels Alec Stone Sweet, The Judicial Construction of Europe, 2004, 89.  Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 48. 129  EuGH, Urt. v. 12.11.1969, Rs. C-29/69 – Stauder, ECLI:EU:C:1969:57, Rn. 7. 130   EuGH, Urt. v.  17.12.1970, Rs. C-11/70  – Internationale Handelsgesellschaft, ECLI:EU:C:1970:114, Rn. 4. 131  Ebd. 127 128

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gesellschaft war, dass er im Vorfeld der Solange-Entscheidung auf Bitten des EuGH-Präsidenten anlässlich einer Veranstaltung mit Richtern verschiedener Rechtsordnungen, einer „réunion de magistrats“, ein längeres Gespräch mit dem Berichterstatter der Solange-Rechtssache führte, dem Vorsitzenden des Zweiten Senats Walter Seuffert, um diesen vom Standpunkt des EuGH zu überzeugen.132 In dem Gespräch sei allerdings deutlich geworden, so Pescatore, dass dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt sein würde.133 In einem Aufsatz von 1972 hatte Seuffert das bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungsmonopol über nationale Grundrechtsbestimmungen bekräftigt und gewisse Grenzen für den Anwendungsanspruch des Gemeinschaftsrechts angedeutet.134 Vor diesem Hintergrund lässt sich das EuGH-­ Urteil in Nold als letzter Versuch verstehen, das BVerfG zu beschwichtigen.135 Darüber hinaus musste den EuGH bereits der Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt/Main gemäß Art. 100 Abs. 1 GG aus dem Jahr 1971 alarmieren, der in den Solange I-Beschluss mündete. Das Verwaltungsgericht ist ein entscheidender Akteur in dieser Solange-Saga: Die Entscheidungen des BVerfG in Solange I und des EuGH in Internationale Handelsgesellschaft gehen von derselben Rechtssache aus. Beiden Entscheidungen liegen Vorlagen des Verwaltungsgerichts zugrunde. Nachdem das Gericht bereits seine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 234 Abs. 1 AEUV mit kaum verhohlener Kritik an dessen Vorrang-Rechtsprechung in Costa v. E.N.E.L. garniert hatte,136 gab es in seiner Vorlage an das BVerfG seine – der EuGH-Entscheidung in Internationale Handelsgesellschaft eindeutig widersprechende  – Rechtsauffassung kund, dass das „Europäische Gemeinschaftsrecht […] auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft werden“ könne, weil ihm „nicht der Vorrang vor allem innerstaatlichen Recht“ gebühre. Außerdem hatte sich Anfang der 1970er-Jahre die Kritik im deutschen Schrifttum an dem durch die europäischen Institutionen gewährleisteten (oder besser: nicht gewährleisteten) Grundrechtsschutz sichtbar intensiviert.137

 Pierre Pescatore, Interview vom 12.11.2003, www.cvce.eu/obj/interview_de_pierre_pescatore_ les_arrets_marquants_de_la_cour_de_justice_1967_1985-fr-af2580a2-dea8-4165b9ed-14ea341021bd.html. Zugegriffen am 30.12.2019. 133  Ebd. Pescatore spricht davon, dass sein Gesprächspartner bereits einen vorgefertigten Standpunkt eingenommen hatte, „une idée préconçue dans la tête“. 134  Walter Seuffert, Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht, in: Adolf Arndt/Horst Ehmke/Iring Fetscher/Otwin Massing (Hrsg.), Konkretionen Politischer Theorie und Praxis, 1972, 169 (175). 135  Davies spricht von einem Versuch der „preemptive reconciliation“. Bill Davies, Resisting the European Court of Justice, 2012, 26. 136   Vgl. EuGH, Urt. v.  17.12.1970, Rs. C-11/70  – Internationale Handelsgesellschaft, ECLI:EU:C:1970:114, Slg. 1970, 1125 (1128): „Obwohl die Gemeinschaftsverordnungen keine deutschen Gesetze, sondern eigene Rechtsnormen der Gemeinschaft seien, müßten sie die durch das Grundgesetz garantierten elementaren Grundrechte und die wesentlichen Strukturprinzipien des nationalen Rechts beachten. Bei einem Verstoß gegen diese Prinzipien breche sich der Vorrang des übernationalen Rechts an den Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes.“ 137  Exemplarisch: Hans Rupp, Die Grundrechte und das Europäische Gemeinschaftsrecht, NJW 1970, 353 ff. 132

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Der Solange I-Beschluss des BVerfG schlug nach seiner Verkündung wie eine Bombe in die gemeinschaftsrechtlichen Institutionen ein und beförderte den europäischen Grundrechtsschutz an die Spitze der Prioritätenliste mehrerer europäischer Akteure.138 Davies schildert detailliert, wie der Solange I-Beschluss das Europä­ ische Parlament zu einer Untersuchung über die Folgen der Entscheidung139 und auch Bundeskanzler Schmidt zur Intervention veranlasste. Nach seiner Auffassung zeigten sich die europäischen Institutionen auffällig beeindruckt und entgegenkommend.140 Es erscheint, dass sie von echten Sorgen über den Fortbestand des – in den 1970er-Jahren kriselnden  – europäischen Integrationsprojekts angetrieben wurden,141 Als unmittelbare Reaktion auf die Entscheidung verabschiedeten das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission im April 1977 eine gemeinsame Erklärung über die Grundrechte, in der sie die wesentliche Bedeutung der Achtung der Grundrechte für die Gemeinschaftsorgane bezeugten und insbesondere den Stellenwert der EMRK hervorhoben.142 Die Geschichte dieser gemeinsamen Erklärung ist besonders instruktiv in Hinsicht auf die Wirkungen des Solange-Mechanismus: Wie Davies darlegt, sollte durch diese Erklärung die bundesverfassungsgerichtliche Bedingung eines par­ lamentarisch beschlossenen Grundrechtskataloges erfüllt werden.143 Während nach außen der Eindruck erweckt wird, dass die Erklärung auf die Initiative des Europäischen Parlaments zurückgeht, scheint diese ihren Ursprung in Wirklichkeit in einem Gespräch zwischen Bundeskanzler Schmidt und dem damaligen deutschen Generalanwalt Reischl zu haben,144 in dem diese das geeignete Vorgehen zur Beschwichtigung des BVerfG erörterten. Auch das vom EuGH 1979 verkündete Hauer-­Urteil ist nicht nur hinsichtlich „der Intensität der grundrechtsdogmatischen Erörterungen einzigartig“,145 sondern liest sich in Teilen auch wie eine Antwort auf  Nach der Überzeugung von Davies hatte Solange I „a lasting and formative impact on European governance“. Bill Davies, Resisting the European Court of Justice, 2012, 182. 139  Ebd., 194. 140  Davies spricht von einem „much more timid set of European institutions than we have come to expect, afraid of, in this particular case, West German recalcitrance and willing to reach important compromises in order to save face and garner support“. Ebd., 7. 141  Davies verweist auf ein Gutachten des deutschen Juristische Dienst der Kommission, in dem nach Davies vom „potential for the reasoning in the case to spread to other Member States“ und von “regular meetings of constitutional court judges across Europe as a point where the contagion might spread“ gesprochen wird, was unter allen Umständen verhindert werden müsse. Ebd., 188. In diesem Gutachten wird die Dammbruch-Rhetorik der Föderalisten sichtbar. Hierzu näher oben Zweiter Teil, Kap. 10, A., III. 142  Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 27.04.1977 über die Grundrechte, ABl. 1977 C 103, 1. Zudem verabschiedete der Europäische Rat am 08.04.1978 die Kopenhagener Erklärung zur Demokratie, EG-Bull. 3-1978, 5, und die Kommission schlug einen Beitritt der Gemeinschaften zur EMRK vor. Bill Davies, Resisting the European Court of Justice, 2012, 183. 143  Ebd., 196. 144  Ebd., 192 ff. 145  Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 65. 138

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die in Solange I artikulierten Bedenken. Einerseits warnt der Gerichtshof, dass die „Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaats abhängiger Beurteilungskriterien […] die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen [würde] und […] daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des Gemeinsamen Markts und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Gemeinschaft zur Folge [hätte]“,146 anderseits hebt er – unter Verweis auf die Gemeinsame Erklärung über die Grundrechte  – die Fortschritte im gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz hervor und versichert, dass „in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen […] [der Mitgliedstaaten] geschützten Grundrechten“.147 Die Betonung des Grundrechtsschutzes und die auffällige Intensität der Grundrechtsprüfung erscheinen auch deshalb als Reaktion auf die Solange-Rechtsprechung des BVerfG, weil nach der Überzeugung Pescatores damals die Grundrechtsbelange der Bürger der Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht überhaupt noch nicht ernsthaft auf dem Spiel standen148 – das deutet doch darauf hin, dass die Grundrechtsjurisprudenz des EuGH nicht in erster Linie aus eigenem Antrieb, sondern in Reaktion auf das BVerfG erfolgte.149 bb. Die Reaktion des UN-Sicherheitsrats auf die Kadi-Urteile des EuGH und des EuG Der Solange-Mechanismus erweist sich auch in anderen Zusammenhängen als ein Motor für konstitutionalistische Reformen. Wie rechtsordnungsfremde Gerichte inter- und supranationale Institutionen wirksam zu Änderungen ihrer Entscheidungspraxis antreiben können, zeigt die Interaktion zwischen den EU-Gerichten und dem UN-Sicherheitsrat in Hinsicht auf das 1267-Sanktionsregime.150 Obwohl diese Urteile für den UN-Sicherheitsrat rechtlich ebenso wenig verbindlich sind wie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für EU-Institutionen, geht von ihnen aufgrund der legitimen Autorität von Verfassungsgerichten in Grundrechtsfra EuGH, Urt. v. 13.12.1978, Rs. C-44/79 – Hauer, ECLI:EU:C:1979:290, Rn. 14.  Ebd., 3744 f. 148  Siehe Pierre Pescatore, Interview vom 12.11.2003. 149  Ebd. Dort heißt es: „[c]ette jurisprudence n’a pas été dévelopé pour veritablement defender les justiciables contre des attantes à leur droits fondamentaux, bien au contraire il apparaissent dans chaque cas que aucun droit fundamental n’était en cause, mail il fallait se defender à cette époque contre l’envahissement de la Cour Constitutionnelle Allemande et de la fameuse jurisprudence Solange.“ Vorsichtig in diesem Sinne auch Federico Mancini/David Keeling, Democracy and the European Court of Justice, Mod. L. Rev. 57 (1994), 175 (187): „It would be an exaggeration to say that the European Court was bulldozed into protecting fundamental rights by rebellious national courts. It is, however, clear that the Court did not embark upon that course in a spontaneous binge of judicial activism. [It is a] fact that the Court was forced to recognise fundamental rights in order to prevent the Community’s laws from being tested for compatibility with national constitutions […].“ Herv. Verf. 150  Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Kadi-Saga spielen auch die britischen Gerichte. Siehe insbesondere UK Supreme Court, Urt. v. 27.01.2010, UKSC 2 (2010) – Ahmed u. a. v. Her Majesty’s Treasury. 146 147

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gen ein erheblicher politischer Druck aus, der auch rechtsordnungsfremde Institutionen zu Reformen bewegen kann.151 Der Sicherheitsrat hat sein Sanktionsregime in Reaktion auf die Urteile rechtsordnungsfremder Gerichte über die Jahre schrittweise reformiert, um grundrechtlichen Belangen in dem Verfahren vor dem Sanktionskomitee größeres Gewicht zu verleihen. Gemessen an der ursprünglichen – rechtsstaatlich inakzeptablen – Ausgestaltung dieses Verfahrens hat der Sicherheitsrat die Rechte der gelisteten Personen auf Auskunft, auf Gehör und auf Prüfung durch ein unabhängiges und unparteiliches Organ signifikant gestärkt. Nach dem ersten Kadi-Urteil des EuG von 2005 richtete der Sicherheitsrat 2007 im UN-Generalsekretariat mit dem „Focal Point“ eine Anlaufstelle ein, an die der Betroffene selbsttätig seinen Einspruch gegen die Aufnahme in die Namensliste richten konnte. Allerdings zeigte sich bald, dass diese Einrichtung kaum etwas an der Situation der vom Listing-Verfahren Betroffenen veränderte und in der Praxis nicht viel mehr als eine „Briefkastenfunktion“ erfüllte.152 Als Reaktion auf das EuGH-Urteil in Kadi vom 3. September 2008 reformierte der Sicherheitsrat das Verfahren des Sanktionskomitees noch einmal grundlegend, indem er 2009 den Focal Point durch das Büro der Ombudsperson ersetzte, dessen Kompetenzen er infolge des zweiten Kadi-Urteils des EuG vom 30. September 2010 durch die Sicherheitsratsresolution 1989 vom Juni 2011 nochmals signifikant erweiterte.153 Eine sorgfältige Analyse der Interaktion zwischen den europäischen Gerichten und dem Sicherheitsrat offenbart dabei die einflussreiche Rolle der gerichtlichen Kontestation.154 Ebenso wie bei der Solange-Saga zwischen dem BVerfG und dem  So im Kontext der Interaktion zwischen den europäischen Gerichten und dem UN-Sicherheitsrat: Machiko Kanetake, The Interfaces between the National and International Rule of Law: The Case of UN Targeted Sanctions, IOLR 9 (2012), 267 (302): „While national and EU court decisions do not bind UN organs, they could become an influential political apparatus for generating regulatory reforms at the UN.“; im Kontext der Interaktion zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH im Rahmen des Solange I-Beschlusses: Gráinne de Búrca, The European Court of Justice and the International Legal Order After Kadi, Harv. Int’l L. J. 51 (2010), 1 (43): „Invoking such a conflict [wie durch die Solange I-Entscheidung] […] sets in motion inside the European organs the Treaty mechanism which resolves the conflict on a political level.“ 152  Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (239). Der „Focal Point“ leitete den Einspruch lediglich an den Heimatstaat und an den veranlassenden Staat weiter. Ansonsten änderte sich an dem Verfahren nichts: Weder war der Betroffene selbst an dem weiteren Verfahren beteiligt noch wurde ihm eine Vertretung gestattet. Ebd. 153  Allerdings beschränkte der Sicherheitsrat die Zuständigkeit dieser Ombudsstelle auf den – nunmehr vom Taliban-Ausschuss getrennten – Al-Qaida-Ausschuss. Für einen tabellarischen Überblick über sämtliche Reformen des 1267-Sanktionsregimes von 2000 bis 2011: Machiko Kanetake, The Interfaces between the National and International Rule of Law: The Case of UN Targeted Sanctions, International Organizations Law Review 9 (2012), 267 (327 ff.). 154  Mit dieser Einschätzung auch Eyal Benvenisti, Bottom-Up Constitutionalization of International Law: The Targeted Sanctions Regime as a Case Study, ASIL Proceedings 104 (2010), 462 (464): „It is suggested that the SC modified the listing and de-listing procedures in response to the judicial pressure.“ Machiko Kanetake, The Interfaces between the National and International Rule 151

A. Der Solange-Grundsatz

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EuGH ist zwar im Hinterkopf zu behalten, dass die Wirkungen von Verfassungsgerichtsentscheidungen komplex sind. Das UN-Sanktionsregime wurde nicht nur von Gerichten kritisiert, sondern auch von zahlreichen Regierungen, NGOs und UN-­ Institutionen – wie dem UN-Generalsekretär und dem Sonderbeauftragten für den Schutz der Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung. Und nicht nur der UN-Sicherheitsrat und sein Sanktionskomitee reagierten auf diese Kritik, sondern auch die Staats- und Regierungschefs der UN-Mitgliedstaaten beteuerten – ähnlich wie die EU-Institutionen bei der gemeinsamen Erklärung über die Grundrechte – die Bedeutung fairer und klarer Verfahren vor dem Sanktionskomitee.155 Dennoch erscheint die Einschätzung nicht überzogen, dass die Entscheidungen der Gerichte mitkonstitutiv für das Handeln vieler dieser Akteure waren. Verfassungsgerichte wirken insbesondere in diesen rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen als Wegweiser, der dynamische Entscheidungsprozesse auslöst und bestimmte konstitutionalistische Belange in diese einspeist – ohne aber diesen Prozess, geschweige denn sein Ergebnis, kontrollieren zu können.156 Ein Zusammenhang zwischen den Reformbemühungen des UN-Sicherheitsrats und der Kontestation rechtsordnungsfremder Gerichte lässt sich insbesondere in Hinsicht auf die Einrichtung und den Ausbau der Ombudsstelle infolge der Kadi-­ Urteile des EuGH von 2008 und des EuG von 2010 belegen.157 In beiden Urteilen deuten bestimmte Passagen daraufhin, dass der EuGH und das EuG einen Dialog mit dem Sicherheitsrat suchen. Auf beide Urteile folgen jeweils Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die einerseits einige der von den Gerichten artikulierten Bedenken aufgreifen, andererseits von Aussagen begleitet werden, die die gerichtliche Kontestation als Motiv für die Verabschiedung der Resolutionen angeben. In dem EuGH-Urteil lassen sich Spuren eines Dialog-fördernden „Zuckerbrot und Peitsche“-Ansatzes erkennen: Zum einen registriert der Gerichtshof die bislang vom Sicherheitsrat vorgenommenen Reformen durchaus anerkennend158 und stellt die Möglichkeit einer Rücknahme seines Kontrollanspruchs in Aussicht.159 Zum anderen betont er, dass diese Veränderungen nicht ausreichend sind und weist auf die of Law: The Case of UN Targeted Sanctions, IOLR 9 (2012), 267 (293); Monika Heupel, UN Sanctions Policy and the Protection of Due Process Rights: Making Use of Global Legal Pluralism, in: Monika Heupel/Michael Zürn (Hrsg.), Protecting the Individual from International Authority, 2017, 86 (92 f.). 155  A/RES/60/1 v. 24.10.2005, Ziff. 109: „We also call upon the Security Council, with the support of the Secretary-General, to ensure that fair and clear procedures exist for placing individuals and entities on sanctions lists and for removing them, as well as for granting humanitarian exemptions.“ 156  Zu dieser Wirkungsweise der Verfassungsgerichtsbarkeit: Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 ff. 157  Machiko Kanetake, The Interfaces between the National and International Rule of Law: The Case of UN Targeted Sanctions, IOLR 9 (2012), 267 (295 f.). 158  Siehe insb. EuGH, Urt. v. 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 364 f. 159  Kirsten Schmalenbach, Bedingt kooperationsbereit: Der Kontrollanspruch des EuGH bei gezielten Sanktionen der Vereinten Nationen, JZ 64 (2009), 35 (39).

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

nach seiner Überzeugung noch bestehenden Verfahrensdefizite hin. Wenige Monate nach dem Urteil erklärte der Vorsitzende des Sanktionskomitees: „One cannot ignore the international context […] [the] sanctions regimes find themselves increasingly under pressure and have recently been questioned, especially in light of the need for fair and clear procedures for listing, de-listing and the granting of humanitarian exemptions.“160 Schließlich antwortete der Sicherheitsrat gut ein Jahr später mit der Resolution 1904 vom 17. Dezember 2009 auf dieses Urteil mit seiner bis dahin umfangreichsten Reform. Er ersetzte den Focal Point mit der Ombudsstelle, die „in rechtsstaatlicher Hinsicht einen erheblichen Fortschritt“ darstellt.161 Die Präambel der Resolution, wonach der Sicherheitsrat Kenntnis davon nimmt, dass die von ihm vorgeschriebenen Maßnahmen „rechtlich und auf andere Weise angefochten worden sind“ und künftige Anstrengungen in Aussicht stellt, „um sicherzustellen, dass die Verfahren [vor dem Sanktionskomitee] fair und klar sind“, deuten da­ rauf hin, dass in der Kontestation des EuGH und anderer Gerichte ein gewichtiges Motiv für die Verabschiedung der Resolution liegt.162 Dies bestätigt ferner folgende Aussage der damaligen U.S.-amerikanischen Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, wonach die Resolution 1904 insbesondere auch aus folgendem Grund verabschiedet wurde: „[A]ddress concerns that have been expressed by some European courts.“ 163 Das EuG zeigt sich in seinem zweiten Kadi-Urteil von diesen Reformen allerdings wenig beeindruckt. Es moniert insbesondere, dass „es der Sicherheitsrat noch immer nicht für angebracht gehalten [hat], ein unabhängiges und unparteiliches Organ zu schaffen, das in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht über Klagen ge-

 UN-Sicherheitsrat, 6043rd Meeting v. 15.12.2008, UN Dok. S/PV.6043, 9.  Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (243). Zum einen agiert die Ombudsperson unabhängig und unparteilich und vertritt in diesem Rahmen auch die Interessen der Betroffenen. Die Ombudsperson tritt mit den Mitgliedern des Santionskomitees in einen Dialog und verfasst am Ende des komplexen Verfahrens einen Bericht, der die wesentlichen Argumente für Streichung des Betroffenen von der Liste darlegt. Zum anderen wird die Informationslage des Betroffenen durch das Verfahren wesentlich verbessert: Der Streichungsantrag des Betroffenen wird nunmehr nicht nur an den Heimat- und den Vorschlagsstaat, sondern auch an sämtliche Mitgliedstaaten des Sanktionskomitees weitergeleitet, die daraufhin binnen zwei Monaten weitere relevante Informationen zu den Gründen für die Listung des Betroffenen mitteilen sollen. Nichtsdestotrotz sind die Befugnisse der Ombudsperson im Delisting-Verfahren auf „Informationssammlung, Dialog und Bericht beschränkt“. Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (240). Siehe zu den Aufgaben der Ombudsstelle: Laurence Boisson de Chazournes/ Pieter Kuijper, Mr Kadi and Mrs Prost: Is the UN Ombudsperson Going to Find Herself between a Rock and a Hard Place?, in: Henri Waele/Eva Rieter (Hrsg.), Evolving Principles of International Law, 2012, 81 ff. 162  S/RES/1904 v. 17.12.2009, 2. 163  Siehe Rede Susan Rice v. 17.12.2009, auffindbar unter: usun.state.gov. Auf diese Aussage verweist Eyal Benvenisti, Bottom-Up Constitutionalization of International Law: The Targeted Sanctions Regime as a Case Study, ASIL Proceedings 104 (2010), 462 (463 f.). 160 161

A. Der Solange-Grundsatz

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gen die Einzelfallentscheidungen des Sanktionsausschusses zu befinden hat“.164 Anschließend zählt es noch einige weiterhin bestehende Mängel des Sanktionskomiteeverfahrens auf: Die „Streichung einer Person“ von der Terroristen-Liste erfordere nach wie vor einen „Konsens“ innerhalb des Komitees, die Auswahl der Beweise stehe „weiterhin voll und ganz im Ermessen des Staates“ und es existierten „keine Vorkehrungen, die gewährleisten, dass der Betroffene über hinreichende Informationen verfügt, um sich sachdienlich verteidigen zu können“.165 Allerdings scheint das EuG nicht kategorisch auszuschließen, dass die Anforderungen an ein „unabhängiges und unparteiliches Organ“ auch durch die Ombudsperson (und nicht zwingend nur durch ein Gericht) erfüllt werden könnte. Denn in Anlehnung an die aufgezählten, weiterhin existierenden Mängel betont es, dass „[z]umindest aus diesen Gründen […] die Einsetzung […] der Ombudsperson nicht mit der Schaffung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Entscheidungen des Sanktionsausschusses gleichgesetzt werden“ könne. Durch die Verwendung der Solange-­ Formel signalisiert das EuG sodann die Aussicht, für den Fall der Behebung der genannten Mängel zukünftig von einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle abzusehen.166 Es ist beachtlich, dass die dem Urteil nachfolgenden Reformen zur Stärkung der Ombudsstelle in der Resolution 1989, deren Präambel wiederum auf die rechtlichen Kontestationen des Sanktionsregimes hinweisen,167 in Teilen auf die Zerstreuung der – in dem Urteil vorgetragenen – Bedenken ausgerichtet zu sein scheinen. Nachdem das EuG in seinem Urteil die Bedeutung eines unabhängigen und unparteilichen Organs zur Beurteilung der Einzelfallentscheidungen des Sanktionskomitees hervorgehoben hat, unterstreicht die Resolution die „wichtige Rolle“ der Ombudsperson „bei der Erhöhung von Fairness und Transparenz“168 und beschließt, dass die Ombudsperson dem Sanktionskomitee „auf unabhängige und unparteiliche Weise“ Empfehlungen zu Streichungsanträgen von betroffenen Personen vorlegen soll.169 In einem bemerkenswerten Schritt schränkt der Sicherheitsrat zudem das vom EuG bemängelte Konsenserfordernis (zur Streichung von der Liste zugunsten der Stellung der Ombudsperson) erheblich ein, indem auf die Empfehlung der Ombudsperson (zur Streichung einer Person von der Terroristenliste) die Listung nur dann nicht automatisch nach einer bestimmten Frist erlischt,170 wenn die Mitglieder  EuG, Urt. v. 30.09.2010, Rs. T-85/09 – Kadi v. Kommission („Kadi II“), ECLI:EU:T:2010:418, Rn. 128. 165  Ebd. 166  Ebd., Rn. 127. 167  Der Sicherheitsrat hat die Resolution ausweislich der Präambel „in der Erkenntnis (erlassen), dass Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten nach Ziffer 1 durchgeführt wurden, rechtlich und auf andere Weise angefochten worden sind“ und bekundet „seine Absicht […], auch künftig Anstrengungen zu unternehmen, um sicherzustellen, dass die Verfahren fair und klar sind“. S/ RES/1989 v. 17.06.2011, 2. 168  Ebd., 2. 169  Ebd., Ziff. 21. 170  Die Frist beträgt „sechzig Tage nach dem Datum […], an dem der (Sanktions-)Ausschuss die Prüfung des umfassenden Berichts der Ombudsperson […] abgeschlossen hat“. Ebd., Ziff. 23. 164

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

des Sanktionskomitee im Konsens entscheiden, dass die Person weiterhin gelistet bleiben soll.171 Schließlich versucht der Sicherheitsrat die vom EuG kritisierten Beweis- und Informationsdefizite zu Lasten der Betroffenen teilweise dadurch zu kompensieren, dass die Mitgliedstaaten „mit allem Nachdruck“ aufgefordert werden, der Ombudsstelle als Sachwalter der Interessen der Betroffenen „alle sachdienlichen Informationen […], gegebenenfalls auch alle sachdienlichen vertraulichen Informationen“, vorzulegen.172 b. Die Frage der verfassungsgerichtlichen Erwiderung auf Änderungen der inter- und supranationalen Entscheidungspraxis Nach dem wiederholten Entgegenkommen des Sicherheitsrats stand der EuGH vor der Verkündung seines zweiten Kadi-Urteils im Juli 2013 vor einer Frage, die sich fast zwangsläufig jedes Gericht stellen muss, das den Solange-Mechanismus ­verwendet: Betrachtet es seine Forderungen als erfüllt und senkt es den eigenen Kon­trollanspruch ab, um den schwelenden rechtsordnungsübergreifenden Verfassungskonflikt zu beenden oder zumindest einzudämmen? Oder befindet es die vorgenommenen Änderungen für unzureichend und nimmt weiterhin eine umfassende Kontrolle des determinierten rechtsordnungseigenen Inkorporationsakts vor, um etwa den rechtsordnungsfremden Institutionen weitere Zugeständnisse abzuringen? Genauso wie sich damit für den EuGH die Frage stellte, ob die Einrichtung und der Ausbau des Büros der Ombudsperson eine – unter den politisch komplexen Umständen – hinreichende institutionelle Vorkehrung zum Grundrechtsschutz der betroffenen Personen darstellt und eine Rücknahme des eigenen Kontrollanspruchs rechtfertigt, musste sich das BVerfG nach der unverbindlichen gemeinsamen Erklärung zu den Grundrechten und dem Hauer-Urteil des EuGH fragen, ob dadurch seine Forderung aus Solange I nach einem parlamentarischen Grundrechtskatalog und einem dem Grundgesetz adäquaten europäischen Grundrechtsschutz erfüllt ist. Diese Fragen zu beurteilen, ist deutlich komplexer als zu prüfen, ob der Tatbestand einer Norm erfüllt ist. Denn bei den Bedingungen im Solange-Mechanismus handelt es sich nicht um die in Rechtsform gegossenen Voraussetzungen für rechtmäßiges Handeln im rechtsordnungsinternen Kontext. Vielmehr dient „Solange“ als Mechanismus zur Übertragung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Belange in eine andere Rechtsordnung in einer pluralistisch-heterarchischen Weltordnung, unter deren Bedingungen ein Verfassungsgericht aber nicht kontrollieren, geschweige denn rechtsverbindlich bestimmen kann, ob die rechtsordnungsfremden Institutionen diese konstitutionalistischen Belange berücksichtigen. „Solange“ ist  Ebd., Ziff. 23. Freilich wird das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats dadurch nicht berührt, so dass jeder einzelne dieser Staaten eine Streichung durch sein Veto verhindern kann. Siehe Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle  – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (240). 172  S/RES/1989 v. 17.06.2011, Ziff. 25. 171

A. Der Solange-Grundsatz

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eben ein Rechenschaftspflicht-Mechanismus, mit dem ein netzwerkartiger, rechtsordnungsübergreifender Verhandlungsprozess in Gang gesetzt werden kann, in dessen Rahmen Institutionen verschiedener Rechtsordnungen, die auf die Befriedigung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedürfnisse ausgerichtet sind, einen Kompromiss zwischen den konkurrierenden Belangen aushandeln. Schon aus diesem Grund wird ein Verfassungsgericht einerseits seine Forderung regelmäßig offen formulieren oder einfach nur in Kritik an der rechtsordnungsfremden Entscheidungspraxis verpacken und andererseits die uneingeschränkte Erfüllung seiner Forderungen realistisch nicht erwarten können. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die spezifische Interaktion zwischen den europäischen Gerichten und dem UN-Sicherheitsrat besser einordnen: Es geht im Kern um die Ausgestaltung des 1267-Sanktionsregimes, also um die Balance zwischen der – von der Weltmacht USA vorangetriebenen – möglichst effektiven und weitreichenden Terrorbekämpfung durch gezielte Sanktionen und dem effektiven Rechtsschutz der betroffenen, der Unterstützung des Terrorismus verdächtigen Personen.173 In dieser Auseinandersetzung ist vereinzelt die  – von den europäischen Gerichten zunächst nicht ausdrücklich vorgetragene – Forderung nach der Einrichtung eines UN-Sanktionsgerichts zur Kontrolle des Listungsverfahrens erhoben worden. Das Büro der Ombudsperson erscheint vor diesem Hintergrund als ein Kompromissvorschlag des UN-Sicherheitsrats. Durch dieses soll der Forderung nach einer unparteilichen und unabhängigen Kontrollinstanz entgegengekommen werden, ohne freilich die Handlungsfreiheit und Geheimhaltungsinteressen der Mitgliedstaaten durch die Einrichtung eines Sanktionsgerichts noch stärker zu beeinträchtigen. Der EuGH stand hier vor dem folgenden Verhandlungsdilemma: Zum einen kann er das Ombudsstellen-Modell, als die unter den im Sicherheitsrat herrschenden politischen Mehrheitsverhältnissen beste erreichbare institutionelle Lösung, grundsätzlich akzeptieren und auf weitere Verbesserungen innerhalb dieses Modells dringen. Damit würde der Gerichtshof „die Kooperation eröffnen, ohne auf Druck zu verzichten“,174 gleichzeitig aber das Risiko eingehen, seine Glaubwürdigkeit und

 Diese Belange fasst Lord Rodger im Ahmed-Urteil des UK Supreme Courts prägnant zusammen: „The Security Council is a political, not a judicial, body – as is the 1267 Committee. And it may be that the Committee’s procedures are the best that can be devised if it is to be effective in combating terrorism. But, again, the harsh reality is that mistakes in designating will inevitably occur and, when they do, the individuals who are wrongly designated will find their funds and assets frozen and their lives disrupted, without their having any realistic prospect of putting matters right. On one view, they are simply the incidental but inevitable casualties of the measures which the Security Council has judged it proper to adopt in order to counter the threat posed by terrorism to the peace and security of the world. The Council adopts those measures in order to prevent even worse casualties – those who would be killed or wounded in terrorist attacks.“ UK Supreme Court, Urt. v. 27.01.2010, UKSC 2 (2010) – Ahmed u. a. v. Her Majesty’s Treasury, Rn. 182. 174  Andreas von Arnauld, Der Weg zu einem „Solange I ½“. Die Umsetzung der gezielten UN-Sanktionen durch die EU nach Einrichtung der UN-Ombudsstelle – europäische oder globale rule of law?, EuR 2013, 236 (245), der dem EuGH vor der Verkündung des zweiten Kadi-Urteils einen solchen Ansatz nahegelegt hat. 173

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

legitime Autorität als Wächter der Unionsgrundrechte zu beschädigen.175 Zum anderen kann er auf der Einrichtung eines UN-Sanktionsgerichts als Bedingung dafür bestehen, dass er von einer eigenen umfassenden Kontrolle absieht. Damit untermauert er seine Rolle als Wächter der Unionsgrundrechte, riskiert aber gleichsam die Möglichkeit einer zukünftigen Einflussnahme auf den UN-Sicherheitsrat in Fragen des Sanktionsregimes zu verspielen. Der EuGH entschied sich dafür, auf der Forderung einer – mittelbaren – gerichtlichen Kontrolle des Listungsverfahrens des UN-Sanktionskomitees zu beharren: Eine solche sei „unerlässlich, um einen gerechten Ausgleich zwischen der Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit und dem Schutz der Grundfreiheiten und -rechte der betroffenen Person, die gemeinsame Werte der UNO und der Union darstellen“, zu gewährleisten.176 c. Zwischenfazit Die untersuchten Fallstudien zu den Auswirkungen der Solange I-Rechtsprechung des BVerfG und der Kadi-Rechtsprechung des EuGH und des EuG belegen, dass der Solange-Mechanismus tatsächlich zur Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien von der eigenen auf eine andere Rechtsordnung beiträgt. Die Analyse des historischen Kontexts legt nahe, dass sich der Solange I-Beschluss des BVerfG auf die Berücksichtigung von Grundrechtsbelangen durch sämtliche Institutionen der Europäischen Gemeinschaften ausgewirkt hat. Der Beschluss beförderte den europäischen Grundrechtsschutz an die Spitze der Prioritätenliste mehrerer gemeinschaftsrechtlicher Institutionen. Als unmittelbare Reaktion auf die Entscheidung verabschiedeten das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission im April 1977 eine gemeinsame Erklärung über die Grundrechte, in der sie die wesentliche

 Skeptisch, ob die durch den UN-Sicherheitsrat eingeführte Ombudsperson den institutionellen Anforderungen des Gerichtshofs zur Gewährungleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes genügt, ist Matthias Valta, Staatenbezogene Wirtschaftssanktionen zwischen Souveränität und Menschenrechten, 2019, 99. 176  EuGH, Urt. v.  18.07.2013, Rs. C-584/10 P, C-593/10 P, C-595/10 P  – Kommission v. Kadi („Kadi II“), ECLI:EU:C:2013:518, Rn. 131. Ein wichtiger Faktor für diese Erwiderung dürfte das Ahmed-Urteil des UK Supreme Court gewesen sein, in dem der oberste britische Gerichtshof deutliche Kritik an dem Fehlen eines unabhängigen und unparteilichen Sanktionsgerichts äußerte. Lord Hope schreibt: „While these improvements (Ombudsperson) are to be welcomed, the fact remains that there was not when the designations were made, and still is not, any effective judicial remedy.“ UK Supreme Court, Urt. v. 27.01.2010, UKSC 2 (2010) – Ahmed u. a. v. Her Majesty’s Treasury, Rn. 78. Noch schärfer äußert sich Lord Mance: „[N]othing in it (Resolution 1904 (2009)) affects the basic problems that there exists no judicial procedure for review and no guarantee that individuals affected will know sufficient about the case against them (or even know the identity of the Member State which sought their designation) in order to be able to respond to it.“ Ebd., Rn. 239. Dafür spricht, dass bereits das EuG in seinem zweiten Kadi-Urteil deutlich auf das Ahmed-Urteil eingegangen war und die Mängelliste des EuG erscheint auf die Bedenken des UK Supreme Court abgestimmt zu sein. Siehe EuG, Urt. v. 30.09.2010, Rs. T-85/09 – Kadi v. Kommission („Kadi II“), ECLI:EU:T:2010:418, Rn. 128. 175

A. Der Solange-Grundsatz

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Bedeutung der Achtung der Grundrechte für die Gemeinschaftsorgane bezeugten und insbesondere den Stellenwert der EMRK hervorhoben. Das Hauer-Urteil des EuGH liest sich in Teilen wie eine Antwort auf die in Solange I artikulierten Bedenken. Der Solange-Mechanismus hat sich auch im Zusammenhang des UN-­ Sanktionskomitees als ein Motor für konstitutionalistische Reformen erwiesen. Ein Zusammenhang zwischen den Reformbemühungen des UN-Sicherheitsrats und der Kontestation rechtsordnungsfremder Gerichte lässt sich insbesondere in Hinsicht auf die Einrichtung und den Ausbau der Ombudsstelle infolge der Kadi-Urteile des EuGH von 2008 und des EuG von 2010 belegen. In beiden Urteilen deuten bestimmte Passagen daraufhin, dass der EuGH und das EuG einen Dialog mit dem Sicherheitsrat suchen. Auf beide Urteile folgen jeweils Resolutionen des UN-­ Sicherheitsrats, die einerseits einige der von den Gerichten artikulierten Bedenken aufgreifen, andererseits von Aussagen begleitet werden, die die gerichtliche Kontestation als Motiv für die Verabschiedung der Resolutionen angeben. Diese beiden Fallstudien belegen, dass der Solange-Grundsatz ein Mechanismus zur Übertragung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Belange in eine andere Rechtsordnung in einer pluralistisch-heterarchischen Weltordnung ist. Allerdings kann ein Verfassungsgericht dabei nicht kontrollieren, ob die rechtsordnungsfremden Institutionen diese konstitutionalistischen Belange berücksichtigen. „Solange“ ist ein Rechenschaftspflicht-Mechanismus, mit dem ein netzwerkartiger, rechtsordnungsübergreifender, auf Kompromissbildung ausgerichteter Verhandlungsprozess in Gang gesetzt werden kann, in dessen Rahmen Institutionen verschiedener Rechtsordnungen einen Kompromiss zwischen den konkurrierenden Belangen aushandeln. Daher sollten Verfassungsgerichte, die den Solange-Grundsatz verwenden, ihre Forderung zum einen offen formulieren und realistisch nicht eine uneingeschränkte Erfüllung ihrer Forderungen erwarten. 3. Die Ausgestaltung des Solange-Mechanismus Soweit der Solange-Mechanismus, wie dargelegt, die Entscheidungspraxis rechtsordnungsfremder Institutionen beeinflusst, stellt sich die Frage, wie der Solange-­ Grundsatz dogmatisch ausgestaltet werden sollte. Denn die konkrete Ausgestaltung des Solange-Mechanismus kann maßgeblich für die konkreten Auswirkungen auf die rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Institutionen sein. Wie sich bei der Rekonstruktion der rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungspraxis gezeigt hat, gibt es bei der Ausgestaltung des Solange-Grundsatzes durchaus Unterschiede.177 In groben Zügen lassen sich drei Modelle der Ausgestaltung des Solange-­ Vorbehalts unterscheiden: Das Solange I-Modell, das Bosphorus-Modell und das Bananenmarkt-Modell. Unter das Solange I-Modell lassen sich, neben dem Solange I-Beschluss, das Kadi-Urteil des EuGH und die Supronowicz-Entscheidung des pol-

177

 Oben Dritter Teil, Kap. 18, A, I., 5.

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

nischen Verfassungsgerichtshofs fassen.178 Im Solange I-Modell nimmt das Verfassungsgericht eine umfassende Prüfung am Maßstab der rechtsordnungseigenen Grund- und Menschenrechte vor.179 Typischerweise liegt der Grund für diese umfassende Kontrolle darin, dass das Verfassungsgericht den durch die rechtsordnungsfremden Institutionen gewährleisteten Grundrechtsschutz als nicht äquivalent bzw. nicht vergleichbar mit dem rechtsordnungseigenen Grundrechtsschutzniveau erachtet.180 Dem Bananenmarkt-Modell des Bundesverfassungsgerichts und dem Bosphorus-­ Modell des EGMR, das auch der französische Conseil d’État in Arcelor anzu­ wenden scheint, ist dagegen gemein, dass beide den rechtsordnungsfremden ­Grundrechtsschutz als ausreichend auffassen und sich deshalb beide auf eine Reservejurisdiktion beschränken.181 In beiden Modellen will das Verfassungsgericht eine eigene Kontrolle erst dann wieder vornehmen, wenn das rechtsordnungsfremde wesentlich unter das rechtsordnungseigene Grundrechtsschutzniveau absinkt. ­ Der Unterschied zwischen diesen beiden Modellen liegt in den unterschiedlichen Anforderungen an die Aktivierung der eigenen Kontrolle. Nach dem Bananenmarkt-Modell ist „ein generelles Absinken des Grundrechtsstandards“ erforderlich,182 was eine systematische Unterschreitung  – in mehreren Fällen  – des vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutzes voraussetzt.183 Nach dem Bosphorus-­Modell dagegen kann die Vermutung der Befolgung der Konvention bereits dann widerlegt werden, wenn der durch die EU-Institutionen gewährleistete Grundrechtsschutz „offensichtlich unzureichend“ ist. Hier scheint eine „Absenkung im Einzelfall“ ausreichend zu sein.184  Das bedeutet freilich nicht, dass es keine Unterschiede zwischen diesen Entscheidungen gibt. So liest sich der Solange I-Beschluss eher außenorientiert und kooperationsoffen, während das Kadi-Urteil eher selbstbezogen wirkt. So zutreffend Gráinne de Búrca, The European Court of Justice and the International Legal Order After Kadi, Harv. Int’l L. J. 51 (2010), 1 (42 f.). 179  Oben Dritter Teil, Kap. 18, A, I., 5. 180  Der polnische Verfassungsgerichtshof hat allerdings eine umfassende Begründetheitsprüfung der einschlägigen Bestimmungen der unionsrechtlichen Verordnung am Maßstab der polnischen Verfassung durchgeführt, obwohl nach seiner Auffassung das europäische und das nationale Grundrechtsschutzniveau vergleichbar sind. Dafür hat der Verfassungsgerichtshof im Gegenzug angekündigt, in zukünftigen Verfahren eine eigene Kontrolle nur unter der Bedingung vorzunehmen, dass „die Beschwerdeführer hinreichend glaubhaft machen […], dass das Sekundärrecht das Niveau des Grundrechtsschutzes im Vergleich zur polnischen Verfassung erheblich absinken lässt“. Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 16.11.2011, SK 45/09 – Supronowicz, zitiert in: Katarzyna Granat, Kontrolle des EU-Sekundärrechts durch den polnischen Verfassungsgerichtshof, EuR 2013, 205 (213). Das scheint dem Bosphorus-Modell zu entsprechen. 181  Oben Dritter Teil, Kap. 18, A, I., 5. 182  BVerfGE 102, 147 (166) – Bananenmarkt (2000). 183  Oben Dritter Teil, Kap. 18, A, I., 1. 184  Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuR 2006, 79 (86). Auch der Conseil d’État bevorzugt in seiner Arcelor-Entscheidung – im Unterschied zu Bananenmarkt – eine im Einzelfall aktivierbare Kontrolle. Magnon charakterisiert diesen Ansatz als eine effektivere „subsidiarité sanctionné“, die er vom Bananenmarkt-Modell, das er als „subsidiarité épouvantail“ beschreibt, unterscheidet. So Xavier Magnon, La sanction de la primauté de la 178

A. Der Solange-Grundsatz

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Vor dem Hintergrund dieser dogmatischen Unterschiede zwischen den Modellen stellt sich die Frage, welchem dieser Modelle Verfassungsgerichte den Vorzug ­geben sollten. Ein tieferes Verständnis für die Eigenart dieser Modelle lässt sich gewinnen, indem man diese jeweils an unterschiedlichen Punkten auf einem Rechenschaftspflicht-­ Konfliktvermeidungs-Kontinuum ansiedelt. Vereinfacht gesagt: Mit der Bereitschaft eines Verfassungsgerichts, eine eigene umfassende Kon­ trolle durchzuführen, steigt das Konfliktpotenzial, aber auch der Handlungsdruck auf die rechtsordnungsfremden Institutionen. Das Solange I-Modell liegt auf dem Kontinuum folglich nahe dem Rechenschaftspflicht-Pol und weit entfernt vom Konfliktvermeidungs-­Pol. Genau umgekehrt verhält es sich mit dem Bananenmarkt-­ Modell: Weil hier die Aktivierung einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle an sehr strenge Bedingungen gekoppelt wird, ist die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer rechtsordnungsübergreifenden Normkollision gering, gleichzeitig scheint dieses Modell als Rechenschaftspflicht-Mechanismus jedoch weniger effektiv zu sein. Auf dem Rechenschaftspflicht-Konfliktvermeidungs-Kontinuum ist die Kehrseite der Herstellung von Rechenschaftspflicht-Mechanismen das Risiko der Entstehung von Rechtsprechungskonflikten; umgekehrt führen höhere Konfliktvermeidungsvorkehrungen tendenziell zu geringerer Rechenschaftspflicht. Das Bosphorus-Modell erscheint vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick als der vernünftige Mittelweg zwischen dem Solange I- und dem Bananenmarkt-­ Modell, weil es die Gefahr offener Rechtsprechungskonflikte, also der Entstehung einer tatsächlichen Normkollision, durch das Erfordernis eines Absinkens des Grundrechtsstandards abschirmt, ohne (durch die Möglichkeit seiner Aktivierung im Einzelfall) auf einen realen und permanenten Anreiz zur Berücksichtigung rechtsordnungseigener Verfassungsprinzipien zu verzichten. Es schafft einen latenten Verfassungskonflikt, in dem die Gefahr einer Normkollision besteht, schirmt diesen aber gleichzeitig gegen die Entstehung eines offenen Konflikts ab.185 Für das Bosphorus-Modell lässt sich anführen, dass durch diese latente, in jedem Einzelfall aktivierbare Kontrolle ein fortlaufender „Grundrechtsdialog“ mit dem verfassungsgerichtlichen Gegenpart über den adäquaten Grundrechtsstandard hergestellt wird, durch den der rechtsordnungsfremde an den rechtsordnungseigenen Grundrechtsschutz rückgekoppelt und „ein wechselseitiges Lernen ermöglicht“ wird.186 Die damit verbundene, ständige Spannung mag dem nach Kohärenz und Widerspruchsfreiheit strebenden Juristen ein „Dorn im Auge“ sein. Deshalb hatten Kritiker der Solange I-Entscheidung dafür plädiert, nur „eine Bemühungspflicht der Bundesre-

Constitution sur le droit communautaire par le Conseil d’État, RFDA 2007, 578 (582). Darauf verweisen Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63 (79 f.). 185  In diesem Sinne, wenn auch in einem anderen Zusammenhang Martin Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, der nationalen Verfassungsgerichte nahe legt, latente Konflikte herzustellen, ebd., 177 ff. und offene Konflikte zu verhindern. Ebd., 137 ff. 186  Matthias Bäcker, Solange IIa oder Basta I? Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, 103 (111).

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

gierung und aller deutschen Staatsorgane“ zu statuieren187 anstatt, wie das BVerfG, mit der potenziellen Nichtanwendung des europäischen Sekundärrechts eine Sanktion in Aussicht zu stellen. Die Wirkungen der Solange I-Rechtsprechung haben jedoch gezeigt, dass ein solcher latenter Verfassungskonflikt sehr wohl ein fruchtbarer Boden für die Gestaltung der vernetzten Weltordnung sein kann.188 Dies legt nach der Überzeugung von Streinz umgekehrt die Befürchtung nahe, „dass ohne solche Anstöße die Bemühungen darum erlahmen“.189 Nach Streinz wird durch eine solche latente Spannung „die ‚Verzahnung‘ der nationalen mit der Gemeinschaftsrechtsordnung intensiviert“ und dadurch „das tatsächliche Eintreten eines solchen Falles [eines offenen Rechtsprechungskonflikts] sehr unwahrscheinlich“.190 Für einen „fallbezogenen Grundrechtsdialog“ spricht auch,191 dass durch die beim Verfassungsgericht ein­ gehenden Verfassungsbeschwerden und Gerichtsvorlagen, denen im Bananenmarkt-Modell wegen der hohen Darlegungslast die Anreize genommen werden, eine fortlaufende Entwicklung des rechtsordnungsfremden Grundrechtsschutzes, ebenso wie eine „problemorientierte Analyse auf der Grundlage eines konkreten Streitfalls“, gewährleistet werden.192 Darüber hinaus ist denkbar, dass das Bananenmarkt-Modell die Wahrscheinlichkeit der Entstehung eines Verfassungskonflikts  – entgegen der Prämisse des Rechenschaftspflicht-­Konfliktvermeidungs-Kontinuums – deshalb erhöht, weil, wie Streinz ausführt, „möglicherweise eintretenden gravierenden Fehlentwicklungen“ nicht „bereits in einem Frühstadium mit relativ geringen Auswirkungen gegengesteuert werden“ kann.193 Möglicherweise liegt die beste Konfliktvermeidungsstrategie also darin, frühzeitig einer systemischen Missachtung rechtsordnungseigener Grundrechtsstandards entgegenzuwirken, damit erst gar keine unauflösbaren Inkompatibilitäten zwischen den Rechtsordnungen entstehen können. Mit strengen Anforderungen an die Aktivierung der eigenen Kontrolle, wie sie das Bananenmarkt-­ Modell vorsieht, könnte sich ein Verfassungsgericht jedoch von vorneherein „alle Zwischenstufen eines Reagierens auf partielle Grundrechtsdefizite“ verbauen.194 187  Jochen Abr. Frowein, Εuropäisches Gemeinschaftsrecht und Bundesverfassungsgericht, in: Christian Starck (Hrsg.), FS BVerfG, Bd. I, 1976, 187 (205). 188  In diesem Sinne Anne-Marie Slaughter, A New World Order, 2004, 68: „Principle of positive conflict, in which judges do not shy from arguing with one another, even acriminously, yet do not fear a fundamental rupture in their relations.“ 189  Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 65. Nach Streinz legt das die Vermutung nahe, „dass dies nur durch die konkrete Befürchtung einer erneuten Vorlage des die Vorabentscheidung einholenden Verwaltungsgerichts an das BVerfG veranlasst war und zur prophylaktischen Entkräftung grundrechtlicher Einwände geschah“. Ebd. 190  Ebd., 301 f. 191  Mit diesem Begriff: Matthias Bäcker, Solange IIa oder Basta I? Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, (110). 192  Ebd., 111. 193  Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, 301 f. 194  Ebd.

A. Der Solange-Grundsatz

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Es wäre dennoch voreilig, dem Bosphorus-Modell generell den Vorzug vor dem Bananenmarkt-Modell zu geben. Zum einen würde eine einzelfallorientierte Kon­ trolle zu einer „erheblichen Mehrbelastung“ führen,195 der für ein Gericht, das jedes Jahr tausende Akten abarbeiten muss, ein gewichtiger Faktor sein kann. Einen solchen Arbeitsaufwand kann ein Gericht wie das Bundesverfassungsgericht, in dem das Gros der Verfassungsbeschwerden in Drei-Richter-Kammern und mit der Hilfe von mehreren Dutzend wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgearbeitet wird, zwar bewältigen. Trotzdem erfordert jede Begründetheitsprüfung, die im Bananenmarkt-Modell vermieden wird, einen durchaus beträchtlichen Zeit- und Begründungsaufwand, der durch den komplexen rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhang weiter gesteigert wird.196 Zum anderen ist die Möglichkeit nicht zu unterschätzen, dass die Panik vor einem offenen Rechtsprechungskonflikt, die sich in einem erhöhten Maß an rechtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit für alle potenziellen Konfliktkonstellationen niederschlägt, von der Vornahme einer einzelfallorientierten Kontrolle abschrecken kann. In einem solchen Umfeld wird die schon „mit Risiken verbunden[e]“ und „anspruchsvolle Aufgabe“ eines fortlaufenden rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialogs zusätzlich erschwert, zumal ein solcher stets die „Möglichkeit von Konflikten oder Missverständnissen“ birgt.197 Hier zeigt sich, dass ein Verfassungsgericht nicht im Vakuum entscheidet, sondern dass es, durch den hohen Druck und die genaue Überprüfung bestimmter Sachbereiche durch Teile der Rechtswissenschaft, durchaus von einem möglicherweise präferierten Arrangement abgebracht werden kann. Das spricht dafür, dass nicht ein Modell einem anderen Modell generell vorzuziehen ist, sondern dass diese unterschiedlichen Modelle jeweils verschiedenen Kontexten angemessen sind. Welches Modell passt, hängt von den konkreten ­Umständen ab. Ein Faktor, der eine umfassende Kontrolle im Sinne des Solange I-Modells nahelegen kann, ist die Abwesenheit eines „gerichtlichen Kooperationspartner[s]“, dem man  – als gerichtsförmige Institution  – in Fragen des Grundrechtsschutzes einen „gewissen Vertrauensvorschuss[…]“ einräumen kann.198 Für den EuGH dürfte dieser Umstand in Kadi eine maßgebliche Rolle gespielt haben.

 Matthias Bäcker, Solange IIa oder Basta I? Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, 103 (113). 196  Gawron und Rogowski weisen zu Recht daraufhin, dass Verfassungsbeschwerden einerseits eine „enorme Arbeitslast“ bedeuten, „die bei nicht wirksamer Kontrolle leicht zur Überlastung des Verfassungsgerichts führen können“. Andererseits stellten diese „einen Pool dar, der benutzt werden kann, um weite Teile der grundgesetzlichen Kompetenzordnung, die angesichts der geringen Anzahl der darauf gerichteten, politischen Verfahren‘ seinem Zugriff nahezu völlig entzogen wären, ausgestalten zu können“. Thomas Gawron/Ralf Rogowski, Drei Seiten des Bundesverfassungsgerichts, in: Bernhardt Blanke/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Leviathan-Sonderheft 12 (1991), 336 (340). 197  Matthias Bäcker, Solange IIa oder Basta I? Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, 103 (113). 198  Siehe Andreas von Arnauld, UN-Sanktionen und gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz. Die „Soweit-Rechtsprechung“ des Europäischen Gerichts Erster Instanz, AVR 44 (2006), 201 (208). 195

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

Weiterhin ist die Entwicklungsphase zu berücksichtigen, in der sich eine inter- oder supranationale Organisation befindet. Während das Solange I-Modell in einer bestimmten historischen Phase der europäischen Integration – in der Sekundärrechtsakte bereits beträchtliche Wirkungen auf individuelle Rechtspositionen entfalteten, ohne dass damit ein ausgebildetes Grundrechtsregime korrespondierte – eine angemessene Reaktion darstellte, erscheint eine umfassende, einzelfallorientierte ­Kon­trolle des europäischen Rechts am Maßstab der mitgliedstaatlichen Grundrechtskataloge heute übertrieben und unangebracht. Das zeigt, dass es für ein ­Verfassungsgericht strategisch durchaus sinnvoll sein kann, die Anwendung der unterschiedlichen Modelle situationsabhängig und temporal zu variieren.199 In jedem Fall müssen Verfassungsgerichte bei der Ausgestaltung des Solange-Mechanismus die Meta-Prinzipien der holistischen und der institutionellen Reflexion beachten, wonach sie die Tätigkeit rechtsordnungsfremder Institutionen respektieren und ihre Entscheidungen in einen größeren Zusammenhang einpassen sollten.200 Denn der Solange-Mechanismus darf nicht dazu missbraucht werden, um die institutionalisierte inter- und supranationale Kooperation zu sabotieren, die in einer globalisierten Welt unverzichtbar ist. Vielmehr stellt er vor allem ein verfassungsgerichtliches Instrument dar, um in einer pluralistisch-heterarchischen Weltordnung auf eine stärkere Berücksichtigung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Belange durch rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Institutionen hinzuwirken.201

III. Zusammenfassung Der Solange-Grundsatz ist ein richterlicher Übertragungsmechanismus, der auf eine subsidiäre, abgestufte verfassungsgerichtliche Kontrolle des abgeleiteten Rechts inter- und supranationaler Organisationen ausgerichtet ist. Mit der Solange-Formel signalisieren die Verfassungsgerichte der das rechtsordnungsfremde inter- oder supranationale Recht inkorporierenden Rechtsordnungen, dass sie von einer eigenen umfassenden Kontrolle dieses Rechts absehen, solange die konstitutionalistischen Maßstäbe dieser Rechtsordnungen denen der eigenen Rechtsordnung im Wesentlichen gleichzuachten sind. Es handelt sich um einen abgestuften Kontrollmechanis Vgl. Matthias Bäcker, Solange IIa oder Basta I? Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, 103 (113). 200  In diesem Sinne Peters, der zufolge sich „[e]in heilsamer Druck in Richtung der Modernisierung völkerrechtlicher Verträge aufgrund von nationalem Widerstand […] nur dann (ergibt), wenn nationale Akteure diesen Druck in Treu und Glauben ausüben, im Ton verbindlich bleiben und das übergeordnete Ziel der internationalen Kooperation als Leitgesichtspunkt einstellen“. Anne Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung: Zur Neubestimmung der Verhältnisse, ZÖR 65 (2010), 3 (61). 201  So auch August Reinisch, Should Judges Second-Guess the UN Security Council?, IOLR 6 (2009) 257 (290): „Both potential forms of contributions by national courts will require a careful approach in order to avoid parochial concepts from prevailing over true international ones.“ 199

A. Der Solange-Grundsatz

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mus, denn mit der Verwendung der Solange-Formel bringt ein Gericht zum Ausdruck, dass Art und Umfang seiner Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts von der Berücksichtigung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Belange durch die rechtsordnungsfremden Institutionen abhängig sind. Dieses Solange-­ Muster ist mittlerweile rechtsordnungsübergreifend in der Rechtsprechung einer Vielzahl von Verfassungs- und Obergerichten etabliert. Verwendet haben es das BVerfG in Solange I, die italienische Corte Costituzionale in Fragd, der französische Conseil d’État in Arcelor, der polnische Verfassungsgerichtshof in Supronowicz, der EGMR in Bosphorus und der EuGH in Kadi. Diese Verwendungszu­ sammenhänge deuten auf die Entstehung eines rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungstrends hin. Aus normativ-analytischer Perspektive ist der Solange-Grundsatz ein angemessener Übertragungsmechanismus für rechtsordnungsübergreifende Zusammenhänge. Durch die Verwendung der Solange-Konstruktion schafft das Verfassungsgericht der inkorporierenden Rechtsordnung Anreize für rechtsordnungsfremde Institutionen, die geforderten Verfassungsprinzipien stärker zu berücksichtigen, um die Sanktion einer umfassenden Kontrolle ihrer Rechtsakte durch das Verfassungsgericht zu vermeiden. Dabei wird nicht nur mit „negativen“ Sanktionen gedroht, sondern umgekehrt wird die erwünschte Berücksichtigung konstitutionalistischer Prinzipien dadurch belohnt, dass das Verfassungsgericht seinen Kontrollanspruch zurücknimmt und von einer eigenen umfassenden Kontrolle absieht. Dadurch kann in Reaktion auf die Entscheidungspraxis der rechenschaftspflichtigen Institutionen nach der „Zuckerbrot und Peitsche“-Methode gezielt positives oder negatives Feedback gegeben werden. Der Solange-Mechanismus eignet sich daher für diese komplexen Koordinationsaufgaben der vernetzten Weltordnung, weil es sich um ein flexibles Instrument handelt, das stets auf die Reformbemühungen der rechenschaftspflichtigen Institutionen einer anderen Rechtsordnung angepasst werden kann. Der Solange-Mechanismus entspricht der pluralistisch-heterarchischen Konfiguration der vernetzten Weltordnung, weil die Autonomie der rechtsordnungsfremden Institutionen respektiert wird. Diesen wird keine bestimmte Lösung oktroyiert, sondern es wird ein Handlungsdruck erzeugt und damit ein ergebnisoffener ­ ­rechtsordnungsübergreifender Verhandlungsprozess darüber in Gang gesetzt, inwieweit die Institutionen der rechtssetzenden Rechtsordnung die Belange der inkorporierenden Rechtsordnung berücksichtigen müssen bzw. inwieweit die Institutionen der inkorporierenden Rechtsordnung die Entscheidungskompetenzen der rechtssetzenden Rechtsordnung akzeptieren müssen. Im Idealfall resultiert dieser Prozess in der Herausbildung eines normativen Grundkonsenses über gemeinsame Verfassungsprinzipien. Damit stellt der Solange-Mechanismus auch ein probates Mittel gegen die Fragmentierungstendenzen in der vernetzten Weltordnung dar, denn er schafft Anreize dafür, dass die der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbundenen Institutionen die konstitutionalisti-

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schen Belange der inkorporierenden Rechtsordnung beachten und wirkt somit integrierend auf die auseinanderdriftenden Rationalitäten ein. Die Analyse der Wirkungen in der institutionellen Praxis hat gezeigt, dass der Solange-Mechanismus als ein Motor für konstitutionalistische Reformen fungieren kann. Der Solange I-Beschluss des BVerfG und die Kadi-Urteile der europäischen Gerichte haben maßgeblich zu einer Änderung der Entscheidungspraxis der EU-­ Institutionen bzw. des UN-Sicherheitsrats beigetragen. Zwar sind die Wirkungen von Verfassungsgerichtsentscheidungen komplex: Das BVerfG und der EuGH sind nicht die einzigen Institutionen, die diese konstitutionalistischen Reformen bewirkt haben, sondern es handelt sich um einen dynamischen Prozess der Übertragung konstitutionalistischer Prinzipien von der einen in die andere Rechtsordnung. Von den unterinstanzlichen Gerichten zur Rechtswissenschaft in Solange I, hin zu Regierungen und NGOs in Kadi, haben auch andere Akteure auf diesen Prozess eingewirkt. Aufgrund ihrer legitimen Autorität in Verfassungsfragen stehen Verfassungsgerichte jedoch oft im Zentrum von konstitutionalistischen Diskursen und von ihnen geht gerade in Grundrechtsfragen ein erheblicher politischer Druck aus. Dabei kommt der konkreten Ausgestaltung des Solange-Mechanismus eine bedeutende Rolle zu. Wie Verfassungsgerichte die Solange-Doktrin dogmatisch ­konkret ausgestalten sollten, hängt von den konkreten Umständen ab und kann situationsabhängig und temporal variieren. Die rechtsordnungsübergreifenden Anwendungen des Solange-Mechanismus unterscheiden sich im Hinblick auf den Umfang und die Aktivierbarkeit der gerichtlichen Kontrolle. In groben Zügen lassen sich drei Modelle der Ausgestaltung des Solange-Vorbehalts unterscheiden: Das Solange I-Modell, das Bosphorus-Modell und das Bananenmarkt-Modell. Unter das Solange I-Modell lassen sich, neben dem Solange I-Beschluss, das Kadi-Urteil des EuGH und die Supronowicz-Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs fassen. Im Solange I-Modell nimmt das Verfassungsgericht eine umfassende Prüfung am Maßstab der rechtsordnungseigenen Grund- und Menschenrechte vor. Dem Bananenmarkt-Modell des Bundesverfassungsgerichts und dem Bosphorus-­ Modell des EGMR ist dagegen gemein, dass beide den rechtsordnungsfremden Grundrechtsschutz als ausreichend auffassen und sich deshalb beide auf eine Reservejurisdiktion beschränken. Während das Bananenmarkt-Modell eine systematische Unterschreitung des als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutzes voraussetzt, kann nach dem Bosphorus-Modell die Kontrolle bereits durch Darlegung eines Absinkens des verfassungsrechtlich erforderlichen Grundrechtsschutzes im Einzelfall aktiviert werden. Welches Modell vorzugswürdig ist, lässt sich nicht generell sagen, sondern hängt vom konkreten Kontext ab. Generell gilt, dass die Kehrseite der Herstellung von Rechenschaftspflicht-Mechanismen das Risiko der Entstehung von Rechtsprechungskonflikten ist und umgekehrt höhere Konfliktvermeidungsvorkehrungen tendenziell zu geringerer Rechenschaftspflicht führen. Für das Bosphorus-Modell spricht, dass es einen latenten Verfassungskonflikt schafft, diesen aber gleichzeitig gegen die Entstehung eines offenen Konflikts abschirmt. Durch die latente, in jedem Einzelfall aktivierbare Kontrolle wird ein fortlaufender Grundrechtsdialog mit dem

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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verfassungsgerichtlichen Gegenpart über den adäquaten Grundrechtsstandard hergestellt, durch den ein gegenseitiges Lernen ermöglicht wird.

B. Die Ultra-vires-Kontrolle Ein vom Solange-Grundsatz zu unterscheidender Übertragungs- und Rechenschaftspflicht-Mechanismus ist die Ultra-vires-Kontrolle. Im Unterschied zur Solange-Konstruktion steht hier nicht der Grundrechtsschutz, sondern die Einhaltung der Kompetenzgrenzen durch inter- und supranationale Organisationen im Vordergrund. Eine der zentralen Fragen in Prinzipal-Agent-Theorien ist, wie der Prinzipal kontrollieren kann, dass der Agent die ihm übertragenen Entscheidungsbefugnisse nicht überschreitet. Soweit man die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ ­konzipiert,202 stellt sich dieses Problem in Anbetracht der rasanten Dynamik des Integrationsprozesses insbesondere in der EU. Denn einerseits werden als Reaktion auf die Globalisierung immer mehr Entscheidungsbefugnisse von nationalstaatlichen auf inter- und supranationale Institutionen übertragen, andererseits wird demokratische Legitimation nach wie vor vorwiegend in nationalstaatlichen Strukturen generiert. Während die meisten mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte sich dieser Problematik bislang nicht angenommen haben, hat vor allem das Bundesverfassungsgericht dieses Dilemma aufgegriffen und seine Kontrollbefugnis durch die staatstheoretisch eingebettete Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts im Maastricht-Urteil begründet.203 Das Demokratieprinzip spielt für das BVerfG in Maastricht zur Begründung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von unionalen Kompetenzüberschreitungen eine zentrale Rolle.204 Wie wir sehen werden, haben das Bundesverfassungsgericht und einige weitere mitgliedstaatliche Verfassungs- und Höchstgerichte in der EU zu diesem Zweck die Ultra-vires-Kontrolle eingeführt. Diese zielt darauf ab, nationale Entschei­ dungsbefugnisse vor einer schleichenden Ausweitung unionsrechtlicher Kompetenzen durch europäische Institutionen zu bewahren, indem auf eine striktere Kontrolle durch den EuGH über die Wahrung unionaler Rechtsgrundlagen hingewirkt wird.205 Wie wir sehen werden, lässt sich ein deutlicher rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrend zur Ultra-vires-Kontrolle nicht erkennen, sondern es handelt sich vorwiegend um eine Konstruktion des BVerfG, die bislang nur von

 So das Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht (1993); BVerfGE 140, 317 (337 f.) – Europäischer Haftbefehl II (2015); BVerfGE 142, 123 (196) – OMT-Urteil (2016). 203  BVerfGE 89, 155 (187 f.) – Maastricht (1993). 204  BVerfGE 89, 155 (182  ff.)  – Maastricht (1993). Das gilt auch für das OMT-Urteil. Siehe BVerfGE 142, 123 (186) – OMT-Urteil (2016). 205  Laut Peter Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis. Zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, Der Staat 56 (2017), 389 (408, Fn. 81), hat der EuGH bislang erst in 3 ½ Fällen überhaupt das Vorliegen einer unionalen Verbandskompetenz abgelehnt. 202

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

einigen Gerichten nachgeahmt wurde (I.). Im Unterschied zum Solange-Grundsatz ist die Ultra-­vires-­Kontrolle vor allem deshalb problematisch, weil sie auf einen rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab rekurriert und damit signifikant in die Entscheidungsautonomie des EuGH eingreift (II.).

I. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen Maßgebend für die Ultra-vires-Kontrolle in der EU ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1.). Darüber hinaus haben andere Verfassungs- und Obergerichte in Europa eine Ultra-vires-Kontrolle gegenüber dem Unionsrecht beansprucht (2.). 1. Die Ultra-vires-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist zweifellos eine der wichtigsten Gerichtsentscheidungen zum europäischen Integrationsprozess (a.). Das Urteil hat nicht nur die Praxis der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle maßgeblich befördert206 und viele bundesstaatliche Visionen der europäischen Integration erschüttert,207 sondern mit dem ausbrechenden Rechtsakt auch einen ausge­ klügelten Kontroll- und Rechenschaftspflicht-Mechanismus zur Prüfung des abgeleiteten Unionsrechts entwickelt, den das BVerfG zunächst im Lissabon-Urteil weiterentwickelt (b.) und dann in der Honeywell-Entscheidung (c.) und dann gegenüber der Europäischen Zentralbank (d.) auch verwendet hat. a. Die Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts im Maastricht-Urteil vom 12.10.1993 Das Maastricht-Urteil enthält die berühmte Ankündigung, dass das Bundesverfassungsgericht von nun an „prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.“208 Diese verbindet das Gericht mit der Warnung an den EuGH, dass eine „Auslegung von Befugnisnormen“, die im Ergebnis einer „Vertragserweiterung gleichkomme[]“, „für Deutschland keine Bindungswirkung entfalte[]“.209 Mit anderen Worten: Das BVerfG verlangt von den europäischen Institutionen, die  Näher oben Dritter Teil, Kap. 14, A., I, 1.  Julio Baquero Cruz, The Legacy of the Maastricht-Urteil and the Pluralist Movement, ELJ 14 (2008), 389 (390 f.). 208  BVerfGE 89 155 (188) – Maastricht (1993). 209  BVerfGE 89 155 (210) – Maastricht (1993). 206 207

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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durch die europäischen Verträge übertragenen Entscheidungsbefugnisse einzuhalten, also nur solche Sekundärrechtsakte zu erlassen, zu denen die vertraglichen Rechtsgrundlagen ermächtigen. Sekundärrechtsakte, die diese Grenzen überschreiten bzw. aus dem vertraglich festgelegten Integrationsprogramm „ausbrechen“, sind in der deutschen Rechtsordnung nicht anwendbar.210 „Darüber wacht das BVerfG.“211 Dabei wird insbesondere der EuGH in die Verantwortung genommen und dazu angehalten, die europäischen Rechtsgrundlagen bei seiner Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Sekundärrechtsakten nicht allzu extensiv auszulegen, insbesondere die Grenze von zulässiger Vertragsfortbildung zu unzulässiger Vertragserweiterung nicht zu überschreiten.212 Es handelt sich folglich um einen Rechenschaftspflicht-­ Mechanismus, bei dem die Aussicht des rechenschaftspflichtigen EuGH, gegenüber dem BVerfG Rechenschaft über die Wahrung der unionalen Rechtsgrundlagen ablegen zu müssen, Anreize für den EuGH schafft, das im Gründungsvertrag festgelegte Integrationsprogramm restriktiver auszulegen. Der ausbrechende Rechtsakt stellt eine Konkretisierung und Fortentwicklung der Brückenkonstruktion dar.213 Aus dem Integrationsprogramm der Europäischen Union „ausbrechen“ und in der Folge in der deutschen Rechtsordnung keine Anwendung finden kann ein Rechtsakt nur, wenn das deutsche Zustimmungsgesetz die Brücke darstellt, über welche das europäische Recht in die nationale Rechtsordnung gelangt. Entsprechend gilt: Bewegt sich der unionsrechtliche Rechtsakt außerhalb der Brücke des Zustimmungsgesetzes, überschreitet er also die verfassungsrechtlichen Begrenzungen der Brücke „Zustimmungsgesetz“, so wird er nicht Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Diese Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts bettet das BVerfG im Maastricht-Urteil in seine demokratietheoretische Lesart der europäischen Integration ein. Danach entspricht eine Kompetenzverlagerung von den Mitgliedstaaten auf die EU einem Demokratiedefizit, weil der Kompetenzzuwachs der europäischen Institutionen nicht mit hinreichenden Legitimationsstrukturen korrespondiert. Auch das parlamentarische Zustimmungsgesetz vermag diesen Legitimationsverlust nur teilweise zu kompensieren, es ist aber nach Ansicht des BVerfG dennoch das beste zur Verfügung stehende Kompensationsmittel.214 Das Zustimmungsgesetz ist das wichtigste Instrument der Vermittlung von Legitimität, weil es die bedeutsamste Form der Mitwirkung des Bundestages am europäischen Integrationsprozess darstellt. Dies setzt freilich voraus, dass das Zustimmungsgesetz den Bundestag tatsächlich in die Lage versetzt, europäische Integration mitzugestalten. Das Maastricht-Urteil enthält daher zum einen den Auftrag an den ­Bundestag, das Zustimmungsgesetz als parlamentarisches Steuerungsinstrument tatsächlich zu nutzen und das „beabsichtigte Integrationsprogramm […] hinrei-

 BVerfGE 89 155 (188) – Maastricht (1993).  BVerfGE 123, 267 (344) – Lissabon (2009). 212  BVerfGE 89 155 (209 f.) – Maastricht (1993). 213  Siehe zur Brückentheorie: Paul Kirchhof, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, 11 (15 f.). 214  Vgl. BVerfGE 89 155 (182 ff.) – Maastricht (1993). 210 211

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

chend bestimmbar“ festzulegen.215 Zum anderen – und hier kommt die Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts ins Spiel – dient diese Konstruktion als verfassungsgerichtliches Kontrollinstrument, um das Steuerungspotenzial des Zustimmungsgesetzes abzusichern, indem die Fortentwicklung der europäischen Verträge auf das festgelegte Integrationsprogramm beschränkt wird. Eine Überschreitung der darin festgelegten Grenzen durch die europäischen Institutionen beeinträchtigt damit die Mitgestaltung des Bundestages am europäischen Integrationsprozess. Der Tatbestand der Kompetenzwidrigkeit eines Rechtsakts in der europäischen Rechtsordnung führt in der deutschen Rechtsordnung auf der Rechtsfolgenseite zu einer Verletzung des Demokratieprinzips.216 Ebenso wie die Solange I-Entscheidung scheint das Maastricht-Urteil durch das Inaussichtstellen der Nichtanwendung des Unionsrecht durchaus zu der gewünschten Reaktion zu führen: Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem Maas­ tricht-Urteil u. a. die „großzügige Handhabung des Art. 235 EWGV“ kritisiert hatte,217 erklärte der EuGH, der die primärrechtlichen Rechtsgrundlagen bis dato durchaus großzügig ausgelegt und dem europäischen Gesetzgeber damit einen weiten politischen Handlungsspielraum zugestanden hatte, in der Folge einen Beitritt der EU zur EMRK auf Grundlage der Rechtsgrundlage des damaligen Art.  235 EWGV für unzulässig und die europäische Tabakrichtlinie für nichtig.218 Und ebenso wie in Solange I  – aber anders als in der schon verkündeten Solange II-­ Entscheidung – ergibt sich aus dem Maastricht-Urteil keine Beschränkung der Prüfungsdichte des BVerfG auf „unvertretbare[]“219 Extremfälle oder das Erfordernis einer generellen Praxis von Kompetenzüberschreitungen durch die europäischen Institutionen.220 Nach dem Prüfungsstandard des Maastricht-Urteils kann das BVerfG prinzipiell eine uneingeschränkte Überprüfung der Überschreitung von Befugnisnormen im Unionsvertrag vornehmen.221

 BVerfGE 89 155 (184, 187) – Maastricht (1993).  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 107. 217  BVerfGE 89 155 (209) – Maastricht (1993). 218  EuGH, Urt. v. 05.10.2000, Rs. C-376/98, C-74/99 – Tabakrichtlinie, ECLI:EU:C:2000:544. 219  So die Formulierung in BVerfGE 75, 223 (240) – Kloppenburg (1987). 220  Kritisch Ulrich Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, 57 (68), der darin „ein nahezu unbeschränktes Konfliktpotenzial“ erblickt. 221  In der Praxis hielt sich das Bundesverfassungsgericht dagegen mit detaillierten und umfangreichen Überprüfungen europäischer Gemeinschaftsrechtsakte am Maßstab der Rechtsfigur des ausbrechenden Rechtsakts zurück und nahm auch in keinem Fall einen ausbrechenden Rechtsakt an. Ein Beispiel für diese Zurückhaltung ist die Handhabung der Fernseh-Richtlinie, die in der Literatur teilweise als ausbrechender Rechtsakt der Gemeinschaft qualifiziert worden war. So Eckhart Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), 56 (65). In seinem Urteil enthielt sich das Bundesverfassungsgericht – für viele überraschend – indes jeglichen Hinweises auf das Maastricht-Urteil und die Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts. Vgl. BVerfGE 92, 203 – Fernseh-Richtlinie (1995). Siehe dazu Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 124 ff. 215 216

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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Darüber hinaus blieb lange unklar, ob das BVerfG die Verwerfungskompetenz im Fall von Kompetenzüberschreitungen durch europäische Institutionen monopolisiert oder ob auch anderen Gerichten, möglicherweise sogar der Verwaltung, eine solche Kompetenz zusteht.222 Für eine Verwerfungskompetenz einfacher Gerichte sprach die Formulierung im Maastricht-Urteil, dass „die deutschen Staatsorgane“ aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert seien, ausbrechende Rechtsakte in Deutschland anzuwenden.223 Daraufhin prüften mehrere Fachgerichte wie selbstverständlich, ob Unionsrechtsakte als ausbrechende Rechtsakte zu qualifizieren seien.224 b. Vom ausbrechenden Rechtsakt zur Ultra-vires-Kontrolle im Lissabon-­Urteil vom 30.06.2009 In seinem Lissabon-Urteil bestätigte das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen die Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts unter der Chiffre der Ultra-­ vires-­Kontrolle. Gleichzeitig nahm es jedoch dogmatische Verfeinerungen vor, um die Gefahr eines offenen Rechtsprechungskonflikts abzuschirmen. Zum einen spricht das Gericht davon, dass die Ausübung seiner Ultra-vires-Kontrolle „dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ folge225 und daher nicht schon bei jeder, sondern nur im Fall von „ersichtlichen Grenzüberschreitungen“ auszuüben sei.226 Zum anderen monopolisiert das Gericht „[z]um Schutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung“ unter Berufung auf den Rechtsgedanken des Art. 100 Abs. 1 GG die Ultra-vires-Kontrolle.227 Damit ist –  Siehe dazu näher Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 111.  BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht (1993). Auf der anderen Seite kann auf der Grundlage der Satzeinleitung „Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht“ eine Monopolisierung dieser Kompetenz beim Bundesverfassungsgericht entnommen werden, wofür einige Autoren zur Vermeidung sonst drohender Rechtsunsicherheit argumentierten. Siehe etwa Ingolf Pernice, Einheit und Kooperation: Das Gemeinschaftsrecht im Lichte der Rechtsprechung von EuGH und nationalen Gerichten, in: Albrecht Randelzhofer/Rupert Scholz/Dieter Wilke (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, 523 (533 f.); Günter Hirsch, EuGH und BVerfG – Kooperation oder Konfrontation?, NJW 1996, 2457 (2461). In seiner Port II-Entscheidung ließ das Gericht zudem die Frage ausdrücklich offen, ob auch anderen Gerichten eine Verwerfungskompetenz ausbrechender Gemeinschaftsrechtsakte zusteht. BVerfG, Urt. v. 26.04.1995 – 2 BvR 760/95 – Port II, EuZW 1995, 412. Dort heißt es: „Nach seiner Rechtsprechung ist jedenfalls das Bundesverfassungsgericht berechtigt, […] ausbrechende Gemeinschaftsrechtsakte zu verwerfen.“ Ebd. 224  Besonders weitreichend ging die Entscheidung des FG Rheinland-Pfalz, das unter Berufung auf das Maastricht-Urteil eine Feststellungskompetenz für sich beanspruchte. Siehe FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 07.11.1994 – 5 K 2813/93, EuZW 1995, 588. Hierzu Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 121. 225  BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon (2009). 226  BVerfGE 123, 267 (353) – Lissabon (2009). Nach Everling erfordert dies „wohl eine klare und eindeutige Verletzung von einiger Tragweite“. Ulrich Everling, Europas Zukunft unter der Kon­ trolle der nationalen Verfassungsgerichte, EuR 2010, 91 (101). 227  BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon (2009). 222 223

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anders als noch im Maastricht-Urteil – klargestellt, dass nicht jedem deutschen Gericht, sondern nur dem BVerfG diese Befugnis zusteht. Dadurch wird das Konfliktpotenzial der Ultra-vires-Kontrolle entscheidend reduziert. c. Die Einhegung der Ultra-vires-Kontrolle im Honeywell-Beschluss vom 06.07.2010 In seinem Honeywell-Beschluss vom 6. Juli 2010 schränkt das Bundesverfassungsgericht die Reichweite seiner Ultra-vires-Kontrolle weiter ein.228 Die Entscheidung lässt sich als deutliches Zeichen einer Abkehr vom Maastricht-Urteil werten. Beschwerdegegenstand war ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das die Vorgaben des kontroversen Mangold-Urteils des EuGH in das deutsche Arbeitsrecht inkorporierte. In Mangold hatte der EuGH entschieden, dass eine nationale Regelung wie die des § 14 III TzBfG a.F. dem Unionsrecht und insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG wegen Unvereinbarkeit mit dem europarechtlichen Verbot der Altersdiskriminierung entgegensteht.229 §  14 III TzBfG a. F. erlaubte Arbeitgebern den Abschluss sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge mit allen Arbeitnehmern im Alter von 52 Jahren oder älter.230 Die Regelung war Bestandteil der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Agenda 2010, eine der wichtigsten politischen Reformpakete seit der Wiedervereinigung. Sie bezweckte, Anreize zur Einstellung älterer Arbeitnehmer zu schaffen und damit zum Abbau der Arbeitslosigkeit beizutragen. Vor diesem Hintergrund erscheint Mangold als gewagte richterliche Entscheidung, zumal vor dem Urteil nicht ohne weiteres ersichtlich war, woraus sich eine Unvereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht herleiten lassen würde. Denn erstens handelte es sich in Mangold um einen Rechtsstreit zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer – nach ständiger Rechtsprechung des EuGH aber entfalten Richtlinien keine Horizontalwirkung zwischen Privaten. Und zweitens war die Frist für Deutschland zur Umsetzung der Richtlinie zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht abgelaufen. Wie der EuGH später in der Rechtssache Kücükdeveci eindeutig bestätigte,231 beruhte der Unionsrechtsverstoß des § 14 III TzBfG a. F. auf dem vom Gerichtshof in Mangold entwickelten allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung, der in seiner primärrechtliche Ausprägung auch im Verhältnis zwischen Privaten anwendbar ist. In Teilen des Schrifttums wurde diese Konstruktion teilweise heftig kritisiert und als „ausbrechender Rechtsakt“ bezeichnet.232  BVerfGE 126, 286 – Honeywell (2010). Instruktiv zu der Entscheidung: Mehrdad Payandeh, Constitutional Review of EU Law after Honeywell, CML Rev. 48 (2011), 9 ff. 229  EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Rs. C-144/04 – Mangold, ECLI:EU:C:2005:709, Rn. 78. 230  Ebd., Rn. 18. 231  EuGH, Urt. v. 19.01.2010, Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, ECLI:EU:C:2010:21, Rn. 21. 232  Roman Herzog/Lüder Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v.  08.09.2008, 8; Lüder Gerken/Volker Rieble/Günter Roth/Torsten Stein/Rudolf Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, 2009. 228

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Diese Kritik griff der Beschwerdeführer, ein Unternehmen der Automobilzulieferung, im Honeywell-Verfahren auf, um sich gegen die Inkorporation des Mangold-­ Urteils durch das Bundesarbeitsgericht zu wenden. Damit wollte der Beschwerdeführer verhindern, dass aus den nach § 14 III TzBfG a. F. befristeten unbefristete Arbeitsverträge werden. Dazu machte er geltend, dass das Mangold-Urteil „eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs“ darstelle, nach der sich das BAG nicht richten dürfe.233 Vor diesem Hintergrund wurde, angesichts integrationsskeptischer Töne im Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009, teilweise erwartet, dass das BVerfG dem EuGH in Honeywell seine (Kompetenz-)Grenzen aufzeigt.234 Diese Hoffnungen wurden enttäuscht: Das BVerfG entschied nicht nur nach eingehender Prüfung, dass im Mangold-Urteil „eine Rechtsfortbildung ultra vires […] nicht ersichtlich“ sei.235 Es schränkte zudem den im Maastricht-Urteil geltend gemachten Kontrollvorbehalt signifikant ein. Es erschien nunmehr – wie der Verfassungsrichter Landau in seiner abweichenden Meinung kritisch anmerkt  – „sehr fraglich“, ob sich „jemals ein Einzelfall einer Kompetenzüberschreitung ausmachen lässt, der die von der Senatsmehrheit geforderte Schwere aufweist und daher den Gegenmechanismus der Ultra-vires-Kontrolle auslöst“.236 Hier lassen sich gewisse Parallelen zum Zusammenspiel zwischen den bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen in Maastricht und in Bananenmarkt erkennen. In beiden Entscheidungen wird in einem dichten zeitlichen Zusammenhang ein im Rahmen der Vertragskontrolle artikulierter integrationskritischer Standpunkt bei der anschließenden Kontrolle des abgeleiteten Rechts nicht bestätigt, sondern stattdessen bestehendes Konfliktpotenzial spürbar entschärft. In Honeywell bekräftigt das BVerfG, dass die Ultra-vires-Kontrolle europarechtsfreundlich auszuüben ist. Darunter versteht das Gericht zum einen, dass „[v]or der Annahme eines Ultra-vires-Akts […] dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art.  267 AEUV die Gelegenheit zur Ver­ tragsauslegung“ gegeben werden muss.237 Sonst „darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen“.238 Zum anderen konkretisiert das Gericht das im Lissabon-Urteil aufgestellte Erfordernis einer ­„ersichtlichen Grenzüberschreitung“ in restriktiver Weise, indem  – in Anknüpfung an die EuGH-Rechtsprechung zur unionsrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten – ein solcher Kompetenzverstoß „hinreichend qualifiziert“ sein muss. Das setzt voraus, dass „das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer“ „strukturell

 BVerfGE 126, 286 (297) – Honeywell (2010).  Siehe etwa Robert van Ooyen, Mit „Mangold“ zurück zu „Solange II“? Das Bundesverfassungsgericht nach „Lissabon“, Der Staat 50 (2011), 45 ff. 235  BVerfGE 126, 286 (308) – Honeywell (2010). 236  BVerfGE 126, 286 (323) – Honeywell (2010). 237  BVerfGE 126, 286 (304) – Honeywell (2010). 238  BVerfGE 126, 286 (304) – Honeywell (2010). 233 234

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bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen“ führt.239 Diese Kriterien erinnern stark an die Solange II-Rechtsprechung: Danach reaktiviert das BVerfG seine Kontrolle des Unionsrechts in Grundrechtsfragen wegen des Erfordernisses einer nur „generellen“ Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes durch europäische Institutionen nicht schon bei „Betriebsunfällen“, sondern lediglich im Fall von grundlegenderen „Systemfehlern“. Anders als in Solange II lässt sich die Ultra-vires-Kontrolle allerdings auch im Einzelfall aktivieren, solange dieser Einzelfall zu einer gewichtigen Verschiebung im Kompetenzgefüge führt.240 Zuletzt gesteht das BVerfG dem EuGH, neben der Befugnis zu richterlicher Rechtsfortbildung, auch einen „Anspruch auf Fehlertoleranz“ zu.241 Unter Anwendung dieser Maßstäbe kommt das BVerfG in Honeywell zu dem Schluss, dass die Mangold-­Entscheidung des EuGH die durch das Zustimmungsgesetz auf die EU übertragenen Hoheitsrechte nicht „in offensichtlicher und strukturwirksamer Weise“ überschreitet.242 d. Die Ultra-vires-Kontrolle der EZB Wer nach Honeywell noch dachte, die bundesverfassungsgerichtliche Ultra-­vires-­ Kontrolle sei wegen der strengen Anforderungen an die Feststellung einer Kompetenzüberschreitung effektiv beerdigt worden,243 sah sich schnell eines Besseren belehrt. Die zentrale Rolle der EZB im Zuge der Europäischen Staatsschuldenkrise, die sich insbesondere in expansiven Staatsanleihenkaufprogrammen manifestierte, war auch unter den Richtern des Bundesverfassungsgerichts sehr umstritten und führte gleich zu mehreren Ultra-vires-Prüfungen des BVerfG. Zunächst unterwarf das Bundesverfassungsgericht in dem von einem beispiellosen medialen und öffentlichen Interesse begleiteten OMT-Verfahren den Beschluss des Rates der EZB vom 06.09.2012 über „Technical features of Outright Monetary Transactions (OMT)“ einer eingehenden Ultra-vires-Kontrolle und wendete die Honeywell-­Kriterien erstmals in einem anderen Fall an.244 Nach Abschluss des OMT-Verfahrens führte das BVerfG zudem eine Ultra-vires-Kontrolle in seinem  BVerfGE 126, 286 (286) – Honeywell (2010). Nach Hatje umfassen diese Kriterien nur „Rechtshandlungen, die nach keiner Betrachtungsweise in Anspruch nehmen können, kompetenzgemäß ergangen zu sein“. Armin Hatje, Deutschland. Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Band I, 2012, 61 (66). 240  BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell (2010). 241  BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell (2010). 242  BVerfGE 126, 286 (308) – Honeywell (2010). 243  Vgl. Andreas Funke, Virtuelle verfassungsgerichtliche Kontrolle von EU-Rechtakten: der Schlußstein?, ZG 26 (2011), 166 ff. 244  BVerfGE 134, 366  – OMT-Beschluss (2014); BVerfGE 142, 123  – OMT-Urteil (2016). Zum Vorlagebeschluss: Mattias Wendel, Kompetenzrechtliche Grenzgänge: Karlsruhes Ultra-vires-Vorlage an den EuGH, ZaöRV 74 (2014), 615 ff. Zum Urteil in der Haupsache: Mehrdad Payandeh, The OMT Judgment of the German Federal Constitutional Court, EuConst 13 (2017), 400 ff. 239

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Vorlagebeschluss245 hinsichtlich des Public Sector Assets Purchase Programme („PSPP“) der EZB sowie in seinem Urteil über die Europäische Bankenunion246 durch. Zum Hintergrund: Der OMT-Beschluss der EZB, an den die verfassungsgerichtliche Überprüfung im OMT-Verfahren anknüpft, formalisiert die Ankündigung des EZB-Präsidenten Draghi auf dem Höhepunkt der europäischen Staatsschuldenkrise, Staatsanleihen von hoch verschuldeten Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe auf dem Sekundärmarkt aufzukaufen.247 Obwohl der Beschluss nicht umgesetzt wurde, trug allein die Ankündigung zu einer Senkung der Zinsen für die Staatsanleihen der betroffenen Mitgliedstaaten bei und verbesserte die Liquiditätssituation dieser Staaten. In den Medien wurde Draghi für diesen Schachzug gefeiert.248 Das überrascht nicht: Wenn alles nach Plan verläuft, ist alles gut. Aber was geschieht, wenn die Ankündigung allein nicht die Finanzmärkte beruhigt, die EZB ihr Ankaufprogramm von Staatsanleihen in großem Umfang umsetzt und der unterstützte Mitgliedstaat trotzdem pleitegeht? Dann drohen den Mitgliedstaaten der Euro-Zone beträchtliche Haftungsrisiken, die dem BVerfG im OMT-Verfahren große Sorgen bereiteten. Im PSPP-Verfahren ging es ebenfalls um den Kauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt. Im Unterschied zum OMT-Programm handelte es sich beim PSPP-Programm allerdings nicht um ein selektives, auf bestimmte krisengeschüttelte Mitgliedstaaten beschränktes Programm ohne Ausgabenobergrenze, sondern nach dem PSPP-Programm wurden zu festgelegten Höchstgrenzen Anleihen in ­allen Euro-Mitgliedstaaten gekauft. Während das OMT-Programm jedoch niemals umgesetzt wurde, sind im Rahmen des PSPP-Programms Staatsanleihen in Höhe von mehr als zwei Billionen Euro gekauft worden. Gegenstand des Verfahrens zur Europäischen Bankenunion waren schließlich neue sekundärrechtliche Regelungen, die nach den Erfahrungen der Europäischen Staatsschuldenkrise die institutionelle Rolle der EZB stärkten, indem sie dieser zusätzlich zu ihren geldpolitischen Funktionen die Aufgabe der Bankenaufsicht übertrugen. Im OMT- und im PSPP-Verfahren stellten sich im Kern die Fragen, ob das OMTbzw. das PSPP-Programm noch von dem auf Währungspolitik beschränkten Mandat der EZB gedeckt (Art. 119, 127 AEUV) und mit dem Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung (Art. 123 AEUV) vereinbar sind. In den Vorlagebeschlüssen in diesen beiden Verfahren hatte das BVerfG seine Zweifel daran deutlich artikuliert: Die 245  BVerfGE 146, 216  – PSPP-Beschluss (2017). Dazu: Andrej Lang, Ultra vires review of the ECB’s Policy of Quantitative Easing: An Analysis of the German Constitutional Court’s Preliminary Reference Order in the PSPP case, CMLRev. 55 (2018), 923 ff. 246  BVerfG, Urteil vom 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 – Europäische Bankenunion. Dazu: Andreas Orator, Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Zum Karlsruher Schauspiel „Die EU-Bankenunion“, RuP 55 (2019), 54 ff. 247  Konkret bekundete Draghi, dass „the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro“. Siehe Rede von Mario Draghi vom 26. Juli 2012 auf der Global Investment Conference in London, www.ecb.europa.eu/press/key/date/2012/html/sp120726.en.html. Zugegriffen am 30.12.2019. 248  Exemplarisch: Peter Coy, How Mario Draghi Found a Way to Rescue the Euro, Bloomberg Businessweek v. 17.01.2013.

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Entscheidung der EZB hinsichtlich des OMT-Programms über „nicht begrenzte, politisch konditionierte Ankäufe von Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten“ gehe einerseits über das währungspolitische Mandat der EZB hinaus, indem sie in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Wirtschaftspolitik übergreife,249 andererseits stelle diese Entscheidung eine unzulässige Umgehung des Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung dar.250 Das Gericht bekundete auch seine Überzeugung, dass diese Verstöße grundsätzlich als „eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung“ im Sinne der Honeywell-Rechtsprechung zu qualifizieren seien,251 insbesondere „weil sie zu einer erheblichen Umverteilung zwischen den Haushalten und damit den Steuerzahlern der Mitgliedstaaten führen können und damit Züge eines Finanzausgleichs tragen, den die europäischen Verträge nicht vorsehen“.252 Im PSPP-Verfahren formulierte das BVerfG etwas vorsichtiger, dass „es gewichtige Anhaltspunkte dafür [gebe], dass der PSPP-Beschluss aufgrund seines Volumens und wegen seines mehr als zwei Jahre dauernden Vollzugs vom Mandat der EZB nicht gedeckt ist“ und „sich auf der Grundlage einer Gesamtschau der maßgeblichen Abgrenzungskriterien nicht mehr als währungspolitische […] Maßnahme darstelle[]“.253 Allerdings sah sich das Gericht in beiden Verfahren auch insoweit an seine Honeywell-­Kriterien gebunden, als der Feststellung eines Ultra-vires-Akts eine Vorlage an den EuGH vorauszugehen hat. Nachdem der EuGH auf die Vorlage des BVerfG hin in seinem Gauweiler-Urteil das OMT-Programm der EZB als von den vertraglichen Kompetenzgrundlagen gedeckt bewertet hatte,254 ruderte das BVerfG zur Vermeidung einer europäischen Verfassungskrise zurück und erblickte trotz „gewichtiger Bedenken“255 nunmehr im OMT-Programm „keine qualifizierten Über-

 BVerfGE 134, 366 (398 ff.) – OMT-Beschluss (2014).  BVerfGE 134, 366 (411 ff.) – OMT-Beschluss (2014). 251  BVerfGE 134, 366 (392) – OMT-Beschluss (2014). 252  BVerfGE 134, 366 (393) – OMT-Beschluss (2014). Kritisch Verfassungsrichter Gerhardt in seinem abweichenden Sondervotum, dem zufolge „[d]ie Einschätzung des Senats, das OMT-Programm überschreite offensichtlich und strukturverschiebend die der Europäischen Zentralbank zugewiesenen Kompetenzen, […] mit guten Gründen bestritten werden“ könne. Denn „Währungsund Wirtschaftspolitik sind aufeinander bezogen und können nicht strikt unterschieden werden“. Dieser Fall zeige daher überdeutlich, „[w]ie schwierig das Kriterium der Offensichtlichkeit zu handhaben ist“. Gerhardt, abw. Meinung, BVerfG, ebd., 435. 253  BVerfGE 146, 216 (Rn. 114) – PSPP-Beschluss (2017). 254  EuGH, Urt. v. 16.06.2015, Rs. C-62/14 – Gauweiler u. a., ECLI:EU:C:2015:400. Dazu: Vestert Borger, Outright monetary transactions and the stability mandate of the ECB: Gauweiler, CML Rev. 53 (2016), 139 ff.; Dariusz Adamski, Economic constitution of the euro area after the Gauweiler preliminary ruling, 52 CML Rev. 52 (2015), 1451 ff.; Paul Craig/Menelaos Markakis, Gauweiler and the legality of outright monetary transactions, E.L.Rev. 41 (2016), 4 ff.; Alicia Hinarejos, Gauweiler and the outright monetary transactions programme: The mandate of the European central bank and the changing nature of economic and monetary union, EuConst 11 (2015), 563 ff.; Tomi Tuominen, Aspects of constitutional pluralism in light of the Gauweiler saga, E.L.Rev. 43 (2018), 186 ff. 255  BVerfGE 142, 123 (Rn. 175) – OMT-Urteil (2016). 249 250

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schreitungen“ der zugewiesenen Kompetenzen durch die EZB.256 Im PSPP-­ Verfahren, in dem der EuGH im Weiss-Urteil auf die Vorlage des BVerfG das PSPP-Programm als unionsrechtskonform erachtete,257 steht das abschließende Urteil des BVerfG zwar noch aus, es ist allerdings zu erwarten, dass das BVerfG auch hier das Programm nicht als Ultra-vires-Akt einstufen wird.258 Im Urteil zur Europäischen Bankenunion sah das Gericht zwar von einer Vorlage an den EuGH ab, verneinte aber das Vorliegen eines Ultra-vires-Akts.259 Die dogmatische und verfassungstheoretische Blaupause zur Ultra-vires-­ Kontrolle der EZB hat das BVerfG im OMT-Urteil entwickelt. Zum einen arbeitete das Gericht dort die Parallelen und Unterschiede zwischen den Prüfverfahren der Ultra-­vires-Kontrolle und der Identitätskontrolle heraus.260 Es handele sich um „eigenständige Kontrollverfahren, die unterschiedliche Maßstäbe anwenden“, aber sich beide aus der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG ableiteten.261 Dementsprechend sei die Ultra-vires-Kontrolle ein besonderer „Anwendungsfall des allgemeinen Schutzes der Verfassungsidentität“.262 Nach den Ausführungen des Gerichts dienen beide Kontrollinstrumente auch dem Schutz des in Art.  79 Abs.  3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG garantierten Demokratieprinzip. Während die Identitätskontrolle den „Schutz vor einer substanziellen Erosion der Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages“ gewährleiste,263 sichere die Ultra-vires-Kontrolle das Demokratieprinzip in seiner Konkretisierung als Grundsatz der Volkssouveränität.264 Aus dem Grundsatz der Volkssouveränität leitet das BVerfG das Erfordernis ab, dass „das in Deutschland zur Anwendung gelangende Unionsrecht über ein hinreichendes Maß an demokratischer Legitimation“ verfügen muss.265 Ein solches Legitimationsniveau kann aber nur durch die Mitwirkung des Deutschen Bundestags vermittelt werden. Anderenfalls sind die Bürger in Ansehung einer EU-­ Maßnahme „einer politischen Gewalt unterworfen sind, der sie nicht ausweichen können und die sie nicht prinzipiell personell und sachlich zu gleichem Anteil in  Ebd., Rn. 174. Eingehend zum Gerichtsdialog zwischen dem BVerfG und dem EuGH im Rahmen des OMT-Verfahrens, siehe unten Kap. 19, A. und B., I. 257  EuGH, Urt. v. 11.12.2018, Rs. C-493/17 – Weiss u. a., ECLI:EU:C:2018:1000. Hierzu: Mark Dawson/Ana Bobić, Quantitative Easing at the Court of Justice – Doing whatever it takes to save the euro: Weiss and Others, CML Rev. 56 (2019), 1005 ff.; Markus Gentzsch, Gerichtliche Kon­ trolle geldpolitischer Entscheidungen der EZB am Beispiel des Public Sector Purchase Programme, EuR 2019, 279 ff. 258  Zu den Hintergründen: Andrej Lang, Ultra vires review of the ECB’s Policy of Quantitative Easing: An Analysis of the German Constitutional Court’s Preliminary Reference Order in the PSPP case, CML Rev. 55 (2018), 923 (935 ff.). 259  Siehe BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 – Europäische Bankenunion, Rn. 158 und 231. 260  Dazu näher unten Dritter Teil, Kap. 18, C., I. 261  BVerfGE 142, 123 (188) – OMT-Urteil (2016). 262  BVerfGE 142, 123 (203) – OMT-Urteil (2016). 263  BVerfGE 142, 123 (188) – OMT-Urteil (2016). 264  BVerfGE 142, 123 (186) – OMT-Urteil (2016). 265  BVerfGE 142, 123 (186) – OMT-Urteil (2016). 256

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Freiheit zu bestimmen vermögen“.266 Aus diesem Grund berühren „hinreichend qualifizierte Kompetenzüberschreitungen“ durch EU-Institutionen, die nicht von dem im Zustimmungsgesetz abgesteckten Integrationsprogramms gedeckt sind oder „aus dem vom parlamentarischen Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen“ ausbrechen, die „Identität der Verfassung“.267 Darüber hinaus sieht das BVerfG neben dem Demokratieprinzip auch einen engen funktionalen Zusammenhang zwischen der Ultra-vires-Kontrolle und dem Rechtsstaatsprinzip.268 Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Teilgrundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verlange eine „Aufgabenzuweisung“ und für Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers eine „bestimmte gesetzliche Ermächtigung der Exekutive“.269 Zum anderen bemühte sich das BVerfG darum, seine Honeywell-Kriterien zum Vorliegen eines Ultra-vires-Akts zu präzisieren bzw. zu modifizieren, ließ dabei aber viele Fragen offen. Die noch im Honeywell-Beschluss270 einschränkungslos bekräftigte Notwendigkeit einer Vorlage an den EUGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts sieht das Gericht nach den Erfahrungen im OMT-Verfahren nur noch „soweit erforderlich“ für angebracht.271 Das Kriterium der Strukturrelevanz verlangt nach dem BVerfG eine Kompetenzüberschreitung, die für das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität erhebliches Gewicht besitzt.272 Das sei insbesondere dann der Fall, wenn das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung durch die Inanspruchnahme von Kompetenz unterlaufen würde, die eigentlich „eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV oder die Inanspruchnahme einer Evolutivklausel erforderte“.273 An das Kriterium der Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung knüpft das BVerfG einerseits strenge Voraussetzungen: Danach darf sich die Kompetenz „unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründen“ lassen und dem EuGH muss – angesichts der Unterschiedlichkeit der Aufgaben und Maßstäbe der beiden Gerichte – ein „Anspruch auf Fehlertoleranz“ zugestanden werden, der „erst bei einer offensichtlich schlechterdings nicht mehr nachvollziehbaren und daher objektiv willkürlichen Auslegung der Verträge“ erlischt.274 Andererseits relativiert das Gericht diese Voraussetzungen zur Wahrung seines Entscheidungsspielraums sogleich: Die Offensichtlichkeit einer Kompetenzüberschreitung setze nicht voraus, „dass keine unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu dieser Frage vertreten werden“ und  BVerfGE 142, 123 (200) – OMT-Urteil (2016).  BVerfGE 142, 123 (203) – OMT-Urteil (2016). 268  BVerfGE 142, 123 (202) – OMT-Urteil (2016). 269  BVerfGE 142, 123 (202) – OMT-Urteil (2016). 270  BVerfGE 126, 286 (304) – Honeywell (2010). 271  BVerfGE 142, 123 (203 f.) – OMT-Urteil (2016). 272  BVerfGE 142, 123 (201) – OMT-Urteil (2016). 273  Ebd. Als Beispiel verweist das BVerfG auf das erste EuGH-Gutachten zum EMRK-Beitritt der EU, ebd., in dem der Gerichtshof entschieden hatte, dass ein Beitritt zur EMRK auf Grundlage der gegenwärtigen vertraglichen Rechtsgrundlage nicht möglich sei, sondern einer Vertragsänderung bedürfe. Vgl. EuGH, Gut. v. 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140. 274  BVerfGE 142, 123 (201) – OMT-Urteil (2016). 266 267

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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könne auch hinsichtlich „einer sorgfältigen und detailliert begründeten Auslegung“ gegeben sein.275 Ein gewisser Widerspruch ist in diesen Ausführungen angelegt: Wie kann eine sorgfältig und detailliert begründete Auslegung zu einer Frage, zu der unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten werden, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründet sein? Jedenfalls ist im Zusammenhang mit dem währungspolitischen Mandat der EZB und dem Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, deren Inhalt und Reichweite in der Rechtswissenschaft höchst umstritten sind, zweifelhaft, ob ein plausibles Argument dafür vorgebracht werden kann, dass sich die Notenbankpolitik der quantitativen Lockerung der EZB kompetenziell „unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründen lässt“. Ein Blick auf die Rechtsprechungspraxis des BVerfG im OMT- und im PSPP-Verfahren legt nahe, dass das Gericht das Offensichtlichkeit-­Kriterium strategisch einsetzt, um seinen Einfluss auf den EuGH zu maximieren. In den Vorabentscheidungsersuchen im OMT- und im PSPP-Verfahren spielt das Kriterium für die Auslegung des EU-Rechts durch das BVerfG keine Rolle. Das Gericht prüft nicht, ob das OMT- oder das PSPP-Programm kompetenziell unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt begründet werden können, sondern legt stattdessen seine bevorzugte Auslegung des Unionsrechts dar – und zwar unabhängig davon, ob eine unterschiedliche Rechtsauffassung vertretbar erscheint. Im OMT-Verfahren kommt das Offensichtlichkeit-Kriterium erst in dem  – nach der Vorabentscheidung des EuGH ergangenen – Urteil in der Hauptsache zum Einsatz. Dort nutzt das BVerfG das Kriterium, um seine Rechtsauffassung mit der des EuGH in Einklang zu bringen und einen offenen Rechtsprechungskonflikt zu vermeiden.276 Mit anderen Worten soll die hermeneutische Geschmeidigkeit des Kriteriums der Offensichtlichkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens zur Erhöhung des Drucks auf den EuGH beitragen, damit dieser die vorgetragenen Bedenken des BVerfG aufgreift und im Rahmen des Hauptsacheverfahrens unter Verweis auf die hohen Anforderungen an das Vorliegen einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung zur Vermeidung eines offenen Rechtsprechungskonflikts. 2 . Die Ultra-vires-Rechtsprechung anderer nationaler Verfassungsgerichte in der EU Neben dem Bundesverfassungsgericht verwenden der dänische Højesteret (b.) und das tschechische Verfassungsgericht (c.) die Ultra-vires-Kontrolle. Auch in der Cohn-Bendit-Entscheidung des Conseil d’État lässt sich ein Ultra-vires-Vorwurf gegenüber dem EuGH erblicken (a.).277  BVerfGE 142, 123 (201) – OMT-Urteil (2016).  BVerfGE 142, 123 (Rn. 174) – OMT-Urteil (2016). 277  Auch der polnische Verfassungsgerichtshof hat in seinem Urteil über den Beitrittsvertrag eine Ultra-vires-Kontrolle angekündigt. Siehe Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 11.05.2005, K 18/04 – Beitrittsvertrag, Teil III.4.5. und 10.3. 275 276

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

a. Das Cohn-Bendit-Urteil des französischen Conseil d’État vom 22.12.1978 Eine substanzielle Entsprechung der bundesverfassungsgerichtlichen Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts gibt es in Frankreich nicht.278 Weil die Kontrollbefugnis des Conseil constitutionnel jedenfalls bislang auf die Prüfung des Zustimmungsgesetzes vor der Ratifikation des völkerrechtlichen Vertrages beschränkt war, fiel das Ausbrechen eines europäischen Sekundärrechtsakts aus dem völkervertraglich festgeschriebenen Integrationsprogramm nicht in das Prüfungsprogramm des Verfassungsrates.279 Auch der Conseil d’État, dessen Duktus und Selbstverständnis sich schon schwer mit einer – in dem Urteil eines Gerichts entwickelten – demokratietheoretischen Fundierung der Kompetenzkontrolle der europäischen Institutionen vereinbaren lassen, hat keine ernsthaften dogmatischen Kontrollmodelle à la ausbrechender Rechtsakt entwickelt. Allerdings stammt aus der europarechtsskeptischen Zeit des Conseil d’État vor dem Nicolo-Urteil von 1989 ein Urteil, in dem der Verwaltungsrat eine Ultra-vires-Kontrolle der EuGH-Rechtsprechung vornimmt. In der Rechtssache Cohn-Bendit von 1979 berief sich der damalige Anführer der französischen Studentenbewegung und heutige Grünen-Politiker Daniel Cohn-­ Bendit gegen seine Ausweisung aus Frankreich280 vor dem Tribunal administratif de Paris auf die Arbeitnehmerfreizügigkeitsrichtlinie 64/221/EWG.281 Der Conseil d’État, an den das Tribunal administratif den Rechtsstreit verwiesen hatte, lehnte jedoch überhaupt die unmittelbare Wirkung von Richtlinien und damit die Anwendbarkeit der Richtlinie 64/221/EWG in dem Rechtsstreit ab.282 Damit stellte sich der Conseil d’État eindeutig in Widerspruch zu der Rechtsprechung des EuGH, der die Möglichkeit einer unmittelbaren Wirkung von europäischen Richtlinien 1974 in van Duyn ausdrücklich bejaht hatte.283 Mayer hat diese Entscheidung zutreffend als „Ultra vires-Vorwurf an den EuGH“284 charakterisiert, weil der Conseil d’État – wie das BVerfG – dem EuGH „die Prinzipienfrage der ‚richtigen Auslegung‘ von Gemeinschaftsrecht“ nicht überlassen will und eine „Parallelauslegung des Gemeinschaftsrechts“ vornimmt, allerdings ohne – und im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht – vom Verfassungsrecht auszugehen.285 Die Rechtsprechung Cohn-Bendit ist

 Siehe Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 143.  Ebd., 149. 280  Daniel Cohn-Bendit ist in Frankreich aufgewachsen und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. 281  Conseil d’État, Urt. v. 22.12.1978 – Ministre de l’Intérieur v. Sieur Cohn-Bendit, Rec. 524, EuR 1979, 292  ff. Siehe zu dem Urteil: Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 152  ff.; Christian Tomuschat, La justice  – c’est moi. Zum Cohn-Bendit-Urteil des französischen Conseil d’État vom 22. Dez. 1978, EuGRZ 1979, 257 ff. 282  Die Annahme einer unmittelbaren Wirkung lasse Art. 189 EWGV (heute: Art. 288 AEUV) „klarerweise“ nicht zu. Conseil d’État, ebd. 283  Kritisch zu dieser Entscheidung: Christian Tomuschat, La justice – c’est moi. Zum Cohn-Bendit-Urteil des französischen Conseil d’État vom 22. Dez. 1978, EuGRZ 1979, 257 ff. 284  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 163. 285  Ebd., 164. Im Unterschied zur deutschen Rechtsprechung geht es nicht um einen ausbrechenden Rechtsakt, sondern um eine ausbrechende Rechtsprechung. Ebd., 158. 278 279

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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allerdings ein Einzelfall geblieben und wurde mittlerweile durch den Conseil im Perreux-Verfahren ausdrücklich aufgegeben.286 b. Die Ultra-vires-Entscheidungen des dänischen Højesteret aa. Das Urteil in der Rs. Carlsen v. Rasmussen vom 06.04.1998 In seinem Urteil vom 6. April 1998 in der Rechtssache Carlsen v. Premierminister Rasmussen beanspruchte der – bis dahin und seitdem in Fragen der europäischen Integration zurückhaltende  – Oberste Gerichtshof Dänemarks, der Højesteret, im Rahmen seiner Prüfung der Vereinbarkeit des dänischen Zustimmungsgesetzes zum Maastricht-Vertrag mit der Integrationsklausel der dänischen Verfassung, dem § 20 des Grundgesetzes, eine Ultra-vires-Kontrolle über abgeleitetes Gemeinschaftsrecht.287 Ganz ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil begründet der Højesteret diese Kontrollbefugnis mit dem – aus dem Text der dänischen Integrationsklausel zwanglos ableitbaren – Bestimmtheitserfordernis, wonach die Souveränitätsübertragung auf die Europäische Union hinreichend bestimmt und überschaubar sein muss.288 Dann aber, so die Logik des Højesteret, dürfe es den europäischen Institutionen nicht „überlassen“ bleiben, „den Umfang ihrer Befugnisse zu bestimmen“.289 Gleichzeitig könne den dänischen Gerichten „die Befugnis nicht genommen werden […], Fragen dahin gehend zu überprüfen, inwieweit ein EG-Rechtsakt die Grenzen der durch das Beitrittsgesetz vorgenommenen Souveränitätsübertragung überschreitet“.290 Auch sonst ist der Einfluss des bundesverfassungsgerichtlichen Maastricht-Urteils unverkennbar: Anknüpfungspunkt der

 Conseil d’État, Urt. v. 30.10.2009, Nr. 298348 – Mme Perreux, EuR 2010, 554 ff. Siehe die Besprechung von Claus Classen, Der Conseil d’État auf Europakurs, EuR 2010, 557  ff. Classen verweist darauf, dass ein offener Konflikt mit dem EuGH wegen der mangelnden Anerkennung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien vermieden wurde durch akrobatische dogmatische Kon­ struktionen einerseits, und durch eine generell großzügige Klagemöglichkeit des Bürgers im französischen Verwaltungsprozess andererseits, die als objektive Legalitätskontrolle ausgestaltet ist und kein subjektives Recht im Sinne des deutschen Verwaltungsrechts verlangt. Ebd., 560. 287  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.04.1998, I 361/1997 – Carlsen u. a. v. Rasmussen, ZaöRV 58 (1998), 901 ff. Siehe zu der Entscheidung: Fredrik Thomas, Das Maastricht-Urteil des dänischen Obersten Gerichtshofs vom 6. April 1998, ZaöRV 58 (1998), 879 ff.; Katja Høegh, The Danish Maastricht Judgment, E.L.Rev. 24 (1999), 80 ff.; Rainer Hofmann, Der Oberste Gerichtshof Dänemarks und die europäische Integration, EuGRZ 1999, 1 ff.; Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 213 ff. 288  Nach § 20 Abs. 1 „des dänischen Grundgesetzes können Befugnisse, die aufgrund dieser Verfassung den Behörden [Organen] des Königreichs zustehen, […] durch Gesetz in näher bestimmtem Umfang solchen zwischenstaatlichen Behörden [Organen, Organisationen) übertragen. werden, die durch gegenseitige Übereinkunft zwecks Förderung zwischenstaatlicher Rechtsordnung und Zusammenarbeit errichtet worden sind“. 289  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.04.1998, I 361/1997 – Carlsen u. a. v. Rasmussen, ZaöRV 58 (1998), 901 (903). 290  Ebd., 905. 286

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

Kompetenzkontrolle, die im Demokratieprinzip fundiert wird,291 ist das nationale Beitritts- bzw. Zustimmungsgesetz292; die Kontrollbefugnis wird grundsätzlich allen dänischen Gerichten zugesprochen;293 außerdem beschäftigt sich der Højesteret eingehend mit der Flexibilitätsklausel des Art.  352 AEUV (ex-Art.  235 EGV).294 Allerdings ist bemerkenswert, dass der dänische Oberste Gerichtshof bereits bestimmte dogmatische Vorkehrungen zur Abschirmung gegen offene Rechtsprechungskonflikte vorsieht, die das BVerfG erst in Lissabon und in Honeywell vornimmt. Zum einen wird die Ultra-vires-Kontrolle auf eine „außergewöhnliche Situation“ beschränkt, die „mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt“ werden muss.295 Zum anderen darf eine Ultra-vires-Feststellung über einen Unionsrechtsakt nicht erfolgen, „ohne dass die Frage über dessen Vereinbarkeit mit dem Vertrag durch den Europäischen Gerichtshof geprüft worden ist“.296 bb. Die Ajos-Entscheidung vom 06.12.2016 In seiner Ajos-Entscheidung vom 06.12.2016 hat der Højesteret die Ultra-vires-­ Kontrolle erstmals angewendet.297 Die Entscheidung betraf die kontroverse Mangold-­ Rechtsprechung des EuGH zur Horizontalwirkung des Verbots von ­Altersdiskriminierungen.298 Der Entscheidung lag im Kern folgender Sachverhalt zugrunde: Nach seiner Kündigung forderte Herr Rasmussen, ein Arbeitnehmer, von Ajos, seinem privaten Arbeitgeber, eine Entlassungsabfindung; das dänische Angestelltengesetzes schloss jedoch aus altersbezogenen Gründen Abfindungszahlungen an bestimmte Arbeitnehmer aus.299 Nachdem der EuGH in einem anderen Verfah Ebd., 906: „Im Hinblick auf die Frage, ob die Souveränitätsübertragung durch das Beitrittsgesetz einen solchen Charakter hat, daß es gegen den Verfassungsgrundsatz einer demokratischen Regierungsform verstößt, ist festzustellen, daß jede Übertragung von Teilen der Gesetzgebungskompetenz des Folketing an eine internationale Organisation, einen gewissen Eingriff in die demokratische Regierungsform Dänemarks mit sich bringt“. 292  Ebd., 903. 293  Ebd., 905. 294  Ebd., 903 ff. 295  Ebd., 905 f. 296  Ebd., 905. 297  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A. Dazu: Mikael Madsen/Henrik Olsen/Urška Šadl, Competing Supremacies and Clashing Institutional Rationalities: The Danish Supreme Court’s Decision in the Ajos Case and the National Limits of Judicial Cooperation, ELJ 23 (2017), 140 ff.; Urška Šadl/Sabine Mair, Mutual Disempowerment: Case C-441/14 Dansk Industri, acting on behalf of Ajos A/S v Estate of Karsten Eigil Rasmussen and Case no. 15/2014 Dansk Industri (DI) acting for Ajos A/S v The estate left by A, EuConst 1 (2017), 347 ff. 298  Siehe dazu näher oben Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 1., c. 299  In § 2 Abs. 3 des dänischen Angestelltengesetzes heißt es: „Erhält der Angestellte bei seinem Ausscheiden eine Altersrente vom Arbeitgeber und ist der Angestellte dem entsprechenden Rentensystem vor Vollendung des 50. Lebensjahrs beigetreten, entfällt die Entlassungsabfindung.“ Der Bezug der Altersrente setzt ein kollektivvertraglich festgesetztes Mindestalter von 60 Jahren vo­ raus. Im konkreten Fall hatte der 60 Jahre alte Herr Rasmussen einen Anspruch gegen Ajos auf die 291

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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ren, der Rs. Ingeniørforeningen i Danmark,300 bereits die Unvereinbarkeit der dänischen Regelung mit der unionsrechtlichen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/ EG festgestellt hatte,301 berief sich eine dänische Gewerkschaft im Namen von Herrn Rasmussen auf dieses Urteil. In der Rs. Dansk Industri betreffend den Rechtsstreit zwischen Herrn Rasmussen und Ajos bestätigte der EuGH in seinen Antworten auf die Vorlagefragen des Højesteret, dass „das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78“ auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten anwendbar ist302 und einem nationalen Gericht angesichts dieser Rechtslage nur die beiden Möglichkeiten blieben, entweder die nationale Regelung unionsrechtskonform auszulegen oder unangewendet zu lassen.303 Dagegen wies der EuGH den vom Højesteret, der in ständiger Rechtsprechung Abfindungszahlungen in Fallkonstellationen wie im Rechtsstreit zwischen Herrn Rasmussen und Ajos ausgeschlossen hatte, in seiner zweiten Vorlagefrage angeregten Ausweg, den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung in Abwägung zu den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu bringen, zurück.304 Doch anstatt die Vorgaben des EuGH zu befolgen und gleichsam seine ständige Rechtsprechung zum Angestelltengesetz abzuändern, entschied sich der Højesteret auf verfassungsrechtlicher Grundlage zur Aktivierung seiner in Carlsen v. Premierminister Rasmussen anlässlich der gerichtlichen Kontrolle des Maastricht-Vertrags entwickelten Ultra-vires-Kontrolle.305 Der Højesteret betont in Ajos, dass die Anwendbarkeit des Unionsrechts in der dänischen Rechtsordnung von dem Umfang der durch das Beitrittsgesetz an die EU-Institutionen übertragenen Hoheitsrechte abhängt.306 Vor diesem Hintergrund weist der Oberste Gerichtshof darauf hin, dass es sich bei dem allgemeinen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters um einen ungeschriebenen Rechtsgrundsatz handele, der nicht durch eine spezifische Bestimmung in den europäischen Verträgen gedeckt sei.307 Eine solche Situation aber sei im Beitrittsgesetz nicht vorgesehen.308 Ein entsprechender Wille des dänischen Gesetzgebers lasse sich auch nicht in den travaux préparatoires zum Beitrittsgesetz und zu den Zustimmungsgesetzen

betriebliche Altersrente, durch den ein Anspruch auf eine Entlassungsabfindung ausgeschlossen war. 300  EuGH, Urt. v. 12.10.2010, Rs. C-499/08 – Ingeniørforeningen i Danmark, ECLI:EU:C:2010:600. 301  Ebd., Rn. 49. 302  EuGH, Urt. v. 19.04.2016, Rs. C-441/14 – Dansk Industri, ECLI:EU:C:2016:278, Rn. 35. 303  Ebd., Rn. 43. 304  Nach dem EuGH können „die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“ nicht die „Verpflichtung [des nationales Gerichts] in Frage stellen“, das im Widerspruch zur Richtlinie 2000/78 stehende nationale Recht entweder unionsrechtskonform auszulegen oder unangewendet zu lassen. Ebd. 305  Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A, inoffizielle englische Übersetzung, 45 ff. 306  Ebd., 45. 307  Ebd. 308  Ebd.

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon entdecken.309 Daher würde der Højesteret außerhalb der ihm durch die dänische Verfassung zugewiesenen Befugnisse handeln, soweit er das dänische Angestelltengesetz im konkreten Fall nicht anwendete.310 Im Ergebnis gab der Oberste Gerichtshof damit Ajos – trotz des widerstehenden EuGH-Urteils in der gleichen Sache – Recht und wies die Klage von Herrn Rasmussen auf Abfindungszahlung wegen der anwendbaren Regelung des Angestelltengesetzes ab.311 In dem Ajos-Urteil des dänischen Højesteret kommt ein grundsätzlicher Widerstand gegen die Methode der dynamischen Rechtsfortbildung des EuGH zum Ausdruck, wie sie in der Mangold-Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Ausdruck kommt. Allerdings zählt genau diese Methode zum Kernbestand des hermeneutischen Werkzeugkastens des EuGH.312 Insofern wendet sich der Højesteret gegen das Selbstverständnis des EuGH als „Motor der Integration“. In dem Rechtsprechungskonflikt stoßen unterschiedliche Rechtskulturen und unterschiedliche Vorverständnisse über die richterliche Rolle aufeinander. Problematisch ist aber, dass der Prüfungsmaßstab des Højesteret für die Kontrolle der EuGH-Rechtsprechung nicht auf die Wahrung grundlegender verfassungsrechtlicher Belange beschränkt ist. Von den noch in Carlsen v. Premierminister Rasmussen für die Ultra-vires-­ Kontrolle einschränkend aufgestellten Erfordernissen einer „außergewöhnlichen Situation“, die „mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt“ werden muss, ist in Ajos keine Rede.313 Zudem liegt eine gewisse Ironie darin, dass der Højesteret sein Ajos-Urteil mit den Belangen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes rechtfertigt, durch seine (im Widerspruch zur EuGH-Rechtsprechung stehende) Entscheidung aber letztlich mehr Rechtsunsicherheit und weniger Vertrauensschutz hervorbringen dürfte.314 c. Das Holubec-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts vom 14.02.2012 Das tschechische Verfassungsgericht hat in seinem Holubec-Urteil vom 14. Februar 2012 erstmals ein EuGH-Urteil – in der Rechtssache Landtová – als Ultra-vires-Akt befunden und der unionsrechtlichen Sozialversicherungsverordnung 1408/71 in der Auslegungsvariante des EuGH die Anwendung in der tschechischen Rechtsordnung

 Ebd., 46 f.  Ebd., 48. 311  Ebd. 312  Hierzu im Einzelnen: Nils Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011. 313  Kritisch deshalb Scharling, abw. Meinung, Dänischer Oberster Gerichtshof, Urt. v. 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A, inoffizielle englische Übersetzung, 48 (50). 314  Darauf verweisen Mikael Madsen/Henrik Olsen/Urska Sadl, Competing Supremacies and Clashing. Institutional Rationalities: The Danish Supreme Court’s Decision in the Ajos Case and the National Limits of Judicial Cooperation, iCourts Working Paper Series, No. 85 (2017), 13. 309 310

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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verweigert.315 Bereits in seinem ersten Lissabon-Urteil hatte das tschechische Verfassungsgericht – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts  – die Kontrolle über Kompetenzüberschreitungen der europäischen Institutionen beansprucht, eine solche aber als ultima ratio für außergewöhnliche Situationen ausgegeben.316 In seinem Holubec-Urteil machte das tschechische Verfassungsgericht nun seine Ankündigung wahr. Die dem Urteil zugrunde liegende Streitsache ist äußerst komplex und politisch heikel: Es geht um nicht weniger als um die Rentenansprüche tschechischer Staatsbürger. Hintergrund ist ein bilaterales Abkommen zwischen der tschechischen und der Slowakischen Republik zur Regelung der Situation nach der Auflösung der Tschechoslowakei Ende 1992. Nach Art.  20 dieses Abkommens richtet sich der Rententräger nicht nach dem Wohnort, sondern nach dem Sitz des Arbeitgebers am Tag der Teilung. Das bedeutet, dass Tschechien für die Renten derjenigen (tschechischen oder slowakischen) Bürger verantwortlich ist, deren Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt ihren Sitz auf dem (zukünftigen) tschechischen Staatsgebiet hatten und die Slowakei für Bürger mit Arbeitgebern auf slowakischem Staatsgebiet. Die in dem Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts kulminierende Kontroverse wurde dadurch ausgelöst, dass die slowakischen Renten deutlich niedriger waren als die tschechischen. Daher forderten tschechische Staatsbürger, die unter das slowakische Rentenregime fielen, Renten in gleicher Höhe wie ihre tschechischen Mitbürger. Zusätzlich zur Brisanz des Falls trug ein „Krieg der Gerichte“ zwischen dem tschechischen Verfassungsgericht und dem tschechischen Obersten Verwaltungsgericht bei. Ersteres stellte sich auf die Seite der benachteiligten tschechischen Staatsbürger. Es entschied, dass Art. 20 des Abkommens unvereinbar mit Art. 30 der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten der Tschechischen Repu­ blik, der u. a. jedem Bürger das Recht auf eine angemessene materielle Sicherheit im Alter gewährt, und mit dem Gebot der Gleichberechtigung der tschechischen ­Staatsbürger sei. Deshalb stehe tschechischen Bürgern ein Anspruch auf Zahlung einer Zulage in Höhe der Differenz zwischen der slowakischen und der tschechischen Rente zu.317 Letzteres dagegen stellte sich auf die Seite der tschechischen Regierung, die die damit verbundenen Haushaltsbelastungen fürchtete. Das Verwaltungsgericht legte dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens aus strategischem Kalkül die Frage vor, ob eine – wie die vom tschechischen Verfassungsgericht vorgenommene  – Unterscheidung zwischen anspruchsberechtigten  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v.  31.01.2012, Pl. ÚS 5/12  – Holubec. Zustimmend: Attila Vincze, Das tschechische Verfassungsgericht stoppt den EuGH, EuR 2013, 194 (200  ff.). Kritisch: Jan Komárek, Czech Constitutional Court Playing with Matches, EuConst 8 (2012), 323 ff.; Georgios Anagnostaras, Activation of the Ultra Vires Review: The Slovak Pensions Judg­ ment of the Czech Constitutional Court, German L. J. 14 (2013), 959 ff.; Zdeněk Kühn, Ultra Vires Review and the Demise of Constitutional Pluralism: The Czecho-Slovak Pension Saga, and the Dangers of State Courts’ Defiance of EU Law, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 23 (2016), 185 ff. Differenzierend: Michal Bobek, Landtová, Holubec, and the Problem of an Uncooperative Court: Implications for the Preliminary Rulings Procedure, EuConst 10 (2014), 54 ff. 316  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 26.11.2008, PL ÚS 19/08 – Lissabon I, Rn. 139. 317  Vgl. Attila Vincze, Das tschechische Verfassungsgericht stoppt den EuGH, EuR 2013, 194 (195). 315

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tschechischen Staatsbürgern und nicht anspruchsberechtigten slowakischen Staatsbürgern mit dem in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 normierten Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar sei. Hier zeigt sich die Auswirkung der Ermächtigung nationaler Gerichte infolge der Transformation des Vorlageverfahrens als effektives Instrument zur Durchsetzung des Unionsrechts durch den EuGH: Nationale Gerichte können nunmehr die nationale Gerichtshierarchie umgehen und ihnen unliebsame nationale Regelungen strategisch durch Verweisungen an den EuGH außer Anwendung setzen  – oft zum ­Ärger letztinstanzlicher Gerichte wie in diesem Fall des tschechischen Verfassungsgerichts.318 In seinem Landtová-Urteil stellte der offensichtlich zwischen die Fronten dieses „Kriegs“ unter den tschechischen Gerichten geratene EuGH ganz im Einklang mit seiner unionsorientierten Perspektive fest, dass die Entscheidung des tschechischen Verfassungsgerichts „eine auf die Staatsangehörigkeit gestützte Diskriminierung zwischen eigenen Staatsangehörigen und den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten vornimmt“319 und „kein Gesichtspunkt dargetan worden“ sei, „der eine solche diskriminierende Behandlung rechtfertigen könnte“,320 sprich: Entweder stehe tschechischen und slowakischen Staatsbürgern die Zulage zu – wodurch sich die Belastungen der Rentenkasse natürlich erhöhen – oder keinem.321 Das wollte das tschechische Verfassungsgericht nicht auf sich sitzen lassen: Es griff zum letzten ihm zur Verfügung stehenden Mittel. Es erblickte in dem EuGH-­ Urteil eine Überschreitung der ihm durch die tschechische Republik übertragenen Kompetenzen und erklärt, dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als das EuGH-­ Urteil als ultra vires einzuordnen.322 Insbesondere wirft das Verfassungsgericht dem EuGH „a failure to respect European history“ vor, weil sich die von der Verordnung 1408/71 avisierte Situation europäischer Wanderarbeiter grundsätzlich von der Situation infolge der Auflösung der Tschechoslowakei unterscheide und diese nicht miteinander vergleichbar seien. Das Verfassungsgericht ist der Überzeugung, dass die Verordnung in diesem Fall überhaupt nicht anwendbar ist und setzt sich in seinem Urteil detailliert mit dem Anwendungsbereich der Verordnung auseinander.  Siehe dazu treffend im Zusammenhang mit dem Urteil: Jan Komárek, Czech Constitutional Court Playing with Matches, EuConst 8 (2012), 323 (323 f.). Allgemein zu diesem Phänomen: Michal Bobek, The Impact of the European Mandate of Ordinary Courts on the Position of Constitutional Courts, in: Monica Claes/Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning (Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2012, 287 ff. 319  EuGH, Urt. v. 22.06.2011, Rs. C-399/09 – Landtová, ECLI:EU:C:2011:415, Rn. 43. Darüber hinaus stellte der EuGH auch eine „mittelbare, sich aus dem Wohnortkriterium ergebende Diskriminierung“ fest. Ebd., Rn. 49. 320  Ebd., Rn. 47. 321  Natürlich bleiben andere, nicht-diskriminierende Kriterien zulässig, aber diese stellen natürlich nicht sicher, dass nur tschechische und nicht auch slowakische Staatsbürger Anspruch auf die Rentenzulage haben. 322  Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12 – Holubec: „[W]e cannot do otherwise than state […] that in that case there were excesses on the part of a European Union body, that a situation occurred in which an act by a European body exceeded the powers that the Czech Republic transferred to the European Union under Art. 10a of the Constitution; this exceeded the scope of the transferred powers, and was ultra vires.“ 318

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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Der in seinem ersten Lissabon-Urteil ausgestellte Prüfungsstandard, wonach die Ultra-vires-Kontrolle die ultima ratio für außergewöhnliche Situationen ist, wird ebenso wenig erwähnt, wie die immerhin vor gut eineinhalb Jahren verkündete Honeywell-­Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ultra-vires-Kontrolle. Dogmatische Abschirmungen zur Vermeidung offener Rechtsprechungskonflikte, wie eine Beschränkung auf offensichtlich kompetenzwidriges Handeln, Strukturrelevanz oder die Voraussetzung einer vorangehenden Vorlage an den EuGH, lassen sich in dem Urteil jedenfalls nicht finden. Vielmehr sind in dem Urteil gewisse Pa­ rallelen zur Cohn-Bendit-Entscheidung des Conseil d’État und zur Ajos-­Entscheidung des Højesteret im Hinblick darauf erkennbar, dass dem EuGH bei deutlich erkennbarer Frustration über dessen Rechtsprechung die Gefolgschaft verweigert wird – ohne dabei eine systematische, prinzipienorientierte Auseinandersetzung mit den Anforderungen an eine verfassungsgerichtliche Ultra-vires-Kontrolle unter den Bedingungen einer vernetzten Weltordnung vorzunehmen.323 3. Zwischenfazit Die Ultra-vires-Kontrolle ist ein vom Solange-Grundsatz zu unterscheidender Übertragungs- und Rechenschaftspflicht-Mechanismus, bei dem die Einhaltung der Kompetenzgrenzen durch inter- und supranationale Organisationen im Vordergrund steht. Bislang wurde die Ultra-vires-Kontrolle im Rahmen der EU vor allem vom BVerfG und vereinzelt vom französischen Conseil d’État in Cohn-Bendit, vom dänischen Højesteret in Carlsen v. Rasmussen und in Ajos sowie vom tschechischen Verfassungsgerichts in Holubec verwendet. Sie ist im Kern darauf ausgerichtet, nationale Entscheidungsbefugnisse vor einer schleichenden Ausweitung unionsrechtlicher Kompetenzen durch europäische Institutionen zu bewahren, indem auf eine striktere Kontrolle durch den EuGH über die Wahrung unionaler Rechtsgrundlagen hingewirkt wird. Das BVerfG hat die Ultra-vires-Kontrolle durch seine Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts im Maastricht-Urteil begründet, die es in eine demokratietheoretische Lesart der europäischen Integration einbettet. Danach entspricht eine Kompetenzverlagerung von den Mitgliedstaaten auf die EU einem Demokratiedefizit, weil der Kompetenzzuwachs der europäischen Institutionen nicht mit hinreichenden Legitimationsstrukturen korrespondiert. Der im Maastricht-Urteil entwickelte Prüfungsstandard sieht prinzipiell eine uneingeschränkte Überprüfung der Überschreitung von Befugnisnormen im Unionsvertrag vor. Eine Beschränkung der Prüfungsdichte auf unvertretbare Extremfälle besteht nicht. Damit unterscheidet sich das Maastricht-Urteil des BVerfG von der Carlsen v. Rasmussen-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Dänemarks, der die  Komárek bewertet das Urteil nicht als „calculated strategy“, sondern als Folge der „frustration of the Court over the apparent loss of its control over the ordinary courts, which can now take advantage of their cooperation with the Court of Justice and use it as a shield against the Constitutional Court’s authority“. Jan Komárek, Czech Constitutional Court Playing with Matches, EuConst 8 (2012), 323 (333).

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

Ultra-vires-Kontrolle auf außergewöhnliche Situationen beschränkt und vor einer Ultra-vires-Feststellung eine vorherige Befassung des EuGH mit der Frage der Vereinbarkeit eines Unionsrechtsakts mit dem Vertrag verlangt. Insbesondere im Honeywell-­ Beschluss schränkte das BVerfG schließlich die Reichweite seiner Ultra-­vires-Kontrolle erheblich ein und entschärfte das bestehende Konfliktpotenzial. Das Gericht bekräftigte das Erfordernis einer europarechtsfreundlichen Ausübung der Ultra-vires-Kontrolle, verlangte vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts, dass dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens Gelegenheit zur Vertragsauslegung gegeben wird und beschränkte die Ultra-vires-Kontrolle auf offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung. Im OMTVer­fahren wendete das BVerfG die Ultra-vires-Kontrolle in der Ausgestaltung der Honeywell-Kriterien erstmals in einem anderen Fall an. Insgesamt lässt sich jedoch ein deutlicher rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrend zur Ultra-vires-Kontrolle nicht erkennen. Es handelt sich vorwiegend um eine Konstruktion des BVerfG, die vereinzelt von anderen mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Höchstgerichten in der EU aufgegriffen wurde. Diesen Entscheidungen mangelt es an einer systematischen, prinzipienorientierten Ausei­ nandersetzung mit den Anforderungen an eine verfassungsgerichtliche Ultra-­vires-­ Kontrolle unter den Bedingungen einer vernetzten Weltordnung, wie die Entscheidungsbegründungen des Conseil d’État in Cohn-Bendit, des dänischen Obersten Gerichtshofs in Ajos und des tschechischen Verfassungsgerichts in Holubec zeigen. Sie erscheinen als Ausdruck einer spezifisch gelagerten Frustration über die Rechtsprechung des EuGH, aber nicht als dogmatische Ausgestaltung eines rechtsordnungsübergreifenden Rechenschaftspflicht-Mechanismus.

I I. Analyse: Die Grenzen der Ultra-vires-Kontrolle als Übertragungsmechanismus für die vernetzte Weltordnung Im Rahmen der Analyse der Ultra-vires-Kontrolle soll zunächst die dogmatische Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle und des Solange-Grundsatzes nebeneinander in den Blick genommen werden (1.), bevor dann erörtert wird, wie sich die Verwendung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs auf die Eignung der Ultra-vires-Kontrolle als Übertragungsmechanismus für die vernetzte Weltordnung auswirkt (2.). 1. Die Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle Bei der Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht lässt sich, wenn auch zeitlich versetzt, eine deutliche Parallele zu der Solange-­ Rechtsprechung erkennen. Wir erinnern uns, dass sich für die Ausgestaltung des Solange-Mechanismus drei Rechtsprechungsmodelle unterscheiden lassen: Das So-

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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lange I-Modell, das Bosphorus-Modell und das Bananenmarkt-Modell.324 Die Ähnlichkeit zwischen diesen Modellen und der Ausgestaltung der Ultra-vires-­Kontrolle in Maastricht und in Honeywell ist auffällig. Sie zeigt, dass die Ausgestaltung solcher abgestuften verfassungsgerichtlichen Kontroll- und Übertragungsmodelle für rechtsordnungsübergreifende Zusammenhänge nicht von einzelnen Problembereichen – sei es Grundrechtsschutz, sei es Wahrung des Kompetenzgefüges – abhängig ist, sondern auf verschiedene Problembereiche übertragen werden kann.325 Zunächst gleicht sich die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Ausgestaltung im Solange I-Beschluss und im Maastricht-Urteil. Beide Entscheidungen erheben jeweils einen verfassungsgerichtlichen Kontrollanspruch über das Unionsrecht in einem bestimmten Problembereich: Solange I begründet die prinzipielle Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts am Maßstab der deutschen Grundrechte, Maastricht führt die Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts ein. Beide Entscheidungen nehmen in dieser ersten Phase ein erhöhtes Konfliktpotenzial in Kauf, um das Problembewusstsein für konstitutionalistisch bedenkliche Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses zu schärfen. Auf dem Rechenschaftspflicht-­ Konfliktvermeidungs-­Kontinuum liegen Solange I und Maastricht nahe dem Rechenschaftspflicht-­Pol. In der zweiten Phase zieht sich das BVerfG dann jeweils auf eine Reservejurisdiktion zurück, um das durch seine Konstruktionen des Solange-­Grundsatzes und des ausbrechenden Rechtsakts hervorgerufene Konfliktpotenzial zu entschärfen und die Gefahr eines offenen Rechtsprechungskonflikts abzuschirmen. Dabei entspricht der Ansatz des BVerfG in Honeywell allerdings eher dem Bosphorus- als dem Bananenmarkt-Modell. Zwar gleichen sich alle diese Ansätze darin, dass der Kontrollanspruch auf eindeutige, schwerwiegende Fälle begrenzt wird: In Honeywell muss die Kompetenzüberschreitung „hinreichend qualifiziert“, in Bosphorus muss der durch EU-Institutionen gewährleistete Grundrechtsschutz „offensichtlich unzureichend“ sein, in Bananenmarkt ist „ein generelles Absinken des Grundrechtsstandards“ erforderlich. Während sich nach der Dogmatik in Bosphorus und in Honeywell die verfassungsgerichtliche Kontrollbefugnis bei schwerwiegenden Verfehlungen auch im Einzelfall aktivieren lässt,326 bedarf es nach dem Bananenmarkt-Modell einer systematischen Unterschreitung und nach der vom BVerfG gewählten prozessualen Lösung werden Verfassungsbeschwerden und Gerichtsvorlagen bereits auf der Zulässigkeitsebene abgehandelt. Spezifische, problemfeldbezogene Gründe dafür, dass das BVerfG im Bereich des Grundrechtsschutzes das Bananenmarkt-Modell und im Bereich der Kompetenzkontrolle das Bosphorus-Modell wählt, sind nicht ohne Weiteres ersichtlich. Der Umstand, dass das BVerfG, welches das Bananenmarkt-Modell eingeführt hat, in Honeywell dem Bosphorus-­ Modell folgt, scheint die hier vertretene These zur Herausbildung

 Dazu oben Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 3.  Zur Harmonisierungsfähigkeit der Grundrechts-, der Ultra-vires- und der Identitätskontrolle: Hans-Georg Dederer, Die Grenzen des Vorrangs des Unionsrechts – Zur Vereinheitlichung von Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle, JZ 69 (2014), 313 ff. 326  Das wird durch den OMT-Beschluss deutlich. Vgl. BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss (2014). 324 325

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen zu belegen.327 Es ist auffällig, dass das im Einzelfall aktivierbare und damit fallbezogene Bosphorus-Modell, das ein frühzeitiges Gegensteuern gegen rechtsordnungsfremde Fehlentwicklungen erleichtert, unter Verfassungsgerichten immer mehr an Popularität gewinnt und sich als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnorm herausbilden könnte. Auch die Entscheidung des dänischen Højesteret, die die Ultra-vires-Kontrolle auf „außergewöhnliche Situationen“ beschränkt und eine vorherige Befassung des EuGH mit der Ultra-vires-Frage zur Voraussetzung macht, lässt sich diesem Modell zuordnen. Trotz der beschriebenen Parallelen zwischen dem Solange I-Beschluss und dem Maastricht-Urteil erscheint folgende Unterscheidung angebracht: Wenn die Kunst der verfassungsgerichtlichen Kontrolle rechtsordnungsfremder Institutionen in der Herstellung latenter Rechtsprechungskonflikte, bei gleichzeitiger Abschirmung vor offenen Rechtsprechungskonflikten, liegt, dann ist bemerkenswert, wie wenig sich das BVerfG in Maastricht – und erst recht das tschechische Verfassungsgericht in Holubec sowie der der dänische Oberste Gerichtshof in Ajos – mit Fragen der Konfliktvermeidung beschäftigt. Das gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass das Gericht zum Zeitpunkt des Maastricht-Urteils bereits die Solange-Saga durchlebt und sich in seiner Solange II-Entscheidung bereits in Fragen des Grundrechtsschutzes auf eine Reservejurisdiktion zurückgezogen hatte. Die dogmatische Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts in der Ausgestaltung des Maastricht-Urteils ist ein Beispiel für eine unzureichende Abschirmung vor der Entstehung offener Rechtsprechungskonflikte. Das lässt sich unter Bezugnahme auf das Dammbruchargument illustrieren.328 Die damit von den Föderalisten artikulierte Sorge ist, dass Entscheidung A (verfassungsgerichtliche Kontrolle im Einzelfall) zu Folge B (Rechtsfragmentierung) führen kann. Eine verwandte Überlegung ist dabei, wie man Entscheidung A in einer Art und Weise treffen kann, die den Eintritt von B besonders unwahrscheinlich macht.329 Konzipiert man die Kon­ struktion des ausbrechenden Rechtsakts im Maastricht-Urteil als Entscheidung A, dann erscheint die unerwünschte Folge der europäischen Rechtsfragmentierung nicht mehr ganz so unwahrscheinlich – jedenfalls unternimmt das BVerfG dagegen keine ausreichenden Vorkehrungen. Während das BVerfG in Solange I nur – einen den Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes  – adäquaten europäischen Grundrechtsschutz fordert,330 führt nach dem Maastricht-Urteil potenziell jede  – von den Vorstellungen des BVerfG abweichende – Auslegung des EuGH der vertraglichen Kompetenzgrundlagen zur Nichtanwendung des Unionsrechts im in­ nerstaatlichen Recht. Dogmatische Absicherungen zur Vermeidung offener Rechtsprechungskonflikte, etwa in Form einer Beschränkung der Prüfungsdichte, bestehen nicht. Darüber hinaus sieht das BVerfG von einer Monopolisierung der  Dazu näher oben Erster Teil, Kap. 7, C.  Näher oben Zweiter Teil, Kap. 10, A., III. 329  Eugene Volokh, The Mechanisms of Slippery Slope, Harv. L. Rev. 116 (2003), 1026 (1036). 330  Die Senatsminderheit im Solange I-Beschluss dagegen erachtete einen unionsrechtlichen Grundrechtsschutz für hinreichend, „der in seinen Grundzügen dem Standard des Grundgesetzes entspricht“. BVerfGE 37, 271 (297) – Solange I (1974). 327 328

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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Verwerfungskompetenz für ausbrechende Rechtsakte ab, sondern lässt diese Frage zunächst ausdrücklich offen. Wenn aber nicht nur das Verfassungsgericht, sondern potenziell jedes Gericht über die Verwerfungskompetenz verfügt, dann wird damit nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Nichtanwendung des Unionsrechts – und das damit einhergehende Konfliktpotenzial – multipliziert, sondern vor allem gibt das BVerfG die Kontrolle über die Kompetenzkontrolle aus der Hand und erhöht damit die Gefahr des Dammbruchs. 2 . Der rechtsordnungsfremde Kontrollmaßstab als Problem der Ultravires-Kontrolle Gegen die verfassungsgerichtliche Ultra-vires-Kontrolle bestehen jedoch auch über die konkrete Ausgestaltung hinausgehende Bedenken.331 Insbesondere die bereits angesprochenen Probleme der Verwendung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs für die Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts treten hier mit besonderer Schärfe hervor. In einem ersten Schritt soll daher herausgearbeitet werden, dass der Ultra-vires-Kontrolle ein rechtsordnungsfremder Kontrollmaßstab zugrunde liegt (a.), bevor dann in einem zweiten Schritt die damit verbundenen Pro­ bleme dargelegt werden (b.). a. Die Verwendung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs Während der Solange-Grundsatz die rechtsordnungseigenen Grundrechtsgewährleistungen zum Kontrollmaßstab macht, dient der Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts effektiv das Unionsrecht als Kontrollmaßstab. Zwar wird mit dieser Konstruktion nach der Konzeption des Maastricht-Urteils das rechtsordnungseigene Demokratieprinzip geschützt. Kontrollmaßstab ist das deutsche Zustimmungsgesetz, durch das der Bundestag an der europäischen Integration mitwirkt, indem er das Integrationsprogramm festlegt. Der Inhalt des Zustimmungsgesetzes ist aber, wie bereits an anderer Stelle dargelegt wurde,332 mit dem Inhalt des europäischen Vertrages praktisch identisch, weil sich das Zustimmungsgesetz – neben der Aussage, dass der Bundestag dem Vertrag zustimmt  – inhaltlich in dem Vertrag erschöpft, den es in seinem Anhang enthält. Das deutsche Zustimmungsgesetz fungiert somit als deutsche Parallelversion der europäischen Verträge und „als Chiffre für den doppelten Prüfungsmaßstab von sowohl deutschem Verfassungsrecht als auch europäischem Gemeinschaftsrecht“.333 Paul Kirchhof, der einflussreiche Be Siehe im Einzelnen Sven Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, 213 ff. Vgl. auch Christian Calliess, Die europarechtliche Ultra-Vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts – Stumpfes Schwert oder Gefahr für die Autorität des Unionsrechts? in: ders. (Hrsg.), FS Torsten Stein, 2015, 446 ff. 332  Oben Dritter Teil, Kap. 14. 333  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 106. 331

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

richterstatter des Maastricht-Urteils, spricht insofern von einem „wortidentischen Rechtsmaßstab von Vertrag und Zustimmungsgesetz“.334 Es besteht somit eine europäische und eine deutsche Variante des Vertrages.335 Überprüft das Bundesverfassungsgericht anhand der Konstruktion zum ausbrechenden Rechtsakt mittelbar europäische Rechtsakte am Maßstab des Zustimmungsgesetzes, so gleicht es im Grunde „eine ‚deutsche Fassung‘ der Verträge als eigenständige Parallelversion mit der ‚europäischen Fassung‘ ab“.336 Im Kern geht es um das richtige Verständnis des Unionsrecht.337 Im Rahmen der Kompetenzkontrolle erheben nationale Verfassungsgerichte effektiv einen Anspruch auf die Interpretation des Unionsrechts. ­Soweit das BVerfG bei der Ultra-vires-Kontrolle die Einhaltung des im Zustimmungsgesetz – und damit gleichsam im europäischen Vertrag – festgelegten Inte­ grationsprogramms überprüft, muss es faktisch das Unionsrecht auslegen. Das wird deutlich, wenn das BVerfG in Honeywell, das tschechische Verfassungsgericht in Holubec und der dänische Højesteret in Ajos prüfen, ob die EuGH-Urteile in Mangold und in Landtová ausbrechende Rechtsakte sind.338 In aller Deutlichkeit tritt es im OMT-Beschluss und im PSPP-Beschluss hervor, wenn das BVerfG einen signifikanten Teil seiner Entscheidungsgründe ausdrücklich der „Interpretation des ­Unionsrechts durch das Bundesverfassungsgericht“339 bzw. der „Auslegung des Unionsrechts“340 widmet und die EZB-Ankaufprogramme von Staatsanleihen am Maßstab der europäischen Verträge prüft. b. Die Probleme der Ultra-vires-Kontrolle Diese Anmaßung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs, dem Unionsrecht, war schon im ersten EuG-Urteil in Kadi bedenklich.341 Ihre ganze Problematik offenbart sich aber vor allem im Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem Unionsrecht. Denn in dieser Konstellation gibt es mit dem EuGH eine obligatorisch zuständige Institution, die spezifisch zur Interpretation des Unionsrechts eingesetzt wurde. Zum Ersten ist in pluralistisch-heterarchischen Arrangements wie der vernetzten Weltordnung, wie wir gesehen haben,342 die Bewahrung der eigenen  Paul Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, JZ 53 (1998), 965 (966). 335  Kirchhof bezeichnet die europäische Variante als „Europavertragsrecht“, die deutsche Variante als „Europaverfassungsrecht“. Ebd., 973. 336  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 105. 337  Ebd., 107. 338  In beiden Fällen beschäftigen sich die Verfassungsgerichte jeweils eingehend mit genuin unionsrechtlichen Fragestellungen, insbesondere mit der Öffnung des Anwendungsbereichs der unionsrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinie bzw. der Sozialversicherungsverordnung. 339  BVerfGE 134, 366 (398) – OMT-Beschluss (2014). 340  BVerfGE 146, 216 (Rn. 76) – PSPP-Beschluss (2017). 341  Siehe oben Dritter Teil, Kap. 16, B. 342  Oben Erster Teil, Kap. 6. 334

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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Autonomie für die institutionellen Repräsentanten der unterschiedlichen Rechtsordnungen von essenzieller Bedeutung. Die Ultra-vires-Kontrolle aber geht über die legitime Vertretung rechtsordnungseigener Belange hinaus. Sie greift in die Kernkompetenzen des EuGH ein. Anders als im Solange-Ansatz tritt das kontrollierende Verfassungsgericht „in die Konkurrenz zum EuGH“.343 Dabei ist die gegenseitige Achtung der Autonomie Grundbedingung für die Interaktion im Netzwerk.344 Zum Zweiten erhebt ein Verfassungsgericht bei der Ultra-vires-Kontrolle einen Anspruch, der über das bipolare Verhältnis zwischen eigener und europäischer Rechtsordnung hinausreicht.345 Der Vorwurf, die europäischen Institutionen überschreiten ihre Kompetenzen, stellt „auch in anderen Mitgliedstaaten Geltung bzw. Anwendbarkeit des beanstandeten Gemeinschaftsrechts in Frage“.346 Aufgrund seines institutionellen Bias als Repräsentant seiner nationalen Rechtsordnung fehlt es einem nationalen Verfassungsgericht jedoch an der erforderlichen Legitimität, um die in den europäischen Verträgen vereinbarten Kompetenzgrundlagen auszulegen und einen über die eigene Rechtsordnung hinausreichenden Fehlervorwurf zu erheben.347 Deshalb sind die Vorlage des BVerfG an den EuGH im OMT-Verfahren und die Bewertung der Rechtsauffassung des EuGH zur Unionsrechtskonformität des OMT-Programms – trotz „gewichtiger Bedenken“348 – als „zumindest vertretbar“349 auch als Eingeständnis des Gerichts zu sehen, dass es allein, ohne Einbindung des EuGH, keine ausreichende Legitimation besitzt, „eine Entscheidung mit ­unkalkulierbar weitreichenden Konsequenzen für die ins Werk gesetzte Währung der gesamten Eurozone und die davon abhängigen Volkswirtschaften [zu] treffen“.350 Zum Dritten widerstrebt die Ultra-vires-Kontrolle – insbesondere in der Konzeption des Maastricht-Urteils – auch dem Sinn der Einsetzung inter- und supranatio Dieter Grimm, Das Grundgesetz als Riegel vor einer Verstaatlichung der Europäischen Union. Zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), 475 (479). Grimm führt zutreffend aus, dass dies „bei der Solange-Rechtsprechung noch vermieden“ wird, weil diese „lediglich eine Interpretation des Grundgesetzes, gefolgt von einer Subsumtion des strittigen Gemeinschaftsrechtsakts“ verlangt, „während die Feststellung, ob ein Gemeinschaftsrechtsakt aus den Verträgen ausbricht, nur aufgrund einer Interpretation des Vertrages (wenn auch lediglich in seiner Eigenschaft als integraler Teil des deutschen Zustimmungsgesetzes) getroffen werden kann, die aber der EuGH für sich beansprucht“. Ebd. 344  Vgl. oben Erster Teil, Kap. 6, B. 345  Franz Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 117. 346  Ebd. 347  Bereits oben Dritter Teil, Kap. 16, B. 348  BVerfGE 142, 123 (214 f.) – OMT-Urteil (2016). 349  Ebd., Rn. 177. 350  Lübbe-Wolff, abw. Meinung, BVerfGE 134, 366 (428 f.) – OMT-Beschluss (2014). Diesen Zusammenhang bringt die Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum auf den Punkt: „Die demokratische Legitimation, die die Entscheidung des nationalen Gerichts aus ihrer Verankerung in den Maßstäben des nationalen Rechts […] beziehen mag, vermittelt sich nicht […] über den nationalen Bereich hinaus. […] Die Frage ist aber, ob die rein nationale Perspektive, die sich in bestimmten Konfliktfällen zu recht gegenüber der unionsrechtlichen behauptet […], noch die angemessene und die von der nationalen Verfassung vorgegebene ist, wenn es um Rechts- und Realfolgen der hier in Rede stehenden Reichweite und Größenordnung geht.“ Ebd. 343

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

naler Institutionen. Wie bereits dargelegt,351 werden das Phänomen der Verselbstständigung und Autonomisierung des Willens eigenständiger Institutionen und die sich damit verändernde Dynamik der inter- und supranationalen Kooperation von den Mitgliedstaaten bewusst in Kauf genommen, um die diesen Institutionen überantworteten Ziele und Aufgaben wirksamer zu erreichen bzw. zu erfüllen. Diesem Umstand trägt die Konstruktion des ausbrechenden Rechtsakts nicht hinreichend Rechnung. Danach sind die europäische und die deutsche Variante des Vertrages im Ausgangspunkt, nämlich zum Zeitpunkt des Unterzeichnens des europäischen Vertrages und der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes, inhaltlich identisch. Jede substanzielle rechtsfortbildende Weiterentwicklung der europäischen Variante des Vertrages läuft nun aber Gefahr, von der deutschen Variante des Vertrages abzuweichen und in der Folge als ausbrechender Rechtsakt in der deutschen Rechtsordnung keine Anwendung zu finden. Denn die Fortentwicklung der Verträge verändert zwangsläufig deren Inhalt im Vergleich zur Ausgangsfassung. Ein Vertragswerk wie etwa der Vertrag von Maastricht bedarf jedoch der Auslegung und Weiterentwicklung durch die von ihm eingesetzten Institutionen. Insbesondere der Europäische Gerichtshof hat die Römischen Verträge maßgeblich fortentwickelt und die mit ihnen verbundenen hehren Ziele der Wirklichkeit angenähert, indem er die Gemeinschaftsordnung durch seine konstitutionelle Rechtsprechung von einer klassischen völkerrechtlichen in eine neuartige, supranationale Rechtsordnung transformierte.352 Nimmt man den im Maastricht-Urteil artikulierten strengen Maßstab für bare Münze, wäre ein beträchtlicher Anteil dieser Rechtsprechung ein ausbrechender Rechtsakt, ironischerweise wohl auch die in Solange I geforderten Reformen des europäischen Grundrechtsschutzes.353 Selbst der moderatere Maßstab aus dem Honeywell-­Beschluss, wonach aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts nicht jede, sondern nur offensichtliche und systemrelevante Abweichungen zwischen der deutschen und der europäischen Auslegung des europäischen Vertrags als Kompetenzübertretung zu bewerten sind, ist unvermeidlich mit dem grundlegenden Pro­ blem behaftet, dass effektiv europäisches Sekundärrecht am Maßstab des europä­ ischen Primärrechts geprüft und damit die Kernkompetenz des EuGH in Anspruch genommen wird. Wenn die Ultra-vires-Kontrolle des europäischen Sekundärrechts keinen überzeugenden verfassungsgerichtlichen Rechenschaftspflicht-Mechanismus darstellt, stellt sich natürlich die Frage, wie sonst nationale Verfassungsgerichte die Beachtung des Kompetenzgefüges und des Demokratieprinzips kontrollieren sollen?354  Eingehend oben Erster Teil, Kap. 2, C., II.  Siehe grundlegend J.H.H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale L. J. 100 (1991), 2403 ff. 353  Vgl. BVerfGE 126, 286 (305 f.) – Honeywell (2010), wo das BVerfG anerkennt, dass „die unter anderem vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Notwendigkeit, einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz auszubilden (vgl. BVerfGE 37, 271 [285]), […] seit den 1970er-Jahren nur rechtsfortbildend über die Methode der wertenden Rechtsvergleichung möglich [war].“ 354  Dieses Dilemma artikuliert das Bundesverfassungsgericht im OMT-Beschluss: „Diese Kon­ trolle ist […] nicht verzichtbar. Andernfalls wäre die Disposition über die vertraglichen Grundlagen auch insoweit auf die Organe und sonstigen Stellen der Europäischen Union verlagert, als deren 351 352

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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Bei der Diskussion um den verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstab für die europäische Integration hat sich gezeigt, dass eine Orientierung am Begriff der Verfassungsidentität, der eine Konzentration der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf grundlegende Verfassungsprinzipien und auf einen rechtsordnungseigenen Prüfungsmaßstab zum Ausdruck bringt, angemessenen erscheint.355 Wie dargelegt, schützt die Verfassungsidentität nach der Auffassung des BVerfG die Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestags vor einer substanziellen Erosion.356 Auch unter diesem Topos lassen sich bestimmte, wenn auch nicht alle verfassungsrechtlichen Konsequenzen einer offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitung erfassen.357 Ein Beispiel: Die Bedenken des BVerfG gegen das OMT-­ Programm der EZB, durch das die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestags aufgrund der hohen Haftungsrisiken für die Bundesrepublik Deutschland gefährdet wird, lassen sich auch von einem rechtsordnungseigenen Standpunkt aus, unter dem Gesichtspunkt der Gestaltungsmacht und der Budgethoheit des Bundestags, formulieren. Freilich schließt es dieser Anknüpfungspunkt aus, sich – wie bei der Ultra-vires-Kontrolle des OMT-Programms – detailliert mit den einschlägigen Vertragsbestimmungen des europäischen Vertrags auseinanderzusetzen. Unter den Begriff der Verfassungsidentität lässt sich eben nur die Wahrung nationaler Kernkompetenzen, aber nicht die Gewährleistung des unionalen Kompetenzgefüges allgemein fassen. Die Kontrolle dieses Kompetenzgefüges durch mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte aber stellt eine gerichtliche Kompetenzanmaßung dar, in der gerade, wie gezeigt, das Problem der Ultra-vires-Kontrolle liegt. Die Ultra-vires-Kontrolle dient der Kontrolle des Kompetenzgefüges. Erfahrungen mit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Kompetenzvorschriften in föderalen Zusammenhängen zeigen aber, dass die Kontrollmöglichkeiten in diesem Bereich begrenzt sind. Das liegt vor allem darin, dass vom politischen Prozess nicht nur – wie beim Grundrechtsschutz – für Fälle besonderer (grundrechtlich normierter) Betroffenheit des Einzelnen bestimmte Modifikationen und Nachbesserungen der kollektiv-verbindlichen Regeln verlangt werden. Vielmehr wird dem (europä­ ischen) politischen Prozess ganz grundlegend und allgemein die Regelung bestimmter Sachbereiche untersagt, obwohl eine solche von der politischen Mehrheit erstrebt wird. Eine so weitreichende Beschränkung der politischen Gestaltungsfreiheit geht zu weit. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Rechtfertigung der Ultra-vires-Kontrolle auf zwei zentralen Prämissen beruht, die der institutionellen Realität widersprechen. Zum einen wird die Ultra-vires-­ Kontrolle maßgeblich durch die Gewährleistung der Mitgestaltung europäischer Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe […].“ BVerfGE 134, 366 (384) – OMT-Beschluss (2014). 355  Oben Dritter Teil, Kap. 17, B. 356  Oben Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 1., d. 357  Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Schutz des Demokratieprinzips durch die Identitätskontrolle: Sven Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, 164 ff.

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

Rechtsetzung durch den Deutschen Bundestag in Form des Zustimmungsgesetzes gerechtfertigt, durch die der Legitimationszusammenhang zu dem – einer fremden politischen Gewalt unterworfenen – Bürger hergestellt wird. Die Hypothese, dass das Parlament den europäischen Integrationsprozess durch das Zustimmungsgesetz nicht nur absegnet, sondern maßgeblich mitgestaltet, entspricht jedoch nicht der realen Praxis. Wenn aber die Kompetenzvorschriften in den europäischen Verträgen vor allem von europäischen Staats- und Regierungschefinnen und -chefs beschlossen werden, dann wird auch kein Legitimationszusammenhang durchbrochen, wenn die exekutiven Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat in kompetenzwidriger Weise Rechtsakte auf der Grundlage dieser Kompetenzvorschriften erlassen. Zum anderen beruht die Ultra-vires-Kontrolle auf der Vorstellung, dass es eine Kompetenzkon­ trolle gegen inter- und supranationaler Institutionen geben müsse, die unter den Augen hilfloser Mitgliedstaaten die ihnen übertragenen Kompetenzen rücksichtslos überschreiten. Dieses Bild ist jedoch schief. Soweit man den Staat nicht als monolithische Einheit konzipiert, sondern das differenzierte Geflecht unterschiedlicher staatlicher Institutionen in den Blick nimmt, zeigt sich, dass die mitgliedstaatlichen Exekutiven den politischen Entscheidungsprozess inter- und supranationaler Organisationen maßgeblich steuern. Auch der Beschluss des EZB-Rates zum OMT-­ Programm zur Bekämpfung der europäischen Staatsschuldenkrise war von mitgliedstaatlichen Regierungen – zumindest stillschweigend – gebilligt.358 Einerseits wollten sie die Staatspleite eines Mitgliedstaats unbedingt verhindern, andererseits hatten sie nicht den politischen Willen, um das bestehende europäische Vertragswerk in einer Weise zu ändern, die außergewöhnliche finanzpolitische Maßnahmen durch die EZB wie das OMT-Programm unnötig gemacht hätte. Das bedeutet umgekehrt natürlich nicht, dass die verfassungsgerichtliche Kon­ trolle von Kompetenzvorschriften nicht sinnvoll sein kann – im Gegenteil: In Bundesstaaten, wo die Existenz unterschiedlicher staatlicher Entitäten, die jeweils über Gesetzgebungskompetenzen verfügen, erhebliches Konfliktpotenzial birgt, werden unabhängige und unparteiliche Verfassungsgerichte gerade für diese Aufgabe eingerichtet.359 In der Europäischen Union nimmt der EuGH diese Aufgabe wahr. Die Frage, die sich im Zusammenhang mit dem Kontrollinstrument der Ultra-vires-­ Kontrolle stellt, ist daher, ob die verfassungsgerichtliche Kontrolle unionsrechtlicher Kompetenzvorschriften durch den EuGH sinnvollerweise durch eine Ultra-­ vires-­Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts durch nationale Verfassungsgerichte ergänzt werden soll. Die Entscheidungen des französischen Conseil d’État in Cohn-Bendit, des tschechischen Verfassungsgerichts in Holubec und des dänischen Obersten Gerichtshofs in Ajos legen eher nahe, dass dieses Instrument zu einer unreflektierten Durchsetzung eigener Interessen verleiten kann, die den anspruchsvollen Koordinationserfordernissen der vernetzten Weltordnung zuwider läuft.  Bundeskanzlerin Merkel etwa verteidigte den OMT-Beschluss gegen Kritik in Deutschland. Siehe FAZ v. 07.09.2012, S. 3. 359  So auch Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, 281 (338 ff.). 358

B. Die Ultra-vires-Kontrolle

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Auch der OMT-Vorlagebeschluss und das OMT-Urteil des BVerfG sind letztlich geprägt von einer spezifisch deutschen Perspektive auf die Rolle der EZB im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise, die die Belange der EU und der anderen Mitgliedstaaten nicht hinreichend berücksichtigt.360

III. Zusammenfassung Die Rechtsprechungsübersicht hat gezeigt, dass sich ein deutlicher rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrend zur Verwendung der Ultra-vires-Kontrolle nicht erkennen lässt. Auch aus normativ-analytischer Perspektive ist die Ultra-­vires-­ Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts – anders als der Solange-Grundsatz – kein überzeugender verfassungsgerichtlicher Rechenschaftspflicht-Mechanismus. Problematisch ist insbesondere die Anmaßung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs. Dadurch reicht die Ultra-­vires-­Kontrolle erstens über die legitime Vertretung rechtsordnungseigener Belange hinaus und greift in die Kernkompetenzen des zuständigen rechtsordnungsfremden Gerichts ein. Dabei ist die gegenseitige Achtung der Autonomie Grundbedingung für das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung. Zweitens ­erhebt ein Verfassungsgericht im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle einen Anspruch, der über das bipolare Verhältnis zwischen eigener und europäischer Rechtsordnung hinausreicht. Aufgrund seines institutionellen Bias als Repräsentant seiner nationalen Rechtsordnung fehlt es einem nationalen Verfassungsgericht jedoch an der erforderlichen Legitimität, um die in den europäischen Verträgen vereinbarten ­ Kompetenzgrundlagen auszulegen und einen über die eigene Rechtsordnung hi­ nausreichenden Fehlervorwurf zu erheben. Darüber hinaus entspricht die Ultra-­ vires-Kontrolle auch nicht der im EU-Kontext gebotenen Beschränkung des verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs auf Belange der Verfassungsidentität. Auffällig sind die Parallelen zwischen der Solange- und der Ultra-vires-­ Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick auf die dogmatische Ausgestaltung. Solange I und Maastricht, die den Rechenschaftspflicht-Mechanismus jeweils einführen, beanspruchen im Prinzip ein vollständige (mittelbare) Kontrolle europäischer Rechtsakte und nehmen damit in dieser ersten Phase ein erhöhtes Konfliktpotenzial in Kauf, um das Problembewusstsein für konstitutionalistisch bedenkliche Auswirkungen des europäischen Integrationsprozesses zu schärfen. In der zweiten Phase beschränkt das BVerfG dann seine Kontrolle auf schwerwiegende Fälle, um das durch seine Konstruktionen des Solange-Grundsatzes und des ausbrechenden  Allgemein zur europäischen Staatsschuldenkrise aus verfassungsrechtlicher Perspektive, siehe Alicia Hinarejos, The Euro Area Crisis in Constitutional Perspective, 2015; Kaarlo Tuori/Klaus Tuori, The Eurozone Crisis. A Constitutional Analysis, 2014; Peter Huber, Verfassungsstaat und Finanzkrise, 2014; Christian Calliess, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), 113 ff.; Frank Schorkopf, Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, VVDStRL 71 (2012), 183 ff.

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

Rechtsakts hervorgerufene Konfliktpotenzial zu entschärfen und die Gefahr eines offenen Rechtsprechungskonflikts abzuschirmen. Dabei entspricht der Ansatz des BVerfG in Honeywell und in OMT allerdings eher dem Bosphorus-Ansatz des EGMR als dem Bananenmarkt-Modell des BVerfG, weil sich nach der Dogmatik in Bosphorus, in Honeywell und in OMT die verfassungsgerichtliche Kontrollbefugnis auch im Einzelfall aktivieren lässt, während Bananenmarkt systematische Unterschreitung des gebotenen Grundrechtsschutzes voraussetzt. Dies deutet darauf hin, dass sich das im Einzelfall aktivierbare und damit fallbezogene Bosphorus-Modell, das ein frühzeitiges Gegensteuern gegen rechtsordnungsfremde Fehlentwicklungen erleichtert, unter Verfassungsgerichten immer mehr an Popularität gewinnt und sich zur rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm herausbilden könnte.

C. Identitätskontrolle In Parallelität zum zentralen Konzept der Verfassungsidentität gewinnt unter den nationalen Verfassungsgerichten in der Europäischen Union die Identitätskontrolle als Kontrollmechanismus zum Schutz der nationalen Verfassungsidentität zunehmend an Bedeutung (I.). Aus einer normativen Perspektive ist die Identitätskon­ trolle in der bislang erkennbaren Ausrichtung ein angemessenes Kontrollinstrument für das abgeleitete Unionsrecht, welches insbesondere der Ultra-vires-Kontrolle vorzuziehen ist (II.).

I. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen Seit der Bezugnahme des Vertrags von Lissabon auf die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten in Art. 4 Abs. 2 EUV haben drei mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte eine Identitätskontrolle des Unionsrechts durchgeführt: zunächst der Conseil constitutionnel (1.), anschließend das Bundesverfassungsgericht (2.) und kürzlich die Corte costituzionale (3.).361 Auch wenn sich in dieser Rechtsprechungspraxis  Ausführungen zur Identitätskontrolle hat auch das ungarische Verfassungsgericht gemacht. Siehe Ungarisches Verfassungsgericht, Urt. v. 30.11.2016, Nr. 22/2016 (XII. 5.). Auch wenn das Urteil einige Elemente der Rechtsprechung des BVerfG aufgreift, muss der spezifische politische Kontext der Entscheidung berücksichtigt werden. Das Gericht ist der illiberalen Orban-Regierung in Ungarn verbunden und sucht in seiner Entscheidung nach Wegen der Rechtfertigung des Widerstands Orbans gegen das Recht der Europäischen Union, insbesondere im Bereich der Flüchtlingspolitik. Zu Recht kritisch Gábor Halmai, Abuse of Constitutional Identity. The Hungarian Constitutional Court on Interpretation of Article E) (2) of the Fundamental Law, RCEEL 43 (2018), 23 ff. Ebenso: Beáta Bakó, The Zauberlehrling Unchained? The Recycling of the German Federal Constitutional Court’s Case Law on Identity-, Ultra Vires- and Fundamental Rights Review in Hungary, ZaöRV 78 (2018), 863 ff. Zum Missbrauch der Verfassungsgerichtsbarkeit, einschließlich des ungarischen Verfassungsgerichts durch illiberale Regierung: Pablo Castillo-Ortiz, The Illiberal Abuse of Constitutional Courts in Europe, EuConst 15 (2019), 48 ff.

361

C. Identitätskontrolle

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angesichts der geringen Anzahl von Gerichtsentscheidungen noch keine rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnorm verdichtet, ist wegen der zentralen Rolle der Verfassungsidentität ein weiterer Bedeutungszuwachs der Identitätskontrolle zu erwarten. 1. Die Ausübung der Identitätskontrolle durch den Conseil constitutionnel Als erstes Verfassungsgericht hat der Conseil constitutionnel die Identitätskontrolle verwendet, freilich ohne diese dabei zu einem ausgefeilten dogmatischen Kontrollinstrument zu entwickeln. Anlass war die Überprüfung eines nationalen Gesetzes zur Umsetzung einer unionsrechtlichen Urheberrechtsrichtlinie.362 Der französische Verfassungsrat wies darauf hin, dass für die Kontrolle des unionalen Sekundärrechts ein anderer Kontrollmaßstab gilt als für die Vertragskontrolle. Während er bei letzterer kontrolliert, ob eine Übertragung von Hoheitsrechten an die EU die conditions essenzielles d’exercice de la souveraineté nationale beeinträchtigt, prüft er bei ersterer, dass „die Umsetzung einer Richtlinie nicht gegen eine Bestimmung oder einen Grundsatz, in welchen die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs zum Ausdruck kommt, verstoßen darf, es sei denn, der Verfassungsgesetzgeber hätte dem zugestimmt“.363 Der Ansatz des Conseil constitutionnel zur Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts unterscheidet sich damit von dem des Conseil d’Etat, welcher der Identitätskontrolle den Solange-Ansatz vorzieht.364 Mittlerweile hat der Conseil constitutionnel das Anwendungsfeld der Identitätskontrolle von EU-Richtlinien auf Verordnungen und auf völkerrechtliche Verträge der EU mit Drittstaaten ausgeweitet. Im Zusammenhang mit der Datenschutz-­ Grundverordnung kündigte er an, auch nationale Umsetzungsesetze für unionale Verordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit der französischen Verfassungsidentität zu prüfen.365 Darüber hinaus hat der Conseil constitutionnel im Rahmen seiner CETA-­ Entscheidung die Bestimmungen des CETA-Abkommens, die in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallen, ebenfalls am Maßstab der Verfassungsidentität geprüft.366 Der Conseil verknüpft die Ausübung der Identitätskontrolle mit einem Kontrollverzicht: Richtlinien, Verordnungen und völkerrechtliche Verträge der EU  Richtlinie 2001/29/EG, ABl. EU 2001 L 167/10.  Conseil constitutionnel, Entsch. v. 27.07.2006, 2006-540 DC – Urheberrechtsrichtlinie, 19. Begründungserwägung. 364  Siehe oben Dritter Teil, Kap. 18 A., 2., b. 365  Conseil constitutionnel, Entsch. v.  12.06.2018, Nr.  2018-765 DC  – Datenschutzgrundverordnung, 3. Begründungserwägung. 366  Conseil constitutionnel, Entsch. v. CC, Entscheidung vom 31.07.  2017, Nr.  2017-749 DC  – CETA, 14. Begründungserwägung. Dagegen prüft er die Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge der EU mit Drittstaaten, die der geteilten Zuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten unterliegen, anhand der conditions essenzielles. Ebd., 13. Begründungserwägung. 362 363

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

werden nur einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen, soweit sie die Verfassungsidentität beeinträchtigen können; unterhalb dieser Schwelle verzichtet der Verfassungsrat auf eine Kontrolle.367 2 . Die Ausübung der Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht Das BVerfG hat nach dem Solange-Grundsatz und der Ultra-vires-Kontrolle die Identitätskontrolle als Kontroll- und Übertragungsmechanismus entwickelt und diese bereits in mehreren Entscheidungen explizit thematisiert: dem Lissabon-­ Urteil vom 30.06.2009,368 dem Honeywell-Beschluss vom 06.07.2010,369 dem Urteil zum ESM-Vertrag vom 18.03.2014,370 dem OMT-Vorlagebeschluss,371 dem Haftbefehl-­Beschluss vom 15.12.2015,372 dem OMT-Urteil vom 21.06.2016373 und 367  François-Xavier Millet, Constitutional Identity in France, in: Christian Calliess/Gerhard van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2019, 134 (141, 145). 368  BVerfGE 123, 267 (344, 353 f.) – Lissabon (2009). Kritisch Christian Tomuschat, Lisbon – Terminal of the European Integration Process?, ZaöRV 70 (2010), 251 (272 f., 278 f.); Daniel Halberstam/Christoph Möllers, The German Constitutional Court says „Ja zu Deutschland!“, GLJ 10 (2009), 1241 (1254 ff.); Matthias Kottmann/Christian Wohlfahrt, Der gespaltene Wächter? – Demokratie, Verfassungsidentität und Integrationsverantwortung im Lissabon-Urteil, ZaöRV 69 (2009), 443 (448 f.). Die Kritik zusammenfassend: Michael Abels, Das Bundesverfassungsgericht und die Integration Europas. Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen untersucht am Karlsruher Lissabon-Urteil, 2011, 24 ff. 369  BVerfGE 126, 286 (302) – Honeywell (2010). 370  BVerfGE 135, 317 (393) – ESM-Vertrag (2014). 371  BVerfGE 134, 366 (382 ff.) – OMT-Beschluss (2014). 372  BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl II (2015). Dazu Martin Nettesheim, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 424 ff.; Christoph Schönberger, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v.  15.12.2015  – 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 422  ff.; Claus Classen, Zu wenig, zu fundamentalistisch – zur grundrechtlichen Kontrolle „unionsrechtlich determinierter“ nationaler Hoheitsakte. Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 15.12.2015, 2 BvR 2735/14, EuR 2016, 304 ff.; Mathias Hong, Human Dignity, Identity Review of the European Arrest Warrant and the Court of Justice as a Listener in the Dialogue of Courts: Solange-III and Aranyosi, EuConst 12 (2016), 549 ff.; Julian Nowag, EU law, constitutional identity, and human dignity: A toxic mix?, CML Rev. 53 (2016), 1441 ff.; Georgios Anagnostaras, Solange III? Fundamental rights protection under the national identity review, E.L.Rev. 42 (2017), 234 ff.; Sophie Eßlinger/Karsten Herzmann, Die verfassungsgerichtliche Identitätskontrolle und ihre Konkretisierung durch die Entscheidung 2 BvR 2735/14 – »Identitätskontrolle I« als Vorbote von »Solange III«?, JURA 2016, 852 ff.; Heiko Sauer, „Solange“ geht in Altersteilzeit – Der unbedingte Vorrang der Menschenwürde vor dem Unionsrecht, NJW 2016, 1134 ff.; Tobias Reinbacher/Mattias Wendel, Menschenwürde und Europäischer Haftbefehl  – Zum ebenenübergreifenden Schutz grundrechtlicher Elementargarantien im europäischen Auslieferungsverfahren, EuGRZ 2016, 333  ff.; Dana Burchardt, Die Ausübung der Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht – Zugleich Besprechung des Beschlusses 2 BvR 2735/14 des BVerfG vom 15.12.2015, ZaöRV 76 (2016), 527 ff.; Sara Dietz, Die europarechtsfreundliche Verfassungsidentität in der Kontrolltrias des Bundesverfassungsgerichts, AöR 142 (2017), 78 (86 ff.). 373  BVerfGE 142, 123 (194 ff.) – OMT-Urteil (2016). Hierzu: Claus Classen, Europäische Rechtsgemeinschaft à l’allemande?, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 21.06.2016, 2 BvR 2728/13

C. Identitätskontrolle

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einem Kammerbeschluss zu einer Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls vom 06.09.2016.374 In ihrer Zusammenschau deuten diese Entscheidungen darauf hin, dass sich die Identitätskontrolle als maßgebliches Instrument der Kon­ trolle unionalen Handelns herauskristallisiert. Das erste zentrale Anwendungsfeld der Identitätskontrolle ist das umstrittene Europäische Haftbefehlssystem.375 Allerdings hat das BVerfG den Inhalt und die Reichweite der Identitätskontrolle nur in Grundzügen und vornehmlich in obiter dicta entfaltet.376 Auf welche Weise das Gericht die Identitätskontrolle konkret einsetzt und wie es diese Konstruktion im ­Kontext spezifisch gelagerter Einzelfälle zur Anwendung bringt, muss sich in zukünftigen Entscheidungen erweisen.377 Im Lissabon-Urteil anlässlich der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zum Lissabon-Vertrag führte das Gericht erstmals die Identitätskontrolle per obiter dictum in zwei Paragrafen ein.378 Danach soll die Identitätskontrolle die „Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes“ gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG sichern.379 Ebenso wie beim Solange-Grundsatz und bei der Ultra-vires-Kontrolle besteht die Rechtsfolge einer durch die Identitätskontrolle festgestellten Verletzung der Verfassungsidentität darin, dass das „Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar eru.  a., EuR 2016, 529  ff.; Stefan Kadelbach, ECB Unbound? Das BVerfG, der EuGH und das OMT-Programm der Europäischen Zentralbank, JURA 2017, 940 ff.; Cornelia Manger-Nestler, Von der Kunst, Recht zu behalten: Zur Rechtsprechung von BVerfG und EuGH in der Eurokrise – Zugleich Besprechung des BVerfG-Urteils vom 21. Juni 2016, 2 BvR 2728/13, NJ 2016, 353 ff. 374  BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III. Mit einer instruktiven Besprechung: Klaus Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16, JZ 71 (2016), 1116 ff. 375  Siehe BVerfGE 140, 317  – Europäischer Haftbefehl II (2015); BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 Europäischer Haftbefehl III. Dagegen beschäftigen sich die Urteile in Lissabon und in OMT nur im obiter dictum mit der Identitätskontrolle. Vgl. BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon (2009); BVerfGE 142, 123 (194 ff.) – OMT-Urteil (2016). Mit dem Europä­ ischen Haftbefehl hatte sich das BVerfG im Zusammenhang mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Auslieferung deutscher Staatsbürger bereits in einem früheren Urteil beschäftigt. Siehe BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl I (2005). 376  Darauf weist Martin Nettesheim, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v.  15.12.2015  – 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 424 (427), hin. 377  Ein sich anbahnendes Konfliktfeld ist das kirchliche Arbeitsrecht, auf dem der EuGH das in der deutschen Rechtsordnung traditionell großzügig gewährleistete kirchliche Selbstbestimmungsrecht erheblich zugunsten des unionsrechtlichen Diskriminierungsschutzes zurückgedrängt hat. Siehe EuGH, Urt. v. 17.04.2018, Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C.2018:257; EuGH, Urt. v. 11.09.2018, Rs. C-68/17 – IR v JQ, ECLI:EU:C:2018:696. Stimmen in der deutschen Verfassungsrechtsliteratur erachten es zumindest für möglich, wenn nicht für wahrscheinlich, dass das BVerfG in diesem Feld eine Identitätskontrolle durchführt. Siehe Claus Classen, Das kirchliche Arbeitsrecht unter europäischem Druck, EuR 2018, 752 (765); Marvin Klein, Das Recht der Kirchen im Tauziehen zwischen Luxemburg und Karlsruhe – Das kirchliche Arbeitsrecht als Machtprobe?, EuR 2019, 338 (349 ff.). 378  BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon (2009). 379  BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon (2009). Ebenso BVerfG, BVerfGE 140, 317 (336) – Europäischer Haftbefehl II (2015); BVerfGE 142, 123 (195) – OMT-Urteil (2016).

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

klärt wird“.380 Im Unterschied zur Ausgestaltung dieser beiden Integrationsvor­ behalte bei ihrer Einführung in Solange I381 und in Maastricht,382 wo keine nennenswerten Konfliktabschirmungsvorgaben vorgesehen wurden,383 bekräftigt das BVerfG im Lissabon-­Urteil, dass „[d]ie Ausübung dieser verfassungsrechtlich radizierten Prüfungskompetenz […] dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ folgen soll und konzentriert die Identitätskontrolle – entsprechend dem in „Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedanken[]“ – beim Bundesverfassungsgericht.384 Die an das Lissabon-Urteil anknüpfenden Ausführungen zur Identitätskontrolle im Haftbefehl-Beschluss und im OMT-Urteil sind größtenteils deckungsgleich, finden sich in ausführlichen obiter dicta und sind überwiegend losgelöst vom konkreten Fall.385 Das BVerfG verortet die Identitätskontrolle neben Art.  79 Abs.  3 GG auch in Art.  4 Abs.  2 EUV386 und legt damit ein pluralistisches Verständnis vom europäischen Rechtsraum zugrunde. Die Identitätskontrolle hat eine doppelte Funktion: Zum einen sichert sie die Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union; insofern stellt sie sich als ein Prüfverfahren zur Kontrolle der europäischen Verträge dar.387 Zum anderen dient sie der Kontrolle des europä­ ischen Sekundärrechts.388 Dabei beschränkt sich das BVerfG nach eigener Aussage nicht auf die Kontrolle des nationalen Inkorporationsakts, sondern prüft auch unmittelbar Sekundärrechtsakte.389 Wie bei der Ultra-vires-Kontrolle will das BVerfG die zu prüfende unionsrechtliche Maßnahme dem EuGH, aber nur „[s]oweit erforderlich“, vorab zur Auslegung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach

 BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon (2009). Siehe auch BVerfGE 140, 317 (338) – Europä­ ischer Haftbefehl II (2015); BVerfGE 142, 123 (197) – OMT-Urteil (2016). 381  BVerfGE 37, 271 – Solange I (1974). 382  BVerfGE 89, 155 – Maastricht (1993). 383  Siehe oben Dritter Teil, Kap. 18, B., II., 1. 384  BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon (2009). So auch in BVerfGE 140, 317 (337) – Europäischer Haftbefehl II (2015); BVerfGE 142, 123 (204) – OMT-Urteil (2016). 385  Kritisch deshalb gegenüber dem Haftbefehl-Beschluss: Christoph Schönberger, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 422 (423). 386  Die Identitätskontrolle sei „in Art.  4 Abs.  2 Satz 1 EUV der Sache nach angelegt“. Siehe BVerfGE 140, 317 (337  f.)  – Europäischer Haftbefehl II (2015); BVerfGE 142, 123 (196)  – OMT-Urteil (2016). 387  Zu dieser Dimension kritisch: Tilman Rademacher, Die „Verfassungsidentität“ als Grenze der Kompetenzübertragung auf die Europäische Union?, EuR 2018, 140  ff. Allgemein zur verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle: Oben Dritter Teil, Kap. 14. 388  Siehe BVerfGE 142, 123 (195 f.) – OMT-Urteil (2016): „Die Identitätskontrolle verhindert […] auch, dass Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union umgesetzt werden, die eine entsprechende Wirkung entfalten und jedenfalls faktisch einer mit dem Grundgesetz unvereinbaren Kompetenzübertragung gleichkämen.“ Herv. Verf. 389  Siehe BVerfGE 140, 317 (338) – Europäischer Haftbefehl II (2015), wonach auch „die Maßnahme eines Organs oder einer Stelle der Europäischen Union für in Deutschland ausnahmsweise nicht anwendbar erklärt“ werden kann. 380

C. Identitätskontrolle

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Art. 267 Abs. 3 GG vorlegen.390 Für die Aktivierung der Identitätskontrolle durch eine Verfassungsbeschwerde gelten „erhöhte[] Zulässigkeitsanforderungen“.391 Inhaltlich ist die Identitätskontrolle – entsprechend dem Gewährleistungsgehalt der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG – auf den Schutz der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG und der Staatszielbestimmungen des Art. 20 Abs. 1 GG ausgerichtet. Damit bestehen inhaltlich Überschneidungen mit den bisherigen Kontroll- und Übertragungsmechanismen der Ultra-vires-Kontrolle, die aus dem Demokratieprinzip abgeleitet wird und des Solange-Grundsatzes, der die Grundrechte sichert. Wie weit diese Überschneidungen reichen und inwieweit diese verschiedenen Kontrollinstrumente nebeneinander oder alternative zueinander bestehen, ist von der Reichweite der Identitätskontrolle abhängig. Der durch die Verfassungsidentität gewährleistete, integrationsfeste Kernbestand des Demokratieprinzips besteht darin, dass dem Deutschen Bundestag „Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischem Gewicht verbleiben“392 und dieser insbesondere die Gesamtverantwortung im Bereich der Haushalts- oder Wehrpolitik ausübt.393 Wie im Zusammenhang mit der Ultra-vires-Kontrolle dargelegt,394 konzipiert das BVerfG die Ultra-­vires-­ Kontrolle als einen besonderen „Anwendungsfall des allgemeinen Schutzes der Verfassungsidentität“.395 Durch die Beschränkung der Ultra-vires-Kontrolle auf qualifizierte Kompetenzüberschreitungen der EU-Institutionen soll sichergestellt werden, dass diese nur Fälle erfasst, in denen durch die Kompetenzüberschreitung die Verfassungsidentität berührt wird.396 Daraus folgt, dass die Identitätskontrolle in der Konzeption des BVerfG den inhaltlichen Zuschnitt der Ultra-vires-Kontrolle mitbestimmt – freilich ohne diese zu ersetzen. Im Bereich der Grundrechte erstreckt das BVerfG nach seiner bisherigen Rechtsprechung den Anwendungsbereich der Identitätskontrolle auf „die Wahrung des Menschenwürdekerns der Grundrechte“.397 Diese inhaltliche Ausrichtung hat zwei wesentliche Konsequenzen: Zum einen folgt daraus angesichts der – zumindest in Teilen – absoluten Konzeption des Bundesverfassungsgerichts von Menschenwürde,398 dass die Menschenwürdegarantie „keine Relativierung im Einzelfall“ duldet399 und die – dem Menschenwürdeschutz dienende – Identitätskontrolle dement-

 Siehe, ebd., 339; BVerfGE 142, 123 (203 f.) – OMT-Urteil (2016).  BVerfGE 140, 317 (341 f.) – Europäischer Haftbefehl II (2015). 392  BVerfGE 142, 123 (195) – OMT-Urteil (2016). 393  BVerfGE 142, 123 (194) – OMT-Urteil (2016). 394  Oben Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 1., d. 395  BVerfGE 142, 123 (203) – OMT-Urteil (2016). 396  Vgl. BVerfGE 142, 123 (203) – OMT-Urteil (2016). 397  BVerfGE 142, 123 (195) – OMT-Urteil (2016). 398  Exemplarisch: BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz (2006). Siehe für eine differenzierende Auseinandersetzung mit der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts: Carsten Bäcker, Begrenzte Abwägung. Das Menschenwürdeprinzip und die Unantastbarkeit, Der Staat 55 (2016), 433 ff. 399  BVerfGE 140, 317 (341) – Europäischer Haftbefehl II (2015). 390 391

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

sprechend vor schwerwiegenden Grundrechtsverstößen „im Einzelfall“ schützt.400 Damit entspricht die dogmatische Ausgestaltung der Identitätskontrolle dem oben im Zusammenhang mit dem Solange-Grundsatz und der Ultra-vires-Kontrolle nachgezeichneten Rechtsprechungstrend hin zu einer im Einzelfall aktivierbaren Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts.401 Zum anderen erfasst das BVerfG damit konzeptionell nicht nur die Menschenwürde, sondern auch den über Art.  1 Abs.  1 GG geschützten Kerngehalt anderer Grundrechte. Diese Ausweitung des Anwendungsbereichs der Identitätskontrolle wird durch die beiden jüngsten Entscheidungen des Gerichts zum Europäischen Haftbefehl belegt: Darin zieht das Gericht das „Schuldprinzip im Strafrecht“402 und das „Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung und die Aussagefreiheit des Beschuldigten“403 als Schutzgüter der Identitätskontrolle heran. Aus dieser Konzeption folgt, dass sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes zwei unterschiedliche Kontrollmaßstäbe für öffentliches Handeln ergeben: Ein strengerer Maßstab für unionsrechtlich nicht determinierte Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt, der alle unverhältnismäßigen Eingriffe in Grundrechte untersagt und ein großzügigerer, enger gefasster, im Rahmen der Identitätskontrolle anwendbarer Maßstab für unionale oder unional determinierte Maßnahmen, der sich auf den Schutz des Menschenwürdekerns eines Grundrechts beschränkt.404 Die entscheidende Frage für die Reichweite der Identitätskontrolle im Grundrechtsbereich ist vor diesem Hintergrund, wie weit der Menschenwürdekern eines Grundrechts im Vergleich zu der außerhalb dieses Kerngehalts liegenden Gewährleistung des Grundrechts reicht. Im Haftbefehl-Beschluss vom 15.12.2015 und im Kammerbeschluss vom 06.09.2016 gab das BVerfG auf diese Frage unterschiedliche Antworten. Zum Hintergrund: Der Haftbefehl-Beschluss betraf den Beschluss des OLG Düsseldorf, einen in Deutschland festgenommenen US-Bürger, der in Italien in Abwesenheit zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war, aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Italien auszuliefern. In dem Fall bestand Ungewissheit darüber, ob die Tatvorwürfe gegen den amerikanischen Beschwerdeführer nach seiner Überstellung in Italien, in einer durch den Schuldgrundsatz des Grundgesetzes gebotenen Weise, erneut in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft würden.405 Seinem Beschluss in dem Fall legte das BVerfG ein weites Verständnis des Menschenwürdekerns zugrunde: Es entschied, dass aus dem durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Kerngehalt des strafrechtlichen Schuldprinzips für das über die Auslieferung entscheidende Gericht eine „Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts“ folge.406  BVerfGE 140, 317 (341) – Europäischer Haftbefehl II (2015).  Siehe oben Dritter Teil, Kap. 18, B., II., 1. 402  BVerfGE 140, 317 (341) – Europäischer Haftbefehl II (2015). 403  BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III, Rn. 34. 404  Vgl. Klaus Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16, JZ 71 (2016), 1116 (1117). 405  BVerfGE 140, 317 (330) – Europäischer Haftbefehl II (2015). 406  BVerfGE 140, 317 (347 f.) – Europäischer Haftbefehl II (2015). 400 401

C. Identitätskontrolle

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Dem Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein kroatischer und irischer Bürger wendete sich mit dem Argument gegen seine Auslieferung in das Vereinigte Königreich aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, dass „englische Strafgerichte im Rahmen der Beweiswürdigung aus einem Schweigen eines Angeklagten begrenzt auch nachteilige Schlüsse ziehen dürfen“.407 Nach Auffassung des als 3-Richter-Kammer entscheidenden BVerfG beeinträchtigte die englische Strafgerichtspraxis zwar durchaus den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit, aber nicht in einer den Menschenwürdekern dieses Grundsatzes verletzenden Weise. Das Gericht differenziert in seinem Kammerbeschluss deutlich zwischen dem – enger als im Haftbefehl-Beschluss verstandenen – „unmittelbar zur Menschenwürde gehörende[n] Kerngehalt der Selbstbelastungsfreiheit“ einerseits und „jede[r] verfassungsrechtlich gewährleistete[n] Ausprägung dieses Grundsatzes“ andererseits.408 Diesen Kerngehalt verletzen würde ein Zwang, „eine selbstbelastende Aussage zu tätigen und so die Voraussetzungen für seine strafgerichtliche Verurteilung zu schaffen“.409 Dagegen gewährleiste der Menschenwürdekern nicht, „dass ein Schweigen des Beschuldigten unter keinen Umständen einer Beweiswürdigung unterzogen und gegebenenfalls zu seinem Nachteil verwendet werden darf“.410 Ungeachtet der Frage der Verhältnismäßigkeit des englischen Rechts bei uneingeschränkter Anwendung des (die Selbstbelastungsfreiheit gewährleistenden) allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m Art. 1 Abs. 1 GG, kam das BVerfG daher zu dem Schluss, dass der Haftbefehl im konkreten Fall nicht die integrationsfeste Grenze der Verfassungsidentität berühre und daher vollstreckt werden könne.411 3 . Die Ausübung der Identitätskontrolle durch die Corte Costituzionale in der Taricco-Sage Nachdem die Corte Costituzionale mit ihrer controlimiti-Doktrin einst als erstes mitgliedstaatliches Verfassungsgericht in der EU dem Vorrang des Unionsrechts verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt hatte,412 zählte sie für einige Zeit nicht zu den prägenden Verfassungsgerichten im europäischen Verfassungsgerichtsverbund. Nun hat das Gericht in der Taricco-Sage, einem sich über mehrere Fälle und Entscheidungen erstreckenden Gerichtsdialog zwischen dem EuGH und dem italieni-

 BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III, Ls.  BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III, Rn. 36. 409  BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III, Rn. 36. 410  BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III, Rn. 36. 411  BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16 – Europäischer Haftbefehl III, Rn. 31. 412  Corte Costituzionale, Entsch. v. 27.12.1973, Nr. 183/1973 – Frontini e altro v. Ministero delle Finanze, EuGRZ 1975, 311 ff. 407 408

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

schen Verfassungsgericht,413 neue Akzente gesetzt.414 Dem Rechtsprechungskonflikt zwischen den beiden Gerichten zugrunde lag ein Verfassungskonflikt zwischen den finanziellen Interessen der EU und den strafrechtlichen Verfassungsprinzipien Italiens. Konkret warf der Fall die folgende Frage auf: Verpflichtet der effet utile des Unionsrechts (konkret des Art. 325 AEUV) zum Schutz der finanziellen Unionsinteressen italienische Gerichte dazu, strafrechtliche Verjährungsregeln unangewendet zu lassen, obwohl diese zum materiellen Strafrecht zählen und damit vom Schutz des Gesetzlichkeitsprinzips im Zusammenhang mit Strafsachen erfasst sind? Nach Überzeugung der Corte würde es die im Gesetzlichkeitsprinzip enthaltenen Bestimmtheitsgrundsatz und Rückwirkungsverbot verletzen, wenn eine extensive gerichtliche Auslegung des Art. 325 AEUV durch den EuGH zu Lasten des Angeklagten gesetzlich festgeschriebene Verjährungsregelungen aushebelte. Im Taricco I-Urteil, dem Ausgangspunkt der Taricco-Sage, überragte die Sorge des EuGH davor, dass in Italien Betrügereien bei der Mehrwertsteuer, aus der sich ein erheblicher Teil der Eigenmittel der EU speist, wegen der Kombination aus kurzen Verjährungsfristen und langen Verfahrensdauern in zahlreichen Fällen nicht bestraft werden. Diese Sorge überdeckte die Sensibilität des EuGH für die grundrechtliche Dimension des Falls415 und veranlasste die Corte zu ihrer ersten ­Identitätskontrolle des Unionsrechts. Anwendungsfall dieser war kein unionales Sekundärrecht, aber abgeleitetes Unionsrecht in Form einer Auslegung des EuGH, jedenfalls insoweit man der EuGH-Rechtsprechung Rechtsquellenqualität zuspricht. Das italienische Verfassungsgericht stellte klar, dass Art. 325 AEUV in der Auslegung durch den EuGH nur insoweit anwendbar sei, als „er mit der Verfassungsidentität des Mitgliedstaats vereinbar ist“.416 Diese Prüfung obliege „den zuständigen mitgliedstaatlichen Stellen“417 und die Verfassung der Republik Italien übertrage diese Aufgabe ausschließlich der Corte Costituzionale.418 Ein „Auslegungsergebnis“, das die italienische Verfassungsidentität verletze, habe in der italie-

 In chronologischer Reihenfolge: EuGH, Urt. v.  08.09.2015, C-105/14  – Taricco u.  a., ECLI:EU:C:2015:555; Corte Costituzionale, Entsch. v. 23.11.2016, Nr. 24/2017 – Taricco I; EuGH, Urt. v. 05.12.2017, Rs. C-42/17 – M.A.S. und M.B., ECLI:EU:C:2017:936; Corte Costituzionale, Entsch. v. 10.04.2018, Nr. 115/2018 – Taricco II. 414  Dazu: Matteo Bonelli, The Taricco saga and the consolidation of judicial dialogue in the European Union, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 25 (2018), 357 ff.; Daniele Gallo, Challenging EU constitutional law: The Italian Constitutional Court’s new stance on direct effect and the preliminary reference procedure, ELJ 25 (2019), 434  ff.; Giovanni Piccirilli, The ‘Taricco Saga’: the Italian Constitutional Court continues its European Journey, EuConst 14 (2018), 814 ff. 415  Siehe aber Rn.  53 des ersten Taricco-Urteils des EuGH, wo dieser darauf hinweist, dass ein nationales Gericht „darauf achten muss, dass die Grundrechte der betreffenden Personen beachtet werden“. EuGH, Urt. v. 08.09.2015, C-105/14 – Taricco u. a., ECLI:EU:C:2015:555, Rn. 53. 416  Corte Costituzionale, Entsch. v. 23.11.2016, Nr. 24/2017 – Taricco I, Rn. 7. 417  Ebd., Rn. 7. 418  Ebd., Rn. 6. 413

C. Identitätskontrolle

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nischen „Rechtsordnung keinen Platz“419 und es sei ihre verfassungsrechtliche Pflicht, eine solche Anwendung zu verhindern.420 Die Corte verdeutlichte, dass die von ihr ausgeübte Identitätskontrolle keine Ultra-­vires-Kontrolle darstellt und sie aus Rücksichtnahme auf die Kompetenzen des EuGH auch keine Ultra-vires-Kontrolle vornimmt. Es sei nicht die „Aufgabe dieses Gerichts, Artikel 325 AEUV eine andere Bedeutung zu geben als die, die ihm vom Gerichtshof zuerkannt wurde“.421 Stattdessen erblickte die Corte eine angemessene Arbeitsteilung zwischen dem EuGH und einem nationalen Verfassungsgericht darin, dass der EuGH „die Bedeutung des EU-Rechts“ feststelle und dessen Anwendungsbereich definiere, während er dem nationalen Verfassungsgericht „die abschließende Prüfung der Vereinbarkeit mit den obersten Verfassungsprinzipien“ und „der Verfassungsidentität jedes Mitgliedstaats“ überlasse.422 In Bezug auf den konkreten Fall stuft die Corte Costituzionale das Gesetzlichkeitsprinzip in Strafsachen als einen der „obersten“423 und „unverzichtbaren“424 Grundsätze der italienischen Verfassungsordnung ein, der einen Bestandteil der italienischen Verfassungsidentität bildet. Dennoch besteht aus Sicht der Corte kein Verfassungskonflikt zwischen dem Unionsrecht und dem italienischen Recht, weil sie dem EuGH unterstellt, dass dieser zur Sicherung der finanziellen Interessen der EU von den mitgliedstaatlichen Stellen nur insoweit die Nichtanwendung des nationalen Rechts verlange, als dadurch nicht die nationale Verfassungsidentität beeinträchtigt würde.425 Dafür spreche schon, dass das Unionsrecht „nicht so ausgelegt werden“ könne, dass es „einen Mitgliedstaat verpflichtet, die obersten Grundsätze seiner verfassungsmäßigen Ordnung aufzugeben“.426 Soweit diese Lesart der Rechtsprechung des EuGH zutreffe, so die Corte, bestünden auch „keine Gründe für Widerspruch“ zwischen dem Unionsrecht und dem italienischen Recht.427 In seiner Antwort in der Rs. M.A.S. auf den Vorlagebeschluss der Corte Costituzionale in Taricco I befürwortete der Gerichtshof zwar nicht die Ausübung der Identitätskontrolle und vermied die Verwendung des Begriffs der Verfassungsidentität, gleichzeitig betont er, dass die Mitgliedstaaten ihr grundrechtliches Schutzniveau grundsätzlich selbst bestimmen dürften428 und der „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen […] zu den gemeinsamen verfas Corte Costituzionale, Entsch. v. 10.04.2018, Nr. 115/2018 – Taricco II, Rn. 12.  Corte Costituzionale, Entsch. v. 23.11.2016, Nr. 24/2017 – Taricco I, Rn. 2. 421  Ebd., Rn. 5. 422  Ebd., Rn. 6. 423  Ebd., Rn. 2. 424  Ebd., Rn. 5. 425  Die Corte verweist auf die Randnummern 53 und 55 des Taricco-Urteils des EuGH, um diese Lesart zu untermauern. Ebd., Rn. 7. Dort weist der EuGH die nationalen Gerichte darauf hin, die Grundrechte des Angeschuldigten zu beachten. EuGH, Urt. v.  08.09.2015, C-105/14  – Taricco u. a., ECLI:EU:C:2015:555, Rn. 53 und 55. 426  Corte Costituzionale, Entsch. v. 23.11.2016, Nr. 24/2017 – Taricco I, Rn. 6. 427  Ebd., Rn. 7. 428  EuGH, Urt. v. 05.12.2017, Rs. C-42/17 – M.A.S. und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Rn. 47. 419 420

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

sungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten“ gehöre.429 Zur Vermeidung eines Rechtsprechungskonflikt mit der Corte zog der EuGH den Schluss, dass nationale Gerichte nationales Recht zum Schutz der finanziellen Unionsinteressen nicht unangewendet lassen müssten, wenn dies anderenfalls einen „Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen“ zur Folge hätte.430 Vor diesem Hintergrund lenkte auch die Corte in Taricco II ein,431 auch wenn Sprache und Duktus des Urteils weniger kooperativ ausfielen, als es angesichts des Entgegenkommens des EuGH erwartet worden war.432 Einerseits strich das Verfassungsgericht heraus, dass die sog. Taricco-Regel, der zufolge aus Art. 325 AEUV die unionsrechtliche Pflicht nationaler Gerichte resultiert, nationales Recht unangewendet zu lassen, das die wirksame Bekämpfung von Mehrwertsteuer-Betrug zu Lasten der EU verhindert, gegen die „[italienische] Verfassung verstoßen würde und daher auch unter Berücksichtigung des Vorrangs des EU-Rechts nicht zulässig sein könnte“.433 Andererseits stellte es fest, dass der EuGH die Anwendung des Art. 325 AEUV „tendenziell […] ausschließt, wenn sie im Widerspruch zur Verfassungsidentität des Mitgliedstaats steht und insbesondere eine Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips in Strafsachen impliziert“.434 Daher kam die Corte letztlich zu dem Ergebnis, dass „die ‚Taricco-Regel‘ im anhängigen Verfahren nicht anwendbar ist“ und daher auch keine Normkollision zwischen dem Unionsrecht und dem italienischen Recht vorliegt.435

II. Analyse: Möglichkeiten und Grenzen der Identitätskontrolle Die Einführung und Verwendung der Identitätskontrolle durch den Conseil constitutionnel, das Bundesverfassungsgericht und die Corte costituzionale wirft die Fragen auf, wie sich das Verhältnis zu den bestehenden Kontroll- und Übertragungsmechanismen, also dem Solange-Grundsatz (1.) und der Ultra-vires-Kontrolle (2.) gestaltet und wie sich die Identitätskontrolle von diesen unterscheidet.

 Ebd., Rn. 53.  Ebd., Rn. 62. Instruktiv zum M.A.S.-Urteil: Dana Burchardt, Kehrtwende in der Grundrechtsund Vorrangrechtsprechung des EuGH? –Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 05.12.2017 in der Rechtssache M.A.S. und M.B., EuR 2018, 248 ff.; Clara Rauchegger, National constitutional rights and the primacy of EU law: M.A.S., CML Rev. 55 (2018), 1521 ff. 431  Corte Costituzionale, Entsch. v. 10.04.2018, Nr. 115/2018 – Taricco II. 432  So Federico Fabbrini/Oreste Pollicino, Constitutional Identity in Italy, in: Christian Calliess/ Gerhard van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2019, 201 (218). 433  Corte Costituzionale, Entsch. v. 10.04.2018, Nr. 115/2018 – Taricco II, Rn. 5. 434  Ebd., Rn. 5. 435  Ebd., Rn. 9. 429 430

C. Identitätskontrolle

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1. Identitätskontrolle vs. Solange-Grundsatz Es spricht viel dafür, dass in der Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte in der EU die Identitätskontrolle den Solange-Grundsatz zunehmend ablöst (a.). Zwar ist der Solange-Grundsatz aufgrund seines größeren Flexibilitäts- und Differenzierungspotenzials der Identitätskontrolle tendenziell vorzugswürdig, allerdings lassen sich diesen Bedenken durch eine europafreundliche Handhabung der Identitätskontrolle einfangen (b.) a. Die Ablösung des Solange-Grundsatzes durch die Identitätskontrolle In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Corte Costituzionale scheint die Identitätskontrolle den Solange-Grundsatz zu ersetzen. Während die Corte im Fragd-Urteil von 1989 zum Schutz der italienischen Grundrechte gegenüber dem abgeleiteten Unionsrechts noch die Solange-Konstruktion als Kontrollinstrument wählte,436 greift sie in der Taricco-Sage auf die Identitätskontrolle zurück, ohne den Solange-Ansatz nochmals zu thematisieren. In Frankreich ist der Fall anders gelagert: Dort haben zwei konkurrierende Gerichte, der Conseil constitutionnel und der Conseil d’État, die angesichts der prozessualen Beschränkung des Conseil constitutionnel auf eine Ex-ante Normenkontrolle und eine Ex-post Normenkontrolle nur bei Vorlagen des Conseil d’État oder der Cour de cassation beide teilweise verfassungsgerichtliche Funktionen ausüben, konkurrierende Kontrollinstrumente gewählt. Der Conseil d’État verwendet den Solange-Grundsatz,437 der Conseil c­ onstitutionnel die Identitätskontrolle.438 Auch wenn es gegenwärtig keine Hinweise darauf gibt, dass der Conseil d’État den Solange-Ansatz aufgibt,439 deutet diese Konkurrenzsituation darauf hin, dass der Solange-Grundsatz und die Identitätskontrolle in einem Entweder-Oder-Verhältnis zueinanderstehen. Auch die Konzeption des BVerfG erweckt den Eindruck, dass die Identitätskontrolle an die Stelle des Solange-Grundsatzes treten soll. Zwar hat das Gericht seine Solange-Rechtsprechung nicht aufgegeben. Im Haftbefehl-Beschluss, der die Identitätskontrolle entfaltet, wird der Solange-Vorbehalt weiterhin erwähnt.440 Bereits im darauffolgenden OMT-Urteil fehlt allerdings ein solcher Verweis auf die Solange-­Rechtsprechung.441 Aus dem Recht auf Vergessen II-Beschluss des BVerfG ergibt sich, dass die Aktivierung des Solange-Grundsatzes angesichts des Bedeu Siehe oben Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 2., a.  Oben Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 2., b. 438  Oben Dritter Teil, Kap. 18, C., I., 1. 439  Vgl. François-Xavier Millet, Constitutional Identity in France, in: Christian Calliess/Gerhard van der Schyff (Hrsg.), Constitutional Identity in a Europe of Multilevel Constitutionalism, 2019, 134 (144). 440  BVerfGE 140, 317 (337) – Europäischer Haftbefehl II (2015). 441  Darauf verweist Claus Classen, Europäische Rechtsgemeinschaft à l’allemande?, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 21.06.2016, 2 BvR 2728/13 u. a., EuR 2016, 529 (535). 436 437

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

tungszuwachses der Europäischen Grundrechtecharta äußerst unwahrscheinlich ist.442 Soweit die Identitätskontrolle auf „die Wahrung des Menschenwürdekerns der Grundrechte“ ausgerichtet ist,443 stellt sich auch inhaltlich die Frage, welche Verwendung für den Solange-Grundsatz neben der Identitätskontrolle noch bestehen soll.444 Der Schutz der Grundrechte des Grundgesetzes war bisher das Anwendungsfeld des Solange-Grundsatzes. Auch dieser sah keine uneingeschränkte Anwendung der deutschen Grundrechte auf unionsrechtliche Sekundärrechtsakte vor, sondern war auf den Schutz des „vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz“ begrenzt.445 Diese Grenze für Maßnahmen der EU-Institutionen wird im Solange II-Beschluss durch den „Wesensgehalt der Grundrechte“ gemäß Art.  19 Abs. 2 GG gezogen,446 bei der Identitätskontrolle durch den Menschenwürdekern der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 1 GG. Beide Begriffe sind weitgehend übereinstimmende Umschreibungen einer Beschränkung des Prüfungsmaßstabs auf einen ­ aßnahmen grundrechtlichen Kernbereichsschutz,447 der für die Kontrolle unionaler M in der Sache auch angemessen ist. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass Art.  1 GG in der Ewigkeitsklausel des Art.  79 Abs.  3 GG aufgeführt ist, Art.  19 Abs. 2 GG jedoch nicht. Damit passt der Menschenwürdekern als grundrechtliche Grenze für unionales Handeln besser in das vom Bundesverfassungsgericht auf der Folie der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG aufgezogene Konzept der Verfassungsidentität als der Wesensgehalt. Ein weiterer Unterschied zwischen dem Solange-Grundsatz und der Identitätskontrolle betrifft die Aktivierbarkeit des Kontrollinstruments. Seit den Entscheidungen des BVerfG in Solange II und in Bananenmarkt ist die Solange-Kontrolle auf eine schwer zu aktivierende Reservejurisdiktion beschränkt. Zur Aktivierung darf der unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz nicht nur im Einzelfall, sondern muss systematisch unterschritten werden. Das hat dazu geführt, dass eine grundrechtliche Kontrolle unionalen Handelns durch das BVerfG nur noch in der Theorie stattfand.448 In seinem jüngsten Recht auf Vergessen II-Beschluss hat das Gericht diese  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, Rn. 48.  BVerfGE 142, 123 (195) – OMT-Urteil (2016). 444  Skeptisch auch Heiko Sauer, Der novellierte Kontrollzugriff des Bundesverfassungsgerichts auf das Unionsrecht, EuR 2017, 186 (202 f.). 445  BVerfGE 73, 339 (340, 387) – Solange II (1986). 446  Ebd. Siehe auch BVerfGE 102, 147 (162 f.) – Bananenmarkt (2000). 447  Die Parallelen zwischen der Solange-Rechtsprechung und der Identitätskontrolle belegt auch der Umstand, dass die Idee von Verfassungsidentität als verfassungsrechtlicher Kontrollmaßstab für das Unionsrecht bereits im Solange I-Beschluss von 1974 anklingt, wonach die Integrationsklausel des Grundgesetzes weder den Weg eröffnet, „die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen“ aufzuheben, noch „die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern“. BVerfGE 37, 271 (279) – Solange I (1974). Auch in Solange II erwähnt das Bundesverfassungsgericht die „Identität der geltenden Verfassungsordnung“. BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II (1986). 448  Martin Nettesheim, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v.  15.12.2015  – 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 424 (425), spricht von einem „Rückzug auf eine Beobachterposition“. 442 443

C. Identitätskontrolle

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Kontrolle effektiv aufgegeben, indem es dem Unionsrecht bescheinigt, dass „[n]ach dem derzeitigen Stand“ die Voraussetzungen des unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutzes „grundsätzlich erfüllt sind“.449 Dagegen ist die Identitätskontrolle, wie gesehen,450 auch im Einzelfall aktivierbar, wenn auch unter erhöhten Zulässigkeitsanforderungen.451 Es erscheint daher, dass das BVerfG die Identitätskontrolle strategisch dazu nutzt, um Grundrechtsbelange unter dem Deckmantel der Verfassungsidentität wieder stärker zu thematisieren, ohne dabei eine – unter Gerichten allgemein unbeliebte – Änderung seiner Solange II- und Bananenmarkt-Rechtsprechung vornehmen zu müssen.452 b. Die Flexibilitäts- und Differenzierungsvorzüge des Solange-­Mechanismus Obwohl sich der Solange-Grundsatz und die Identitätskontrolle beide inhaltlich auf einen grundrechtlichen Kernbereichsschutz beziehen, sind mit einer Ablösung des Solange-Grundsatzes durch die Identitätskontrolle, jedenfalls in der deutschen Rechtsordnung, problematische Veränderungen in der dogmatischen Feinjustierung der grundrechtlichen Kontrolle des Unionsrechts verbunden. Grundsätzlich zu begrüßen ist die Aktivierbarkeit der Identitätskontrolle im Einzelfall. Wie die ­ ­rechtsvergleichende Analyse zur Ausgestaltung des Solange-Mechanismus gezeigt hat,453 fördert eine in jedem Einzelfall aktivierbare Kontrolle, wie sie der EGMR im Zuge seiner Bosphorus-Rechtsprechung praktiziert,454 einen fortlaufenden Grundrechtsdialog mit dem EuGH über den adäquaten Grundrechtsstandard, der im Bereich des Europäischen Haftbefehlssystems auch notwendig ist.455 Problematisch ist allerdings, dass der Identitätskontrolle die Flexibilität des Solange-­Grundsatzes fehlt, die für die Rechtsprechungskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken aber von großer Bedeutung ist. Die für einen Koordinationsmechanismus erforderliche Vielfalt der Reaktionsmöglichkeiten ist begrenzt. Eine Maßnahme, die den indisponiblen Gewährleistungsgehalt der Verfassungsidentität berührt, ist verfassungswidrig und kann in der deutschen Rechtsordnung nicht angewendet werden; ein offener Rechtsprechungskonflikt wird unvermeidbar. Dagegen ist der Solange-Grundsatz in der Rechtsprechung des  BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, Rn. 48.  Oben Dritter Teil, Kap. 18, C., I. 451  BVerfGE 140, 317 (341 f.) – Europäischer Haftbefehl II (2015). 452  Vgl. Heiko Sauer, „Solange“ geht in Altersteilzeit  – Der unbedingte Vorrang der Menschenwürde vor dem Unionsrecht, NJW 2016, 1134 (1135). 453  Oben Dritter Teil, Kap. 18, A., II., 3. 454  Oben Dritter Teil, Kap. 18, A., I., 3. 455  Zu den jüngsten Etappen im richterlichen Dialog zwischen dem EuGH und dem BVerfG, siehe Mathias Hong, Human Dignity, Identity Review of the European Arrest Warrant and the Court of Justice as a Listener. in the Dialogue of Courts: Solange-III and Aranyosi, EuConst 12 (2016), 549 ff. 449 450

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

BVerfG und des EGMR ein abgestufter Kontroll- und Übertragungsmechanismus, der Art und Umfang der Grundrechtskontrolle von dem durch die EU gewährleisteten Grundrechtsschutz abhängig macht. Damit kann der Solange-Grundsatz in vielfältiger Weise auf die Grundrechtsjudikatur des EuGH angepasst werden. Selbst wenn das BVerfG zu dem Schluss kommen sollte, dass der EU-Grundrechtsschutz dem des Grundgesetzes nicht im Wesentlichen gleichzuachten sein sollte, müssten EU-Maßnahmen immer noch am Maßstab eines deutschen Grundrechts und damit auch am erprobten und flexiblen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen werden. Das „ausdifferenzierte Grundrechtssystem des einfachen Verfassungsrechts“456 bleibt weiterhin anwendbar und kann gleichwohl auf die besondere Situation der Prüfung eines Unionsrechtsakts zugeschnitten werden. Dieses Flexibilitäts- und Differenziertheitspotenzial wird durch den Rückgriff auf den absoluten Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde – zumindest tendenziell – eingebüßt. Die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes im pluralistischen Konzert der verschiedenen europäischen und nationalen Verfassungsgerichte ist ein „entwicklungsoffener Prozess“,457 dem besser durch einen zurückhaltenden „One Case at a Time“-Ansatz458 gedient ist als durch eine vorschnelle Festlegung auf unüberbrückbare, selbst der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogene Schranken für den europäischen Integrationsprozess. Aber obwohl der Solange-Mechanismus diesen Anforderungen nach seiner Grundausrichtung besser entspricht, kann auch die Identitätskontrolle in einer Weise angewendet werden, die den anspruchsvollen verfassungsgerichtlichen Koordinationsaufgaben in der vernetzten Weltordnung gerecht wird. Viel hängt daher davon ab, wie nationale Verfassungsgerichte die Identitätskontrolle handhaben. Dabei bestätigen die ersten Entscheidungen eher die gegen die Interpretationsoffenheit des Begriffs der Verfassungsidentität vorgebrachten Bedenken: Im Haftbefehl-­ Beschluss dehnt das BVerfG den Menschenwürdekern auf gerichtliche Auf­ klärungspflichten aus,459 in Taricco II sieht die Corte Costituzionale die Verfassungsidentität bereits wegen einer unionsrechtlichen Verpflichtung zur Nichtanwendung einer längeren Verjährungsfrist für Mehrwertsteuerbetrug angesichts der langen ­Verfahrensdauern in Italien beeinträchtigt.460 Ein Gegenbeispiel ist hingegen der  Christoph Schönberger, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 422 (424). 457  Klaus Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, Kammerbeschl. v. 06.09.2016 – 2 BvR 890/16, JZ 71 (2016), 1116 (1119). 458  Eine Beschränkung auf die zur Lösung des konkreten Falls zwingend erforderlichen rechtlichen Ausführungen, anstatt weitreichender obiter dicta, propagiert Sunstein für den U.S.  Supreme Court, um den demokratischen Prozess nicht übermäßig durch expansive Verfassungsrechtsprechung zu beschränken. Cass Sunstein, One Case at a Time. Judicial Minimalism on the Supreme Court, 1999. 459  Kritisch Christoph Schönberger, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v.  15.12.2015  – 2 BvR 2735/14, JZ 71 (2016), 422 (423), dem zufolge das BVerfG die Argumentationsfigur der Verfassungsidentität im Haftbefehl-Beschluss in einer „erratischen Weise gebraucht“. 460  Kritisch Generalanwalt Bot, Schlussanträge v.  18.07.2017, Rs. C-42/17  – Taricco u.  a., ECLI:EU:C:2017:564, Rn. 186. 456

C. Identitätskontrolle

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Kammerbeschluss des BVerfG, der den Freiheitsgedanken der Menschenwürde konkret auf den Schutz durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG herunterbricht und deutlich zwischen dem absoluten Menschenwürdegehalt einerseits und einem darüber hinausreichenden, nur für deutsche Rechtsakte geltenden, einfachen Grundrechtsschutz andererseits unterscheidet, das auch die Identitätskontrolle gewinnbringend als Kontroll- und Übertragungsmechanismus eingesetzt werden kann.461 2. Identitätskontrolle vs. Ultra-vires-Kontrolle Nach der Konzeption des BVerfG bleibt die Ultra-vires-Kontrolle – im Unterschied zum Solange-Grundsatz – neben der Identitätskontrolle bestehen, auch wenn erstere in das Konzept der Verfassungsidentität eingebettet ist. Dabei wäre es vorzugswürdig, wenn die Identitätskontrolle nicht – wie vom BVerfG vorgesehen – neben, sondern an die Stelle der Ultra-vires-Kontrolle treten würde.462 Denn das Institut der Identitätskontrolle trägt den Bedenken Rechnung, die gegen den rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab bei der Ultra-vires-Kontrolle vorgetragen wurden.463 Auch wenn der Begriff der Verfassungsidentität in Art. 4 Abs. 2 EUV primärrechtlich reflektiert wird, ist der verfassungsgerichtliche Kontrollmaßstab bei der ­Identitätskontrolle nicht das Unionsrecht, sondern die rechtsordnungseigene Verfassung. Denn welche Verfassungsprinzipien und -normen von solchem Gewicht sind, dass sie die Verfassungsidentität betreffen, entwickeln Verfassungsgerichte auf der Grundlage ihrer eigenen Verfassungsnormen und -traditionen. Wie die Analyse der Ultra-vires-Kontrolle gezeigt hat, hat ein rechtsordnungseigener Kontrollmaßstab für die Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts mehrere Vorzüge: Ein nationales Verfassungsgericht, das dem Unionsrecht die Anwendung in der eigenen Rechtsordnung verweigert, bewegt sich im Rahmen der legitimen Vertretung rechtsordnungseigener Belange und greift nicht in die Kernkompetenzen des EuGH ein.464 Anders als bei der Ultra-vires-Kontrolle erhebt das Gericht keinen Anspruch, der über das bipolare Verhältnis zwischen eigener und europäischer Rechtsordnung hinausreicht und hinterfragt auch nicht die Anwendbarkeit des Unionsrechts in den anderen Mitgliedstaaten.465 Darüber hinaus bietet die unionsrechtliche Verankerung

 Zustimmend Klaus Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, Kammerbeschl. v.  06.09.2016  – 2 BvR 890/16, JZ 71 (2016), 1116 (1117 ff.). 462  Zum Verhältnis zwischen der Identitätskontrolle und der Ultra-vires-Kontrolle nach der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts: Angela Schwerdtfeger, Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts, ultra-vires- und Identitätskontrolle im gewaltenteiligen Mehrebenensystem, EuR 2015, 290 (294 ff.). 463  Siehe oben Dritter Teil, Kap. 18, B., II., 2., a. 464  Vgl. oben Dritter Teil, Kap. 18, B., II., 2., b. 465  So auch Franz Mayer/Maja Walter, Die Europarechtsfreundlichkeit des BVerfG nach dem Honeywell-Beschluss, JURA 2011, 532 (542); Mattias Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, 2011, 479. 461

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Kapitel 18: Materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen

der Verfassungsidentität einen einheitlichen Rahmen für die rechtsordnungsübergreifende Auseinandersetzung über Inhalt und Grenzen der Verfassungsidentität. Die Unterschiede zwischen der Identitätskontrolle und der Ultra-vires-Kontrolle illustriert die Rechtsprechung der Corte Costituzionale in Taricco. Obwohl die extensive Auslegung des Art. 325 AEUV durch den EuGH erst den Verfassungskonflikt mit dem italienischen Gesetzlichkeitsprinzip in Strafsachen hervorruft, respektiert die Corte die Befugnis des EuGH, dem Art.  325 AEUV den von ihm zugeschriebenen Bedeutungsgehalt zuzuschreiben. Im Unterschied zur Ultra-­vires-­ Rechtsprechung des BVerfG entwickelt das italienische Verfassungsgericht keine alternative Auslegungsvariante des europäischen Primärrechts. Es beansprucht allerdings die Kontrolle darüber, ob das Unionsrecht die Verfassungsidentität der italienischen Verfassung verletzt. Entsprechend konzentrieren sich die Ausführungen der Corte im Urteil auf die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips. Diese Konzeption sieht eine klare Arbeitsteilung zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten vor und respektiert die jeweiligen gerichtlichen Kompetenzsphären. Es erscheint wahrscheinlich, dass der kooperative und entgegenkommende Ansatz des EuGH in M.A.S. die Kehrseite des Verzichts der Corte auf eine konkurrierende Auslegung des Unionsrechts darstellt. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, wenn das BVerfG die Ultra-vires-Kontrolle zukünftig vollständig durch die Identitätskontrolle ersetzen würde.

III. Zusammenfassung In seiner Rechtsprechung hat das BVerfG – neben dem Solange-Grundsatz und der Ultra-vires-Kontrolle  – die Identitätskontrolle entwickelt und damit das Konzept der Verfassungsidentität zu einem richterlichen Kontroll- und Rechenschaftspflicht-­ Mechanismus operationalisiert. Ein rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrend hin zu einer Identitätskontrolle ist nicht ersichtlich; bislang hat nur das BVerfG in systematischer Weise auf dieses Instrument rekurriert. Allerdings entspricht die Aktivierbarkeit der Identitätskontrolle im Einzelfall einem auch im Zusammenhang mit dem Solange-Grundsatz und der Ultra-vires-Kontrolle zu be­ obachtenden Rechtsprechungstrend bei der dogmatischen Ausgestaltung der gerichtlichen Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts. Aus normativ-analytischer Sichtweise ist die Identitätskontrolle der Ultra-­vires-­ Kontrolle vorzuziehen. Denn sie begrenzt die richterliche Kontrolle auf die Wahrung nationaler Kernkompetenzen. Sie zielt nicht allgemein auf die Beachtung des unionalen Kompetenzgefüges. Zudem ist der verfassungsgerichtliche Kontrollmaßstab bei der Identitätskontrolle nicht das Unionsrecht, sondern die rechtsordnungseigene Verfassung. Damit vertritt das BVerfG in legitimer Weise rechtsordnungseigene Belange und greift nicht in die Kernkompetenzen des EuGH ein.

Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

Die Herstellung von Rechenschaftspflicht-Mechanismen ist nur ein gangbarer Weg, um einen rechtsordnungsübergreifenden Dialog zu initiieren und im Rahmen dieses rechtsordnungseigene Verfassungsprinzipien und -normen zu übertragen. In rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen kommunizieren Gerichte auf vielfältige Weise, wie gezeigt, oft außerhalb formeller Verfahren. Aber in einer Vielzahl supranationaler Organisationen besteht mit dem Vorlageverfahren eine Verfahrensform, die den rechtsordnungsübergreifenden Dialog institutionalisiert. Dieses Vorlageverfahren, dessen zentrale Funktion in der Wahrung der Einheit des Rechts der supranationalen Organisation liegt, ist das direkteste, fallbezogenste, förmlichste rechtsordnungsübergreifende richterliche Kommunikationsmedium, das es gegenwärtig gibt. In unterschiedlicher Ausgestaltung besteht ein Vorlageverfahren nicht nur in der EU, sondern u. a. auch in der Andengemeinschaft, der Karibischen Gemeinschaft, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, der EFTA, der Benelux-Union, der OHADA, der ECOWAS, der EAC, der COMESA, der CEMAC, der CAN und im MERCOSUR.1 Darüber hinaus räumt das EMRK-Zusatzprotokoll Nr. 16 den nationalen Verfassungs- und Höchstgerichten der partizipierenden Konventionsstaaten die verfahrensrechtliche Möglichkeit ein,2 den EGMR in einem anhängigen Fall um

1  Für einen Überblick: Roberto Virzo, The Preliminary Ruling Procedures at International Regional Courts and Tribunals, Law & Prac. Int’l Cts. & Tribunals 10 (2011), 285 ff. 2  Das Zusatzprotokoll Nr.  16 ist am 1. August 2018 für diejenigen Konventionsstaaten in Kraft getreten, die das Protokoll ratifiziert haben. Das sind gegenwärtig Albanien, Andorra, Armenien, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Litauen, Niederlande, San Marino, Slowenien und die Ukraine (Stand: 30.12.2019). Dagegen hat die Bundesrepublik Deutschland das Zusatzprotokoll Nr. 16 noch nicht einmal unterzeichnet.

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_19

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

eine unverbindliche „advisory opinion“ zur Auslegung der EMRK zu ersuchen.3 Die Bedeutung des Vorlageverfahrens für die vernetzte Weltordnung ist nicht zu unterschätzen: Im Kontext der EU hat sich das wechselseitige Zusammenspiel zwischen dem EuGH, dem nationalen Richter und dem Einzelnen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens als wirksames Integrationsinstrument erwiesen. Die meisten Grundlagenurteile des EuGH, von Van Gend en Loos zu Costa v. E.N.E.L., sind im Zuge des Vorabentscheidungsverfahrens ergangen.4 Auch in der Andengemeinschaft ist das Vorlageverfahren die treibende Kraft hinter der supranationalen Integration durch Recht.5 Zwar finden sich auch außerhalb des EU-Kontexts Vorlagen nationaler Verfassungsgerichte an supranationale Gerichte: So legte das kolumbianische Verfassungsgericht dem Gerichtshof der Andengemeinschaft eine Vorlagefrage vor, obwohl die Vorlagefrage Aspekte der nationalen Souveränität berührte.6 Konkret ging es um das Verhältnis zwischen urheberrechtlichem Sekundärrecht der Andengemeinschaft und der von Kolumbien ratifizierten, multilateralen Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums.7 Im Kontext des MERCOSUR entschied sich der argentinische Supreme Court für eine Vorlage an das Tribunal Permanente de Revisión in einer typischen Binnenmarktkonstellation,8 obwohl nach dem MERCOSUR-Vertrag keine dem Art. 267 Abs. 3 AEUV entsprechende Vorlagepflicht für letztinstanzliche Gerichte besteht. Damit setzte der Gerichtshof ein Zeichen rechtsordnungsübergreifender Kooperationsbereitschaft.9 3  Dazu Ada Paprocka/Michał Ziółkowski, Advisory opinions under Protocol No. 16 to the European Convention on Human Rights, EuConst 11 (2015), 274 ff.; Christos Gionnopoulos, Considerations on Protocol No 16: Can the New Advisory Competence of the European Court of Human Rights Breathe New Life into the European Convention on Human Rights?, GLJ 16 (2015), 337 ff. 4  Grundsätzlich zum Vorlageverfahren im EU-Kontext: Morten Broberg/Niels Fenger, Preliminary References to the European Court of Justice, 2. Aufl., 2014. Klassisch: Ulrich Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986. 5  Laurence Helfer/Karen Alter, The Andean Tribunal of Justice and Its Interlocutors: Understanding Preliminary Reference Patterns in the Andean Community, N.Y.U.  J. Int’l L. & Pol. 41 (2009), 871 ff. 6  Siehe Gerichtshof der Andengemeinschaft, Entsch. v. 09.12.1996, Nr. 1-IP-96 – Pariser Verbandsübereinkunft. 7  Dabei ging es um die Frage, wieviel Regelungskompetenzen den Mitgliedstaaten angesichts sekundärrechtlicher Regelungen durch die Andengemeinschaft verbleibt. Das kolumbianische Verfassungsgericht entschied sich dennoch zu einer Vorlage und gab dem Gerichtshof damit Gelegenheit, sein Interpretationsmonopol über das Recht der Andengemeinschaft zu bekräftigen. Dazu Karen Alter/Laurence Helfer, Nature or Nurture: Lawmaking in the European Court of Justice and the Andean Tribunal of Justice, IO 64 (2010), 563(575). 8  Der Vorlagebeschluss erfolgte in dem Verfahren Sancor Cooperativas Unidas Limitada v. Administración Federal de Ingresos Públicos – Dirección General de Aduanas (AFIP-DGA), in dem es konkret um eine vom argentinischen Wirtschaftsministerium verabschiedete Ausfuhrabgabe für bestimmte Milchprodukte ging. Siehe Corte Suprema de Justicia de la Nación, Entsch. v. 01.04.2008, TF 18476-A – Sancor CUL v. D.G.A. Dazu Carlos Espósito/Luciano Donadio, Inter-jurisdictional Co-operation in the MERCOSUR, Law & Prac. Int’l Cts. & Tribunals 10 (2011), 261 ff. 9  So ebd. Zu den Herausforderungen eines rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialogs im

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­ llerdings lässt sich am EU-Kontext besonders deutlich beobachten, welche BeA denken Verfassungsgerichte gegen eine Vorlage an den EuGH haben, wie die Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung dazu beitragen, diese Skepsis Schritt für Schritt zu überwinden und welche Bedürfnisse sich aus diesen Bedenken für die Nutzung des Vorlageverfahrens ergeben. Wie wir sehen werden, zeichnet sich in der rechtsordnungsübergreifenden verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungspraxis ein bemerkenswerter Wandel von einer beharrlichen Nichtvorlagepraxis zur Herausbildung einer routinierten Dialogpraxis im Rahmen des Vorlageverfahrens ab. In einem ersten Schritt soll dieser sich abzeichnende Wandel in der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte nachvollzogen werden (A.). Anschließend soll im Rahmen einer normativen Bewertung dieser Entwicklung dargelegt werden, dass das institutionalisierte Vorlageverfahren einen fortwährenden, strukturierten Dialog zwischen dem EuGH und nationalen Gerichten ermöglicht, der den Koordinationsanforderungen einer pluralistisch-­ heterarchischen Weltordnung in besonderem Maße entspricht (B.).

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen: Der Wandel in der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte im EU-Kontext Bei der Vorlagepraxis nationaler Gerichte in den EU-Mitgliedstaaten bestand lange Zeit ein gravierender Unterschied zwischen nationalen Verfassungs- und Höchstgerichten einerseits und unterinstanzlichen Gerichten andererseits. Dieser verlief geradezu konträr zu dem in Art. 267 AEUV niedergelegten positiv-rechtlichen Rahmen des Vorlageverfahrens. Obwohl unterinstanzlichen Gerichten eine Vorlage an den EuGH grundsätzlich freigestellt ist,10 entwickelten sie sich frühzeitig zu Motoren des Vorlageverfahrens. Nationale Verfassungs- und Höchstgerichte zeigten sich hingegen widerwillig, Vorlagefragen an den EUGH zu übermitteln. Dabei ist jedenfalls ein letztinstanzliches Gericht, dessen Entscheidung im innerstaatlichen Bereich nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann, nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet, wenn die Auslegung des Unionsrechts für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits entscheidungserheblich ist.11

MERCOSUR: Paula Wojcikiewicz Almeida, The Challenges of the Judicial Dialogue in Mercosur, Law & Prac. Int’l Cts. & Tribunals 14 (2015), 392 ff. 10  Vgl. Art. 267 Abs. 2 AEUV. 11  Auch wenn sich nationale Verfassungsgerichte häufig weigerten, eigene Vorlagen an den EuGH zu richten, haben sie darauf hingewirkt, dass unterinstanzliche Gerichte den EuGH anrufen im Rahmen des Vorlageverfahrens. Mit einer rechtsvergleichenden Analyse zur verfassungsrechtlichen Absicherung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht: Alexander Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht. Zum Bedürfnis einer nationalen Nichtvorlagerüge, 2013.

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

Die „Integration through Law“-Bewegung hat überzeugende Ansätze zur Erklärung dieser Unterschiede entwickelt.12 Danach erblicken unterinstanzliche Gerichte die Einschaltung des EuGH über das Vorlageverfahren als Möglichkeit, um missliebige Auffassungen überinstanzlicher Gerichte durch das vorrangige Unionsrecht infrage zu stellen. Insbesondere Verfassungsgerichte sehen dagegen durch die Europäisierung der nationalen Rechtsordnung ihre Entscheidungsprärogative und herausragende Stellung in ihrer Rechtsordnung gefährdet, die sie durch Nichtvorlagen zu bewahren suchen. Diese divergierenden Vorlagepraktiken sind Wirkung und Ursache des wichtigen Simmenthal II-Urteils des EuGH von 1978 zugleich. In Simmenthal II ermächtigte der EuGH unterinstanzliche Gerichte dazu, formelle nationale Gesetze bei Verstoß gegen das Unionsrecht unangewendet zu lassen.13 Indem der Gerichtshof ordentliche Gerichte mit der Befugnis zum judicial review ausstattete, stärkte er ihre Machtposition gegenüber überinstanzlichen Gerichten in der nationalen Gerichtshierarchie, verschaffte ihnen gewichtige Anreize zur Nutzung des Vorlageverfahrens und verbesserte damit gleichsam – entsprechend seiner Übertragungsfunktion als supranationales Gericht14 – die Übertragung unionsrechtlicher Prinzipien und Normen in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.15 Die Simmenthal II-Entscheidung war freilich in Reaktion auf die Entscheidung der Corte Costituzionale aus dem Jahr 1975 in ICIC erfolgt. In diesem Urteil hatte die Corte entschieden, dass ordentliche Gerichte in Italien trotz des Vorrangs des Unionsrechts aufgrund des verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopols nicht befugt sind, innerstaatliche Vorschriften selbst für unanwendbar zu erklären. Weil aber viele nationale Verfassungsgerichte dem EuGH nicht vorlegten, sah der EuGH durch die von der Corte geforderte Einschaltung nationaler Verfassungsgerichte in das Vorlageverfahren den europäischen Integrationsprozess gefährdet. Daher verbot er nationalen Gerichten, wegen des „zwingend[en] und absolut[en]“ Charakters des Unionsrechts, gemeinschaftsrechtswidrige nationale Vorschriften anzuwenden.16  Zu den Gründen für rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion bereits oben Erster Teil, Kap. 6, A., II. 13  Der EuGH entschied, dass „das staatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten ist, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Befugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsgerichtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste“. EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Rs. 106/77 – Simmenthal II, ECLI:EU:C:1978:49, Rn. 23. Es würde „zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts führen würde“, insofern dem zuständigen nationalen Gericht „die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung [des Unionsrechts] alles erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Gemeinschaftsnormen bilden“. Ebd. 14  Oben Zweiter Teil, Kap. 11, B. 15  Kritisch zu der Umgehung nationaler Verfassungsgerichte durch das Simmenthal II-Urteil: Jan Komárek, The place of constitutional courts in the EU, EuConst 9 (2013), 420 (427 ff.). 16  EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Rs. 106/77  – Simmenthal II, ECLI:EU:C:1978:49, Slg. 1978, 630 12

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Der Streit zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten um das Vorlageverfahren setzte sich fort: Ein besonders evidenter Fall der Verletzung der Vorlagepflicht ist die diskutierte Cohn-Bendit-Entscheidung des französischen ­Conseil d’État,17 in der der Staatsrat unter Verweis auf die sogenannte acte clair-Doktrin von einer Vorlage an den EuGH absah, obwohl er sich in offenen Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von unionsrechtlichen Richtlinien stellte.18 Diesem Versuch, der unionsrechtlichen Vorlageverpflichtung letztinstanzlicher Gerichte mit dem Argument der offenkundigen Auslegung des Unionsrechts zu entgehen, stellte sich der EuGH in seinem CILFIT-Urteil entgegen.19 Darin formulierte er aufgrund seines Misstrauens gegenüber nationalen Verfassungs- und Höchstgerichten außerordentlich strenge Maßstäbe für die Annahme eines – nicht zur Vorlage verpflichtenden – acte clair.20 Das änderte zunächst wenig an der beharrlichen Nichtvorlagepraxis einflussreicher mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte in Europa, die eine unionsrechtliche Vorlagepflicht für sich lange Zeit ablehnten.21 Ein rechtsordnungsübergreifend beliebtes Argument gegen eine Vorlagepflicht bezieht sich auf den spezialisierten Charakter der von den „ordentlichen“ Gerichten separierten Verfassungsgerichtsbarkeit: Die italienische Corte Costituzionale war der Auffassung, dass sie aufgrund ihrer herausragenden Stellung als Verfassungsgericht kein Gericht i.S. des Art.  267 AEUV sei.22 Das spanische Tribunal Constitucional stellte sich auf den Standpunkt, dass die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts keine Frage des Verfassungsrechts sei und damit von vorneherein nicht in seine Zuständigkeit als Verfassungs-

(634). Dazu Victor Ferreres Comella, Constitutional Courts and Democratic Values, 2009, 126 ff. 17  In der Rechtssache des späteren Grünen-Politikers Cohn-Bendit sah sich der Staatsrat nicht zu einer Vorlage an den EuGH nach Art. 177 EGV (heute Art. 267 AEUV) veranlasst, obwohl er sich in offenen Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von unionsrechtlichen Richtlinien stellte, die der Conseil verneinte. Conseil d’État, Urt. v. 22.12.1978 – Ministre de l’Intérieur v. Sieur Cohn-Bendit, Rec. 524, EuR 1979, 292 ff. Zu der Entscheidung schon oben Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., a. 18  Conseil d’État, ebd. 19  EuGH, Urt. v. 06.10.1982, Rs. 283/81 – CILFIT, ECLI:EU:C:1982:335, Rn. 16 ff. Siehe außerdem aus jüngerer Zeit: EuGH, Urt. v. 15.09.2005, Rs. C-495/03  – Intermodal Transports, ECLI:EU:C:2005:552. 20  Dazu näher Franz Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy/ Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, 229 (232 f.). 21  Für einen Überblick: Franz Mayer, ebd., 234 ff. 22  Corte Costituzionale, Entsch. v. 29.12.1995, Nr. 536/95 – Messagero Servizi ed altri v. Ufficio del Registro di Padova: „[…] the ICC could not be identified as the national jurisdiction according to the provision of the Article 177 of the EEC (heute Art. 267 AEUV), because the same court could not be included among the common or special judges, due to the substantial difference between the competence granted to the former, without any precedent in the Italian legal system, and the role and the powers which characterized, traditionally, the activity of the latter.“ Die Übersetzung stammt von Oreste Pollicino, The Italian Constitutional Court and the European Court of Justice, in: Monica Claes/Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning (Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2012, 101 (112).

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

gericht falle.23 Der französische Conseil constitutionnel sah sich aufgrund der k­ urzen Prüfungsfristen der präventiven Normenkontrolle zur Durchführung eines Vorlageverfahrens gemäß Art. 267 AEUV außerstande.24 Dahingegen erkannte das Bundesverfassungsgerichts in seinen Beschlüssen in Solange I und in Vielleicht bereits in den 1970er-Jahren seine Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV prinzipiell an.25 Freilich thematisierte es die Frage einer Vorlagepflicht daraufhin bis zu seinem Vorratsdatenspeicherung-Urteil26 auch in solchen Verfahren nicht mehr, in der eine Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV in der Literatur mit überzeugenden Gründen bejaht worden war, wie etwa dem Entscheidung zum NPD-Verbot von 2001.27 Wie heikel und unangenehm manche Verfassungsgerichte die Vorstellung einer Vorlage an den EuGH empfinden, zeigen beispielhaft die prozedural kreativen Bemühungen des tschechischen Verfassungsgerichts, eine Vorlage an den EuGH zu   Tribunal Constitucional, Entsch. v. 14.02.1991, STC 28/1991  – Europäisches Gemeinschaftsrecht. 24  Nach Art. 61 Abs. 3 S. 1 der französischen Verfassung muss der Verfassungsrat im Rahmen der präventiven Normenkontrolle binnen eines Monats entscheiden. 25  In Solange I spricht das Bundesverfassungsgericht von dem „auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlichen Art. 177 des Vertrags“. BVerfGE 37, 271 (282) – Solange I (1974). Im Vielleicht-Beschluss setzt sich das Bundesverfassungsgericht eingehend mit dem Vorlageverfahren auseinander und weist darauf hin, dass sich die „wechselseitigen Einwirkungen“ zwischen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung und Gemeinschaftsrechtsordnung „in besonders eindringlicher Weise anhand der Kompetenzzuordnungen des Art. 177 EWGV (heute Art. 267 AEUV)“ zeige, die „auf ein Zusammenwirken zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem Gerichtshof der Gemeinschaft gerichtet“ seien. BVerfGE 52, 187 (200) – Vielleicht (1979). In diesem Zusammenhang betont das Gericht auch, dass zur Sicherung „der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich des EWG-Vertrages“ dem EuGH „die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der dort genannten abgeleiteten gemeinschaftsrechtlichen Akte“ zukomme. Ebd. Daher seien die „nach Maßgabe des Art.  177 EWGV ergangenen Urteile des Gerichtshofs […] für alle mit demselben Ausgangsverfahren befassten staatlichen Gerichte bindend“ und zwar auch „für das Bundesverfassungsgericht […] im Verfahren der inzidenten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG“, weil „auch in dieser Verfahrensart […] das Bundesverfassungsgericht mit dem Ausgangsverfahren im Sinne des Art. 177 EWGV befasst“ sei. Ebd., 201. 26  Dort heißt es: „Die Verfassungsbeschwerden geben keinen Anlass für ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gem. Art.  267 AEUV.  Zwar könnte eine entsprechende Vorlage durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 37, 271 [282]) insbesondere in Betracht kommen, wenn die Auslegung oder die Wirksamkeit von Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht in Frage stehen, das Vorrang vor innerstaatlichem Recht beansprucht und dessen Umsetzung vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes geprüft wird. Jedoch kann eine solche Vorlage nur dann zulässig und geboten sein, wenn es auf die Auslegung beziehungsweise Wirksamkeit des Unionsrechts ankommt. Dies ist vorliegend nicht der Fall.“ BVerfGE 125, 260 (308) – Vorratsdatenspeicherung (2010). 27  BVerfGE 104, 214  – NPD-Verbot (2001). Dazu Franz Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, EuR 2002, 239  ff. Siehe grundlegend zur bundesverfassungsgerichtlichen Vorlagepflicht: Meike Schönemeyer, Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV, 2014. 23

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umgehen. Das Verfassungsgericht stand in dem bereits diskutierten Holubec-­ Verfahren28 vor dem Dilemma, dass es einerseits unbedingt in einen richterlichen Dialog mit dem EuGH treten wollte, um diesen von der Unionsrechtskonformität der vom Verfassungsgericht entwickelten Regelung zugunsten der Rentenansprüche tschechischer Staatsbürger zu überzeugen. Andererseits wollte es diesen Dialog auf keinen Fall im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens führen. Anstatt dem EuGH eine Vorlagefrage vorzulegen, entschied sich das Gericht, dem EuGH einen Amicus Curiae-Brief zu schicken, indem es seine Position darlegte. Allerdings wies der EuGH diesen vom tschechischen Verfassungsgericht erfundenen Dialogmechanismus mit der Begründung zurück, „dass der EuGH in anhängigen Verfahren mit ‚dritten Personen keine Korrespondenz führt‘“.29 Warum auch sollte der EuGH in einer Zeit, in der nationale Verfassungsgerichte vermehrt von dem Vorabentscheidungsverfahren Gebrauch machen, ein Verfahren außerhalb des Vorabentscheidungsmechanismus ohne positiv-rechtlichen Grundlage im Unionsrecht begründen, das seinen institutionellen Interessen an der Nutzung des Vorlagemechanismus des EuGH fundamental widerstrebt? Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich parallel zu der Nichtvorlagepraxis dieser Verfassungsgerichte eine routinierte Dialogpraxis zwischen dem EuGH und anderen mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Höchstgerichten herausbildete. Seit geraumer Zeit gibt es eine Reihe von Verfassungsgerichten, die dem EuGH wie selbstverständlich Vorlagefragen übermitteln. Das gilt allen voran für die Verfassungsgerichtshöfe Belgiens und Österreichs: Die belgische Cour constitutionnelle, die bis 2007 noch offiziell als Schiedshof firmierte und die manchen als „the least protective and most communautaire of all constitutional courts“ gilt,30 richtete nicht nur die erste Vorlage eines mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichts an den EuGH überhaupt,31 sondern initiierte mit 26 Vorlageverfahren auch mit Abstand die meisten dieser Verfahren.32 Im Fall Test-Achats, in dem das belgische Verfas Oben Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 2., c.  EuGH, Urt. v. 22.06.2011, Rs. C-399/09 – Landtová, ECLI:EU:C:2011:415, Rn. 199. Das tschechische Verfassungsgericht zeigte sich erbost und sah diese Zurückweisung als Ausdruck von „deficiencies concerning the safeguards of a fair trial in the proceeding before the ECJ in case C-399/09“. Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12 – Holubec. Nähere Ausführungen zur Fundierung dieses ungewöhnlichen verfassungsgerichtlichen Rechts auf ein faires Verfahren unterblieben freilich. Allerdings ergibt sich aus der Satzung des EuGH, dass nur „Parteien, die Mitgliedstaaten, die Kommission und gegebenenfalls die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union […] beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben“ können. Siehe Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung. 30  Monica Claes, The National Courts’ Mandate in the European Constitution, 2006, 262. 31  Belgische Cour constitutionnelle, Entsch. v. 19.02.1997, Nr.  6/1997  – Fédération Belge des Chambres Syndicales de Médecins v. Gouvernement flamand, Gouvernement de la Communauté française, Conseil des ministres. 32  Zur Vorlagepraxis des belgischen Verfassungsgerichtshofs: Patricia Popelier, Judicial Conversations in Multilevel Constitutionalism. The Belgian Case, in: Monica Claes/Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning (Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2012, 73 ff.; Elke Cloots, Germs of Pluralist Judicial Adjudication: Advocaten voor de Wereld and Other References from the Belgian Constitutional Court, CML Rev. 47 (2010), 645 ff. 28 29

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

sungsgericht an der Vereinbarkeit einer sekundärrechtlichen Ausnahme von Unisex-Tarifen in der Versicherungsbranche mit dem primärrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen zweifelte, bewirkte das Gericht mit seiner Vorlage an den EuGH die Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit dieser Ausnahmeregelung.33 Der österreichische Verfassungsgerichtshof bekundete bereits im Jahr 1995 ausdrücklich seine Bereitschaft zur Vorlage von Vorlagefragen nach Art. 267 AEUV34 und hat seitdem insgesamt vier Vorlagen an den EuGH übermittelt.35 Ähnlich wie im Test-Achats-Fall führte im Verfahren Digital Rights Ireland und Seitlinger u.  a. eine Vorlage des Verfassungsgerichtshof an den EuGH dazu, dass letzterer die europäische Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie 2006/24/EG (mit Wirkung ex tunc; Art. 264 AEUV) für ungültig erklärte.36 Darüber hinaus legen mitgliedstaatliche Supreme Courts, die neben der Funktion als das letztinstanzliche Höchstgericht ihrer Rechtsordnung auch verfassungsgerichtliche Funktionen erfüllen, dem EuGH Vorlagefragen vor: Der irische Supreme Court und der dänische Højesteret richten regelmäßig Vorabentscheidungsersuche an den EuGH und auch der britische Supreme Court scheint an die kooperationsfreudige Vorlagepraxis seines institutionellen Vorgängers, des House of Lords, anzuknüpfen.37 Selbst die Vorlagepraxis des französischen Conseil d’État hat sich in Richtung einer überwiegend konstruktiven Nutzung des Vorlageverfahrens gewandelt,38 wie insbesondere der Fall Arcelor zeigt.39  EuGH, Urt. v. 01.03.2001, Rs. C-236/09  – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100. Nach Art.  5 Abs. 2 der Gender-Richtlinie 2004/113/EG ist bei der Berechnung von Prämien und Leistungen im Bereich des Versicherungswesens die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht ausnahmsweise zulässig, wenn diese bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist. Der Ausgangsfall betraf die Vereinbarkeit eines belgisches Gesetz, das von der Öffnungsklausel des Art. 5 Abs. 2 Gebrauch machte, mit der belgischen Verfassung, 34  Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Beschl. v. 11.12.1995, B 2300/95 – Bundesvergabeamt. 35  Siehe Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Beschl. v. 28.11.2012, G 47/12 u. a. – Vorratsdatenspeicherung; Beschl. v. 02.03.2001, W I-14/99  – Arbeiterkammerwahlrecht; Beschl. v. 12.12.2000, KR 1–6/00, KR 8/00  – Offenlegung von Gehaltsdaten; Beschl. v. 10.03.1999, B 2251/97, B 2594/97 – Vergütung von Energieabgaben. 36  EuGH, Urt. v. 08.04.2014, Rs. C-293/12, 594/12  – Digital Rights Ireland und Seitlinger, ECLI:EU:C:2014:238. 37  Siehe exemplarisch: EuGH, Urt. v. 19.06.2014, Rs. C-507/12 – Saint Prix, ECLI:EU:C:2014:2007. 38  Classen zufolge stellt der Conseil d’État mittlerweile selbst dann Vorlagefragen an den EuGH, wenn dessen Rechtsprechung um Widerspruch zur eigenen Einschätzung steht. Siehe Claus Classen, Der Conseil d’État auf Europakurs, EuR 2010, 557 (562 f.). Bedenkt man die ursprüngliche Europarechtsskepsis, wie sie in Cohn-Bendit zum Ausdruck gekommen ist, hat der Conseil d’État eine beträchtliche Wegstrecke in Hinsicht auf sein Verhältnis zum EuGH zurückgelegt. 39  In Arcelor beschloss der Conseil d’État, dem EuGH in Fragen des Grundrechtsschutzes vor Unionsrechtsakten die Frage der Vereinbarkeit des Rechtsakts mit europäischen Grundrechten vorzulegen, insoweit ein entsprechender allgemeiner Rechtsgrundsatz in der europäischen Rechtsordnung besteht. Im Umkehrschluss folgt daraus allerdings, dass der Conseil von einer Vorlage absieht, soweit ein solcher Rechtsgrundsatz nicht existiert. Mit einer differenzierenden Analyse des Arcelor-Urteils: Franz Mayer/Edgar Lenski/Mattias Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich, EuR 2008, 63 ff. 33

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen: Der Wandel in der …

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In diesem veränderten Umfeld ereignete sich ein bemerkenswerter Wandel in der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte in Europa: Innerhalb von wenigen Jahren haben nacheinander insgesamt sechs, davon vier der wichtigsten ­europäischen Verfassungsgerichte dem EuGH Vorlagefragen vorgelegt, obwohl manche von diesen, wie gezeigt, die Möglichkeit einer Vorlage zuvor ausdrücklich abgelehnt hatten. Den Anfang machte 2007 das litauische Verfassungsgericht.40 2008 folgte die erste Vorlage der italienischen Corte Costituzionale,41 der durch Beschlüsse von 2013,42 2016,43 und 201944 weitere Vorlagen folgten. Weiterhin dem EuGH erstmals vor legten 2011 das spanische Tribunal Constitucional,45 2013 der französische Conseil constitutionnel46 und 2014 schließlich das das slowenische Verfassungsgericht47 sowie in seinem OMT-Beschluss48 – und später noch einmal im PSPP-Be-

 Litauisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 08.05.2007, Nr. 47/04 – Sabatauska. Auf Vorlageersuchen des litauischen Verfassungsgerichts erging: EuGH, Urt. v. 09.10.2008, Rs. C-239/07 – Sabatauskas, ECLI:EU:C:2008:551. 41  Corte Costituzionale, Beschl. v. 16.04.2008, Nr. 103/2008 – Presidente dei Consiglio dei ministri v. Regione Sardegna. Dazu: Giacinto della Cananea, The Italian Constitutional Court and the European Court of Justice: From Separation to Interaction?, Eur. Pub. L. 14 (2008), 523 ff.; Antonio Tizzano, Der italienische Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale) und der Gerichtshof der Europäischen Union, EuGRZ 2010, 1 ff.; Filippo Fontanelli/Giuseppe Martinico, Between Procedural Impermeability and Constitutional Openness: The Italian Constitutional Court and Preliminary References to the European Court of Justice, ELJ 16 (2010), 345 ff. 42  Corte Costituzionale, Beschl. v. 18.07.2013, Nr. 207/2013. Siehe hierzu: Oreste Pollicino, From Partial to Full Dialogue with Luxembourg: The Last Cooperative Step of the Italian Constitutional Court, EuConst 10 (2014), 143 ff. 43  Corte Costituzionale, Beschl. v. 23.11.2016, Nr. 24/2017 – Taricco I. 44  Corte Costituzionale, Beschl. v. 06.03.2019, Nr. 117/2019 – Mr. D. B. 45  Tribunal Constitucional, Beschl. v. 09.06.2011, TC 6922/2008  – Melloni. Dazu: Aida Torres Pérez, Constitutional Dialogue on the European Arrest Warrant: The Spanish Constitutional Court Knocking on Luxembourg’s Door, EuConst 8 (2012), 105 ff.; Miryam Rodríguez-Izquierdo Serrano, The Spanish Constitutional Court and Fundamental Rights Adjudication After the First Preliminary Reference, GLJ 16 (2015), 1509 ff. 46   Conseil constitutionnel, Entsch. v. 04.04.2013, Nr.  2013-314 QPC  – Jeremy F. Dazu: François-Xavier Millet, How much lenience for how much cooperation? On the first preliminary reference of the French Constitutional Council to the Court of Justice, CML Rev. 51 (2014), 195  ff.; François-Xavier Millet/Nicoletta Perlo, The First Preliminary Reference of the French Constitutional Court to the CJEU: Révolution de Palais or Revolution in French Constitutional Law?, GLJ 16 (2015), 1471 ff.; Arthur Dyevre, If You Can’t Beat Them, Join Them. The French Constitutional Council’s First Reference to the Court of Justice, EuConst 10 (2014), 154 ff. 47  Slowenisches Verfassungsgericht, Entsch. v. 06.11.2014, Nr. U-I-295/13 – Bankenmitteilung. 48  BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss (2014). Kritisch zum Vorlagebeschluss: Werner Heun, Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtsentscheidung  – der Vorlagebeschluss des BVerfG vom 14.01.2014, JZ 69 (2014), 331 ff.; Franz Mayer, Rebels Without a Cause? A Critical Analysis of the German Constitutional Court’s OMT Reference, GLJ 15 (2014), 111 ff.; Mattias Kumm, Rebel Without a Good Cause: Karlsruhe’s Misguided Attempt to Draw the CJEU into a Game of „Chicken“ and What the CJEU Might do About It, GLJ 15 (2014), 203 ff.; Mattias Wendel, Kompetenzrechtliche Grenzgänge: Karlsruhes Ultra-vires-Vorlage an den EuGH, ZaöRV 74 (2014), 615 ff. 40

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

schluss49 – das Bundesverfassungsgericht.50 Hervorzuheben ist auch, dass der EuGH in vier dieser Vorlageverfahren jeweils in der Großen Kammer entschieden und damit die besondere Bedeutung dieser Verfahren zum Ausdruck gebracht hat.51 Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen den sechs erstmaligen Vorlage­ beschlüssen der Verfassungsgerichte aus Litauen, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und Slowenien spricht dafür, dass es sich nicht nur um eine zufällige Koinzidenz handelt, sondern dass sich stattdessen die Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte an den EuGH verstärkt zu einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm herausbildet. Die Nichtvorlagepraxis bestimmter nationaler Verfassungsgerichte war schon immer eine rechtsargumentativ schwer zu verteidigende Position, die durch die steigende, sich zu einer kritischen Masse verdichtende Zahl von vorlegenden Verfassungsgerichten nur weiter unter Rechtfertigungsdruck geriet. Wenn man sieht, wie das italienische, spanische, französische und deutsche Verfassungsgericht den Widerstand gegen Vorlagen an den EuGH nacheinander aufgaben, drängt sich das Bild der „umfallenden Dominosteine“ auf. Auch wenn es sich bei den jeweiligen Vorlagebeschlüssen um individuelle, gründlich im Kontext der eigenen Rechtsordnung erwogene Entscheidungen handelt, zeigt sich hier ein nicht unerheblicher psychosozialer Anpassungsdruck, der das Festhalten an einer Nichtvorlagepraxis unattraktiver erscheinen lässt. Weitere Faktoren für diesen Wandel sind die Einfügung des Art. 4 Abs. 2 EUV in den Vertrag von Lissabon, durch den die Verfassungsvorbehalte mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte primärrechtlich validiert werden und die „Verdichtung der Unionsrechtsordnung“,52 die es Verfassungsgerichten schwerer macht, Fälle ohne Aussagen zum Unionsrecht und ohne Nutzung des Vorlagemechanismus zu entscheiden.53

 BVerfGE 146, 216 – PSPP-Beschluss (2017).  Noch nicht vorgelegt haben die osteuropäischen Verfassungsgerichte aus Polen, Tschechien, Ungarm, Luxemburg, der Slowakei, Kroatien, Rumänien, Bulgarien, Portugal, Polen und Lettland. Das tschechische Verfassungsgericht hat die Frage seiner Vorlagepflicht nach Art.  267 Abs.  3 AEUV in seiner Zuckerquoten II-Entscheidung thematisiert, aber letztlich offengelassen. Tschechisches Verfassungsgericht, Urt. v. 08.03.2006, Pl. ÚS 50/04 – Zuckerquoten II. Dagegen haben das portugiesische Tribunal Constitucional und der polnische Verfassungsgerichtshof zwar im Grundsatz ihre Vorlageverpflichtung gegenüber dem EuGH bestätigt, bislang allerdings noch nicht vorgelegt. Tribunal Constitucional, Entsch. v. 23.05.1990, TC 163/90 – Moreira da Costa e Mulher; Polnischer Verfassungsgerichtshof, Urt. v. 11.05.2005, K 18/04 – Beitrittsvertrag. 51  Siehe EuGH, Urt. v. 17.11.2009, Rs. C-169/08  – Presidente dei Consiglio dei ministri, ECLI:EU:C:2009:709; Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107; Urt. v. 16.06.2015, Rs. C-62/14 – Gauweiler u. a., ECLI:EU:C:2015:400. Nur auf die Vorlage des Conseil constitutionnel entschied die Zweite Kammer des EuGH.  Siehe EuGH, Urt. v. 30.05.2013, Rs. C-168/13 – Jeremy F., ECLI:EU:C:2013:358. 52  Generalanwalt Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14.01.2015, Rs. C-62/14  – Gauweiler u.  a., ECLI:EU:C:2015:7, Rn. 40. 53  Siehe zu den Gründen für den Wandel in der Vorlagepraxis mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte auch Maria Dicosola/Cristina Fasone/Irene Spigno, Foreword: Constitutional Courts in the European Legal System After the Treaty of Lisbon and the Euro-Crisis, GLJ 16 (2015), 1317 (1320 ff.). 49 50

A. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen: Der Wandel in der …

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Der grundlegende Kurswechsel, der mit der Entscheidung zur Vorlage verbunden ist, tritt in dem Vorlagebeschluss der Corte Costituzionale besonders deutlich hervor. Hatte die Corte ihre Vorlagepflicht früher mit dem Argument abgelehnt, dass sie aufgrund ihrer Stellung als Verfassungsgericht kein Gericht i.S. des Art. 267 AEUV sei, argumentierte sie nun, dass sie trotz ihrer Rolle als Verfassungsgarant der nationalen Rechtsordnung ein nationales Gericht i.S. des Art.  267 Abs.  3 AEUV ­darstelle.54 Italienische Kommentatoren der Entscheidung erblicken in der Vorlage an den EuGH – und dem damit verbundenen Eintritt in einen direkten, fallbezogenen Dialog mit diesem  – ein Mittel gegen die wachsende Marginalisierung der Corte Costituzionale in Fällen mit unionsrechtlichem Bezug.55 Das spanische Tribunal Constitucional und der französische Conseil constitutionnel entschieden sich jeweils beide im Zusammenhang mit dem kontroversen EU-Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl dem EuGH erstmals Vorlagefragen zu stellen. Beide Vorlagen betrafen die Möglichkeit der Überprüfung eines europäischen Haftbefehls durch nationale Justizbehörden.56 Am französischen Fall fällt die Bereitschaft zur Kooperation im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zwischen dem Verfassungsrat und dem EuGH trotz prozeduraler Widrigkeiten auf. Der Verfassungsrat war in der streitigen Rechtssache auf Vorlage der Cour de cassation im Rahmen des neu eingeführten Verfahrens der konkreten Normenkontrolle befasst, die eine Entscheidung innerhalb von drei Monaten vorschreibt. Dennoch legte er dem EuGH mit Beschluss vom 4. April 2013 eine Vorlagefrage vor, wobei er ein Eilverfahren beantragte.57 Trotz des kontroversen Charakters des Europäischen Haftbefehls erging das Urteil des EuGH sechs Wochen später, am 30. Mai 2013, in dem der EuGH dem Verfassungsrat auch inhaltlich entgegenkam und die Einführung von Rechtsmitteln in den speziellen, vom Verfassungsrat vorgetragenen Umständen für zulässig erachtete.58 Im spanischen Fall sticht die systematische und umfassende Formulierung des Vorlagebeschlusses hervor, die von dem Bestreben der Einflussnahme auf die Ent Corte Costituzionale, Beschl. v. 16.04.2008, Nr. 103/2008 – Presidente dei Consiglio dei ministri v. Regione Sardegna: „[R]egarding the existence of the conditions necessary in order for this court to make a preliminary reference to the European Court of Justice on the interpretation of Community law, it should be pointed out that, albeit in its particular role as supreme constitutional guarantor of the national legal order, the Constitutional Court amounts to a national court within the meaning of (former) Article 234(3) of the EC Treaty and, in particular, a court of first and last instance (since – pursuant to Article 137(3) of the Constitution – its decisions are not subject to appeal).“ Die Übersetzung stammt von Oreste Pollicino, The Italian Constitutional Court and the European Court of Justice, in: Monica Claes/Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning (Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2012, 101 (113 f.). 55  So ausdrücklich mit Blick auf die Corte: Oreste Pollicino, ebd., 116. 56  Im spanischen Fall ging es ganz allgemein um die Zulässigkeit solcher Prüfungsbefugnisse, im französischen Fall um die Zulässigkeit von Rechtsmitteln mit kurzen Fristen („binnen 30 Tagen nach Eingang des Ersuchens“) nur für die besondere Konstellation einer nachträglichen Erweiterung des Haftbefehls durch den ersuchenden Mitgliedstaat. 57  Das Eilverfahren ist geregelt in Art. 23a EuGH-Satzung und Art. 107 EuGH-Verfahrensordnung. 58  François-Xavier Millet, How much lenience for how much cooperation? On the first preliminary reference of the French Constitutional Council to the Court of Justice, CML Rev. 51 (2014), 195 ff. 54

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

scheidungsfindung des EuGH geprägt ist. Dieser zielte im Kern auf die Auslegung der Schutzniveauklausel des Art. 53 GRC ab, wonach unter anderem keine Bestimmung der Charta als eine Einschränkung der Menschenrechte auszulegen ist, die durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Das Tribunal wollte insbesondere wissen, ob aus Art. 53 GRC folgt, dass das nach seiner Überzeugung – im Vergleich mit der EU – höhere Schutzniveau der in der spanischen Verfassung gewährleisteten Verteidigungsrechte des Angeklagten beibehalten werden kann. In seinem Vorlagebeschluss schlägt das spanische Verfassungsgericht dem EuGH verschiedene Auslegungsvarianten des Art. 53 GRC vor.59 Das Bundesverfassungsgericht, das im Honeywell-Beschluss eine Vorlage an den EuGH vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts angekündigt hatte,60 legte dem EuGH erstmals im OMT-Verfahren vor, in dem es an der Kompetenzmäßigkeit des Aufkaufprogramms der EZB für Staatsanleihen zweifelte.61 Der ausführlich begründete Vorlagebeschluss ist durch ein deutlich hervortretendes Bestreben gekennzeichnet, rechtsordnungseigene Prinzipien und Wertungen in den Entscheidungsprozess des EuGH einzuspeisen. Er enthält einerseits einen mehrseitigen Katalog an Vorlagefragen, dem die Abgrenzungskriterien des BVerfG für die Beurteilung der Kompetenzwidrigkeit des Handels der EZB zugrunde liegen, andererseits legt das Gericht in detaillierter Form seine eigene Interpretation des Unionsrechts dar.62 Darüber hinaus schlägt das Gericht als Ausweg aus der Kompetenzwidrigkeit des OMT-Beschluss eine „aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts“ vertretbare Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung vor.63 Mittlerweile hat sich die neue Vorlagepraxis der Corte Costituzionale und des Bundesverfassungsgerichts verstetigt und eine neue Ära des richterlichen Verfassungsdialogs in der Europäischen Union zeichnet sich ab. Aus Sicht der Corte markiert insbesondere die Taricco-Sage64 eine Wende zu einer aktiven Mitgestaltung am europäischen Integrationsprozess, für die das Vorabentscheidungsverfahren  – angesichts von mittlerweile vier Vorlagen an den EuGH – ein zentrales prozedurales Medium darzustellen scheint.65 Auch vom BVerfG sind nach den OMT- und  Tribunal Constitucional, Beschl. v. 09.06.2011, TC 6922/2008 – Melloni.  Dazu näher oben Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 1., c. 61  BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss (2014). Das Bundesverfassungsgericht legt ausweislich des Entscheidungstenors nach Art. 267 Abs. 1 AEUV und nicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vor. Es betrachtet sich in dem Verfahren folglich nicht als letztinstanzliches Gericht i.S.v. Art. 267 Abs. 3 AEUV, das aus unionsrechtlicher Sicht zur Vorlage verpflichtet ist. 62  BVerfGE 134, 366 (398 ff.) – OMT-Beschluss (2014). 63  BVerfGE 134, 366 (416  f.)  – OMT-Beschluss (2014). Danach wäre der OMT-Beschluss „aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise dann nicht zu beanstanden“, soweit er die Konditionalität der Hilfsprogramme nicht unterlaufe, einen die Wirtschaftspolitik in der Union nur unterstützenden Charakter habe, ein Schuldenschnitt ausgeschlossen werde, Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in unbegrenzter Höhe angekauft und Eingriffe in die Preisbildung am Markt soweit wie möglich vermieden würden. Ebd., 417. 64  Dazu oben Dritter Teil, Kap. 18, C., I., 3. 65  Vgl. Matteo Bonelli, The Taricco saga and the consolidation of judicial dialogue in the European Union, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 25 (2018), 357 (372). 59 60

B. Analyse: Das Vorlageverfahren als adäquater Dialogmechanismus für die vernetzte …

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PSPP-Vorlagebeschlüssen weitere Vorlagen an den EuGH zu erwarten. Jedenfalls hat das Gericht in seinem Recht auf Vergessen II-Beschluss nicht nur ankündigt, dass es im Bereich des vollständig vereinheitlichten Unionsrechts die Europäische Grundrechtecharta anstatt der deutschen Grundrechte als Prüfungsmaßstab für nationale Maßnahmen heranziehen wird,66 sondern es hat gleichzeitig in Aussicht ­gestellt, dass zukünftig „Vorlagen in wesentlich größerem Umfang in Betracht zu ziehen sein“ werden.67

 . Analyse: Das Vorlageverfahren als adäquater B Dialogmechanismus für die vernetzte Weltordnung Der sich abzeichnende Wandel in der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte in der EU soll in drei Schritten analysiert werden: Bevor den Gründen für die lange Zeit beharrliche Nichtvorlagepraxis nachgegangen wird (II.), soll das normative Argument für die Nutzung des Vorlageverfahrens aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte entwickelt werden (I.), um abschließend kurz die Bedeutung einer pluralistisch-heterarchischen Konzeption des Vorlageverfahrens zu skizzieren (III.).

I . Das normative Argument für die Nutzung des Vorlageverfahrens aus der Perspektive nationaler Verfassungsgerichte Die vorstehenden Ausführungen geben Aufschluss darüber, aufgrund welcher rechtsordnungsübergreifender sozialer Mechanismen sich der Wandel in der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte in der EU vollzogen hat. Sie enthalten aber noch keine normative Beurteilung der Frage, ob Verfassungsgerichte unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung vorlegen sollen oder nicht. Ein normatives Argument zur verfassungsgerichtlichen Nutzung des Vorlageverfahrens sollte prozedural ausgerichtet sein. Legt man die Prämisse der vernetzten Weltordnung zugrunde, wonach adäquate Regelungen durch das heterarchisch-­ interaktive Zusammenwirken nationaler, internationaler und supranationaler Institutionen entwickelt werden müssen, dann ergibt sich allein aus der Abwesenheit hierarchischer Strukturen ein enormer Koordinationsbedarf, der letztlich nur durch intensiven rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialog befriedigt werden kann. Es bedarf eines hohen Maßes an Abstimmung und Ausgleich zwischen den Richtern unterschiedlicher Rechtsordnungen, etwa im Hinblick auf die Bestim66 67

 BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II, Rn. 57 ff.  Ebd., Rn. 70.

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

mung des gebotenen Grundrechtsschutzes und der Abgrenzung von Kompetenzgrenzen zwischen den Rechtsordnungen. Mit anderen Worten: Wenn Regelungsarrangements nationale und inter- bzw. supranationale Belange berücksichtigen sollen, dann müssen nationale und inter- bzw. supranationale Institutionen miteinander über die beste Lösung kommunizieren. Nun ist es aber nicht so, dass die Nichtvorlagepraxis mancher nationaler Verfassungsgerichte in der EU dazu geführt hätte, dass kein Dialog zwischen dem EuGH und dem BVerfG oder dem EuGH und der Corte Costituzionale stattgefunden hat. Vielmehr ist für die vernetzte Weltordnung kennzeichnend, dass nationale und supranationale Verfassungsgerichte in stetigen Kommunikationsbeziehungen zueinander stehen.68 Die Frage ist also nicht, ob Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen miteinander kommunizieren sollten, sondern präziser: Was genau spricht für einen direkten Dialog im Rahmen der bestehenden institutionellen Strukturen des rechtsordnungsübergreifenden Richterdialogs? Es lassen sich mindestens drei Gründe für eine intensive Nutzung des Vorlagemechanismus durch nationale Verfassungsgerichte anführen: Zum Ersten steigen mit dem weiter wachsenden Koordinationsbedarf in der vernetzten Weltordnung die rechtsordnungsübergreifenden Kommunikationsanforderungen, denen die vielfältigen indirekten richterlichen Kommunikationsformen, wie gegenseitige Bezugnahmen und Abgrenzungen in prozessual unverbundenen Urteilen, allein nicht mehr gerecht werden. Nationale Verfassungsgerichte nutzen die Vertragskontrolle auch deshalb bevorzugt als Forum für ihre großen Europa-Entscheidungen,69 weil sie darin auf relativ hohem, tendenziell konfliktvermeidendem Abstraktionsniveau eigenständige Positionen zur Rolle des Nationalstaats im europäischen Integrationsprozesses formulieren können, ohne gleich einen offenen Rechtsprechungskonflikt mit dem EuGH zu riskieren. Eine konkrete, fallbezogene und damit diffizile und konfliktbeladene Auseinandersetzung mit den Positionen des EuGH kann außerhalb des Vorlageverfahrens vermieden werden – es lässt sich aber auch vortrefflich aneinander vorbeireden.70 Demgegenüber würde ein direkter Dialog mit dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zu einer Auseinandersetzung mit den gegenseitigen Positionen anhand eines konkreten Einzelfalls zwingen. Das entspricht nicht nur dem individualisierenden, fallbezogenen Charakter der richterli Dazu oben Erster Teil, Kap. 6, A., I. und Kap. 7, B.  Vgl. oben Dritter Teil, Kap. 14, B. 70  Exemplarisch lässt sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl verweisen, in dem das Gericht einer sachorientierten Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EuGH ausweicht. In seinem abweichenden Sondervotum kritisiert Verfassungsrichter Gerhardt, „dass der Senat sich insoweit einer konstruktiven Mitarbeit an europäischen Lösungen verweigert. Namentlich mit der Behauptung eines inneren Zusammenhangs von Auslieferungsverbot und Staatsangehörigkeit als Status sowie mit dem undefiniert gebliebenen Topos des Vertrauens in die Verlässlichkeit der eigenen Rechtsordnung betont er einseitig die nationale Perspektive, statt einen Ausgleich zwischen den Bindungen des nationalen und des europäischen Rechts herzustellen. Dass er weder begrifflich noch in einer Diskussion möglicher Konsequenzen auf das Urteil des Gerichtshofs in der Sache Pupino eingeht, dient dem Recht nicht.“ BVerfGE 113, 273 (342) – Europäischer Haftbefehl (2005). 68 69

B. Analyse: Das Vorlageverfahren als adäquater Dialogmechanismus für die vernetzte …

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chen Tätigkeit, sondern ist auch aus Gründen der Rechtssicherheit und damit aus der Perspektive des Rechtsschutzsuchenden wünschenswert.71 Zum Zweiten würde eine fortgesetzte Nichtvorlagepraxis auch gewissen Legitimitätsbedenken begegnen. Denn in der vernetzten Weltordnung können die ­Entscheidungen nationaler Verfassungsgerichte externale Effekte entfalten. Verfassungsgerichte müssen neben ihrer nationalen Perspektive auch systemische Zusammenhänge berücksichtigen. Wenn Verfassungsgerichte in Fällen mit unionsrechtlichen Bezügen jedoch von einer Vorlage absehen, dann droht schon aufgrund der institutionellen Eigeninteressen die Gefahr eines nationalen Tunnelblicks, der die europäische Perspektive nicht ausreichend berücksichtigt. In dem Wandel der ­Vorlagepraxis ist daher auch das Eingeständnis zu sehen, dass unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung die Legitimität zur Entscheidung bestimmter Verfassungsfragen mit europäischer Dimension ohne Einbindung des EuGH nicht ausreicht. Dieser Aspekt tritt in den Vorlagen des BVerfG im Rahmen des OMT- und des PSPP-Beschlusses deutlich hervor, denn die Entscheidungspraxis der EZB entfaltet in Zeiten der europäischen Staatsschuldenkrise Wirkungen weit über die Bundesrepublik Deutschland hinaus. Hier stößt ein nationales Verfassungsgericht, das diese Entscheidungspraxis zu beeinflussen sucht, allein an seine politisch-­institutionellen Grenzen. Auch ganz allgemein wäre es aus legitimatorischen Aspekten problematisch, eine Identitätskontrolle vorzunehmen oder einen Unionsrechtsakt ultra vires zu erklären, ohne den EuGH über das Vorlageverfahren einzuschalten – und damit die europäische Dimension einer solchen Entscheidung prozedural-institutionell in den Entscheidungsprozess einspeisen.72 Die Nutzung des Vorlagemechanismus stellt sich vor diesem Hintergrund als prozedurale Sicherstellung der hinreichenden Berücksichtigung unionsrechtlicher Belange dar. Zum Dritten liegt in dem rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Dialog ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für einen sachorientierten Diskurs, mit dem Interessengegensätze überwunden oder zumindest eingedämmt werden können. Wie bereits dargelegt,73 teilen Richter eine gemeinsame professionelle Identität und sprechen die gemeinsame Sprache des Rechts. Dadurch werden die widerstreitenden Interessen einer Begründungs- und Rechtfertigungslast unterworfen. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass die aus dem direkten Dialog des Vorlageverfahrens resultierenden Vorzüge die mit dem gesteigerten Konfliktpotenzial verbundenen Gefahren überwiegen. Eine intensive Nutzung des Vorlageverfahrens birgt  Aus ähnlichen Erwägungen plädiert Matthias Bäcker, Das Grundgesetz als Implementationsgarant der Unionsgrundrechte, EuR 2015, 389 (405), für die Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens als Forum für ein fortgesetztes Grundrechtsgespräch zwischen mitgliedstaatlichen Gerichten und EuGH über Anwendungsbereich und Ausgestaltung der Unionsgrundrechte. 72  In diesem Sinne lassen sich auch von Bogdandy und Schill verstehen, wenn sie argumentieren, dass ein Verfassungsgericht im Rahmen einer Identitätskontrolle „seine Bedenken im Hinblick auf die Achtung nationaler Identität im Rahmen des Vorlageverfahrens an den EuGH zu formulieren und damit zugleich einer europäischen Öffentlichkeit zu unterbreiten“ hat. Armin von Bogdandy/ Stephan Schill, Die Achtung der nationalen Identität unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 70 (2010), 701 (730). 73  Oben Erster Teil, Kap. 6, D. 71

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

s­olche Gefahren, denn eine fallbezogene rechtsordnungsübergreifende Auseinandersetzung im Rahmen des Vorlageverfahrens erschwert taktische Ausweichmanöver und erhöht damit das zwischengerichtliche Konfliktpotenzial. Dennoch spricht vieles dafür, dass sich die schrittweise Verlagerung des rechtsordnungsübergreifenden konstitutionellen Diskurses zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten in das Vorlageverfahren produktiv auswirkt und die Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen vereinfacht, anstatt eine nicht mehr zu bewältigende Anzahl offener Rechtsprechungskonflikte zu produzieren. Exemplarisch bringt die Vorlage des BVerfG an den EuGH im OMT-Verfahren die mit der Nutzung des Vorlageverfahrens durch nationale Verfassungsgerichte verbundenen Chancen und Risiken zum Ausdruck. Einerseits sind die drei Entscheidungen des BVerfG und des EuGH im OMT-Verfahren, der Vorlagebeschluss des BVerfG,74 das Gauweiler-Urteil des EuGH75 und das abschließende Urteil des BVerfG,76 in ihrer Zusammenschau ein eindrucksvolles Beispiel eines detailreichen und konstruktiven richterlichen Dialog über Fragen der Grenze zwischen Währungs- und Wirtschaftspolitik und der angemessenen gerichtlichen Kontrolle der unabhängigen EZB, auf dessen fruchtbaren Boden ein rechtlicher Rahmen für die EZB entwickelt wurde. Mit juristischem Geschick wurde trotz des fortbestehenden Dissenses in diesen Fragen zwischen den beiden Gerichten ein offener Rechtsprechungskonflikt vermieden.77 Andererseits war das zwischengerichtliche Konfliktpotenzial gewaltig und der öffentliche Druck für beide Gerichte hoch. Es steht zu befürchten, dass aufgrund der auf beiden Gerichten – in den für sie jeweils maßgeblichen Öffentlichkeiten – lastenden Erwartung, das letzte Wort in diesem „game of chicken“78 zu behalten, nicht beide Gerichte ein solches Vorlageverfahren ohne Glaubwürdigkeits- und Autoritätseinbuße durchführen können.79 Allerdings widerspricht diese Erwartung den pluralistisch-heterarchischen Bedingungen der vernetzten Weltordnung und gefährdet das positive Potenzial des Vorlageverfahrens zur rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskoordination.

 BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss (2014).  EuGH, Urt. v. 16.06.2015, Rs. C-62/14 – Gauweiler u. a., ECLI:EU:C:2015:400. 76  BVerfGE 142, 123  – OMT-Urteil (2016). Dazu instruktiv Claus Dieter Classen, Europäische Rechtsgemeinschaft à l’allemande?, EuR 2016, 529 ff. 77  Nach der Auffassung des BVerfG war der Grundsatzbeschlusses des EZB-Rates über das OMT-Programm ein Ultra-vires-Akt, nach der Überzeugung des EuGH war dieser unionsrechtskonform. Dieser Dissens hinsichtlich der Bewertung des Grundsatzbeschlusses wurde aber durch die Schwerpunktlegung auf und eine weitgehende Einigung über die Anforderungen an die Durchführung des OMT-Programms überspielt. Siehe dazu Armin Steinbach, Die EZB-Krisenpolitik nach dem OMT-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 71 (2016), 1045 (1045). 78  Mit dieser überzeichneten Charakterisierung: Mattias Kumm, Rebel Without a Good Cause: Karlsruhe’s Misguided Attempt to Draw the CJEU into a Game of „Chicken“ and What the CJEU Might do About It, German L.J. 15 (2014), 203. 79  Diese Befürchtung teilend: Jürgen Bast, Don’t Act Beyond Your Powers: The Perils and Pitfalls of the German Constitutional Court’s Ultra Vires Review, GLJ 15 (2014), 167 (180). 74 75

B. Analyse: Das Vorlageverfahren als adäquater Dialogmechanismus für die vernetzte …

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I I. Gründe für die Nichtvorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte Wenn die Gründe für die Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung auf der Hand liegen, wie lässt sich dann die lange vorherrschende Nichtvorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte in der EU erklären? Die verfassungsgerichtlichen Entscheidungsgründe geben kaum Aufschluss über die verfassungsgerichtlichen Motive: Begründet wurden Nichtvorlagen, wie wir gesehen haben,80 mit rechtstechnischen Argumenten, wie den kurzen Entscheidungsfristen im Fall des Conseil constitutionnel und der mangelnden Gerichtseigenschaft eines spezialisierten Verfassungsgerichts im Fall der Corte Costituzionale, um dann im Zuge des Wandels in der Vorlagepraxis die Gerichtseigenschaft plötzlich zu bejahen oder trotz der kurzen Entscheidungsfristen einfach vorzulegen. Das deutet darauf hin, dass die eigentlichen Gründe hinter solchen rechtstechnischen Begründungen verborgen liegen. In der Diskussion um das Phänomen der Konstitutionalisierung hat sich gezeigt, dass für Verfassungsgerichte die Bewahrung der eigenen Entscheidungsautonomie in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen eine zentrale Bedeutung einnimmt.81 Gerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen stecken in dem netzwerktypischen Dilemma, dass sie einerseits Kooperation der Nicht-­ Kooperation vorziehen, andererseits aber die Ausgestaltung dieser Kooperation nach ihren Präferenzen bevorzugen.82 In einer Vorlage an den EuGH erblicken nationale Verfassungsgerichte  – durchaus nachvollziehbar  – eine Einengung ihres eigenen Entscheidungsspielraums. Zwar wird zumindest nach der Konzeption des BVerfG die verfassungsgerichtliche Entscheidungsprärogative bewahrt: Danach übermittelt das Gericht dem EuGH eine Vorlage, bevor es einen Unionsrechtsakt ultra vires erklärt, behält sich aber weiterhin eine Ultra-vires-Erklärung auch nach einem EuGH-Urteil in der Sache vor. Wenn Verfassungsgerichte Vorlagen an den EuGH dennoch zu vermeiden suchen, dann hängt das mit der Schwierigkeit zusammen, nach Vorabentscheidung des EuGH ein abweichendes Urteil zu treffen und damit einen offenen Rechtsprechungskonflikt herbeizuführen. Denn auch wenn Verfassungsgerichte sich konzeptionell die Möglichkeit eines abweichenden Urteils vorbehalten, wird ihr Entscheidungsspielraum im Vorlageverfahren erheblich beschränkt. Das hängt vor allem mit zwei Aspekten zusammen: Zum einen erwächst eine Vorabentscheidung des EuGH formell und materiell in Rechtskraft, d. h., die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH entfaltet für das vorlegende Gericht in dem Ausgangsrechtsstreit Bindungswirkung.83 Keine vergleichbare rechtsverbindliche  Oben Dritter Teil, Kap. 19, A.  Oben Erster Teil, Kap. 2, E. 82  Oben Erster Teil, Kap. 6. 83  Siehe Morten Broberg/Niels Fenger, Preliminary References to the European Court of Justice, 2. Aufl., 2014, 442. So auch ausdrücklich EuGH, Urt. v. 16.06.2015, Rs. C-62/14 – Gauweiler u. a., ECLI:EU:C:2015:400, Rn. 16. 80 81

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

Bindungswirkung geht hingegen von der Auslegung des EuGH für andere Fälle aus.84 Auch wenn ein Verfassungsgericht eine Bindungswirkung aus nationaler Perspektive durch eine verfassungsrechtliche Herleitung der Geltung des Unionsrechts umgehen kann, begründet die Abweichung von einer Vorabentscheidung des EuGH im Ausgangsrechtsstreit aus unionaler Perspektive eindeutig einen Rechtsverstoß. Ein solches Szenario wollen Verfassungsgerichte aus zwei Gründen vermeiden: Einerseits hängt auch ihre eigene Autorität vom Respekt vor der Rechtsverbindlichkeit ihrer Entscheidung ab, andererseits wäre der daraus resultierende Rechtsprechungskonflikt deutlich massiver, als wenn das Verfassungsgericht in einem anderen Fall von der „allgemeinen“ Auslegung des EuGH abweicht. Im OMT-Verfahren, das in den größeren Kontext der europäischen Staatsschuldenkrise eingebettet ist, hätte eine Ultra-vires-Erklärung des OMT-Beschluss der EZB in Reaktion auf das Gauweiler-­Urteil des EuGH voraussichtlich zu schweren außenpolitischen Verwerfungen geführt.85 Zum anderen wurde ein offener Rechtsprechungskonflikt nach der Dammbruchargumentation in Teilen der föderalistischen Literatur immer wieder zu einer „Verfassungskatastrophe“86 oder zu dem rechtlichen Äquivalent eines atomaren Erstschlages stilisiert.87 Das möchte kein Verfassungsgericht verantworten. Die Angst vor den Folgen eines offenen Rechtsprechungskonflikts hat einerseits dazu beigetragen, dass über Jahrzehnte – bis zum Holubec-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts  – kein mitgliedstaatliches Verfassungsgericht einem Unionsrechtsakt die Anwendung in der eigenen Rechtsordnung versagt hat – trotz erheblicher Differenzen zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten. Sie dürfte aber andererseits mitverantwortlich für die lange anhaltende Nichtvorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte gewesen sein. Dies offenbart ein grundlegenderes Problem von Dammbruchargumenten im Kontext der vernetzten Weltordnung: Nicht nur erscheinen bestimmte Prämissen dieser Argumentation zweifelhaft, worauf schon die Ultra-vires-Entscheidung des tschechischen Verfassungsgerichts hindeutet, die bislang nicht zur Rechtszersplitterung der europäischen Rechtsgemeinschaft geführt hat, sondern über den tschechischen Rahmen hinaus relativ folgenlos geblieben ist. Darüber hinaus scheinen die übertriebenen Sorgen vor den dramatischen Konsequenzen einer Kontestation von  Morten Broberg/Niels Fenger, ebd., 450.  Siehe Claus Dieter Classen, Funktionsadäquate checks and balances statt richterliche Vollkontrolle unter demokratischem Vorwand, EuR 2015, 477 (485), der nach dem EuGH-Urteil  – und damit noch vor dem abschließenden Urteil des BVerfG – die Auffassung vertrat, dass „kaum vorstellbar“ sei, „dass sich das BVerfG nicht im Prinzip dem EuGH anschließt“, weil das Gericht ansonsten „in einer politisch ausgesprochen sensiblen Frage der Bundesrepublik schweren außenpolitischen Schaden zufügen“ würde. In diesem Sinne auch Daniel Kelemen, The Court of Justice of the European Union in the Twenty-First Century, Law & Contemp. Probs. 79 (2016), 117 (135), dem zufolge eine Ultra-vires-Erklärung des BVerfG eine „profound constitutional crisis for the EU“ herbeiführen würde. 86  Ulrich Haltern, Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, VerwArch 96 (2005), 311 (343). 87  Dazu näher oben Zweiter Teil, Kap. 10, A., III. 84 85

B. Analyse: Das Vorlageverfahren als adäquater Dialogmechanismus für die vernetzte …

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EuGH-Urteilen einen abschreckenden Effekt auf die Vorlagebereitschaft nationaler Verfassungsgerichte gehabt zu haben. Mit anderen Worten: Der faktische Ausschluss der Möglichkeit einer Abweichung von einer Vorabentscheidung des EuGH kann den Ausschlag zugunsten der Nicht-Kooperation und damit zu einer Nichtvorlagepraxis geben. Eine spannende Zukunftsfrage ist, welche Schlussfolgerungen das BVerfG aus der Geschichte seiner ersten Vorlage zieht. Erachtet das Gericht das Gauweiler-Urteil als eine unkooperative „Abfuhr“,88 der es sich durch seine Vorlage – angesichts der bei einer Ultra-vires-Erklärung zu Verwerfungen – wehrlos ausgeliefert hat, wird es Vorlagen zukünftig eher unterlassen.89 Erblickt es dagegen in dem Urteil eine – angesichts der spezifischen Aufgaben des EuGH als Gerichtshof einer supranationalen Union – vertretbare Antwort auf seine Vorlagefragen,90 das einen wesentlichen Fortschritt bei der verfassungsrechtlichen Einhegung der von den Finanzmärkten getriebenen EZB bei der Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise darstellt, wird seine Bereitschaft zur weiteren Nutzung des Vorlageverfahrens entsprechend steigen.91

I II. Eine pluralistisch-heterarchische Konzeption des Vorlageverfahrens Die vorangegangenen Ausführungen lassen folgende Schlussfolgerungen zu: Der Erfolg des direkten Dialogs zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten im Rahmen des Vorlageverfahrens wird entscheidend davon abhängen, dass letzteres als wahrhaft pluralistisch-heterarchisches Verfahren konzipiert ist, in dem nicht nur der EuGH unionsrechtliche Prinzipien und Normen in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überträgt, sondern auch nationale Verfassungsgerichte rechtsordnungseigene Verfassungsprinzipien und -normen in die Entscheidungsprozesse des EuGH einspeisen. Solange das Vorlageverfahren von nationalen Verfassungsgerichten als Form der Unterordnung empfunden wird, in welchem sie der  So Jan Klement, Der geldpolitische Kompetenzmechanismus, JZ 70 (2015), 754 (754).  Für diese Lesart spricht, dass nach Auffassung des BVerfG die „Art und Weise richterlicher Rechtskonkretisierung“ im Gauweiler-Urteil des EuGH „gewichtigen Einwänden“ begegnet. BVerfGE 142, 123 (217)  – OMT-Urteil (2016). Darüber hinaus hat das BVerfG die im Honeywell-Beschluss noch einschränkungslos bekräftigte Notwendigkeit einer Vorlage an den EUGH vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts im OMT-Urteil abgeschwächt. Danach initiiert das Gericht ein Vorabentscheidungsverfahren nur noch „soweit erforderlich“. Ebd., Rn.  154. Siehe zu letzterem bereits oben, Dritter Teil, Kap. 18, B., I., 1., d. 90  In diesem Sinne Franz Mayer, Zurück zur Rechtsgemeinschaft: Das OMT-Urteil des EuGH, NJW 2015, 1999 (2003), nach dem der EuGH dem BVerfG mit seinem Urteil „die Hand“ reicht. 91  Mit einer fortgesetzten Widerwilligkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Nutzung des Vorlageverfahrens trotz der erstmaligen Vorlage im OMT-Beschluss rechnet Eva Lohse, The German Constitutional Court and Preliminary References – Still a Match not Made in Heaven?, GLJ 16 (2015), 1491 (1508). 88 89

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

EuGH unausweichlich auf eine abschließende Entscheidung festlegt, werden sie den Wandel ihrer Vorlagepraxis nicht fortsetzen. Nationale Verfassungsgerichte und der EuGH müssen sich im Vorlageverfahren grundsätzlich auf Augenhöhe begegnen und in einen sachorientierten Dialog über die Frage treten, welche Regelung die Belange der europäischen und der nationalen Rechtsordnung nach konstitutionalistischen Maßstäben am besten realisiert. Für nationale Verfassungsgerichte bedeutet das, dass sie die Rolle des EuGH bei der Gewährleistung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts respektieren müssen. Sie können nicht erwarten, dass sich der EuGH der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichts eines Mitgliedstaats stets anschließen wird. Für den EuGH folgt daraus, dass er bei Vorlagen nationaler Verfassungsgerichte – etwa durch Entscheidung in der großen Kammer – Fingerspitzengefühl zeigen und gewichtige nationale Belange soweit wie möglich einfließen lassen sollte.92 In jedem Fall wird es unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung wichtig sein anzuerkennen, dass nationalen Verfassungsgerichten als ultima ratio die Möglichkeit zur Abweichung von der Vorabentscheidung des EuGH verbleibt.93 Soweit diese Bedingungen gegeben sind, erscheint es wahrscheinlich, dass nationale Verfassungsgerichte durch das Vorlageverfahren größeren Einfluss auf die Rechtsprechung des EuGH nehmen können als durch eine fortgesetzte Nichtvorlagepraxis. Denn das Vorlageverfahren ermöglicht es den Verfassungsgerichten, dem EuGH im direkten Dialog ihre eigene Rechtsprechungsposition konzise darzulegen. Das BVerfG hat diese Vorgehensweise im OMT- und im PSPP-Beschluss eindrücklich praktiziert, indem es seine Bedenken gegen die Staatsanleihenkaufprogramme der EZB sowie seine Interpretationen des Unionsrechts – in den Worten des zuständigen Generalanwalts Cruz Villalón94  – „deutlich“ dargelegt und eine  Mit der Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der besonderen Stellung nationaler Verfassungsgerichte durch den EuGH: Monica Claes, Luxembourg, Here We Come? Constitutional Courts and the Preliminary Reference Procedure, GLJ 16 (2015), 1331 (1342); Michal Bobek, The Impact of the European Mandate of Ordinary Courts on the Position of Constitutional Courts, in: Monica Claes/Maartje de Visser/Patricia Popelier/Catherine Van de Heyning (Hrsg.), Constitutional Conversations in Europe, 2002, 287 ff. 93  Das bedeutet auch, dass der EuGH Vorlagen nationaler Verfassungsgerichte beantwortet, obwohl diese sich im konkreten Vorlageverfahren eine Ultra-vires-Kontrolle vorbehalten. Im Gauweiler-Verfahren hatte die italienische Regierung vorgetragen, dass „das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen […] vom Gerichtshof nicht geprüft werden [könne], weil das vorlegende Gericht [das BVerfG] der Antwort des Gerichtshofs auf dieses Ersuchen nicht den Wert einer endgültigen und bindenden Auslegung zuerkenne“ und sich stattdessen die Befugnis vorbehalte, „letztgültig darüber zu befinden, ob die streitigen Beschlüsse im Licht der Voraussetzungen und Grenzen, die sich aus dem deutschen Grundgesetz ergäben, gültig seien“. EuGH, Urt. v. 16.06.2015, Rs. C-62/14  – Gauweiler u.  a., ECLI:EU:C:2015:400, Rn.  11. Dieses Argument hat der EuGH zu Recht zurückgewiesen. Ebd., Rn. 12 ff. Denn ein solches striktes Beharren auf den unbedingten Vorrang des Unionsrechts auf Kosten eines direkten Gerichtsdialogs im Rahmen des Vorlageverfahrens würde einer pluralistisch-heterarchischen Konzeption des Vorlageverfahrens gerade widersprechen. Mit guten Argumenten für diesen Standpunkt: Paul Craig/Menelaos Markakis, Gauweiler and the legality of outright monetary transactions, E.L.Rev. 41 (2016), 4 (15 ff.). 94  Generalanwalt Cruz Villalón, Schlussanträge v. 14.01.2015, Rs. C-62/14  – Gauweiler u.  a., ECLI:EU:C:2015:7, Rn. 65. 92

C. Zusammenfassung

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bestimmte p­ rimärrechtskonforme Auslegung dieses Beschlusses angeregt hat. Zwar folgte der EuGH in seinen Urteilen in den Rs. Gauweiler und Weiss nicht den vom BVerfG im OMT- und im PSPP-Vorlagebeschluss vorgenommenen Interpretationen des Unionsrechts, wonach das OMT- und das PSPP-Programm in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Wirtschaftspolitik übergreifen und damit nicht mehr vom Mandat der Europäischen Zentralbank gedeckt sind.95 Andererseits hat der EuGH der EZB in Reaktion auf die Vorlagen des BVerfG beträchtliche Garantien zur Durchführung des OMT- und des PSPP-Programms auferlegt.96 Insofern hat das BVerfG den rechtlichen Rahmen für den Ankauf von Staatsanleihen durch die unabhängige EZB mitgeprägt. Wie erfolgversprechend Vorlagen an den EuGH sein können, zeigen die Vorlagen der belgischen Cour constitutionnelle zu der Frage von Unisex-Tarifen in der Versicherungsbranche,97 des österreichischen Verfassungsgerichtshofs in Digital Rights Ireland betreffend die europäische Vorrats­ datenspeicherungs-­Richtlinie98 und der italienischen Corte costituzionale in der Taricco-Sage.99 In allen Verfahren griff der EuGH die in den Vorlagen zum Ausdruck kommenden verfassungsrechtlichen Bedenken auf: In den ersten beiden Verfahren erklärte der EuGH die angegriffenen Rechtsakte für unionsrechtswidrig,100 in Taricco modifizierte der EuGH seine Auslegung des Art. 325 AEUV ganz erheblich, obwohl dadurch die Wirksamkeit der Bekämpfung von Mehrwertsteuer-Betrug zu Lasten der EU vermindert wurde.

C. Zusammenfassung Ein bedeutsamer prozessualer Übertragungsmechanismus ist das Vorlageverfahren. Dieses Verfahren institutionalisiert die rechtsordnungsübergreifende richterliche Kommunikation und stellt damit das direkteste, fallbezogenste, förmlichste Forum für einen rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog dar. Ein Vorlageverfahren gibt es gegenwärtig u.  a. in der EU, der Andengemeinschaft, der Karibischen Gemeinschaft, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, der EFTA, der ­  BVerfGE 134, 366 (398) – OMT-Beschluss (2014). BVerfGE 146, 216 (Rn. 114) – PSPP-Beschluss (2017). Vgl. dagegen EuGH, Urt. v. 16.06.2015, Rs. C-62/14  – Gauweiler u.  a., ECLI:EU:C:2015:400, Rn.  46  ff. EuGH, Urt. v. 11.12.2018, Rs. C-493/17  – Weiss u.  a., ECLI:EU:C:2018:1000, Rn. 45 ff. 96  EuGH, Urt. v. 16.06.2015, Rs. C-62/14 – Gauweiler u. a., ECLI:EU:C:2015:400, Rn. 69 ff. 97  Oben Dritter Teil, Kap. 19, A. 98  Oben Dritter Teil, Kap. 19, A. 99  Oben Dritter Teil, Kap. 18, C., I. 3. 100  Vgl. EuGH, Urt. v. 08.04.2014, Rs. C-293/12, 594/12 – Digital Rights Ireland und Seitlinger, ECLI:EU:C:2014:238; Urt. v. 01.03.2001, Rs. C-236/09  – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100. Zum Potenzial des Vorlageverfahrens für den europäischen Grundrechtsschutz am Beispiel des Seitlinger-Falls: Ludovica Benedizione/Eleonora Paris, Preliminary Reference and Dialogue Between Courts as Tools for Reflection on the EU System of Multilevel Protection of Rights: The Case of the Data Retention Directive, GLJ 16 (2015), 1727 ff. 95

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Kapitel 19: Prozedurale Übertragungsmechanismen

Benelux-­Union, der OHADA, der ECOWAS, der EAC, der COMESA, der CEMAC, der CAN und im MERCOSUR. Die Betrachtung der rechtsordnungsübergreifenden gerichtlichen Vorlagepraxis im Rahmen der EU ergibt folgendes Bild: Unterinstanzliche nationale Gerichte legen dem EuGH seit Jahrzehnten routinemäßig Vorlagefragen vor. Dagegen zeigten sich viele nationale Verfassungs- und Höchstgerichte lange Zeit widerwillig, Vorlagefragen an den EUGH zu übermitteln. Zwar gibt es seit geraumer Zeit eine Reihe von Verfassungs- und Obergerichten, wie die Verfassungsgerichte Belgiens und Österreichs sowie den irischen Supreme Court, das britische House of Lords, den französischen Conseil d’État und den dänische Højesteret, die dem EuGH wie selbstverständlich Vorlagefragen übermitteln. Allerdings verfolgten die einflussreichen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien für lange Zeit eine beharrliche Nichtvorlagepraxis. Mittlerweile zeichnet sich jedoch ein bemerkenswerter Wandel von einer beharrlichen Nichtvorlagepraxis zur Herausbildung einer routinierten Dialogpraxis im Rahmen des Vorlageverfahrens ab. Innerhalb eines Zeitraums von sieben Jahren, von 2007 bis 2014, legten die Verfassungsgerichte Litauens, Italiens, Spaniens, Frankreichs, Deutschlands und Sloweniens dem EuGH nun plötzlich, nach und nach jeweils erstmals eine Vorlagefrage vor. Dieser zeitliche Zusammenhang ist nicht zufällig, sondern deutet auf die Wirkkraft des Prozesses richterlicher Normbildung im pluralistisch-heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung hin. Es liegt nahe, dass soziale Mechanismen wie positive Feedback-Dynamik und psychosozialer Anpassungsdruck Konvergenzen in der Rechtsprechung bewirkt haben. Der sich abzeichnende Wandel in der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte in der EU ist damit Ausdruck einer rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungsentwicklung, der sich zu einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm verdichten könnte. Diese Entwicklung ist aus normativer Perspektive zu begrüßen: Für einen direkten, fallorientierten, rechtsordnungsübergreifenden Verfassungsgerichtsdialog spricht erstens, dass sich die mit dem Koordinationsbedarf in der vernetzten Weltordnung steigenden rechtsordnungsübergreifenden Kommunikationsanforderungen nicht mehr allein mit indirekten richterlichen Kommunikationsformen erfüllen lassen. Demgegenüber zwingt ein direkter Dialog im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zu einer Auseinandersetzung mit den gegenseitigen Positionen anhand eines konkreten Einzelfalls und ist auch aus Gründen der Rechtssicherheit und damit aus der Perspektive des Rechtsschutzsuchenden wünschenswert. Zweitens erscheint eine Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens auch deshalb geboten, um durch die Einbindung des EuGH unionsrechtliche Belange prozedural-­institutionell in den Entscheidungsprozess eines nationalen Verfassungsgerichts einzuspeisen. Dies ­erscheint besonders dann erforderlich, wenn die Entscheidung externale Effekte entfaltet, wie im Fall der bundesverfassungsgerichtlichen OMT- und ­ PSPP-Verfahren. Allerdings wird der Erfolg des direkten Dialogs zwischen dem EuGH und n­ ationalen Verfassungsgerichten im Rahmen des Vorlageverfahrens entscheidend davon abhängen, dass letzteres als wahrhaft pluralistisch-­heterarchisches Verfahren konzipiert ist, in dem nicht nur der EuGH unionsrechtliche Prinzipien und Normen in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überträgt, sondern auch

C. Zusammenfassung

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nationale Verfassungsgerichte rechtsordnungseigene Verfassungsprinzipien und -normen in die Entscheidungsprozesse des EuGH einspeisen. Das erfordert es, nationalen Verfassungsgerichten konzeptionell als ultima ratio die Möglichkeit zur Abweichung von der Vorabentscheidung des EuGH einzuräumen.

Kapitel 20: Schlussfolgerung

A. Zusammenfassung in Thesen 1. Als Analyserahmen für das Phänomen der verfassungsrechtlichen Rechtsprechungskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken hat diese Arbeit die Konzeption der vernetzten Weltordnung entwickelt. Diese Konzeption beruht auf der Prämisse eines Pluralismus der Rechtsordnungen: Im Unterschied zum stabilen, hierarchischen Herrschaftsarrangement des Bundesstaats, in dem die Bundesverfassung als Geltungsgrundlage der Gesamtrechtsordnung anerkannt wird, sind die unterschiedlichen Rechtsordnungen in der vernetzten Weltordnung a priori gleichberechtigt und es besteht keine allgemein anerkannte Rangfolge zwischen dem Völkerrecht, dem Europarecht und dem nationalem Recht. Die Ursache für diese pluralistische Konfiguration liegt in einer tief greifenden Ambivalenz zwischen der institutionalisierten inter- und supranationalen Kooperation und dem Nationalstaat: Einerseits gewährleisten inter- und supranationale Institutionen in Zeiten der Globalisierung die Gestaltungs- und Problemlösungsfähigkeit der Politik über den territorial begrenzten Nationalstaat hinaus, andererseits fungieren nationalstaatliche Institutionen als Garanten demokratisch-rechtsstaatlicher Errungenschaften. Aus dieser Ambivalenz resultiert eine verwirrende Vielfalt nationaler, internationaler und supranationaler Institutionen, deren Verhältnis zueinander nicht durch eine zentrale legislative Instanz geregelt ist.1 2. Diese pluralistische Struktur der vernetzten Weltordnung lässt sich mit dem Verfassungspluralismus und der Netzwerktheorie normativ und analytisch überzeugend erfassen. Beide Ansätze teilen eine beträchtliche Schnittmenge und ergänzen sich auf vielversprechende Weise. Insbesondere beruhen beide auf der Prämisse, dass sich das Verhältnis zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen und Institu Oben Erster Teil, Kap. 4.

1

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6_20

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

tionen als pluralistisch bzw. heterarchisch darstellt. Der Verfassungspluralismus legt aus einer normativen Perspektive schlüssig dar, welche Belange in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskonflikten auf dem Spiel stehen und wie diese in einem Pluralismus der Rechtsordnungen miteinander in Einklang zu bringen sind. Er argumentiert überzeugend, dass dem Konstitutionalismus Partizipation, Machtbegrenzung und Rechenschaftspflichtigkeit wichtiger sind als die Vermeidung unaufgelöster Normkonflikte zur Gewährleistung der Einheit der Rechtsordnung. Allerdings übergeht der Verfassungspluralismus die analytische Frage, wie richterliche Normbildung in pluralistischen Strukturen ohne zentrali­ sierte Rechtsetzungsinstanz überhaupt stattfinden kann. Dagegen lässt sich mit dem begrifflichen und methodischen Reservoir der Netzwerktheorie analytisch überzeugend erklären, wie autonome Netzwerkakteure, von denen keiner einem anderen eine bestimmte Entscheidung oktroyieren kann, sich zur Koordination im Netzwerk auf gemeinsame Normen verständigen. Allerdings genügen die von der Netzwerktheorie angepriesenen normativen Vorzüge der Netzwerkbildung, wie Flexibilität und Dezentralisierung von Macht, allein nicht den legitimationstheoretischen Anforderungen an die Ausübung öffentlicher Gewalt. Deshalb ist es geboten, normative, an den Prinzipien des Konstitutionalismus orientierte Maßstäbe für rechts­ ordnungsübergreifende Richternetzwerke zu entwickeln. Zusammengefasst als „Konstitutionalismus im Netzwerk“ lassen sich der Verfassungspluralismus und die Netzwerktheorie zu einer normativ und analytisch reizvollen Konzeption der vernetzten Weltordnung verbinden, die aufzeigt, wie konstitutionalistische Errungenschaften in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen unter pluralistisch-­ heterarchischen Bedingungen gewährleistet werden können.2 3. Aus normativer Perspektive ist das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung erstrebenswert: Im Verhältnis zwischen nationalen, supranationalen und internationalen Rechtsordnungen ist es nicht angemessen, die Prinzipien und Normen einer Rechtsordnung allgemein und uneingeschränkt dem Vorrang der anderen Rechtsordnung zu unterstellen. Denn zum einen lässt sich demokratische Selbstbestimmung nicht legitimer gewährleisten als durch die kollektiv-­ verbindlichen Regeln nationalstaatlicher Institutionen. Zum anderen kann auf die Herausforderungen der Globalisierung nicht wirksamer reagiert werden als durch die Rechtsetzung inter- und supranationaler Institutionen. Diese unterschiedlichen Belange lassen sich besser durch eine flexible, heterarchische Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Rechtsordnungen als mit rigiden Vorrangregelungen verwirklichen. In einer pluralistisch-heterarchischen Konfiguration können unterschiedliche Gerechtigkeitsperspektiven gleichberechtigt nebeneinander existieren, wodurch die Entscheidungsperspektiven für die unterschiedlichen Belange der verschiedenen Rechtsordnungen erweitert werden. Zudem wird die Macht einzelner Institutionen begrenzt und ein rechtsordnungsübergreifendes System der „checks and balances“ geschaffen. Indem man Möglichkeiten der Kontestation eröffnet, werden Anreize für Kooperation und für rechtsordnungsübergreifenden Dialog geschaffen. Dagegen wird man der Vielfalt der Perspektiven und divergierenden  Oben Erster Teil, Kap. 3.

2

A. Zusammenfassung in Thesen

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Interessen in der vernetzten Weltordnung nicht gerecht, wenn man Einheit rechtlich durch hierarchische Ordnung erzwingt, wo keine Einheit besteht, und Möglichkeiten der Kontestation trotz grundlegendem Dissens abschneidet.3 4. Von einem rechtstheoretischen Standpunkt aus lässt sich für den Pluralismus der Rechtsordnungen in der vernetzten Weltordnung an die Rechtstheorien Harts und MacCormicks anknüpfen. Danach bestimmt sich das Verhältnis einer Rechtsordnung zu anderen Rechtsordnungen jeweils nach rechtsordnungseigenen Normen und Kriterien. Für die Fragen, wann eine Rechtsordnung vorliegt und welche ­Identität die Rechtsordnung hat, ist maßgeblich auf die beobachtbare soziale Praxis und dabei insbesondere auf die Perspektive der rechtsanwendenden Institutionen abzustellen. Die in ihren jeweiligen Rechtsordnungen maßgeblichen rechtsanwendenden Institutionen, die nationalen Verfassungsgerichte wie das BVerfG sowie die inter- und supranationalen Gerichte wie der EuGH, verstehen sich allesamt jeweils als Repräsentanten ihrer Rechtsordnung und betrachten das rechtsordnungseigene Recht von einem „internal point of view“. Das Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen gestalten sie einseitig nach rechtsordnungseigenen Kriterien, auf Grundlage rechtsordnungseigener Konfliktlösungs- und Kollisionsregeln.4 5. In einer pluralistisch-heterarchische Konstruktion wie der vernetzten Weltordnung, in der die Gestaltung des Verhältnisses der eigenen Rechtsordnung zu anderen Rechtsordnungen grundsätzlich nach rechtsordnungseigenen Kriterien, nach dem „internal point of view“ der jeweiligen Rechtsordnung legitim ist, wird die Koordination der differenten Loyalitäten, Identitäten und Handlungslogiken der verschiedenen Institutionen unterschiedlicher Rechtsordnungen zu einer zentralen Herausforderung. Zum einen sind die verschiedenen nationalen, supranationalen und internationalen Institutionen den Belangen und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbunden. Zum anderen üben sie überlappende Entscheidungskompetenzen nach territorialen, funktionalen oder sektoralen Gesichtspunkten aus, weshalb ihre Entscheidungen oft das gleiche Sachgebiet, wenn auch aus einer unterschiedlichen Perspektive, betreffen. Obwohl eine pluralistische Konzeption den einzelnen Handlungseinheiten eine systemspezifische Perspektive einräumt, darf nicht aus dem Blick geraten, dass alle diese Institutionen und Prozesse – trotz divergierender Handlungslogiken – der Erzeugung und Durchsetzung kollektiver Regeln für die vernetzte Weltordnung dienen. Wenn weder ein „Weltstaat“ existiert, noch ein einzelner, territorial begrenzter Nationalstaat den enormen Regulierungsbedarf der entstehenden, globalisierten Weltgesellschaft befriedigen kann, ist es erforderlich, eine Governance-Perspektive zugrunde zu legen, die das Zusammenwirken des Geflechts nationaler, internationaler und supranationaler Institutionen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme in den Blick nimmt.5 6. Konstitutionalismus im Netzwerk legt nahe, die vernetzte Weltordnung nach konstitutionalistischen Prinzipien auszugestalten und erblickt eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Prozess als erstrebenswert. Verfas Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II.  Oben Erster Teil, Kap. 4, B. 5  Oben Erster Teil, Kap. 5. 3 4

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

sungsgerichte eignen sich aufgrund ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit für die delikate Aufgabe der Koordination des Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen, obwohl sie als Repräsentant ihrer Rechtsordnung auftreten. Denn im Verfassungsdiskurs werden Interessen tendenziell durch Bezugnahme auf allgemeine rechtliche Grundsätze transzendiert und in konstitutionelle Dialoge transformiert. Fragen der Koordination zwischen verschiedenen Rechtsordnungen unter pluralistisch-heterarchischen Bedingungen sind keine rein politischen Fragen, die Verfassungsgerichte nicht sinnvoll entscheiden können oder sollen. Vielmehr zeichnen sich Verfassungsgerichte als nachgeschaltete Entscheidungsforen durch distinktive institutionelle Verfahrensvoraussetzungen und Grundlagen der Entscheidungsfindung aus, die prinzipientreues Handeln begünstigen und die Durchsetzung konstitutionalistischer Belange befördern. Im Kontext der vernetzten Weltordnung ist dieses Korrektiv unverzichtbar, denn die meisten Entscheidungen werden nicht von unmittelbar gewählten Parlamenten, sondern von der Exekutive als dem dominanten Akteur in den internationalen Beziehungen getroffen, die dann – vom Parlament bestenfalls abgesegnet  – weitgehend ungefiltert in die nationale Rechtsordnung hineinwirken.6 7. Unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung sollten Verfassungsgerichte aus ihrer institutionenspezifischen Perspektive, auf der Grundlage des spezifischen „internal point of view“ ihrer Rechtsordnung, aber ohne eine ergänzende Weltinnen-Sicht aus dem Blick zu verlieren, darüber reflektieren, welchen Beitrag sie leisten können, um das Regieren jenseits des Nationalstaats entsprechend den Prinzipien des Konstitutionalismus zu organisieren. Dabei erscheinen die grundlegenden Prinzipien und Prämissen des Konstitutionalismus trotz des westlichen Ursprungs hinreichend universalisierbar und global, um auch über den europäischen Raum hinaus Orientierung im normativen Sinne zu geben. Soweit der Konstitutionalismus innerstaatlich den Maßstab für die legitime Ausübung von Herrschaftsgewalt darstellt, im Zuge der Globalisierung aber zunehmend Entscheidungskompetenzen an inter- und supranationale Institutionen übertragen werden, müssen auch diese Institutionen an konstitutionalistischen Maßstäben gemessen werden.7 8. Trotz der pluralistisch-heterarchischen Konfiguration bedarf es in der vernetzten Weltordnung rechtsordnungsübergreifender normativer Entscheidungsmaßstäbe, die über rechtsordnungseigene Kriterien hinausreichen. Bei der Entwicklung solcher Maßstäbe ist zu berücksichtigen, dass Gerichte ihr Verhältnis zu rechtsordnungsfremden Institutionen aus der Perspektive und aufgrund der internen Logik ihrer eigenen Rechtsordnung heraus gestalten. Denn Gerichte leiten ihre Legitimität aus den demokratisch legitimierten Normen ihrer Rechtsordnung ab. Das Gleichgewicht zwischen der Ermöglichung der rechtsordnungsübergreifenden ­ Koordination einerseits und der Berücksichtigung der rechtsordnungseigenen ­ ­Logik und Tradition andererseits lässt sich durch die Konstruktion diskursiv-

 Oben Erster Teil, Kap. 5, A.  Oben Erster Teil, Kap. 5, B.

6 7

A. Zusammenfassung in Thesen

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prozeduraler Meta-Prinzipien sowie rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen herstellen.8 9. Es lassen sich in Anknüpfung an Miguel Maduro prozedurale Diskurs- und Reflexionsanforderungen unterscheiden, die Verfassungsgerichte in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen beachten sollten. Nach dem Meta-Prinzip der holistischen Reflexion sollten Verfassungsgerichte sich bewusst machen, dass ihre jeweilige Rechtsordnung nur ein „Planet im Universum“ der vernetzten Weltordnung ist und daher in ihren Urteilen die Perspektive anderer Rechtsordnungen miteinbeziehen. Das Meta-Prinzip der institutionellen Reflexion verlangt von Verfassungsgerichten, dass sie ihre Rolle und Legitimität als judizielle Institution im Kontext der vernetzten Weltordnung reflektieren und definieren.9 10. Verfassungsgerichte entwickeln durch iterative Gerichtsinteraktion institutionell stabilisiertes Richterrecht, das sich in Anlehnung an Cass Sunstein als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen konzipieren lassen. Diese rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskompromisse bilden materiell-rechtliche Bausteine für die im Entstehen begriffene vernetzte Weltordnung, an denen Verfassungsgerichte ihre Entscheidungen in rechtsordnungsübergreifenden Zusam­ menhängen ausrichten sollten. Wie bei der Anknüpfung an vorherige Gerichtsentscheidungen als Autoritätsquelle liegen die normativen Vorzüge der Beachtung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskompromisse darin, dass zentrale Werte des Rechts wie Gleichheit, Rechtssicherheit, Stabilität und Kohärenz sowie eine gewisse Demut des Entscheidungsträgers gewährleistet werden. Es besteht damit eine normativ begründbare Verpflichtung, sich am Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen zu beteiligen und bestehende Hintergrundnormen zu beachten, soweit diese mit dem rechtsordnungseigenen positiven Recht und der rechtsordnungseigenen juristischen Methodik vereinbar sind. Auf der Folie dieser Entscheidungsmaßstäbe lassen sich einerseits die anspruchsvollen verfassungsrichterlichen Koordinationsaufgaben im pluralistisch-­ heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung bewerkstelligen, ohne dabei andererseits die legitimatorisch bedeutsame Rückkoppelung an rechtsordnungseigene Normen und Rechtstraditionen zu vernachlässigen. Denn Hintergrundnormen werden zwar durch rechtsordnungsübergreifendes Richterrecht zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen entwickelt, sie bilden aber kein bindendes, positives, unmittelbar anwendbares Recht, sondern lassen Raum für den Rückgriff auf rechtsordnungsspezifische Normen und Interpretationsmethoden. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft besteht in diesem Zusammenhang vor allem darin, die in den Entscheidungsgründen oft nicht explizit benannten Hintergrundnormen zu identifizieren, zu überprüfen und weiterzuentwickeln, damit diese insbesondere mit den Prinzipien des Konstitutionalismus im Einklang stehen.10 11. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechungskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen kennzeichnet sich durch eine netzwerkar Oben Erster Teil, Kap. 8.  Oben Erster Teil, Kap. 8, C., I. 10  Oben Erster Teil, Kap. 8, C., II. 8 9

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

tige Struktur. Das Netzwerk ist ein typischerweise heterarchisch-informelles Beziehungsgeflecht zwischen zwei oder mehreren autonomen Akteuren, die gewöhnlich in iterativer Interaktion nach einer Logik der Verhandlung auf ein gemeinsames institutionelles Arrangement hinarbeiten. In rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken kann kein Verfassungsgericht ein anderes auf eine verbindliche Letztentscheidung festlegen. Mangels positiv-rechtlicher Vorschriften, die das Verhältnis zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen regeln und Kollisionsfälle zwischen Gerichten unterschiedlicher Rechtsordnungen auflösen, können Verfassungsgerichte ihre gegenseitige Beziehung im Richternetzwerk in erheblichem Maße selbst gestalten. Unter diesen heterarchisch-informellen Bedingungen werden Verfassungsgerichte dazu veranlasst, einen kooperativen Gerichtsdialog bei gleichzeitiger Bekräftigung der eigenen Entscheidungsautonomie zu führen, rivalisierende Letztentscheidungsansprüche zu erheben, das Verhältnis ihrer Rechtsordnungen zueinander gleichberechtigt und auf Augenhöhe durch eine iterative, einzelfallbezogene Dialogpraxis wechselseitig abzustecken und sich auf gemeinsame Lösungsarrangements trotz Berufung auf die Prinzipien und Wertungen der eigenen Rechtsordnung zu verständigen.11 12. In Richternetzwerken werden gemeinsame Problemlösungen nicht durch große Verhandlungsrunden ausgehandelt, sondern in kleinen, iterativen Schritten durch reziproke, rechtsordnungsübergreifende Gerichtsinteraktion entwickelt. Trotz der Geltendmachung von Kompetenzansprüchen und der Formulierung von Drohungen ist die rechtsordnungsübergreifende verfassungsgerichtliche Interaktion durch netzwerktypische Verständigungslogik gekennzeichnet. Hinter der Fassade von Drohgebärden und Widersprüchlichkeiten besteht ein fein austariertes, kompromisshaftes, dynamisches Arrangement zur Vermeidung rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungskonflikte. Zur Koordination unterschiedlicher autonomer Handlungslogiken wird eine Netzwerkverfassung entwickelt, die substanzielle Regeln über die Rollen und die Kompetenzen der einzelnen Akteure im Netzwerk enthält. Urteile in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen beschränken sich nicht immer auf die Entscheidung des anhängigen Falls, sondern sie leisten auch einen vom konkreten Sachproblem unabhängigen Beitrag zur Errichtung und Förderung eines rechtsordnungsübergreifenden netzwerkinternen institutionellen Arrangements. Ein wesentlicher Faktor, der eine auf Verständigung und Kooperation ausgerichtete Interaktion in zwischengerichtlichen Richternetzwerken begünstigt, sind die professionelle Homogenität der Richter und die Eigenheiten des rechtlichen Diskurses. Der rechtliche Diskurs legt den Teilnehmern Begründungslasten sowie die Verallgemeinerungsfähigkeit und Abwägung von Argumenten auf und fördert damit einen deliberativen, sachorientierten Diskurs.12 13. In rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken koordinieren Verfassungsgerichte das Verhältnis der verschiedenen Rechtsordnungen zueinander, indem sie sich auf gemeinsame richterrechtliche Normen und Regelungsarrangements verständigen, die sich als rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen 11 12

 Oben Erster Teil, Kap. 6, A. und B.  Oben Erster Teil, Kap. 6, C., D. und E.

A. Zusammenfassung in Thesen

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bzw. als rechtsordnungsübergreifendes Gemeinverfassungsrecht konzipieren lassen. Im Zuge ihres rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialogs ringen Verfassungsgerichte um die überzeugendsten Rechtsprechungsmodelle für die gleichen Rechtsfragen. Die Verständigung auf diese Hintergrundnormen stellt sich als dezentraler, netzwerkartiger Prozess dar, in dem die verschiedenen Gerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen ihre Rechtsprechung durch wechselseitiges Akzeptieren einer Vielzahl individueller Gerichtsentscheidungen aufeinander abstimmen. In ihrer Gesamtheit kann sich die Akkumulation der einzelnen Gerichtsentscheidungen zu rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnormen verdichten.13 14. Diese dezentrale Struktur der rechtsordnungsübergreifenden richterlichen Normbildung entspricht dem institutionellen Wesen von Gerichten, die auf die Entscheidung konkreter Einzelfälle beschränkt sind und ihre Rechtsprechungsmodelle daher durch Einzelfallentscheidungen miteinander koordinieren. Rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen bilden sich, durch gegenseitiges Bezugnehmen und Elaborieren, durch Prüfen und Gegenprüfen Schritt für Schritt, Urteil für Urteil heraus. Dabei fördern soziale Mechanismen wie positive Feedback-Dynamik und psychosozialer Anpassungsdruck Konvergenzen in der Rechtsprechung. Je mehr Gerichte sich auf einen bestimmten Ansatz verständigt haben, je deutlicher ein bestimmter Rechtsprechungstrend hervortritt, desto größer wird der Druck, diesem Ansatz zu folgen oder sich zumindest damit auseinanderzusetzen. Dahinter steht eine gerichtliche Anpassungsdisposition, eine institutionelle Veranlagung, Rechtsprechungstrends zu folgen. Diese ist dem gerichtlichen Entscheiden inhärent, weil die Berufung auf vorangegangene Entscheidungen eine unverzichtbare Autoritätsquelle für gegenwärtige Gerichtsentscheidungen darstellt. Zudem folgt aus dem Reziprozitätsgedanken ein legitimes, rechtlich fassbares Interesse daran, bei Fragen der Kontrolle der Anwendbarkeit des inter- und supranationalen Rechts durch nationale Verfassungsgerichte die Voraussetzungen für die Ausübung dieser Kontrolle aufeinander abzustimmen.14 15. Die netzwerkartige Struktur richterlicher Normbildung in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen zeigt sich beispielsweise in Bezug auf den heute im Grundsatz als selbstverständlich anerkannten Vorrang des Unionsrechts. Im historischen Rückblick musste dieser erst schrittweise durch einen rechtsordnungsübergreifenden Verständigungsprozess zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten erkämpft werden. Mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte gaben nach und nach – mit zunehmender Anerkennung des Vorrangs durch andere Verfassungsgerichte – ihren Widerstand auf. Die Verfassungsgerichte folgten dem sich abzeichnenden Rechtsprechungstrend, obwohl die Sorge einer übermäßigen Beschränkung der nationalen Autonomie durch die Akzeptanz des Vorrangs des Unionsrechts nach wie vor bestand.15 16. Eine vergleichbare rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklung, die sich zu einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm verdichten  Oben Erster Teil, Kap. 7.  Oben Erster Teil, Kap. 7, B. 15  Oben Dritter Teil, Kap. 12, A., I. 13 14

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

könnte, zeichnet sich gegenwärtig im Zusammenhang mit der Vorlagepraxis nationaler Verfassungsgerichte im Rahmen der EU ab. Viele nationale Verfassungs- und Höchstgerichte, insbesondere die einflussreichen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien, waren lange Zeit widerwillig, Vorlagefragen an den EUGH zu übermitteln. Mittlerweile zeichnet sich jedoch ein bemerkenswerter Wandel von einer beharrlichen Nichtvorlagepraxis zur Herausbildung einer routinierten Dialogpraxis im Rahmen des Vorlageverfahrens ab. Innerhalb eines Zeitraums von sieben Jahren, von 2007 bis 2014, legten die Verfassungsgerichte Litauens, Italiens, Spaniens, Frankreichs, Deutschlands und Sloweniens dem EuGH nun plötzlich, nach und nach jeweils erstmals eine ­Vorlagefrage vor. Es liegt nahe, dass soziale Mechanismen wie positive Feedback-Dynamik und psychosozialer Anpassungsdruck Konvergenzen in der Rechtsprechung bewirkt haben.16 17. Weitere Beispiele sind das Konzept der Verfassungsidentität und die Kontrolle des abgeleiteten Rechts internationaler Organisationen. Im EU-Kontext entwickelt sich der Begriff der Verfassungsidentität zu einer von zahlreichen mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten geteilten Grenze für das Unionsrecht. Was genau unter „Verfassungsidentität“ zu verstehen ist, darum ringen der EuGH sowie mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte, etwa aus Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen, Tschechischen, Lettland, Italien und Belgien durch gegenseitiges Bezugnehmen und wechselseitiges Akzeptieren im Rahmen eines rechtsordnungsübergreifenden Richterdialogs.17 Nicht nur in der EU kontrollieren nationale und supranationale Gerichte das abgeleitete Recht internationaler Organisationen, wie der sich gegenseitig verstärkende Widerstand einer Vielzahl von Gerichten aus verschiedensten Rechtsordnungen gegen das konstitutionalistisch defizitäre UN-­ Sanktionsregime illustriert. Dabei verwenden einige Gerichte vermehrt das Solange-­ Muster, das das BVerfG erstmals in seinem Solange I-Beschluss eingeführt hat. In diesen Fällen bestehen deutliche Verwendungszusammenhänge, die auf die Entstehung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen hindeuten.18 18. Im Rahmen der rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungskoordination erfüllen Verfassungsgerichte bestimmte Funktionen. Nach dem sozialwissenschaftlichen Funktionalismus sind Funktionen Leistungen, die ein Akteur als Beitrag zu einem Ganzen erbringt. In Anknüpfung an den vergleichenden Funktionalismus lässt sich die Rechtsprechung von Verfassungsgerichten in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen in verschiedene funktional-äquivalente Leistungen unterteilen, die einen Beitrag zur Lösung bestimmter Probleme und Strukturen der vernetzten Weltordnung leisten. Erstens inkorporieren Verfassungsgerichte das von rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Institutionen erzeugte Recht in ihre Rechtsordnung und gewährleisten dort seine Anwendung (Inkorporationsfunktion). Zweitens kontrollieren sie die Vereinbarkeit dieses Rechts mit den konstitutionalistischen Prinzipien und Normen ihrer Rechtsordnung (Kont Oben Dritter Teil, Kap. 19, A.  Oben Dritter Teil, Kap. 17, A., II. 18  Oben Dritter Teil, Kap. 15, A., I. 16 17

A. Zusammenfassung in Thesen

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rollfunktion). Drittens übertragen sie konstitutionalistische Errungenschaften in rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Entscheidungsprozesse (Übertragungsfunktion). Mit Hilfe dieser Funktionen lässt sich ein Vergleichsbereich funktional-­äquivalenter Leistungen konstruieren, durch den die Rechtsprechung verschiedener Verfassungsgerichte unterschiedlicher Rechtsordnungen geordnet, systematisiert, vergleichbar gemacht und miteinander verglichen werden kann.19 19. Verfassungsgerichte erfüllen in der vernetzten Weltordnung eine Inkorporationsfunktion. Damit die mit der Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf inter- und supranationale Institutionen verbundenen normativen Erwartungen ­erfüllt werden können, müssen inter- und supranationale Normen durch nationale Stellen in die nationale Rechtsordnung inkorporiert werden. Die Entscheidung über die Einordnung des inter- und supranationalen Rechts in die nationale Rechtsordnung zählt zu der klassischen Domäne der Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch wenn Verfassungsgerichte die Inkorporationsentscheidung nicht unabhängig von den politischen Gewalten oder den Bestimmungen der nationalen Verfassung treffen, so ergibt sich diese vor allem aus der Interpretationspraxis der Rechtsgemeinschaft, die durch das Verfassungsgericht maßgebend angeleitet und mitentwickelt wird. Indem Verfassungsgerichte über die Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts entscheiden oder auf die Berücksichtigung rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen durch inter- und supranationale Institutionen hinwirken, koordinieren sie das Verhältnis zwischen nationalen und inter- bzw. supranationalen Rechtsordnungen und Institutionen.20 20. Nationale Verfassungsgerichte gewährleisten die Inkorporation des inter- und supranationalen Rechts in die nationale Rechtsordnung, indem sie diesem rechtsordnungsfremden Recht eine – über die textlichen Vorgaben rechtsordnungseigener Rang- und Integrationsklauseln hinausreichende – besondere Stellung in der nationalen Rechtsordnung einräumen. Zum einen haben mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte in der EU den Vorrang des Unionsrechts bereits zu einer Zeit anerkannt, als die verfassungsrechtlichen Rang- und Integrationsklauseln dem Unionsrecht noch keinen besonderen Status eingeräumt hatten. Zum anderen setzen Verfassungsgerichte in der ganzen Welt, u. a. in Deutschland, Kanada, Israel, Indien und Südafrika, die klassische lex posterior-Regel durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung weitgehend außer Kraft, um dem inter- und supranationalen Recht effektiv zu einer Vorrangstellung zu verhelfen. Nach dem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ist von mehreren möglichen Auslegungsvarianten diejenige zu bevorzugen, die mit dem Völkerrecht vereinbar ist, wodurch das Auftreten einer Normkollision, die Voraussetzung für die Anwendung der lex posterior-­ Regel ist, signifikant reduziert wird. Von einem normativen Standpunkt betrachtet, ist diese Entwicklung zu begrüßen, denn die lex posterior-Regel ist eine formalistische, auf einem zeitlichen Kriterium beruhende Konfliktlösungsregel, die dem gegenseitigen, rechtsordnungsübergreifenden Interesse an der Inkorporation inter-

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 Oben Zweiter Teil.  Oben Zweiter Teil, Kap. 9.

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

und supranationaler Verpflichtungen in der vernetzten Weltordnung nicht gerecht wird.21 21. Die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis zum Vorrang des Unionsrechts und zum Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung lässt sich als Hintergrundnorm angemessen mit einer widerlegbaren Vermutung des Vorrangs des inter- und supranationalen Rechts erfassen, die gegenüber nationalen Gesetzen und Verfassungsvorschriften gilt. Danach unterliegt die Abweichung von einer inter- und supranationalen Verpflichtung einer besonderen materiellen Rechtfertigungslast. Unterschieden in der legitimatorischen Qualität zwischen den verschiedenen inter- und supranationalen Rechtsordnungen lässt sich dabei durch ein abgestuftes Konstitutionalismus-Modell Rechnung tragen, in dem der Grad der Vorrangvermutung des Unionsrechts nur unter sehr engen Voraussetzungen widerlegt werden kann.22 22. Von der Frage der Inkorporation inter- und supranationaler Normen zu unterscheiden ist die Frage der Inkorporation inter- und supranationaler Gerichtsurteile. Hinsichtlich dieser Frage bewegen sich Verfassungsgerichte in dem folgenden Spannungsfeld: Zum einen lässt es sich in der vernetzten Weltordnung nicht mehr rechtfertigen, die Entscheidungen inter- und supranationaler Gerichte im innerstaatlichen Bereich einfach zu ignorieren. Denn der Zweck hinter der Einrichtung interund supranationaler Gerichte und Tribunale liegt gerade auch darin, dass die interund supranationalen Verpflichtungen der Staaten nicht durch staatliche Institutionen ausgelegt werden und diese gleichsam zum Richter in eigener Sache werden. Wenn die Urteile inter- und supranationaler Gerichte nicht berücksichtigt werden, büßen diese ihre Fähigkeit ein, die ihnen übertragenen Aufgaben adäquat zu erfüllen. Zum anderen bewahren sich die inkorporierenden Gerichte einen gewissen Entscheidungsspielraum, um der institutionellen Konsequenz der Einsetzung inter- und su­ pranationaler Gerichte zu entgehen, dass diese Gerichte den Inhalt inter- und supranationaler Normen in einer Weise konkretisieren, der den Verpflichtungsadressaten kaum mehr eigenständigen Interpretationsspielraum belässt. Rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungsentwicklungen im Zusammenhang mit der Inkorporation der rechtsordnungsfremden Entscheidungen des EGMR, des IAGMR und des IGH durch Verfassungsgerichte in Europa, Lateinamerika und Israel sowie durch das ICTY zeigen, dass sich diese Gerichte als verpflichtet ansehen, die Entscheidungen rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Gerichte zu derselben Sachfrage zu berücksichtigen und sich inhaltlich gebührend mit ihnen auseinandersetzen, freilich ohne dabei eine schematische Bindungswirkung anzunehmen. Diese Rechtsprechungspraxis entspricht der netzwerkartigen Struktur der rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsinteraktion in der vernetzten Weltordnung: Einerseits beharren die mit rechtsordnungsfremden Gerichtsurteilen konfrontierten Gerichte auf ihrer Autonomie und Letztentscheidungsbefugnis, andererseits ist die Ausrichtung

21 22

 Oben Dritter Teil, Kap. 12, A.  Oben Dritter Teil, Kap. 12, B.

A. Zusammenfassung in Thesen

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nach diesen Urteilen Ausdruck einer Bereitschaft zur Kooperation und zur Einengung der eigenen Entscheidungsautonomie.23 23. Als Hintergrundnorm konzipiert, lässt sich diese rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechungspraxis zur Berücksichtigung rechtsordnungsfremder interund supranationaler Gerichtsurteile als widerlegbare Präjudizvermutung einfangen, nach der der Grad der Vorrangvermutung vom Konstitutionalisierungsgrad der betreffenden inter- oder supranationalen Rechtsordnung abhängt. Im Fall des EuGH kann das zu einer weitgehenden Bindungswirkung führen. In jedem Fall erfordert die Abweichung von rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Urteilen zu derselben Problematik eine besondere Rechtfertigung. Die Konstruktion einer Präjudizvermutung ist auch normativ auf der Folie der pluralistisch-heterarchischen Strukturen der vernetzten Weltordnung wünschenswert: Zum einen erscheint es nicht angemessen, wenn ein Verfassungsgericht in rechtsordnungsübergreifenden Rechtsstreitigkeiten seine Erwägungen ohne Weiteres an die Stelle der Erwägungen anderer, mit der gleichen Problematik befasster Gerichte setzt. Zum anderen ist ein konstruktiver Dialog, wie ihn die Entscheidungstechnik einer widerlegbaren Präjudizvermutung fördert, gegenüber einer starren Bindungswirkung zu bevorzugen. Durch einen solchen Dialog können konstitutionelle Erwartungen geweckt und konstitutionelle Argumente mobilisiert werden.24 24. Verfassungsgerichte haben unter den Bedingungen der vernetzten Weltordnung eine Kontrollfunktion, d.  h. sie prüfen, meist indirekt über den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt, ob die Verträge und Rechtsakte inter- und su­ pranationaler Organisationen mit rechtsordnungseigenen konstitutionalistischen Prinzipien und Normen vereinbar sind. Im nationalen Gemeinwesen sind Verfassungsgerichte damit beauftragt, die in der Verfassung niedergelegten Errun­ genschaften des Konstitutionalismus, von den Grundrechten, bis zu den Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien, hochzuhalten und zu schützen. Soweit der Verfassungsgerichtsbarkeit einerseits die Kontrolle dieser Errungenschaften im nationalen Gemeinwesen obliegt, Verfassungsgerichte aber andererseits in der vernetzten Weltordnung dazu aufgefordert sind, als eigenständige Akteure aufzutreten und sich am Konstitutionalismus als normative Richtschnur zu orientieren, sollten sie auch in der vernetzten Weltordnung die Vereinbarkeit inter- und supranationaler Maßnahmen mit diesen konstitutionalistischen Errungenschaften kontrollieren. Denn wenn immer mehr Entscheidungen durch inter- und supranationale Institutionen getroffen werden, die einerseits individualbezogen sind und nationalen Stellen kaum mehr eigenen Gestaltungsspielraum belassen, andererseits nach konstitutionalistischen Maßstäben teilweise defizitär sind, dann können Verfassungsgerichte der Entstehung eines konstitutionellen Vakuums in der Konstellation der vernetzten Weltordnung nur dadurch entgegenwirken, indem sie den Schutz verfassungsrechtlicher Prinzipien und Normen auch gegenüber diesen inter- und supranationalen Entscheidungen gewährleisten. Im Vergleich zu Regierung und Parlament ist die

23 24

 Oben Dritter Teil, Kap. 13, A.  Oben Dritter Teil, Kap. 13, B.

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

Verfassungsgerichtsbarkeit aus institutionenspezifischer Perspektive am besten für die Wahrnehmung einer solchen Kontrollfunktion geeignet.25 25. Im Zusammenhang mit der verfassungsgerichtlichen Kontrollfunktion sind zwei Rechtsprechungskomplexe zu unterscheiden: Der erste betrifft den Kontrollgegenstand, den Verfassungsgerichte als Anknüpfungspunkt für die Ausübung ihrer Kontrolle wählen, also die Frage, ob sie inter- und supranationale Gründungsverträge und/oder das von inter- und supranationalen Institutionen auf deren Grundlage erzeugte abgeleitete Recht kontrollieren und welchen Unterschied diese unterschiedlichen Anknüpfungspunkte überhaupt machen. Der zweite Problemkomplex bezieht sich auf den Kontrollmaßstab, anhand dessen Verfassungsgerichte das rechtsordnungsfremde inter- und supranationale Recht mittelbar kontrollieren. Hier stellt sich die Frage, ob Verfassungsgerichte die Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts aufgrund der entsprechenden rechtsordnungsfremden Bestimmungen oder auf der Grundlage der Prinzipien und Normen ihrer eigenen Rechtsordnung ausüben sollten und wie streng der Prüfungsmaßstab ausgestaltet wird. Hinsichtlich des Kontrollgegenstandes besteht im Recht internationaler Organisationen eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Vertragsrecht, also dem durch die Mitgliedstaaten vereinbarten Gründungsvertrag, der wie eine „Verfassung“ der internationalen Organisation ihre Institutionen einrichtet, die Kompetenzen absteckt und die Verfahren der Rechtserzeugung festlegt einerseits und dem abgeleiteten Recht, also dem auf Grundlage des Vertrages durch die Institutionen der internationalen Organisation selbst erzeugten Recht andererseits. Im Rahmen der Kontrolle des abgeleiteten Rechts lässt sich der Schutz von Grundrechten einfacher realisieren als im Rahmen der Vertragskontrolle. Denn bei der Kontrolle des abgeleiteten Rechts liegt ein Grundrechtseingriff bereits vor, das Verfassungsgericht kann einen individualisierten, abgeschlossenen Sachverhalt retrospektiv prüfen.26 26. Dennoch bildet sich im europäischen Kontext die Vertragskontrolle, die regelmäßig durch den EuGH und durch mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte in der EU durchgeführt wird, immer mehr zu einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm heraus. Obwohl die Prüfung des Zustimmungsgesetzes zu einem interoder supranationalen Vertrag vor der Ratifikation auf die Vereinbarkeit mit der Verfassung wegen der Schwierigkeiten zwischenstaatlicher Kompromissbildung bei der Aushandlung inter- und supranationalen Verträgen strukturelle Probleme des kollektiven Handelns verursachen kann, wird die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Vertragsrechts im EU-Kontext in vielen Mitgliedstaaten mittlerweile fast routinemäßig durchgeführt. Insbesondere die Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte zum Vertrag von Lissabon zeugt von einer neuen Qualität der Vertragskontrolle, die sich in den Urteilen zum europäischen Rettungsschirm fortgesetzt hat. Auch außerhalb Europas zeichnet sich in Grundzügen eine Praxis der verfassungsgerichtlichen Vertragskontrolle ab, wie die Kontrolle der Inkorporation des

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 Oben Zweiter Teil, Kap. 10.  Oben Dritter Teil, Kap. 14 und Kap. 15.

A. Zusammenfassung in Thesen

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Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs durch die Verfassungsgerichte Kolumbiens und Chiles zeigt.27 27. Die rechtsordnungsübergreifende Rechtsprechung zum Vertragsrecht kennzeichnet sich durch einen Gegensatz: Einerseits beanspruchen Verfassungsgerichte eine (mittelbare) Kontrolle inter- und supranationaler Gründungsverträge, andererseits verzichten sie darauf, die Ratifizierung des Vertrags zu vereiteln. Das lässt sich damit erklären, dass die definitive Vereitelung der Ratifikation eines Gründungsvertrags vor dem Hintergrund der strukturellen Probleme bei der zwischenstaatlichen Kompromissbildung die politisch-institutionellen Grenzen eines Verfassungsgerichts übersteigen würde und daher auch nicht der Zielrichtung des Vertragsurteils entspricht. Die Kontrolle des Vertragsrechts dient Verfassungsgerichten als Medium, um bestimmte rechtsordnungseigene konstitutionalistische Belange in die Entscheidungsprozesse rechtsordnungsfremder inter- und supranationaler Institutionen einzuspeisen. Sie dient als Forum, um mit Verfassungsgerichten verschiedener Rechtsordnungen in einen rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog treten, um sich miteinander auf unterschiedliche Rechtsprechungsmodelle zu verständigen, wie die verfassungsgerichtliche Auseinandersetzung um die Ultra-vires-Kontrolle und die Verfassungsidentität als Kontrollmaßstab belegen. Das Anliegen der kontrollierenden Verfassungsgerichte liegt darin, den konstitutionellen Diskurs über das betreffende Vertragsregime mitzugestalten, inter- und supranationale Entscheidungsprozesse für die verfassungsrechtlichen Belange der nationalen politischen Gemeinschaft zu erweitern und damit auch stärker zu legitimieren, sowie seine Rechtsprechung mit anderen Verfassungsgerichten zu koordinieren. Zwar bestehen aufgrund der tendenziell selbstverstärkenden Eigenlogik des verfassungsgerichtlichen Entscheidens Bedenken gegen die Praxis der Vertragskontrolle. Insbesondere unterliegen Verfassungsgerichte einem gewissen Druck, Konzessionen an die Antragsteller des Vertragsverfahrens zu machen, um auch in Zukunft „angerufen“ zu werden und ein Zustimmungsgesetz auch einmal für unvereinbar mit der Verfassung zu erklären, um keine Glaubwürdigkeits- und Autoritätseinbußen zu erleiden. Insgesamt bildet der institutionell auf Prinzipienorientierung und Unabhängigkeit vom politischen Tagesgeschäft ausgerichtete verfassungsgerichtliche Entscheidungsprozess jedoch ein sinnvolles Gegengewicht zu den gehetzten, unter hohem politischem Druck stehenden Entscheidungen exekutivischer Regierungskonferenzen.28 28. Die Kontrolle des abgeleiteten Rechts internationaler Organisationen – mittels Anknüpfung an den rechtsordnungseigenen Inkorporationsakt – bildet sich verstärkt zur rechtsordnungsübergreifenden Rechtsprechungspraxis heraus. Eine wegweisende Rolle hat dabei das institutionell einflussreiche und selbstbewusste Bundesverfassungsgericht gespielt, das in seinem Solange I-Beschluss erstmals die Kontrolle über die rechtsordnungseigene Inkorporation einer unionsrechtlichen Verordnung beanspruchte. Im EU-Kontext sind dem BVerfG mehrere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte gefolgt. Ein weiterer wichtiger Schritt in der Herausbil27 28

 Oben Dritter Teil, Kap. 14, A.  Oben Dritter Teil, Kap. 14, B.

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

dung einer rechtsordnungsübergreifenden Hintergrundnorm war der Widerstand einer Vielzahl von Gerichten aus verschiedensten Rechtsordnungen gegen das kon­ stitutionalistisch defizitäre UN-Sanktionsregime. Konfrontiert mit diesen drastischen Grundrechtsschutzlücken haben sich supranationale Gerichte, wie das EuG und der EuGH in Kadi und der EGMR in Nada und in Al-Dulimi, sowie nationale Gerichte, so der britische Supreme Court in Ahmed und der kanadische Federal Court of Ottawa in Abdelrazik dafür entschieden, eine Kontrolle gegenüber dem Sanktionsregime auszuüben.29 29. Hinter der Ausübung der Kontrolle des abgeleiteten Rechts internationaler Organisationen steht die Ratio, dass die Wahl der Governance-Form in der vernetzten Weltordnung keine gravierenden Auswirkungen auf das gewährleistete Grundrechtsschutzniveau haben sollte, weil sich Regierungen, Behörden und Parlamente sonst ihrer Verpflichtungen zur Achtung der Grund- und Menschenrechte durch Kompetenzübertragungen auf inter- und supranationale Institutionen entledigen könnten. Nur weil der Kampf gegen den transnationalen Terrorismus durch UNoder durch EU-Institutionen wahrgenommen wird, muss daraus nicht folgen, dass rechtsordnungsfremde europäische oder nationale Gerichte in diesem grundrechtssensiblen Bereich keine Kontrolle ausüben sollten. Der Ausübung jeglicher Form von öffentlicher Gewalt sollte die Gewährleistung grundlegender verfassungsrechtlicher Prinzipien korrespondieren. Dem in der Kontrolle des abgeleiteten inter- und supranationalen Rechts strukturell angelegten Konflikt zwischen dem Schutz kon­ stitutionalistischer Prinzipien einerseits und der Gewährleistung der Handlungsautonomie inter- und supranationaler Institutionen andererseits lässt sich durch ein abgestuftes gerichtliches Kontrollprogramm hinreichend Rechnung tragen, in dem die Bereitschaft und die Ausgestaltung zum Grundrechtsschutz in diesen Institutionen ein maßgeblicher Gesichtspunkt ist. Die entscheidende Frage ist nicht, ob interund supranationale Institutionen der gerichtlichen Kontrolle unterliegen sollten, sondern wie diese Kontrolle ausgestaltet werden soll.30 30. Die Ausübung einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts muss die Balance wahren zwischen dem Schutz rechtsordnungseigener Belange, die in der fremden Rechtsordnung unterrepräsentiert sein können, und dem gebotenen Respekt vor der Autonomie inter- und supranationaler Institutionen. Ein maßgebliches Instrument zur Feinsteuerung dieser Balance ist der Kontrollmaßstab. Wenn nationale oder supranationale Verfassungsgerichte das inter- oder supranationale Recht kontrollieren, stellt sich die Frage, ob sie einen rechtsordnungseigenen oder einen rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab heranzuziehen. Die Kadi-Urteile des EuG und des EuGH entwickeln zu dieser Frage jeweils konkurrierende Ansätze. Das EuG wählt einen rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab, indem es die EU-Verordnung – und damit mittelbar die UN-Sicherheitsratsresolution – am Maßstab des ius cogens prüft. Der EuGH

29 30

 Oben Dritter Teil, Kap. 15, A.  Oben Dritter Teil, Kap. 15, B.

A. Zusammenfassung in Thesen

561

wählt einen rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstab in Gestalt der Unionsgrundrechte.31 31. In einer pluralistisch-heterarchischen Konstellation wie der vernetzten Weltordnung ist bei der Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts ein rechtsordnungseigener einem rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstab grundsätzlich ­vorzuziehen. Denn im Fall der Heranziehung eines rechtsordnungsfremden Kontroll­ maßstabs sieht sich ein Gericht dem Einwand ausgesetzt, dass es wegen seines institutionellen Bias zugunsten der eigenen Rechtsordnung in Konfliktsituationen, in denen die Belange verschiedener Rechtsordnungen miteinander konkurrieren, nicht als angemessener Interpret des rechtsordnungsfremden Rechts erscheint. Zudem würde ein supranationales Gericht, wie der EuGH oder das EuG, bei der Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts (z.  B. einer UN-Sicherheitsratsresolution) anhand eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs (z. B. dem ius cogens) implizit einen Anspruch erheben, der über seine Kompetenzen und Legitimität als regionales Gericht hinausgeht. Andererseits droht die Gefahr, dass das Gericht rechtsordnungsinternen Erwartungen an seine institutionelle Rolle nicht gerecht wird. Der EuGH würde seine Rolle als Wächter der Unionsgrundrechte nicht angemessen erfüllen, wenn er die vom UN-Sicherheitsrat ­beschlossenen einschneidenden Sanktionen gegen Individuen nur am Maßstab der traditionell nur sehr restriktiv gehandhabten Normkategorie des ius cogens prüfen würde. Das Anliegen einer effektiven verfassungsgerichtlichen Kontrolle droht dann leerzulaufen. Soweit das Gericht stattdessen rechtsordnungseigene konstitutionalistische Prinzipien als Kontrollmaßstab anwendet, bewegt es sich in einem Normenfeld, in dem es die legitime Autorität und die erforderliche Expertise hat. In diesem Zusammenhang erscheint es auch legitim, rechtsordnungsfremden Institutionen die Mitwirkung auf der Grundlage rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen zu verweigern, insofern das Gericht die Meta-Prinzipien der institutionellen und holistischen Reflexion beachtet.32 32. In der EU erkennen nationale Verfassungsgerichte einerseits den Vorrang des Unionsrechts grundsätzlich an, andererseits leiten sie die vorrangige Anwendbarkeit des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung aus rechtsordnungseigenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen her. Daraus folgt, dass sich nationale Verfassungsgerichte die Kontrolle des Unionsrechts vorbehalten, und zwar auf Grundlage eines rechtsordnungseigenen Kontrollmaßstabs, der in der eigenen Verfassung verortet ist. Die Frage, die sich stellt, ist, wo in der nationalen Verfassung die Grenze für das inter- und supranationale Recht gezogen werden soll. Diese Frage ist von fundamentaler Bedeutung für das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem Unionsrecht. Je schwieriger der Verfassungsvorbehalt zu aktivieren ist, desto geringer ist die externe Kontrolle des Unionsrechts; je niedriger Verfassungsgerichte die Grenze ansetzen bzw. je mehr Verfassungsnormen Vorrang vor dem Unionsrecht haben, desto stärker wird die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten gefährdet. Im EU-Kontext kristallisiert sich seit der Einfügung 31 32

 Oben Dritter Teil, Kap. 16, A.  Oben Dritter Teil, Kap. 16, B.

562

Kapitel 20: Schlussfolgerung

des Art. 4 Abs. 2 EUV in das europäische Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon der Begriff der Verfassungsidentität schrittweise als Grenze und damit gleichsam als einheitlicher inhaltlicher Kontrollmaßstab für das Unionsrecht heraus.33 33. Die Verfassungsidentität ist ein geeigneter Kontrollmaßstab für den EU-Kontext. Zum einen bringt der Begriff zum Ausdruck, dass ein nationaler Verfassungsvorbehalt nur insoweit gerechtfertigt ist, als besonders wichtige verfassungsrechtliche Belange beeinträchtigt werden. Der Grad der Vorrangvermutung des inter- und supranationalen Rechts ist vom Grad der Konstitutionalisierung der dieses Recht erzeugenden inter- oder supranationalen Rechtsordnung abhängig zu machen. Für die weitgehend konstitutionalisierte EU bedeutet dies, dass die Voraussetzungen für die Widerlegbarkeit der Vorrangvermutung zugunsten des Unionsrechts besonders streng sein müssen. Im Zusammenhang mit weniger konstitutionalisierten Erscheinungen des internationalen Rechts erscheint es dagegen legitim, den Kontrollmaßstab abzusenken. Zum anderen steckt in dem Begriff eine Absage an einen absoluten Vorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht. Er belässt den nationalen Verfassungsordnungen einen gewissen Spielraum, um nationalen Besonderheiten gerecht werden zu können. Die damit verbundenen Gefahren für die generelle Befolgung des Unionsrechts lassen sich durch die Verwendung bestimmter Konfliktvermeidungstechniken, wie der Einbindung des EuGH durch das Vorlageverfahren, einhegen. Damit lässt sich das Konzept der Verfassungsidentität als ein Baustein für das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung erblicken.34 34. Verfassungsgerichte befriedigen eine Übertragungsfunktion, d. h. sie wirken auf die Berücksichtigung rechtsordnungseigener Prinzipien und Normen durch inter- und supranationale Institutionen hin. Die verfassungsgerichtliche Übertragungsfunktion resultiert aus dem grundlegenden Dilemma der vernetzten Weltordnung, wonach die politische Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in einer globalisierten Welt sichergestellt werden soll, ohne die demokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften des Nationalstaates aufzugeben. Aus diesem Grund wirken nationale Verfassungsgerichte auf die Übertragung rechtsordnungseigener verfassungsrechtlicher Prinzipien und Normen in inter- und supranationale Rechtsordnungen hin, damit diese ihre konstitutionellen Defizite beheben und äquivalente Prinzipien und Normen entwickeln. Dahinter steht die Erwägung, dass damit die „konstitutionalistische“ Diskrepanz zwischen den Rechtsordnungen reduziert und die Entstehung von rechtsordnungsübergreifenden Verfassungskonflikten präventiv verhindert wird, indem konstitutionalistische Prinzipien und Normen auf inter- und supranationalen Institutionen übertragen werden. Indem nationale Verfassungsgerichte offensiv und gestalterisch auf die Berücksichtigung ihrer v­ erfassungsrechtlichen Prinzipien und Normen durch inter- und supranationale Institutionen hinwirken, initiieren sie einen rechtsordnungsübergreifenden konstitutionalistischen Dialog, durch den trotz divergierender rechtsordnungsspezifischer Perspektiven ein ­normativer Grundkonsens zwischen den Rechtsordnungen herbeigeführt werden 33 34

 Oben Dritter Teil, Kap. 17, A.  Oben Dritter Teil, Kap. 17, B.

A. Zusammenfassung in Thesen

563

kann. Der in vielfältigen Formen und Foren stattfindende Gerichtsdialog ist das maßgebliche Medium, durch das ein Verfassungsgericht seine konstitutionalistischen Belange in die Rechtsprechungspraxis eines anderen Verfassungsgerichts einspeisen kann. Denn wenn nationale Verfassungsgerichte sich inhaltlich mit der Rechtsprechung ihrer Gegenparts auseinandersetzen, auf diese Bezug nehmen, Kritik äußern und Warnungen formulieren, dann setzen sie damit auch Lern- und Sozialisierungsprozesse in Gang. Unter dem Gesichtspunkt der Übertragungsfunktion lassen sich zwei unterschiedliche Übertragungsmechanismen unterschieden, durch die ein Verfassungsgericht seine konstitutionalistischen Belange in die Rechtsprechungspraxis eines anderen Verfassungsgerichts einspeisen kann. Zum einen gibt es materiell-rechtliche Übertragungsmechanismen, wie den Solange-Grundsatz, die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle, bei denen die Aussicht auf Nichtanwendung des rechtsordnungsfremden Rechts Anreize zur Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Prinzipien und Normen schafft. Zum anderen lässt sich das Vorlageverfahren, durch das nationale und supranationale Gerichte zu einem rechtsordnungsübergreifenden Gerichtsdialog verbunden werden, als ein prozeduraler Übertragungsmechanismus verstehen.35 35. Der Solange-Grundsatz ist ein richterlicher Übertragungsmechanismus, der auf eine subsidiäre, abgestufte verfassungsgerichtliche Kontrolle des abgeleiteten Rechts inter- und supranationaler Organisationen ausgerichtet ist. Mit der Solange-­ Formel signalisieren die Verfassungsgerichte der das rechtsordnungsfremde interoder supranationale Recht inkorporierenden Rechtsordnungen, dass sie von einer eigenen umfassenden Kontrolle dieses Rechts absehen, solange die konstitutionalistischen Maßstäbe dieser Rechtsordnungen denen der eigenen Rechtsordnung im Wesentlichen gleichzuachten sind. Es handelt sich um einen abgestuften Kontrollmechanismus, denn mit der Verwendung der Solange-Formel bringt ein Gericht zum Ausdruck, dass Art und Umfang seiner Kontrolle des rechtsordnungsfremden Rechts von der Berücksichtigung rechtsordnungseigener konstitutionalistischer Belange durch die rechtsordnungsfremden Institutionen abhängig sind. Dieses Solange-Muster ist mittlerweile rechsordnungsübergreifend in der Rechtsprechung einer Vielzahl von Verfassungs- und Obergerichten etabliert. Das BVerfG hat diesen richterlichen Übertragungsmechanismus erstmals in seinem Solange I-Beschluss eingeführt. Darin beanspruchte das Gericht eine richterliche Kontrollbefugnis über europäische Rechtsakte, machte aber die Ausübung seiner Kontrolle von dem durch europäische Institutionen gewährleisteten Niveau des Grundrechtsschutzes abhängig. Dieses Solange-Muster übernahmen die nachfolgenden verfassungs- und obergerichtlichen Entscheidungen der italienischen Corte Costituzionale in Fragd, des französischen Conseil d’État in Arcelor, des polnischen Verfassungsgerichtshofs in Supronowicz, des EGMR in Bosphorus und des EuGH in Kadi.36 36. Aus normativer Perspektive ist der Solange-Grundsatz ein angemesse­ner Übertragungsmechanismus für rechtsordnungsübergreifende Zusammenhänge. Durch die Verwendung der Solange-Konstruktion schafft das Verfassungsgericht 35 36

 Oben Zweiter Teil, Kap. 11.  Oben Dritter Teil, Kap. 18, A., I.

564

Kapitel 20: Schlussfolgerung

der inkorporierenden Rechtsordnung Anreize für rechtsordnungsfremde Institutionen, die geforderten Verfassungsprinzipien stärker zu berücksichtigen, um die Sanktion einer umfassenden Kontrolle ihrer Rechtsakte durch das Verfassungsgericht zu vermeiden. Dabei wird nicht nur mit „negativen“ Sanktionen gedroht, sondern umgekehrt wird die erwünschte Berücksichtigung konstitutionalistischer Prinzipien dadurch belohnt, dass das Verfassungsgericht seinen Kontrollanspruch zurücknimmt und von einer eigenen umfassenden Kontrolle absieht. Dadurch kann in Reaktion auf die Entscheidungspraxis der rechenschaftspflichtigen Institutionen nach der „Zuckerbrot und Peitsche“-Methode gezielt positives oder negatives Feedback gegeben werden. Der Solange-Mechanismus eignet sich daher für die komplexen Koordinationsaufgaben der vernetzten Weltordnung, weil es sich um ein flexibles Instrument handelt, das stets auf die Reformbemühungen der rechenschaftspflichtigen Institutionen einer anderen Rechtsordnung angepasst werden kann. Der Solange-Mechanismus entspricht der pluralistisch-heterarchischen Konfiguration der vernetzten Weltordnung, weil die Autonomie der rechtsordnungsfremden Institutionen respektiert wird. Diesen wird keine bestimmte Lösung ok­ troyiert, sondern es wird ein Handlungsdruck erzeugt und damit ein ergebnisoffener rechtsordnungsübergreifender Verhandlungsprozess darüber in Gang gesetzt, inwieweit die Institutionen der rechtssetzenden Rechtsordnung die Belange der inkorporierenden Rechtsordnung berücksichtigen müssen bzw. inwieweit die Institutionen der inkorporierenden Rechtsordnung die Entscheidungskompetenzen der rechtssetzenden Rechtsordnung akzeptieren müssen. Im Idealfall resultiert dieser Prozess in die Herausbildung eines normativen Grundkonsenses über gemeinsame Verfassungsprinzipien. Damit stellt der Solange-Mechanismus auch ein probates Mittel gegen die Fragmentierungstendenzen in der vernetzten Weltordnung dar, denn er schafft Anreize dafür, dass die der jeweiligen Logik und dem Selbstverständnis ihrer Rechtsordnung eng verbundenen Institutionen die konstitutionalistischen Belange der inkorporierenden Rechtsordnung beachten und wirkt somit integrierend auf die auseinanderdriftenden Rationalitäten ein.37 37. Die Ultra-vires-Kontrolle ist ein vom Solange-Grundsatz zu unterscheidender Übertragungs- und Rechenschaftspflicht-Mechanismus, bei dem die Einhaltung der Kompetenzgrenzen durch inter- und supranationale Organisationen im Vordergrund steht. Bislang wurde die Ultra-vires-Kontrolle im Rahmen der EU vor allem vom BVerfG und vereinzelt vom französischen Conseil d’État in Cohn-Bendit, vom dänischen Højesteret in Carlsen v. Rasmussen und in Ajos sowie vom tschechischen Verfassungsgerichts in Holubec verwendet. Sie ist im Kern darauf ausgerichtet, nationale Entscheidungsbefugnisse vor einer schleichenden Ausweitung unionsrechtlicher Kompetenzen durch europäische Institutionen zu bewahren, indem auf eine striktere Kontrolle durch den EuGH über die Wahrung unionaler Rechtsgrundlagen hingewirkt wird. Ein deutlicher rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrend zur Verwendung der Ultra-vires-Kontrolle lässt sich nicht erkennen. Es handelt sich vorwiegend um eine Konstruktion des BVerfG, die vereinzelt von anderen mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Höchstgerichten in der EU aufgegriffen 37

 Oben Dritter Teil, Kap. 18, A., II.

A. Zusammenfassung in Thesen

565

wurde. Diesen Entscheidungen mangelt es an einer systematischen, prinzipienorientierten Auseinandersetzung mit den Anforderungen an eine verfassungsgerichtliche Ultra-vires-Kontrolle unter den Bedingungen einer vernetzten Weltordnung, wie die Entscheidungsbegründungen des Conseil d’État in Cohn-Bendit, des dänischen Obersten Gerichtshofs in Ajos und des tschechischen Verfassungsgerichts in Holubec zeigen. Sie erscheinen als Ausdruck einer spezifisch gelagerten Frustration über die Rechtsprechung des EuGH, aber nicht als dogmatische Ausgestaltung eines rechtsordnungsübergreifenden Rechenschaftspflicht-Mechanismus.38 38. Aus normativer Perspektive ist die Ultra-vires-Kontrolle des rechtsordnungsfremden inter- und supranationalen Rechts kein überzeugender verfassungsgerichtlicher Rechenschaftspflicht-Mechanismus. Problematisch ist insbesondere die Anmaßung eines rechtsordnungsfremden Kontrollmaßstabs. Dadurch reicht die Ultra-vires-Kontrolle erstens über die legitime Vertretung rechtsordnungseigener Belange hinaus und greift in die Kernkompetenzen des zuständigen rechtsordnungsfremden Gerichts ein. Dabei ist die gegenseitige Achtung der Autonomie Grundbedingung für das pluralistisch-heterarchische Arrangement der vernetzten Weltordnung. Zweitens erhebt ein Verfassungsgericht im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle einen Anspruch, der über das bipolare Verhältnis zwischen eigener und europäischer Rechtsordnung hinausreicht. Aufgrund seines institutionellen Bias als Repräsentant seiner nationalen Rechtsordnung fehlt es einem nationalen Verfassungsgericht jedoch an der erforderlichen Legitimität, um die in den europäischen Verträgen vereinbarten Kompetenzgrundlagen auszulegen und einen über die eigene Rechtsordnung hinausreichenden Fehlervorwurf zu erheben. Darüber hinaus entspricht die Ultra-vires-Kontrolle auch nicht der im EU-Kontext gebotenen Beschränkung des verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabs auf Belange der Verfassungsidentität.39 39. In seinem Lissabon-Urteil hat das BVerfG – neben dem Solange-Grundsatz und der Ultra-vires-Kontrolle  – die Identitätskontrolle entwickelt und damit das Konzept der Verfassungsidentität zu einem richterlichen Kontroll- und Rechenschaftspflicht-Mechanismus operationalisiert. Ein rechtsordnungsübergreifender Rechtsprechungstrend hin zu einer Identitätskontrolle ist nicht ersichtlich; bislang hat nur das BVerfG in systematischer Weise auf dieses Instrument rekurriert. Allerdings entspricht die Aktivierbarkeit der Identitätskontrolle im Einzelfall einem auch im Zusammenhang mit dem Solange-Grundsatz und der Ultra-­vires-­Kontrolle zu beobachtenden Rechtsprechungstrend bei der dogmatischen Ausgestaltung der gerichtlichen Kontrolle des abgeleiteten Unionsrechts. Aus normativ-­ analytischer Sichtweise ist die Identitätskontrolle aber der Ultra-vires-Kontrolle vorzuziehen. Denn sie begrenzt die richterliche Kontrolle auf die Wahrung nationaler Kernkompetenzen. Sie zielt nicht allgemein auf die Beachtung des unionalen Kompetenzgefüges. Zudem ist der verfassungsgerichtliche Kontrollmaßstab bei der Identitätskontrolle nicht das Unionsrecht, sondern die rechtsordnungseigene Verfassung.

38 39

 Oben Dritter Teil, Kap. 18, B., I.  Oben Dritter Teil, Kap. 18 B., II.

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

Damit vertritt das BVerfG in legitimer Weise rechtsordnungseigene Belange und greift nicht in die Kernkompetenzen des EuGH ein.40 40. Ein bedeutsamer prozessualer Übertragungsmechanismus ist das Vorlageverfahren. Dieses Verfahren institutionalisiert die rechtsordnungsübergreifende richterliche Kommunikation und stellt damit das direkteste, fallbezogenste, förmlichste Forum für einen rechtsordnungsübergreifenden Richterdialog dar. Ein Vorlageverfahren gibt es gegenwärtig u. a. in der EU, der Andengemeinschaft, der Karibischen Gemeinschaft, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, der EFTA, der Benelux-Union, der OHADA, der ECOWAS, der EAC, der COMESA, der CEMAC, der CAN und im MERCOSUR. Die Betrachtung der rechtsordnungsübergreifenden gerichtlichen Vorlagepraxis im Rahmen der EU ergibt folgendes Bild: Unterinstanzliche nationale Gerichte legen dem EuGH seit Jahrzehnten routinemäßig Vorlagefragen vor. Darüber hinaus gibt es seit geraumer Zeit eine Reihe von Verfassungsund Obergerichten, wie die Verfassungsgerichte Belgiens, und Österreichs sowie den irischen Supreme Court, das britische House of Lords, den französischen Conseil d’État und den dänische Højesteret, die dem EuGH wie selbstverständlich Vorlagefragen übermitteln. Dagegen zeigten sich jedoch viele nationale Verfassungsund Höchstgerichte lange Zeit widerwillig, Vorlagefragen an den EUGH zu übermitteln. Nachdem die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte in Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Litauen und Slowenien für lange Zeit eine beharrliche Nichtvorlagepraxis verfolgten, legten sie dem EuGH in enger zeitlicher Abfolge jeweils erstmals eine Vorlagefrage vor. Dieser Wandel von einer Nichtvorlagepraxis zu einer routinierten Dialogpraxis im Rahmen des Vorlageverfahrens illustriert die Wirkkraft des Prozesses richterlicher Normbildung im pluralistisch-­heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung.41 41. Die wachsende Bedeutung des Vorlageverfahrens als Kommunikationsforum zwischen supranationalen Gerichten und nationalen Verfassungsgerichten ist aus normativer Perspektive zu begrüßen: Für einen direkten, fallorientierten, rechtsordnungsübergreifenden Verfassungsgerichtsdialog spricht erstens, dass sich die mit dem Koordinationsbedarf in der vernetzten Weltordnung steigenden rechtsordnungsübergreifenden Kommunikationsanforderungen nicht mehr allein mit indirekten richterlichen Kommunikationsformen erfüllen lassen. Demgegenüber zwingt ein direkter Dialog im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zu einer Auseinandersetzung mit den gegenseitigen Positionen anhand eines konkreten Einzelfalls und ist auch aus Gründen der Rechtssicherheit und damit aus der Perspektive des Rechtsschutzsuchenden wünschenswert. Zweitens erscheint eine Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens auch deshalb geboten, um durch die Einbindung des EuGH unionsrechtliche Belange prozedural-institutionell in den Entscheidungsprozess eines nationalen Verfassungsgerichts einzuspeisen. Dies erscheint besonders dann erforderlich, wenn die Entscheidung externale Effekte entfaltet, wie im Fall des bundesverfassungsgerichtlichen OMT-Verfahrens. Allerdings wird der Erfolg des direkten Dialogs zwischen dem EuGH und nationalen Verfassungsgerichten im 40 41

 Oben Dritter Teil, Kap. 18, C.  Oben Dritter Teil, Kap. 19, A.

B. Schlussbetrachtung

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Rahmen des Vorlageverfahrens entscheidend davon abhängen, dass letzteres als wahrhaft pluralistisch-heterarchisches Verfahren konzipiert ist, in dem nicht nur der EuGH unionsrechtliche Prinzipien und Normen in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen überträgt, sondern auch nationale Verfassungsgerichte rechtsordnungseigene Verfassungsprinzipien und -normen in die Entscheidungsprozesse des EuGH einspeisen. Das erfordert es, nationalen Verfassungsgerichten konzeptionell als ultima ratio die Möglichkeit zur Abweichung von der Vorabentscheidung des EuGH einzuräumen.42

B. Schlussbetrachtung Der Globalisierungsprozess schlägt voll auf das Recht durch, Verfassungsgerichte werden gezwungen, ihre Rolle unter diesen veränderten Bedingungen zu reflektieren. Diese Arbeit hat den Versuch unternommen, zu einem besseren Verständnis dieser Entwicklung beizutragen und mit Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit einige Puzzlestücke im Rätsel des Regierens jenseits des Nationalstaats zusammenzufügen. Sie hat versucht aufzudecken, welche Antworten Verfassungsgerichte auf die veränderten Strukturen und Prozesse der vernetzten Weltordnung geben und welche Rolle sie, angesichts der sich stellenden Probleme und sich bietenden Chancen, aus einer normativen Perspektive einnehmen sollten. Die Arbeit hat gezeigt, dass Verfassungsgerichte zentrale Akteure im Prozess der Gestaltung dieser vernetzten Weltordnung sind. Während die Staats- und Regierungschefs angesichts der Ambivalenz der gegenwärtigen Konstellation – aus nachvollziehbaren und legitimen Gründen  – nicht willens oder fähig sind, eindeutige Hierarchien und Kollisionsregeln zu vereinbaren, koordinieren Verfassungsgerichte  – im Zusammenspiel mit unterinstanzlichen Gerichten, der Rechtswissenschaft und einer Vielzahl anderer staatlicher und gesellschaftlicher Akteure – die in dem pluralistischen Universum der unterschiedlichen Rechtsordnungen zum Ausdruck kommenden, differenten Loyalitäten, Identitäten und Handlungslogiken der Weltgesellschaft aus der Perspektive des Verfassungsrechts. Dabei regeln sie einerseits ihr Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen nach eigenen Kriterien, von einem „internal point of view“, auf der Grundlage rechtsordnungseigener Normen. Andererseits reagieren sie auf strukturell vergleichbare Problemlagen, thematisieren die gleichen Bedenken und entwickeln vergleichbare Lösungsmechanismen. Dem Fehlen einer zentralen legislativen Instanz für rechtsordnungsübergreifende Zusammenhänge begegnen Verfassungsgerichte durch einen dezentralen, netzwerkartigen Prozess richterlicher Normbildung, in dem die verschiedenen Gerichte ihre Rechtsprechung durch wechselseitiges Akzeptieren einer Vielzahl in­ dividueller Gerichtsentscheidungen miteinander koordinieren. In der Folge kennzeichnet sich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechungskoordination in rechtsordnungsübergreifenden Richternetzwerken durch rivalisierende Letztent42

 Oben Dritter Teil, Kap. 19, B.

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

scheidungsansprüche, durch kooperativen Gerichtsdialog bei gleichzeitiger Bekräftigung der eigenen Entscheidungsautonomie und durch Drohgebärden bei gleichzeitiger Kompromissbereitschaft. Diese Form der Gerichtsinteraktion entspricht zwar nicht den klassischen Vorstellungen von der Einheit und der Widerspruchsfreiheit des Rechts, sie ist aber überwiegend konstruktiv. Durch gegenseitiges Bezugnehmen und Elaborieren bilden sich schrittweise rechtsordnungsübergreifende Hintergrundnormen heraus. Zahlreiche Bausteine des europäischen Konstitutionalismus, die wir heute als selbstverständlich betrachten, sind das Resultat solcher richterlichen Verständigungsprozesse, die durch soziale Mechanismen wie Akkulturation, positive Feedback-Dynamik und psychosozialen Anpassungsdruck befördert werden: von der grundsätzlichen Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts,43 zu der Grenze der Verfassungsidentität,44 bis hin zu der Vertragskontrolle als öffentlichkeitswirksames Forum für die Kontrolle des inter- und supranationalen Rechts,45 oder dem Wandel von einer verfassungsgerichtlichen Nichtvorlage- zu einer Vorlagepraxis im Rahmen des Vorlageverfahrens.46 Diese dezentrale Koordinationsmethode eröffnet Möglichkeiten der Kontestation, trägt zur Gewährleistung eines rechtsordnungsübergreifenden Systems der „checks and balances“ bei und erweitert den Entscheidungsprozess um die distinktiven Perspektiven der verschiedenen Rechtsordnungen.47 Was aber folgt daraus für die Frage, was Verfassungsgerichte tun sollen, die durch diese komplexe Realität der vernetzten Weltordnung navigieren müssen? Nach den Prämissen des Netzwerkkonstitutionalismus lassen sich konstitutionalistische Errungenschaften in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen unter pluralistisch-heterarchischen Bedingungen am besten gewährleisten, wenn sich Verfassungsgerichte erstens am Konstitutionalismus als normative Richtschnur orientieren,48 zweitens die Meta-Prinzipien der holistischen und der institutionellen Reflexion beachten,49 drittens am Prozess der Herausbildung rechtsordnungsübergreifender Hintergrundnormen aktiv teilnehmen,50 sowie viertens bestehende Hintergrundnormen, soweit diese mit dem rechtsordnungseigenen positiven Recht und der rechtsordnungseigenen juristischen Methodik vereinbar sind, befolgen.51 Auf der Folie dieser Entscheidungsmaßstäbe lässt sich die Herausforderung der Koordination der unterschiedlichen Belange der verschiedenen Rechtsordnungen im pluralistisch-­heterarchischen Arrangement der vernetzten Weltordnung bewältigen. In einer ambivalenten Konstellation, in der politische Handlungsfähigkeit nicht ohne inter- und supranationale Institutionen hergestellt werden kann, Legitimation  Dazu oben Dritter Teil, Kap. 12, A., I.  Näher hierzu oben Dritter Teil, Kap. 17, A., II. 45  Siehe oben Dritter Teil, Kap. 14, A., I. 46  Oben Dritter Teil, Kap. 19, A. 47  Oben Erster Teil, Kap. 4, A., II. 48  Oben Erster Teil, Kap. 5, B. 49  Oben Erster Teil, Kap. 8, C., I. 50  Oben Erster Teil, Kap. 8, C., II., 2. 51  Oben Erster Teil, Kap. 8, C., II., 2. 43 44

B. Schlussbetrachtung

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aber immer noch vornehmlich in den Strukturen des Nationalstaats gewährleistet wird, liegt das Modell für verfassungsgerichtliches Entscheiden im gegenseitigen engagement52 und inhaltlicher Kontestation statt in Ausweich- und Vermeidungsstrategien, im wechselseitigen Respekt vor der Entscheidungsautonomie des richterlichen Netzwerkpartners statt in absoluten Vorrangregelungen, in wechselseitigen Verständigungsprozessen statt in einseitigem Oktroyieren. Allerdings müssen Verfassungsgerichte dabei stets ihre politisch-institutionellen Grenzen im Hinterkopf behalten und das Problem der selbstverstärkenden Eigenlogik des verfassungsgerichtlichen Entscheidens reflektieren. Ebenso wie die Verfassungsgerichtsbarkeit einen bedeutsamen Beitrag leisten kann, um die vernetzte Weltordnung entsprechend der Prinzipien des Konstitutionalismus zu organisieren, kann sie auch ihre Macht überdehnen, ihre institutionellen Fähigkeiten übersteigen und den politischen Prozess übermäßig beeinträchtigen. Bedenkt man, dass Geschichte selten linear verläuft, ist nicht auszuschließen, dass die Proliferation und der Bedeutungszuwachs der Verfassungsgerichtsbarkeit bereits ihren Höhepunkt erreicht haben. Entscheidungen wie der OMT-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts oder das Holubec-Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts können auch als Ausdruck von Hybris und Entgrenzung gedeutet werden, die sich allmählich in Legitimitäts- und daran anschließenden Bedeutungsverlusten niederschlagen werden.53 Bei aller Kritik an der „global expansion of judicial power“54 sollte jedoch nicht übersehen werden, dass die distinktiven, auf Prinzipienorientierung und Unabhängigkeit vom politischen Tagesgeschäft ausgerichteten, institutionellen Verfahrensvoraussetzungen und Grundlagen der Entscheidungsfindung der Verfassungsgerichtsbarkeit ein sinnvolles Gegengewicht zu den Entscheidungen (gehetzter, unter hohem politischem Druck stehender) exekutivischer Regierungskonferenzen oder (gegenüber konstitutionalistischen Belangen teilweise unsensiblen) inter- und su­ pranationaler Institutionen bilden können. Durch ihre Entscheidungen in rechtsordnungsübergreifenden Zusammenhängen verwickeln Verfassungsgerichte die politischen Akteure in einen konstitutionellen Diskurs, der die Maßgeblichkeit der Prinzipien des Konstitutionalismus für die Gestaltung der im Entstehen begriffenen vernetzten Weltordnung hervorkehrt. Der verfassungsgerichtlichen Neigung zur sukzessiven Ausweitung ihrer Kompetenzen wird dadurch begegnet, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in einen größeren, den Richtern stetig präsenten politisch-­ institutionellen Kontext eingebettet ist, der ihre Stellung begrenzt und den sie im Rahmen ihrer Entscheidungen berücksichtigen muss, wenn sie ihren fortgesetzten Einfluss nicht aufs Spiel setzen will.55 Man muss Verfassungsrichter nicht zu herku So auch Vicki Jackson, Constitutional Engagement in a Transnational Era, 2013.  In diese Richtung Lübbe-Wolff, abw. Meinung, BVerfGE 134, 366 (420  ff.)  – OMT-Beschluss (2014). 54  Neal Tate/Torbjorn Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, 1995. 55  Dazu Andrej Lang, Wider die Metapher vom letzten Wort: Verfassungsgerichte als Wegweiser, in: Dominik Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie, 2014, 15 (26 ff.). 52 53

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Kapitel 20: Schlussfolgerung

lischen Philosophenrichtern stilisieren, um zu konstatieren, dass sie einen wichtigen Beitrag zu einer konstitutionalistischeren Ausgestaltung der Weltordnung geleistet haben: von der Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes hin zur Impulsgebung für Reformen des UN-Sanktionsregimes. Das Recht ist eben nicht nur ein Deckmantel für Interessen, sondern im Verfassungsdiskurs werden die divergierenden Interessen und Bereichslogiken in der vernetzten Weltordnung tendenziell durch Bezugnahme auf allgemeine rechtliche Grundsätze transzendiert und in konstitutionelle Dialoge transformiert.

English Summary

A. Summary in Theses 1. The thesis relies upon the concept of a networked world order as analytical framework for analyzing constitutional adjudication in inter-order judicial networks. This concept is based on a pluralist premise: While the federal state is characterized by a stable, hierarchical governance arrangement in which the federal Constitution is recognized as the basis of validity for the overall legal order, the different legal orders in the networked world order are a priori equal and a generally recognized hierarchy of norms between International law, European law and national law does not exist. At the root of this pluralist configuration lies a profound ambivalence between institutionalized inter- and supranational cooperation and the nation state: On the one hand, inter- and supranational institutions preserve steering and problem-solving capabilities beyond the territorially limited nation state; on the other hand, national institutions guarantee the achievements of the liberal democracy. This ambivalence results in a confusing diversity of national, international and supranational institutions whose relationship with each other is not regulated by a central legislative authority.1 2. This pluralist structure of the networked world order is normatively and analytically best captured by constitutional pluralism and network theory. Both approaches intersect with and complement each other in promising ways. In particular, both are based on the premise that the relationship between the different legal orders and institutions is pluralist or heterarchical. Constitutional pluralism conclusively sets out from a normative perspective which issues are at stake in inter-order judicial conflicts and how they can be reconciled in a  See Part One, Chapter 4.

1

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6

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English Summary

p­ luralism of legal orders. It takes the convincing view that participation, limits on power and accountability are more important to constitutionalism than the avoidance of unresolved norm conflicts to ensure legal unity. However, constitutional pluralism neglects the analytical question of how inter-order judicial lawmaking can take place in pluralist structures without a centralized legislative authority. By contrast, the conceptual and methodological reservoir of network theory explains persuasively from an analytical perspective how autonomous network actors  – none of whom can impose a particular decision on another – manage to agree on common standards for coordination within the network. However, the normative virtues of networks such as flexibility and decentralization of power that are praised by advocates of network theory do not in themselves satisfy the legitimation requirements for the exercise of public authority. It is therefore necessary to develop normative yardsticks for inter-order judicial networks that are oriented towards the principles of constitutionalism. Constitutional pluralism and network theory, if joined together as “network constitutionalism”, can be combined to form a normatively and analytically appealing concept of the networked world order that lays out how to guarantee the constitutional achievements of the liberal nation-state under pluralist-heterarchical conditions.2 3. From a normative perspective, the pluralist-heterarchical arrangement of the networked world order is desirable: in the context of the relationship between national, supranational and international legal orders, it would be inappropriate to subject the principles and norms of one legal order generally and unreservedly to the primacy of the other legal order. On the one hand, democratic governance currently cannot be organized more legitimately than within the liberal-­democratic nation-state. On the other hand, it is difficult to confront the challenges of globalization in a more effective way than through inter- and supranational cooperation. These competing concerns are better reconciled through a flexible, heterarchical design of the relationship between the legal orders than through rigid primacy rules. In a pluralist-heterarchical configuration, different conceptions of justice coexist equally, thereby enlarging the decision-­making perspectives for the different concerns of other legal orders. In addition, the power of individual institutions is limited and an inter-order system of “checks and balances” is established. By opening up the possibility of contestation, incentives for cooperation and inter-order dialogue are created. Legal enforcement of unity through hierarchical ordering where there is no unity and off-setting possibilities for contestation despite fundamental dissent does not do justice to the diversity of perspectives and diverging interests in the networked world order.3 4. From a legal theoretical point of view, the pluralism of legal orders in the networked world order can be based on the legal theories of H.L.A. Hart and Neil MacCormick. Accordingly, the relationship of one legal order to another is  Part One, Chapter 3.  Part One, Chapter 4, A., II.

2 3

English Summary

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d­ etermined on the basis of each legal order’s own norms and criteria. For the questions of when a legal order exists and what identity the legal order has, the observable social practice and the perspective of the institutions applying the law must be considered. The highest courts that apply law in their respective legal orders, the national constitutional courts such as the German Federal Constitutional Court (“FCC”) and the international and supranational courts such as the European Court of Justice (“ECJ”), they all perceive themselves as representatives of their respective legal orders and regard their own law from an “internal point of view”. They unilaterally determine their relationship with other legal orders according to their own criteria, based on the rules for foreign law and for conflicts of law of their own legal order.4 5. In a pluralist-heterarchical construction such as the networked world order in which it is legitimate to determine the relationship to other legal orders according to the criteria and the internal point of view of the own legal order, the coordination of the different loyalties, identities and logics of the various institutions of different legal orders becomes a central challenge. On the one hand, the various national, supranational and international institutions are closely affiliated with the interests and self-perception of their respective legal orders. On the other hand, they exercise overlapping decision-making powers given the territorial, functional or sectoral distribution of competencies, which is why their decisions often concern the same subject-matter, albeit from a different perspective. Although a pluralist conception grants the different national, supranational and international institutions a system-specific perspective, it should not be overlooked that all these institutions and processes – despite divergent logics of action – have been established to make collective rules for the networked world order. If neither a “world state” exists nor a single, territorially limited nation state can satisfy the enormous regulatory needs of the emerging, globalized world society, it is necessary to take a governance perspective that considers the interaction of national, international and supranational institutions for solving societal problems.5 6. Network constitutionalism argues that the networked world order should be shaped according to the principles of constitutionalism and that constitutional courts should have a significant role in this process. Due to their independence and impartiality, constitutional courts are well-suited for the delicate task of coordinating the relationship between different legal orders, even though they act as representatives of their legal orders. In constitutional discourse, self-­ interests tend to be transcended by reference to general legal principles and transformed into constitutional dialogues. Questions of coordination between different legal orders under pluralist-heterarchical conditions are not purely political questions that constitutional courts cannot or should not reasonably decide. Rather, constitutional courts are characterized by distinctive procedural prerequisites and foundations for decision-making that favor principled  Part One, Chapter 4, B.  Part One, Chapter 5.

4 5

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English Summary

decision-­making and promote constitutional values. In the context of a networked world order, a central role of constitutional courts is indispensable because most decisions are not taken by elected parliaments but by the executive branch as the dominant actor in international relations, which then – at best approved by Parliament – have a largely unfiltered effect on the national legal order.6 7. Under the conditions of the networked world order, constitutional courts should reflect from their institution-specific perspective, on the basis of the specific internal point of view of their legal order on how they can contribute to organizing governance beyond the nation-state according to the principles of constitutionalism – but without losing sight of a complementary global domestic perspective (“Weltinnen-Sicht”). Despite their western origins, the fundamental principles and premises of constitutionalism appear sufficiently universalizable and global to provide orientation in the normative sense even beyond Europe. Insofar as constitutionalism constitutes the yardstick for the legitimate exercise of public authority in the domestic realm, inter- and supranational institutions must also be measured by constitutional standards, especially because decision-­ making powers are increasingly transferred to them in the course of globalization.7 8. Despite the pluralist-heterarchical configuration, there is a need for common standards in the networked world order that go beyond the own criteria of each legal order. In developing such common standards, it must be taken into account that courts determine their relationship with courts of other legal orders from the perspective and based on the internal logic of their own legal order. For, courts derive their legitimacy from the democratically legitimated norms of their legal order. A balance between enabling inter-order coordination on the one hand and fidelity to the logic and tradition of the own legal order on the other can be accomplished through the construction of discursive-­procedural meta-principles and inter-order background norms.8 9. Following Miguel Maduro, constitutional courts in inter-order contexts should observe certain procedural discourse and reflection requirements. According to the meta-principle of holistic reflection, constitutional courts should be aware that their respective legal orders only constitute one “planet in the universe” of the networked world order and therefore consider the perspective of other legal orders in their judgments. The meta-principle of institutional reflection requires constitutional courts to reflect and to define their role and legitimacy as a judicial institution in the context of the networked world order.9 10. Constitutional courts create judge-made rules in inter-order judicial networks through iterative judicial interaction with other courts which can be conceived of, with reference to Cass Sunstein, as inter-order background norms. These inter-order judicial compromises form legal building blocks for the emerging  Part One, Chapter 5, A.  Part One, Chapter 5, B. 8  Part One, Chapter 8, 201. 9  Part One, Chapter 8, C., I. 6 7

English Summary

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networked world order which constitutional courts should consider for their judgments in inter-order contexts. As with judicial precedent as a source of authority, the normative advantages of respecting inter-order judicial compromises are that they guarantee core values of law such as equality, legal security, stability, coherence and decision-making humility. It is hence plausible to assume a normative obligation for constitutional courts to participate in the process of developing inter-order background norms and to observe existing background norms, insofar as these are compatible with the positive law and legal hermeneutics of the own legal order. This approach enables performing the challenging judicial coordination tasks in the pluralist-heterarchical arrangement of the networked world order without severing the linkage to the norms and legal traditions of the own legal order. Although background norms constitute inter-order judicial standards, they do not form binding, positive, directly applicable law. Instead, they do not prevent constitutional judges from basing their decision upon the norms and methods of interpretation specific to their own legal order. A central task of constitutional scholarship consists in identifying, critically assessing and further developing inter-order background norms, thereby ensuring that the latter are in accordance with the principles of constitutionalism.10 11. The coordination of constitutional adjudication in inter-order contexts is characterized by a network structure. A network is typically a heterarchical-­ informal web of relationships between two or more autonomous actors who usually work through iterative interaction, based on logic of negotiation, towards a common institutional arrangement. In inter-order judicial networks, no constitutional court can impose a binding and final decision on another constitutional court. In the absence of rules regulating the relationship between different legal orders and resolving cases of conflict between courts of different legal orders, constitutional courts are to a considerable extent empowered to shape their mutual relationship within the judicial network themselves. Under these heterarchical-informal conditions, constitutional courts have strong incentives to engage in a cooperative judicial dialogue while, at the same time, affirming their own decision-making autonomy, asserting rival claims of final decision-making power, establishing an equal relationship between the respective legal orders on an equal footing through an iterative, case-oriented dialogue practice and agreeing on joint solutions despite reliance upon the principles and values of their own legal orders.11 12. In judicial networks, common solutions to common problems are not negotiated through large rounds of negotiations, but are developed in small, iterative steps through reciprocal, inter-order judicial interactions. Despite asserting claims of final say and using barely disguised threats, judicial interaction between constitutional courts across legal orders is characterized by logic of understanding (“Verständigungslogik”) that is typical for networks. Behind the 10 11

 Part One, Chapter 8, C., II.  Part One, Chapter 6, A. and B.

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English Summary

façade of threatening gestures and irreconcilable conflicts, there is preparedness to compromise to avoid judicial conflicts. To coordinate different autonomous logics of action, courts in judicial networks develop a network constitution that contains certain rules and understandings on the roles and competencies of each court. Judgments in inter-order contexts are not only limited to adjudicating the pending case, but they also contribute to the establishment and promotion of an institutional arrangement within the network that is distinct from specific case-oriented issues. The professional homogeneity of judges and the idiosyncrasy of legal discourse are essential factors that nudge judicial interaction towards common understanding and cooperation in inter-order judicial networks. Legal discourse imposes on participants a burden of justification, a requirement of weighing competing concerns and making generalizable arguments, thus promoting deliberative, issue-oriented discourse.12 13. In inter-order judicial networks, constitutional courts coordinate the relationship between the different legal orders by agreeing on common judge-made norms that can be conceived of as inter-order background norms, respectively, as inter-order common constitutional law. In the course of their inter-order judicial dialogue, constitutional courts struggle for the best judicial answers to the same legal issues. Settling on certain background norms constitutes a decentralized, networked process in which the various courts of different legal orders coordinate their case-law in inter-order contexts by mutually accepting many court decisions. In their entirety, the accumulation of many individual judicial decisions can be consolidated into background norms that transcend single legal orders.13 14. This decentralized structure of inter-order judicial lawmaking corresponds with the institutional design of courts which are limited to adjudicating specific cases and therefore coordinate their respective judicial approaches with one another through multiple individual judgments. Inter-order background norms are formed, step by step, judgment by judgment, through mutual reference and elaboration, through examination and rechecking. Social mechanisms such as positive feedback dynamics and psychosocial pressure to adapt promote convergence in the case-law in inter-order contexts. The more courts have settled on a certain approach, the more clearly a certain case-law trend emerges, the greater the pressure to follow or to at least address this approach. Behind this mechanism lies a judicial predisposition to follow case-law trends. This predisposition is deeply anchored in judicial decision-making because reliance upon past judicial decisions is an indispensable source of authority for present decisions. Moreover, the reciprocity principle gives rise to a legitimate, legally relevant interest in coordinating the requirements set forth by national constitutional courts for monitoring the applicability of inter- and supranational law in the national legal order.14  Part One, Chapter 6, C., D. and E.  Part One, Chapter 7. 14  Part One, Chapter 7, B. 12 13

English Summary

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15. The network structure of judicial lawmaking in the networked world order is visible, for example, in the context of the primacy of EU law. While this principle is viewed as self-evident today, it had to be carved out in historical retrospect, step-by-step, through an inter-order judicial negotiation process between the ECJ and national constitutional courts. National constitutional courts gradually gave up their opposition, with increasing recognition of the primacy of EU law by other national constitutional courts. The constitutional courts followed the emerging adjudicatory trend, although there was still concern that national autonomy would be excessively restricted by the acceptance of the primacy of EU law.15 16. A comparable development in inter-order case-law that could turn into an inter-­ order background norm is currently emerging in the context of the referral practice of national constitutional courts within the EU preliminary reference procedure. Many national constitutional and supreme courts, in particular influential member state constitutional courts in Germany, France, Spain and Italy, were for a long time reluctant to refer questions to the ECJ. In the meantime, however, a remarkable change is emerging from a persistent non-referral practice to the development of a routine dialogue practice under the preliminary reference procedure. Within a period of seven years, from 2007 to 2014, the constitutional courts of Lithuania, Italy, Spain, France, Germany and Slovenia suddenly, one after another, submitted their first preliminary question(s) to the ECJ. It seems obvious that social mechanisms such as positive feedback dynamics and psychosocial pressure to adapt have facilitated this judicial convergence.16 17. Other examples of inter-order judicial case-law convergences concern the concept of constitutional identity and judicial review of secondary law of international organizations. In the EU context, the concept of constitutional identity is developing into an overarching limit for EU law that is shared by numerous member state constitutional courts. How the notion of “constitutional identity” is to be understood is contested between the ECJ and member state constitutional courts such as those in France, Germany, Poland, Belgium, the Czech Republic, Latvia, Italy and Belgium, and fought out through mutual references and mutual acceptance within the framework of a judicial conversation across all legal orders.17 National and supranational courts do not only review the secondary law of international organizations in the EU but also in other regional contexts, illustrated by the mutually reinforcing resistance of a large number of courts from various legal orders against the constitutionally deficient UN sanctions regime. Several courts use the “Solange”-model for this type of review, which the FCC introduced for the first time in its Solange I decision. In these

 Part Three, Chapter 12, A., I.  Part Three, Chapter 19, A. 17  Part Three, Chapter 17, A., II. 15 16

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English Summary

decisions, there are cross-references and inter-order linkages which point to the emergence of an inter-order background norm.18 18. Constitutional courts perform specific functions in the networked world order. According to the sociological theory of functionalism, functions are performances that an actor contributes to a whole. Building on comparative functionalism, constitutional adjudication fulfills several functions in inter-order contexts, which contribute to addressing certain challenges and structures of the networked world order. First, constitutional courts incorporate into their own legal order the law created by international and supranational institutions from another legal order and ensure its application (incorporation function). Second, they review the compatibility of laws from other legal orders with the constitutional principles and norms of their own legal order (control function). Third, they transfer constitutional principles and norms of their own legal order to inter- and supranational decision-making processes (transfer function). Based on these functions, a comparative framework can be constructed that enables ordering, systematizing, making comparable and comparing with each other the case-law of different constitutional courts of various legal orders in inter-order contexts.19 19. Constitutional courts fulfill an incorporation function in the networked world order. In order to meet the normative expectations coupled with the transfer of decision-making powers to inter- and supranational regimes, the laws created by these regimes need to be incorporated into the national legal order by national law-applying institutions. Adjudicating on the role and rank of inter- and supranational law in the national legal order is one of the classic domains of constitutional courts. Even if constitutional courts do not adjudicate on the incorporation of inter- and supranational law without consideration of the political branches of government or the provisions of national constitution, they decisively guide and develop the law of incorporation. By deciding on how to incorporate inter- and supranational law, or by seeking the consideration of the constitutional principles and norms of their own legal order by inter- and supranational institutions, constitutional courts coordinate the relationship between national and inter- or supranational legal orders.20 20. National constitutional courts ensure the incorporation of inter- and supranational law into the national legal order by assigning this body of law an elevated role in their own national legal order that goes beyond the textual requirements of the integration and norm hierarchy clauses. Constitutional courts of the member states in the EU had already recognized the primacy of EU law at a time when the constitutional hierarchy and integration clauses had not yet given EU law this special status. In addition, constitutional courts all over the world, including Germany, Canada, Israel, India and South Africa, largely override the classic lex posterior-rule through an interpretation favorable to international  Part Three, Chapter 15, A., I.  Part Two. 20  Part Two, Chapter 8. 18 19

English Summary

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law in order to effectively give, at least in most cases, priority to inter- and supranational law over domestic statutes. According to the principle of interpretation in favor of international law, courts are required to choose the one out of several possible interpretations which is compatible with international law. This significantly reduces the occurrence of a norm conflict between national and international law which is a prerequisite for the application of the lex posterior-­ rule. From a normative point of view, this doctrinal construction is to be welcomed because the lex posterior-rule is a formalistic conflict resolution rule based on a temporal criterion that does not sufficiently accommodate the mutual interest in the incorporation of international and supranational obligations in the networked world order.21 21. The inter-order case-law on the primacy of EU law and on the principle of interpretation in favor of international law is best conceptualized as a refutable presumption of primacy of inter- and supranational law in national legal orders. Accordingly, the derogation from an international or supranational obligation is subject to a burden of justification. Differences in the legitimatory quality between the various inter- and supranational legal orders can be considered by a graduated model of constitutionalism, in which the degree of presumption of primacy of EU law can only be refuted under very narrow conditions.22 22. The issue of incorporation of inter- and supranational laws must be distinguished from the issue of incorporation of inter- and supranational judicial decisions. On the one hand, it is no longer justifiable in a networked world order simply to ignore the decisions of inter- and supranational courts in the domestic sphere. For, the purpose behind establishing international and supranational courts and tribunals is precisely that inter- and supranational obligations of states are not interpreted by state institutions to prevent them from becoming judges in their own affairs. If the judgments of inter- and supranational courts are not taken into account, they lose their ability to adequately perform the tasks assigned to them. On the other hand, incorporating courts retain a certain scope of discretion in order to avoid the institutional consequence of the establishment of inter- and supranational courts, namely that these courts specify the content of inter- and supranational laws in a way that does not leave any scope for autonomous interpretation for the parties to the obligations. The inter-order case-law concerning the incorporation by constitutional courts in Europe, Latin America and Israel and by the ICTY of decisions of the ECtHR, the IAGHR and the ICJ show that these courts consider themselves obliged to take into account the decisions of international and supranational courts on the same issues of fact and to address them in substance in an appropriate manner, without, of course, assuming a schematic binding effect. This case-law corresponds to the network structure of inter-order judicial interaction in the networked world order: on the one hand, courts confronted with judicial decisions of other legal 21 22

 Part Three, Chapter 12, A.  Part Three, Chapter 12, B.

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English Summary

orders insist on their autonomy and final decision-making authority; on the other hand, the preparedness to consider, and even to follow these judgments expresses a willingness to cooperate and to restrict the own decision-making autonomy.23 23. Conceived as a background norm, this inter-order case-law can be captured as a refutable presumption of precedent of conforming to inter- and supranational judicial decisions according to which the strength of the presumption depends on the degree of constitutionalization of the international or supranational legal order concerned. In the case of the ECJ, this results in a far-reaching binding effect of ECJ judgments. In any case, the derogation from inter- and supranational judgments requires a justification. The construction of a presumption of precedent is also normatively desirable against the background of the pluralist-­ heterarchical structure of the networked world order: On the one hand, it is not appropriate for a constitutional court to simply and unreflectedly replace the considerations of other courts that deal with the same inter-order issue. On the other hand, a constructive judicial dialogue as furthered by a refutable presumption of precedent should be preferred to a rigid binding effect. Such a dialogue can raise constitutional expectations and mobilize constitutional arguments.24 24. Under the conditions of the networked world order, constitutional courts have a control function, i.e., they review, usually indirectly via the act of incorporation of their own legal order, whether the treaties and legal acts of inter- and supranational organizations are compatible with constitutional principles and norms of their own legal order. In the domestic political community, constitutional courts are responsible for upholding and protecting the constitutional achievements of constitutionalism, from fundamental rights to the principles of the rule of law and democracy. In the context of the networked world order, they also are called upon to become significant actors, ensuring that constitutionalism also serves as a normative guideline beyond the state by reviewing the compatibility of inter- and supranational norms and measures with domestic constitutional principles and norms. For, if more and more decisions are taken by interand supranational institutions which, on the one hand, are increasingly individualized and no longer leave national bodies much discretion and, on the other hand, are partly constitutionally deficient, constitutional courts can only counter the emergence of a constitutional vacuum in the constellation of the networked world order by protecting constitutional principles and norms also against inter- and supranational decisions. In comparison with the executive and the legislative branch, courts are best suited for exercising such a control function from a comparative institutional perspective.25 25. It is necessary to distinguish two issues with regard to the judicial control function in the networked world order: The first concerns the object of control that  Part Three, Chapter 13, A.  Part Three, Chapter 13, B. 25  Part Two, Chapter 10. 23 24

English Summary

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constitutional courts choose as a starting point for exercising their control, i.e., the question of whether they should review inter- and supranational founding treaties and/or the secondary law produced by inter- and supranational institutions on the basis of those treaties and what difference these distinct reference points make. The second set of problems relates to the standard of review that constitutional courts use to indirectly review inter- and supranational law. Here the questions arise as to whether constitutional courts should review inter- and supranational law on the basis of principles and norms of that legal order or on the basis of the principles and norms of their own legal order and how strictly the standard of review should be structured. With regard to the control object, there is a fundamental distinction between treaty or primary law, i.e., the founding treaty agreed by the member states, which, like a “constitution” of the international organization, establishes its institutions, defines its competences and procedures for making law on the one hand and secondary law, i.e., the law produced by the institutions of the international organization itself on the basis of the treaty on the other hand. For the protection of fundamental rights, it is easier for courts to control secondary law than to control treaty law because in the context of secondary law, a fundamental right intrusion will typically already have occurred and a constitutional court is hence put in a position that is paradigmatic for courts, namely to examine the fundamental rights issue in an individualized and retrospective manner.26 26. Nevertheless, the control of treaty law seems to become an inter-order background norm within the EU as the ECJ and constitutional courts of the member states increasingly review treaties. Although review of the domestic statute approving an inter- or supranational treaty prior to ratification for compatibility with the domestic Constitution may cause structural problems of collective action given the difficulties of agreeing on a compromise in intergovernmental negotiations of inter- and supranational treaties, constitutional review of treaty law in the EU context is now carried out almost routinely in many member states. In particular, the case-law of member state constitutional courts concerning the Lisbon Treaty constitutes a new dimension of treaty control. A practice of constitutional treaty control is also emerging outside Europe as the judicial review of the approval statute of the Rome Statute of the International Criminal Court by the constitutional courts of Colombia and Chile indicates.27 27. The case-law on treaty control is contradictory: On the one hand, constitutional courts claim (indirect) control of inter- and supranational founding treaties and, on the other, they mostly refrain from thwarting ratification of the treaty. This is explained by the fact that definitively precluding the ratification of a founding treaty given structural problems concerning the formation of intergovernmental compromises would arguably exceed the political-institutional limits of a constitutional court and, against this background, also does not constitute the purpose of judicial treaty control. Review of treaty law serves constitutional courts 26 27

 Part Three, Chapters 14 and 15.  Part Three, Chapter 14, A.

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English Summary

as a means for feeding certain constitutionalist concerns into the decision-­ making processes of international and supranational institutions. It provides a forum for entering an inter-order conversation with other constitutional courts about the best inter-order background norms, as the inter-order judicial conversations over ultra vires-control and constitutional identity prove. The aim of a constitutional courts that exercises treaty control is to shape the constitutional discourse on the relevant treaty regime, to expand inter- and supranational decision-making processes for the constitutional concerns of the national political community of that court, thereby increasing – whether intended or not – the regime’s legitimacy as a side-effect, and to coordinate the relevant case-law with other constitutional courts. The practice of treaty control raises specific concerns due to the self-reinforcing logic of constitutional adjudication. In particular, constitutional courts have incentives to make concessions to the applicants in the treaty review procedure in order to “be called upon” in the future and to declare an approval statute, at least at some point, incompatible with the Constitution in order not to suffer any loss of credibility and authority that could occur if they always only review treaties without ever finding them unconstitutional. On the other side, an advantage of the decision-making process of constitutional courts in comparison with political actors is that they are institutionally oriented towards principles and independent of day-to-day political business, which puts them in a position to act as a counterbalance to the rushed decisions of executive intergovernmental conferences, which are under great political pressure.28 28. The practice of reviewing the secondary law of international organizations – on the basis of the incorporation act of the own legal order – is also steadily increasing in inter-order case-law. The influential and self-confident FCC played a pioneering role in this regard, claiming for the first time in its Solange I-­decision that it was entitled to control the incorporation of an EU regulation in the German legal order. In the EU context, several constitutional courts have followed the FCC.  Another important step towards the development of an inter-order judicial background norm was the resistance of a significant number of courts from diverse legal orders against the constitutionally deficient UN sanctions regime. Confronted with drastic shortcomings regarding the protection of fundamental rights, supranational courts, such as the ECJ and the General Court of the EU (“EGC”) in Kadi and the European Court of Human Rights in Nada and in Al-Dulimi, as well as national courts, such as the British Supreme Court in Ahmed and the Canadian Federal Court of Ottawa in Abdelrazik exercised review over the UN sanctions regime.29 29. The rationale behind the exercise of judicial control over the secondary law of international organizations is that the choice of the form of governance in the networked world order should not impact the level of fundamental rights protection because otherwise governments and parliaments could discharge 28 29

 Part Three, Chapter 14, B.  Part Three, Chapter 15, A.

English Summary

583

t­hemselves of their obligations to respect fundamental and human rights by delegating powers to inter- and supranational institutions. Only because the fight against transnational terrorism is carried out by UN or EU institutions, it should not follow that European or national courts should not – even though they emanate from a different legal order – exercise control in a field that is especially prone to fundamental rights infringements. The exercise of any form of public authority should be accompanied by a guarantee of fundamental constitutional principles. The disharmony between the protection of constitutional principles on the one hand and the required autonomy of action of inter- and supranational institutions on the other hand, which domestic judicial control of secondary inter- and supranational law poses, can be adequately addressed by a graduated judicial control programme that varies depending on the existing mechanisms for fundamental rights protection by inter- and supranational institutions. The crucial question is not whether inter- and supranational institutions should be subject to judicial control, but how this control should be structured.30 30. The exercise of judicial control of international and supranational law must maintain the balance between the protection of the own legal order’s constitutional concerns, which may be underrepresented in other legal orders, and the necessary respect for the autonomy of inter- and supranational institutions. A key instrument for fine-tuning this balance is a sliding scale of the standard of review. When national or supranational constitutional courts control inter- or supranational law, the question arises as to whether they should exercise their review based on the law of their own legal order or of the other international or supranational legal order. The Kadi decisions of the ECJ and EGC develop competing approaches to this question. The EGC has chosen the norms of another legal order to examine the EU regulation – and thus indirectly the UN Security Council resolution – by relying upon ius cogens as a yardstick. The European Court of Justice has chosen the constitutional principles of its own legal order as a control yardstick by relying upon EU fundamental rights.31 31. In a pluralist-heterarchical constellation such as the networked world order, using the constitutional principles and norms of the own legal order as a yardstick for exercising judicial control is preferable to using an external yardstick, for the latter approach raises the concern that the court is not adequately positioned to interpret the other legal order in norm conflicts due to its institutional bias in favor of its own legal order. In addition, if a supranational court such as the ECJ or the EGC were to exercise judicial control of the secondary law of another international legal order (e.g. a UN Security Council resolution) on the basis of the principles of that legal order (e.g. the ius cogens), it would implicitly assert a claim that exceeds its competence and legitimacy as a regional court. Moreover, there is a risk that the court will not live up to the expectations regarding its institutional role within its own legal order. The ECJ would not adequately fulfil its role as guardian of EU fundamental rights if it examined the 30 31

 Part Three, Chapter 15, B.  Part Three, Chapter 16.

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English Summary

drastic sanctions against individuals set forth by the UN Security Council on the basis of ius cogens, which is traditionally understood very restrictively. The promise of effective judicial fundamental rights protection would be frustrated. By contrast, if a court instead relies upon the principles and norms of its own legal order as a control yardstick, it operates in a normative field in which it has the legitimate authority and the necessary expertise. In this constellation, it is legitimate for a court to deny incorporating the secondary law of other international or supranational legal orders on the basis of the constitutional principles and norms of the own legal order, insofar as the court respects the meta-­ principles of institutional and holistic reflection.32 32. In the EU, national constitutional courts recognize, in principle, the primacy of EU law, but derive this primacy from the constitutional provisions of their own legal order. The consequence of this doctrinal approach is that national constitutional courts preserve the power to control EU law on the basis of the constitutional law of their own legal order. The question that arises is where precisely constitutional courts should draw the constitutional limits for inter- and supranational law. This issue is of fundamental importance for the relationship between national law and EU law. The more difficult it is to activate the constitutional reservation, the lesser is EU law subject to external control; the lower constitutional courts set the constitutional limits, the greater the threat to the uniform application of EU law in the member states. In the EU context, since the inclusion of Article 4(2) TEU into EU primary law by the Lisbon Treaty, the concept of constitutional identity has gradually emerged as the overarching constitutional limit and thus as a uniform yardstick for controlling EU law.33 33. Constitutional identity is an appropriate constitutional yardstick in the context of the EU. On the one hand, the concept indicates that a national constitutional reservation is only justified to the extent that particularly important constitutional concerns are concerned. More generally, the degree of presumption of primacy of international and supranational law should depend upon the degree of constitutionalization of the international or supranational legal order whose law is under scrutinized. It follows with regard to the largely constitutionalized EU that the conditions for refuting the presumption of primacy in favor of EU law must be particularly strict. In connection with less constitutionalized international legal regimes, by contrast, it is legitimate to lower the standard of review. Moreover, the idea of constitutional identity rejects the absolute primacy of EU law over national constitutional law. It provides national constitutional orders with a certain margin of appreciation in order to accommodate certain national peculiarities of constitutional importance. The associated risks for general compliance with EU law can be contained by using conflict prevention mechanisms such as the involvement of the ECJ via the preliminary reference procedure. Against this background, the concept of constitutional identity constitutes a

32 33

 Part Three, Chapter 16, B.  Part Three, Chapter 17, A.

English Summary

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building block for the pluralist-heterarchical arrangement of the networked world order.34 34. Constitutional courts satisfy a transfer function, i.e., they encourage the consideration of the constitutional principles and norms of their own legal order by inter- and supranational institutions. The constitutional transfer function results from the fundamental dilemma of the networked world order according to which the political capacity to act in and to shape a globalized world needs to be ensured without abandoning the democratic and constitutional achievements of the nation-state. For this reason, national constitutional courts should work towards transferring central constitutional principles and norms of their own legal order into inter- and supranational legal orders, thereby contributing to rectifying constitutional shortcomings and developing equivalent constitutional principles and norms. The transfer of constitutional principles and norms of one legal order to another reduces, at least in the long run, constitutional disharmony between them and prevents the emergence of constitutional conflicts. By encouraging the consideration of constitutional principles and norms of the own legal order by other inter- and supranational legal orders, national constitutional courts initiate an inter-order judicial dialogue through which a basic normative consensus between legal orders can be forged despite divergent perspectives of the particular legal orders. The inter-order judicial dialogue, which takes place in various forms and forums, is the decisive medium through which a constitutional court can feed its constitutionalist concerns into the judicial practice of another constitutional court. If national constitutional courts engage with the case-law of their judicial counterparts, express criticism and formulate warnings, they also set learning and socialization processes in motion. Two different types of transfer mechanisms can be distinguished through which one constitutional court can feed its constitutionalist concerns into the adjudication of another constitutional court. On the one hand, there are substantive transfer mechanisms such as the Solange-principle, ultra vires-control and identity control in the context of which the prospect of not applying the secondary law of an international or supranational legal order creates incentives for the institutions of that legal order to take external constitutional principles and norms into account. On the other hand, the preliminary reference procedure that ties national and supranational courts together into an inter-order judicial dialogue can be conceptualized as a procedural transfer mechanism.35 35. The Solange-method is a flexible and graduated judicial transfer mechanism that was designed for the judicial control of the secondary law of inter- and supranational organizations. With the Solange-formula, constitutional courts from the legal order that incorporates the challenged inter- or supranational law signal that they will only refrain from exercising comprehensive control over this law so long as the constitutional standards of that legal order are essentially equivalent to standards of the own legal order. Solange is a graduated control 34 35

 Part Three, Chapter 17, B.  Part Two, Chapter 11.

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English Summary

mechanism because by using the Solange-formula, a court indicates that the intensity and extent of its control of the legal acts of another legal order is dependent on the institutions of that legal order taking into account the constitutional concerns of the court’s own legal order. The Solange-approach has been established in the case-law of a significant number of constitutional and supreme courts. The FCC introduced this judicial transfer mechanism for the first time in its Solange I-decision. In this decision, the Court asserted the judicial power to control EU law but made the exercise of its control contingent upon the level of fundamental rights protection guaranteed by EU institutions. The constitutional and supreme court decisions of the Italian Corte Costituzionale in Fragd, the French Conseil d’État in Arcelor, the Polish Constitutional Tribunal in Supronowicz, the ECHR in Bosphorus and the ECJ in Kadi have all adopted this Solange-model.36 36. From a normative perspective, the Solange-principle is an appropriate transfer mechanism for inter-order contexts. By using the Solange-method, the constitutional court of the incorporated legal order creates incentives for international and supranational institutions of other legal orders to consider the constitutional norms of the incorporating legal order in order to avoid the sanction of comprehensive control of their legal acts by the constitutional court. Not only is there a threat of “negative” sanctions but, conversely, the requested consideration of its constitutional norms is rewarded by the constitutional court reducing its claim to control and refraining from comprehensive control. In response to the decision-making practices of the accountable institutions, positive or negative feedback can be given according to the “carrot and stick”-method. The Solange-mechanism is therefore a suitable doctrinal instrument for the complex coordination tasks of the networked world order because it is flexible and can always be adapted to the reform efforts of the accountable institutions of another legal order. The Solange-mechanism also corresponds to the pluralist-­heterarchical configuration of the networked world order because the autonomy of institutions of other legal orders is respected. No specific solution is imposed, but a pressure to act is created and thus an open-ended process of negotiation across legal orders is set in motion on the extent to which the institutions of the lawmaking legal order must take into account the constitutional concerns of the incorporating legal order or, vice-versa, to what extent the institutions of the incorporating legal order must accept the decision-making powers of the lawmaking legal order. Ideally, this process results in the development of a normative basic consensus on common constitutional principles. Thus, the Solange-mechanism is also an effective means against the fragmentation tendencies in the networked world order, for it creates incentives for institutions closely linked to the logic and self-image of their respective legal orders to observe the constitutionalist concerns of the incorporating legal order and thus has an integrating effect on the divergent rationalities.37 36 37

 Part Three, Chapter 18, A., I.  Part Three, Chapter 18, A., II.

English Summary

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37. Ultra vires-control is a transfer and accountability mechanism distinct from the Solange-principle. It focuses on compliance with the limits of competencies by inter- and supranational organizations. So far, ultra vires-control within the EU has mainly been used by the FCC and, occasionally, by the French Conseil d’État in Cohn-Bendit, the Danish Højesteret in Carlsen v. Rasmussen and in Ajos and the Czech Constitutional Court in Holubec. At its core, it aims to protect national decision-making powers from the creeping expansion of competences by EU institutions by requiring stricter control by the ECJ over the exercise of the legal bases laid down in EU treaty law. There is no clear inter-order trend towards using ultra vires-control. It is primarily a construction of the FCC which only has been relied upon in isolated instances by other member state constitutional and supreme courts in the EU. These decisions lack a systematic, principled approach concerning the requirements of ultra vires-control under the conditions of a networked world order as is illustrated by the reasoning of the Conseil d’État in Cohn-Bendit, the Danish Supreme Court in Ajos and the Czech Constitutional Court in Holubec. These decisions are expressions of specific frustration with the case-law of the ECJ, but not generalizable doctrinal constructions of an inter-order accountability mechanism.38 38. From a normative perspective, ultra vires-control of international and supranational law is a problematic constitutional accountability mechanism for the networked world order. A particular concern is the exercise of a standard of review based on norms of an external legal order. As a result, ultra vires-control exceeds the limits of legitimate representation of the constitutional concerns of the own legal order and encroaches upon the core competences of the competent court of the external legal order. Mutual respect for the respective spheres of autonomy is a fundamental condition for the pluralist-heterarchical arrangement of the networked world order. By exercising ultra vires-control, a constitutional court makes a claim that goes beyond the bipolar relationship between its own and the EU’s legal order. Due to its institutional bias as a representative of its national legal order, a national constitutional court lacks the required legitimacy to interpret the legal competency provisions agreed upon in the European treaties and to unilaterally challenge the validity of EU legal acts in a way that goes beyond its own legal order. Moreover, ultra vires-control does not limit judicial review, as would be appropriate, to constitutional identity as the proper yardstick for the control of EU law.39 39. In its Lisbon ruling, the FCC developed – in addition to the Solange-principle and ultra vires-control – identity control as an inter-order judicial review instrument, thereby operationalizing the concept of constitutional identity into a judicial accountability mechanism for the review of secondary EU law. At the moment, an inter-order judicial trend towards using identity control is not traceable in the case-law of national and supranational constitutional courts; to date only the FCC has systematically relied upon this mechanism. However, the  Part Three, Chapter 18, B., I.  Part Three, Chapter 18, B., II.

38 39

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English Summary

activability of identity control in individual cases corresponds to the initial doctrinal constructions of the Solange-principle and the ultra vires-control. From a normative-analytical point of view, identity control is preferable to ultra vires control. It limits judicial control to the protection of national core competences. It is not generally aimed at respecting the EU’s system of competences. Moreover, the control yardstick for identity control is not external EU law, but constitutional norms of the own legal order. In this way, the FCC legitimately represents the interests of the German legal order and does not interfere with one of the core competencies of the ECJ, namely interpreting the legal bases in EU treaty law.40 40. A significant procedural transfer mechanism is the preliminary reference procedure. This procedure institutionalizes inter-order judicial communication and thus constitutes the most direct, case-related, formal forum for an inter-order dialogue between judges. Preliminary reference procedures currently exist in the EU, the Andean Community, the Caribbean Community, the West African Economic Community, EFTA, the Benelux Union, OHADA, ECOWAS, EAC, COMESA, CEMAC, CAN and MERCOSUR, among others. The following picture emerges from looking at the inter-order judicial referral practice within the framework of the EU: national courts of lower instance have routinely submitted submission questions to the ECJ for decades. In addition, there have been a number of constitutional and supreme courts, such as the constitutional courts of Belgium and Austria, the Irish Supreme Court, the British House of Lords, the French Conseil d’État and the Danish Højesteret, which have for some time habitually referred preliminary questions to the ECJ. However, many national constitutional and supreme courts were reluctant for a long time to refer preliminary questions to the ECJ. After constitutional courts in Germany, France, Spain, Italy, Lithuania and Slovenia had for a long time sustained a persistent non-referral practice, they all submitted their first preliminary question to the ECJ ever in close temporal succession. This change from a practice of non-referral to a routine dialogue practice within the preliminary reference framework illustrates the force of inter-order judicial lawmaking in the pluralist-­ heterarchical arrangement of the networked world order.41 41. From a normative perspective, the rising importance of the preliminary reference procedure as a forum for judicial dialogue between supranational courts and national constitutional courts is to be welcomed. The first argument in favor of a direct, case-oriented, inter-order dialogue between constitutional courts is that the demands for inter-order judicial communications are growing in accordance with the increased need for coordination in the networked world order. This need can no longer be met solely by indirect forms of judicial dialogue. In contrast, a direct dialogue within the framework of the preliminary reference procedure inevitably requires courts to engage with their competing positions on the basis of a specific individual case. It is also desirable for reasons of legal 40 41

 Part Three, Chapter 18, C.  Part Three, Chapter 19, A.

English Summary

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certainty and thus from the perspective of the individuals seeking legal remedies. The use of the preliminary reference procedure also is important in order to feed concerns of the EU legal order into the decision-making process of a national constitutional court by involving the ECJ. This is particularly necessary if the decision has external effects as was the case in the OMT proceedings. The success of the direct dialogue between the ECJ and national constitutional courts within the framework of the preliminary reference procedure will crucially depend on the latter being conceived as a truly pluralist-heterarchical procedure in which not only the ECJ transfers EU principles and norms into the legal orders of the member states, but also feeds domestic constitutional concerns articulated by national constitutional courts into the decision-making processes of the ECJ. This requires that national constitutional courts be granted as last resort the possibility of derogating from the preliminary rulings of the ECJ.42

B. Conclusion The process of globalization is fully impacting the law, requiring constitutional courts to reflect on their role under radically changed circumstances. This thesis has attempted to contribute to a better understanding of this development and, with a view to constitutional courts, to put together some puzzle pieces in the riddle of governance beyond the nation-state. It has tried to uncover which answers constitutional courts give to the changed structures and processes of the networked world order and what role they should play from a normative perspective in view of the problems and the opportunities that arise. The thesis has shown that constitutional courts are central actors in the process of shaping the networked world order. While the heads of states and governments are – for legitimate reasons – unwilling or unable to agree on clear hierarchies and conflict rules in view of the ambivalence of the current constellation, constitutional courts – in conjunction with lower-instance courts, legal scholarship and a multitude of other governmental and non-governmental actors – coordinate from the perspective of constitutional law the differing loyalties, identities and logics of global society that find expression in the pluralist universe of the different legal orders. On the one hand, they regulate their relationship to other legal orders according to their own criteria, from an “internal point of view”, based on the constitutional principles and norms of their own legal order. On the other hand, they respond to structurally comparable problems, address the same normative concerns and develop comparable problem-solving mechanisms. Constitutional courts respond to the absence of a central legislative authority for inter-order contexts by means of a decentralized, networked process of judicial lawmaking in which the various courts coordinate their case-law by mutually accepting many individual judicial decisions. Subsequently, the coordination of constitutional 42

 Part Three, Chapter 19, B.

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English Summary

adjudication in inter-order judicial networks is characterized by rival claims for the last word, by cooperative judicial dialogue with simultaneous affirmation of one’s own decision-making autonomy and by threatening gestures with simultaneous willingness to compromise. Although this form of judicial interaction does not correspond to the classic notions of unity and coherence of law, it is mostly constructive. Through mutual reference and elaboration, inter-order background norms are gradually being developed. Numerous building blocks of European constitutionalism, which we now take for granted, are the result of such judicial communication and rapprochement processes, which are promoted by social mechanisms such as acculturation, positive feedback dynamics and psychosocial adaption pressures: from the recognition of the primacy of EU law,43 to the boundary of constitutional identity,44 to treaty control as public forum for the control of inter- and supranational law,45 or the change from a practice of non-referral to one of habitual referral within the framework of the preliminary reference procedure.46 This decentralized judicial coordination method opens up possibilities for contestation, contributes to ensuring a system of checks and balances across legal orders and expands the decision-making process for the specific perspectives of the different legal orders.47 But what does this mean for the question of what constitutional courts which have to navigate through this complex reality of the networked world order should do? According to the premises of network constitutionalism, the constitutional achievements of the liberal nation-state conditions are best guaranteed in inter-order contexts under pluralist-heterarchical conditions if constitutional courts, first of all, rely upon constitutionalism as a normative guideline,48 second, observe the meta-­ principles of holistic and institutional reflection,49 third, actively participate in the process of developing inter-order background norms,50 and fourth, follow existing background norms, insofar as these are compatible with the positive law and legal methodology of their own legal order. The judicial challenge of coordinating the different concerns of the different legal orders in the pluralist-heterarchical arrangement of the networked world order can be mastered based on these criteria. In an ambivalent constellation in which political capacity for action cannot be established without inter- and supranational institutions, but legitimacy is still generated primarily in the institutional structures of the nation state, the model for constitutional adjudication in inter-order contexts lies in mutual engagement and substantive contestation rather than in evasion and avoidance strategies, in mutual respect for the decision-making autonomy of the judicial network partner rather than in ­absolute

 Part Three, Chapter 12, A., I.  Part Three, Chapter 17, A., II. 45  Part Three, Chapter 14, A., I. 46  Part Three, Chapter 19, A. 47  Part One, Chapter 4, A., II. 48  Part One, Chapter 5, B. 49  Part One, Chapter 8, C., I. 50  Part One, Chapter 8, C., II, 2. 43 44

English Summary

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primacy rules, in mutual communication processes rather than in unilateral impositions. However, constitutional courts must always keep their political-institutional limits in mind and be aware of the problem of the self-reinforcing logic and path-­ dependency of precedent. Just as constitutional adjudication can contribute significantly to organizing the networked world order in accordance with the principles of constitutionalism; it can also overstretch its power, overextend its institutional capacities and excessively impair the political process. Considering that history rarely runs in a linear fashion, it cannot be ruled out that the proliferation and the increase in importance of constitutional courts have already reached their peak. Decisions such as the OMT ruling of the FCC or the Holubec decisions of the Czech Constitutional Court can also be interpreted as signs of judicial hubris, which could gradually lead to a loss of legitimacy and subsequent loss in institutional significance.51 Despite all criticism of the “global expansion of judicial power”, it should not be overlooked that the distinctive institutional and procedural features of decision-­ making of constitutional courts are oriented towards principles and independence from day-to-day political business, which puts them in a position to act as a meaningful counterbalance to the rushed decisions of executive intergovernmental conferences, which often are made under great political pressure. Through their decisions in inter-order contexts, constitutional courts involve the political actors in a constitutional discourse that emphasizes the authoritativeness of the principles of constitutionalism for the shaping of the emerging networked world order. The tendency of constitutional courts to successively extend their competences is countered by the fact that constitutional adjudication is embedded in a larger political-­ institutional context that is constantly present to judges, which limits their power and which they must take into account if they do not want to jeopardize their continued influence. Constitutional judges need not be stylized as Herculean philosophical judges to find that they have made an important contribution to a more constitutionalist shaping of the world order: from the development of the protection of fundamental rights in Europe to the impetus for reforms of the UN sanctions regime. In constitutional discourse, the diverging interests and divisional logics in the networked world order tend to be transcended by reference to general legal principles and transformed into constitutional dialogues.52

51 52

 Part Three, Chapter 20, B.  Part Three, Chapter 20, B.

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A. Verfahren deutscher Gerichte I. Bundesverfassungsgericht BVerfGE 22, 134 – EWG-Recht (1967). BVerfGE 22, 293 – EWG-Verordnungen (1967). BVerfGE 31, 145 – Lütticke (1971). BVerfGE 37, 271 – Solange I (1974). BVerfGE 52, 187 – Vielleicht (1979). BVerfGE 58, 1 – Eurocontrol I (1981). BVerfGE 68, 1 – Atomwaffen (1984). BVerfGE 73, 339 – Solange II (1986). BVerfGE 74, 358 – Unschuldsvermutung (1987). BVerfGE 75, 223 – Kloppenburg (1987). BVerfGE 80, 74 – Tabaketikettierungs-Richtlinie (1989). BVerfGE 89, 155 – Maastricht (1993). BVerfGE 92, 203 – Fernseh-Richtlinie (1995). BVerfG, Urteil vom 26.04.1995 – 2 BvR 760/95 – Port II, EuZW 1995, S. 412. BVerfGE 102, 147 – Bananenmarkt (2000). BVerfGE 104, 214 – NPD-Verbot (2001). BVerfGE 111, 307 – Görgülü (2004). BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl (2005). BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz (2006). BVerfGK 9, 174 – Wiener Konsularrechtsabkommen (2006). BVerfGE 118, 79 – Emissionshandel (2007). BVerfGE 123, 267 – Lissabon (2009).

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2020 A. Lang, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 293, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61442-6

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Entscheidungsverzeichnis

BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung (2010). BVerfGE 126, 286 – Honeywell (2010). BVerfGE 128, 326 – EGMR Sicherungsverwahrung (2011). BVerfGE 129, 186 – Investitionszulagengesetz (2011). BVerfGE 132, 195 – Europäischer Stabilitätsmechanismus (2012). BVerfGE 133, 277 – Antiterrordatei (2013). BVerfGE 134, 366 – OMT-Beschluss (2014). BVerfGE 135, 317 – ESM-Vertrag (2014). BVerfGE 140, 317 – Europäischer Haftbefehl II (2015). BVerfGE 141, 1 – Treaty Override (2015). BVerfGE 142, 123 – OMT-Urteil (2016). BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.09.2016  – 2 BvR 890/16  – Europäischer Haftbefehl III. BVerfGE 143, 65 – CETA (2016). BVerfGE 144, 20 – NPD-Verbotsverfahren (2017). BVerfGE 146, 216 – PSPP-Beschluss (2017). BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12, 1395/13, 1068/14, 646/15 – Beamtenstreik. BVerfG, Urteil vom 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 – Europäische Bankenunion. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II. II. Andere Gerichte FG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 14.11.1963, RML Nr.  III 77/63, DÖV 1964, S. 306. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 07.11.1994 – 5 K 2813/93, EuZW 1995, S. 588. OLG Naumburg, Beschluss vom 30.06.2006, 14 WF 64/04, EuGRZ 2006, S. 749 ff.

B. Verfahren ausländischer Gerichte I. Argentinien – Corte Suprema de Justicia de la Nación Entscheidung vom 07.04.1995, Nr.  32/93  – Giroldi, Horacio David y otros s/recurso de casación. Entscheidung vom 01.04.2008, TF 18476-A – Sancor CUL v. D.G.A. Entscheidung vom 14.02.2017, Nr. 368/1998 (34-M)/CS1, Sentencia del Caso Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto s/informe sentencia dictada en el caso „Fontevecchia y D’Amico vs. Argentina“.

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II. Belgien 1. Cour de cassation Entscheidung vom 27.05.1971 – État Belge v. Fromagerie Franco-Suisse Le Ski, dt. Übers. in: EuR 1971, S. 261 ff. 2. Cour constitutionnelle Entscheidung vom 19.02.1997, Nr. 6/1997 – Fédération Belge des Chambres Syndicales de Médecins v. Gouvernement flamand, Gouvernement de la Communauté française, Conseil des ministres, dt. Übers. abrufbar unter: www.const-court.be/public/d/1997/1997-006d.pdf (30.12.2019). Entscheidung vom 19.03.2009, Nr.  58/2009  – Lissabon I, dt. Übers. abrufbar unter: www.const-court.be/public/d/2009/2009-058d.pdf (30.12.2019). Entscheidung vom 16.06.2009, Nr. 125/2009 – Lissabon II, dt. Übers. abrufbar unter: www.const-court.be/public/d/2009/2009-125d.pdf (30.12.2019). Entscheidung vom 13.10.2009, Nr. 156/2009 – Lissabon III, dt. Übers. abrufbar unter: www.const-court.be/public/d/2009/2009-156d.pdf (30.12.2019). III. Chile Chilenisches Verfassungsgericht, Entscheidung vom 08.04.2002, Nr. 346 – Rom Statut, abrufbar unter: www.tribunalconstitucional.cl/wp/ver.php?id=274 (30.12.2019). Chilenischer Oberster Gerichtshof, Entscheidung vom 13.12.2006, Nr. 559-2004 – Molco. IV. Dänemark – Oberster Gerichtshof (Højesteret) Urteil vom 06.04.1998, I 361/1997 – Carlsen u. a. v. Rasmussen, dt. Übers. in: ZaöRV 58 (1998), S. 901 ff. Urteil vom 20.02.2013, I 199/2012 – Hausgaard u. a. v. Prime Minister. Urteil vom 06.12.2016, Nr. 15/2014 – Ajos A/S v. Boet efter A, engl. Übers. abrufbar unter: www.supremecourt.dk/supremecourt/nyheder/pressemeddelelser/Documents/Judgment%2015-2014.pdf (30.12.2019). V. Estland – Staatsgerichtshof (Riigikohus) Urteil vom 12.07.2012, Nr. 3-4-1-6-12 – Stabilitätsmechanismus.

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VI. Frankreich 1. Conseil constitutionnel CC, Entscheidung vom 09.04.1992, Nr. 92-308 DC – Maastricht I, Rec. S. 55, dt. Übers. in: EuGRZ 1993, S. 187 ff. CC, Entscheidung vom 02.09.1992, Nr. 92-312 DC – Maastricht II, Rec. S. 76, dt. Übers. in: EuGRZ 1993, S. 193 ff. CC, Entscheidung vom 23.09.1992, Nr. 92-313 DC– Maastricht III, Rec. S. 94, dt. Übers. in: EuGRZ 1993, S. 196 ff. CC, Entscheidung vom 19.11.2004, Nr.  2004-505 DC  – Verfassungsvertrag, Rec. S. 173, EuGRZ 2005, S. 45 ff. CC, Entscheidung vom 27.07.2006, 2006-540 DC – Urheberrechtsrichtlinie. CC, Entscheidung vom 20.12.2007, Nr. 2007-560 DC – Lissabon, Rec. S. 459, dt. Übers. abrufbar unter: www.conseil-constitutionnel.fr/de/decision/2007/2007560DC. htm (30.12.2019). CC, Entscheidung vom 09.08.2012, Nr. 2012-653 DC – Fiskalvertrag, dt. Übers. abrufbar unter: www.conseil-constitutionnel.fr/de/decision/2012/2012653DC.htm (30.12.2019). CC, Entscheidung vom 04.04.2013, Nr. 2013-314 QPC – Jeremy F, dt. Übers. abrufbar unter: www.conseil-constitutionnel.fr/de/decision/2013/2013314QPC.htm (30.12.2019). CC, Entscheidung vom 31.07.2017, Nr. 2017-749 DC – CETA, dt. Übers. abrufbar unter: www.conseil-constitutionnel.fr/en/decision/2017/2017749DC.htm (30.12.2019). CC, Entscheidung vom 12.06.2018, Nr.  2018-765 DC  – Datenschutzgrundverordnung. 2. Conseil d’État CE, Urteil vom 01.03.1968, Nr. 62814 – Syndicat général des fabricants de semoule de France, Rec. S. 149. CE, Urteil vom 22.12.1978, Nr.  11604  – Ministre de l’Intérieur v. Sieur Cohn-Bendit, Rec. S. 524, dt. Übers. in: EuR 1979, S. 292 ff. CE, Urteil vom 20.10.1989, Nr. 108243 – Nicolo, Rec. S. 190, dt. Übers. in: EuR 1989, S. 62 ff. CE, Urteil vom 08.02.2007, Nr. 287110 – Arcelor, Rec. S. 11, dt. Übers. in: EuR 2008, S. 57 ff. CE, Urteil vom 30.10.2009, Nr. 298348 – Mme Perreux, Rec. S. 407, dt. Übers. in: EuR 2010, S. 554 ff.

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VII. Großbritannien 1. House of Lords Entscheidung vom 11.10.1990, UKHL 13 (1990) – R v. Secretary of State for Transport, ex p. Factortame Ltd (No. 2). Entscheidung vom 12.12.2007, UKHL 58 (2007) – Al-Jedda v. Secretary of State for Defence. 2. UK Supreme Court Urteil vom 27.01.2010, UKSC 2 (2010) – Ahmed u. a. v. Her Majesty’s Treasury. Urteil vom 22.01.2014, UKSC 3 (2014) – R (on the application of HS2 Action Alliance Ltd) v. The Secretary of State for Transport. VIII. Indien – Supreme Court Urteil vom 28.04.1976, (1976) 2 SCC 521, ADM Jabalpur v. Shivkant Shukla. Urteil vom 18.01.2005, Writ Petition (civil) 105/2004 – People’s Union for Civil Liberties v. Union of India & Anr. IX. Irland – Supreme Court Urteil vom 09.04.1987, No. 12036P – Raymond Crotty v. An Taoiseach, [1987] IR 713. X. Israel – Supreme Court Urteil vom 19.07.1951, Cr. A. 5/51 – Steinberg v. Attorney General, 5 P.D. 1061 (1951). Urteil vom 14.08.2002, HCJ 2599/00 – Yated – Friendly Society of Downs Syndrome Children’s Parents v. Ministry of Education, 56 (5) P.D. 834 (2000). Urteil vom 30.06.2004, HCJ 2056/04 – Beit Sourik Village Council v. The Government of Israel, 58 (5) P.D. 807 (2004). Urteil vom 15.09.2005, HCJ 7957/04 – Mara’abe v. The Prime Minister of Israel, 60 (2) P.D. 477 (2005).

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XI. Italien 1. Corte Costituzionale Entscheidung vom 07.03.1964, Nr. 14/64 – Costa v. E.N.E.L., engl. Übers. in CML Rev. 1964, S. 224 ff. Entscheidung vom 27.12.1973, Nr. 183/1973 – Frontini e altro v. Ministero delle Finanze, dt. Übers. in: EuGRZ 1975, S. 311 ff. Entscheidung vom 30.10.1975, Nr. 232/75 – I.C.I.C. v. Ministero del Commercio con l’Estero, dt. Übers. in: EuR 1976, S. 246 ff. Entscheidung vom 08.06.1984, Nr.  170/84  – Spa Granital v. Ministro delle ­Finanze, dt. Übers. in: EuGRZ 1985, S. 98 ff. Entscheidung vom 13.04.1989, Nr. 232/1989 – Spa Fragd v. Ministro delle Finanze, abrufbar unter: www.giurcost.org/decisioni/1989/0232s-89.html (30.12.2019). Entscheidung vom 29.12.1995, Nr. 536/95 – Messagero Servizi ed altri v. Ufficio del Registro di Padova. Entscheidung vom 22.10.2007, Nr. 348/2007, engl. Übers. abrufbar unter: www. cortecostituzionale.it/documenti/download/doc/recent_judgments/S348_2007_ Eng.pdf (30.12.2019). Beschluss vom 16.04.2008, Nr. 103/2008 – Presidente dei Consiglio dei ministri v. Regione Sardegna, engl. Übers. abrufbar unter: www.cortecostituzionale.it/documenti/download/doc/recent_judgments/O2008103_Bile_Gallo_en.pdf (30.12.2019). Entscheidung vom 16.11.2009, Nr. 311/2009, engl. Übers. abrufbar unter: www. cortecostituzionale.it/documenti/download/doc/recent_judgments/S2009311_Amirante_Tesauro.pdf (30.12.2019). Urteil vom 22.12.2014, Nr. 238/2014, dt. Übers. abrufbar unter: www.cortecostituzionale.it/documenti/download/doc/recent_judgments/S238_2013_deu.pdf (30.12.2019). Urteil vom 22.12.2014, Nr. 238/2014, engl. Übers. abrufbar unter: www.cortecostituzionale.it/documenti/download/doc/recent_judgments/S238_2013_en.pdf (30.12.2019). Urteil vom 14.01.2015, Nr. 49/2015, engl. Übers. abrufbar unter: www.cortecostituzionale.it/documenti/download/doc/recent_judgments/S49_2015_en.pdf (30.12.2019). Beschluss vom 26.01.2017, Nr. 24/2017, – Taricco I, engl. Übers. abrufbar unter: w w w. c o r t e c o s t i t u z i o n a l e . i t / d o c u m e n t i / d o w n l o a d / d o c / r e c e n t _ judgments/S_124_2017_EN.pdf (30.12.2019). Entscheidung vom 10.04.2018, Nr. 115/2018 – Taricco II, engl. Übers. abrufbar unter: www.cortecostituzionale.it/documenti/download/doc/recent_judgments/S_ 2018_115_EN.pdf (30.12.2019). Beschluss vom 06.03.2019, Nr. 117/2019 – Mr. D. B, engl. Übers. abrufbar unter: w w w. c o r t e c o s t i t u z i o n a l e . i t / d o c u m e n t i / d o w n l o a d / d o c / r e c e n t _ judgments/O_117_2019_EN.pdf (30.12.2019).

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2. Corte di cassazione Urteil vom 11.02.2003, Nr. 5044/2004 – Ferrini. XII. Jamaika – Privy Council Urteil vom 03.02.2005, [2005] UKPC 3 (Jamaica) – Independent Jamaica Council for Human Rights (1998) Ltd v Marshall-Burnett. XIII. Kanada 1. Supreme Court Entscheidung vom 17.09.1984, Hunter v. Southam Inc., [1984] 2 S.C.R. 145. Entscheidung vom 11.01.2002, Suresh v. Canada (Minister of Citizenship and Immigration), [2002] 1 S.C.R. 3. Entscheidung vom 07.06.2007, R. v. Hape, [2007] 2 S.C.R. 292. 2. Federal Court of Ottawa Entscheidung vom 04.06.2009, Abdelrazik v. Canada (Minister of Foreign Affairs), 2009 FC 580. XIV. Kolumbien – Corte Constitucional Entscheidung vom 19.01.2000, C-01/00 – IAGMR, abrufbar unter: www.corteconstitucional.gov.co/relatoria/2000/C-010-00.htm (30.12.2019). Entscheidung vom 30.07.2002, C-578/02  – Rom Statut, abrufbar unter: www. corteconstitucional.gov.co/relatoria/2002/c-578-02.htm (30.12.2019). Entscheidung vom 06.06.2019, C-252/19 – Kolumbien–Frankreich BIT, abrufbar unter:. www.corteconstitucional.gov.co/relatoria/2019/c-252-19.htm#_ftn233 (30.12.2019). XV. Kroatien – Verfassungsgericht (Ustavni sud Republike Hrvatske) Entscheidung vom 21.05.2015, Nr.  U-VIIR-1158/2015  – Referendum über ­Autobahnmonetarisierung.

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XVI. Lettland – Verfassungsgericht (Satversmes tiesa) Urteil vom 07.07.2004, Nr. 2004-01-06 – Lettischer Ordnungswidrigkeitenkodex. Entscheidung vom 07.04.2009, Nr. 2008-35-01 – Lissabon. XVII. Litauen – Verfassungsgericht (Konstitucinis Teismas) Entscheidung vom 14.03.2006, Nr.  17/02-24/02-06/03-22/04  – Grundeigentumsrechte. Entscheidung vom 08.05.2007, Nr. 47/04 – Sabatauska. XVIII. Mexiko – Suprema Corte de Justicia de la Nación Entscheidung vom 03.09.2013, Nr. 293/2011 – Contradicción de Tesis. XIX. Österreich – Verfassungsgerichtshof Beschluss vom 11.12.1995, B 2300/95 – Bundesvergabeamt. Beschluss vom 10.03.1999, B 2251/97, B 2594/97  – Vergütung von Energieabgaben. Beschluss vom 12.12.2000, KR 1–6/00, KR 8/00  – Offenlegung von Gehaltsdaten. Beschluss vom 02.03.2001, W I-14/99 – Arbeiterkammerwahlrecht. Beschluss vom 18.06.2005, G 62/05 – Verfassungsvertrag. Beschluss vom 30.09.2008, SV 2/08-3, G 80/08-3, SV 3/08-6, G 81/08-6  – Lissabon I. Beschluss vom 11.03.2009, G 149-152/08-5, SV 5-8/08-5 – Lissabon II. Beschluss vom 12.06.2010, SV 1/10-9 – Lissabon III. Beschluss vom 28.11.2012, G 47/12 u. a. – Vorratsdatenspeicherung. Entscheidung vom 16.03.2013, SV 2/12-18 – ESMV & Auslegungserklärung. XX. Panama – Oberster Gerichtshof (Corte Suprema de Justicia) Entscheidung vom 12.05.2010, Nr. 240, Diálogo Jurisprudencial 8 (2010), 99 (100). XXI. Polen – Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny) Urteil vom 11.05.2005, K 18/04 – Beitrittsvertrag. Urteil vom 24.11.2010, K 32/09 – Lissabon. Urteil vom 16.11.2011, SK 45/09 – Supronowicz.

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Urteil vom 26.06.2013, K 33/12 – Stabilitätsmechanismus. XXII. Portugal – Tribunal Constitucional Entscheidung vom 23.05.1990, TC 163/90 – Moreira da Costa e Mulher. XXIII. Peru – Tribunal Constitucional Entscheidung vom 29.11.2005, Nr. 4587-2004-AA/TC – Santiago Martín Rivas. Entscheidung vom 02.03.2007, Nr. 679-2005-PA/TC – Martin Rivas v. Constitutional and Social Chamber of the Supreme Court. XXIV. Schweiz – Bundesgericht Entscheidung vom 03.09.2001, 1A.129/2001, 1A.130/2001/viz – Rukundo v. Office fédéral de la justice. Urteil vom 14.01.2007, BGE 133 II 450 – Nada v. SECO. XXV. Slowakei – Verfassungsgericht (Ústavný súd) Entscheidung vom 27.02.2008, Nr. II. ÚS 171/05-175 – Verfassungsvertrag. XXVI. Slowenien – Verfassungsgericht (Ustavno sodišče) Entscheidung vom 17.10.2008, Nr. UI-49/08 – Lissabon. Entscheidung vom 06.11.2014, Nr. U-I-295/13 – Bankenmitteilung. XXVII. Spanien – Tribunal Constitucional Entscheidung vom 14.02.1991, STC 28/1991 – Europäisches Gemeinschaftsrecht. Erklärung vom 24.07.1992, DTC 1/1992  – Maastricht, dt. Übers. in: EuGRZ 1993, S. 285 ff. Erklärung vom 13.12.2004, DTC 1/2004  – Verfassungsvertrag, dt. Übers. in: EuR 2005, S. 339 ff. Beschluss vom 09.06.2011, TC 6922/2008 – Melloni.

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XXVIII. Südafrika – Constitutional Court Urteil vom 25.07.1996, CCT 17/96  – Azanian Peoples Organization (AZAPO) v. President of the Republic of South Africa, abrufbar unter: www.saflii.org/za/cases/ ZACC/1996/16.pdf (30.12.2019). XXIX. Tschechien – Verfassungsgericht (Ústavní soud) Urteil vom 04.03.2004, PL ÚS 1/04 – Beitrittsvertrag. Urteil vom 08.03.2006, Pl. ÚS 50/04 – Zuckerquoten II. Urteil vom 26.11.2008, PL ÚS 19/08 – Lissabon I. Urteil vom 03.11.2009, Pl. ÚS 29/09 – Lissabon II. Urteil vom 31.01.2012, Pl. ÚS 5/12  – Holubec, engl. Übers. abrufbar unter: www.usoud.cz/en/decisions/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=37&cHash=911a315c9c22ea1989d19a3a848724e2 (30.12.2019). XXX. Ungarn – Verfassungsgericht Entscheidung vom 12.07.2010, Nr. 143/2010 – Lissabon. Urteil vom 30.11.2016, Nr. 22/2016 (XII. 5.). XXXI. USA 1. Supreme Court Urteil vom 24.02.1803 – Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). Urteil vom Februar 1804  – Murray v. The Schooner Charming Betsy, 6 U.S. 64 (1804). Urteil vom 06.03.1819 – McCulloch v. Maryland, 17 U.S. 316 (1819). Urteil vom 12.09.1958 – Cooper v. Aaron, 358 US 1 (1958). Urteil vom 12.06.1972  – The Bremen v. Zapata Off-Shore Company, 407 U.S. 1 (1972). Urteil vom 28.06.2006 – Sanchez-Llamas v. Oregon, 126 S. Ct. 2669 (2006). Urteil vom 25.03.2008 – Medellín v. Texas, 128 S. Ct. 1346 (2008). 2. Andere Gerichte US District Court für den Northern District of Alabama, Urteil vom 23.07.1999 – Made in the USA Foundation v. United States, 56 F. Supp. 2d 1226 (N.D. Ala. 1999).

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 . Verfahren inter- und supranationaler Gerichte C und Spruchkörper I . Europäischer Gerichtshof und Gericht der Europäischen Union 1. Europäischer Gerichtshof Urteil vom 29.11.1956, Rs. C-8/55 – Fédéchar, ECLI:EU:C:1956:11. Urteil vom 04.02.1959, Rs. C-1/58 – Stork, ECLI:EU:C:1959:4. Urteil vom 15.07.1960, Rs. C-36-38/59, 40/59 – Ruhrkohlenverkaufsgesellschaften, ECLI:EU:C:1960:36. Urteil vom 05.02.1963, Rs. C-26/62 – Van Gend en Loos, ECLI:EU:C:1963:1. Urteil vom 15.07.1964, Rs. C-6/64 – Costa v. E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66. Urteil vom 12.11.1969, Rs. C-29/69 – Stauder, ECLI:EU:C:1969:57. Urteil vom 17.12.1970, Rs. C-11/70 – Internationale Handelsgesellschaft, ECLI:EU:C:1970:114. Urteil vom 31.03.1971, Rs. C-22/70 – AETR, ECLI:EU:C:1971:32. Gutachten vom 11.11.1975, Rs. 1/75 – Lokale Kosten, ECLI:EU:C:1975:145. Urteil vom 09.03.1978, Rs. 106/77 – Simmenthal II, ECLI:EU:C:1978:49. Urteil vom 14.12.1978, Rs. C-44/79 – Hauer, ECLI:EU:C:1979:290. Urteil vom 20.02.1979, Rs. C-120/78 – Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42. Gutachten vom 26.04.1977, Rs. 1/76  – Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt, ECLI:EU:C:1977:63. Urteil vom 10.11.1982, Rs. C-261/81 – Margarine, ECLI:EU:C:1982:382. Urteil vom 06.10.1982, Rs. 283/81 – CILFIT, ECLI:EU:C:1982:335. Urteil vom 23.04.1986, Rs. C-294/83  – Les Verts v. Parlament, ECLI:EU:C:1986:16. Urteil vom 12.03.1987, Rs. C-178/84  – Reinheitsgebot für Bier, ECLI:EU:C:1987:126. Urteil vom 28.11.1989, Rs. 379/87 – Groener, ECLI:EU:C:1989:599. Gutachten vom 14.12.1991, Rs. 1/91 –EWR I, ECLI:EU:C:1991:490. Gutachten vom 10.04.1992, Rs. 1/92 –EWR II, ECLI:EU:C:1992:189. Gutachten vom 19.03.1993, Rs. 2/91 – ILO-Konvention, ECLI:EU:C:1993:106. Urteil vom 05.10.1994, Rs. C-280/93 – Deutschland v. Rat („Bananenmarktordnung“), ECLI:EU:C:1994:367. Gutachten vom 15.11.1994, Rs. 1/94 – WTO, ECLI:EU:C:1994:384. Gutachten vom 24.03.1995, Rs. 2/92 – OECD-Beschluss, ECLI:EU:C:1995:83. Gutachten vom 13.12.1995, Rs. 3/94 – GATT-Rahmenabkommen über Bananen, ECLI:EU:C:1995:436. Gutachten vom 28.03.1996, Rs. 2/94 – EMRK-Beitritt I, ECLI:EU:C:1996:140. Urteil vom 02.07.1996, Rs. C-473/93  – Kommission v. Luxemburg, ECLI:EU:C:1996:263. Urteil vom 30.07.1996, Rs. C-84/95 – Bosphorus, ECLI:EU:C:1996:312.

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Urteil vom 26.06.1997, Rs. C-368/95 – Familiapress, ECLI:EU:C:1997:325. Urteil vom 23.11.1999, Rs. C-149/96 – Portugal v. Rat, ECLI:EU:C:1999:574. Urteil vom 05.10.2000, Rs. C-376/98, C-74/99  – Tabakrichtlinie, ECLI:EU:C:2000:544. Gutachten vom 06.12.2001, Rs. 2/00  – Protokoll von Cartagena, ECLI:EU:C:2001:664. Gutachten vom 18.04.2002, Rs. 1/00  – Europäischer Luftverkehrsraum, ECLI:EU:C:2002:231. Urteil vom 12.06.2003, Rs. C-112/00 – Schmidberger, ECLI:EU:C:2003:333. Urteil vom 14.10.2004, Rs. C-36/02 – Omega, ECLI:EU:C:2004:614. Urteil vom 15.09.2005, Rs. C-495/03  – Intermodal Transports, ECLI:EU: C:2005:552. Urteil vom 22.11.2005, Rs. C-144/04 – Mangold, ECLI:EU:C:2005:709. Gutachten vom 07.02.2006, Rs. 1/03  – Lugano-Übereinkommen, ECLI:EU:C:2006:81. Urteil vom 30.05.2006, Rs. C-459/03 – Kommission v. Irland („MOXX Plant“), ECLI:EU:C:2006:345. Urteil vom 11.12.2007, Rs. C-438/05 – Viking, ECLI:EU:C:2007:772. Urteil vom 03.09.2008, Rs. C-402/05 P, C-415/05 P – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:C:2008:461. Urteil vom 09.10.2008, Rs. C-239/07 – Sabatauskas, ECLI:EU:C:2008:551. Urteil vom 10.03.2009, Rs. C-345/06 – Heinrich, ECLI:EU:C:2009:140. Urteil vom 17.11.2009, Rs. C-169/08 – Presidente dei Consiglio dei ministri v. Regione Sardegna, ECLI:EU:C:2009:709. Gutachten vom 30.11.2009, Rs. 1/08 – GATS-Listen, ECLI:EU:C:2009:739. Urteil vom 19.01.2010, Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, ECLI:EU:C:2010:21. Urteil vom 12.10.2010, Rs. C-499/08  – Ingeniørforeningen i Danmark, ECLI:EU:C:2010:600. Urteil vom 22.12.2010, Rs. C-208/09 – Sayn-Wittgenstein, ECLI:EU:C:2010:806. Urteil vom 01.03.2011, Rs. C-236/09 – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100. Gutachten vom 08.03.2011, Rs. 1/09  – Europäisches Patentgericht, ECLI:EU:C:2011:123. Urteil vom 12.05.2011, Rs. C-391/09  – Runevic-Vardyn und Wardyn, ECLI:EU:C:2011:291. Urteil vom 22.06.2011, Rs. C-399/09 – Landtová, ECLI:EU:C:2011:415. Urteil vom 21.12.2011, Rs C-411/10, C-493/10 – N.S., ECLI:EU:C:2011:865. Urteil vom 26.02.2013, Rs. C-617/10  – Aklagare v. Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:105. Urteil vom 26.02.2013, Rs. C-399/11 – Melloni, ECLI:EU:C:2013:107. Urteil vom 16.04.2013, Rs. C-202/11 – Las, EU:C:2013:239. Urteil vom 30.05.2013, Rs. C-168/13 – Jeremy F., ECLI:EU:C:2013:358. Urteil vom 18.07.2013, Rs. C-584/10 P, C-593/10 P, C-595/10 P – Kommission v. Kadi („Kadi II“), ECLI:EU:C:2013:518. Urteil vom 08.04.2014, Rs. C-293/12, C-594/12  – Digital Rights Ireland und Seitlinger, ECLI:EU:C:2014:238.

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Urteil vom 19.06.2014, Rs. C-507/12 – Saint Prix, ECLI:EU:C:2014:2007. Urteil vom 12.06.2014, Rs. C-156/13  – Digibet und Albers, ECLI:EU:C:2014:1756. Gutachten vom 14.10.2014, Rs. 1/13 – Kindesentführung, ECLI:EU:C:2014:2303. Gutachten vom 18.12.2014, Rs. 2/13 – EMRK-Beitritt II, ECLI:EU:C:2014:2454. Urteil vom 16.06.2015, Rs. C-62/14 – Gauweiler u. a., ECLI:EU:C:2015:400. Urteil vom 08.09.2015, C-105/14 – Taricco u. a., ECLI:EU:C:2015:555. Urteil vom 05.04.2016, Rs. C-404/15, C-659/15 PPU  – Aranyosi, ECLI:EU:C:2016:198. Urteil vom 19.04.2016, Rs. C-441/14 – Dansk Industri, ECLI:EU:C:2016:278. Urteil vom 21.12.2016, Rs. C-203/15, C-698/15  – Tele2 Sverige AB, ECLI:EU:C:2016:970. Urteil vom 21.12.2016, Rs. C-51/15 – Remondis, EU:C:2016:985. Gutachten vom 16.05.2017, Rs. 2/15  – EU-Singapur Freihandelsabkommen, ECLI:EU:C:2017:376. Gutachten vom 26.07.2017, Rs. 1/15  – Fluggastdaten-Abkommen, ECLI:EU:C:2017:592. Urteil vom 05.12.2017, Rs. C-42/17 – M.A.S. und M.B., ECLI:EU:C:2017:936. Gutachten vom 14.02.2017, Rs. 3/15  – Marrakesch-Vertrag, ECLI:EU: C:2017:114. Urteil vom 17.04.2018, Rs. C-414/16 – Vera Egenberger v. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., ECLI:EU:C.2018:257. Urteil vom 25.07.2018, C-216/18 PPU – LM, ECLI:EU:C:2018:586. Urteil vom 11.09.2018, Rs. C-68/17 – IR v. JQ, ECLI:EU:C:2018:696. Urteil vom 11.12.2018, Rs. C-493/17 – Weiss u. a., ECLI:EU:C:2018:1000. Gutachten vom 30.04.2019, Rs. 1/17 – CETA, ECLI:EU:C:2019:341. 2. Gericht der Europäischen Union Urteil vom 21.09.2005, Rs. T-315/01  – Kadi v. Rat und Kommission („Kadi I“), ECLI:EU:T:2005:332. Urteil vom 2.10.2009, Rs. T-324/05 – Gemeinsame Marktorganisation für Zucker, ECLI:EU:T:2009:381. Urteil vom 30.09.2010, Rs. T-85/09  – Kadi v. Kommission („Kadi II“), ECLI:EU:T:2010:418. II. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil vom 01.07.1961, Nr. 332/57 – Lawless v. Irland. Urteil vom 15.11.1996, Nr.  17862/91  – Cantoni v. Frankreich, dt. Übers. in: EuGRZ 1999, S. 193 ff. Urteil vom 18.02.1999, Nr. 24833/94 – Matthews v. Vereinigtes Königreich. Urteil vom 18.02.1999, Nr. 26083/94 – Waite und Kennedy v. Deutschland.

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Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Hrsg.: A. von Bogdandy, A. Peters Bde. 27–59 erschienen im Carl Heymanns Verlag KG Köln, Berlin (Bestellung an: Max-Planck-Institut für Völkerrecht, Im Neuenheimer Feld 535, 69120 Heidelberg); ab Band 60 im Springer-Verlag GmbH 293 Andrej Lang: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der vernetzten Weltordnung. 2020. XXVII, 646 Seiten. Geb. € 119,99 292 Raffaela Kunz: Richter über internationale Gerichte?. 2020. XIV, 275 Seiten. Geb. € 53,49. Open Access 291 Adele Kirschner: Grenzüberschreitende Implikationen eines Menschenrechts auf Wasser?. 2020. XVIII, 257 Seiten. Geb. € 89,99 290 Anne Peters (ed.): Studies in Global Animal Law. 2020. VIII, 183 Seiten. Geb. € 49,99 zzgl. landesüblicher MwSt. Open Access 289 Oliver Strank: Common Concern of Humankind im Völkerrecht. 2019. XXVI, 662 Seiten. Geb. € 119,99 288 Alix Schlüter: Beweisfragen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 2019. XVIII, 500 Seiten. Geb. € 119,99 287 Martin Philipp Sommerfeld: Staatensouveränität und ius cogens. 2019. XVI, 424 Seiten. Geb. € 99,99 286 Laura Hering: Fehlerfolgen im europäischen Eigenverwaltungsrecht. 2019. XXI, 385 Seiten. Geb. € 99,99 285 Marten Breuer (ed.): Principled Resistance to ECtHR Judgments - A New Paradigm?. 2019. XVIII, 350 Seiten. Geb. € 109,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 284 Stephan G. Hinghofer-Szalkay: Verfassungsrechtsentwicklung aus rechtstatsächlicher Perspektive. 2019. XVII, 383 Seiten. Geb. € 109,99 283 Arthur Brunner: Subsidiaritätsgrundsatz und Tatsachenfeststellung unter der Europäischen Menschenrechtskonvention. 2019. XVI, 188 Seiten. Geb. € 53,49. Open Access 282 María Pía Carazo Ortiz: Das Länderberichtsverfahren der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte. 2019. XX, 475 Seiten. Geb. € 109,99 281 Romy Klimke: Schädliche traditionelle und kulturelle Praktiken im internationalen und regionalen Menschenrechtsschutz. 2019. XVIII, 530 Seiten. Geb. € 99,99 280 Elisabeth Veronika Henn: International Human Rights Law and Structural Discrimination. 2019. XVI, 237 Seiten, € 89,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 279 Eike Blitza: Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs auf maritime Grenzen. 2019. XIII, 294 Seiten. Geb. € 89,99 278 Anna Katharina Struth: Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung. 2019. XV, 472 Seiten. Geb. € 109,99 277 Franziska Sucker: Der Schutz und die Förderung kultureller Vielfalt im Welthandelsrecht. 2018. XXIV, 635 Seiten. Geb. € 109,99 276 Clemens Mattheis: Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts aus systemtheoretischer Sichtweise. 2018. XXIV, 557 Seiten. Geb. € 109,99 275 Aydin Atilgan: Global Constitutionalism. 2018. X, 312 Seiten. Geb. € 114,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 274 Andreas Kolb: The UN Security Council Members’ Responsibility to Protect. 2018. XXI 624 Seiten. Geb. € 199,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 273 Matthias Goldmann, Silvia Steininger (eds.): Democracy and Financial Order: Legal Perspectives. 2018. V, 230 Seiten. Geb. € 114,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 272 Jochen Rauber: Strukturwandel als Prinzipienwandel. 2018. XXXIV, 970 Seiten. Geb. € 159,99 271 Anja Höfelmeier: Die Vollstreckungsimmunität der Staaten im Wandel des Völkerrechts. 2018. XX, 356 Seiten. Geb. € 89,99 270 Rudolf Bernhardt, Karin Oellers-Frahm: Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. 2018. XII, 344 Seiten. Geb. € 89,99 269 Philine Wehling: Wasserrechte am Nil. 2018. XVI, 351 Seiten. Geb. € 84,99 268 Katharina Berner: Subsequent Agreements and Subsequent Practice in Domestic Courts. 2018. XLV, 298 Seiten. Geb. € 114,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 267 Josephine Asche: Die Margin of Appreciation. 2018. XII, 255 Seiten. Geb. € 84,99 266 Nele Yang: Die Leitentscheidung. 2018. XI, 362 Seiten. Geb. € 84,99 265 Roya Sangi: Die auswärtige Gewalt des Europäischen Parlaments. 2018. XV, 179 Seiten. Geb. € 69,99 264 Anna Krueger: Die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht. 2018. XII, 434 Seiten. Geb. € 89,99 263 Björnstjern Baade: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter. 2017. XVIII, 543 Seiten. Geb. € 99,99 262 Felix Lange: Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption. 2017. XIV, 403 Seiten. Geb. € 94,99 261 Johanna Elisabeth Dickschen: Empfehlungen und Leitlinien als Handlungsform der Europäischen Finanzaufsichtsbehörden. 2017. XIX, 277 Seiten. Geb. € 84,99

260 Mohamed Assakkali: Europäische Union und Internationaler Währungsfonds. 2017. XV, 516 Seiten. Geb. € 99,99 259 Franziska Paefgen: Der von Art. 8 EMRK gewährleistete Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte im Internet. 2017. XV, 220 Seiten. Geb. € 69,99 258 Tim René Salomon: Die internationale Strafverfolgungsstrategie gegenüber somalischen Piraten. 2017. XXXII, 743 Seiten. Geb. € 129,99 257 Jelena Bäumler: Das Schädigungsverbot im Völkerrecht. 2017. XIX, 379 Seiten. Geb. € 89,99 256 Christopher Peters: Praxis Internationaler Organisationen - Vertragswandel und völkerrechtlicher Ordnungsrahmen. 2016. XXVIII, 498 Seiten. Geb. € 99,99 255 Nicole Appel: Das internationale Kooperationsrecht der Europäischen Union. 2016. XVIII, 608 Seiten. Geb. € 109,99 254 Christian Wohlfahrt: Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts. 2016. XIX, 300 Seiten. Geb. € 84,99 253 Katja Göcke: Indigene Landrechte im internationalen Vergleich. 2016. XVII, 818 Seiten. Geb. € 139,99 252 Julia Heesen: Interne Abkommen. 2015. XXI, 473 Seiten. Geb. € 94,99 251 Matthias Goldmann: Internationale öffentliche Gewalt. 2015. XXIX, 636 Seiten. Geb. € 109,99 250 Isabelle Ley: Opposition im Völkerrecht. 2014. XXIII, 452 Seiten. Geb. € 94,99 249 Matthias Kottmann: Introvertierte Rechtsgemeinschaft. 2014. XII, 352 Seiten. Geb. € 84,99 248 Jelena von Achenbach: Demokratische Gesetzgebung in der Europäischen Union. 2014. XVI, 522 Seiten. Geb. € 94,99 247 Jürgen Friedrich: International Environmental “soft law”. 2014. XXI, 503 Seiten. Geb. € 94,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 246 Anuscheh Farahat: Progressive Inklusion. 2014. XXIV, 429 Seiten. Geb. € 94,99 245 Christina Binder: Die Grenzen der Vertragstreue im Völkerrecht. 2013. XL, 770 Seiten. Geb. € 119,99 244 Cornelia Hagedorn: Legitime Strategien der Dissensbewältigung in demokratischen Staaten. 2013. XX, 551 Seiten. Geb. € 99,99 243 Marianne Klumpp: Schiedsgerichtsbarkeit und Ständiges Revisionsgericht des Mercosur. 2013. XX, 512 Seiten. Geb. € 94,99 242 Karen Kaiser (Hrsg.): Der Vertrag von Lissabon vor dem Bundesverfassungsgericht. 2013. XX, 1635 Seiten. Geb. € 199,99 241 Dominik Steiger: Das völkerrechtliche Folterverbot und der “Krieg gegen den Terror”. 2013. XXX, 821 Seiten. Geb. € 139,99 240 Silja Vöneky, Britta Beylage-Haarmann, Anja Höfelmeier, Anna-Katharina Hübler (Hrsg.): Ethik und Recht - Die Ethisierung des Rechts/Ethics and Law - The Ethicalization of Law. 2013. XVIII, 456 Seiten. Geb. € 94,99 239 Rüdiger Wolfrum, Ina Gätzschmann (eds.): International Dispute Settlement: Room for Innovations? 2013. XIV, 445 Seiten. Geb. € 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 238 Isabel Röcker: Die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Rechts. 2013. XXIII, 410 Seiten. Geb. € 89,95 237 Maike Kuhn: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Mehrebenensystem. 2012. XIII, 325 Seiten. Geb. € 79,95 236 Armin von Bogdandy, Ingo Venzke (eds.): International Judicial Lawmaking. 2012. XVII, 509 Seiten. Geb. € 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 235 Susanne Wasum-Rainer, Ingo Winkelmann, Katrin Tiroch (eds.): Arctic Science, International Law and Climate Change. 2012. XIX, 374 Seiten. Geb. € 84,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 234 Mirja A. Trilsch: Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte im innerstaatlichen Recht. 2012. XIX, 559 Seiten. Geb. € 99,95 233 Anja Seibert-Fohr (ed.): Judicial Independence in Transition. 2012. XIII, 1378 Seiten. Geb. € 169,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 232 Sandra Stahl: Schutzpflichten im Völkerrecht - Ansatz einer Dogmatik. 2012. XXX, 505 Seiten. Geb. € 94,95 231 Thomas Kleinlein: Konstitutionalisierung im Völkerrecht. 2012. XLII, 940 Seiten. Geb. € 149,95 230 Roland Otto: Targeted Killings and International Law. 2012. XVIII, 661 Seiten. Geb. € 109,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 229 Nele Matz-Lück, Mathias Hong (Hrsg.): Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem - Konkurrenzen und Interferenzen. 2012. VIII, 394 Seiten. Geb. € 89,95 228 Matthias Ruffert, Sebastian Steinecke: The Global Administrative Law of Science, 2011. IX, 140 Seiten. Geb. € 59,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 227 Sebastian Pritzkow: Das völkerrechtliche Verhältnis zwischen der EU und Russland im Energiesektor. 2011. XXIV, 304 Seiten. Geb. € 79,95 226 Sarah Wolf: Unterseeische Rohrleitungen und Meeresumweltschutz. 2011. XXIII, 442 Seiten. Geb. € 94,95 225 Clemens Feinäugle: Hoheitsgewalt im Völkerrecht. 2011. XXVI, 418 Seiten. Geb. € 89,95 224 David Barthel: Die neue Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur der Afrikanischen Union. 2011. XXV, 443 Seiten. Geb. € 94,95