Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik: Untersuchungen am Beispiel M. Dummetts und F. D. E. Schleiermachers [1 ed.] 9783428470051, 9783428070053

149 1 32MB

German Pages 291 Year 1990

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik: Untersuchungen am Beispiel M. Dummetts und F. D. E. Schleiermachers [1 ed.]
 9783428470051, 9783428070053

Citation preview

BEATE RÖSSLER Die Theorie des Verslehens in Sprachanalyse und Hermeneutik

ERFAHRUNG

UND

DENKEN

Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 72

Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik Untersuchungen am Beispiel M. Dommetts und F. D. E. Schleiermachers

Von

Beate Rössler

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Rössler, Beate: Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik: Untersuchungen am Beispiel M. Dummetts und F. D. E. Schleiermachers I von Beate Rössler. - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Erfahrung und Denken; Bd. 72) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-07005-4 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-07005-4

Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im Februar 1988 an der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation. Mein besonderer Dank gilt den Professoren Ernst Tugendhat und Lorenz Krüger für die hilfreiche und langmütige Betreuung der Arbeit, ebenso Professor Michael Dummett, der meine Arbeit während eines einjährigen Aufenthaltes in Oxford begleitet hat. Danken möchte ich auch den Berliner Freundinnen und Freunden, namentlich Hannah Ginsborg, Stefan Gosepath, Gottfried Seebaß und Bemhard Thöle, für ihre unerschöpfliche Diskussionsbereitschaft, ihren Rat und ihre Kritik. Zu danken habe ich schließlich der Studienstiftung des deutschen Volkes für ihre langjährige Förderung, ebenso dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für die Finanzierung eines Englandaufenthaltes. Die Idee zu dieser Arbeit entstand während eines Studiumsam King's College, London: Ohne die Erschütterungen, die meinem kontinental-hermeneutisch erzogenen Bewußtsein dort durch die ebenso geduldigen wie hartnäckigen Nachfragen der angelsächsischen Sprachphilosophie zugefügt wurden, wäre diese Arbeit nicht entstanden. Dafür schulde ich besonders Professor Peter Winch und James Hopkins großen Dank. Berlin, im August 1990

Beate Rössler

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens: Das Beispiel Dummetts . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

I. Die Grundzüge der Bedeutungstheorie Dummetts: Verifikationistische vs. wahrheitsfunktionale Semantik .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . .. .

22

II. Verstehen, Wissen und Verifikationismus .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .... ... .. .

37

1. Vorbemerkungen zur Problemgeschichte und Begriffsklärung . . .. . . .

37

2. Die Verifikationistische Bedeutungstheorie und das Problem des theoretischen Wissens . . . . . . . . . .. . . . .. .. .. . . . . .. . . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . . . . .. . . .

44

3. Sprachverstehen als Wissen wie und Wissen daß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

4. Das Verstehen ,.unentscheidbarer Sätze": manifestation-requirement und die Zuschreibung theoretischen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

5. Welches Wissen hat ein Sprecher? Erklärungsmodelle zum Verstehen eines assertorischen Satzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Exkurs: Dummett und der logische Positivismus .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

71

6. Implizites Wissen: Zwischen Behaviorismus und Psychologismus

75

II/. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

I. Das Kontextprinzip . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. .. .. . . . . . . .

86

2. Die Theorie der Kraft und der Aufbau einer Theorie der Bedeutung . . . .

92

3. Das Problem der exakten Referenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Exkurs: Das Problem der Vagheit .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

101

(a) Unterscheidung verschiedener Vagheilstypen .... .. .. .. .... .. .. ..

101

(b) Lösungsvorschläge zum Sorites-Paradox .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

106

(c) Lösung des Sorites-Paradoxes .. .. .. .. ................ .... .. ......

116

(d) Vagheit als generelles Problem natürlicher Sprachen .. .. .. .. .. .

120

4. Eine systematische Bedeutungstheorie im schwachen Sinn .... .. .. ..

125

8

Inhaltsverzeichnis

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Verstehens: Kritik der analytischen Bedeutungstheorie

128

1. Kritik der Voraussetzungslosigkeit ( 1): konstruktive und interpretatorische Fähigkeiten beim Sprachverstehen

131

2. Kritik der Voraussetzungslosigkeit (2): Hintergrundannahmen und Kontextabhängigkeit . . ......

137

3. Kritik der Voraussetzungslosigkeit (3): Lebensformen und mindedness

149

00

00

•••



••

00

00

00

••••••

00 0 0 .

00





00

00

00 • • • • • • • • •

00



00 00

00 . . 00 . . . . . . . . . . 0 0 . . .

00 00 00

••



00 00

00

00 00 . . •

••••••

00



.. ..

00

••••

.

.

.. .. .. •





00

00.

Zwischenbetrachtung: Zur Vergleichbarkeit von sprachanalytischer und hermeneutischer Fragestellung . . . . . . . . . ....... .. .. . . . . .. .. ... . ... . . . . . . . . . . . . 159 B. Untersuchung der hermeneutischen Theorie des Verstehens: Das Beispiel Schleiermachers und Gadamers 167 00000000 00 000000 0000000000 00 000000000000

00

00 00

I. Schleiermachers Hermeneutik: Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . l. Zum geschichtlichen Ort der Hermeneutik Schleiermachers ..

2. Zur Manuskriptlage ... . .. . ..

00 . . 00

00

••

00 • • • • •

00 . . . . .

. . . . . 00

••

00

0000

•••



00.

00 0 0 .

167 167 174

II. Die methodischen Grundzüge der Hermeneutik Schleiermachers . . . . . . . 178 1. Die Einleitung: Einführung in die grundlegenden Prinzipien und Begriffe .....

178

2. Die grammatische Interpretation: Die objektive Seite des Sprachverstehens ...

190

3. Die psychologische Interpretation: Die subjektive Seite des Sprachverstehens .......

195

00 • • • • • • •

00

00

00

00 . . . ,

00

••



•••



••







00

00

•••••

00 • • • • • • • •

••••••

00

00

••••



00 . . . . . . . . . . . . . .

00 . . . . . . 00 . . . . .



00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 0 .

. . . 00

00











. . 00 . . . . . . 00 . . . . •





.. •





















.. .. .. .. •

111. Genauere Analyse der Sprach- und Verslehenstheorie Schleiermachers 200 1. Zur Sprachtheorie: Die Spannung zwischen Identität und Individualität der Sprache .... 201 oooo .

.. .

.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . oo . . . . . . . .

2. Zur Verslehenstheorie ..

00

oo . . . . . . . .

0000 . . . .

00.................

oo...... ............ ........

213

(a) Grammatische und psychologische Interpretation: Die Möglichkeit verschiedener Bedeutungskomponenten . . .......... . . ..... . . 213 (b) Verstehen als Auslegen ... ..

00 0000 . . . . . . . . . . . . 00

(c) Verstehen als Konstruktion .......... . ....

00

00

00 . . . . . . . . . . . 00

oo . . . . . . . . . .

0000

0000 . .

oo.

219 224

Inhaltsverzeichnis

9

IV. Schleiermachers Hermeneutik als Semantik

234

V. Gadamers Philosophische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Die Struktur von Frage und Antwort . ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

250

2. Konventionalität und Individualisierung des Sprechens . . . . . . . . . . . . . .

257

3. Das Problem des hermeneutischen Zirkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

262

Schlußüberlegungen: Elemente einer allgemeinen Theorie des Verslehens

272

Literaturverzeichnis . . . . .. .. . . . . . .. . .. . . .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . .

278

Einleitung Die vorliegende Untersuchung verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen geht es ihr um eine Erldärung der Bedingungen sprachlichen Verstehens; zum andem versteht sie sich als ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Sprachanalyse und Hermeneutik. Diese Zielsetzung kann jedoch in verschiedenen Hinsichten präzisiert werden: Nicht nur ist vorab einiges zur Klärung des Terminus "sprachliches Verstehen" zu sagen (I); auch die Begriffe "Sprachanalyse" und "Hermeneutik" müssen zumindest kurz erläutert werden, um zu klären, in welcher Weise diese philosophischen Ansätze im folgenden relevant sind (II). Und schließlich bedarf das Problem der "Auseinandersetzung" zwischen Sprachanalyse und Hermeneutik der Kommentierung, da ein Versuch der Verbindung beider Ansätze zumindest nicht selbstverständlich ist {III).

I. "Das verstehe ich nicht" - eine solche Äußerung ist in ganz unterschiedlichen Hinsichten sinnvoll: Man kann Ereignisse oder Probleme verstehen oder nicht verstehen, man kann einzelne Äußerungen, Texte, Bücher oder eine Sprache verstehen oder nicht verstehen, ebenso wie Gesten, Handlungen oder Personen. Weiterhin redet man auf der einen Seite vom "pralctischen" Verstehen im Sinne einer Fähigkeit, eines Könnens, eines "Wissens, wie", auf der anderen Seite vom "theoretischen" Verstehen im Sinne eines Sinnverstehens, eines "Wissens, daß". Offensichtlich wird der Ausdruck "Verstehen" in sehr vielfältiger Weise verwendet. I Ich befasse mich in den folgenden Untersuchungen nur mit der 1 Ganz unterschiedlich sind auch die Klassifizierungen, die rum Begriff des Verslehens in der Literatur zu finden sind: So differenziert etwa Schnädelbach ((1983) 139f) zwischen dem "Phänornenverstehen" und dem Verstehen von "Gesten, Äußerungen, Texten", wobei er das Phänomenverstehen im Anschluß an Kant als "Verstehen durch den Verstand" und damit als ein "spontan-konstruktives Verfahren" auffaßt, das Gesten-, Äußerungs- und Textverstehen dagegen als ein "Sinnverstehen" im engeren Sinne, das er im weiteren als hermeneutisches Verstehen beschreibt und analysiert. Kutschera ((1981) 79ff) dagegen, der sich enger an umgangssprachliche Verwendungsweisen anlehnt und versucht, von diesen aus genauere "Formen des· Verstehens" auszumachen, unterscheidet im ganzen neun solche Formen, wobei er die Differenzierungskriterien aus den jeweils unterschiedlichen Erklärungsmustern herleitet, die die Formen des Verslehens rechtfertigen sollen. Patzig ((1980) 57f) unterscheidet wieder anders: Er macht drei Hauptgruppen des Sinnverslehens aus, das "Zusammenhangsverstehen", das "Ausdrucksverstclten" und das "einfühlende Verstehen". An diesen drei mehr oder minder willkürlich ausgewählten Autoren läßt sich verdeutlichen, daß Differenzierungen, die über grobe Verwendungsunterscheidungen hinausgehen, stark geprägt sind vom jeweiligen philosophischen Interesse,

12

Einleitung

Frage nach der Erklärung sprachlichen Verstehens: An der Erklärung des Handlungsverslehens bin ich also ebensowenig interessiert wie etwa an der des Personenverstehens. Diese Bestimmung läßt sich jedoch ebenfalls noch einmal einschränken: Denn mir geht es bei der Frage nach einer Theorie sprachlichen Verstehens um die Erklärung des Verslehens der Bedeutung oder des Sinns einer sprachlichen Äußerung, also um Fragen der Semantik.2 Auch beim Sprachverstehen selbst lassen sich jedoch unterschiedliche Aspekte der Verwendung ausmachen: Diese können ein Hinweis darauf sein, in welcher Weise verschiedene Komponenten des sprachlichen Verstehens für dessen Erklärung relevant sind. Mit einer Beschreibung solcher Komponenten können also in vorläufiger Form Bedingungen genannt werden, denen eine Theorie sprachlichen Verslehens gerecht werden muß. Ich will dies erläutern: Das Verstehen einer Sprache ist zum einen als praktisches Verstehen, als Können, als "Wissen wie" beschreibbar; dies zeigt sich etwa in Wendungen wie "Englisch können" im Sinne von "die Fähigkeit haben, Englisch zu sprechen und zu verstehen". Zum andem istjedoch deutlich, daß es sich beim Sprachverstehen auch um ein theoretisches Verstehen handelt: "Ich verstehe diesen Ausdruck" heißt soviel wie "ich weiß, daß er das und das bedeutet". Auch diese Verwendungsweise von "Verstehen" läßt sichjedoch noch einmal differenzieren. Denn einerseits handelt es sich hier um ein theoretisches Sinnverstehen: Ich verstehe den Sinn eines Satzes, wenn ich weiß, daß er die und die Bedeutung hat; und andererseits um ein theoretisches Absichts- oder Motivverstehen: Ich verstehe den Sinn eines Satzes, wenn ich weiß, was jemand damit zu verstehen geben will, warum ihn jemand geäußert haL3 Weitere Differenzierungen hinsichtlich des Verslehensbegriffs ergeben sich, wenn man nach den Gründen für ein mögliches Nicht- oder Mißverstehen des Sinns einer sprachlichen Äußerung fragt: Man versteht eine Äußerung natürlich dann nicht, wenn man die Bedeutung eines Wortes nicht versteht; dies kann jedoch unterschiedliche Gründe haben. Der einfachste ist der, daß man die Bedeutung des Wortes gar nicht kennt, das Wort noch nie gehört hat. Ein weiterer

mit dem an die Verstehensproblematik herangegegangen wird. Ich ziehe daraus die Konsequenz, nicht selbst noch vorab eine eigene detailli~rt~ Klassifizierung vorzunehmen, sondern erst im Zuge der Theorieuntersuchungen der folgenden Kapitel genau herauszuarbeiten, welche Komponenten und Unterscheidungen bei der Erklärung sprachlichen Verslehens relevant sind. 2 Das heißt also, daß pragmatische oder syntaktische Fragestellungen nur im Zusammenhang mit semantischen eine Rolle spielen werden; damit grenze ich mich auch von möglichen fachwissenschaftliehen Theorien des Verslehens ab, wie etwa soziologischen oder psychologischen. Dies ist zwar, wie sich im Laufe der Untersuchungen zeigen wird, schwierig, aber dennoch aus sachlichen Gründen sinnvoll. 3 Daß das reine Sinn- und das Motivverstehen nicht zwei scharf voneinander zu trennende Verwendungsweisen von "Verstehen" sind, zeigt sich etwa auch daran, daß man eine Rückfrage auf eine Äußerung, die sich auf das Motiv bezieht ("warum hast du das gesagt?"), auch umformulieren kann in die - viel häufiger benutzte - Frage "was meinst du damit?".

Einleitung

13

Grund könnte der sein, daß das Wort im Kontext des geäußerten Satzes oder der Äußerungssituation eine bestimmte Bedeutung hat und sich nur von diesem Kontext her erschließt; dies kann z.B. heißen, daß die verstehende Person mit der Bedeutung eines Ausdrucks etwas anderes verbindet als die sprechende Person. Ein Mißverständnis kann sich aber auch dann ergeben, wenn man etwa die Intention, mit der ein Satz geäußert wurde, falsch versteht (so daß man gar nicht oder falsch auf ihn reagiert). Dies sind jedoch zunächst nur Hinweise auf unterschiedliche Komponenten, die bei der Erklärung des Verslehens sprachlicher Äußerungen beachtet werden müssen. Inwieweit sie alle - und wenn ja, in welcher Weise - für die Frage nach dem Verstehen der Bedeutung oder des Sinns einer Äußerung relevant sind, wird in den folgenden Untersuchungen problematisiert werden. Für die Konzeption einer lbeorie des sprachlichen Verslehens kann man vorläufig folgendes festhalten: Die Theorie muß berücksichtigen, daß das Sprachverstehen eine praktische Fähigkeit ist; sie muß jedoch gleichermaßen erklären können, was es heißt, daß das Verstehen sprachlicher Äußerungen als theoretisches Verstehen ein (propositionales) "Wissen, daß" ist Und vor allem muß sie bei der Erklärung dieses theoretischen Wissens die verschiedenen Aspekte des Verstehens, die sich in den eben skizzierten unterschiedlichen Verwendungen gezeigt haben, berücksichtigen und d.h. möglichst alle semantisch relevanten Komponenten erfassen. II. Ist man nun an der Erklärung des sprachlichen Verslehens interessiert, so sind unterschiedliche Herangehensweisen an die Problematik denkbar: Zum einen könnte man sich dem Thema rein historisch nähern. Das hieße etwa, eine begriffsgeschichtliche Analyse vorzunehmen, um auf diese Weise nicht nur die jeweiligen Positionen zur Theorie des Verstehens, sondern damit auch mögliche Änderungen im Begriff des Verstehens zu beschreiben und so die geschichtlichen Wurzeln dessen, was in der heutigen Philosophie unter Erklärungen des Verslehens verstanden wird, aufzudecken und diese Erklärungsmodelle kritisch zu prüfen. 4 Ein solches rein historisches Vorgehen kann zwar hilfreich sein, bringt je4 Dieses Vorgehen hat durchaus seine Berechtigung: So begründet etwa Wach, von dem eine 1926 erschienene Geschichte des Verslehens stammt, sein Interesse fo1gendennaßen: "Gerade die intensive Beschäftigung mit Verstehensproblemen, die seit einiger Zeit in den einzelnen Geisteswissenschaften, in der Theologie und der Philosophie eingesetzt hat, zeigt, wie wichtig die Aufklärung dieses Problemkreises ist, und wie kurzatmig alle Bemühungen bleiben müssen, aufs Geratewohl eine Theorie des Verslehens mit mehr oder weniger willkürlichen Distinctionen und mehr oder weniger loser Beziehung zu der wirklichen Problemstellung in den verstehenden Wissenschaften aus dem Ännel zu schütteln." (Wach (1926b) 1); Wach zeigt nicht nur, wie infonnativ ein solches Vorgehen ist, sondern auch, daß es sachlich- gegenüber "willkürlichen Distinctionen" - durchaus ertragreich sein kann. Cf. auch Apel (1955), der sich allerdings der Geschichte des Verslehensbegriffs in der abendländischen Philosophie widmet, während Wach sich auf die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts beschränkt.

14

Einleitung

doch die Gefahr mit sich, sich auf die Darstellung geschichtlicher Positionen zu beschränken und dabei die übergreifende sachliche Fragestellung aus dem Blick zu verlieren. Problematisch ist allerdings auch eine rein systematische Herangehensweise: Man könnte ausgehen von einer Bestimmung des sprachlichen Verstehens, indem man etwa unterschiedliche Verslehenssituationen und unterschiedliche Verwendungsweisen des Begriffs analysiert, um von hier aus aufbauend eine Theorie zu entwerfen, die eine vollständige Erklärung der Bedingungen sprachlichen Verstehens darstellen würde. Ein solches Vorgehen läuft jedoch Gefahr, die auch von Wach befürchteten "willkürlichen Distinctionen" vorzunehmen und in vermeintlicher Unvoreingenommenheit genau diejenige für die sachlich richtige Theorie des Verstehens zu halten, die mit dem eigenen philosophischen Ansatz am besten übereinstimmt. Deshalb ist es am sinnvollsten, zugleich historisch und systematisch an die Problematik der Erklärung sprachlichen Verstehens heranzugehen: Historisch in dem Sinn, daß auf vorliegende Theorien des sprachlichen Verstehens zurückgegriffen wird. systematisch in dem Sinn, daß dabei die Frage nach der sachlichen Plausibilität dieser Theorien im Vordergrund steht. Da in der gegenwärtigen Philosophie zwei prinzipiell verschiedene Ansätze zur Theorie des Verstehens vorliegen, liegt es nahe, die sachliche Problematik im Rekurs auf diese beiden Ansätze zu klären: im Rekurs auf Sprachanalyse und Hermeneutik.

Ha Wenn im Titel dieser Arbeit von der "Sprachanalyse" die Rede ist, so ist dies irreführend: Denn weder läßt sich überhaupt so etwas wie eine einheitliche Definition der Sprachanalyse angeben, noch werden im folgenden alle unterschiedlichen Verstehenstheorien, die als sprachanalytische bezeichnet werden können, zur Sprache kommen. Leichter ist es zunächst, anstau einer philosophischen eine "kulturhistorische" Beschreibung der Sprachanalyse oder analytischen Philosophie zu geben:S Dann kann man sagen, daß unter der sprachanalytischen Philosophie diejenige zu verstehen ist, die, ausgehend von Frege, Wittgenstein und dem Wiener Kreis, seit den zwanziger oder dreißiger Jahren in Amerika und England vorherrschend ist. Das heißt zum Beispiel, daß relative Einigkeit über die für eine "philosophische Ausbildung" als relevant erachteten Texte und Themen besteht;6 und es heißt ebenfalls, daß relative Einigkeit darüber besteht, S Cf. Henrich (1977) 281, der dort die Beantwortung der Frage "Was bei& 'analytische Philosophie'?" mit einer solchen "kulturhistorischen Beschreibung" beginnt. 6 So ist es beispielsweise undenkbar, in den anglo-amerikanischen Ländern einen philosophischen Abschluß m machen ohne eine gründliche Ausbildung in Logik und ohne die englischen Empiristen, Frege und Wingenstein studiert m haben; ein vergleichbarer Kanon ließe sich für die kontinentale Ausbildung nur schwer benennen. Cf. Dummett ((1978) 440); cf. Rorty (1982) 214ff, der allerdings noch weiter geht und das einzig verbindende Moment der

Einleitung

15

was als philosophisch interessantes Problem zu gelten hat und vor allem darüber. in welcher Weise solche Probleme zu diskutieren sind. Eine philosophische Bestimmung der Begriffe "Sprachanalyse" oder "sprachanalytische Philosophie" ist dagegen vor ungleich größere Schwierigkeiten gestellt.7 Man kann zunächst zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze innerhalb der analytischen Richtung ausmachen: Auf der einen Seite denjenigen. der die Sprachanalyse in erster Linie als Methode begreift. Aufgabe der Philosophie ist hier die Begriffsklärung. die Analyse besonders der Begriffe. die für unser Denken über die Welt und das Leben eine grundlegende Rolle spielen.8 Das philosophische Interesse ist hier folglich ein rein methodisch-analytisches: Mittels der Analyse der für unser Welt- und Selbstverständnis zentralen Begriffe soll Klarheit darüber erlangt werden. was wir meinen. wenn wir diese Begriffe verwenden. und damit Klarheit über unser Welt- und Selbstverständnis selbst.9 Der zweite Ansatz innerhalb der sprachanalytischen Philosophie läßt sich von seinem Selbstverständnis her als "philosophy of language". im Gegensatz zur "linguistic philosophy". beschreiben: Die wichtigste Aufgabe der Philosphie

Sprachanalyse in einer einheitlichen Bestimmung dessen sieht. was als "philosophische Kompetenz" im Sinne einer bestimmten Argumentationsfähigkeit zu gelten hat. 7 Cf. zur Begriffsbestimmung und "Einteilung" in unterschiedliche philosophische Ansätze z.B. Dwnmett ((1978) 437ff); Baker/Hacker ((1984) 1ff); Henrich (1977); cf. auch Aschenberg, der auf Grund der Thematik seiner Arbeit ("Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie") ebenfalls vor das Definitionsproblem gestellt ist und dieses, wenn auch aporetisch, so doch zumindest ehrlich dadurch löst, daß er zu Beginn - nach einigen klärenden Bemerlcungen - beschlie&, "künftig 'Sprachanalyse' oder 'sprachanalytische Philosophie' als Namen ohne näheren deskriptiven Gehalt für eben die philosophischen Bemühungen [zu] verwenden, auf die in der vorliegenden [sc. Aschenbergs] Arbeit durch diese Namen Bezug genommen wird." (Aschenberg (1982) 27) Dies ist zwar nicht sonderlich befriedigend, aber Ausdruck dessen, wie problematisch eine Definition des Begriffs "Sprachanalyse" ist; ohne willkürliche Festsetzungen vermag eine solche Definition kaum auszukommen. Ich gehe im folgenden weder auf die Anfänge der analytischen Philosophie, besonders im Wiener Kreis, und die seitdem entwickelten unterschiedlichen Modelle philosophischer "Analysis" ein (cf. Henrich (1977) 288), noch auf die Differenzen hinsichtlich der verschiedenen philosophischen Disziplinen; es ist klar, daß bei meiner Fragestellung die Sprachphilosophie im Vordergrund steht und etwa Fragen der Ethik oder der Geistesphilosophie nicht von unmittelbarem Interesse sind. 8 So schreibt etwa Alston: "[T]he primary, if not the whole job of philosophy is conceptual analysis. ( .. ) [l)n our time there has been a growing conviction that the method used in philosophy (.. ) i.r fiued to produce (.. ) clarity and explicitness with respect to the basic concepts in terms of which we think about the world and human life." (Alston (1964) 6f); cf. auch Baker/Hacker (1984) 3f. 9 Zu dieser Richtung gehört nicht nur der späte Wiugenstein, sondern die von ihm ausgehende "ordinary language philosophy" generell, zu der sich Ryle und Austin ebenso wie Alston rechnen lassen; anstatt "ordinary language philosophy" wird hierfür auch der Begriff "linguistic philosophy" verwendet, cf. etwa Dumrnett (1978) 440f und Baker/Hacker (1984) 3ff. Weitere Uteratur, die reichlich vorhanden ist (auch im deutschsprachigen Raum, hier kann man etwa auf v. Savigny verweisen), braucht hier nicht benannt zu werden, da es hier nur auf eine generelle Klassifizierung ankommt.

16

Einleitung

wird hier in der Entwicklung einer allgemeinen Theorie der Bedeutung gesehen; denn nur wenn das Problem der Bedeutung von Sätzen gelöst sei, könne man sinnvoll auch über Fragen der Erkenntnistheorie und Metaphysik reden. Die Semantik bildet hier folglich die Grundlage der gesamten Philosophie. Dabei geht es nicht allein um eine begriffliche Klärung, sondern um die Konzeption einer systematischen Theorie der Bedeutung.10 Wenn man nun die Frage nach der Theorie des Verstehens innerhalb der sprachanalytischen Philosophie stellt, so ist klar, daß in beiden beschriebenen Ansätzen diese Frage auf je unterschiedliche Weise beantwortet wird. Denn wenn das Ziel der Philosophie die Begriffsklärung ist, dann heißt dies für das Problem des sprachlichen Verstehens, daß die hierfür relevanten Begriffe - wie der des Verslehens und der der Bedeutung- analysiert und ihre Verwendungsweise geklärt werden müssen, ebenso wie etwa der unterschiedliche Gebrauch von Sätzen.11 Wenn das Ziel die Konzeption einer Theorie der Bedeutung ist, so sind auch hier wiederum unterschiedliche Modelle der Erklärung möglich, je nachdem, was für die Bedeutung eines Satzes als das zentrale Kriterium begriffen wird, ob etwa der Begriff der Intention, der der Wahrheit oder der der Veriftkation.12 Angesichts dieser Disparatheil der verslehenstheoretischen Ansätze innerhalb der sprachanalytischen Philosophie ist es klar, daß es keinen paradigmatischen Autor geben kann, dessen Verslehenstheorie stellvertretend für die Sprachanalyse diskutiert werden könnte. Da es jedoch ebenso klar ist, daß nicht alle sprachanalytischen Theorien des Verslehens im folgenden eingehender Wttersucht werden können, kommt es darauf an, gute Gründe zu nennen, warum eine bestimmte Theorie für die eingangs skizzierte Fragestellung besonders interessant ist Nun gibt es diese guten Gründe und zwar solche, die dafür sprechen, Michael Dommetts Theorie des Verstehens in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen: Erstens konzipiert Dommett eine Theorie der Bedeutung als Theorie des Verstehens: Fragen der Bedeutung lassen sich nach Dommett am besten als Fragen danach analysieren, was jemand versteht, der einen Ausdruck oder einen Satz versteht. Da es in dieser Arbeit um die Möglichkeit der Erklärung sprachlichen Verstehens geht, kann Dommetts Theorie auch in dieser Hinsicht als die interessanteste gelten.13 Zweitens liegt mit Dommetts Konzeption eine systematische Theorie des Verslehens vor; da die vorliegenden Untersuchungen an der Frage 10 Cf. Dummett (1978) 454f; cf. auch Tugendhat (1976) bes. 53ff. Trotz verschiedener Differenzen hinsichtlich des Anspruchs, der mit der Konzeption einer Bedeutungstheorie erhoben wird, lassen sich zu dieser Richtung auch Quine, Davidson und etwa Putnam rechnen. 11 Cf. dazu z.B. Willgenstein und Austin; strenggenommen kann man hier jedoch von einer TMorie des Verstehens nicht sprechen. 12 Cf. zum ersten Grice, zum zweiten Davidson und zum dritten Dummett. 13 Ich gebrauche im folgenden die Begriffe "Ventehenstheorie" und "Bedeutungstheorie" als bedeutungsgleich, außer in solchen Kontexten, in denen es gerade auf eine Differenz zwischen beiden ankommt; dies wird dann jedoch ausdrücklich erwähnt werden.

Einleitung

11

nach einer Theorie des Verstehens orientiert sind, liegt es nahe, sich auf sprachanalytischer Seite mit einer Position auseinanderzusetzen, die beansprucht, eine solche systematische Theorie zu entwickeln.l 4 Zum dritten kann man sagen, daß Dommett mit seiner Konzeption einer systematischen Bedeutungstheorie einer der radikalsten Theoretiker auf sprachanalytischer Seite ist Er vertritt mit seiner Theorie den Anspruch, eine Bedeutungstheorie müsse "fullblooded" sein, das heißt. sie dürfe keinerlei für die Erklärung der Bedeutung und des Verstehens von Ausdrücken relevanten Begriffe in dieser Erklärung selbst voraussetzen. Mit diesem starken Anspruch auf Voraussetzungslosigkeit der Theorie ist bei Dommett der Anspruch auf vollständige und durchgängige Systematizität der Theorie des Verslehens verbunden: Sämtliche für das Verstehen und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke relevanten Faktoren müssen in einer Theorie des Verslehens systematisierbar sein. Im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung lassen sich, so kann man vermuten, typische Probleme des sprachanalytischen Ansatzes sehr viel besser zur Sprache bringen, als dies mittels der Diskussion einer weniger "anspruchsvollen" Theorie geschehen könnte. Man könnte zwar der Ansicht sein, es sei sinnvoller, da es in dieser Arbeit auch um eine Auseinandersetzung zwischen Sprachanalyse und Hermeneutik geht, diejenige Theorie der sprachanalytischen Richtung zu diskutieren, die prima facie am meisten Ähnlichkeit mit "der" hermeneutischen vermuten läßt, um so eventuelle Überschneidungen und Verbindungen der verslehenstheoretischen Fragestellungen herausarbeiten zu können. 15 Doch halte ich die Auseinandersetzung mit einer ganz der sprachanalytischen Tradition verpflichteten Theorie wie derjenigen Dommetts für interessanter, da auf diese Weise an einer Position die sprachanalytische Herangehensweise an das Problem sprachlichen Verstehens besonders gut verdeutlicht werden kann und so gerade die Differenzen zwischen Sprachanalyse und Hermeneutik, die unbestreitbar vorhanden sind, besser zum Ausdruck gebracht werden können. Und schließlich halte ich es deshalb für sinnvoll, sich mit Dommetts Theorie ausführlich auseinanderzusetzen, weil diese zumindest in den Grundzügen meiner Meinung nach die sachlich plausibelste der gegenwärtig vorliegenden sprachanalytischen Verslehenstheorien ist. Da Dommett im Gegensatz zu vielen eher an Detail- und Spezialproblemen interessierten Sprachanalytikern eine Gesamtkonzeption einer Theorie des Verstehens vorgelegt hat, kann man zudem erwarten, daß er auch den in (1.) vorläufig formulierten Bedingungen einer Theorie sprachlichen Verstehens am ehesten gerecht wird.

14 Cf. z.B. Durnmett (1978) 442f.454; cf. auch Henrich, der Dummett als einen der "Hauptvertreter systematischer semantischer Analyse" bezeichnet (Henrich (1977) 289). 15 Auf einen solchen Weg weist etwa Apel hin ((1981) 80f).

18

Einleitung

II b. In der Hermeneutik sieht die Problemlage vergleichsweise übersichtlich aus: Zwar bezeichnet der Begriff selbst zum einen eine philosophische Disziplin und zum andern eine "Schule", die sich primär durch die Orientierung an einer bestimmten Tradition charakterisieren läßt. Zumindest in Bezug auf die Disziplin ist jedoch eine klare Definition möglich: Die Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen- an dieser Begriffsbestimmung hält die gesamte hermeneutische Tradition fest Geändert hat sich über die Jahre und Jahrhunderte hin jedoch die Bestimmung dessen, was verstanden werden soll und die Auffassung darüber, mit welcher Zielsetzung eine Lehre des Verstehens zu konzipieren ist. Als Schule läßt sich die Hermeneutik dort begreifen, wo sie beginnt, die Rolle der Leitfunktion für die gesamte Philosophie zu beanspruchen. Beide Entwicklungen hängen jedoch eng zusammen und lassen sich am ehesten erläutern anhand der Geschichte der Änderung des hermeneutischen Aufgabengebietes: 16 Gehörten hierzu zunächst nur die biblischen Texte, die am Leitfaden der kirchlichen Lehre ausgelegt wurden, so erweiterte sich der Kanon der hermeneutisch interessanten Texte im 18. Jahrhundert zunächst um die Texte der antiken Klassiker. Erst bei Schleiermacher kam jedoch insofern eine Wende, als es in seiner henneneutischen Konzeption um die Erldärung des Verslehens jeder möglichen sprachlichen Äußerung geht, seien dies nun klassische Texte oder einfache Gespräche. Die Hermeneutik des 19. Jahrhunderts gewinnt bei Dilthey wiederum eine andere Zielsetzung, da ihm die Hermeneutik dazu dient, den Geisteswissenschaften ein erkenntnistheoretisches und methodologisches Fundament zu verschaffen: Fo~~erichtig werden mit der henne!'Cutischen Theorie nicht mehr allein sprachliche Außerungen, sondernjegliche "Außerungen des Lebens" erlaßt Mit Heidegger und Gadamer erfährt diese Entwicklung der Hermeneutik ihre konsequente Fortführung: Das "Verstehen" bezieht sich nicht mehr nur auf sprachliche Äußerungen (Schleiermacher) oder "Lebensäußerungen" generell (Dilthey), sondern wird zur Daseinsform des Menschen schlechthin. Deshalb sucht Gadamers "philosophische Hermeneutik" die Universalität des hermeneutischen Verstehens aufzuzeigen und stellt die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens als diejenige nach der Möglichkeit "menschlicher Welterfahrung" überhaupt 17

16 Ich fasse mich hier recht kurz; zur Entwicklung der Hermeneutik werde ich in der "Zwischenüberlegung" und in den einleitenden Kapiteln zu Schleiermachers Hermeneutik noch einiges sagen; cf. zur Geschichte der Hermeneutik allgemein Ebeling (1959) und Gadamer (1974). 11 Cf. Gadamer (1975) XVTI; ich weise nur am Rande auf die hermeneutischen Auseinandersetzungen im Anschluß an Gadamer (etwa bei Habermas, Apel und Bubner) hin, da sie für die spezielle Frage nach einer Theorie sprachlichen Verslehens nur an einigen Punkten eine Rolle spielen und ihre Positionen dann, wenn es sachlich erforderlich ist, berücksichtigt werden.

Einleitung

19

Man kann also in der Geschichte der Hermeneutik eine Ausweitung ihres "Zuständigkeitsbereiches" und damit eine Änderung ihrer Aufgabenstellung feststellen;l8 auch hier läßt sich deshalb, wie in der sprachanalytischen Philosophie, keine Theorie als paradigmatisch für die Hermeneutik ausmachen. Allerdings wird die Entscheidung, welche Theorie für die vorliegende Fragestellung am interessantesten ist, insofern leichter gemacht, als sich die Hermeneutik mehr und mehr von der eingeschränkten Fragestellung nach einer Theorie sprachlichen Verstehens fortentwickelt hat. Nur bei Schleiermacher findet sich eine Konzeption, die den Anspruch hat, eine Theorie des Verstehens sprachlicher Äußerungen zu sein. Um genau diese Frage, um die Frage nach einer Theorie sprachlichen Verstehens, soll es in den folgenden Untersuchungen gehen: Deshalb wird die Diskussion der Theorie Schleiermachers im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Hermeneutik stehen und Gadamers Entwurf einer allgemeinen philosophischen Hermeneutik nur zur Klärung von bei Schleiermacher offengebliebenen Fragen herangezogen werden.

m. Während die Traditionen der Sprachanalyse einerseits und der Hermeneutik andererseits in den ersten sechzig Jahren dieses Jahrhunderts so gut wie getrennt nebeneinander bestanden, ergab sich in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren hinsichtlich verschiedener Fragestellungen eine Auseinandersetzung: l9 Vorwiegend kritisch wurde die Debatte von analytischer Seite aus auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie geführt, wo die Kritik an der hermeneutischen "Methode des Verstehens" und an der Begründung der verstehenden Wissenschaften den Ausgangspunkt bildete und man sich mit hermeneutischen Positionen in erster

18 Allerdings muß man dabei beachten, daß es neben dieser Entwicklung in der Philosophie weiterhin die rein literaturwissenschaftlich orientierte Hermeneutik gibt: Als eine neben möglichen anderen Methoden der Textauslegung hat sie mit der - philosophischen - Frage nach der Erklärung der Bedingungen sprachlichen Verslehens jedoch insofern nicht direkt etwas zu tun, als sie zwar auf die Methode der Textauslegung, nicht jedoch auf die prinzipielle Möglichkeit des Verslehens reflektiert; cf. z.B. Weimar (1980). Auch die Entwicklung der theologischen Hermeneutik, etwa bei Bultmann, ist für meine Fragestellung nicht relevanL Verwiesen sei hier auch auf die hermeneutischen Entwürfe Bettis (Betti (1962)) und Hirschs (Hirsch (1967)), deren Ansätze jedoch im folgenden allenfalls am Rande Berücksichtigung finden können. 19 Die Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung wurde inzwischen oft und auf ver· schiedenen Seiten gesehen, cf. etwa Tugendhat ("[M]ay a "fusion of horizons" between analyti· cal philosophy and hermeneulies be in the offing7" (1978) 565), cf. auch (1970) 3f; cf. auch z.B. Apel (1981) 80f. Gadamer allerdings scheint eine eher resignierte Einstellung zu diesem Dialog zu haben, wenn er meint, "[d]ie spanischen Stiefel der analytischen Philosophie bleiben mir allzu unbequem." (Gadamer (1985) 11) Cf. auch Rorty (1979), der eine Kritik des analytischen Philosophiebegriffs mit einer Wende zur Hermeneutik verbindet; allerdings kann Rorty auch nicht im strengen Sinn als Sprachanalytiker gelten, da er ohnehin immer mehr der Tradition des amerikanischen Pragmatismus verpflichtet war und sich besonders in den letzten Jahren sehr kritisch mit sprachanalytischen Positionen auseinandergesetzt hat, cf. auch Rorty (1986).

20

Einleitung

Linie deshalb auseinandersetzte, um deren Unzulänglichkeit aufzuzeigen.20 Motiviert durch ein konstruktives Interesse war dagegen auf henneneutischer Seite die Berücksichtigung analytischer Positionen in der Sozialphilosophie Frankfurter Provenienz:21 Hier sah man in der Aufnahme einzelner verstehenstheoretischer Positionen der Sprachanalyse (wie etwa der Sprechakttheorie) vor allem die Möglichkeit, die eigene kommunikationstheoretische Konzeption zu plausibilisieren. Wichtiger jedoch ist, daß auch bei dem eigentlichen und zentralen Thema der Sprachanalyse wie der Hermeneutik, nämlich dem der Sprach- und Verstehenstheorie, durch verschiedene Einzeluntersuchungen Diskussionsprozesse zwischen den Richtungen in Gang gekommen sind: Hier spielen besonders Apels Beiträge zu einer konkreten, an Sachproblemen orientierten Auseinandersetzung zwischen Sprachanalyse und Henneneutik eine prominente Rolle.22 Dabei orientiert sich Apel allerdings in erster Linie an der Sprachphilosophie des frühen und des späten Wittgenstein und diskutiert hier vor allem Probleme der verslehenstheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften; die Auseinandersetzung mit nachWittgensteinschen Entwürfen zur Verslehenstheorie spielen nur am Rande eine Rolle. Neben Apel haben sich noch eine Reihe anderer Autoren in Einzeluntersuchungen anband der Frage nach einer Erklärung sprachlichen Verstehens um einen Dialog zwischen sprachanalytischen und henneneutischen Ansätzen bemüht: Zu nennen sind hier etwa Künne und Markis,23 deren Arbeiten jedoch eher am Nachweis von Ähnlichkeiten zwischen den Ansätzen interessiert sind.24 Die vorliegenden Untersuchungen verstehen sich ebenfalls als ein Beitrag zu dieser Auseinandersetzung, der orientiert ist an der Frage nach einer Theorie des Verstehens; begründet ist hier das Interesse an einer Verbindung von sprachanalytischer und henneneutischer Tradition in der Meinung, daß der in der Sprachanalyse vorausgesetzte Begriff des Verslehens in dem Sinn verlc:ürzt ist, daß be-

20 Zu nennen sind hier etwa Abel (1953), Stegmüller (1969) 360ff und (1973); in diesen Kontext gehört - von der gegenüber Ansätzen wie denen Stegmüllers kritischen Seite her • auch Skjervheim, der als einer der ersten (1959) auf die methodologische Problematik des Verstehens in den (Sozial-)Wissenschaften verwiesen hat; cf. mr wissenschaftstheoretischen Rolle der Hermeneutik auch Krügen Kritik an Gadamer (1970) und Bubner (1973). 21 Ich verweise hier nur auf die Arbeiten von Habermas (cf. z.B. Habermas (1970), (1971a), (1981)); im Anschluß an ihn hat sich auch in Amerika eine Auseinandersetzung zwischen dort besonders der pragmatischen Tradition und der Hermeneutik entwickelt (cf. z.B. Thompson (1982)). 22 Zu nennen ist hier insbesondere Apel (1973a) 167ff.335ff; (1973b) 28ff; cf. auch Apels Beitrag mr "Edtlären-Verstehen-Kontrovene" Apel (1979); cf. auch Apel (1981). 23 Künne (1981); Markis (1979). 24 So versucht etwa KüMe m zeigen, daß in der Hermeneutik Theorien vorliegen, die denen von Quine und Davidson in vielen Punkten ähnlich sind; er untersucht im zweiten Teil seines Aufsatzes vor allem das "principle of charity" im Vergleich mit Meiers Hermeneutik, während Markis anband der Übersetzungsproblematik Quine mit einer "dialektischen Philosophie der Übersetzung" in Verbindung m bringen sucht.

Einleitung

21

stimmte Komponenten oder Dimensionen des Verstehens durch ihn nicht erfasst werden können. Dabei liegt das Motiv für den V ersuch einer Korrelierung der beiden Traditionen in der Erwartung, daß in der Hermeneutik verslehenstheoretische Ansätze vorliegen, die in der Sprachanalyse nicht beachtet werden und die Chance bieten, nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zur sprachanalytischen 1beorie des Verstehens begriffen zu werden. Hinsichtlich eines solchen systematischen verslehenstheoretischen Interesses muß man konstatieren, daß die bisher vorliegenden Arbeiten nicht allzu ertragreich sind;25 dies ist oft vor allem darin begründet, daß vorschnell Parallelen in den Fragestellungen gezogen werden und dann die eine oder andere Theorie als die überlegene herausgestellt wird. Um dies zu vermeiden, halte ich es für notwendig, sowohl die sprachanalytische wie die hermeneutische Theorie in ihrem eigenen Recht darzustellen, um so eine möglichst unvoreingenommene Prüfung der Ansätze zu ermöglichen. Ein solches Vorgehen hat allerdings zur Folge, daß auch sachlich interessante Probleme in der Diskussion der Theorien zur Sprache kommen werden, die die Frage der Auseinandersetzung zwischen Sprachanalyse und Hermeneutik nicht unmittelbar berühren; und natürlich kann es im folgenden nur darum gehen, bestimmte notwendige Elemente einer allgemeinen Theorie des Verstehen zu entwickeln und nicht darum, eine solche Theorie schon als ganze zu entwerfen. Ziel des Versuchs der Verbindung von Elementen sprachanalytischer und hermeneutischer Verslehenstheorie ist hier also die Ergänzung der einen durch die andere Theorie: Es geht hier nicht um den Nachweis, die eine sei "besser" als die andere, auch nicht darum, zu zeigen, daß "eigentlich" beide dasselbe Anliegen haben, sondern darum, anband von Beispielen zu untersuchen, inwieweit Defizite auf beiden Seiten durch die jeweils andere ergänzt werden können. Dabei werde ich sowohl bei der Diskussion der sprachanalytischen, wie auch bei der der hermeneutischen Theorie des Verstehens besonderes Gewicht auf die möglichen Aporien legen, in die die jeweiligen Ansätze führen können; dieses eigentlich "unhermeneutische" Prinzip- den Gegner nicht so stark wie irgend möglich zu machen - mag durch das übergeordnete Interesse, die Gegner zusammenzuführen, gerechtfertigt sein.

25 Allerdings muß darauf verwiesen werden, daß die vorliegende Arbeit zu Beginn des Jahres 1988 abgeschlosen wurde; die seither erschienene Literatur zum Thema konnte deshalb nicht berücksichtigt werden.

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens: Das Beispiel Dommetts I. Die Grundzüge der Bedeutungstheorie Dummetts: Verifikationistische vs. wahrheitsfunktionale Semantik In diesem ersten Kapitel soll ein Überblick über Dwnmetts Bedeutungstheorie gegeben werden, um einen Eindruck von ihren Voraussetzungen, ihrer Struktur und ihren Schwierigkeiten zu vermitteln - sowohl im Blick auf theorieimmanente Probleme wie auch im Blick auf die übergreifende Fragestellung dieser Untersuchungen. Einzelne Probleme, die sich besonders aus der Perspektive des Verslehensbegriffs ergeben, werden in den anschließenden Abschnitten detaillierter diskutiert werden; doch auch in diesem ersten Überblick geht es nicht in erster Linie um eine erschöpfende Darstellung von Dommetts Position, sondern vielmehr darum, eine Grundlage zu schaffen für eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Theorie der Bedeutung als einer Theorie des Verstehens. 1

Dabei stellt sich zunächst die Frage, worin nach Dommett die Aufgabe einer Bedeutungstheorie besteht. was eine solche Theorie zu leisten hat; Dommett bestimmt die Aufgabe einer Theorie der Bedeutung folgendermaßen:

"[A] theory of meaning is a theory of understanding. What we have to

give an accoont of is what a person knows when he knows what a word or expression means, that is, when he onderstands it The capacity to ose a language is a highly complex ability. Our difficolty lies, not so moch in explaining how human beings acqoire this ability, as in giving any clear account of what the ability consists in, when acqoired ( ..)." (Dommett (1981) 92) (Hervorhebong B.R.)2 1 Von den zahllosen Darstellungen von und Auseinandersetzungen mit Dummetts Philosophie nenne ich hier nur die m.E. ergiebigsten: Grayling (1982) Kap.7-9; sämtliche Aufsätze zu sprachphilosophischen Themen von McDowell, besonders (1976), (1981) und (1987); Putnam (1978), (1979a) und (1979b); Platts (1979); Wright (198la). Die von J. Schulte übersetzten Bologneser Vorlesungen Dummetts über die "Ursprünge der analytischen Philosophie" (Dummett (1988)) sind erst nach Fertigstellung meiner Arbeit erschienen und konnten deshalb auch nicht mehr berücksichtigt werden. Da Dummett in diesen Vorlesungen jedoch nichts entscheidend Neues hinsichtlich seiner Bedeutungstheorie entwickelt, hätte auch eine Berücksichtigung dieser neuesten (bisher nur auf deutsch erschienenen) Veröffentlichung nichts Wesentliches an den folgenden Untersuchungen geändert. 2 Cf. auch Dummen (1975) 99; (1978b) 225; (1982) 61f; (198la) 74ff.81; (1978) 380f; u.ö. Schon in dieser Bestimmung der Aufgabe dessen, was eine Bedeutungstheorie zu leisten hat,

I. Die Gnmdzüge der BedeutiDlgstheorie Dummetts

23

"What we need to have is an account of what it is to know a language; and a speak:er of a Janguage derives bis understanding of any sentence of that Janguage from bis knowledge of the meanings of the words. (..) Of course, what he has when he knows the language is practical knowledge, knowledge how to speak: the Janguage: but this is no objection to its representation as propositional knowledge; mastery of a procedure, of a conventional practice, can always be so represented, and, whenever the practice is complex, such a representation often provides the only convenient mode of analysis of it. Thus what we seek is a theoretical representation of a practical ability." (Dummett (1976) 69) (Hervorhebung B.R.) Eine Bedeutungstheorie muß folglich die Bedeutungen von Worten und Sätzen erklären und tut dies dadurch, daß sie das Wissen angibt, das eine Person hat, wenn sie eine Sprache kennJ,3 sie spricht und versteht. Da nun das in der Bedeutungstheorie beschriebene propositionale Wissen kein explizit verbalisierbares Wissen sein muß, muß es den Sprechern einer Sprache als implizites Wissen zugeschrieben werden. Zudem repräsentiert die Bedeutungstheorie "Wissen wie" durch "Wissen daß" (Dummett (1978) 128) und muß deshalb auch in der Lage sein, zu zeigen, worin das jeweils zugeschriebene propositionale Wissen besteht, d.h. unter welchen Bedingungen dieses Wissen rechtmäßigerweise zugeschrieben werden kann: "If we represent a speaker's understanding of a word as bis knowledge of a certain proposition, our account rernains incomplete unless we also explain in what an implicit knowledge of that proposition consists, that is, what is to count as a manifestation of that knowledge." (Dummett (1978) 129) Halten wir also zunächst folgende Punkte fest:

1. Eine Bedeutungstheorie erklärt die Bedeutung von Ausdrücken (Worten, Sätzen), indem sie erklärt, was jemand weiß, wenn er die entsprechenden Ausdrücke versteht. 2. Die praktische Fähigkeit des Sprechensund Verslehens einer Sprache wird in der Bedeutungstheorie als propositionales Wissen dargestellt

unterscheidet sich Dummen natürlich von anderen Bedeutungstheoretikern wie etwa Grice oder Bennett. 3 Aus der Ambiguität des englischen "to know" - im deutschen sowohl "wissen" wie auch "kennen" -entstehen Schwierigkeiten: So wird Dummetts "to know" etwa in der deutschen Übersetzung der Auseinandersetzung Chomsky's mit Dummett (Chomsky (1981) 113ff) mit "kennen" übersetzt, was den Disput, der ja gerade um den Wissensbegriff geht, teilweise unverständlich erscheinen läßL Es ist meiner Ansicht nach deutlich, daß Dummetts "knowledge" und "to know" immer mit "Wissen" oder "wissen" zu übersetzen ist, da mit Hilfe des Wissensbegriffs gerade die für ihn entscheidende Verbindung hergestellt wird zwischen Epistemologie und Semantik, der (theoretische) Aspekt des Wissens gegenüber dem (praktischen) Aspekt des Kennens also eindeutig im VordergriDld stehL

24

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

3. Dieses Wissen ist implizites Wissen, i.e. es muß von seiten des Sprechers nicht vollständig verbalisierbar sein. 4. Das implizite Wissen muß sich jedoch in irgendeiner Weise manifestieren können, da wir sonst nicht sagen könnten, worin es besteht, d.h. keine Angaben darüber machen könnten, ob jemand die Sprache (oder ein Fragment von ihr) versteht Bevor die Theorie nun genauer expliziert wird, ist es nützlich, einen Umweg zu machen: Denn Dummett entwickelt seine Bedeutungstheorie in kritischer Auseinandersetzung mit der wahrheitsfunktionalen Theorie der Bedeutung, deren Grundidee zunächst und klassisch von Frege (und dem frühen Wittgenstein) stammt,4 und die dann später, im Anschluß an Tarski und Quine, in modiftzierter Form von Davidson ausgearbeitet wurde. Kurz - und aus der Perspektive Dummetts - zusammengeraßt sind die Hauptpunkte dabei die folgenden:5 Man kann nach Davidson vier Bedingungen ausmachen, die in einer Bedeutungstheorie erfüllt sein müssen:

1. Sie muß uns die Bedeutung eines jeden Satzes der Sprache L (die künstliche oder natürliche Sprache, die wir analysieren) angeben können. 2. Sie muß zeigen, wie die Sätze von L semantisch aus einem endlichen Grundstock von Worten aus L zusammengesetzt sind und zwar mit Hilfe von Regeln, die diese Worte miteinander kombinieren. 3. Sie muß zeigen, daß sie für die Angabe der Bedeutung der L-Sätze keine reicheren Begriffe braucht als diejenigen, aus denen sich die L-Sätze zusammensetzen. 4. Sie muß sich empirisch testen lassen können. Davidson beansprucht nun, daß eine Wahrheitstheorie der Art, wie Tarski sie entwickelt hat, alldiesen Forderungen gerecht werden kann und diese Wahrheitstheorie zugleich eine Theorie der logischen Form von L darstellt Da für meine Fragestellung die Details der Theorie nicht unmittelbar wichtig sind, genügt es, folgendes festzuhalten: Haben wir eine Sprache L mit einer endlichen Anzahl von Axiomen und mit den logischen Konnektiven und Quantoren, dann liefert uns eine Wahrheitstheorie fürLeineunendliche Menge von Theoremen (von "T-Theoremen") der Form (T) '"s' ist wahr genau dann, wenn p",

4 Zu sagen, diese Theorie stamme von Frege, stimmt natürlich nur cum grano salis, da er an einer Bedeutungstheorie für natürliche Sprachen keinerlei Interesse hatte. Ich werde im Folgenden von Davidsons Theorie als einer "wahrheitsfunktionalen" Theorie sprechen, was evtl. irreführend klingt: Gemeint ist die im folgenden diskutierte Bedeutungstheorie im Sinne Davidsons, in der die Bedeutung von Sätzen mittels ihrer Wahrheitsbedingungen angegeben wird. 5 Cf. Davidson (1984) bes. 1-75; die Literatur zu Davidson ist mittlerweile unüberschaubar; eine gute Sammlung bieten jedoch Lepore (1986), Platts (1980) Evans/McDowell (1976); cf. zum folgenden besonders Grayling (1982) 222ff.

I. Die Grundzüge der Bedeutungstheorie Dumrnetts

25

wobei 's' ein Satz der Objektsprache L ist und p seine Übersetzung in die Metasprache (die Sprache der Theorie) -das klassische Beispiel: "'Schnee ist weiß' ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist". Auf diese Weise erhalten wir also für jeden Satz aus der SpracheLeine Übersetzung in die Metasprache, die uns die Bedeutung des Satzes angibt und gelangen in Verbindung mit zusätzlichen theoretischen und empirischen Annahmen (die Referenz und das Sprachverhalten betreffend) zu einer vollständigen Bedeutungstheorie für die Sprache L. Ich möchte drei Charakteristika einer solchen wahrheitsfunktionalen Bedeutungstheorie hervorheben, die in der folgenden Kritik Dommetts an dieser Theorie die entscheidende Rolle spielen werden: 1. Die Theorie ist mit Dommetts Worten "bescheiden" ("modest"), da sie a) zunächst nicht mehr ist als ein Übersetzungsmanual, das das Verstehen der Metasprache immer schon voraussetzt und b) den Wahrheitsbegriff als primitiv annimmt.

2. Die Theorie beschreibt nur das propositionale Wissen der potentiellen LSprecher, ohne den Anspruch zu erheben, die Verbindung zwischen dem "Wissen daß" (ein Satz unter bestimmten Bedingungen wahr ist) und dem "Wissen wie" (der Satz in der Kommunikation in L zu gebrauchen ist) aufzuzeigen. 3. Die Theorie geht von der durchgängigen Gültigkeit des Bivalenzprinzips aus, d.h. des Prinzifs, daß jeder Satz in bestimmter Weise ("determinately") wahr oder falsch ist Wenn wir einen Satz dann (und nur dann) verstehen, wenn wir wissen, unter welchen Bedingungen er wahr ist (in der eingeschränkten Weise der T-Theoreme), dann heißt dies, daßjeder Satz (den wir verstehen) tatsächlich wahr oder falsch ist (obwohl wir natürlich nicht wissen müssen, ob er wahr oder falsch ist). Dies wiederum bedeutet. daß wir auch von Sätzen, deren Wahrheitswert wir nicht kennen und auch prinzipiell nicht erkennen können, annehmen müssen, daß sie wahr oder falsch sind, ohne daß wir je entscheiden könnten, ob sie wahr oder falsch sind. Dommett selbst konstatiert. daß die wahrheitsfunktionale Semantik auch auf ihn selbst zunächst einen überzeugenden Eindruck macht: "It is unnecessary to labour the observation that an affirmative answer to these questions [sc. does the meaning of a sentence consist in its truthconditions?] represents by far the most popular approach, among those philosophers who would not jettison the concept of meaning altogether, to an account of that concept, and that it has been explicitely contended for by Frege, by the Willgenstein of the Tractatus, and by Davidson. I am far from being certain that an affirmative answer is wrong. I am quite 6 Strenggenommen könnte man natürlich sagen, daß dies nicht notwendig so sein muß insofern, als man behaupten könnte, daß das Bivalenzprinzip weder in der Objekt- noch in der Metasprache gültig ist; dies ist jedoch ein Einwand, den weder Davidson noch Dummen diskutieren.

26

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

certain, however, that such an answer faces formidable difficulties, and that we have no right to assume it correct until we have shown how it is possible to overcome them." (Dummett (1976) 67) Die "formidable difficulties", von denen Dommett spricht. betreffen nicht so sehr pragmatische Probleme der Machbarkeil und Ausführung des wahrheitsfunktionalen Programms, sondern vielmehr "difficulties of principle, that face us at the very outset of the enterprise." (Dummen (1976) 68) Ausgangspunkt der Kritik Dommetts ist dabei seine Überzeugung, daß eine Bedeutungstheorie im Stile Davidsons nicht das leisten kann, was sie eigentlich zu leisten hätte; daß sie nämlich den oben beschriebenen Anforderungen, die nach Dommett eine Theorie der Bedeutung erfüllen muß, aus prinzipiellen Gründen nicht gerecht werden kann: Sie kann keine Rechenschaft darüber abgeben, worin das Wissen besteht, das wir haben, wenn wir die Bedeutung eines Ausdrucks verstehen, da hierzu die bloße Konstatierung der T-Theoreme nicht ausreicht Ich will jetzt im Anschluß an die genannten drei Charakteristika von Davidsons Bedeutungstheorie Dummeus Kritik an der wahrheitsfunktionalen Semantik mit einer ersten Darstellung der wichtigsten Eigenschaften seiner eigenen Theorie verbinden.

1. Das erste Charakteristikum von Davidsons Semantik ist das der "Bescheidenheit": Eine bescheidene Bedeutungstheorie geht. so Dummen, davon aus, daß "to demand of a theory of meaning that it should serve to explain new concepts to someone who does not already have them is to place too heavy a burden on it. and that all that we can require of such a theory is that it give the interpretation of the langnage to someone who already has the concepts required." (Dummett (1975) 101t) Eine bescheidene Bedeutungstheorie weist insofern dieselben Schwächen auf wie ein Übersetzungsmanual, als beide immer schon ein Verstehen bestimmter primitiver Begriffe voraussetzen müssen und deshalb Sprachverstehen nicht voraussetzungslos erklären können. Dommett expliziert dies folgendermaßen: "A translation manualleads to an understanding of the translated langnage only via an understanding of the language into which the translation is made, an understanding which it does not itself supply; hence, we may say, it does not directly display in what an understanding of the translated langnage consists. But a modest theory of meaning, likewise, Ieads to an understanding of the object-language via a grasp of the concepts expressed by its primitive expressions, which it does not itself explain; it seems, therefore, that we should similarly say that such a theory of meaning does not fully display in what an understanding of the object-language consists." (Dummett (1975) 103)

I. Die Grundzüge der Bedeutungstheorie Dummetts

Die Differenz zwischen einer bescheidenen und einer voraussetzungslosen Bedeutungstheorie macht sich in ihrem explanatorischen Wert deutlich: Eine bescheidene Bedeutungstheorie kann das Wissen, das wir haben, wenn wir einen Ausdruck einer Sprache verstehen, nicht erklären, ohne auf schon verstandene Begriffe zu rekurrieren, während eine voraussetzungslose Theorie im Sinne Dummetts gerade erklären will, worin dieses Kennen der Begriffe- das Verstehen - selbst besteht.

Diese Kritik an der bescheidenen Bedeutungstheorie kann auch von einer anderen Perspektive her verdeutlicht werden: Es ist, so Dummett, im Prinzip vorstellbar, daß wir sämtliche T-Theoreme der Davidson-Semantik kennen und trotzdem nicht über die praktische Fähigkeit verfügen, die Objektsprache zu sprechen, da die T-Theoreme uns selbst nicht in die Lage versetzen, die Sätze sinnvoll zu gebrauchen. Auch der Hinweis darauf, daß die (metasprachlichen) Sätze auf der rechten Seite der Theoreme nicht einfach "erwähnt", sondern "gebraucht" werden (der besonders von McDowell hervorgehobene Unterschied zwischen "mention" und "use"7) hilft hier nicht weiter. Wenn das Verstehen der metasprachlichen Sätze conditio sine qua non des Verslehens der objektsprachlichen Sätze ist, ergibt sich ein Regress - wie erklären wir das Verstehen der Metasprache? Ich werde später noch genauer auf das Problem der Voraussetzungslos~~keit der Bedeutungstheorie eingehen; hier geht es zunächst nur um einen ersten Uberblick über die Theorie Dummetts. 8 2. Das zweite oben angesprochene Kennzeichen der wahrheitsfunktionalen Semantik, das in der Auseinandersetzung mit Dommett eine zentrale Rolle spielt, ist die Frage der Verbindung zwischen propositionalem - bedeutungstheoretischem - Wissen und dem Sprechen einer Sprache als praktische Fähigkeit; dies hängt mit dem Problem der "Bescheidenheit" insofern eng zusammen, als die Frage, wie sich das propositionale Wissen in der praktischen Fähigkeit manifestiert, besonders für eine bescheidene Bedeutungstheorie problematisch wird, da sie nicht von vomherein eine Erklärung dieser Verbindung als Anforderung an die Bedeutungstheorie stellt. Um dies zu erläutern, soll zunächst Dummetts Argument für das sogenannte "manifestation-requirement", das Erfordernis, daß sich das Verstehen eines Ausdrucks- das 'Wissen daß"- vollständig in der praktischen Fähigkeit des Sprechens manif~stieren muß, genauer betrachtet werden. Zur Verdeutlichung des Arguments benutzt Dummett hier ein Beispiel aus der Mathematik: "When we leam a mathematical notation, or mathematical expressions, (..) what we leam to do is to make use of the Statements of that lang7 Cf. McDowell (1987) 68f; cf. auch die Einleitung von Evans und McDowell in Evans/McDowell (1976) IXff; cf. zum Zirkularitätseinwand gegen Davidson z.B. Tugendhat (1976) 302ff. 8 Cf. genauer zum Problem der Voraussetzungslosigkeit einer Theorie des Verslehens Kapitel IV.

28

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theo.rie des Verslehens

uage: we learn when they may be established by computation ( ..), we learn from what they may be inferred and what may be inferred from them, that is, what rote they play in mathematical proofs and how they can be applied in extra-mathematical contexts, and perhaps we learn also what plausible arguments can render them probable. These things are all that we are shown when we are learning the meanings of the expressions of the language of the mathematical theory in question, because they are all that we can be shown: and, likewise, our proficiency in making the correct use of the Statements and expressions of the language is all that others have from which to judge whether or not we have acquired a grasp of their meanings. Hence it can only be in the capacity to mak.e a correct use of the Statements of the language that a grasp of their meanings, and those of the symbols and expressions which they contain, can consist." (Dummett (1978) 217) Dommett argumentiert, mit Hilfe der Verdeutlichung an einer Lemsituation, für eine Version von Wittgensteins Slogan "Die Bedeutung eines Ausdrucks ist sein Gebrauch in der Sprache":9 Wir können nur das lernen, was wir (in einem weiten Sinne) beobachten können; wenn wir also die Bedeutung eines Ausdrucks (einer mathematischen oder natürlichen Sprache) lernen, sind wir dabei auf die Erklärung des Gebrauchs angewiesen. Wäre für das Verstehen der Bedeutung eines Ausdrucks etwas notwendig, das nicht offen in seinem Gebrauch zutage liegt, so hieße das, daß wir uns nie sicher sein könnten, ob tatsächlich zwei Personen, die denselben Ausdruck gebrauchen, damit auch dieselbe Bedeutung verbinden, dasselbe meinen. Und, so schreibt Dummett, "to suppose this is to mak.e meaning ineffable, that is, in principle incommunicable. If this is possible, then no one individual ever has the guarantee that he is understood by any other individual(..)." (Dummett (1978) 218) "The reason is that the meaning of a Statement consists solely in its role as an instrument of communication between individuals, just as the powers of a chess-piece consists solely in its role in the game according to the rules. An individual cannot communicate what he cannot be observed to communicate (..)." (Dummett (1978) 216) (Hervorhebung B.R.) Der Frage, inwieweit Dommetts Argument, das ja prima facie nach nicht mehr als einem rein behavioristischen Lernargument aussieht, stichhaltig ist, soll genauer erst in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden. Klar ist jedenfalls, was gemeint ist: Wenn eine Bedeutungstheorie das implizite Wissen angibt, über das eine die Sprache sprechende und verstehende Person verfügt, und wenn Willgensteins Einsicht Rechnung getragen werden soll, dann erweist sich das "manifestation-requirement" in der Tat als notwendiges Erfordernis: 9 Cf. z.B. Willgenstein (1971) 41 (§43); Dummen spricht öfters vom "s1ogan that meaning is use" (z.B. Dummen (1978) 446); Dummetts prinzipiell skeptische Haltung Willgenstein gegenüber kommt etwa (1978) 450f zum Ausdruck.

I. Die Grundzüge der Bedeullmgstheorie Dwnrnetts

29

"Implicit knowledge cannot (..) meaningfully be ascribed to someone unless it is possible to say in what the manifestation of that knowledge consists: there must be an Observable difference between the behaviour or capacities of someone who is said to have that knowledge and someone who is said to Iack it." (Dummett (1978) 217) Dummett hält diesen Punkt für entscheidend in der Kritik an Davidsons wahrheitsfunktionaler Semantik. Eine unmittelbare Konsequenz der Argumentation gegen die wahrheitsfunktionale Semantik mit Hilfe des "manifestation-requirement" ist die Argumentation gegen die durchgängige Gültigkeit des 3. Bivalenzprinzips, dem dritten der oben genannten Charakteristika der Semantik Davidsons, gegen das sich Dommetts Kritik richtet; Dommetts Kritik am Bivalenzprinzip und am manifestation-requirement kann deshalb im folgenden nur im Zusammenhang entwickelt werden. Wir hatten oben gesehen, daß in der wahrheitsfunktionalen Semantik die Bedeutung eines Satzes durch seine Wahrheitsbedingungen angegeben wird. Dies ist nun, so Dummett, relativ unproblematisch bei Sätzen, deren Wahrheitswert für uns prinzipiell entscheidbar ist, z.B. durch direkte Beobachtung, oder dann, wenn uns eine "effective procedure" zur Verfügung steht, "which will, in a finite time, put [the speaker] into a position in which he can recognize whether or not the condition for the truth of the sentence is satisfied." (Dummett (1976) 81)1° Das heißt, daß, solange die Wahrheitsbedingungen eines Satzes unsere Fähigkeit zu erkennen, ob der Satz wahr oder falsch ist, nicht übersteigen, auch kein Problem damit entsteht, anzugeben, wie man das Verstehen des Satzes manifestieren und damit seine Bedeutung erklären kann. Ein Satz wie "Der Aschenbecher ist voll" ist in diesem Sinne unproblematisch, da ich den Aschenbecher einfach betrachten und feststellen kann, daß er in der Tat gefüllt ist. Das Bivalenzprinzip ist für Sätze dieser Art uneingeschränkt gültig, da mit der Angabe der Wahrheitsbedingungen nichts gegeben ist, was unsere Erkenntnisfähigkeiten übersteigen würde. Bei der Erklärung des Verstehens solcher Sätze gibt es folglich keinen Bruch ("gap") zwischen epistemologischen und bedeutungstheoretischen Fragen. Was passiert jedoch in den Fällen, in denen die Bedeutung eines Satzes durch Wahrheitsbedingungen bestimmt wird, deren (Nicht-)Bestehen wir prinzipiell nicht erkennen können? Dies sind die unentscheidbaren Sätze ("undecidable sentences"), die Dummett drei Klassen zuordnet: 1. die Quantifikation über unendliche Bereiche (z.B. futurische Sätze); 2. die irrealen Konditionalsätze und 3. Sätze, die sich auf prinzipiell unzugängliche Raum-Zeit-Dimensionen beziehen.1 1 Für Sätze jeder dieser Klassen gilt, daß

10 Dummen geht auf das Problem der Beobachtungssätze z.B. (1976) 95ff genauer ein. 11 Cf. zu dem Problem des Verslehens unentscheidbarer Sätze z.B. Dummen (1976) 99ff; (1978) 23lf; (1978b) 218; (1977) 6f; (1982) 105f; u.ö.; ich werde auf dieses Problem im nächsten Kapitel (ll.4) ausführlich zu sprechen kommen.

30

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

"we cannot equate a capacity to recognize the satisfaction or non-satisfaction of the condition for the sentence to be true with a knowledge of what that condition is. We cannot make such an equation because, by hypothesis, eilher the condition is one which may obtain in some cases in which we are incapable of recognizing the fact, or it is one which may fail to obtain in some cases in which we are incapable of recognizing that fact, or both: hence a lcnowledge of what it is for that condition to hold or not to hold, while it may demand an ability to recognize one or other state of affairs whenever we are in a position to do so, cannot be exhaustively explained in terms ofthat ability. In fact, whenever the condition for the truth of a sentence is one that we have no way of bringing ourselves to recognize as obtaining whenever it obtains, it seems plain that there is no content to an ascription of an implicit knowledge of what that condition is, since there is no practical ability by means of which such knowledge may be manifested." (Dummett (1976) 81f) Nach Dummetts Kriterien für das Verstehen von Sätzen und für eine plausible Bedeutungstheorie, die dieses Verstehen darstellt und erklärt, muß folglich das Bedeutungsmodell von Davidson bei der Erklärung des Verstehens unentscheidbarer Sätze versagen: Wenn prinzipiell nicht bestimmbar ist, ob ein Satz wahr oder falsch ist, dann wird etwas für die Bedeutung dieses Satzes verantwortlich gemacht, das ebenso prinzipiell nicht im Gebrauch des Satzes "offen zutage" liegen kann; und deshalb kann, wenn das Verstehen des Satzes im Wissen um seine Wahrheit oder Falschheit bestünde, dieses nicht im Gebrauch manifestierbar sein. Das hat nach Dummett zwei mögliche Konsequenzen: Entweder behauptet man, wir verstünden unentscheidbare Sätze nicht, da das manifestation-requirement nicht erfüllt werden kann; oder man gibt den Begriff der Wahrheit als den für die Bedeutungstheorie zentralen Begriff auf, nämlich als den Begriff, mit Hilfe dessen die Konstruktion einer systematischen Bedeutungstheorie überhaupt möglich wird, und versucht, ihn durch einen geeigneteren zu ersetzen. Da die erste Konsequenz keine große Erklärungskraft besitzt und deshalb auch nicht sonderlich attraktiv ist (denn schließlich spricht alles dafür, daß wir solche Sätze verstehen und sinnvoll gebrauchen können), bleibt die zweite, die Suche nach einem anderen "Schlüsselbegrifr', der die Verslehensbedingungen von Sätzen mit unseren epistemischen Fähigkeiten in Einklang bringen kann.l2 Dies ist - und damit kommen wir zum zentralen Punkt von Dummetts Bedeutungstheorie - der Begriff der Veriflkation. Dummett entwickelt das veriftkationistische Modell der Bedeutung im Rekurs auf den Intuitionismus in der Mathematik:

12 Auf die Problematik eines "Schlüsselbegriffs" ("key" oder "central notion", cf. z.B. Dummen (1981) 361ff) werde ich im dritten Kapitel zurückkommen.

I. Die Gnmdzüge der Bedeullmgsdteorie Dummetts

31

"The fundamental idea is that a grasp of the meaning of a mathematical statement consists, not in the knowledge of what has to be the case, independently of our means of knowing whether it is so, for the Statement to be true, but in an ability to recognize, for any mathematical construction, whether or not it constitutes a proof of the Statement(..). The understanding of any mathematical expression consists in the knowledge of the way in which it contributes to determining what is to count as a proof of any statement in which it occurs. In this way, a grasp of the meaning of a mathematical sentence or expression is guaranteed to be something which is fully displayed in a mastery of the use of mathematicallanguage, for it is directly connected with that practice. ( ..) We understand a given statement when we know how to recognize a proof of it when one is presented to us." (Dummett (1976) 110) (Hervorhebung B.R.) Dieses Modell, durch das gewährleistet wird, daß das Verstehen eines Ausdrucks oder Satzes vollständig im Beherrschen des Gebrauchs dieses Ausdrucks vorgeführt wird, dieses Modell, so meint Dummett, "generalizes readily to the non-mathematical case. (..) [T]he required general notion is (..) that of verification." (ebd.)13 Nach einer veriflkationistischen Theorie der Bedeutung verstehen wir einen Satz folglich dann, wenn wir wissen, wie er zu verifizieren ist oder wenn wir dazu in der Lage sind, zu erkennen, was diesen Satz gegebenenfalls verifizieren könnte. Der Vorteil dieser Theorie ist, "that the condition for a statement's being verifled, unlike the condition for its truth under the assumption of bivalence, is one which we must be credited with the capacity for effectively recognizing when it obtains; hence there is no difficulty in stating what an implicit knowledge of such a condition consists in - once again, it is directly displayed by our linguistic practice." (Dummett ( 1976) 111) Die veriflkationistische Theorie hat also zunächst offenbar den Vorzug, Dommetts Forderungen an eine Bedeutungstheorie gerecht werden zu können - denn was die wahrheitsfunktionale Semantik nicht leisten konnte, war, anzugeben, wie sich das implizite propositionale Wissen der Bedeutung von Sätzen in deren Gebrauch manifestiert. Wenn man dagegen die Bedeutung von Sätzen durch die Bedingungen ihrer Verifikation angibt, dann, so Dummetts Idee, ist mit der Zuschreibung des impliziten Wissens immer schon gewährleistet, daß sich dieses in der praktischen Fähigkeit des Sprechens manifestiert, da das Wissen ein Wissen um die Fähigkeit ist, den Nachweis der Verifikation des Satzes erbringen zu können. Der Frage, inwieweit Dummetts Modell plausibel und konsistent ist, wird in den folgenden Kapiteln genauer nachgegangen werden.

13 Daß dies so "readily" geht, wie Dumrnett meint, bezweifelt z.B. Strawson (1976) 17ff, cf. dazu Dummen (1978) XXIV ff.

32

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

Mit Dommetts verifikationistischer Kritik an der wahrheitsfunktionalen Semantik ist ein weiteres zentrales Anliegen seiner Theorie verbunden, auf das ich hier kurz eingehen möchte: Dommett sieht ein wesentliches Verdienst seiner bedeutungstheoretischen Analysen darin, die Verbindung zwischen einer Bedeutungstheorie und ihren metaphysischen Implikationen k1ar gemacht zu haben: "[T]he whole point of my approach to these problems has been to show that the theory of meaning underlies metaphysics. If I have made any worthwile contribution to philosophy. I think it must lie in having raised this issue in these terms." (Dummett (1978) XL) Dieser von Dommett flir so wichtig gehaltene Beitrag zur Philosoohie gehört zweifelsohne zu einem der umstrittensten Aspekte seiner Theorie. 14 Dommett nennt die an den Wahrheitsbedingungen von Sätzen orientierte Semantik "realistisch", weil die Wahrheit oder Falschheit von Sätzen in völliger Unabhängigkeit von unserem Wissen um diesen Wert angenommen wird. Das heißt also, daß ein Satz auf jeden Fall entweder wahr oder falsch ist, und dies wiederum bedeutet, daß es etwas geben muß, auf Grund dessen er wahr oder falsch ist. unabhängig von der Möglichkeit zu erkennen, was ihn wahr oder falsch macht. Wir haben also bei diesem bedeutungstheoretischen Modell das Bild einer Welt. die unabhängig von uns und unseren Erkenntnisfähigkeiten existiert und durch ihre Existenz für die Wahrheit oder Falschheit unserer Sätze verantwortlich ist, d.h. einen klassischen metaphysischen Realismus. Plausibilität erreicht dieses Modell als bedeutungstheoretisches dadurch, so Dummett, daß das Verstehen der "unentscheidbaren Sätze" einfach nach demselben Muster konstruiert wird, nach dem auch unser Verstehen entscheidbarer Sätze, z.B. das von Beobachtungssätzen, erklärt wird: Appelliert wird an die Vorstellung, daß, wären wir mit den entsprechenden epistemischen Fähigkeiten ausgestattet, wir auch erkennen könnten, ob der in Frage stehende Satz wahr oder falsch ist "[W]e try to convince ourselves that our understanding of what it is for undecidable sentences to be true consists in our grasp of what it would be to be able to use such sentences to give direct reports of Observation. We cannot do this; but we know just what powers a superhuman observer would have to have in ordertobe able to do it ( ..)." (Dummett (1976) 99) 14 Cf. auch Dommett (1978) 309.311.441.458 u.ö.; die Verbindung zwischen Semantik und Metaphysik, die Dommett herstellt, gehört zwar seinem eigenen Verständnis nach zu seinen größten Leistungen, nach dem Verständnis des überwiegenden Teils der Sekundärliteratur ist es jedoch sein größter Irrtum. Die Literatur zum Thema ist zahlreich vorbanden, ich verweise hier deshalb nur auf einige wichtige Autoren: Devitt (1983); McDowell (1976), (1981); Rorty (1986); Strawson (1976); Wright (l98la). Man kann jedoch die Problematik des Ventehensbegriffs in Dommetts Theorie untersuchen, ohne explizit auf die Frage des Antirealismus einmgehen, wie ich dies im folgenden tun werde. Implizit wird allerdings in den folgenden Untenoebungen deutlich werden, daß mit einer Abschwächung des Verifikationsprinzips (hin auf eine "graduelle Verifikation", cf. unten Kap. II.4) nicht mehr notwendigerweise die Aufgabe des Bivalenzprinzips verbunden ist, unplausible metaphysische Konsequenzen also mit Hilfe der Kritik an einem unplausibel starken Begriff von Verifikation vermieden werden können.

I. Die Grundzüge der BedeutiDigstheorie Dummetts

33

Dummett will jedoch deutlich machen, daß diese Theorie des Verslehens nur erschlichen ist und auf der philosophisch nicht akzeptablen, da nicht begründbaren und ausweisbaren Annahme "übermenschlicher Erkenntniskräfte" beruht. Damit geriete auch die Metaphysik des Realismus ins Wanken, die als ein Motiv für das Zustandekommen dieser Bedeubmgstheorie überhaupt begriffen werden kann. Wenn man dagegen, aus den oben dargelegten Gründen, eine Verifikationistische Bedeutungstheorie für die philosophisch plausiblere halten muß, ist man auch gezwungen, den Realismus aufzugeben und statt seiner einen "Antirealismus" (Dummett spricht selten auch von "Idealismus" 15) zu vertreten, und das heißt, Annahmen über die Realität an unsere Fähigkeit zu binden, die mit einem Wahrheitsanspruch erhobenen Aussagen verifizieren zu können. Bevor ich zum Ende dieses ersten Überblicks über die Grundzüge von Dommetts Theorie komme, will ich kurz skizzieren, wie der Aufbau einer Bedeutungstheorie nach Dommettsehen Grundsätzen auszusehen hat. Die Frage des Aufbaus der Theorie ist nicht nur relevant im Hinblick darauf, sich ein möglichst vollständiges Bild des bedeutungstheoretischen Ansatzes von Dwnmett zu verschaffen; interessant ist dies Problem auch deshalb, weil es zum einen wieder in der Diskussion mit der wahrheitsfunktionalen Semantik eine wichtige Rolle spielt, und zum andem, weil die Art der Konstruktion einer systematischen Bedeutungstheorie - die Frage, was kann beim sprachlichen Verstehen wie systematisiert werden - im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik genauer untersucht werden muß. Auf diese grundsätzliche Frage werde ich später zurückkommen und jetzt nur auf den Aufbau der Theorie bei Dummett eingehen. In jedem Falle muß, so Dummett, eine systematische Bedeutungstheorie aus zwei Teilen bestehen: Einem Teil, der die Art und Weise festlegt, wie der Inhalt von Propositionen bestimmt wird, und einem zweiten, der den Gebrauch der Propositionen in den verschiedenen möglichen Sprechakten regelt. 16 In dieser "Zweiteilung" orientiert sich Dummett an Frege: "We should not have the least idea how such a theory of meaning might be constructed if we were not familiar with the distinction, introduced by Frege, between sense and force. Without such a distinction, a speaker's understanding of any given sentence would have to be taken to consist in nothing less than his awareness of every feature of the use of that sentence, that is, of the entire significance of any possible utterance of the sentence." (Dwnmett (1976) 72) Diese Unterscheidung zwischen "Sinn" und "Kraft" ist nach Dwnmett für eine Bedeutungstheorie insofern konstitutiv, als es ohne sie nicht möglich wäre, sy15 Cf. Dummen (1978) XXX.313.318; fast durchgängig benutzt Durnmettjedoch den, wie er sagt "colourless tenn" ((1978) XXX) "Antirealismus". 16 Cf. zum folgenden ausführlich Dummen (1976) 72ff; (1975) 101; (1978) 221 u.ö.; Gegenpositionen zur Frage der Systematizität einer Bedeutungstheorie werden im dritten Kapitel noch zur Sprache kommen.

34

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

Sternatisch zu beschreiben, wie der Inhalt eines Satzes mit seinen möglichen Gebrauchsweisen korrelierbar ist- man müßte dann, im Extremfall, jeden möglichen Gebrauch eines jeden möglichen Satzes als eigenständig und unabhängig begreifen, "and hence we should have to despair of consbUcting any systematic account ofJanguage whatever." (Dummett (1976) 73) Geht man nun, wie Dummett, unter Voraussetzung dieser notwendigen Unterscheidung, zunächst (nämlich bevor dann dieser Aufbau durch die veriflkationistische Theorie kritisiert wird) davon aus, daß das "central feature", das die Bedeutung von Sätzen regelt, der Begriff der Wahrheit ist, so ergibt sich folgendes Bild: 17 Den Kern der Theorie bildet die Theorie der Referenz, die zum einen aus Axiomen für einzelne Worte besteht, die den Worten die jeweils angemessene Referenz zuweisen und zum andem aus 1beoremen, die für jeden gegebenen Satz dessen Wahrheitsbedingungen bestimmen. Diesen Theoriekern umgibt die Theorie des Sinns, die angibt, worin jeweils das Wissen besteht, das ein Sprecher hat, wenn er die Axiome und Theoreme der Theorie kennt: Sie legt dieses Wissen fest, indem sie spezifische praktische Fähigkeiten des Sprechers mit den Propositionen der Referenztheorie korreliert. Der "Kern" (die Referenztheorie) und die "Muschel" {die Theorie des Sinns) bilden zusammen den einen Teil der gesamten Bedeutungstheorie. Der zweite, ergänzende, Teil besteht aus der Theorie der Kraft, die die einzelnen Sprechakte angibt, die mit den Äußerungen, die durch den Referenz- und Sinn-Teil konstituiert werden, gemacht werden können. Dommett beschreibt diese Konzeption der Bedeutungstheorie folglich nicht nur als zweiteilige, sondern der Teil, der den Inhalt der Sätze angibt, ist seinerseits noch einmal unterteilt in eine Sinn- und eine Referenztheorie. Nun zeigt sich hier jedoch wieder eine Schwierigkeit mit der wahrheitsfunktionalen Semantik: Wenn in der Theorie der Referenz mit Hilfe von Axiomen und Kombinationsregeln Theoreme abgeleitet werden, die das für das Verstehen der Bedeutung eines Satzes notwendige Wissen angeben, während in der Theorie des Sinns gezeigt werden soll, wie dieses Wissen mit spezifischen praktischen Fähigkeiten der Sprecher korreliert werden kann, dann ist das Scheitern der wahrheitsfunktionalen Theorie im oben beschriebenen Stile Davidsons offensichtlich: Eine solche Theorie kann zwar angeben, was jemand wissen muß, der die Bedeutung eines Satzes versteht, nicht jedoch, worin dieses Wissen besteht, wie es sich im Gebrauch von Sätzen manifestieren kann. Das notwendige Bindeglied zwischen unserem Wissen und unserer praktischen Fähigkeit des Sprechens und Verstehens fehlt hier und das heißt, daß diese Theorie nicht in der Lage ist anzugeben, was es heißt, daß wir einen Satz oder eine Sprache verstehen. Wenn wir auf der anderen Seite jedoch von vomherein als den "Schlüsselbegriff' einer Bedeutungstheorie einen solchen annehmen, der per se diese Verbindung herstellt, da das durch ihn bestimmte Verstehen der Bedeutung eines Satzes ausweisbares 17 a. zum folgenden Dummen (1976) 74.

I. Die Grundzüge der Bedeutoogstheorie Dummetts

35

Wissen ist, nämlich den Begriff der Verifikation, so ergeben sich zumindest diese Probleme nicht. Dummett führt dies folgendermaßen aus: "[W]hat is being proposedas constituting the meaning of a sentence is, unlike the truth condition of the sentence, a feature of its use; but it is only one particular feature. If the sole activity in which our use of language consisted were the verification of sentences, then the thesis would be a platitude; but plainly it is not. Leaming to use language involves learning to do many other things (..). The thesis that the meaning of a sentence is the method of its verification is not a denial that there are all these different aspects of the use of language, but a claim that there is some uniform means of deriving all the other features of the use of any sentence from this one feature (..)." (Dummett (1976) 75) Auch in dieser Konzeption des Theorieaufbaus wird die Unterscheidung zwischen "Sinn" und "Kraft" nicht aufgegeben; ihr wird in einer Verifikationistischen Bedeutungstheorie Rechnung getragen mit einem "central part giving the theory of sense and reference (here conceived of as an inductive specification, for each sentence, of the method of its verification), and a supplementary part giving a uniform means of deriving, from that feature of any sentence determined by the centrat part. every aspect of its use." (ebd.) Aus diesen eher programmatischen Äußerungen wird zumindest deutlich, welches die notwendigen Bestandteile und deren systematische Korrelation sein sollen; und dies soll hier zunächst einmal genügen. Soweit ein kurzer Überblick über die Grundzüge von Dummetts Theorie der Bedeutung; im Zuge dieser Darstellung wurden die Probleme deutlich, deren Analyse die Grundlage der folgenden Untersuchungen bilden werden: Zum einen hatte sich besonders an Dommetts Kritik der wahrheitsfunktionalen Semantik gezeigt. daß die Begriffe des Wissens und Verslehens und ihre Beziehung zueinander in Dommetts Theorie eine entscheidende Rolle spielen. Die Beziehung zwischen dem Wissensbegriff und dem des Sprachverstehens ist deshalb für eine Theorie der Bedeutung zentral, weil sich anband der Bestimmung dieser Beziehung aufweisen läßt, welche Grundstruktur eine Theorie der Bedeutung sinnvollerweise haben muß. Die Analyse dieser Beziehung wird deshalb Grundlage der Diskussionen des zweiten Kapitels sein (Kap.ll). Weiterhin ist deutlich geworden, daß die Frage des Aufbaus einer Bedeutungstheorie, und das heißt: die Frage nach der Systematizität- was am Verstehen der Bedeutung von Sätzen kann oder muß aufwelche Weise systematisch in einer Theorie beschreibbar sein?- insofern von Interesse ist, als sich gerade an dieser Problematik die Angemessenheil und Erklärungsfähigkeit einer systematischen Theorie des Verstehens erweisen muß (Kap.III). Und schließlich soll der, wiederum nicht nur für das Verständnis von Dummetts Theorie zentralen Problemstellung nachgegangen werden, wie voraussetzungslos eine Theorie sein kann: Die Frage nach den Voraussetzungen einer Theorie des Verstehens ist für alle

36

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstebens

sprachanalytischen Theorien entscheidend und wird auf jeweils unterschiedliche Weise diskutiert. Für die Plausibilität einer Theorie des Verstehens ist es wesentlich, diese Frage nach der Notwendigkeit und der genaueren Struktur solcher Voraussetzungen zu klären {Kap.IV).

II. Verstehen, Wissen und Verifikationismus Da die Beziehung zwischen Wissen und Verstehen für die Konzeption der Bedeutungstheorie Dummetts, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, entscheidend ist, soll ihr im folgenden Kapitel ausführlich nachgegangen werden. Auch unabhängig von dem Stellenwert, den Dommett dieser Frage beimißt, ist sie von zentralem systematischem Interesse: An dem Problem, wie und welches theoretische Wissen mit der praktischen Fähigkeit des Sprechens korreliert werden kann, zeigt sich, genau welche Konzeption einer Bedeutungstheorie plausibel ist Ich will also noch einmal, und jetzt ausführlicher, bei der Frage ansetzen, wie Dommett die Relation zwischen Bedeutung, Verstehen und Wissen bestimmt und wie er diese Beziehung begründet

1. Vorbemerkungen zur Problemgeschichte und Begriffsklärung Zum besseren Verständnis der folgenden Diskussion müssen jedoch zwei Erläuterungen vorangeschickt werden: Die erste geht der Herkunft der Begriffe und der mit ihnen verbundenen Problematik nach, und die zweite bestimmt kurz den hier verwendeten Begriff des Wissens selbst 1 1 Dummett deutet in seiner letzten großen Veröffentlichung 1111 verschiedenen Stellen 1111, daß er seine Meinung bezüglich der Konzeption des Verhältnisses zwischen der Bedeutung von Worten und Sätzen, dem Verstehen einer Sprache und dem dafür notwendigen Wissen geändert habe: '"Since writing FPL, I have come to see that the relation of the meaning of a word in the l1111guage shared by a community of speakers and the understanding that 1111 individual speaker has of it is far more problematic th1111 I then supposed, as also is the question whether an understanding of a word or of a langnage is genuinely a case of knowledge." (Dummen (1981a) Xlll) Und in dieselbe Richtung weist eine 1111dere Passage: "The relation of the three notions of meaning, understanding and knowledge is, in fact, one of the most interesting 1111r~solv~d problems in the philosphy of language." (Dummett (1981a) S30) (Hervorhebung B.R.) Im Kapitel "Meaning and Understanding" geht Dummett sogar fast so weit, das Kernstück seiner in allen vorherigen Veröffentlichungen vorgetragenen Theorie zurückzunehmen, indem er Zweifel daran anmeldet, ob eine Bedeutungstheorie tatsächlich die Fonn einer Theorie des Verslehens annehmen müsse und ob nicht der Begriff des impliziten Wissens die deutlichen Gefahren des Rückfalls in den Psychologismus berge. (Cf. Dommett (1981a) besonders 74-76.71.195 u.ö.) Hierzu möchte ich kurz drei Dinge anmerken: Erstens bleibt es in (198la) völlig unklar, wi~ Dummen seine Theorie genau geändert hat und in welche Richtung seine Selbstkritik führen wird. Die Kritikpunkte, die er anführt, reichen nicht aus, um auch nur den Ansatz einer im ganzen modifizierten Theorie erkennen zu lassen. Zum zweiten ist es, selbst wenn Dommett seine Ansichten zur Bedeutungstheorie mittlerweile geändert haben sollte, dennoch weiterhin sinnvoll, seine bis dato vertretene Konzeption zu diskutieren und zu kritisieren, da sie selbstverständlich nicht dadurch, daß Dommett sie evü. nicht mehr für richtig hält, an philoso-

38

A. Untersuchung der sprachanalytischen lbeorie des Ventehens

Es ist sinnvoll, hier eine kurze Problemgeschichte zu skizzieren, die das Ziel hat, zu klären, warum Dommett der Relation zwischen bedeutungstheoretischem Wissen und sprachlichem Verstehen einen so zentralen Stellenwert zuweist und welchen Traditionen er sich dabei anschließt, ohne allerdings schon zu thematisieren, inwieweit Dommett hier plausibel argumentiert. Ein solcher kurzer historischer Exkurs ist auch insofern interessant, als er zumindest einen partiellen Einblick in die Geschichte des Bedeutungs- und Verstehensbegriffs in der sprachanalytischen Philosophie vermitteln kann. Zwei Motive sind es, die für Dommett in der Entwicklung seiner Konzeption eine Rolle spielen, Motive, die er auch oft und ausführlich diskutiert, nie jedoch im Zusammenhang einer Begründung, warum eine Theorie der Bedeutung eine Theorie des Verslehens zu sein habe, d.h. warum die Relation zwischen den Begriffen des Wissens und des Verslehens für ihn einen solch zentralen Stellenwert hat. Ich werde hier folglich, um Dommett verständlich zu machen, eine interpretierende Rekonstruktion vornehmen. Diese Motive in Dommetts Theorie des Verstehens rühren einerseits von Frege, andererseits vom späten Willgenstein her, ich stelle sie nacheinander kurz dar. a) Von zentraler Bedeutung für Frege war es, alles Psychologische aus der Logik verbannen zu wollen: er wies "der Logik die Aufgabe zu, die Gesetze des Wahrseins zu finden, nicht die des Fürwahrballens oder Denkens."2 Die Logik handelt nicht von seelischen Vorgängen oder subjektiven Vorstellungen, ihr geht es vielmehr um die Wahrheit oder Falschheit von Sätzen, resp. deren Sinn, den Gedanken: "Es verschwimmt hierbei [sc. in der Konzeption Busserls] der Unterschied zwischen Vorstellung und Begriff, zwischen Vorstellen und Denken. Alles wird ins Subjektive herübergespielt Aber gerade dadurch, daß die Grenze zwischen Subjektivem und Objektivem verwischt wird, be-

phisehern Interesse verliert und da sie nach wie vor eine radikale Version einer Versteheostheorie dantellL Und schließlich sollte man es vielleicht sogar begrüßen, daß Dommett Modifikationen an seiner Theorie für nötig hält, da sie, wie zu zeigen sein wird, in verschiedenen Hinsichten zumindest ergänzungsbedürftig ist. 2 Frege (1976) 31; eine Fundgrube für Zitate, die Freges Antipsychologismus belegen, findet sich in seiner Rezension der Husserlschen Philosophie der Arithmetik von 1894; dort heißt es z.B.: der "psychologische Waschkessel (..) bietet den Vorteil, daß die Dinge in ihm (..) viele lästige Eigentümlichkeiten und Unterschiede fahren lassen. Die jetZl so beliebte Mischung aus Psychologie und Logik gibt für diesen Zweck eine gute Lauge ab. Zunächst wird alles Vorstellung. Die Bedeutungen der Wörter sind Vorstellungen. (..) Die Gegenstände sind Vorstellungen. So Ii& J.St.Mill mit dem Beifalle des Verfassen [sc.Husserl) Gegenstände (whether physical or mental) in einen Bewußtseinszustand eingehen, Teile dieses Bewu&seinszustandes bilden(..). Aber sollte nicht der Mond z.B. einem Bewu&seinszustand etwas schwer im Magen liegen?" ((1894) 181) Hübsch, wenn auch polemisch, ist auch das folgende Katzenbeispiel (181 ff).

n. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

39

kommt auch umgekehrt das Subjektive den Anschein des Objektiven. Man spricht z.B. von dieser oder jener Vorstellung, als ob sie sich, abgelöst vom Vorstellenden, in der Öffentlichkeit sehen ließe. Und doch hat niemand die Vorstellung eines anderen, sondern nur seine eigene, und niemand weiß sogar, wieweit seine Vorstellung(..) mit der eines anderen übereinstimmt.(..) Ganz anders bei den Gedanken: ein und derselbe Gedanke kann von vielen Menschen gefaßt werden."3 Denn Gedanken sind es, die wahr oder falsch sein können; sie sind nun "weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen", obgleich sie "mit den Vorstellungen darin überein[stimmen], daß (..) [sie] nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden(..) [können], mit den Dingen aber darin, daß es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte [sie gehören]."4 Kurz, sie gehören zum "dritten Reich", und ihre Objektivität soll eben dadurch gesichert sein. Das Denken ist nun, so Frege, das Fassen von Gedanken. Ausdruck des Denkens ist die Sprache. Wir verstehen folglich einen Satz, wenn wir den mit ihm ausgedrückten Gedanken, seinen Sinn, erfasst haben und das heißt, wenn wir erfasst haben, unter welchen Bedingungen er wahr oder falsch ist. Zum bloßen Verstehen des Satzes, zum Erfassen des Sinns, müssen wir also noch nicht wissen, daß der Satz wahr oder falsch ist, sondern nur die Bedingungen kennen, unter denen er wahr oder falsch ist.5 Da für Frege nur dasjenige für die Bedeublng eines Wortes oder Satzes relevant ist, was den Wahrheitswert des Satzes berührt, spielt auch die "Färbung" oder "Beleuchtung" eines Wortes in seiner Theorie keine Rolle - die Sätze "Dieser Köter hat die ganze Nacht geheult" und "Dieser Hund hat die ganze Nacht geheult" haben denselben Wahrheitswert, der Unterschied zwischen "Köter" und "Hund" ist nicht wahrheitsrelevant und deshalb auch bedeutungstheoretisch uninteressant.6 Frege ist nun an einer Aufklärung darüber, wie das "Fassen des Gedankens" näher zu bestimmen ist, nicht interessiert. Die Frage danach, worin dieses Erfassen des Sinns eines Gedanken besteht und wie es jeweils zu begründen ist, findet bei ihm keinerlei Beachtung, da es ihm vielmehr darum geht, zu untersuchen, welches die Bedingungen sind, unter denen wir (komplexe) Gedanken wahr oder falsch nennen, was ihre logische Struktur ist etc.7 Deshalb auch ist die 3 Frege (1894) 182; cf. (1978) 43.69. 4 Frege (1976) 43. S Auf Freges Theorie des Urteils und der Behauptlmg gehe ich hier nicht weiter ein, cf. dazu etwa Dumrnett (1981) eh. 10 und 11. 6 Frege (1978) 56; cf. auch (1976) 37: "Dem auf das Schöne in der Sprache gerichteten Sinne kann gerade das wichtig erscheinen, was dem Logiker gleichgültig ist." Frege war natürlich an einer Bedeutungstheorie für natürliche Sprachen gar nicht interessiert; cf. zur Färbung auch (1980) 45. 7 Dies ist natürlich etwas oberflächlich; Frege beschäftigt mich hier jedoch nur im Hinblick auf eine ganz bestimmte, enge Fragestellung, insofern ist diese knappe Behandlung gerechtfertigt.

40

A. Untenuchung der sprachanalytischen 'Theorie des Ventehens

Zahl der Stellen bei Frege, an denen er sich mit der Problematik des Fassens von Gedanken auseinandersetzt, äußerst spärlich.8 Er behauptet zwar, daß der Sinn eines Satzes Teil der Bedeutung des Satzes ("Bedeutung" hier nicht im engen, Fregeschen Sinn, sondern im weiten, umgangssprachlichen) ist, insofern als der Sinn den kognitiven Gehalt darstellt; Frege weist aber die Frage des Vorgangs des Fassens von Gedanken, i.e. die Frage der Kriterien dafür, worin das Wissen besteht, das man hat, wenn man einen Satz versteht, als epistemolo\isches Problem der Erkenntnistheorie zu, die nichts mit der Logik zu tun habe. Dommett ist jedoch genau bei diesem Problem anderer Meinung: "The theory of meaning cannot, however, be kept sterilized from all epistemological considerations; especially is this so when sense is taken, as Frege takes it, to be a cognitive notion, the sense of an expression being what a speaker must know if he is to grasp its sense." (Dummett (198la) 449) Warum er meint, über Frege hinausgehen zu müssen, erläutert Dommett genauer in einer anderen Passage: "[T]here is virtually no gap between the sense of a sentence, conceived of as given by its truth-condition, and its cognitive value: what we leam, upon leaming that a sentence whose sense we grasp is true, is, precisely, that the condition for it tobe true is satisfied. The smoothness of the connection between cognitive value and meaning is one of the greatest advantages of a truth-conditional account of meaning, or, more generally, of one that takes understanding as a form of knowledge, the meaning of an expression being what you know about it when you understand it (or "know its meaning"). Where a realistic theory of meaning, such as Frege's, has much greater difficulty is over the notion of evidence. What are to be counted as grounds for accepting a sentence as true is another thing that depends on the meaning of a sentence; and precisely because a realistic theory forces so large a gap between what makes a Statement true and that on the basis of which we are able to recognize it as true, the theory has difficulty in explaining how we derive our grasp of the latter from a knowledge of the former. The difficulty becomes acute when the grounds for accepting the sentence as true are not deductive ones, and particularly when they fall short of being conclusive. Here, of course, is the meeting-point between epistemology and the theory of meaning; it is an area Frege left unexplored." (Dummett (198la) 71) Dommett jedoch hält es für notwendig, genau dieses Feld zu erforschen, wenn wir nicht nur an einer "semantischen Theorie", sondern an einer umfassenden

8 Cf. Frege (1980) 41.44; (1976b) 58; (1978) 36.97. 9 Cf. Kitcher (1979); Weiner (1986); zu Freges Psychologismuskritik besonders Notturno (1985) 23ff.93ff.

n. Ventehen, Wissen und Veriidtationismus

41

lbeorie der Bedeutung interessiert sind, die den Feegesehen Einsichten über die Bedeutung von Sätzen und seiner Ablehnung des Psychologismus gleichermaßen Rechnung ttagen will. Denn wenn die Rolle der Theorie des Sinns, i.e. die Frage danach, worin unser Wissen besteht, das wir haben, wenn wir einen Satz verstehen, nicht aufgeklärt wird, dann besteht, so Dummen, die Gefahr des Psychologismus weiterhin, da er an anderer Stelle als der von Frege erwarteten wieder auftauchen kann: nämlich genau bei der epistemologischen Frage. Eine wahrheitsfunktionale Theorie wie die Freges muß notwendigerweise dort in Schwierigkeiten geraten, wo zwischen der Evidenz für die Wahrheit eines Satzes und unseren Fähigkeiten, diese Evidenz als solche zu erkennen, ein Bruch besteht in dem Sinne, daß nicht mehr klar angehbar ist, warum wir eigentlich die Bedeutung des Satzes verstehen, worin unser semantisches Wissen besteht Und daraus folgt für Dummett, daß die Frage des Passens von Gedanken in der Bedeutungstlu!orie geklärt und an Kriterien gebunden werden muß. Dommett betont dieses epistemologische Moment der Bedeutungstheorie an zahlreichen Stellen;10 und er greift auf Wittgenstein zurück bei der Klärung des Problems der Kriterien, d.h. bei der Frage danach, wie das Wissen, das jemand hat, wenn er einen Satz versteht, an die "Bedeutungsbedingungen" des Satzes selbst zu knüpfen ist. b) Dommett übernimmt, wenn auch modifiziert, von Wittgenstein den gegenüber Frege ganz anderen Zugang zur Sprache und zur Bedeutung von Sätzen (ich werde mich hier sehr knapp fassen). Zunächst einmal (1.) steht bei Wittgenstein der Blick auf die Sprache als Praxis, als Teil einer Lebensform im Vordergrund; Sprache wird also nicht mehr primär gesehen als "Ausdruck von Gedanken", sondern als soziale Praxis, als Kommunikation. So schreibt Dommett im Anschluß an Wittgenstein: "The roJe of langnage as the vehicle of thought is secondary to its roJe as an instrument of communication: it could not serve the former purpose unless it served the latter; and, as serving the latter purpose, it is as much of its essence to be embedded in a social practice, or complex of social practices, to be the shared possession of a community, as is the institution of money." (Dummett (1978) 4 52t) An diesem Aspekt von Sprache - dem "sozialen" oder kommunikativen - war Frege selbstverständlich gar nicht interessiert Dies bedeutet (2.), daß bei Wittgenstein, im Gegensatz zu Frege, das Problem des Verstehensund seine Erklärung sehr wohl eine Rolle spielt und zwar - vom Blick auf die Sprache als einer Praxis her- als nicht-subjektives, also intersubjektiv nachprüfbares Phänomen: Verstehen kann nicht begriffen werden als mentaler Prozeß, nur der Introspektion zugänglich und nur als psychisches Phänomen erklärbar. Entscheidend für die Erklärung des Verslehens ist vielmehr das ausweisbar richtige Sprachverhalten, das wir demonstrieren, wenn wir behaupten, etwas verstanden zu haben -

°

1 Cf. Dummen (1978) 120ff.223ff; (1982) 85.89.105ff; (1975) 99ff; (1981a) 326ff; (1978b) 7.12f; u.ö.

42

A. Untenuchung der spnchanalytischen Theorie des Ventehens

z.B. beim Folgen einer mathematischen Regel o.ä. Wir rekurrieren also bei der Erklärung dessen, daß jemand etwas verstanden hat, nicht auf uns nicht zugängliche psychische Mechanismen, sondern auf das richtige Teilnehmen an der sprachlichen Praxis. (3.) Entscheidend für Dommett ist Wittgensteins Diktum, die Bedeutung eines Ausdrucks werde durch seinen Gebrauch in der Sprache erklärt: Was eine Lautkette oder ein schriftliches Zeichen zum sinnvollen, verständlichen Symbol macht, ist nicht ein mentales Bild oder ein Gegenstand irgendeiner Art, das oder der zum Zeichen hinzutritt, sondern sein Ort in einer intersubjektiv etablierten Praxis der Verwendung des Zeichens. Die Bedeutung eines Ausdruckes wird durch die Art und Weise seiner Verwendung bestimmt, seines Platzes innerhalb eines Gefüges sprachlicher Handlungen. Wir erklären also die richtige Bedeutung eines Ausdrucks, indem wir auf die Regeln seiner Verwendung hinweisen, die seine Bedeutung festlegen. 11 Diese drei Charakteristika von Wittgensteins Bedeutungs- und Verslehenstheorie sind entscheidend für Dommetts Interpretation der Theorie Freges: Das Problem, das sich aus Freges strikter Trennung zwischen Logik und Epistemologie ergeben hatte, läßt sich, so Dummett., lösen durch Wittgensteins "gebrauchstheoretische" Einsicht, da das Fassen des Sinns eines Ausdrucks, das Verstehen, behavioral beschreibbarund damit endgültig von allen psychologistischen Verdächtigungen freigesprochen - wird dadurch, daß das Verstehen der Bedeutung eines Ausdrucks durch seine ausweisbar richtige Verwendung in der sprachlichen Praxis erklärt wird Man kann also folgende Punkte zusammenfassen: Dummett übernimmt von Frege die Idee einer formalen Semantik überhaupt und die Orientierung arn Sinnbegriff als einem kognitiven Moment, einem Moment des Wissens im Begriff der Bedeutung. Er fragtjedoch nach Kriterien dafür, wie dieses Wissen genauer zu bestimmen ist, worin es besteht und wie es sich zeigt, und wendet sich damit gleichzeitig gegen den Rest von Mentalismus oder Psychologismus bei Frege, der darin zum Ausdruck kommt, daß Frege den Prozess des Fassens der Gedanken, des "Wahrnehmens" der Entitäten aus dem dritten Reich nicht präzisien. Deshalb verbindet sich bei Dommett das Motiv Freges mit dem Wittgensteins, daß Verstehen kein mentaler Prozeß, sondern behavioral explizierbares und beurteilbares "richtiges" Sprachverhalten ist: "Sense is supposed by Frege tobe something objective (..). This is possible only if the sense of a word is uniquely determined by the Observable features of its linguistic employment (i.e. only if sense is use); it follows that a grasp of its sense is fully manifested by the manner in which the speaker employs iL" (Dummett (1976) 135) (Hervorhebung B.R.) "Bedeutung ist Gebrauch" wird so bei Dummen zu "Sinn ist Gebrauch", da er auf diese Weise angeben und erklären kann, worin das Wissen beim Verstehen eines Ausdrucks besteht, und so die epistemologischen mit den bedeutungstheo11 leb lasse hier wichtige Aspekte der Bedeutungstheorie Willgensteins außer acht, so z.B. den, daß die Regeln der Sprachverwendung Mrmativen O.arakter haben; in diesem Zusammenbang reicht jedoch auch eine etwas grobe Skizze Willgensteins aus.

n. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

43

retischen Einsichten verbinden kann. Wenn aber (und ich greife jetzt auf die Diskussion in den folgenden Kapiteln vor) so der Sinn eines Ausdrucks in seinem Gebrauch besteht und damit der Sinn eines Satzes in seinen (erkennbaren) Veriflkationsbedingungen, dann ist auf diese Weise Frege nicht nur von Resten der Gefahr des Psychologismus befreit, sondern auch von einer wahrheitsfunktionalen in eine veriftkationistische Semantik lransponiert. Insofern geht Dommett in entscheidender Weise über Frege hinaus. Gegen Wittgenstein bleibt aber ein ebenso entscheidendes Fregesches Moment- neben dem des Sinnbegriffserhalten: der Anspruch nämlich, daß es einen "Schlüsselbegriff' gibt, mit Hilfe dessen die Bedeutung von Sätzen in systematischer Weise hergeleitet und erldärt werden kann, bei Frege der der Wahrheit, bei Dommett der der Verifikation. Und dies ist auch der Grund dafür, warum Dummett sich trotzder Übernahme zentraler Überlegungen Wittgensteins ganz deutlich von dessen bedeutungstheoretischen Interessen unterscheidet, da Wittgenstein eine systematische Bedeutungstheorie für weder sinnvoll noch möglich hält.12 Dummett hält also an der von Frege stammenden kognitiven Bedeutungskomponente fest, die durch seine Interpretation des Sinnbegriffs erhalten bleibt, und verbindet sie mit einer von Wittgenstein herrührenden gebrauchstheoretischen Bedeutungs- und Verstehensanalyse, die in der behavioralen Interpretation des Verstehensbegriffs ihren Ausdruck fmdet; von daher spielen in seiner Theorie die Begriffe des Wissens undVerstehenseine zentrale Rolle. Inwieweit diese Kombination haltbar und plausibel ist und ob sie nicht evtl. in Paradoxien führt, werden wir gleich noch sehen. Die zweite der oben angekündigten Vorbemerkungen zielt auf den Begriff des Wissens: Wenn im folgenden von "Wissen" die Rede ist, so geht es dabei immer um theoretisches Wissen, nicht um praktisches, das ohnehin, wie Dummett schreibt, nur "by courtesy" Wissen genannt wird (Dummett (1986) 475). Es wird im folgenden zwar auch um die Debatte zwischen "knowledge that" und l2 Dummc:us Begründung für seine Ablehnung Willgensteins in diesem Punkt wird etwa in folgender Passage deutlich: "My own opinion is that he [sc.Wiugenstein] will come to be seen as an immensely fertile source of important and often penetrating philosophical ideas, among which are some of fundamental significance for the philosophy of language; but that his work does not constinlle, as he and his foliowen believed that it did, (..) a solid foundation for Cuture worlt in philosophy. (.. ) Nevertheless, although these are ideas with which any Cuture attempt to construct a theory of meaning must come to tenns, Wittgenstein's worlt did not provide a foundation for any such attempt. For one thing, his example as regards the style in which he practised philosophy, is nottobe imitated. Thi.s style was the outcome, not only of his unique penonality, but also of his generat doctrines about the nature of philosophy itself. (.. ) [T]hese generat doctrines hinge upon the contention that philosophy is not concemed with any topic about which a systematic theory is possible; it seeks to rcrnove, not ignorance or false beliefs, but conceptual confusion, and therefore has nothing positive to set in place of what it removes. Now this conception implies that a systematic theory of meaning for a language is an impossibility; altematively. the impossibility of such a theory can be viewed as the only premiss from which Wittgenstein's thesis about the nature of philosophy could be derived. (..) I have already given my reasons for supposing that a systematic theory of meaning must be possible (.. )" ((1978) 4S2f). Zum Problem einer systematischen Bedeutungstheorie cf. unten Kap.Ill.

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstebens

44

"knowledge how" gehen, aber in der Frage nach dem für das Sprechen und Verstehen einer Sprache notwendigen Wissen ist immer das propositionale "Wissen daß" gemeint.l3 2. Die Verifikationistische Bedeutungstheorie und das Problem des theoretischen Wissens Nach diesen Vorbemerkungen, die den Hintergrund für die folgende Diskussion bereitstellen, soll nun die genauere Untersuchung der Beziehung zwischen Wissen und Verstehen in Dommetts Bedeutungstheorie erfolgen. Dommett schreibt in seinem Aufsatz "What is a Theory of Meaning? (II)" (1976) programmatisch: "[P]hilosophical questions about meaning are best interpreted as questions about understanding: a dieturn about what the meaning of an expression consists in must be construed as a thesis about what it is to know its meaning. (..) Our problern is, therefore: what is it that a speaker knows when he knows a language, and what, in particular, does he thereby know about any given sentence of the language? Of course, what he has when he knows the language is practical knowledge, knowledge how to speak the language: but this is no objection to its representation as propositional knowledge (..). Thus what we seek is a theoretical representation of a practical ability." (Dummett (1976) 69) (Hervorhebung B.R.)

Dommetts These, Bedeutungsfragen ließen sich am besten als Fragen danach interpretieren, was wir wissen, wenn wir die Bedeutung eines Ausdrucks verstehen, ist zunächst einmal in der Tat nicht mehr als eine These.1 4 Die Begründungen und Argumente für diese und die damit verbundenen, ebenfalls in dem Zitat anklingenden Thesen müssen aus verschiedenen Zusammenhängen heraus rekonstruiert werden, da Dummett selbst keine völlig klare Ordnung seiner Argumente angibt Man sollte also erst einmal folgende Probleme voneinander getrennt halten: Einerseits die Frage, was für ein Wissen wir jemandem zuschreiben können oder müssen, der eine Sprache spricht und versteht; andererseits diejenige, ob es eine systematische Bedeutungstheorie geben kann und wenn ja, welche Form eine solche Theorie annehmen muß. Denn natürlich ist eine (sprachphilosophische) Position vorstellbar, die behauptet, eine Theorie der 13 Cf. zu Dummens Differenzierung zwischen propositionalem und prädikativem Wissen und zu seiner Begründung, im Zusammenbang mit Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, warum prädikatives Wissen allein nicht ausreichend ist, um das Verstehen von Sätzen erklären zu können, vor allem (1978) 124ff. Ich gebe auf diese11 Begriindungszusammenbang nicht ein. 14 Diese These folgt natürlich nicht aus Dummetts Interpretation von Frege und Wittgenstein; es ist zunächst eine unabhängige These, die jedoch auf dem Hintergrund seiner FregeWittgenstein-Interpretation verständlicher wird.

n. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

45

Bedeutung von Ausdrücken habe nichts mit dem Wissen zu tun, das jemand hat, der diese Ausdrücke kompetent verwenden kann, oder, stärker formuliert: es gebe nichts, was jemand als Sprecher einer Sprache weiß. Nach dieser Position ist Sprechen eine Disposition für eine praktische Fähigkeit, die systematisch behavioral explizierbar ist (und deshalb theoriefähig), für die man aber kein bestimmtes Wissen braucht. Auf der anderen Seite ist eine Position denkbar, die behauptet, es gebe zwar viel, was ein Sprecher qua Sprecher an Wissen haben müsse, doch lasse sich daraus eine systematische Bedeutungstheorie nicht konstruieren.15 Die Methode, Bedeutungsfragen als Wissensfragen, als Fragen nach dem verslehenstheoretischen Wissen zu behandeln, bietet den Vorteil, daß so über die Struktur der Bedeutungstheorie verhandelt werden kann: Man kann die Probleme, die im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Wissen und Verstehen auftauchen, sozusagen als "Prüfsteine" für die Plausibilität der Grundstruktur einer Theorie des Verstehens begreifen. Ziel dieses Kapitels ist es folglich, diese Grundstruktur der Theorie des Verstehens zu klären; Dommetts Theorie wird dabei im Zusammenhang mit anderen sprachanalytischen Ansätzen diskutiert werden. Dem Ziel der Klärung der Grundstruktur und damit der Lösung der mit dem Wissensbegriff verbundenen Probleme kann man am besten in folgenden vier Schritten näherkommen: In einem ersten Schritt soll die Frage, inwieweit die praktische Fähigkeit, über die der Sprecher einer Sprache verfügt, (notwendigerweise) mit einem theoretischen Wissen einhergeht, behandelt werden (11.3). Wenn der Nachweis eines solchen theoretischen Wissens gelungen ist, muß ein zweiter Schritt der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen sinnvollerweise ein theoretisches Wissen der Bedeutung von Sätzen dem Sprecher einer Sprache zugeschrieben werden kann; dies läßt sich am besten anband der Problematik von Dummetts manifestation-requirement klären und dabei im Zusammenhang mit der Frage, wie wir die Bedeutung der sog. "unentscheidbaren Sätze" verstehen (11.4). Hat man damit die Bedingungen der Zuschreibung des theoretischen Wissens bestimmt, kann in einem dritten Schritt genauer geklärt werden, welcher Art das Wissen ist, das wir dem kompetenten Sprecher einer Sprache zuschreiben; dabei ist es sinnvoll, auf die unterschiedlichen bedeutungstheoretischen Modelle einzugehen, die zur Erklärung desVerstehenseines assertorischen Satzes vorliegen (11.5). In einem letzten Schritt soll schließlich der Status des solcherart zugeschriebenen und bestimmten Wissens geklärt werden und zwar so, daß begründet wird, warum dieses Wissen implizites Wissen in dem Sinn sein muß, daß sowohl die Gefahr des Behaviorismus wie auch die des Psychologismus vermieden werden kann.

15 Zur ersten Position cf. etwa Devitt (1983); Stich Baker/Hacker (1984) im Anschluß an Wittgenstein.

(1971); zur zweiten Position etwa

46

A. Untcnuchung der sprachanalytischen Theorie des Yenlehens

3. Sprachverstehen als Wissen wie und Wissen daß Warum müssen wir jemandem, der eine Sprache spricht und versteht, überhaupt ein propositionales "Wissen daß" zuschreiben? Dommett formuliert diese Frage folgendennaßen selbst: "To understand an expression is to know its meaning; we speak of knowing what an ostrieb is, of knowing what "credulous" means, and, above all, of knowing Swedish or Spanish. Are we to take seriously the verb "to know" in this coMection? Is an ability to speak a language really a case ofknowledge?" (Dummett (1978a) 1)16 Eine extreme Position ist die, nach der die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen und zu verstehen, überhaupt kein "Wissen daß" voraussetzt, sondern allein in einem "Wissen wie" bestehl Stich, der sich hier zwar gegen Chomsky und nicht gegen Dummett richtet (was jedoch für die Art der Argumentation keinen Unterschied macht), schreibt in diesem Zusammenhang: "The question I hope to answer is brief: what does every speaker of a natural language know? My answer is briefer still: nothing, or at least nothing interesting." 17 Und im selben Sinne Devitt, im Zuge seiner gegen Dommett gerichteten Argumentation: "Understanding a language no more involves having propositional knowledge of a semantic sort about the language than being able to ride a bicycle involves having propositional knowledge about mechanics, or being able to digest food involves having propositional knowledge about digestion." 18 Für Stich ebenso wie für Devitt ist die Fähigkeit, eine Sprache zu verstehen, eine ausschließlich praktische Fähigkeit, eine Frage des "knowledge how", die nichts zu tun hat mit der Frage danach, was Linguisten oder Sprachphilosophen sich für Theorien über diese praktische Fähigkeit ausdenken, oder besser: Die Beziehung zwischen der oder den Theorie(n) und der praktischen Fähigkeit hat, so Stich, nichts mit propositionalem Wissen zu tun. Stich hält es für absurd, einem Sprecher ein "Wissen daß" z.B. der komplizierten Grammatikregeln 16 Im Deutschen würde man diese untenchiedlichen Fille auch untcnchiedlich ausdrucken: man "weiß", was ein Strauß ist, man "weiß", was "leichtgläubig" bedeutet, aber man "kann" schwedisch oder spanisch; einen Ausdruck ventchen hei& im Deutschen, seine Bedeutung zu "kennen", aber eben auch, zu "wissen", was er bedeutet. Insofern bringt das Englische, gerade weil es in diesem Zusammenhang nicht über eine so differenzierte Begrifflichkeit verfügt wie das Deutsche, das Problem schärfer zum Ausdruck: nämlich die Frage, ob man beim Sprechen von praktischem 1111d theoretischem Wissen reden kann. Cf. allgemein zur Differenzierung zwischen "knowledge how" und "knowledge that" den klassischen Aufsatz von Ryle (1946); cf. auch Ryle (1949) ch.2. 17 Stich (1971) 476. 18 Devitt (1983) 88.

li. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

47

Chomskys zu unterstellen, und vergleicht die Sprachkompetenz eher mit z.B. der "Fähigkeit" eines Projektils, das in eine bestimmte Richtung fliegt, die in einer Theorie beschreibbar ist, ohne daß dem Projektil ein "Wissen daß" dieser lbeorie zugeschrieben werden könnte: "The situation seems completely analogous to a theory describing the trajectory of projectiles. Such a theory specifies the disposition of projectiles to take one path or another dependent on a variety of initial conditions. Here too one might consider attributing implicit knowledge of the theory to the projectile. It would, of course, be an odd case of knowledge (..)."19 Man muß jedoch zunächst einmal die Fälle, um die es hier geht, voneinander trennen: Den Fall des Projektils, oder auch des bei Devitt angeführten Verdauungssystems, den Fall des Fahrradfahrens oder Schwimmensund den des Sprechensund Verslehens einer Sprache. Der erste Fall hat aus zwei Gründen nichts mit den beiden anderen zu tun: Zum einen liegt bei dem Projektil ebenso wie bei dem Verdauungssystem noch nicht einmal ein "Wissen wie" vor; in beiden Fällen reden wir allenfalls in übertragener Bedeutung von einem "Wissen wie" (das Projektil fliegen oder das Verdauungssystem arbeiten soll). Wir haben hier Fälle schlichter naturgesetzlicher, physikalisch oder biologisch genauer zu spezifiZierender Regeln, nach denen die jeweiligen Systeme funktionieren und die unter keiner plausiblen Betrachtungsweise einen sinnvollen Gebrauch des Ausdrucks "Wissen wie" zulassen. Weder Verdauungssysteme noch Projektile sind Objekte, die dafür geeignet sind, ihnen ein "Wissen" welcher Art auch immer zuzuschreiben. Das Problem, um das es eigentlich geht, ist jedoch gerade das, bei Fällen, in denen man sinnvoll von einem "Wissen wie" reden kann, zwischen solchen zu differenzieren, in denen mit dem "Wissen wie" auch ein "Wissen daß" zugeschrieben werden kann, und solchen, in denen dies gerade nicht sinnvoll oder notwendig ist. Stich und Devitt setzen in unzulässiger und unbegründeter Weise voraus, daß in ihren Beispielen, ebenso wie beim Sprechen, von einem "Wissen wie" geredet werden kann, und daß sich deshalb hier, ebenso wie beim Sprechen, auch die Frage nach einem "Wissen daß" stellen muß, das das "Wissen wie" erklären sollte. Dies ist jedoch eine falsche und irreführende Parallelisierung.20 Zu ihrer Auffassung kommen Stich und Devitt dadurch -und dies ist der zweite Punkt-, daß sie keinerlei Differenzierung zwischen kausalem und regelmäßigem Verhalten auf der einen Seite und intentional9 Stich (1971) 486; cf. zum folgenden auch Nagel (1969); die These von Stich und Devitt mag zwar absurd IIUIIUten, da sie jedoch für eine bestimmte Auffassung innerhalb der sprachanalytischen Theorie exemplarisch steht, ist es sinnvoll, sich zumindest kurz mit ihr auseinanderzusetzen. 20 Auch Nagel (1969) 173f meint, daß man allenfalls in übertragener Weise auch bei einem Verdauungssystem von einem "Wissen" sprechen kann, nämlich z.B. ein "Wissen daß" schlechte Austern möglichst nicht absorbiert werden sollten. Daß dies nur eine übertrage11e Ausdrucksweise ist, sieht man, so Nagel, auch daran, daß gar nicht deutlich ist, wer oder was eigentlich der Triger des zugeschriebenen Wissens sein sollte und daß man dem Verdauungssystem keine "Meinungen" über schlechte Austern zuschreiben kann.

48

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Venlehens

lern und regelgeleitetem Verhalten auf der anderen Seite vornehmen: Bei einem Projektil ebenso wie bei einem Verdauungssystem sorgt ein kausaler Mechanismus für das richtige, regelmäßige "Verhalten". Beide folgen natürlichen (oder naturgesetzlichen) Mechanismen und können in völlig ausreichender und befriedigender Weise kausal erklärt werden. Beim Fahrradfahren ebenso wie beim Sprechen einer Sprache haben wir es jedoch mit intentionalem und regelgeleitetem Verhalten zu tun. Nur deshalb kann man auch in den letzteren Fällen, nicht jedoch in den beiden ersten von einem "Wissen wie" reden. Schwieriger sind nun die Beispiele, die für uns einen Fall von "Wissen wie" darstellen, in denen wir jedoch nicht immer notwendigerweise ein "Wissen daß" zuschreiben müssen: Beim Fahrradfahren etwa reicht es natürlich völlig aus, daß jemand weiß, wie man Fahrrad filhrt, ohne daß er oder sie weiß, daß man, um diese praktische Fähigkeit ausüben zu können, bestimmten Regeln folgen muß, die sich aus der mechanischen Beschaffenheit des Rades oder - allgemeiner - aus bestimmten physikalischen Gesetzmäßigkeilen ergeben. Für die Tätigkeit des Schwimmens gilt dies in analoger Weise. Anders liegt der Fall jedoch beim Sprechen und Verstehen einer Sprache: Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, daß das Sprechen einer Sprache gelernt werden muß- beim Fahrradfahren oder Schwimmen ist es zumindest möglich, daß man es intuitiv kann, ohne je vorher einem Lernprozeß ausgesetzt worden zu sein. Beim Sprechen einer natürlichen Sprache ist dies jedoch ausgeschlossen. Diese Differenz wird umgekehrt daran deutlich, daß man zwar sehr gut wissen kann, was "Schwimmen" ist, ohne jedoch selbst dazu in der Lage zu sein, dieses Wissen praktisch umzusetzen. Dommett führt dies folgendermaßen aus: "[l]f you have not leamed Spanish, you do not even know what it is to speak Spanish; you could not teil (at least for sure) whether someone eise was speaking it or not: and that is why you could not even try to speak Spanish. Indeed, when you leam Spanish, you do not leam a technique for accomplishing the already known end of speaking Spanish. There is no gap between knowing what it is to speak Spanish and knowing how to do so(..): you do not frrst leam what speaking Spanish is and then leam a means by which this feat can be executed." (Dummett (1978a) 2f) Beim Sprechen, dies zeigt Dommetts Beispiel, ist die Zuschreibung von "Wissen wie" und "Wissen daß" gar nicht zu trennen:2 1 Ein Wissen, wie man etwa- spanisch spricht, ist identisch mit einem (theoretischen) Wissen, daß eine bestimmte Lautkette einen sinnvollen spanischen Satz darstellt und damit (im Prinzip) identisch mit der Fähigkeit, einen solchen Satz äußern zu können. Das heißt natürlich nicht, daß dieses "Wissen daß" explizit verbalisierbares Wissen sein muß; es heißt nur, daß man sich durch Reflexion auf den Sprachgebrauch der Regeln bewußt werden oder beispielsweise auf Anfrage hin richtige von falschen Regeln unterscheiden kann. Der unreflektierte Sprachgebrauch gründet 21 Cf. auch Dummen (198la) 326f.

ll. Verstehen, Wissen und Verifikationismus

49

auf einer Habitualisierung, die jedoch nicht nur auf ausgebildeten Dispositionen beruht, die nach einem mechanischen stimulus-response-Modell analysiert werden könnten; der intentionale Ursprung der Habitualisierung kann durch Reflexion deutlich gemacht werden. Dies zeigt sich auch daran, daß das reflexive Bewußtwerden und Benennen der Regeln, denen man beim Sprechen folgt, nicht den Chamkter des überraschten Registrierens trägt (in dem Sinne, daß man sich etwa dabei überraschen könnte, welche Farbe man "rot" nennt), sondern den einer begründenden Aussage.22 Dies wäre nicht mehr erklärbar, würde man beim Sprachverstehen nur ein auf Dispositionen beruhendes "Wissen wie" annehmen. Damit ist zumindest vorläufig plausibel gemacht, daß wir bei der praktischen Fähigkeit ("Wissen wie") des Sprechensund Verstehenseiner Sprache immer auch ein "Wissen daß" zuschreiben müssen. Dies muß jedoch solange unbefriedigend bleiben, als nicht geklärt ist, welche Fonn dieses "Wissen daß" haben muß und unter welchen Bedingungen es zugeschrieben werden kann.

4. Das Verstehen "unentscheidbarer Sätze": manifestation requirement und die Zuschreibungsbedingungen theoretischen Wissens Bei der Frage nach den Bedingungen der Zuschreibung des Wissens, das jemand hat, der eine Sprache spricht und versteht, geht es eigendich darum, wie das Verhältnis zwischen (theoretischem) Wissen und (praktischer) Fähigkeit zu bestimmen ist. Das Problem ist dabei, ob und wie sich das notwendige theoretische Wissen in der praktischen Fähigkeit zeigt Die Forderung, das für das Sprechen einer Sprache relevante (implizite23) Wissen müsse im Sprachverhalten manifest sein - Dommetts sogenanntes "manifestation-requirement" -,diese Forderung bildet das Kernstück der Bedeutungstheorie Dummetts: "[W]here we are concerned with a representation in tenns of propositional knowledge of some practical ability, and, in particular, where that practical ability is precisely the mastery of a language, it is incumbent upon us, if our account is to be explanatory, not only to specify what someone has to know for him to have that ability, but also what it is for him to have that knowledge, that is, what we are taking as constituting a manifestation of a knowledge of tlwse propositions; if we fail to do this, then the connection will not be made between the theoretical representation and the practical ability it is intended to represent." (Dummett (1975) 121) (Hervorhebung B.R.)

22 Cf. dazu Seebaß (1985) 9f.14f.bes.16f. Cf. zum Problem des Regelfolgens auch unten Kap.IV.l. 23 Daß dieses Wissen sinnvollerweise nur als implizites Wissen, nicht als explizit verbalisierbares Wissen aufgefaSt werden kann, ist selbstverständlich; dies wird in 11.6 genauer begründet werden.

50

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

Der Gegner, gegen den Dommett sich hier richtet, ist, wie wir schon in der Einleitung gesehen hatten, die wahrheitsfunktionale Semantik: Deren Kernthese ist es, daß das Kennen der Bedeutung eines Satzes darin besteht, zu wissen, unter welchen Bedingungen der Satz wahr ist Nun handelt es sich hierbei jedoch und genau da setzt Dommetts Kritik an - nur um die Feststellung des propositionalen Wissens ("representation in terms of propositional knowledge of some practical ability"), ohne besondere Erwähnung der anderen von Dommett geforderten Seite ("what we are taking as constituting a manifestation of a knowledge of those propositions").24 Die Bedingung, daß sich das "knowledge that" vollständig im "knowledge how" manifestieren muß, kann nicht für jede Spezifikation des "knowledge that" erfüllt werden: Das Manifestationserfordernis als die Forderung nach einer ausweisbaren Verbindung zwischen theoretischem Wissen und praktischer Fähigkeit spielt deshalb eine zentrale Rolle in Dommetts Bedeutungstheorie, denn es hat Implikationen für die Art von Wissen, die wir dem Sprecher einer Sprache zuschreiben, und also für die Form der Bedeutungstheorie selbst Wie also sieht Dommetts Erfordernis aus und wie begründet er es? Dommett schreibt, daß "the ascription of implicit knowledge to someone is meaningful only if he is capable, in suitable circumstances, of fully manifesting that knowledge." (Dummett (1978) 224) Wenn wir einmal davon ausgehen, daß der Ausgangspunkt, überhaupt propositionales Wissen zuzuschreiben, das jedoch mit der praktischen Fähigkeit korreliert werden muß, klar ist, dann erhebt sich bei dieser Charakterisierung - und vielen ähnlichen- natürlich sofort die Frage: was sind die "suitable circumstances" und was heißt ''fully manifesting"? Doch ehe ich diese Probleme in Angriff nehme, will ich zunächst auf die Gründe eingehen, die Dommett dazu bringen, die "Manifestation" des Wissens überhaupt zu fordern und ihr einen so prominenten Stellenwert in seiner Theorie zuzuweisen. Soweit ich sehe, lassen sich dafür bei Dommett zwei Gründe ausmachen, die eng miteinander zusammenhängen (insofern, als sie sich, strenggenommen, gegenseitig implizieren): Der erste Grund liegt in seiner Interpretation von Wittgensteins Diktum "Bedeutung ist Gebrauch", der zweite in dem, was in der Literatur "acquisiton-challenge" genannt wird, was ich als "Lemargument" übersetze. Da ich oben (in der Einleitung) schon etwas ausführlicher dargestellt habe, wie sich Dommett mit Hilfe Willgensteins und des Lernarguments gegen die wahrheitsfunktionale Semantik wendet, möchte ich dies hier nur noch ein-

24 Ich halte es für eine der entscheidenden Leistungen von Dummetts Theorie, auf dieses Defizit der wahrheitsfunktionalen Semantik, die aus Davidsons nicht ausreichend reflektiertem Umgang mit dem Begriff des Wissens entspringt, hingewiesen zu haben; Rorty, um nur einen zu nennen, ist da jedoch anderer Meinung: cf. (1986) bes. 348ff; auch schon (1979) ch.6. Gegen die neuesie Entwicklung Davidsons, den Sprachbegriff ganz aufgeben zu wollen, wendet sich Dummett in (1986).

IT. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

51

mal kurz zusammenfassen, um die nachfolgende Auseinandersetzung mit Dommett verständlich zu machen. Das erste Argument, das auf einer Interpretation von Wittgensteins Diktum beruht, hat kurz gesagt folgende Schritte (cf. Dommett (1978) 216t): (1) Sprache ist Instrument und Medium der Kommunikation.

(2) Man kann nichts mitteilen oder kommunizieren, was man nicht beobachtbar kommunizieren kann. (3) Die Bedeutung von Ausdrücken besteht in dem Gebrauch in der Kommunikation, den wir von ihnen machen. (4) Verstehen, Kenntnis von Bedeutung, heißt Kenntnis des Gebrauchs eines Ausdrucks. (5) Kenntnis von Gebrauch, Verstehen, muß mannestierbar sein. (1) ist zunächst einmal eine relativ harmlose Aussage, die wir nicht weiter zu problematisieren brauchen.25 Ähnliches gilt für (2), obgleich hier eindeutig behavioristische Prämissen anklingen (was heißt "beobachtbar"?), die auf jeden Fall später noch genauer untersucht werden müssen. Zwischen (2) und (3) gehört, wenn (3) ein Schluß aus (I) und (2) sein soll, eigentlich noch

(2a) Das, was in der sprachlichen Kommunikation beobachtbar ist, ist der Gebrauch von Ausdrücken. Dies bringt jedoch m.E. keine zusätzlichen Probleme, d.h. keine, die nicht schon in (2) und (3) enthalten sind. Auch (3) können wir erst einmal als nicht umstritten stehen lassen, nicht aber (4), da dies den problematischen Begriff der Kenntnis, also des Wissens mit hereinbringt und mit dem des Verstehens korreliert. Es wird hier deutlich, daß Dommett die Ausdrücke "Verstehen" und "Kenntnis von Bedeutung" synonym verwendet, was nicht unter jeder Interpretation von Kenntnis und Wissen trivial ist, wie sich gleich zeigen wird. (5) ist, wenn man (I) bis (4) einmal mitgemacht hat, nicht weiter problematisch, da es nur den Schluß aus dem vorherigen bildet; natürlich ist trotzdem weiterhin fraglich, wie das "manifestierbar" genauer zu bestimmen ist Ich komme auf all diese Probleme zurück. Ein möglicher Einwand sollte jedoch kurz zurückgewiesen werden, nämlich der, daß mit der Bestimmung der Bedeutung eines Ausdrucks durch die Erklärung seines Gebrauchs, seiner Verwendungsweise, schon eine petitio gegenüber der wahrheitsfunktionalen Semantik begangen worden sei, da diese gerade nicht den Gebrauch eines Ausdrucks, sondern dessen Beitrag zum Wahrheitswert eines Satzes für das die Bedeutung konstituierende Moment halte. Dies ist jedoch ein Mißverständnis: Man könnte zwar philosophiegeschichtlich argumentieren da25 Durnmett sieht sich hier im Gefolge Wittgensteins, cf. Durnmett (1978) 452; Willgeostein selbst scheint mir jedoch Vonichtiger zu !'ormulieren, cf. (1971) 46 (§49); (1978) 193; cf. auch Dummett (1986) 470; (1978) 216.442.

52

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

mit, daß Davidson und Quine sich gerade dem Einfluß der "ordinary language philosophy", in der der Slogan "don't Iook for the meaning, Iook for the use" ja seinen eigentlichen 'Sitz im Leben' hatte, durch die Orientierung an der formalsprachlichen Tradition und Davidsons Übernahme der Tarskischen Wahrbeildefinition in die Semantik widersetzten. Systematisch gesehen ist es jedoch klar, daß auch Davidsons Semantik als "Gebrauchstheorie" nicht nur interpretierbar ist, sondern auch eine solche zu sein beansprucht. Denn die T-Theoreme, deren Kenntnis ("knowledge") dem Sprecher einer Sprache zugeschrieben wird, erhalten ihre (vermeintlich) explanatorische Rolle als (Teil einer) Bedeutungstheorie ja nur dadurch, daß die Sätze auf der metasprachlichen rechten Seite einen Ort im Gebrauch dieser schon immer vorausgesetzten Sprache haben (dies ist wiederum der schon oben in der Einleitung zitierte Unterschied zwischen "mention" und "use"). Die Differenz zwischen Davidson und Dommett läßt sich also nicht an der Frage "Gebrauchstheorie ja oder nein" verdeutlichen, sondern daran, wie, resp. ob dieser "Gebrauch" näher zu bestimmen ist. Davidson reicht die in den T-Theoremen enthaltene Feststellung aus, während Dummett dies für irreführend und falsch hält26 Doch nun zunächst zum zweiten, dem "Lernargument", das ich ebenfalls nur schematisch darstellen will: (1') Wir können nur das lernen, was uns gezeigt wird, was wir also beobachten können. (2') Wir lernen die Bedeutung von Ausdrücken und Sätzen dadurch, daß uns gezeigt wird, wie sie zu gebrauchen sind.

(3') Was wir nicht durch den Gebrauch von Ausdrücken lernen können, kann nicht wesentlich für ihre Bedeutung sein. (4') Kenntnis der Bedeutung von Ausdrücken, Verstehen, heißt Kenntnis des Gebrauchs von Ausdrücken.

(51 Kenntnis der Bedeutung von Ausdrücken, Verstehen, muß manifestierbar sein. Die Argumentation ist hier offensichtlich strukturell genau die gleiche wie in (1) bis (5). In (1') wird noch mehr als in (2) die behavioristische Grundlage von Dommetts Argumentation klar, und es ist fraglich, wie er tatsächlich die Gefahr des Behaviorismus - wenn man dies für eine Gefahr hält27 • vermeiden kann. Bisher istjedoch weder in (1) bis (5) noch in (1 ') bis (5') Dommetts entscheidendes Argument gegen die wahrheitsfunktionale Semantik deutlich geworden, deshalb sollen die dafür notwendigen Argumentationsschritte zunächst zu Ende geführt werden: 26 Cf. z.B. Dummen (1978b) 225; cf. auch (1981b). Dummen benutzt zwar Wittgenstein, um gegen Davidson zu argumentieren, jedoch so, daß er nachzuweisen sucht, daß in Davidsons Semantik sich die Bedeutung eines Ausdrucks eben nicht in seinem Gebrauch manifestieren kann, nicht dadurch, daß er Davidson vorwirft, prinzip~/1 gegen die "Gebrauchsthese" zu sein. 27 Dummen selbst hält dies jedenfalls für eine Gefahr, cf. etwa (1978) XXXIllff.

II. Verstehen, Wissen und Verifikationismus

53

(6) Wenn das, was die Bedeutung von Ausdrücken bestimmt, ihr Beitrag zum Wahrheitswert eines Satzes ist, dann besteht die Bedeutung eines Satzes in seinen Wahrheitsbedingungen- wir verstehen einen Satz dann, wenn wir wissen, unter welchen Bedingungen er wahr oder falsch isL (7) Es gibt Sätze, deren Wahrheitswert wir prinzipiell nicht erkennen können, deren Wahrheitswert für uns also prinzipiell nicht entscheidbar ist. (8) Wenn die Bedeutung eines Satzes in seinen Wahrheitsbedingungen besteht, dann gilt für Sätze, die unter (7) fallen, daß ihre Bedeutung das, was im Gebrauch offen liegt, übersteigt. (9) Also kann die Bedeutung dieser Sätze nicht in ihren Wahrheitsbedingungen bestehen. (10) Also ist nicht der Begriff der Wahrheit für die Bestimmung der Bedeutung von Sätzen verantwortlich (sondern ein Begriff, der mit (1) bis (5) und (7) in Einklang zu bringen ist). (6) sagt nicht mehr als das, was innerhalb der wahrheitsfunktionalen Semantik seit Frege zur Selbstverständlichkeit geworden ist - darauf war in der Einleitung auch schon hingewiesen worden. (7) ist als Aussage über verschiedene Klassen von Sätzen klar und unumstritten. Für (8) gilt dies so nicht, deshalb will ich es kurz erläutern: Wenn das Verstehen der Bedeutung von Sätzen an das Kennen ihrer Wahrheitsbedingungen geknüpft ist und die Bedeutung im Gebrauch der Sätze manifest sein soll, dann ist unklar, so Dummett, wie das Verstehen von Sätzen zustandekommt, deren Wahrheitswert für uns prinzipiell nicht entscheidbar ist, da wir nichts im Gebrauch dieser Sätze haben, an das wir uns halten könnten, um zu zeigen, wie diese Sätze zu verstehen sind und ob wir sie verstanden haben. Es ist also "etwas" in der Bestimmung der Bedeutung dieser Sätze, das ihren Gebrauch übersteigt - und insofern koUidiert (8) mit (3') (und mit (3), (4) und (4')). (9) ergibt sich natürlich aus (1) bis (5) und (6) bis (8), und (10) ist dann nur noch die Konsequenz aus dem vorherigen, zusätzlich der evtl. noch explizit zu machenden Prämisse, daß wir an einer systematischen Bedeutungstheorie interessiert sind, die für alle Sätze unserer Sprache erklären soll, was es heißt, sie zu verstehen (dies nur deshalb, weil es vorstellbar ist, daß jemand aus (1) bis (9) den Schluß zieht, das Verstehen mancher Sätze ließe sich eben nicht erklären). Damit sollte die Begründung, warum Dommett das manifestation-requirement für so zentral hält, deutlich sein. Wir müssen also, um die Stichhaltigkeit seiner Begründung und seiner Argumentation gegen die wahrheitsfunktionale Semantik prüfen zu können, folgende Punkte genauer untersuchen: was heißt "beobachtbar", i.e. wie stark sind die behavioristischen Forderungen, die Dommett an eine Bedeutungstheorie stellt? Was heißt "manifestierbar", i.e. wann gilt ein Wissen als manifestiert? Und schließlich: was genau sagt Dommett zu den "unentscheidbaren Sätzen"? Ich denke, daß sich die ersten beiden Fragen insofern unter

54

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslebens

die dritte subsumieren lassen oder zumindest im Zuge ihrer Beantwortung mitberücksichtigt werden, als in der Begründung, warum wir die Bedeutung unentscheidbarer Sätze nicht mittels der wahrheitsfunktionalen Semantik klären können, zur Sprache kommen muß, welche Bedingungen Dommett an das Verstehen dieser (und anderer) Sätze stellt. Unentscheidbar sind für Dummett, wie schon in der Einleitung festgestellt wurde, drei Klassen von Sätzen: 1. Aussagen über unendliche Bereiche, 2. irreale Konditionalsätze und 3. Aussagen über uns prinzipiell unzugängliche Raum-Zeit-Regionen. Das vordringlichste Problem, mit dem man bei einer Analyse von Dommetts Position konfrontiert wird, ist dabei zunächst dies: Wie bestimmt er eigentlich die Bedeutung und das Verstehen unentscheidbarer Sätze? Wie unklar und auslegungsfähig er in diesem zentralen Punkt ist, wird deutlich an der Tatsache, daß es völlig unterschiedliche Interpretationen seines Verständnisses dieser Sätze gibt - von der Auffassung, Dommett sei der Meinung, diese Klassen von Sätzen seien sinnlos, unverständlich,28 bis hin zu derjenigen, Wahrheitsbedingungen seien zugunsten von Behauptbarlceitsbedingungen aufzugeben, wobei wiederum unterschiedliche Interpretationen von "Behauptbarkeitsbedingungen" möglich sind. C.McGinn vertritt in "Truth and Use" (McGinn (1980)) eine Interpretation Dummetts, die diesem die These unterstellt, unentscheidbare Sätze seien für uns "eigentlich" nicht verständlich: Wir benutzen sie zwar, das ist unbestreitbar, aber wir können nicht angeben, wieso sie bedeutungsvoll sind, da es nichts gibt, wodurch wir unser Wissen von ihrer Bedeutung manifestieren können. Ich möchte hier nicht näher auf McGinns Position eingehen, da ihm in seiner Argumentation nicht so sehr die Verslehenstheorie wichtig ist als vielmehr die Kritik an Dommetts Antirealismus und seiner Verbindung von Semantik und Metaphysik. Wichtig ist mir nur, daß McGinns Interpretation - zumindest bezogen auf die Sätze über prinzipiell unzugängliche Raum-Bereiche (diese bilden in seiner Kritik das Paradigma) - eine mögliche Lesart Dommetts darstellt und Unterstützung im Text findet; so etwa, wenn Dommett sich dagegen wendet, das Verstehen von Aussagen über infinite Bereiche sei möglich auf Grund der Extrapolation des finiten Falls: 28 So etwa McGinn (1980) und Chomsky (1981) bes. 120. Es ist recht deutlich, warum Dummett in dieser Frage so unklar ist, obgleich sie einen der Angelpunkte seiner gesamten Theorie darstellt: llim geht es nicht in erster Linie um die (positive) Konstruktion einer Bedeutungstheorie, sondern um die (negative) Kritik an der Wahrheitssemantik. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war offenbar nicht die Idee, eine Verifikationistische Semantik im Gegenzug zur wahrheitsfunktionalen zu entwerfen und darzustellen, sondern prinzipielle Zweifel an der Machbarkeil der letzteren (cf.z.B. (1976) 67; (1978) XL.374). Dummetts Anliegen ist es, die Zusammenhänge zwischen Semantik, Epistemologie und Metaphysik so aufzuzeigen, daß die Widersprüche in der wahrheitsfunktionalen Semantik deutlich werden; dies hat zur Folge, daß die Kritik an dieser Theorie im Vordergrund steht und das Vorstellen eines Gegenkonzepts zweitrangig wird. Zieht man diesen Hintergrund von Dummetts Theorieentwicklung mit in Betracht, so wird es verständlicher - wenn auch nicht verzeihlicher -, warum er sich in einem so wichtigen Punkt seiner Theorie wie dem Verstehen unentscheidbarer Sätze so mißverständlich ausdrücken konnte.

II. Verstehen, Wissen und Verifikationismus

55

"The assumption that the understanding so [sc. by leaming to quantify over fmite, surveyable domains] gained may be extended without further explanation to quantification over infinite domains rests on the idea that it is only a practical difficulty which impedes our determining the truth values of sentences involving such quantification in a similar way; and, when challenged, is defended by appeal to a hypothetical being who could survey infinite domains in the same manner as we survey finite ones. Thus Russen spoke of our incapacity to do this as "a mere medical impossibility"." (Dummett (1976) 99) Wenn wir diese erste Lesart Dommetts - "unentscheidbare Sätze verstehen wir nicht"- als äußerst unplausibel ablehnen (unplausibel der Sache nach, nicht unbedingt vom Textbestand her), so bleibt eine andere, Dommett etwas freundlicher gesinnte und vor allem plausiblere. Der Nachteil dieser Interpretation, die ich im folgenden vorstellen will und die m.E. die einzig sinnvolle Alternative ist, ist allerdings, daß sie offensichtlich nicht die von Dommett intendierte ist.29 Da wir aber nur die Wahl haben zwischen einer sachlich völlig unangemessenen und einer Interpretation, die mit verschiedenen Texten nicht vereinbar ist, oder zumindest nicht vereinbar zu sein scheint, halte ich es für sinnvoller, sich für letztere Alternative zu entscheiden. Ich werde am Schluß des Kapitels hierauf zurückkommen. Das intuitionistische Modell, demgemäß die Wahrheit mathematischer Aussagen mit ihrer Beweisbarkeit zu identifizieren ist und wir die Bedeutung mathematischer Sätze dann verstehen, wenn wir wissen, wie ein Beweis für sie aussieht oder zumindest einen solchen erkennen würden, dieses intuitionistische Modell soll, so Dummett, auf das Verstehen von Aussagen der natürlichen Sprache übertragen werden: Das heißt, daß die (mathematische) Beweisbarkeit zur (natürlich-sprachlichen) VerifiZierbarkeil wird- wir verstehen eine Aussage dann, wenn wir wissen, wie sie verifiziert werden kann oder wenn wir Evidenz für ihre Wahrheit als solche erkennen würden. (Es ist bisher allerdings noch nicht ganz klar, was bei der Übertragung der "Beweisbarkeit" aus der Mathematik auf die natürliche Sprache als Pendant zu gelten hat, ob z.B. "VerifiZierbarkeil" oder "Behauptbarkeit". Dies ist hier jedoch auch noch nicht wichtig. Ich werde die Frage im nächsten Kapitel klären und bis dahin (noch unbegründet) von VeriflZierbarlceit reden, resp. Behauptbarkeit, Beweisbarkeit und Verifizierbarkeil einfach als Synonyma verwenden (dies ist auch deshalb zunächst legitim, weil Dummetts Sprachgebrauch hier selbst oft unpräzise ist.)) Daß das Verstehen natürlich-sprachlicher Sätze analog zum intuitionistischen Modell zu konstruieren ist, behauptet Dummett nun zunächst für das Verstehen von Aussagen über die Vergangenheit, die ja auch zur Klasse der unentscheidbaren Sätze gehören: Wir verstehen Sätze über die Vergangenheit dann und nur

29 Cf. auch Dummen (1978) 231f; (1977) 6f; (1982) 105f; (1981) 514.

56

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

dann, wenn wir präsentische Evidenz für ihre Wahrheit haben.3° Dies mag ja

eventuell für Sätze über Vergangenes plausibel sein,3 1 ist aber überhaupt keine

Hilfe bei der Quantiflk:ation über unendliche Bereiche. Was wäre das natürlichsprachliche Pendant zu einem mathematischen Beweis für eine Allquantiflk:ation? Wenn Dummett die Extrapolation von der Quantiflk:ation über endliche Bereiche ausschließen will, da wir das Verstehen solcher Sätze, wenn es auf der KennUlis von Wahrheitsbedingungen beruht, nicht manifestieren könnten, dann ist in der Tat fraglich, was eigentlich an Möglichkeiten noch übrig bleibt

Setzen wir noch einmal an: Wenn wir davon ausgehen, daß wir Sätze, deren Wahrheitswert für uns prinzipiell nicht entscheidbar ist, verstehen - und dies sollte man, trotz der scheinbaren, manchmal radikalen revisionistischen Tendenzen bei Dummen, doch annehmen - dann muß die Frage lauten: Was sind die Verstehensbedingungen für diese Sätze und wie zeigen wir, daß wir ihre Bedeutung verstanden haben? Ich halte es für sinnvoll, sich hierbei auf die Klasse der Sätze zu beschränken, die über einen unendlichen Bereich quantiftzieren, um so den problematischen Zeitfaktor auszuschalten, der in Sätzen über Vergangenheit und Zukunft erschwerend hinzukommt Charakteristikum dieser Sätze soll nun, laut Dummett, sein, daß ihr Wahrheitswert für uns prinzipiell nicht entscheidbar ist. Was heißt "prinzipiell"?32 Es kann sich offenbar nicht um einen schlichten Allsatz wie "Alle Raben sind schwarz" handeln (vorausgesetzt, dies ist kein analytischer Satz), da ja zumindest vorstellbar ist, daß es "prinzipiell" möglich ist, alle derzeit existierenden wir wollten den Zeitfaktor aus dem Spiel lassen - Raben daraufbin zu untersuchen, ob sie schwarz sind. Wir hätten also einen "Beweis", den wir auch als solchen erkennen könnten. "Prinzipiell" muß folglich mehr heißen und bei Dummett in einem stärkeren Sinn gelesen werden. Als Beispiel könnte man vorschlagen: "Alle Himmelskörper mit einem Durchmesser von mehr als 10.000 km haben in ihrem Zentrum eine höhere Temperatur als an ihrer Oberfläche." "Prinzipiell unmöglich", den Wahrheitswert dieses Satzes zu bestimmen, hieße dann, daß wir nicht verstehen können, was es heißt, jede der (potentiell) unendlich vielen lnstantiierungen dieser Quantifikation nacheinander durchzugehen und jeweils den Wahrheitswert des entsprechenden Satzes zu prüfen. Unentscheidbar ist der Satz nach Dummetts Theorie jedoch nicht nur auf Grund der Allquantifikation, sondern auch noch deshalb, weil er auf eine nicht zugäng-

°

3 Cf. Dwnmett (1978) XXXVIIf.358ff.363f; als präsentische Evidenz karm auch Erinnerung gelten. 31 Ich halte es für völlig unplausibel; aber ich will die Frage des Zeitbewu&seins und des Erlemens von zeitlichen Ausdrücken wie "früher" und "später" und damit die Problematik, ob wir immer schon ein Zeitbewußtsein voraussetzen müssen, wenn wir das Verstehen zeitlicher Ausdrücke erlclären wollen, ganz aus dem Spie11assen; die Sache ist auch ohnedies kompliziert genug. 32 Cf. zu den verschiedenen Möglichkeiten, "in principle possible" zu interpretieren: Putnam (1978) 63ff; Dommett selbst nimmt, soweit ich sehe, genauere Differenzierungen nicht vor, sondern scheint fälschlicherweise vorauszusetzen, daß klar ist, was gerneint sein soll.

ll. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

57

liehe Raum-Region Bezug nimmt,33 da wir (bisher) keine (technische) Möglichkeit haben, tatsächlich alle Himmelskörper auf die Wahrheit dieses Satzes hin zu untersuchen. Dieser letztere Fall der prinzipiellen Unzugänglichkeit ist jedoch m.E. relativ einfach auszuschalten. Nehmen wir ein anderes Beispiel eines Satzes, der für uns nur deshalb nicht entscheidbar ist, weil er eine Aussage macht über eine uns nicht zugängliche Raum-Region: "Im Andromedanebel gibt es 58 Planeten, die von Lebewesen auf Kohlenstoffbasis bewohnt werden." Der Wahrheitswert dieses Satzes ist für uns klarerweise nicht entscheidbar, da es uns technisch bisher nicht möglich ist, zum Andromedanebel und den dortigen Planeten vorzustoßen und zu prüfen, ob dort uns ähnliche Lebewesen existieren. Dennoch wäre es absurd zu sagen, wir könnten uns nicht "vorstellen", wir hätten nicht die nötigen Erkenntnisfähigkeiten ("recognitional capacities"), um zu sehen, was es heißt, daß dieser oder ein ähnlicher Satz wahr oder falsch ist - wir wissen ja genau, was zu tun ist, welche Maßnahmen man gegebenenfalls treffen müßte, um zu beweisen, daß der Satz wahr oder falsch ist. Hier ist Dommetts Argumentation also exttem unplausibel, da gar nicht genau zu explizieren ist, wie in diesen Fällen die Differenz zwischen "technisch bisher noch nicht machbar" und "prinzipiell nicht zugänglich" bestimmbar sein soll.34 Was aber ist mit dem anderen Fall, dem der (potentiellen) Unendlichkeit der Instantiierungen einer Allaussage? Was heißt das "prinzipiell" der "prinzipiellen Unvorstellbarkeit" hier? Ich denke, daß Dommett hier ebenfalls in ganz unnötiger Weise über sein Ziel hinausschießt. Zunächst einmal: Der umgangssprachliche Begriff der Unendlichkeit ist nicht einfach mit dem der Mathematik zu identifiZieren, genausowenig wie die verschiedenen Beweisformen in der Mathematik ein klares umgangssprachliches Äquivalent haben.35 So spielt natürlich der mathematische Begriff der überabzählbaren Unendlichkeit in der Umgangssprache überhaupt keine Rolle, auch nicht bezogen auf die Unendlichkeit des Raumes. Wenn wir uns also hier auf Allaussagen über Raumstellen beschränken, so wird fraglich, warum Dummen so vehement gegen das Verstehen solcher "prinzipiell unentscheidbaren" Sätze zu argumentieren sucht Gehen wir davon aus, daß die Manifestation des "Wissens" der Bedeutung von Sätzen tatsächlich ein notwendiges Erfordernis darstellt und weiterhin davon, daß die einfache Angabe der Wahrheitsbedingungen im Stile der T-Theoreme als Manifestation nicht ausreicht, so bleibt doch trotzdem eine plausible Alternative: Eine Aussage der Form "alle x sind F', in der der Quantor über eine unendliche Zahl von Variablen rangiert, gibt uns eine Methode der Verifikation direkt an die Hand. Schlicht formuliert heißt sie: Untersuche alle a,b,c ...des Bereichs Vx 33 Cf. Dummen (1976) 98: "rcferencc to inacccssible rcgions of spacc-time". 34 Erkenntnistheoretisch ist Dommetts Modell kaum nachvollziehbar: Er schlägt quasi vor, sich außcmalb unseres "conccptual schcme" zu begeben, um zu zeigen, daß bestimmte Sachverhalte nicht vorstellbar seien. An dieser Fonnulierung wird das Paradoxe des Modells deutlich; was sich innemalb unseres Begriffssystems aussagen läßt, ist eben dadurch auch prinzipiell vorstellbar, auch wenn dies selbstverständlich nicht gleichzusetzen ist mit technisch Zllgänglich. 35 Dies bemängelt auch Strawson, cf. Strawson (1976) 17f.

58

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

daraufhin, ob sie F sind. Auch wenn diese Prozedur potentiell unendlich ist, so haben wir doch für jede einzelne Instaoliierung eine klare Vorstellung davon, wie ihr Wahrheitswert herauszufinden ist, und können das Verstehen des Satzes und der Verifikationsregel angeben, indem wir erklären, was man tun muß, um den Wahrheitswert des Satzes herauszufmden. Der Unterschied zwischen einem Satz wie "Alle Himmelskörper mit einem Durchmesser von mehr als 10.000 km haben in ihrem Zentrum eine höhere Temperatur als an ihrer Oberfläche" und z.B. dem "Im Haus gegenüber übtjeden Tag ein Kind Klavier" besteht nicht so sehr darin, daß die Verifikationsbedingungen des letzteren auf der Hand liegen und die des ersteren nicht, sondern vielmehr in der Verschiedenheit der Verifikationsmethode. Daß es unterschiedlich komplexe und unterschiedlich evidente Arten der Verifikation gibt, ist unumstritten, nur wie sich diese jeweils auf das Verstehen auswirken und wie dieses Verstehen manifestiert werden kann, ist das Problem und sollte als solches thematisiert werden. Dies ist jedoch offenbar nicht der Weg der Interpretation des Verslehens unentscheidbarer Satze, den Dummen für gangbar hält. Das Fatale ist, daß er auf der anderen Seite nicht klar sagt, wie er das Verstehen dieser Satze erldären will, wenn nicht so, wie ich es gerade zu zeigen versucht habe. Ich zitiere noch einmal eine einschlägige Stelle: "On this account [sc. a verificationist theory of meaning], an understanding of a Statement consists in a capacity to recognize whatever is counted as verifying it, i.e. as conclusively establishing it as true. It is not necessary that we should have any means of deciding the truth or falsity of the statement, only that we be capable of recognizing when its truth has been established. The advantage of this conception is that the condition for a statement's being verified, unlike the condition for its truth under the assumption of bivalence, is one which we must be credited with the capacity of effectively recognizing when it obtains; hence there is no difficulty in stating what an implicit knowledge of such a condition consists in - once again, it is directly displayed by our linguistic practice." (Dummen (1976) llot) (Hervorhebung B.R.) Nun verlangt ja erstens auch die wahrheitsfunktionale Semantik nicht, daß wir Sätze nur dann verstehen, wenn wir wissen, daß sie wahr (oder falsch) sind, sondern nur, unter welchen Bedingungen dies der Fall ist. Dommetts Formulierung ist hier zumindest irreführend: Er scheint hier die Differenz zwischen "Wissen, daß der Satz p wahr ist" und "Wissen, daß der Satz 'p' wahr ist genau dann wenn p" zu verwischen. Und zweitens bleibt wiederum gänzlich unklar, was er mit dem Erkennen, daß ein "statement" "conclusively established as true" ist, meint, wenn dieses "statement" eben zur Klasse der unentscheidbaren Sätze gehört und er sich dagegen wendet, die Möglichkeit der Extrapolation vom fmiten auf den infmiten Fall als Erklärung des Verslehens anzuwenden: "In this way [sc. so, daß wir die Quantifikation beim endlichen Falllernen und auf den unendlichen Fall ausdehnen], we try to convince ourselves that our understanding of what it is for undecidable sentences to

TI. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

59

be true consists in our grasp of what it would be to be able to use such sentences to give direct reports of Observation. We cannot do this ( ..)." (Dummett (1976) 99) Es ist im Grunde nicht wirklich erklärlich, was genau Dummett im Sinn hat, wenn er über das Verstehen der unentscheidbaren Sätze redet. Wie kann es "directly be displayed by our linguistic practice", wenn nicht durch Angabe einer Veriftkationsmethode, die aber weder Dommetts Kritik am Extrapolationsmodell berücksichtigen kann, noch natürlich dazu in der Lage ist, das in Frage stehende "statement" als wahr zu "etablieren"; denn es ist ja gerade Kennzeichen dieser Sorte Aussagen, daß wir zwar eine Methode der Verifikation angeben können, jedoch nicht- schließlich handelt es sich um Unendlichkeit! -den (Zeit-) Punkt, an dem diese Methode erfolgreich (oder nicht) zu einem Abschluß gekommen ist, daß wir also nicht "be credited with a capacity of effectively recognizing when it [sc. the condition for a statement's being verified] obtains" (Hervorhebung B.R.), wie es im obigen Zitat gefordert wurde. Ich kann hier folglich nicht mehr tun, als eine m.E. plausible Interpretation des Verstehens der inkriminierten Sätze vorzuschlagen und zu konstatieren, daß Dummett zwar offenbar mehr will, dies aber nicht zu konkretisieren in der Lage ist Seine Kritik an der wahrheitsfunktionalen Semantik bleibt auf diese Weise zwar gültig, wird aber in modifizierter, nämlich abgeschwächter Weise eingelöst

Dommetts anderer, strukturelljedoch analoger Einwand gegen eine wahrheitsfunktionale Bedeutungstheorie stützt sich auf das Lernargument - wir könnten die Bedeutung unentscheidbarer Sätze nicht lernen, wenn sie an das Verstehen von Wahrheitsbedingungen geknüpft wäre, da diese unsere epistemischen Fähigkeiten prinzipiell übersteigen können. Auch hier würde Dummett das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn er sich ganz gegen das Verstehen dieser Sätze wenden oder aber nur völlig unplausible Alternativen vorschlagen würde. Denn gerade das Lernargument erweist sich als zweischneidiges Schwert: Auch wenn wir davon ausgehen, daß wir die Bedeutung von Ausdrücken zunächst in Beobachtungssituationen lernen, so hat doch der eigentliche Lernprozeß erst dann stattgefunden, wenn wir in selbständiger Weise die in Beobachtungssituationen erlernten Ausdrücke anwenden können- die Regel also selbständig korrekt befolgen - und so unser Verstehen manifestieren. Lernsituationen übersteigen deshalb qua Lernsituationen immer schon das allein der Beobachtung zugängliche, ob dies nun schlichte Beobachtungsprädikate oder Quantoren betrifft Wiederum ist die Art der Verwendungsregel und die der Verifikation ausschlaggebend, nicht jedoch das (prinzipielle) (Nicht-)Erkennenkönnen von Wahrheitswerten. Wir lernen den Zusammenhang zwischen der Wahrheit eines Satzes und seiner Bedeutung dadurch, daß wir die Regeln für die Verwendung von Ausdrücken und die Verifikation von Sätzen lernen, die eben diesen Zusammenhang zum Ausdruck bringen und auf die wir bei der Frage der Korrektheit der Verwendung von Ausdrücken oder Sätzen zurückgreifen können. Dabei lernen wir auch, daß es nicht nur unterschiedliche Arten der Verifikation von Sätzen gibt, sondern auch, daß die Verifikation ein gradueller Prozeß ist, der nicht immer vollständig vorführbar und de facto abschließbar ist. Die Ursache für Dummetts inkonsistente Ana-

60

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

lyse des Verstehens der "unentscheidbaren" Sätze liegt offenbar zum einen in der zu starken Forderung, das Wissen, dasjemand beim Sprechen und Verstehen einer Sprache hat, müsse in der praktischen Fähigkeit vollstllndig manifestierbar ("fully manifested") sein; Dommett interpretiert dabei das "vollständig" mittels eines derart starken Behaviorismus, daß er strenggenommen nicht einmal mehr dazu in der Lage ist, überhaupt das Lernen von Ausdrücken erklären zu können. Zum andern liegt die Inkonsistenz bei Dommett daran, daß er eben dieses Charakteristikum (i.e. die Möglichkeit, daß Verifikation ein gradueller Prozeß sein kann) der Verifikation von Sätzen nicht anerkennt und sich in der (falschen) Prämisse verhakt, Verifikation sei gleichzusetzen damit, etwas definitiv als wahr festzustellen. Die Verbindung zwischen der Bedeutung eines Satzes, seiner Wahrheit und dem Verstehen dieses Satzes (dem Wissen, "knowledge of meaning") wird hergestellt durch den Begriff der Veriflkation - und insofern ist Dommetts Ansatz auch völlig berechtigt-, da wir (z.B. anband von Beobachtungssituationen) lernen, unter welchen Umständen ein Satz als wahr zu gelten hat und welche Verifikationsregel uns dazu berechtigt, auch in Fällen, in denen direkte Verifikation nicht möglich ist, diese Sätze korrekt zu verwenden. Extrapolation findet dabei immer statt: Das zeigt sich daran, wie wir die Bedeutung von Ausdrücken lernen, da wir von den Lernsituationen auf alle folgenden Situationen der Anwendung "extrapolieren". Es ist nichts "Mystisches", dem sich Dummett - auch mit den Bedingungen, die er selbst stellt, und auch mit seinen eigenen Zielsetzungen - widersetzen müßte. Ich will jetzt die Punkte zusammenfassen, die sich aus der Diskussion von Dommetts "manüestation-requirement" und damit aus der Frage nach den Bedingungen der Zuschreibung des Wissens, das jemand hat, der eine Sprache spricht und versteht, ergeben haben:

1. Dummetts Forderung, das Wissen, das wir dem Sprecher einer Sprache als (implizites) Wissen zuschreiben, müsse sich in der praktischen Fähigkeit des Sprechens und Verstehens einer Sprache manifestieren, diese Forderung besteht zu Recht; denn anders ließe sich die Verbindung zwischen theoretischem Wissen und praktischer Fähigkeit nicht erklären.36 Diese Forderung ist allerdings nicht in der von Dummett postulierten, sondern nur in modifizierter, abgeschwächter Weise einlösbar. 2. Zum einen liegt dies daran, daß Dummett meint, an nicht haltbaren behavioristischen Prämissen in der Semantik festhalten zu müssen: Diese behavioristischen Prämissen wurden deutlich an der Begründung dafür, warum Dummett überhaupt die Forderung des "manifestation-requirement" erhebt, i.e. an einer strikten Interpretation von Willgensteins Diktum, die Bedeutung eines Ausdrucks müsse offen in seinem Gebrauch zutage liegen. Daß man sich an Wittgenstein orientieren kann, ohne gleichzeitig der Gefahr des Behaviorismus zu er-

36 Ich werde dies auch noch im nächsten Kapitel genauer ausführen.

II. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

61

liegen, sollte durch die obige Interpretation des Verslehens der "unentscheidbaren Sätze" deutlich geworden sein. 3. Zum andem liegt die unnötig und unmöglich starke Formulierung des "manifestation-requirement" daran, daß Dommett durch das Insistieren auf der Notwendigkeit einer Analyse des Wissensbegriffs an einer (falschen) Gleichsetzung von "verifizieren" und "defmitiv als wahr feststellen" meint festhalten zu müssen. Ich denke, daß diese beiden Punkte - der Behaviorismus und die zu weitgehende Interpretation von Verifizierbarkeil - zusammengehören: Denn nur auf Grund eines starken behavioristischen Interesses kommt Dommett zu einer onplausiblen Auffassung darüber, was man beim Sprechen und Verstehen einer Sprache manifestieren muß und wie dies angemessen zu beschreiben ist Mit Hilfe der Methode der graduellen Verifikation läßt sich jedoch beides vereinbaren: zum einen die Einsicht gegenüber der wahrheitsfunktionalen Semantik, daß wir beim Verstehen der Bedeutung eines Satzes mehr erklären müssen als uns durch die Angabe nur seiner Wahrheitsbedingungen gegeben würde; und auf der anderen Seite die Einsicht, daß Verifikation und Verifizierbarkeil nicht gleichbedeutend sein kann mit dem Nachweis, daß ein Satz wahr oder falsch ist 4. Allerdings bleibt Dommetts Kritik an der wahrheitsfunktionalen Semantik weiterhin gültig: Die wahrheitsfunktionale Semantik ist auf Grund einer falschen Bestimmung dessen, was ein Sprecher als Sprecher einer Sprache wissen muß, nicht dazu in der Lage, überhaupt eine Eiklärung der Beziehung zwischen dem "Wissen daß" und der praktischen Fähigkeit des Sprechens zu geben. Der Verbindung zwischen dem theoretischen Wissen und der praktischen Fähigkeit des Sprechens, die sich als solche in einer Analyse des Verslehens als dem Begriff, in dem diese beiden Momente zum Ausdruck kommen, erkennen lassen muß, dieser Verbindung wird dann Rechnung getragen, wenn das Wissen von der Bedeutung eines Satzes an die Regeln seiner Verifikation geknüpft wird: Mehr zu fordern, wie Dommett es mit der starken Version seines "manifestation-requirement" tut, ist unsinnig und dem Sachverhalt, daß und wie wir gerade unentscheidbare Sätze verstehen, unangemessen; weniger zu fordern, wie es die wahrheitsfunktionale Semantik mit ihrer Ignorierung auch nur der schwachen Version des "manifestation-requirement" tut, ist ebenso falsch, da nämlich so die Verbindung zwischen (theoretischem) Wissen und (praktischer) Fähigkeit in der Tat nicht mehr erklärbar ist Auch hier hat sich gezeigt, daß die Methode der graduellen Verifikation einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen wahrheitsfunktionaler und (behavioristisch überzogener) veriftkationistischer Semantik bieten kann.

62

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

5. Welches Wissen bat ein Sprecher? Erklärungsmodelle zum Verstehen eines assertorischen Satzes Zu Beginn des Kapitels (ll.2) waren vier Schritte unterschieden worden, anband derer die Grundstruktur einer Theorie des Verstehens geklärt werden sollte. Nachdem nun bisher herausgearbeitet wurde, daß überhaupt ein ''Wissen daß" für das Sprechen und Verstehen einer Sprache notwendig ist und mit Hilfe der "graduellen Verifikation" geklärt wurde, unter welchen Bedingungen wir ein solches Wissen zuschreiben können, soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, welche Struktur ein solches propositionalesWissen haben muß. Es geht folglich um die Frage, wie die Art des Wissens, das eine Person hat, wenn sie eine Sprache spricht und versteht, genauer bestimmt werden kann. Nun ist zwar diese Frage insofern auch schon im letzten Kapitel zur Sprache gekommen, als deutlich wurde, daß die Untersuchung der Bedingungen der Zuschreibung von theoretischem Wissen Konsequenzen für die Art des zugeschriebenen Wissens hat. Doch soll jetzt von einer anderen Perspektive her dieser Frage explizit nachgegangen werden: nämlich von der exemplarischen Analyse dessen, was es heißt, einen assertorischen Satz zu verstehen. Der Unterschied zwischen einer Behauptung, einem assertorischen Satz, und einer bloßen Mitteilung besteht darin, daß mit einer Behauptung immer ein Anspruch auf Wahrheit verbunden wird: Deshalb ist auch die Behauptung gegenüber anderen Sprechakten der grundlegende, da wir mit ihm Aussagen über die Welt mit dem Anspruch auf Wahrheit machen, die in unserer Kommunikation die fundamentale Rolle spielen. Dommett schreibt erläuternd: "It is common for philosophers to remark that assertion is the primary function of language - that, e.g., we can imagine a language without questions or commands, but not one without assertions." (Dummett (1981) 601) "The intuitive notions of truth and falsity are connected primarily with the assertoric use of language. Given the distinction between sense and force, we may view a sentential question as expressing a thought which is true if the correct answer is affmnative, false if it is negative; if we extend the distinction to imperatives, we may view a command as expressing a thought which is true if the command is obeyed, false if it is disobeyed. The application of the notions of truth and falsity to questions and commands is, however, counter-intuitive. This is no objection to the extension; but is does justify treating assertion as the primary and representative case." ((1981) 417) (Hervorhebung B.R.) Da Dommetts Auffassung der Problematik, daß der assertorische Sprachgebrauch ursprünglich ist und deshalb als repräsentativ begriffen werden kann, weil der für die Bedeutung von Sätzen konstitutive Wahrheitsbegriff ursprünglich mit dem Gebrauch eines Satzes als Behauptung verknüpft ist, da diese Auffassung nicht wirklich umstritten ist, gehe ich im folgenden davon aus, daß die Untersuchung des assertorischen Satzes als Paradigma für die Verstehensproble-

ll. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

63

matik gerechtfertigt ist.37 Auch Dummett orientiert sich in seiner Kritik der wahrheitsfunktionalen Semantik und in der Konstruktion seiner eigenen Theorie fast ausschließlich am Problem des Verstehens assertorischer Sätze. Bevor ich nun zur Analyse des Verstehens assertorischer Sätze komme, möchte ich noch kurz eine Bemerkung zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Behauptung vorwegschicken. Dummett problematisiert den Begriff der Behauptung im Kontext der Frage danach, woher der Wahrheitsbegriff stammt:38 "Where does the concept of truth come from? Its mostprimitive connection is plainly with the linguistic act of assertion, as is seen from the fact that we naturally call assertions "true" or "false", but not questions, commands, requests, bets, etc. (..) To say something true is to say something correct, to say something false is to say something incorrect. Any workable account of assertion must recognize that an assertion is judged by objective Standards of correctness, and that, in making an asstrtion, a speaker lays claim, rightly or wrongly, to have satisfied those Standards. It is from these primitive conceptions of the correctness or incorrectness of an assertion that the notions of truth and falsity take their origin." (Dummett (1976) 83) Dummett nimmt hier eine Differenzierung zwischen der Korrektheit einer Behauptung und ihrer Wahrheit vor: Dabei geht es ihm offenbar nicht um den Fall, in dem eine Behauptung auch aus anderen Gründen als dem der Falschheit nicht korrekt sein kann, etwa, wenn sie unhöflich ist oder auf Grund anderer Ursachen zu einer peinlichen Situation führt. In einem solchen Fall ist eine Behauptung nicht inkorrekt, weil das, was behauptet wurde, falsch ist, sondern vielmehr deswegen, weil es überhaupt oder gerade zu diesem Zeitpunkt oder von dieser Person behauptet wurde.39 Dommett unterscheidet zunächst zwischen der Korrektheit und der Wahrheit einer Behauptung, um die Möglichkeit gelten zu lassen, daß es Aussagen gibt, von denen wir sagen würden, sie seien nicht falsch, ohne damit gleichzeitig behaupten zu wollen, sie seien wahr. Paradebeispiel für diesen Fall sind bei Dommett die futurischen Sätze: "The case of future-tense sentences (..) compels us to make the sharpest possible distinction between the condition for the truth of a sentence and that which entitles a speaker to make an assertion." (Dummeu (1976) 88) Nun muß man hier jedoch genau aufpassen: Denn die Frage, wann oder wie sich die Wahrheit einer Behauptung gegebenenfalls erweisen wird, tangiert zunächst den Anspruch, mit dem die Behauptung geäußert wurde, nämlich den Anspruch auf Wahrheit, überhaupt nicht Der einzig objektive Standard, von dem 37 Cf. dazu etwa auch Tugendhat (1976) 53ff.246ff u.ö.; Dommett (1981) ch.10.296ff. 354f.360; diese Literaturhinweise halte ich, da dieser Sachverhalt nicht ernsthaft bestritten wird, für ausreichend. 38 Natürlich auch in anderen Kontexten: cf. Dummen (1981) ch.10; (1976) 82(. 39 Cf. Dommett (1976) 83.

64

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

Dummett selbst oben spricht, der den Gehalt einer Behauptung und ihren Anspruch betrifft, ist der der Wahrheit. Und wenn man etwas behauptet, erhebt man eben den Anspruch, genau diesen Standard erfüllt zu haben. Dabei ist es für die richtige Erklärung der Bedeubmg und des Verslehens einer Behauptung zentral, zu beachten, daß eine Behaupblßg auch in diesem Sinne korrekt sein kann, wenn nicht klar ist, ob die "objektiven Standards" erfüllt sind, wenn also nicht klar ist und zum Zeitpunkt der Behaupwng auch gar nicht klar zu machen ist, ob die Behauptung den Anspruch auf Wahrheit zu Recht vertritt Die Korrektheit einer Behauptung in diesem Sinne darf also nicht mit der Erfüllung ihrer Wahrheit identifiziert werden. Eben dies zeigt der Fall der futurischen Sätze: Auch wenn klar ist, was man gegebenenfalls biß muß, um die Wahrheit des Behaupteten zu erweisen, so kann dies zum Zeitpunkt der Behauptung nicht ausgeführt werden, und trotzdem kann natürlich die Behauptung mit dem Anspruch auf Wahrheit geäußert werden. Bei Dummett hat es den Anschein, als würde er den Anspruch der Behauptung je nach der Möglichkeit ihrer (vollständigen) Verifizierbarkeil variabel halten wollen40 und so schon beim Aufstellen der Behauptung einen Bedeutungsunterschied je nach dem möglichen oder vorstellbaren "outcome" der Verifikationsprozedur implizieren. Ich halte Dummetts Ansatz hier für falsch. Zwar ist es richtig, daß die Art und Weise des Begründens für den mit einer Behauptung erhobenen Anspruch auf Wahrheit je nach verschiedenen Klassen von Behaupblngen auch unterschiedlich sein wird, doch ändert dies nichts daran, daß wir, wenn wir lernen, was es heißt, etwas zu behaupten, dabei lernen, daß wir etwas als wahr behaupten. Natürlich gehört es mit zum Erlernen des Sprechaktes einer Behauptung, daß wir das Behauptete begründen können, aber das Wie der Begründung richtet sich jeweils nach dem Inhalt der Behauptung und tangiert den Akt des Behauptens selbst nicht. Ich denke, daß der Grund dafür, warum Dummett die Bedeutung und das Verstehen einer Behauptung zumindest mißverständlich darstellt, wiederum darin liegt, daß er eine unplausibel starke Interpretation des Verifikationsbegriff zugrundelegt: Denn wenn man, wie Dummett, davon ausgeht, daß eine (in Dummetts Sinne) "antirealistische" Interpretation der sogenannten unentscheidbaren Sätze stimmig ist und daher auch das Bivalenzprinzip für eben diese Sätze aufgegeben werden muß, dann ist es natürlich auch nicht mehr sonderlich sinnvoll, am Wahrheitsanspruch der mit solchen Sätzen aufgestellten Behauptungen festzuhalten, da von ihrer Wahrheit ohnehin keine Rede mehr sein kann. Auch hier wird wiederum deutlich, daß die im letzten Kapitel in der Kritik an Dummett entwickelte Methode der graduellen Verifikation die Stärken der Verifikationistischen Theorie aufnehmen kann, ohne zugleich deren Schwächen mit aufnehmen zu müssen: Der Anspruch auf Wahrheit, der mit einer Behauptung erhoben wird, kann auch in einer gegenüber Dummett "schwächeren" Version der veriflkationistischen Bedeutungstheorie erklärt werden, nur ist in dieser Version der An40 Vor allem in den Kontexten, in denen es um das Ventehen der "IUlentscheidbaren Sätze" geht, cf.Dummett (1976) 99ff; (1977) 6f; (1978) 231f; (1978b) 218; (1982) 105f; (1981) 514.

ll. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

65

spruchauf unterschiedliche Weise einlösbar, was in Dummetts Version gerade nicht möglich und gewährleistet ist. Festzuhalten bleibt also vorerst: a) Assertorischen Slltzen kommt in unserer Sprache eine grundlegende Funktion zu, so daß es gerechtfertigt ist, bei einer Verslehensanalyse erst einmal ausschließlich von ihnen auszugehen; b) mit assertorischen Sätzen ist der Anspruch auf die Wahrheit des Behaupteten verbunden; c) bei der Analyse der Bedeutung und des Verslehens eines assertorischen Satzes muß dem Unterschied zwischen dem Wahrheitsanspruch der Behauptung und den Gründen und Evidenzen, die wir dafür haben, den Wahrheitsanspruch nachzuweisen, Rechnung getragen werden. Wir kommen jetzt zurück zu der eingangs gestellten Frage danach, wie das Wissen, das jemand hat, der einen assertorischen Satz versteht, genauer zu bestimmen ist. Welche Vorschläge gibt es, das für das Verstehen eines Satzes notwendige Wissen zu beschreiben? Ich möchte folgende Möglichkeiten diskutieren (S sei ein Sprecher und x ein assertorischer Satz): (1) S versteht x, wenn er weiß, welches die Wahrheitsbedingungen von x sind. (2) S versteht x, wenn er weiß, unter welchen Umständen x zu verwenden ist. (3) S versteht x, wenn er weiß, wann x gerechtfertigterweise behauptbar ist. (4) S versteht x, wenn er weiß, wie x zu verifizieren ist. Dies sind zwar nicht die einzigen Wissensmodelle, die bedeutungstheoretisch vorstellbar sind (so fehlen etwa die von Grice und Searle), aber es sind die, die ich für am aussichtsreichsten und in unserem Zusammenhang am interessantesten halte. 41 Das lange Zeit als selbstverständlich für richtig gehaltene Modell ist zweifellos (1): Wir verstehen einen assertorischen Satz genau dann, wenn wir seine Wahrheitsbedingungen kennen, wenn wir wissen, unter welchen Bedingungen er wahr oder falsch ist. Diese auf Frege zurückgehende Theorie findet sich paradigmatisch beim frühen Wittgenstein, im Tractatus: "Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist." (Wittgenstein (1960) 36 (4.024)) Strawson drückt diese Selbstverständlichkeit deutlich aus: "It is indeed a generally harmless and salutary thing to say that to know the meaning of a sentence is to know under what conditions one who utters it says something true." (Strawson (1971) 188f) 41 Cf. dazu z.B. Tugendhat (1976) 267f, der hier eine vollständigere Iiste angibt. Meine Reduktion mag zwar gegenüber Gricc und Searle unfair sein, aber es würde zu weit führen, hier genauer darauf einzugehen, warum ich diese Ansätze für nicht ausreichend halte.

66

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

Einen Grund dafür, warum die Verifikationistische Bedeutungstheorie der Meinung ist, das Wissen von Wahrheitsbedingungen sei ein falscher Ansatz für die Erklärung des Verstehens der Bedeutung eines Satzes, hatten wir im vorigen Kapitel gesehen: Zwar hatte sich dort auch gezeigt, daß Dommetts eigene Forderungen bedeutungstheoretisch nicht einlösbar sind, aber als Argument gegen den Ansatz der wahrheitsfunktionalen Semantik bleibt das Verifikationistische "manifestation-requirement" nach wie vor bestehen. Ich will jetzt jedoch noch ein weiteres Argument Dommetts gegen dieses erste bedeutungstheoretische Modell vorstellen und damit auf die eigentliche Begründungsfrage assertorischer Sätze hinführen: Wie schon in der Einleitung deutlich geworden war, gründet sich Dommetts Kritik an der wahrheitsfunktionalen Semantik in erster Linie darauf, daß diese nur eine "bescheidene Theorie" zu sein beansprucht, während Dommett fordert, eine Bedeutungstheorie müsse "fullblooded" sein: Eine Bedeutungstheorie im Stile Davidsons hält Dommett insofern für ungenügend, als diese immer schon eine (verstandene, interpretierte) Sprache voraussetzen muß, wenn sie die Bedeutung von Sätzen der Objektsprache in Form von T-Theoremen angeben will. In dieser Hinsicht ähnelt eine solche Semantik also einem einfachen Übersetzungsmanual; eine Theorie der Bedeutung sollte jedoch mehr leisten, nämlich, wie Dommett schreibt, danach streben, "actually to explain the concepts expressed by primitive terms of the

language ( ..)." (Dwnmett (1975) 102)

Dommett präzisiert den Unterschied zwischen "bescheidenen" Theorien auf der einen Seite und einer "voraussetzungslosen" ("fullblooded") Bedeutungstheorie auf der anderen Seite folgendermaßen: "The signiflcant contrast would, however, appear tobe not between a theory which (like a translation manual) makes a speciflc presupposition and one which (like a modest theory of meaning) makes as heavy a presupposition, though less speciflc; but between theories which (like both of these) rely on extraneous presuppositions and those which (like fullblooded theories of meaning) involve no such presuppositons at all." (Dummett (1975) 104) Eine mögliche, und die in unserem Zusammenhang wichtige und interessante Interpretation des "no presuppositions at all "42 ist diese: Eine Bedeutungstheo42 Dummetts Anspruch, eine Bedeutungstheorie müsse "fullblooded" sein, ist auslegungsfähig; ich werde auf eine Kritik an diesem Anspruch, wenn er falsch verstanden wird, im IV.Kapitel zurückkommen. Eine mögliche andere Interpretation von Dummetu "no such presuppositions at all", gegen die sich auch McDowell wendet, soll jedoch gleich ausgeschlossen werden: McDowell kritisiert zu Recht das "surely incoherent picblre of a full-blooded theory as something which, while counting as a theory, employs (and so presupposes) no concepts at all; so that (presumably) it is not formulable in any language at all." (McDowell (1987) 77) Diese Interpretation von Dummens Anspruch auf Voraussetzungslosigkeit wird zwar von ihm selbst nicht explizit ausgeschlossen, kann jedoch gleich als inkonsistent abgewiesen werden.

II. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

67

rie, die das Verstehen einer Sprache explizieren will, darf nicht nur nicht voraussetzen, daß schon irgendeine Sprache verstanden wird, sondern sie darf auch keinen Begriff als primitiv voraussetzen. Dies gilt auch für den "Schlüsselbegriff' ("key" oder "central notion") einer Bedeutungstheorie: Zumindest in der Tradition der wahrheitsfunktionalen Semantik wird der Begriff der Wahrheit als primitiv vorausgesetzt und das Verstehen der Bedeutung eines Satzes durch die Angabe seiner Wahrheitsbedingungen erklärt. Wenn jedoch auch der Wahrheitsbegriff, wie bei Dummett, nicht mehr als primitiv angenommen, sondern auch noch sein Verstehen und Besitz ("concept possession") seitens des Sprechers erklärt werden soll und wenn gleichzeitig die Einsicht in die enge Verbindung zwischen Wahrheit und Bedeutung in einer Bedeutungstheorie erhalten bleiben soll, dann gelangt man notwendigerweise zum Begriff der Verifikation als dem für eine Bedeutungstheorie zentralen. Denn Verifikation heißt ja zunächst nichts anderes, als daß bezogen auf einen Satz gezeigt wird, wie man in eine Position gelangen kann, in der erkennbar ist, ob der in Frage stehende Satz wahr oder falsch ist Der Begriff der Veriftkation hat also das dem Wahrheitsbegriff voraus, daß er noch eine Stufe tiefer ansetzt, indem mit ihm eine Erklärung dafür verlangt wird, was es heißt, zu erkennen, daß ein Satz wahr oder falsch ist, wobei eine einfache Konstatierung der Wahrheitsbedingungen eben nicht ausreicht Dummetts Forderungen, eine Bedeutungstheorie müsse "voraussetzungslos" sein und das Wissen, das der Sprecher einer Sprache hat, müsse in der praktischen Fähigkeit des Sprechens manifest sein, richten sich also gemeinsam gegen die wahrheitsfunktionale Erklarung desVerstehenseines assertorischen Satzes; dadurch wird das erste Modell (1) unplausibel, da deutlich wird, daß es für die geforderte bedeutungstheoretische Erklärung nicht ausreichend ist Ganz so eindeutig und überzeugend wie die Ablehnung von (1) ist allerdings Dummetts Meinung zu (2) bis (4) nicht, da er sich an verschiedenen Stellen so unspeziflSCh ausdrückt, daß auch ein Modell wie (2) von ihm nicht ausgeschlossen scheint. Es sollte aber deutlich sein, daß nicht nur Dummett ein Erklärungsmodell wie (2) gemäß den Anforderungen seiner eigenen Theorie ablehnen muß, sondern daß es auch unabhängig von Dummett nicht überzeugen kann. Der Grund, warum es manchmal so scheint, als hielte Dummett (2) für angemessen, liegt in der Nähe, die ein solches Modell zu Wittgensteins "These" hat, der, so Dummett (wie oben schon mehrfach gezeigt wurde), jegliche adäquate Bedeutungstheorie Rechnung tragen muß, daß nämlich die Bedeutung eines Ausdrucks durch seine Verwendungsweise erklärt werde. Hier wird jedoch die oben dargestellte und begründete Funktion eines assertorischen Satzes, der mit ihm erhobene Wahrheitsanspruch, in keiner Weise berücksichtigt. Daß ein assertorischer Satz in bestimmten Umständen richtig verwendet wird, beruht eben darauf, daß der mit ihm erhobene Wahrheitsanspruch ausgewiesen wird Diecrux bei einem Modell wie (2) ist, daß der bloße Verweis auf die Umstände der Verwendung eines assertorischen Satzes viel zu unspezifisch ist, als daß er seine Bedeutung erklären könnte. Denn die Frage bei der Erklärung der Bedeutung eines solchen Satzes ist ja gerade, unter welchen Umständen eine Behauptung gerechtfertigt ist und wie sich in systematischer Weise zeigen läßt, v1elche Gründe zur Rechtferti-

68

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

gung der Behauptung angeführt werden müssen. Insofern ist der Verweis auf die Verwendungsumstände eines assertorischen Satzes zwar methodisch richtig, aber nicht ausreichend für die Erldärung seiner Bedeutung. Ähnliches gilt für (3): Es ist zwar richtig, daß wir einen Satz dann verstehen, wenn wir wissen, unter welchen Umständen er gerechtfertigterweise behauptbar ist,43 doch ist dies allein nicht ausreichend, um die Bedeutung des Satzes zu erklären, sondern schiebt vielmehr die Frage nach seiner Bedeutung nur einen Schritt weiter: Wann, unter welchen Bedingungen ist denn ein Satz gerechtfertigterweise behauptbar? In einem Modell wie (3) könnte das Mißverständnis entstehen, als sei die Möglichkeit der Rechtfertigung einer Behauptung gebunden an die Situation, in der allein die Behauptung direkt zu verifizieren wäre, als könnten wir also etwa Behauptungen über die Wetterlage in Oxford gerechtfertigterweise nur am Ort des Geschehens selbst aufstellen. Dieses Modell bleibt folglich auf einer Stufe stehen, auf der die situationsunabhängige Verwendungsweise von Ausdrücken nicht erklärt werden kann, jedenfalls dann nicht, wenn nicht genauer ausgeführt wird, was"gerechtfertigterweise behauptbar" heißt. So gelangen wir also zu (4), zu dem Modell, das die Bedeutung eines assertorischen Satzes durch die Bedingungen seiner Verifikation erklären will. In (1976) schreibt Dummett, beispielhaft für viele andere vergleichbare Passagen:44 "A verificationist theory represents an understanding of a sentence as consisting in a knowledge of what counts as conclusive evidence for its truth." ((1976) 132) Eine verifakationistische Theorie der Bedeutung erklärt folglich die Bedeutung von Sätzen nicht durch die Angabe ihrer Wahrheitsbedingungen, sondern dadurch, daß sie zeigt, was als schlüssige Evidenz für die Wahrheit eines Satzes zu gelten hat, i.e. dadurch, daß sie benennt, was man tun muß, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen der Satz wahr ist45 Das Problem ist jedoch, daß wir hier eigentlich ein spezifischeres Interesse haben: Denn unsere Frage richtete sich darauf, wie das Wissen, das jemand hat, der die Bedeutung eines assertorischen Satzes versteht, näher zu bestimmen ist. Dabei ist der globale Verweis auf die Verifikationsbedingungen zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht genügend konkret für die Lösung des spezielleren Problems. Dommett erläutert im Zusammenhang mit dem konkreten Aufbau seiner Theorie die Frage folgendermaßen:

4 3 Cf. z.B. Dummett (1981) 417f.449f.455-460.601; (198la) 438; (1978) xxif. xxvüi. 44 Cf.z.B. Dumrnett (1976) 75.110f.l17: (1978) 227. 45 Daß Dummen mit der Gleichsetmng von "schlüssiger Evidenz der Wahrheit" eines Satzes und den Bedingungen seiner Verifikation den Begriff der Verifikation zu weitgehend interpretiert, hatte ich im letzten Kapitel gezeigt; ich will deshalb jetl1 nicht noch einmal darauf eingehen, sondern im folgenden jeweils von der oben vorgestellten plausibleren Interpretation des Verifikationsbegriffs ausgehen.

TI. Verstehen, Wissen und Verifikationismus

69

"The theory of reference determines recursively the application to each sentence of that notion which is taken as centrat in the given theory of meaning: (..) if verification is the centrat notion, it specifies, for each sentence, the condition under which it is verified (..). It does this, for each of the infinitely many sentences of the language, by assigning to each minimal significant sentence-constituent (each word) a reference, which takes whatever form is required in order that the references of the components of any sentence shall jointly determine the application to that sentence of the centrat notion. Thus,(..) when it [sc.the centrat notion] isthat of verification, it [sc.the referent of a one-place predicate] is an effective means of recognizing, for any given object, a conclusive demonstration that the predicate applies to that object (..)." (Dummett (1976) 127) Auf unsere Fragestellung angewendet bedeutet dies: Die Bedeutung eines einstelligen Prädikats zu kennen, heißt, für ein beliebiges Objekt zeigen zu können, ob das Prädikat zutrifft oder nicht. Das Wissen, was dieser Ausdruck bedeutet, besteht folglich darin, die Regel seiner Verwendung zu kennen und damit zu wissen, wie der durch das Prädikat mitkonstituierte Satz zu verifizieren ist. Dummen führt dies aus in der weiteren Beschreibung des Theorieaufbaus: Neben der Theorie der Referenz steht die Theorie des Sinns, die jedoch in einer verif'Ikationistischen Theorie eine besondere Form annimmt: "The theory of sense specifies what is involved in attributing to a speaker a knowledge of the theory of reference. (..) When (..) the centrat notion is an effective one - one the conditions for the application of which a speaker can recognize as obtaining whenever they obtain, like the notions of verification and of falsification - then there appears to be no need for a theory of sense to round out the theory of reference; we could say that, in a theory of meaning of such a type, the theories of reference and of sense merge." (Dummett (1976) 127) Die Theorie des Sinns und der Referenz fallen deshalb zusammen, weil in einer Verifikationistischen Bedeutungstheorie mit der Bestimmung der Referenz eines Ausdrucks die Angabe darüber, was es heißt, die Referenz zu kennen, immer schon verbunden ist Die Bedeutung eines Ausdrucks kann nur dadurch angegeben werden, daß wir seinen Gebrauch in der Sprache erlc:lären ("the sense of a word is uniquely determined ~ the observable features of its linguistic employment,( ..)i.e.sense is use(..)" ); die Verwendungsregel z.B. eines Prädikats kennen heißt jedoch, die Verifikationsregel der Sätze kennen, die mittels des Prädikats gebildet werden können. In einer veriflkationistischen Theorie der Bedeutung ist folglich immer schon gewährleistet, daß das Kennen der Referenz eines Ausdrucks durch die Verifikationsregel des entsprechenden Satzes ausgewiesen wird. Bezogen auf Dommetts oben zitierte Konzeption einer Bedeutungstheorie heißt dies, daß in der (nicht mehr, wie in der wahrheitsfunktionalen 46 Dummen (1976) 135.

70

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

Theorie, getrennten, sondern "zusammengeschmolzenen") Referenz- und Sinntheorie der Bedeub.JDgstheorie die Regeln der Veriftkation von Sätzen angegeben werden, so, daß wir mit der Bedeuwng eines Ausdrucks lernen, wie der Ausdruck in einem Satz zur Verifikation des Satzes beiträgt.47 Was wir jemandem, der einen assertorischen Satz versteht, an Wissen zuschreiben, ist folglich ein propositionalesWissen der Verifikationsregel des Satzes. Zum (vorläufigen) Schluß soll nun diese Bestimmung des Wissens kurz an die eingangs angestellten Überlegungen zum Verstehen eines assertorischen Satzes rückgebunden werden: 1. Dummetts Postulat, das Wissen, das wir haben, wenn wir einen (assertorischen) Satz verstehen, müsse (im früher kritisierten, nunmehr abgeschwächten Sinn) manifestierbar sein, ist erfüllt: Denn wenn wir einen Satz nur dann verstehen, wenn wir wissen, wie er zu verifizieren ist, so heißt dies eben nichts anderes, als daß wir zeigen {können), wie eine Siwation herbeizuführen ist, in der sich herausstellen würde, ob der behauptete Satz wahr oder falsch ist, und das heißt, daß wir zeigen (können), daß wir die Regeln der Verwendung der den Satz konstituierenden Elemente und damit die Verifikationsregel des Satzes richtig erlernthaben. 2. Es sollte- gegen die "bescheidene" Theorie der Bedeutung- in einem nichttrivialen Sinne erklärbar sein, was es heißt, daß ein Satz als wahr behauptet wird: Es reicht nicht zu sagen, der Satz "Im Haus gegenüber übt ein Kind Klavier" sei wahr genau dann, wenn im Haus gegenüber ein Kind Klavier übt, sondern es muß gezeigt werden können, wie man gegebenenfalls herausfinden kann, ob der Satz wahr ist. Genau dies verlangt eine Verifikationistische Bedeutungstheorie; sie löst also den oben spezifizierten Anspruch der Voraussetzungslosigkeit ein. 3. Eine Behauptung sollte auch dann mit Recht- dh. mit dem Anspruch auf Wahrheit- geäußert werden können, wenn ihre Wahrheit nicht erwiesen und zum Zeitpunkt der Äußerung auch nicht erweisbar ist: Gegen Dommetts mißverständliche Interpretation des Verifikationsbegriffs und seine zu weitgehende Auslegung des "manifestation-requirement" hatten wir oben festgestellt, daß die Differenz zwischen der Verifizierbarkeil einer Behaupblng und ihrer erwiesenen Wahrheit aufrecht erhalten und in einer Bedeutungstheorie erklärt werden muß. Dies ist mit der Angabe des Kennens der Verifikationsregel eines Satzes insofern gewährleistet, als die Zuschreibung des Wissens, daß und wie ein Satz verifiZiert werden kann, weder gleichzusetzen ist mit dem Wissen, daß der Satz wahr ist, noch Aussagen über die zulässigen Arten der Verifikation macht Dieses Er47 Ich gehe auf die genaue Form der Axiome und Regeln nicht genauer ein; Dummett selbst bleibt in diesem Punkt recht unspezi.fisch (cf. (1976) 71ft), intendiert aber offensichtlich, auf Grund des Anspruchs auf Systematizität einer Bedeutungstheorie, rekursive Definitionen der folgenden Form: 1) x = F; 2) wenn a = F, dann Ga= F. Durch den ersten Teil der Definition wird folglich ein bestimmtes Prädikat definiert und durch den zweiten Teil die Regel dafür, wie von der Definition des Prädikats auf weitere Anwendungsfälle desselben Prädikats geschlossen werden kann.

II. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

11

gebnis entspricht auch demjenigen des vorhergehenden Kapitels: Dort wurde gegen die von Dommett postulierten behavioristischen Einschränkungen der Begriff der graduellen Verifikation vorgeschlagen. Dieses Erklärungsmodell läßt unterschiedliche Methoden der Verifikation ausdrücklich zu, insofern kann man feststellen, daß es sich auch an der Erklärung des Verstehens assertorischer Sätze als richtig und angemessener, da von höherem explanatorischen Wert, erwiesen hat als der starke Verifikationismus Dummetts. Exkurs: Dommett und der logische Positivismus Ich will hier einen kurzen Exkurs zur Frage der Beziehung zwischen Dommetts Bestimmung der Bedeutung eines Satzes durch die Angabe seiner Verifikationsbedingungen und dem Verifikationsprinzip des logischen Positivismus einschieben: Ein Vergleich zwischen dem Verifikationismus des Wiener Kreises und Dommetts verifikationistischer Theorie der Bedeutung wird nicht nur nahegelegt durch die Ähnlichkeit der Formulierung dessen, was es heißt, einen Satz zu verstehen, sondern kann auch dazu dienen, weiteres Licht auf die Zielsetzung und Struktur von Dommetts Theorie zu werfen; insofern kommt einer solchen Gegenüberstellung nicht nur historisches Interesse zu. 48 Ich will im folgenden zwei grundlegende Differenzen zwischen Dommetts verifikationistischer Bedeutungstheorie und dem logischen Positivismus der 20er und 30er Jahre kurz skizzieren. 1. Der erste Punkt betrifft den Anspruch, der jeweils mit dem "Verifikationsprinzip" erhoben wird: Den Positivisten des Wiener Kreises lag gar nichts daran, mittels ihres Prinzips der Verifikation eine Bedeutungstheorie zu entwerfen, die in systematischer Weise unser Verstehen natürlicher Sprachen erklären könnte. Ihnen ging es vielmehr um ein Kriterium dafür, bedeutungsvolle von bedeutungslosen Sätzen trennen zu können. Dies wird deutlich an folgenden Formulierungen Ayers und Schlicks: "Die Bedeutung eines Satzes feststellen heißt, die Regeln festzustellen, gemäß derer der Satz gebraucht werden soll, und dies ist dasselbe, wie die

48 Tugendhau kurzen Verweis darauf, daß der "berühmt gewordene Satz" des logischen Positivismus seiner eigenen (sc. Tugendhats) Formulierung dessen, was es hei&, einen Satz zu verstehen, entspricht, halte ich für unzureichend (Tugendhat (1976) 258). Tugendhat setzt sich m.E. mit den zweifellos vorhandenen Differenzen zwischen seiner Theorie und der des logischen Positivismus - etwa was die Frage nach dem Untenchied zwischen Bedeullmgskriterium und Bedeutungstheorie, die nach dem Zusammenhang zwischen Semantik und Metaphysik oder auch die nach der Art und Weise der Verifikation angeht- nicht ausreichend auseinander; dies wird aus dem Folgenden auch noch enichtlich werden, da sich Dummeus und Tugendhau Verifikationismus in vielen Hinsichten nicht signifikant voneinander untencheiden, wenn auch Tugendhat die metaphysischen Konsequenzen seiner Theorie nicht thematisiert (so müßte er sich eigentlich von seinem theoretischen Ansatz her gegen einen starken Realismus wie den des Wiener Kreises richten).

72

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

Art und Weise festzustellen, auf die er verifiZiert (oder falsifiziert) werden kann. Die Bedeutung einer Aussage ist die Methode ihrer Verifikation." "[H]ier handelt es sich gar nicht um eine Theorie, denn der Ausdruck "Theorie" wird für eine Menge von Hypothesen über einen bestimmten Gegenstand gebraucht, und Hypothesen enthält unsere Auffassung nicht, die ja nichts anderes sein will als eine einfache Feststellung darüber, wie sowohl im Alltagsleben als auch in der Wissenschaft Aussagen tatsächlich eine Bedeutung zugeschrieben wird "49 Bei Ayer liest es sich folgendermaßen: "The principle of verification is supposed to fumish a criterion by which it can be determined whether or not a sentence is literally meaningful." "We say that a sentence is facmally significant to any given person, if, and only if, he knows how to verify the proposition which it purports to express ( ..)."50 Das Verifikationsprinzip war nicht als eine Theorie der Bedeublng gedacht, sondern trat vielmehr auf als ein Kriterium dafür, wann Theorien selbst (als Gebilde von hypothetischen Sätzen) bedeutungsvoll genannt werden können. Daß es dem logischen Positivismus im Gegensatz zu Dommett nicht darum ging, eine systematische Bedeutungstheorie natürlicher Sprachen zu konstruieren, zeigt sich auch daran, daß sie dem "sozialen" Aspekt von Bedeublng, i.e. der Rolle, die Sätze in unserer Kommunikation spielen, keinerlei Beachblng schenkten.51 Das Verstehen der Bedeutung eines Satzes wird nicht eingebettet in das Verstehen des ganzen linguistischen Verhaltens, sondern wird reduziert auf die Methode der Verifikation durch (individuelle) Erfahrung. 2. Der zweite Punkt betrifft das Verhältnis des jeweiligen Verifikationismus zur Metaphysik: Im Zuge einer Kritik am sprachphilosophischen Anspruch des Wiener Kreises schreibt Dummett: "Frege and the early Wittgenstein both made direct contributions to the philosophy of language: but, when we reach the Vienna Circle, we have to do with philosophers whose interest in the subject was no Ionger much for its own sake, but rather because they saw it as an armoury from which they could draw weapons that would arm them for combat in other areas of philosophy. The principle of verification was for them a sword with which they could slay numberless metaphysical dragons (..)." (Dummett (1978) 443)

49 Schlick (1986) 268 und 269 (Hervorhebung B.R.); cf. dam z.B. Grayling (1982) 201ff, der jedoch eine falsche Differenzierung vornimmt zwischen dem "Kriterium" und der "lbeorie" der Bedeutung mittels Verifikation. 50 Ayer (1983) 7 und 48. 51 Cf. dam vor allem Dummetts Kritik am logischen Positivismus, z.B. (1978) 44lff.298; (1981) 586ff.

II. Verstehen, Wissen und Verifikationismus

73

Dies war die eigentliche Funktion und Zielsetzung des Veriftkationsprinzips, nämlich mit seiner Hilfe gegen die idealistische Metaphysik vorzugehen. Die logischen Positivisten sahen sich im Gefolge des Rumeschen Diktums, demzufolge jegliche Schrift, die nicht eine "absttakte Erörterung über Größe und Zahl" oder eine "auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsachen und Existenz" darstellt, in die Flammen geworfen werden müsse, da sie nur "Sophisterei und Blendwerk" enthalten könne.52 Ausgangspunkt der Anwendung des Bedeutungskriteriums war so die Kritik an bestimmten metayphysischen Ideen - im Gegensatz dazu ist bei Dommett die Zielsetzung gerade umgekehrt: Sein Ausgangspunkt ist zunächst einmal die Frage danach, was wir verstehen, wenn wir die Bedeutung von Sätzen verstehen; das heißt, Dommett geht aus vom Faktum der offensichtlich erfolgreichen Kommunikation und will die Bedingungen für dieses Sprechen und Verstehen beschreiben. Erst aus der Analyse dieser Bedingungen und Anforderungen an das Verstehen von Sätzen ergibt sich auch für Dommett eine bestimmte Metaphysik - dies ist aber Konsequenz und nicht primäre Intention seines Veriftkationismus. Im Vordergrund steht bei ihm die Frage danach, wie das Verstehen, welches wir für uns in Anspruch nehmen, im Einklang mit unseren kognitiven Fähigkeiten in einer systematischen Theorie erfaßt werden kann, nicht jedoch die Frage, wie wir die Bedeutung von Sätzen auf empirische Verifikation reduzieren können. Insofern ist Dommetts Verifikationismus auch konsequenter als der des Wiener Kreises: Versuchten die Positivisten auf der einen Seite, die Bedeutung von Sätzen auf deren empirische oder logische Verifizierbarkeil zu gründen,53 so wollten sie auf der anderen Seite an der Metaphysik des common-sense-Realismus festhalten. Die Welt, über die wir reden, existiert unabhängig von diesem unserem Reden und ist dafür verantwortlich, daß unsere Sätze wahr oder falsch sind, da sie diese Sätze wahr oder falsch macht. Insofern gilt das Kriterium der Veriftzierbarkeit auch problemlos für Aussagen über die Zukunft, denn "Warten" ist, wie Schlick schreibt, "eine völlig legitime Methode der Veriftkation."54 "Wenn wir(..) die 'realistische' Hypothese in der Behauptung formulieren 'Wenn aller Geist aus dem Universum verschwinden sollte, würden die Sterne doch ihren Lauf fortsetzen', müssen wir die Unmöglichkeit

52 D.Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übersetzt und herausgegeben von H.Herring, Stuttgart 1976, 2rr7. 53 Die Differenz zwischen logischer und empirischer Verifizierbarkeil wird von Schlick im Anschluß an Lewis folgendermaßen bestimmt: Empirisch möglich ist das, was den Naturgesetzen nicht widerspricht; bei der Frage nach dem Bedeutungskriterium für Sätze reicht jedoch die empirische Möglichkeit der Verif"lkation nicht aus, da diese nur, wie Schlick schreibt, "post festum" geschaffen werden kann (Schlick (1986) 277). Deshalb gilt als Bedeutungskriterium die "logische Möglichkeit der Verif"lkation", die sich an den "Regeln der logischen Grammatik unserer Sprache" (a.a.O. 276) orientiert: "Verifizierbarkeit als hinreichende und notwendige Bedingung von Bedeutung ist eine Möglichkeit logischer Art; sie wird geschaffen, indem man den Satz in Übereinstimmung mit den Regeln konstruiert, durch die die in ihm verwendeten Ausdrücke definiert sind." (Schlick ( 1986) 279). 54 Schlick (1986) 274.

74

A. Untenuchung der sprachanalytischen 'Theorie des Ventehens

ihrer Verifizierung zugestehen. aber diese Unmöglichkeit ist bloß empirisch. Und die empirischen Umstände sind derart. daß wir allen Grund zu der Überzeugung haben. daß die Hypothese wahr ist" "Diese letzten Überlegungen können als ein Beispiel für eine der wichtigsten Thesen des echten Positivismus dienen: daß die naive Repräsentation der Welt. wie der Mann auf der Straße sie sieht. völlig korrekt ist ( ••)."SS

Schlick - und mit ihm der Rest des Wiener Kreises - hält also strikt an der durchgängigen Gültigkeit des Bivalenzprinzips fest: Dies ist auch einer der Gründe. warum aus dem anfänglichen sehr rigiden Prinzip der Verifizierbarkeil nur durch direkte Beobachtung das sehr viel weiter gefaSte Prinzip der logischen Verifizierbarkeil wurde. Die Verbindung von metaphysischem Realismus und dem Kriterium der Verifizierbarkeil würde sonst entweder zu einem unhaltbar starken Reduktionismus führen oder zu einem nicht minder unhaltbaren Konflikt zwischen common-sense-Metaphysik auf der einen und Bedeutungskriterium auf der anderen Seite. Der Anspruch des metaphysischen Realismus. der ja als solcher das Bivalenzprinzip impliziert - alle Sätze sind defmitiv wahr oder falsch. da es eine unabhängig von uns existierende Außenwelt gibt. die sie wahr oder falsch macht-. ist folglich nur zu halten. wenn zu der empirischen die logische Veriftzierbarkeit hinzutritt. Dabei ist der (Schlicksche) Sprachgebrauch irreführend: Denn empirisch zu verifizieren bleiben Sätze natürlich allemal. nur daß neben der direkten Verifikation qua Beobachtung die der logisch möglichen. ebenso empirischen Verifikation postuliert wird. Stark reduktionistisch istjedoch auch der so modifizierte logische Positivismus. denn Sätze. die sich nicht direkt verifizieren lassen. müssen. um bedeutungsvoll sein zu können. zumindest reduzierbar sein auf solche. für die dies nicht gilt So sind dann etwa Sätze einer Klasse M, die nicht direkt verifizierbar sind. - z.B. Sätze über Fremdseelisches - dennoch bedeutungsvoll dann. wenn sie sich auf Sätze einer Klasse P. die direkt verifizierbar sind. reduzieren lassen und deshalb. i.e. auf Grund der Sätze der Reduktionsklasse. die entscheidbar wahr oder falsch sind. selbst entscheidbar wahr oder falsch sind.S6 Ein konsequenter Verifikationist müßte aber. so Dummett. weitergehen und das Bivalenzprinzip für Sätze. die fiir uns nicht (direkt oder indirekt) verifiZierbar

sind. und von denen wir nicht wissen können. ob sie wahr oder falsch sind. aufgeben. Denn. so Dommetts Argumentation. entweder ist die Bedeutung von Sätzen an das Verifikationsprinzip gebunden. dann heißt dies. daß wir fiir Sätze. die für uns nicht (in Schlicks Sinne) empirisch veriftzierbar sind. das Bivalenzprinzip aufgeben müssen; oder aber wir halten auf Biegen und Brechen am Bivalenzprinzip fest und müssen dann auch zugeben. daß die Bedeutung eines Satzes nicht die Methode seiner Verifikation ist: Bedeutungsvoll sind Sätze vielmehr SS Schlick (1986) 297 und 299 (Hervorhebung B.R.). S6 Cf. z.B. Dummen (1979) Sf; (1982) 66f.70ff.

II. Ventehen, Wissen 1Did Verifikationismus

15

dann, wenn es eine "Welt" gibt, die sie wahr oder falsch macht. Will man jedoch am Verif'Ikationismus konsequent festhalten, dann heißt dies, daß man auf die durchgängige Gültigkeit des Bivalenzprinzips verLichten muß, da Sätze nicht unabhängig von einer ausweisbaren Verifikationsmethode wahr oder falsch sein können. Und dies wiederum heißt, so Dummett, daß man mit einem konsequent angewandten Veriflkationsprinzip den metaphysischen Realismus des Commonsense aufgeben und an seiner Stelle einen Anti-Realismus postulieren muß. 57

6. Implizites Wissen: Zwischen Behaviorismus und Psychologismus In diesem Kapitel soll der letzte der oben (11.2) benannten vier Punkte diskutiert werden: Es geht jetzt um die Frage, welchen Status das Wissen hat. das wir einer Person zuschreiben, die eine Sprache spricht und versteht. Die Frage nach dem Status ist deshalb für die Klärung der Grundslrllktur der Theorie relevant. weil das Wissen einerseits ausweisbares, manifestiertes Wissen sein muß, andererseits nicht explizit verbalisierbar sein kann. Hier geht es folglich, wie schon in den vorherigen Kapiteln, wiederum auch um das Problem, gegenüber den zu starken behavioristischen Forderungen des Dommettsehen Veriflkationismus eine überzeugende Alternative zu suchen. Dommett selbst bemerkt an vielen Stellen,58 daß es natürlich völlig unplausibei wäre und dazuhin in einen infiniten Regreß führen würde, wollte man das Wissen als explizit verbalisierbares beschreiben: "But to suppose that, in general, a knowledge of meaning consisted in verbalisable knowledge would involve an infinite regress: if the grasp of the meaning of an expression consisted, in general, in the ability to state its meaning, then it would be impossible for anyone to learn a language who was not already equipped with a fairly extensive language." (Dommett (1978) 217) Diese Extremposition, daß alles für das Sprechen und Verstehen relevante Wissen explizit verbalisierbar sein muß, ist ebenso wenig überzeugend wie die konträre, daß es so etwas wie propositionales Wissen bei der Fähigkeit des 5? Ich habe in diesem Exkun die BeziehlDlg zwischen DummettlDld dem logischen Positivismus so dargestellt, wie Dummeil selbst sie begreifen würde und müßte; würde man die bisher dargestellte Kritik an Dummetts FasslDlg des Verifikationsprinzips mit berücksichtigen, so würde deutlich werden, daß mit einer schwächeren Verifikationistischen Bedeutungstheorie nicht notwendigerweise ein Dummeilscher (radikaler) Antirealismus verbunden ist. Verbindet man den Wahrheitsanspruch einer Behauptung mit der Methode der graduellen Verifikation, ist nicht einzusehen, waNm damit noch eine Aufgabe des Bivalenzprinzips einhergehen muß. Allerdings kann ich hier auf die Frage nach den aus einer solchen Semantik folgenden metaphysischen Konsequenzen nicht weiter eingehen; dies ist aber für die übergreifende FragestelllDlg dieser UntenuchlDlgen auch nicht unmittelbar relevant. 58 Cf. z.B. Dummen (1976) 70f; (1977) 373f; (1978) 129; u.ö.

76

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

Sprechens überhaupt nicht gibt. Dommett beschreibt den Status dieses Wissens als implizit: "In cases of this intermediate kind [sc. zwischen dem reinen "Wissen wie" und dem expliziten "Wissen daß"] it seems to me, we have to take more seriously the ascription of knowledge to someone who possesses the practical ability in question: "knows how to do it" is not here a mere idiomatic equivalent to "can do it". Rather, we may say of the agent that he knows that certain things are the case, that he knows certain propositions about how the operation is to be perfonned; but we need to qualüy this by conceding that bis knowledge is not explicit knowledge, that is knowledge which may be immediately eliceted on request. It is, rather, implicit knowledge: knowledge which shows itself partly by manifestation of the practical ability, and partly by a readiness to acknowledge as correct a formulation of that which is known when it is presented." (Dummen (1978a) 3)59 Dieses implizite Wissen ist folglich semantisches Wissen, das in dem Maße verfügbar ist und zugeschrieben werden kann, in dem es entweder durch die praktische Fähigkeit des Sprechens demonstriert wird oder aber in einer Beschreibung (von Teilen) des Wissens vom Sprecher als richtig erkannt wird. Das heißt, daß das Wissen nicht selbst vom kompetenten Sprecher einer Sprache formulierbar sein muß, sondern nur, daß dieser die Fähigkeit haben muß, richtige von falschen Formulierungen z.B. der Verifikationsbedingungen eines Satzes zu unterscheiden.60 Prima facie könnte man sagen, daß Dommetts Beschreibung des Status des für das Sprechen und Verstehen einer Sprache notwendigen Wissens nicht weiter problematisch ist; denn natürlich ist es plausibel, das semantische Wissen als implizites und nicht als explizit verbalisierbares zuzuschreiben. Dadurch jedoch, daß Dummett, wie in den vorigen Kapiteln gezeigt wurde, einen zu starken 59 Cf. Dummen (1978) 217. 60 Durnrneus Begriff des impliziten Wissens unterscheidet sich signifikant von Chomskys "tacit knowledge", sowohl in der Ge11ese: es ist nicht wie bei Chornsky ein angeborenes Wissen, sondern muß erlernt werden; als auch in der StrWclllT: bei Chornsky handelt es sich um grammatisch-syntaktische Generierungs- und Transfonnationsregeln, bei Durnrnett dagegen um das Wissen semantischer Verwendungsregeln; und schließlich in der F1111kliora: geht es Chornsky in erster Linie um die individuell-psychologische Erklärung des erstaunlich raschen Spracherwerbs bei Kindern, so geht es Dummen vielmehr um die Erklärung dessen, worin unser Verstehen von Sprache als intersubjektiver Praxis besteht. Darin zeigt sich nicht nur eine Differenz im Ertdärungsinteresse, sondern auch im jeweils vorausgesetzten Begriff von Sprache. Es ist jedoch nicht unbedingt notwendig, hier genauer auf die Differenzen zwischen Chornsky und Durnrnett einzugehen, da dies für ein Verständnis von Dummetts Verstehensbegriff nichts unmittelbar beitragen könnte; Dummen selbst diskutiert Chornsky auch, soweit ich sehe, an keiner Stelle. Ich werde später noch darauf zurückkommen, ob nicht Duromens Theorie (wie Chornsky in einer Kritik an Dummett selbst impliziert, cf. (1981) 113ff) "Chornskysche Elemente", nämlich im Blick auf stärkere "psychologische" Voraussetzungen bei der Erklärung des Sprachverslehens annehmen muß. Cf. zu einer Kritik an Chomsky z.B. Seebaß (1981) 44 (Anm.28).121 (Anm. l19); Schnädelbach (1982) 353ff.

ll. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

77

Begriff dessen voraussetzt, was als Wissen beim Sprecher zugrundegelegt werden muß und unter welchen Bedingungen dieses Wissen zugeschrieben werden kann, kommt er auch zu einer nicht überzeugenden Bestimmung des impliziten Wissens. Da es für die Konzeption der Bedeutungstheorie als ganzer entscheidend ist, den epistemischen Status des semantischen Wissens erklären zu können, werde ich im folgenden Dommetts Standpunkt ausführlicher diskutieren. Zur Erläuterung dessen, warum der Begriff des impliziten Wissens in Dommetts Theorie eine so prominente Rolle spielt, kann man ihn als Versuch interpretieren, zwei Gefahren, denen eine Theorie des Verslehens generell ausgesetzt ist, zu vermeiden: die des Behaviorismus und die des Psychologismus.61 Schon oben (11.1) war auf das Interesse Dummetts, diese beiden Gefahren vermeiden zu wollen, und auf die "historische Motivierung" dieses Interesses hingewiesen worden. Im folgenden wird wiederum eine interpretierende Rekonstruktion von Dommetts Argumentation und Beweggründen vorgenommen werden. Gerade eine Theorie der Bedeutung, die in der Tradition des späten Wittgenstein steht, unterliegt tendenziell der Gefahr des Behaviorismus.62 Warum ist dies eine Gefahr? Ich möchte dazu nur einige Stichworte nennen, da es zu Recht in der Literatur mittlerweile fast unumstritten ist, daß eine rein behavioristische Bedeutungstheorie nicht plausibel, da nicht besonders erklärungsf~ig ist63 Behaviorismus ist, wie McDoweU schreibt, "suspect (..) of simply leaving out of account the involvement of mind in speech, which is surely constitutively connected with the possession of meaning by linguistic expressions. n64 Mit einer behavioristischen input-output-oder einfachen stimulus-responseTheorie65 läßt sich nicht einmal erklären, wieso ein Lernender in einer Lernsituation diese überhaupt als solche begreift, wie er zwischen relevanten und für das zu Erlernende irrelevanten Elementen in der Lernsituation differenzieren kann, wie er dazu kommt, von der Lernsituation unabhängig Ausdrücke richtig zu verwenden etc., geschweige denn die Intentionalität der Sprachverwendung oder die komplexe Variabilität von Verhaltensweisen als Reaktion auf verstandene Sätze. Wir brauchen also auf jeden Fall für eine befriedigende Theorie des Verstehens eine wie auch immer näher zu bestimmende explanatorische Rolle

61 Cf. in diesem Sinne auch McDowell, der von Dummetts Venuch redet, "to steer between psychologism and behaviorism" (McDoweill (1987) 66); cf. auch seine Kritik an diesem Versuch: (1987) passim. 62 Das hat z.B. Seebaß (1981) gezeigt, cf. vor allem 126f.431ff.462ff; auch Dummett selbst ist sich dieser Gefahr bewußt, cf. (1978) miliff.xxxviiff. Cf. zur generellen Kritik an behavioristischen Konzepten (etwa auch Quines) z.B. Grayling (1982) 192ff. 63 Cf., um nur einen zu nennen, z.B. Chootsky (1969) und (1981). 64 McDowell (1987a) 17 (in der unprunglichen Manuskriptfassung); im Druck ist die Stelle leicht geändert: McDowell (1987) 65. 6S Zum folgenden cf. z.B. Seebaß (1981) 463f. und die dortige Diskussion.

78

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Yenlehens

des Mentalen,66 um der das rein behavioral Erfaßbare übersteigenden Komponente, die in jedem Verstehen sprachlicher Äußerungen konstitutiv enthalten ist, Rechnung tragen zu können.67 Auf der anderen Seite sollte man jedoch vermeiden, wieder in einen vor-Fregeschen Psychologismus abzufallen: Denn die Forderung, daß alles, was für die Bedeutung eines Ausdrucks relevant ist, offen in dessen Gebrauch zutage liegen muß, richtete sich gerade gegen Theorien, die Vorstellungen, mentalen Bildern o.ä. die entscheidende Rolle beim Verstehen sprachlicher Ausdrücke zuwiesen. Eine solche Theorie gerät entweder in einen erklärungsunfähigen psychologischen Subjektivismus: Wenn Bedeutung auf psychische Phänomene reduziert wird und nicht mehr in der sprachlichen Praxis selbst objektivierbar und kritisierbar ist, dann wird die Bedeutung eines Ausdrucks "privat" und für sprachliche Kommunikation nicht mehr verwendbar, da (im Extremfall) nicht mehr nachprüfbar wäre, ob wir überhaupt dasselbe meinen, wenn wir dieselben Worte benutzen; oder aber die Theorie endet in einem Regreß. Klassisch ist hierfür die Passage in Willgensteins "Blauem Buch", in der er die Absurdität der Theorie nachzuweisen sucht, gemäß derer die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke abhängig gemacht wird vom "Haben" entsprechender "Vorstellungen": "Wenn ich jemandem den Befehl gebe: "Hole mir eine rote Blume von dieser Wiese", woher soll er dann wissen, was für eine Blume er mir bringen soll, da ich ihm nur ein Wort gegeben habe? Zuerst könnten wir folgende Antwort vorschlagen: Er trug ein rotes Bild in seinem Geist, als er ging, um nach einer roten Blume zu suchen, und er verglich es mit den Blumen, um zu sehen, welche die Farbe des Bildes hatte.(..) Tatsächlich könnte auch folgender Vorgang ablaufen: Ich trage eine Tabelle bei mir, auf der Namen und farbige Quadrate koordiniert sind. Wenn ich den Befehl "Hole mir usw." höre, gehe ich mit dem Finger über die Tabelle von dem Wort "rot" bis zu einem bestimmten Quadrat, und dann gehe ich und suche nach einer Blume, die dieselbe Farbe wie das Quadrat hat. (..) betrachte den Befehl "Stelle dir einen roten Fleck vor". In diesem Fall bist du nicht versucht zu denken, daß du dir, bevor du dem Befehl gehorchst, einen roten Fleck vorgestellt haben mußt, der dir als Muster für den roten Fleck dient, den du dir auf Grund des Befehls vorzustellen hast n68 66 Ich werde im folgenden auch von "mentalen Fähigkeiten" reden und meine damit solche Fähigkeiten, deren Beschreibung und Erklärung nicht auf behaviorale Beschreibungen reduzi.erbar sind; unter "mentalen Voraussetzungen" ventehe ich also solche Vorausssetzungen, die wir für das Erklären etwa sprachlicher Verhaltensweisen annehmen müssen, die jedoch ihrerseits nicht mehr rein behavioral explizierbar sind. 67 Auch Handlungen oder Einstellungen sind rein behavioral nicht explizierbar; wenn man hier ein behavioristisches Modell (stimulus-response oder auch Dispositionen) untentellen würde, könnte man z.B. Einstellungsänderungen gar nicht oder nur auf eine völlig unplausibel komplexe Art und Weise erklären. 68 Wittgenstein (1980) 17f.

ll. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

79

Die Annahme, eine Vorstellung des mit einem sprachlichen Ausdruck "Gemeinten" sei zwischen das Hören und Verstehen einer sprachlichen Äußerung geschaltet und ermögliche allererst das Verstehen, ist also extrem unplausibel. Wittgenstein hat jedoch völlig recht, wenn er im folgenden schreibt: "Es scheint, daß es gewisse definite geistige Vorgänge gibt, die mit dem Arbeiten der Sprache verbunden sind, Vorgänge, durch die allein die Sprache funktionieren kann.(..) Die Zeichen unserer Sprache erscheinen tot ohne diese geistigen Vorgänge."69 Die Frage ist nur, wie wir die "Beteiligung des Geistes" am Verstehen sprachlicher Zeichen erklären, ohne den legitimen und einsichtigen Aspekten des behavioralen Ansatzes, die ja zweifellos vorhanden sind, Abbruch zu tun. Man kann den Konflikt auch philosophiehistorisch reformulieren: Dommett entwickelt eine Konzeption gegen eine behavioristische Extremposition im Stile Quines, der eine ganze Bedeutungstheorie oder besser: Theorie der sinnvollen Verwendung sprachlicher Zeichen auf einem stimulus-response-Modell aufbauen will, auf der einen Seite und gegen eine psychologistische Position im Sinne Chomskys, der den (angeborenen) psychologischen Mechanismen des Individuums die zentrale explanatorische Funktion beim Sprechen und Verstehen zuweist, auf der anderen Seite. Systematisch beschrieben ist dies der auch von Wittgenstein ausführlich diskutierte Konflikt zwischen dem "Außenaspekt" der Sprache als sozialer, regelgeleiteter Praxis der Zeichenverwendung und dem "Innenaspekt" des individuellen Gebrauchs und "inneren" Verstehens dieser Zeichen.10 Dommett will eben diesen Konflikt mit dem Begriff des impliziten Wissens lösen: "[A] theory of meaning is not a description from the outside of the practice of using the language, but is thought of as an object of knowledge on the part of the speakers. A speaker's mastery of bis language consists, on this view, in bis knowing a theory of meaning for it; it is this that confers on bis utterances the senses that they bear, and it is because two speakers take the language as govemed by the same, or

69 (1980) 18 (ich ändere hier die deutsche Übersetzung des englischen Originals leicht ab: für "certain definite" schreibe ich "gewisse definite" anstelle von "gewisse definitive"); meiner Ansicht nach hat Willgenstein hier laisächlich recht, wenn er die zitierte Bemerkung auch eigentlich seinem Gegner als - seiner Meinung nach - falsche semantische Analyse in den Mund legt. Ich verwende hier also ein Wittgensteinzitat gegen ihn selbst. 7 Cf. Willgenstein (1971) 96ff (§§ 150.152-155) u.ö.; allerdings vertritt Willgenstein selbst bekanntlich eine behavioristische Analyse der Bedeutung. Meine Interpretation des Stellenwerts und der Funktion des impliziten Wissens bei Dommett ist in der Tat eine Interpretation - er selbst hat sich nicht in dieser expliziten Weise so eingeordnet und dargestellt; aber eine solche Interpretation ist nicht falsch und bringt die systematische Problematik des Begriffs des impliziten Wissens in einer Theorie der Bedeutung pointierter zum Ausdruck; cf. auch McDowell (1987), an dessen Interpretation ich mich streckenweise orientiere, und Dommetts Antwort auf ihn in Dommett (1987).

°

80

A. Untenuchung der sprachanalytischen 'Theorie des Ventehens

nearly the same, theory of meaning that they can communicate with one another by means ofthat language." (Dummett (1978a) 9f) Als implizites Wissen soll es die Mittlerfunktion haben zwischen dem sichtbaren, manifestierten linguistischen Verhalten einerseits und den mentalen Fähigkeiten andererseits, da es die theoretische Repräsentation dieses Verhaltens als implizites propositionales Wissen darstellt. Die Frage ist aber, ob dies so geht. Wenn das implizite Wissen nur die theoretische Repräsentation der praktischen Fähigkeit des Sprechens sein soll, so ist fraglich, ob nicht mit dem Insistieren auf dem behavioralen Ansatz - auf der "von-außen-Beschreibung"- zu wenig vom Bereich des Mentalen einbezogen wird, zu wenig also, um nicht nur mentale Phänomene wie Intentionalität, sondern vor allem auch die oben beschriebenen Voraussetzungen, die das Verstehen sprachlicher Ausdrücke als solcher erst ermöglichen, erklären zu können. Wenn andererseits mehr als die Zuschreibung impliziten Wissens einer behavioral formulierten Bedeutungstheorie gefordert wird, ist es wiederum fraglich, wie dieses "mehr" so erklärt werden kann, daß es an den Forderungen der Objektivität und Intersubjektivität sprachlicher Kommunikation nicht vorbeigeht. Dommett gerät hier offensichdich in ein Dilemma, und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen er auch schon an der Frage des Verstehens der "unentscheidbaren Sätze" gescheitert war. Bei dem Problem des Verstehens dieser Klasse von Sätzen hatte sich gezeigt., daß Dommett mit seiner These des "manifestation-requirement" einen zu starlcen und nicht einlösbaren Begriff dessen zu Grunde legte, was manifestiert werden soll und deshalb in Inkonsistenzen geriet. Bei dem Begriff des impliziten Wissens zeigt sich strukturell das gleiche Problem, jetzt allerdings in generalisierter Form: Denn einerseits erhebt Dommett den Anspruch, daß zur Bedeutung eines Ausdrucks nur das gehöre, was offen in seinem Gebrauch zutage liegt, und damit., daß für eine Bedeutungstheorie allein die Daten relevant sein können, die in der (voraussetzungslosen) Beschreibung des linguistischen Verhaltens der kompetenten Sprecher erfasst werden können. Andererseits soll in eben dieser Beschreibung vollständig dargestellt werden, worin das Wissen besteht, das jemand hat, der eine Sprache spricht und versteht; das heißt also, das implizite Wissen, das wir einem Sprecher zuschreiben, hat er genau dann, wenn es sich als solches manifestiert. Wenn jedoch das implizite Wissen mit seiner Manifestation identifiziert wird, liegt hier klarerweise ein Zirkel vor:7 1 Die Zuschreibung impliziten Wissens kann dann keine explanatorische Rolle mehr spielen in der Frage, was es heißt., daß jemand einen Satz oder eine Sprache versteht, denn es wird vorausgesetzt, was eigentlich erklärt werden sollte. Dies wird deutlich in der folgenden Passage: "What is it to grasp the concept square, say? At the very least, it is to be able to discriminate between things that are square and those that are not Such an ability can be ascribed only to one who will, on occasion, 7 1 Cf. z.B. Dummett (1976) 70f; (1978) 128!.217; cf. dazu Baker/Hacker (1983) 160f; McDowell (1987) 66f, die Dummen ebenfalls einen Zirkelschluß vorwerfen.

n. Verstehen, Wissen und Verifikationismus

81

treat square things differently from things that are not square; one way, among many other possible ways, of doing this is to apply the word "square" to square thingsandnot to others." (Dummen (1978a) 7) Wenn wir jedoch erklären wollen, was es heißt, daß jemand den Begriff "viereckig" versteht, dann reicht es nicht, das sprachliche Verhalten zu beschreiben eine solche Beschreibung bleibt, will sie auf ein zugrundeliegendes Wissen aufbauen, immer zirkulär, wenn wir keine begründenden Beschreibungen geben können, die nicht behavioral reduzibel sind. Wenn eine gleichberechtigte unter anderen Möglichkeiten, das Erfassen eines Begriffs - i.e. das Verstehen - zu manifestieren, die richtige Verwendung des entsprechenden Wortes ist, dann muß, um erklären zu können, was es heißt, daß jemand diesen Begriff versteht, genau dieses Wissen vorausgesetzt werden, da die sprechende und verstehende Person andernfalls dieses Wissen gar nicht manifestieren könnte. Damit ist das Dilemma von Dommett offenkundig: Denn begeht er bei einer Identifizierung des impliziten Wissens mit seiner Manifestation eine petitio principü,12 so darf er auf der anderen Seite seinen eigenen Ansprüchen gemäß gar nichts anderes fordern. Denn würde er mehr voraussetzen, dann wäre strenggenommen nicht mehr gewährleistet, daß alles für das Sprechen und Verstehen einer Sprache - und damit für die Bedeutung von Sätzen - Relevante im Gebrauch der Sätze manifest wäre. Auch von einer anderen Perspektive her kann noch einmal dasselbe Problem erläutert werden: Dommett wehrt sich strikt dagegen, das implizite Wissen könne als "Hypothese" verstanden werden in dem Sinne, daß wir uns nicht sicher sein könnten, ob die Zuschreibung von Wissen, die wir machen, tatsächlich die "richtige", i.e. intersubjektiv dieselbe ist Er weist eine solche Interpretation des Wissens als hypothetisches zurück im Zusammenhang mit der Kritik an einer psychologistischen Bedeutungstheorie: "The objection to the idea that our understanding of each other depends upon the occurence in me of certain inner processes which prompted my utterance, the hearing of which then evokes corresponding inner processes within you, is that, if this were so, it would be no more than a hypothesis that the sense you attached to my utterance was the sense I intended it to bear, the hypothesis, namely, that the sameinner processes went on within both of us." (Dummen (1978a) 11) Doch gerade an seinem Beispiel der Verwendung des Wortes "square" läßt sich verdeutlichen, daß Dommett neben der Gefahr des vitiösen Zirkels in der Konzeption des impliziten Wissens auf der anderen Seite in die Gefahr gerät, das implizite Wissen nur als hypothetisches zuschreiben zu können: Das implizite Wissen der Bedeutung des Begriffs "square" zeigt sich, so Dummett, in der Art und Weise, wie viereckige Dinge im Unterschied zu allen andem Dingen behandelt werden; und nur wenn das Verhalten, das jemand im Umgang mit viereckigen Dingen zeigt, derart ist, wie wir es erwarten, wenn wir jemandem die 72 Und damit würde er in einen gerade von ihm zu venneiden gesuchten Behaviorismus geraten, der keinerlei explanatorischen Wert für das Sprachverstehen mehr hat.

82

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

Kennblis der Bedeuwng des Begriffs "viereckig" zuschreiben wollen, können wir dies auch wn. Diese Beschreibung des Verhältnisses zwischen Wissen und Verhalten hört sich zwar plausibel an, sie reicht aber nicht aus, um das zu erklären, was Dommett erklären will: Wenn wir die Zuschreibung des Bedeuwngswissens nur auf das bisher manifestierte Verhalten gründen, dann bleiben klarerweise ganz unterschiedliche Möglichkeiten offen. Wir können nämlich das Verhalten, das jemand im Umgang mit viereckigen Dingen manifestiert. nicht nur als implizites Wissen der Bedeuwng des Begriffs "viereckig" interpretieren, sondern genau so gut als implizites Wissen von "viereckig oder ... ". Das weitere Verhalten der Person wird natürlich verschiedene Kandidaten des "oder..." ausschließen (zumindest. wenn wir Stabilität im Verhalten voraussetzen), aber keine endliche Folge von Verhaltensweisen kann alle möglichen Alternativen beseitigen; und endliche Folgen sind alles, was uns zur Verfügung steht73 Natürlich ist, wenn man nach Kriterien sucht, um konkurrierende Theorien auszuschalten, diejenige Theorie die einfachste, die als implizites Wissen das der Bedeuwng von "viereckig" annimmt: Aber wenn man Einfachheit als ein Kriterium zuläßt, so heißt dies eben, daß diese Theorie nur eine Hypothese ist Und genau dagegen, daß das implizite Wissen nur hypothetisch zugeschrieben werden kann. will Dommett sich mit seiner Theorie gerade wenden. Bisher haben wir also zwei mögliche Interpretationen von Dommetts Konzeption des impliziten Wissens. die beide nicht besonders plausibel sind; sie stellen insofern nur zwei Seiten derselben Medaille dar, als bei beiden deutlich wird. daß Dommett einen zu schwachen Begriff dessen zu Grunde legt, was "gewußt" wird: a) die behavioral-reduktionistische Seite der Interpretation, die das implizite Wissen, das wir jemandem zuschreiben, der eine Sprache spricht und versteht. mit dem (bisher manifestierten) linguistischen Verhalten identifiziert und damit das Wissen auf das Verhalten reduziert. Und b) die Seite der Interpretation, die das implizite Wissen nur als hypothetisches zuschreiben kann, da das manifestierte Verhalten immer unterschiedliche Interpretationen des Wissens selbst zuläßt. Diese Interpretation wird zumindest von vielen Textpassagen her nahegelegt;74 sie ist auch deshalb nicht überraschend, weil eine solche Konzeption des impliziten Wissens zu Dommetts Fassung des "manifestation-requirement" paßt, die wir oben dargestellt und kritisiert hatten: Dort hatte sich gezeigt, daß Dommett einen zu anspruchsvollen Begriff dessen zu Grunde legt, was manifestiert werden soll, wenn man eine Sprache spricht und versteht. Daß er nun bei der Problematik des impliziten Wissens analog starke Forderungen stellt. wenn er das implizite Wissen auf seine Manifestation reduziert. ist konsequent, jedoch nicht weniger unplausibel.

73 Cf. McDowell (1987) 67f. 74 Cf.Dwnmett (1976) 70f.80; (1977) 373f; (1978) 129f.

ll. Ventehen, Wissen und Verifikationismus

83

Das heißt jedoch nicht, daß die Konzeption des impliziten Wissens im Prin-

zip nicht überzeugen kann: Wie auch schon bei der These des manifestation-re-

quirement muß es darum gehen, die Forderungen, die Dommett erhebt, so zu modifizieren, daß sie in abgeschwächter und damit plausiblerer Form das explizieren können, was expliziert werden soll. Das heißt für das implizite Wissen: Wenn die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen und zu verstehen, erklärt werden soll, dann kann das Wissen nicht auf das manifestierte linguistische Verhalten reduziert werden, da wir ja gerade die Fähigkeit, die eine solche Manifestation ermöglicht, erklären wollen. Wir schreiben folglich dem kompetenten Sprecher einer Sprache mit dem semantischen Wissen, das oben näher bestimmt wurde als die Kenntnis der Regeln der Verwendung von Ausdrücken, die Fähigkeit zu, diesen Regeln selbständig zu folgen. Nur so kann das komplexe Phänomen des Sprechens und Verslehens erklärt werden. Mit dieser Konzeption des impliziten Wissens sind jedoch nicht notwendigerweise mentalistische Forderungen impliziert, die die Bedeutungstheorie wieder dem Verdacht des Psychologismus aussetzen würden: Ein solcher Verdacht kann nur entstehen, wenn unter "Psychologismus" undifferenziert alles verstanden wird, was eine Theorie einer Person an mentalen Fähigkeiten zuschreibt, die sich nicht auf eine Beschreibung des manifestierten linguistischen Verhaltens reduzieren lassen. Mentale Fähigkeiten müssen in dem Maße zugeschrieben werden, als sie notwendig sind, um das linguistische Verhalten vollständig erklären zu können; wie diese Fähigkeiten über das hinaus, was wir bisher an semantischem Wissen festgestellt haben, weiter beschrieben werden müssen, darauf werde ich noch genauer im IV.Kapitel eingehen, und zwar im Zusammenhang mit einem Problem, das für die genauere Erklärung des Wissens notwendig ist, nämlich dem Problem des Polgens einer sprachlichen Regel. Hier will ich nur folgendes festhalten: Es hat sich gezeigt, daß Dommetts Konzeption des impliziten Wissens in der von ihm intendierten Weise nicht gelingen kann; zwar ist es sinnvoll, nach wie vor an einer Konzeption des impliziten Wissens festzuhalten, jedoch muß dabei mehr, und das heißt in diesem Zusammenhang: mehr an mentalen Fähigkeiten zugeschrieben werden, als Dummen dies zulassen wollte, wenn man die Fähigkeit des Sprechens und Verstehens einer Sprache erklären will. Damit komme ich zum Schluß dieses II. Kapitels: Kurz zusammengefaßt läßt sich feststellen, daß die Grundstruktur der veriflkationistischen Bedeutungstheorie Dommetts sachlich überzeugend ist, auch wenn sich bestimmte Modifikationen als notwendig erwiesen haben. Diese Modifikationen ergeben sich in erster Linie aufgrund der zu starken behavioristischen Forderungen, die mit der Theorie Dommetts verbunden sind: Zum einen hat sich gezeigt, daß Dommetts Begriff der Verifikation schwächer als von ihm konzipiert, nämlich als "graduelle Verifikation" interpretiert werden muß. Zum zweiten wurde an seinem Begriff des "impliziten Wissens" deutlich, daß auch hier die behavioristischen Forderungen zu einer nicht haltbaren Konzeption fUhren, so daß dieser stärker "mentalistisch" bestimmt werden muß, um explanatorischen Wert für eine Theorie des Verslehens zu erlangen. Gegenüber der wahrheitsfunktionalen Bedeutungstheorie kann

84

A. Untersuchung der sprachanalytischen 'Theorie des Verslehens

man jedoch mit Dwnmett festhalten, daß ein radikalerer Ansatz als der einer "bescheidenen" Theorie nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, da nur so erklärt werden kann, welcher Art das (propositionale) Wissen ist, daß wir kompetenten Sprechern einer Sprache zuweisen und in welcher Beziehung dieses Wissen zur praktischen Fähigkeit des Sprechens steht. Die vorgeschlagenen Modifikationen bedeuten folglich nicht, daß nicht die Grundstruktur der Theorie Dommetts übernommen werden könnte: Sie lassen sich in das Theoriemodell integrieren und stellen es, als Fundament einer Theorie der Bedeutung, nicht selbst in Frage.

111. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie In der Dislcussion des Wissens- und Verstehensbegriffs im letzten Kapitel war stillschweigend die Annahme gemacht worden, daß eine systematische Bedeutungstheorie möglich und sinnvoll ist; diese Annahme ist jedoch weder selbstverstlindlich noch unumstritten, sie beruht auf Voraussetzungen, die zumindest namhaft gemacht und problematisiert werden müssen. Damit knüpfe ich an die in der Einleitung eingeführte Problematik an: Die Frage dieses Kapitels lautet demnach, ob es für die Erklärung des Verstehens einer Sprache notwendig und möglich ist, eine systematische Bedeutungstheorie zu konstruieren. Nun klingt "systematische Theorie" natürlich tautologisch, da eine Theorie qua Theorie immer in bestimmter Weise systematisch ist; ich will diesen Terminus rechtfertigen und spezifizieren, indem ich eine dreifache Differenzierung vornehme im Hinblick auf die "Stärke" einer Bedeutungstheorie: Zu trennen sind voneinander 1. die schwächste Position, nämlich die Position, die jegliche Bedeutungstheorie für unmöglich erklärt und allenfalls Bedeutungskriterien für Sätze zuläßt, die jedoch in sich nicht systematisierbar sind; 1 2. die Position, die eine Bedeutungstheorie im schwachen Sinn für möglich hält, d.h. so, daß sich bestimmte Bereiche des Sprachverstehens systematisieren lassen, andere dagegen nicht einheitlich und zusammenhängend erklärt werden können. Und schließlich behauptet 3. eine Bedeutungstheorie im starken Sinne, daß sich das gesamte Sprachverstehen systematisch erklären läßt mittels eines Zentralbegriffs, durch den die Bedeutun~ von Sätzen und ihr Gebrauch in einheitlicher Weise hergeleitet werden können. Im folgenden wird es also um die Frage der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Theorie in diesem dritten Sinn gehen. Dabei wird sich, im Unterschied zum letzten (11.) Kapitel, zeigen, daß die Kritik an Dummett hier weitergehen muß als bei der Diskussion der Grundstruktur der Verifikationistischen Theorie: Konnte man bei der Kritik an Dummetts Fassung des Prinzips des Veri1 So etwa Baker/Hacker, im Anschluß an Wittgenstein, cf. (1983) ch.ll u.ö. 2 Dies ist Durnmetts Position, aber auch beispielsweise die von Davidson. Putnam ist gegen Dummen der Meinung, daß ein starker Verifikationismus nicht mehr mit dem Anspruch auf Systematizität einer Bedeuwngstheorie vereinbar ist und deshalb letzterer aufgegeben werden muß, da sich "Behauptbarkeit" nicht systematisieren lasse; dies hängt allerdings mit Putnams gegenüber Dummeil unterschiedlicher Interpretation der Begriffe "Verifikation" und "Behauptbarkeit'' zusammen: "We doleamthat in certain circumstances we are supposed to accept "There is a chair in front of me" (normally). Bul we are upecled lo ~Be OIIT heads. We can refuse to accept "There is a chair in front of me" even when it Iooks to us exactly as if there is a chair in front of us, if our general intelligence screams "override". The impossibility (in practice at least) of formalizi.ng the assertability conditions for arbitrary sentences is just the impossibility of formalizi.ng general intelligence itself." (Putnam (1983) XVID). Auf das hier angesprochene Problem der Formalisierbarkeit werde ich im nächsten Kapitel zurückkommen.

86

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

ftkationismus noch davon ausgehen, daß sich Modifikationen in seine Theorie mehr oder minder problemlos integrieren lassen, so zeigt die Problematik der S ystematizität, daß hier in entscheidender Weise über eine veriftkationistische Theorie in Dommetts Sinn hinausgegangen werden muß, daß Modifikationen nicht mehr ohne Schwierigkeiten in das Theoriemodell eingebaut werden können, sondern dessen Ansatz selbst verändern. Bei der Analyse der Systematizität einer Bedeutungstheorie legt sich folgendes Vorgehen nahe: In einem ersten Schritt soll die Frage geklärt werden, inwieweit das sog. Kontextprinzip für eine Bedeutungstheorie konstitutiv ist; ein zweiter Schritt wird der Frage des Sinns und der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Sinn- und Kraft-Theorie nachgehen; in einem dritten Schritt schließlich will ich das Problem der exakten Referenz etwas ausführlicher thematisieren. Es wird sich zeigen, daß die schwächste der oben genannten Positionen hinsichtlich der Stärke der Systematizität schon im ersten Kapitel scheitern wird; die Plausibilität der stärksten, der dritten, Position wird im zweiten und dritten Kapitel bestritten werden, so daß sich schließlich die zweite Position, die eine systematische Bedeutungstheorie im schwachen Sinn behauptet, als die am meisten überzeugende herausstellen wird.

1. Das Kontextprinzip Ausgangspunkt und Anstoß für die Idee einer systematischen Bedeutungstheorie in allen ihren Spielarten ist die Frage danach, wie sich erklären läßt, daß wir mit einem nur endlichen Grundstock von Worten in der Lage sind, unendlich viele neue Sätze zu verstehen, Sätze, die wir zum großen Teil vorher nie gehört haben. Dieser Gedanke findet sich bei Frege und Schlick, in Wittgensteins Tractatus ebenso wie in der amerikanischen Linguistik und bei Davidson und Dummett.3 Man muß jedoch dieses als erklärungsbedürftig erkannte Phänomen unterscheiden von dem Problem des primären Spracherwerbs, für dessen Erklärung Chomsky die von ihm entwickelte angeborene "Universalgrammatik" für notwendig hält: Chomsky geht es um die Frage, warum Kinder in einer anscheinend überraschend kurzen Zeit dazu fahig sind, eine Sprache mehr oder minder korrekt zu erlernen. Dieses Problem sucht er mit Hilfe angeborener "Strukturen" zu erklären; im Zuge dieser Erklärung meint er auch, eine Antwort auf die Frage des Verslehens unendlich vieler neuer Sätze gegeben zu haben. Daß diese beiden Probleme jedoch nicht notwendig gemeinsam erklärt werden müssen, zeigt sich daran, daß sie auch getrennt erklärt werden kiinnen: Man kann Chomskys Erklärung mittels der "Innateness-Hypothesis" für unplausibel halten4 und völlig unabhängig davon eine Erklärung für das Verstehen neuer Sätze geben; denn ganz 3 Einen guten Überblick bieten Baker/Hacker (1984) 316-368, wenn ich auch, wie sich zeigen wird, ihre Interpretation für sachlich unangemessen halte. 4 Cf. zur "Innateness-Hypothesis" Putnams sehr gute Kritik an Chomsky in Putnam (1979) 107ff, bes.ll4; cf. auch George (1986).

ill. Die Systematizitit einer Bedeulllngstheorie

gleich, wie wir zu dem Grundstock, über den wir verfügen, gekommen sind, muß erläutert werden, wie wir mit diesen Mitteln immer neue Sätze verstehen können. Es ist folglich nicht, wie Chomsky meint, notwendig, die Fragen des primären Spracherwerbs und des Verstehens neuer Sätze gemeinsam zu beantworten; für uns ist im folgenden nur das Problem des Verstehens neuer Sätze von Interesse. Dommett schreibt, im Zuge einer Kritik an Wittgenstein: "The idea- if it is Wittgenstein's idea - that no systematic theory of meaning is possible is not merely one which is, at the present stage of enquiry, defeatist, but one that runs counter to obvious facts. The fact that anyone who has a mastery of any given langnage is able to understand an infinity of sentences of that language, an infinity which is, of course, principally composed of sentences which he has never heard before, is one emphasised not only by the modern school of linguists, headed by Chomsky, bot by Willgenstein himself; and this fact can hardly be explained otherwise than by supposing that each speaker has an implicit grasp of a number of general principles goveming the use in sentences of words of the language. If, then, there exist such general principles of which every speaker has an implicit grasp, and which serve to confer on the words of the langnage their various meanings, it is hard to see how there can be any theoretical obstacle to making those principles explicit ( ..)." (Dummett (1978) 451) Das Faktum, daß wir beliebig viele neue Sätze verstehen können, die wir vorher nie gehört haben, deren Bestandteile uns jedoch bekannt sind, ist folglich, so Dummett, durch die Annahme allgemeiner Prinzipien, die die Bedeutung von Worten und Sätzen regeln, erklärbar. Zwei Voraussetzungen gehen in diese Annahme der systematischen Struktur von Sprache ein, die zumindest heuristisch voneinander zu trennen sind: Zum einen die, daß es Prinzipien gibt, die in einheitlicher Weise die Bedeutung von Worten für das Zustandekommen von Sätzen regeln (das Kontextprinzip), zum anderen die, daß es ebenso allgemeine Prinzipien gibt, die einheitlich den Gebrauch von Sätzen regeln (Kap.III.2). Die erste Voraussetzung - die besagt, daß es allgemeine Prinzipien geben muß, die in einheitlicher Weise die Konstitution von Sätzen aus Worten regeln -geht von der Prämisse aus, daß der Satz die kleinste semantische Einheit ist, i.e. daß wir nur mit Sätzen etwas sagen können; deshalb muß die Bedeutung von Worten durch den Beitrag, den sie zur Bedeutung des durch sie konstituierten Satzes leisten, erklärt werden. Insofern wird durch diese erste Bedingung an Freges "Kontextprinzip" angeknüpft, i.e. an das Prinzip, daß ein Wort seine Bedeutung nur im Kontext des Satzes erhält. Bei Frege heißt es in den "Grundlagen":

"Als Grundsätze habe ich in dieser Untersuchung folgende festgehalten: ( ..)nach der Bedeutung der Wörter muß im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden(..)."

88

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

"Man muß aber immer einen vollständigen Satz ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich eine Bedeub.mg."s

Dommett knüpft genau hier an, wenn er schreibt: "lt was part of Frege's doctrine that, since the sentence is the smallest unit of langnage by the utterance of which it is possible to say anything, the meaning of a word is to be explained in terrns of the contribution it makes to the meaning of any sentence in which it may occur; we derive the meaning of each particular sentence from the meanings of the words that compose it, bot the generat notion of sentence-meaning is prior to that of word-meaning. This idea has not been challenged by Wiugenstein or anyone eise." (Dummett (1978) 448) Dummen behauptet zwar, diese Idee sei nie in Frage gestellt worden, es istjedoch möglich, schon auf dieser ersten Ebene Kritik an der Systematizität zu üben, indem bestritten wird, daß das Kontextprinzip für die Erklärung des Verstehens immer neuer Sätze notwendig sei. Eine solche Position vertreten beispielsweiseBakerund Hacker.6 Sie wenden sich nicht nur gegen Freges Fassung des Kontextprinzips, sondern in diesem Zusammenhang auch dagegen, das Problem des Verstehens neuer Sätze überhaupt als Problem gelten zu lassen. Ich will ihre Position und Argumente kurz darstellen und kritisieren, da mit Hilfe einer solchen Diskussion die Problematik weiter erläutert und das Kontextprinzip selbst begründet werden kann.? Baker und Hacker schreiben zunächst, Freges Diktum sei in generalisierter Form falsch: "[S]urely we can say what a given word means independently of its sentential occurence; that is just what formal definitions do and what dictionaries are primarily concemed with. Moreover, there are numerous meaningful uses of words other than in sentences, e.g. names on Iabels, numerals on houses, pages, licenses, etc., book-titles on books." (Baker/ Hacker (1983) 145) Nun ist dies natürlich in trivialer Weise plausibel: Kein Mensch würde bestreiten, daß der Gebrauch von Worten in z.B. Lexika sinnvoll sei. Aber es ist ein Kurzschluß, daraus folgern zu wollen, Worte seien prinzipiell unabhängig von ihrem Gebrauch in Sätzen bedeutungsvoll; denn gerade der Fall des Lexikons zeigt ja, daß hier das Verstehen der einen Seite immer schon vorausgesetzt werden muß und sagt nichts darüber aus, wie die Worte ihre Bedeutung erlangen. Das heißt, daß dieses Beispiel auf keinen Fall ein Gegenargument gegen das "Kontextprinzip" sein kann, da wir die Bedeutung von Worten in Sätzen immer S Frege (1884) XXll.71. 6 Baker/Hacker (1983) 145-170; (1984) 316ff; sie sind meines Wissens die einzigen, die eine solche Position für plausibel halten. 7 Cf. zum "context-principle" ausführlich Dummen (1981a) 360-427; ich führe das Problem allerdings nicht in extenso aus.

m. Die Systematizität einer BedeuiUngstheorie

89

schon gelernt haben müssen, um ein Lexikon überhaupt gebrauchen zu können. Baker und Hacker rennen hier also entweder offene Türen ein und ihre These ist trivial, oder aber sie ist falsch: Denn "etwas sagen" läßt sich eben erst dann, wenn Worte zu einem sinnvollen Satz verbunden werden, i.e. in ihrer eigentlichen Funktion, nämlich Konstituentien eines Satzes zu sein, begriffen werden. Dies schreiben Baker und Hacker später selbst: "Words are used to Iabel, number, paginate, etc. But writing a number on the garden gate is not to use a sentence. Similarly, words used extrasententially in greetings and farewells (..). Yet, on the whole, such uses of words are not independent of their use in sentences. (..) it is only with sentences (one- or many-worded) that we say anything, and the different extra-sentential uses of words to Iabel or paginate or signify a place or indicate a number are related to differences in the corresponding sentential uses ofthe same words." (Baker/Hacker (1983) 169) Dies scheint nun in der Tat im Widerspruch zu ihren eingangs zitierten Äußerungen zu stehen und die Frage ist, worum es hier eigentlich geht. Die Position von Baker und Hacker wird erst deutlich dort, wo sie sich gegen das Kontextprinzip im Zusammenhang mit einer Kritik am Kalkülmodell der Sprache richten: "Contextualism, propounded in the framework of a calculus model of language seems to provide the only possible answer to this deep question {sc. die Frage des Verslehens unendlich vieler neuer Sätze].(..) We can, it seems, do things we have never learned and this, it is argued, must be explained. The key to the explanation obviously seems to be contextualism. A word has a meaning only in the context of a sentence, and its meaning consists in its contribution to the meaning (truth-condition) of any well-formed sentence in which it may occur. What a competent speaker knows is the meaning of the words of the language and the general structural principles of formation and transformation for the generation of compound expressions. This knowledge enables a speaker to derive the meanings of all well-formed compound expressions in the language." (Baker/Hacker (1983) 161) Baker und Hacker distanzieren sich ausdrücklich von diesem Modell: Sowohl das Kalkülmodell der Sprache als auch das die Bedeutung von Sätzen erklärende Kontextprinzip, das auf diesem Modell beruhe, sind ihrer Meinung nach bedeutungstheoretisch ein völliges Mißverständnis. Dabei sind es nach Baker und Hacker vor allem drei Punkte, die völlig unplausibel erscheinen und das ganze Vorhaben einer systematischen Bedeutungstheorie schon vom Ansatz her scheitern lassen: 1. die These, daß wir implizites Wissen (Baker und Hacker reden von "tacit knowledge") eines Regelsystems haben, wobei 2. dieses Regelsystem, da es nur implizit bewußt ist und auch gar nicht vom Durchschnittssprecher einer Sprache expliziert werden kann, nur hypothetischen Charakter haben kann, so daß immer konkurrierende Regelmodelle möglich sind; und 3. die These, daß die Bedeutung von Sätzen aus diesen implizit gewußten Regeln "abgelei-

90

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehen•

tet", i.e. auf mechanistische Weise produziert wird. Nun hatten wir die Frage des impliziten Wissens und die Art der Regeln für die sinnvolle Verwendung von Sätzen oben schon besprochen; auf die Berechtigung dieser Kritik will ich hier also nicht noch einmal eingehen. Im Moment geht es nur um die Frage, wie das Problem des Verslehens neuer Sätze erklärt werden kann und ob dafür eine systematische Bedeutungstheorie, für die eine wie auch immer geartete Version von Freges Kontextprinzip konstitutiv ist, notwendig ist. Die Strategie von Bakerund Hacker ist dabei, auf der einen Seite die Möglichkeit einer systematischen Theorie in Zweifel zu ziehen und auf der anderen Seite ihre Notwendigkeit zu bestreiten, indem sie zu zeigen versuchen, daß das von den Bedeutungstheoretikern behandelte "Problem" des Verslehens neuer Sätze gar keines sei und als "mysteriöse Frage" hochgespielt werde ("the question is obscure" 8). Wenn wir die Diskussion um die Möglichkeit einer solchen Theorie vorerst hintanstellen, so bleibt doch die Frage der Notwendigkeit: Ist das Phänomen des Verstehens neuer Sätze überhaupt derart, daß man es nur mit Hilfe einer systematischen Bedeutungstheorie in den Griff bekommt? Baker und Hacker sind der Meinung, dies sei nicht der Fall - ihre Antwort auf die Frage lautet folgendermaßen: "H the question of how it is possible to understand new sentences is concerned with cognitive prerequisites, it may be psychological or logical. As a psychological question it can be understood as a question about the mode of acquisition of the ability and the psychological or pedagogical prerequisites of its possession. This is philosophically irrelevant. If it is a logical question, it boils down to "What are the general conceptual conditions for understanding new sentences?" This can be taken to be a question about what a person must typically know in order to understand new sentences. The general form of the answer to this is neither mysterious nor startling: one must know whatever is requisite to satisfy the criteria for understanding new sentences." (Baker/Hacker (1983) 165) Dieser letzte Satz, der in allgemeiner Form die gesuchte Antwort auf die Frage zum Ausdruck bringen soll, scheint nun einfach zirkulär zu sein: Denn die Frage war ja gerade, wie sich das "whatever is requisite" so beschreiben läßt, daß wir das Wissen der Bedeutung von Sätzen (auch Bakerund Hacker benutzen immer den für sie eigentlich anstößigen Begriff "to know"), also das Verstehen, erklären können. Bisher ist diese Antwort jedenfalls keine Antwort, sondern eine einfache Wiederholung des Problems. Etwas später konkretisieren die Autoren ihre Position: "[T]here is no unique thing that a person must know in order to satisfy the criteria for understanding an arbitrary sentence. He must, indeed, use it correctly, react to it appropriately, explain it cogently. Butthereis no general mechanism for "derivation" of correct use which is pertinent to the criteria of understanding, and there is no unique, privileged, form of 8 Baicer/Hacker (1983) 164.

m. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

91

explanation which requires any special knowledge in order that a person satisfy the criteria of understanding." (Baker/Hacker (1983) 165) Doch auch hier läßt sich kein Argument gegen eine systematische Bedeutungstheorie erkennen; denn es wird zwar behauptet, daß es keine einheitliche Beschreibung der Fähigkeit des Verslehens eines (neuen) Satzes gibt, nicht aber begründet, daß es sie nicht geben kann. Bakers und Hackers Position läuft folglich auf die Behauptung hinaus, daß es keine systematische Erklärung des Verstehens von (neuen) Sätzen gibt. Es wird also schlicht gesagt, es sei sinnlos, nach systematisierbaren Gründen für unser Verstehen zu fragen. Ich halte diese Position für unplausibel. Denn erstens haben wir weder eine Antwort auf die Frage nach dem Verstehen neuer Sätze erhalten noch eine überzeugende Begründung dafür, warum diese Frage eigentlich gar keine sei. Zweitens halte ich es für nicht sonderlich schlagend, zu meinen, man solle sich lieber mit keiner Erklärung abfinden als mit einer (scheinbar) schlechten. Und drittens scheint mir die Argumentation von Baker und Hacker zu weiten Teilen auf einem Mißverständnis dessen zu beruhen, was Bedeutungstheoretiker wie Dummett beabsichtigen; das zeigen Passagen wie die folgende: "What has been conspicuously missing from the discussion thus far is any attempt to lay bare the intemal relations that obtain between meaning, use and understanding."9 Es zeugt von ziemlichem Unverständnis seitens der Autoren, wenn sie Dummett meinen vorwerfen zu können, sich nicht in hinreichendem Maße um eine Klärung der Beziehung zwischen Bedeutung, Verstehen und Gebrauch bemüht zu haben: Daß es Dummett mit der Frage nach einer systematischen Bedeutungstheorie genau darum geht, das Verhältnis zwischen Wissen, Verstehen, der Bedeutung und dem Gebrauch von Sätzen aufzuklären, wird von Baker und Hacker gründlich mißachtet Man kann folglich, nach dieser kurzen Diskussion der Kritik am Kontextprinzip, mit Recht bekräftigen, was Dummett im Anschluß an Frege behauptet: Die Bedeutung eines Wortes muß im Rekurs auf den Beitrag, den das Wort zur Bedeutung eines Satzes leistet, erklärt werden. Bei der Frage, in welcher Weise das Kontextprinzip systematisch erfasßt werden kann, können wir auf die Diskussionen der letzten Kapitel zurückgreifen, in denen die Methode der Verifikation für eine Bedeutungstheorie als konstitutiv erwiesen wurde. Dann läßt sich vorläufig folgendes Ergebnis formulieren: Wenn die Bedeutung eines Satzes in der Methode seiner Verifikation besteht und die Bedeutung eines Wortes im Rekurs auf seinen Beitrag zur Bedeutung eines Satzes erklärt werden muß, dann heißt das, daß die Bedeutung eines Wortes in seinem Beitrag zum Wahrheitswert des durch ihn (mit)konstituierten Satzes besteht. Die Differenz zwischen einer bloßen Gebrauchstheorie der Bedeutung und einer vom Wahrheitswert eines Satzes 9 Baker/Hacker (1983) 158; cf. zum teilweise unerträglich arroganten Stil- und hermeneutisch unredlichen Vorgehen - der Autoren z.B. (1984) 11.12.94 u.ö.; gegen Inhalt, Stil und Vorgehen der Autoren richtet sich auch sehr überzeugend Heal (1985) 307ff.

92

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

ausgehenden Theorie besteht genau darin, daß allein die letztere die Bedeutung von Worten und Sätzen systematisch- nämlich durch den Begriff der Wahrheit systematisiert - erklären kann und damit erklären kann, wie wir auch neue Sätze und Worte zu verstehen in der Lage sind. Lernt man die Bedeutung eines Wortes, so lernt man die Regel seiner Verwendung, indem man lernt, wie Sätze, in denen das Wort erscheint, zu verifizieren sind. Man lernt folglich Verwendungsregeln etwa von generellen und singulären Termini als Regeln der Verifikation von Sätzen. Damit hat sich zwar gezeigt, daß zumindest ein systematisches Fundament für eine Theorie der Bedeutung konstitutiv und für die Erklärung des Verstehens von (neuen) Sätzen notwendig ist; das bedeutet jedoch noch nicht, daß so über die "Stärke" einer Theorie, i.e. über die Frage, wie weit das Sprachverstehen systematisierbar ist, auch schon entschieden wäre, auch wenn damit zumindest die erste der drei oben skizzierten Positionen zurückgewiesen ist 2. Die Theorie der Kraft und der Aufbau einer Theorie der Bedeutung Mit der zweiten Bedingung einer systematischen Bedeutungstheorie rückt nun die Komponente des Verstehens in den Blick, die das Verstehen eines Satzes als zu einer bestimmten Kategorie gehörend betrifft; es geht jetzt also um die bedeutungstheoretische Unterscheidung zwischen dem "Sinn" und der "Kraft" eines Satzes. Hier wird deutlich, daß die Trennung zwischen den beiden Bedingungen einer Theorie und Komponenten des Satzverslehens nur heuristisch ist: Verstanden ist ein Satz natürlich erst dann, wenn tatsächlich beide Komponenten berücksichtigt sind. Dommett beschreibt dies folgendermaßen: "Now, for any given sentence, there will be two moments in the understanding of its meaning: the recognition of it as betonging to a particular category, and the grasp of its individual content, whereby it is distinguished from other sentences in the same category. Thus, if one sentence serves to give a command, and another to voice a wish, we must know these facts about the categories to which they belong if we are to understand them; and to know that involves knowing what it is, in general, to give a command or to express a wish. In order to understand those sentences, we must also grasp their individual contents: we must know which command the one conveys and which wish the other expresses; and this will, in each case, be determined by the composition of the sentence out of its constituents words." (Dummett (1978) 449) Es ist deutlich, daß die beiden in der zitierten Passage von Dommett formulierten Komponenten des Verstehens, die den Bedingungen einer systematischen Bedeutungstheorie korrespondieren, gegenseitig aufeinander verweisen: Denn der Begriff des "individual content" (der Freges "Gedanken" und bei späteren Auto-

m. Die Systematizität einer Bedeunmgstheorie

93

rendem "propositionalen Gehalt" entspricht10) hat nur Sinn durch die Differenzierung zwischen diesem und der "Kraft" ("Modus", "illocutionary force") einer Äußerung, die gemeinsam die Bedeutung eines ganzes Satzes ausmachen. Wenn wir davon ausgehen, daß die Bedeutung eines Wortes in seinem Beitrag zur Bestimmung der Bedeutung eines Satzes besteht, dann müßten wir, wenn die Sätze einer Kategorie einen anderen Typ von Satzbedeutung hätten als die einer jeden anderen Kategorie, behaupten, daß Worte, wenn sie z.B. in einer Behauptung auftreten, eine andere Bedeutung hätten als wenn dieselben Worte z.B. in einem Befehlssatz auftreten; dies gilt zumindest für die grundlegenden Sprechakte wie Behauptungen und Befehle. Eine solche Konsequenz wäre, so Dummett, "absurd"; diese absurde Konsequenz wird dadurch vermieden, daß die meisten Worte eines Satzes seinen "individuellen" Gehalt bestimmen, nichtjedoch seine Zugehörigkeit zu einer Kategorie, und daß dieser "individuelle" Gehalt in einheitlicher, systematischer Weise bestimmt wird, unabhängig von der jeweiligen "Kraft", mit der der Satz geäußert wird.11 Dummett faßt die Bedingungen einer systematischen Bedeutungstheorie und die Relevanz der Unterscheidung zwischen dem "Sinn" und der "Kraft" einer Äußerung zusammen (ich zitiere ausführlich, da in dieser Passage alle bei Dummett zentmlen Aspekte gebündelt sind): "lt is difficult to see how a systematic theory of meaning for a language is possible without acknowledging the distinction between sense and force, or one closely similar. ( ..) What seems essentialisthat we should have some division of sentential utterances into a determinate range of categories, according to the type of linguistic act effected by the utterance; that there should be some notion of the sense of a sentence, considered as an ingredient in its meaning and as capable of being shared by sentences betonging to different categories; that the notion of sense be such that, once we know both the category to which a sentence belongs and the sense which it carries, then we have an essential grasp of the significance of an utterance of the sentence; and that, for each category, it should be possible to give a uniform explanation of the linguistic act effected by uttering a sentence ofthat category, in terms of its sense, taken as given. I do not think that we have, at present, any conception of what a theory of meaning for a language would Iook like if it did not conform to this pattem." (Dummett (1978) 450) 10 Dommetts Ausdruck "individual content" ist insofern unglücklich gewählt, als der Gehalt eines Satzes, um den es ihm geht, nicht "individuell" ist in dem Sinne, daß nicht zwei denselben Satz verwendende Individuen genau denselben Gehalt damit ausdrücken könnten; "individual" benutzt Dummen hier, um damit die Differenz zwischen dem Gehalt eines Satzes nnd der "Kraft", in der er geäußert wird, ru verdeutlichen. Cf. rur "behauptenden Kraft" Frege (1976) 35ff; rur Kritik daran Dummen (1981) 307f; auf genauere Differenzienmgen im Modus gehe ich nicht ein, cf. daru z.B. Tugendhat (1976) 509ff; Searle (1969) 54ff nnd (1982) 17ff; Davidson (1984) 109ff; rum Problem der Klassifizierung von Sprechakten cf. z.B. Ballmer (1979) und allgemein Grewendorf (1979) 11 Cf. Dummen (1978) 449f.

A. Untenuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

94

Nun scheint es jedoch genau diese Konzeption einer Bedeutungstheorie zu sein (die Dummen, in dieser Allgemeinheit, mit anderen Bedeutungstheoretikern teilt und deren Grundidee von Frege stammt12), gegen die Wittgenstein sich wendet. In den "Philosophischen Untersuchungen" 1~ kritisiert er, ausgehend von Freges Begriff der Behauptung, einerseits die Auffassung, man könne so etwas wie Freges "Gedanken" vom Rest eines Satzes abtrennen und andererseits (und unabhängig davon), man könne eine überschaubare Liste der Verwendungsarten von Sätzen (Dummetts "categories" und "linguistic acts") aufstellen: "Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl?- Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir "Zeichen", "Worte", "Sätze" nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für alle mal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.(..) Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben ( ..)."14

Nun ist natürlich die bloße Tatsache, daß es viele verschiedene (und auch immer wieder neue) Möglichkeiten der Verwendungsweise von Sätzen gibt, noch kein Argument dafür, daß diese sich nicht klassifizieren oder systematisieren ließen. Wittgenstein scheint implizieren zu wollen, daß wir die Bedeutung von Sätzen immer nur einzeln und nicht in systematischer Weise für alle Sätze erklären können, etwa so, daß wir zur Bedeutung eines bestimmmten Satzes eine diese erklärende spezifische praktische Fähigkeit angeben. Es ist natürlich völlig unklar, wie auf diese Weise eine systematische Erklärung des Verslehens von Sätzen erreicht werden könnte. 1s Willgensteins Überzeugung, Sprechakte ließen sich nicht systematisieren, muß bei ihm im Zusammenhang gesehen werden mit derjenigen, daß eine Trennung zwischen dem "Sinn" und der "Kraft" einer Äußerung nicht möglich ist; oder zumindest nicht in der von Dummett postulierten Weise der Unterscheidung, daß in einer systematischen Bedeutungstheorie mit Hilfe eines "Schlüsselbegriffs" nicht nur der Sinn eines Satzes bestimmt wird, sondern auch die möglichen Verwendungsweisen von Sätzen, also die Kraft einer Äußerung. Denn mit dem Schlüsselbegriff wird nicht nur der Sinn eines Satzes bestimmt, sondern, davon abgeleitet, auch die jeweilige Kraft: "[T]he implicit assumption underlying the idea that there is some one key concept in terms of which we can give a general characterization of 12 Die GriUididee stammt von Frege; cf. zu Freges "Grundidee" und zu seiner Beg!Ündung der analytischen Philosophie Dummen (1978) 4S7ff; (1981) ch.19. 13 Wittgenstein (1971) 27ff (§§22-24); cf. dazu Baker/Hacker (1983b) Sl-69; cf. zur Kritik an Wittgenstein Dummen (1976) 72f; (1978) 450f; (1981) 360f. 14 Wittgenstein (1971) 28f (§23). 15 Allerdings ist es auch nicht ganz klar, ob Wittgenstein dies überhaupt im Sinn hatte; cf. dazu Dummett (1978) 450f; (1981) 360f.

m. Die Systematizität einer Bedeunmgstheorie

95

the meaning of a sentence is that there must be some unifonn pattem of derivation of all the other features of the use of an arbitrary sentence, given its meaning as characterized in tenns of the key concept It is precisely to subserve such a schema of derivation that the distinction between sense and force was introduced: corresponding to each different kind of force will be a different unifonn pattem of derivation of the use of a sentence from its sense(..)." (Dummeu (1981) 361)16 Auch wenn man Wittgenstein so interpretiert, daß er sich nicht gegen eine mögliche KlassifiZierung der Verwendungsweisen von Sätzen wenden würde, so ist trotzdem bei ihm das konstitutive Element einer systematischen Bedeutungstheorie nicht berücksichtigt: Denn in ihr geht es gerade um die systematische Zusammenbindung von Sinn und Kraft einer Äußerung, nicht um eine bloße "Ordnung" der Mannigfaltigkeit von Verwendungsweisen von Sätzen, die die Differenz zwischen Sinn und Kraft nicht berücksichtigt und nicht begründen kann, da sie auf einen Schlilsselbegriff, der eine Systematisierung allererst ermöglicht, verzichtet. Ein zentrales Argument für eine systematische und gegen Wittgensteins Konzeption wurde vorhin schon vorgestellt Denn wenn man davon ausgeht, daß die Bedeutung eines Wortes in seinem Beitrag zur Bestimmung der Bedeutung eines Satzes besteht- und davon muß man ausgehen, will man ilberhaupt das Verstehen von (neuen) Sätzen erklären- dann muß damit auch eine Unterscheidung zwischen dem Sinn und der Kraft einer Äußerung einhergehen und damit die Annahme von Prinzipien, die die Bedeutung im Satz und die Verwendungsweise von Sätzen regeln. Wir müssen also postulieren, daß es solche einheitlichen Prinzipien für die Verwendung von Sätzen zumindest filr die grundlegenden Sprechakte, wie für Behauptungen und Befehle gibt - ohne eine solche schwache Minimalanforderung kann eine Theorie des Verstehens nicht konzipiert werden. Allerdings ist damit nicht notwendigerweise eine durchgängig systematische Konzeption verbunden - gegen Wittgenstein und mit Dommett läßt sich nur festhalten, daß ein grundlegender Teilbereich des Sprechensund Verslehens von Sätzen mittels eines "Schlüsselbegriffs" systematisierbar sein muß, nicht jedoch, daß dies für alle möglichen Verwendungsweisen von Sätzen zu gelten hat Wenn wir also bisher überhaupt die Argumente für die systematische Erklärung des Verstehens- also für eine Bedeutungstheorie im (schwachen oder starken) systematischen Sinn - für plausibel halten, so muß sich diese in einer noch genauer zu bestimmenden Weise an Dommetts Vorstellungen und Postulate halten, i.e. an die von ihm im Anschluß an Frege entwickelten Grundzüge der Differenz zwischen Sinn und Kraft und der Konzeption eines "Schlüsselbegriffs". Dennoch sind natUrlieh noch etliche Punkte offen und ungeklärt: Zum einen wurde noch nichts darüber gesagt, wie der Aufbau einer solchen Theorie genau-

16 Cf. auch Dummen (1981) 327ff. 417f.

96

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Vemehens

er auszusehen habe; und zum zweiten muß noch genauer geklärt weiden, welche Voraussetzungen bei Dommetts Anspruch der Systematisierbarkeit aller Bedeutungs- und Verslehensregeln gemacht werden, d.h. wie "stark" oder "schwach" eine Bedeutungstheorie sein kann und muß. Diese beiden Punkte will ich im folgenden - mehr oder minder kurz - diskutieren (sie werden dabei auch noch präzisiert werden). Der Aufbau einer systematischen Bedeutungstheorie im Sinne Dommetts orientiert sich klarerweise an den beiden Grundideen, die eben diskutiert wurden: Nämlich zum einen der, daß Worte nur im Satz Bedeutung haben, daß also die Bedeutung eines Wortes in seinem Beitrag zur Bedeutung eines Satzes besteht, und zum anderen der, daß wir bei einer Äußerung immer zwischen ihrem Sinn und ihrer Kraft differenzieren können. Der für die Theorie konstitutive Schlüsselbegriff regelt einerseits die Zusammensetzung des Satzes aus Worten und andererseits die Ableitung der jeweiligen Kraft der Äußerung. Dommett führt dies ausführlich aus für die Konzeption einer Bedeutungstheorie, deren Schlüsselbegriff der der Wahrheit ist: Es war oben schon an mehreren Stellen deutlich geworden, daß eine Bedeutungstheorie grundsätzlich zweiteilig sein muß, bestehend aus einem Teil, der die Referenz und den Sinn von Sätzen und einem Teil, der ihre Kraft bestimmt. Dommett erläutert diese Konzeption: "A theory of meaning which takes the concept of truth as its central notion will, therefore, consist of two parts. The core of the theory will be a theory of truth, that is, an inductive specification of the truth conditions of sentences of the language. This core would be better called "the theory of reference", since, while among its theorems are those stating the conditions under which a given sentence, or utterance of it by a given speaker at a given time, is true, the axioms, which govem individual words, assign references of appropriate kinds to those words. Surrounding the theory of reference will be a shell, forming the theory of sense: this will lay down in what a speaker's knowledge of any part of the theory of reference is to be taken to consist, by correlating specific practical abilities of the speak:er to certain propositions of the theory. The theory of reference and the theory of sense together form one part of the theory of meaning: the other, supplementary, part is the theory of force. The theory of force will give an account of the various types of conventional significance which the utterance of a sentence may have, that is, the various kinds of linguistic act which may be effected by such an utterance, such as mak:ing an assertion, giving a command, mak:ing a request, etc. Such an account will take the truth conditions of the sentence as given: foreachtype of linguistic act, it will present a uniform account of the act of that type which may be effected by the utterance of an arbitrary sentence whose truth condition is presupposed as known." (Dummett (1976) 74) Nun war durch die Kritik an der wahrheitsfunktionalen Semantik deutlich geworden, daß gewichtige Gründe dagegen sprechen, den Begriff der Wahrheit als den zentralen Begriff einer Bedeutungstheorie anzunehmen. Doch ändert sich am

ill. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

97

Aufbau der Theorie, wenn wir den Wahrheitsbegriff durch den der Verifikation als zentralen ersetzen, nur insofern etwas entscheidendes, als der Zusammenhang zwischen der Theorie der Referenz und der des Sinns anders begriffen werden muß: "We could say that, in a theory of meaning of such a type [sc. a verificationist theory of meaning], the theories of reference and of sense merge. In a verificationist or falsificationist theory of meaning, the theory of reference specifies the application of each sentence of the central notion of the theory in such a way that a speaker will directly manifest bis knowledge of the condition for its application by bis actual use of the language." (Dummett (1976) 127) Wir haben also einerseits Axiome und Theoreme, die die Verifikationsbedingungen von Sätzen spezifiZieren, und andererseits allgemeine Prinzipien, die den Sprechakttyp des jeweiligen Satzes im Hinblick auf seinen so spezifizierten Inhalt bestimmen. Daß dem Sprecher einer Sprache die Kenntnis- das "Wissen"dieser Regeln als propositionalesWissen zugeschrieben wird, hatten wir oben1 7 schon gesehen. Die Bedeutung eines bestimmten Satzes wird folglich abgeleitet aus seinen Verifikationsbedingungen und der Art und Weise, wie diese den Gebrauch des Satzes bestimmen: "The thesis that the meaning of a sentence is the method of its verification is not a denial that there are all these different aspects of the use of the language [sc.making assertions, voicing wishes, giving commands etc.], but a claim that there is some uniform means of deriving all the other features of the use of any sentence from this one feature( ..)." (Dummeu (1976) 75) Nun hat dieses Programm Dommetts jedoch unterschiedlich schwerwiegende Schwächen: Eine grundlegende besteht darin, daß diese Konzeption tatsächlich rein programmatischen Charakter hat und die Frage, wie eine konkrete Bedeutungstheorie auszusehen habe, von Dummett an keiner Stelle in Angriff genommen wird. So ist dieses Programm also extrem unspezifisch. Dies betrifft besonders die Frage der Zuordnung der beiden Teile der Bedeutungstheorie, also das Verhältnis von "Referenz- und Sinn-Theorie" und "Kraft-Theorie": Dommett postuliert, daß der Sinn- und Referenzteil der Bedeutung eines Satzes festgelegt werden kann und muß, ohne auf das dem "Kraft"-Teil zur Verfügung stehende Vokabular zurückzugreifen, 18 daß also der "Inhalt" eines Satzes (der eben eigentlich noch gar kein "Inhalt" ist, da der Punkt, daß etwas mit einem Satz "gesagt" wird, erst mit dem Kraft-Teil der Theorie in den Blick kommt) festgelegt wird, bevor (zumindest im logischen, wenn auch nicht im chronologischen Sinn) der 17 Cf. oben Kapitel ll.5 Anm.48; dort auch Anm. 50 zur rekursiv definierten Form des Wissens. 18 Diese Interpretation Dummetts hinsichtlich der Trennung von Sinn/Referenz- und Krafttheorie legt sich auch im Hinblick auf das von ihm verwendete theoretische Vokabular nahe; cf. auch McDowell (1987) 63f.

98

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

Satz als bestimmter Sprechakt qualifiziert wird. Es bleibt bei Dommett unklar, wie man sich diese Prozedur, i.e. die Ableitung der Bedeublng einer bestimmten Äußerung vorzustellen hat. Damit verbunden ist die Frage danach, wie die Regeln oder allgemeinen Prinzipien, die den Kraft-Teil der Theorie ausmachen, zu spezifizieren sind: Es bleibt ungeklärt, wie Dommett die allgemeinen Prinzipien, die die "Ableitung" der unterschiedlichen Sprechakte von dem durch die Verifikationsbedingungen bestimmten Sinn eines Satzes regeln sollen, näher bestimmt. Er gibt zwar Hinweise darauf, wie er sich eine solche "Ableitung" vorstellt, aber über programmatische Äußerungen hinaus erklärt er, soweit ich sehe, hierzu nichts.19 Ein weiterer Punkt, der bei Dummett offenbleibt, ist die Frage, wie man sich Regeln vorzustellen hat, die abgelegenere Gebrauchsweisen von Sätzen von deren Verifikationsbedingungen "ableiten", wie z.B. der Gebrauch von Sätzen in uneigentlicher Redeweise, etwa ironischer oder metaphorischer. Dies ist zwar prima facie ein anderes Problem, müßte aber für Dommett in seinen Überlegungen zum Aufbau einer systematischen Bedeuwngstheorie insofern eine Rolle spielen, als er beansprucht, sämtliche für das Verstehen der Bedeutung von Sätzen relevanten Komponenten in einer solchen Theorie zu erfassen.20 Damit ist eine, wie ich denke, zentrale Problematik von Dommetts Konzeption als ganzer angesprochen, nämlich die, ob sich Dommetts starker Anspruch auf durchgehende Systematisierbarkeit sämtlicher Komponenten des Verstehens wirklich einlösen läßt. Diese Frage betrifft verschiedene Aspekte der Theorie Dummetts: Zum einen ist damit die grundlegende Bedingung betroffen, die Dommett an jede mögliche Bedeutungstheorie knüpft, daß diese nämlich "a systematic account of the functioning of langnage which does not beg any questions by presupposing as already understood any semantic concepts"(Dummett (1978) 454) (Hervorhebung B.R.) darstellen muß. Diese Bedingung der vollständigen Voraussetzungslosigkeit der Theorie ist insofern an die der durchgehenden Systematisierbarkeit geknüpft, als die Forderung der Voraussetzungslosigkeit zumindest prima facieZl impliziert, daß alle für das Sprachverstehen relevanten Daten systematisierbar sein müssen. Wäre dies nicht der Fall, dann könnten wir nicht allein vom Sprachverl9 Cf. Dummen (1981) 417: "Given the distinction between sense and force, we may view a sentential question as expressing a thought which is true if the correct answer is affinnative, false if it is negative; if we extend the distinction to imperatives, we may view a command as expressing a thought which is true if the command is obeyed, false if it is disobeyed ( .. )." Man kann diesen Gedanken zwar auf die Konzeption einer Verifikationistischen Theorie übertragen, aber die Konkretisierung des Programms der allgemeinen Prinzipien bleibt offen. 20 Die unterschiedlichen Formen uneigentlicher Redeweise stellen nur einen Extremfall dar, anband dessen sich einsichtig machen läßt, daß nicht jede mögliche Verwendungsweise von Sätzen - in Dummetts Sinn - von einem "Schlüsselbegriff" systematisch ableitbar sein kann; ich kann auf diese Problematik hier jedoch nicht näher eingehen, cf. dazu etwa Searle (1982) 51ff.98ff; Alston (1964) ch.S 21 Auf genauere Differenzierungen im Begriff der "Voraussetzungslosigkeit" werde ich im nächsten Kapitel zu sprechen kommen.

m. Die Systematizität einer Bedeunmgstheorie

99

halten her eine Bedeutungstheorie entwickeln- die ja eine "theoretische Repräsentation" der "praktischen Fähigkeit" des Sprechens sein soll-, deren Kenntnis tatsächlich notwendige und hinreichende Bedingung des Sprechensund Verstehenswäre. Der zweite Aspekt betrifft den konkreten Aufbau von Dommetts Theorie: Er setzt in seinem Programm voraus, daß sich sowohl der Sinn/Referenz- wie auch der Kraft-Teil der Theorie durchgängig systematisieren lassen mittels des "Schlüsselbegriffs", der den jeweiligen Inhalt eines Satzes wie auch all seine möglichen Verwendungsweisen bestimmen soll. Nun hatten wir oben bei der kurzen Auseinandersetzung mit Willgensteins Kritik an Freges Trennung zwischen dem Sinn und der Kraft einer Äußerung gesehen, daß zwar die Mannigfaltigkeit verschiedener Verwendungsweisen von Sätzen noch nicht gegen deren Systematisierung spricht. Auf der anderen Seite muß jetzt jedoch festgestellt werden, daß auch die bloße Differenzierung zwischen dem Sinn und der Kraft einer Äußerung als Argument für die durchgängige Systematisierung der Sprechakte in Dommetts Sinn noch nicht ausreicht: Denn es ist vorstellbar, daß wir zwar bestimmte Bereiche des Verslehens und der Bedeutung von Sätzen mittels der Trennung zwischen Sinn und Kraft und entsprechenden regulativen Prinzipien systematisch erklären können, daß dies jedoch für die Systematisierung aller Bedeutungs- und Verslehenskomponenten nicht ausreicht. Wir hätten dann eine Bedeutungstheorie, die grundlegende Speechhandlungen (etwa Behauptungen und Befehle) systematisch erfasst, nichtjedoch beansprucht, prinzipiell alle auf diese Sprechhandlungen direkt oder indirekt aufbauenden Verwendungsweisen von Sätzen systematisieren zu können. Dies wäre keine systematische Bedeutungstheorie in Dommetts Sinn; andererseits hätte sie den Vorteil, unplausible Konsequenzen von Dommetts Theorie - wie etwa die, daß sich alle möglichen Sprechakte von einem Zentralbegriff ableiten lassen sollten - vermeiden zu können, ohne behaupten zu müssen, das Verstehen von Sätzen sei prinzipiell antisystematisch und keinerlei einheitlichen Erklärungsmustern zugänglich. Ich werde jedoch auf diesen letztgenannten Aspekt der Problematik einer systematischen Bedeutungstheorie im starken Sinne erst im nächsten Kapitel eingehen, da sie sich besser im Zusammenhang mit dem Problem der "Voraussetzungslosigkeit" einer Bedeutungstheorie diskutieren läßt. 3. Das Problem der exakten Referenz Der dritte Aspekt der Problematik einer systematischen Bedeutungstheorie und zwar jeder Theorie, nicht nur einer starken, also einer solchen, wie Dummett sie konzipiert - betrifft nicht, wie der zweite, die Kritik an der Möglichkeit einer systematischen Relation zwischen dem Sinn/Referenz- und dem Kraft-Teil der Theorie, sondern betrifft eine dieser noch vorausliegende Frage, nämlich die der Referenztheorie selbst, in der die Regeln der Verwendung einzelner Worte für

100

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

das Zustandekommen verifizierbarer Sätze bestimmt werden. 22 Die Möglichkeit einer Theorie der Referenz stützt sich - auch wenn sie in einer Verifikationistischen Bedeutungstheorie mit der Theorie des Sinns zusammenfällt - darauf, daß sich eindeutige Begriffe festlegen lassen, die die Referenz von Termini und den Anwendungsbereich von Prädikaten angeben und so die referentielle Grundlage abgeben für die Erklärung der Bedeutung von Sätzen mittels Angabe ihrer Veriflkationsbedingungen.

Die Voraussetzung, die die Theorie dabei in Anspruch nehmen muß, ist folglich, daß sich klare Regeln angeben und beschreiben lassen, anband derer sich für jeden Fall entscheiden läßt, ob z.B. ein Prädikat von einem Gegenstand ausgesagt werden kann oder nicht Nun gibt es jedoch, wie schon Frege beklagte, in jeder natürlichen Sprache sehr viele nichteindeutige Ausdrücke, d.h. Ausdrücke, deren Anwendungsbereich nicht eindeutig definiert ist - solche also, die unter das Verdikt der Vagheit fallen.23 Vagheit ist aus folgendem Grund ein anti-systematisches Phänomen und als solches eine potentielle Bedrohung für jede Form einer systematischen Bedeutungstheorie: Wenn ein Ausdruck keine klar definierbaren Regeln der Verwendung hat, d.h. wenn sich keine eindeutigen Regeln angeben lassen, die in einheitlicher Weise für jeden möglichen Anwendungsfall beschreiben, ob der Ausdruck zulässigerweise verwendet werden kann oder nicht, dann heißt das, daß ein Satz, in dem ein solcher Ausdruck vorkommt, keine eindeutigen Verifikationsbedingungen hat, daß also nicht für jeden Fall klar ist, ob beispielsweise ein gegebenes Prädikat von einem Gegenstand ausgesagt werden kann oder nicht; das heißt zum Beispiel, daß die Anwendung der Inferenzregeln für solche Sätze in Frage gestellt wird: Diese funktionieren nur dann, wenn die Sätze, aus denen gefolgert werden soll oder die z.B. in einer Disjunktion als wahr oder falsch zu gelten haben, eindeutige Verifikationsbedingungen haben, also wahr oder falsch sind und dies auch bleiben, wenn sie in wahrheitsfunktionalen Kontexten gebraucht werden. Dies trifft jedoch für Sätze, in denen vage Ausdrücke auftreten, nicht zu. Das Problem der Vagheit ist folglich für die Konzeption einer systematischen Bedeutungstheorie, auch über die Auseinandersetzung mit Dummetts Konzeption hinaus, von zentralem Interesse; ich werde das Problem aus diesem Grund in einem Exkurs im folgenden ausführlich diskutieren.

22 Mir geht es dabei jedoch nicht um die Probleme, wie etwa Quine sie mit der "inscrutability of reference" beschreibt (cf. Quine (1969) 34ff); auch nicht um Putnams Analyse der Referenzverwechslungen; cf. Putnam (1981) 22ff. 23 Cf. Frege (1980) 42; zum Problem der Färbung cf. Frege (1978) 56ff; auf diese Problematik komme ich im nächsten Kapitel noch ausführlich zurück.

ill. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

101

Exkurs: Das Problem der Vagheit Welche Konsequenzen sollte manangesichtsvager Ausdrücke für die Konstruktion einer systematischen Bedeutungstheorie ziehen? Sollte man diese, wie Frege meinte, aus der Sprache eliminieren, wenn man am Gedanken einer systematischen, formalen Semantik festhalten will?24 Oder sollte man, wie Baker und Hacker im Anschluß an Wittgenstein postulieren, die Idee einer systematischen Bedeutungstheorie von vomeherein für unsinnig erklären? 25 Oder aber müßte eine Bedeutungstheorie den Anspruch auf eine dekompositionale Analyse aller Ausdrücke aufgeben und sich mit einer "austere, nondecompositional analysis" zumindest von Sätzen, in denen vage Ausdrücke begegnen, zufrieden geben, wie Plaus es für notwendig hält?26 Ich werde im folgenden zunächst genauer bestimmen, was Vagheit ist und welche verschiedenen Typen von Vagheit ausgemacht werden können und müssen, sodann, welche bedeutungstheoretischen Lösungsvorschläge bisher für zumindest einige Typen von Vagheit gemacht wurden und wie diese einzuschätzen sind,27 um abschließend die Ergebnisse, die sich aus der Kritik der Lösungsvorschläge folgern lassen, so zusammenzufassen, daß genauer klar wird, welche Forderungen sich aus dem Problem der Vagheit für eine Bedeutungstheorie ergeben.

(a) Begriffsbestimmung und Differenzierung verschiedener Vagheilstypen Ein vager Ausdruck kann, vorläufig und allgemein, bestimmt werden als ein Ausdruck, dessen Anwendung nicht in allen Fällen klar entscheidbar ist; das heißt, daß der Ausdruck keine genau gezogenen "Grenzen" hat, es also Fälle gibt, in denen er sowohl zutreffen als auch nicht zutreffen kann. Der Fall der Vagheit muß jedoch von folgenden anderen Fällen von "Unbestimmtheit" abgegrenzt werden: 28 a) Ungenauigkeit und Unbestimmtheit: Ein ungenauer Ausdruck ist deftzient in dem Sinne, daß er "eigentlich" (hätte man mehr Zeit, wüßte man im Moment genauer Bescheid, wäre man nicht gerade zu faul) speziftziert werden könnte und müßte, ohne dabei seinen Sinn zu verlieren, im Gegenteil, um vielmehr damit seinem eigentlichen Sinn gerecht zu werden, während ein vager Ausdruck nicht speziftziert werden kann, ohne dabei bestenfalls merkwürdig und ungewöhnlich 24 Cf. z.B. Frege (l978b) 32; cf. dazu Dommett (1981a) 440. 25 Cf. Baker/Hacker (1983) 209-228. 26 Platts ( 1979) 222. 27 Cf. zur Vagheit z.B. Alston (1964) ch.5; Hospers (1967) ch.3; Dornmett (1978) 248ff; Wright (1975) und (1976); Peacocke (1981) und (1984); Pulnam (1983) 27lff; Waismann (1969); Black (1949) 23ff (dies ist nur eine Auswahl der wichtigeren Titel). 28 Cf. zum folgenden z.B. Alston (1964) 84ff; ich gehe allerdings in diesem Zusammenhang nicht - wie Alston - auf Metapher und Ironie ein, da dies Phänomene einer anderen sprachlichen Kategorie sind.

102

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

und schlimmstenfalls sinnlos zu werden: D.h. ein vager Ausdruck ist notwendig vage, während ein ungenauer Ausdruck kontingent ungenau ist Auf die Gründe für diese Notwendigkeit, die Inhärenz von Vagheit in vagen Ausdrücken, wird noch genauer einzugehen sein - sie sind von Typ zu Typ verschieden. b) Ambiguität: Im Gegensatz zu Vagheit ist Ambiguität wiederum ein Problem der Verwendung von Ausdrücken, das sich lösen und beseitigen läßt, ohne den Sinn des Ausdrucks zu ändern: Ambiguität eines Ausdrucks ist kein Fall seiner zweifelhaften Anwendung, sondern vielmehr der Fall, daß er auf verschiedene Objekte zutrifft, die nichts miteinander zu tun haben müssen und ihrerseits klar voneinander zu unterscheiden sind. Der Ausdruck braucht nur disambiguiert zu werden, damit deutlich wird, was gemeint ist, während ein vager Ausdruck gerade nicht spezifiziert werden kann, ohne seinen Sinn zu verlieren. Die bisher recht allgemeinen Erläuterungen zur Vagheit können nun mit Hilfe einer Klassifizierung in verschiedene Typen von Vagheit präzisiert werden. Dabei werde ich zunächst jedoch nur einen Uberblick über diese Typen geben, ohne schon darauf einzugehen, wie und warum wir solche Ausdrücke verstehen, wie sie bedeutungstheoretisch zu erklären sind. 1. Am offensichtlichsten und am leichtesten auszumachen sind Ausdrücke, die vage sind in der Art eines "slippery slope", wie J.Hospers es nannte, eines "gleitenden Abhangs" - gleichzeitig ist es die Sorte Vagheit, die Bedeutungstheoretikern am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Dazu gehören Beobachrungsprädikate (wie z.B. Farbprädikate), vage Quantaren ("einige", "viele"), Oppositionsprädikate ("groß" - "klein", "hell"- "dunkel"), räumliche und zeitliche Längenausdrücke ("ein bißeben näher", "vor einiger Zeit"), generell Ausdrücke, die zu einem bestimmten Grad zutreffen, wobei nicht genau festgelegt werden kann, zu welchem Grad (z.B. der berühmt-berüchtigte "Haufen"). Alle diese vagen Ausdrücke zeichnet das aus, was Cr.Wright "tolerance" nennt:

"[A]ny object which F characterizes may be changed into one which it does not simply by sufflcient change in respect of f. ( ..) Then F is tolerant with respectto f if there is also some positive degree of change in respect of f insufflcient ever to affect the justice with which F applies to a particular case."29 Das Prädikat "rot" beispielsweise ist also tolerant im Hinblick auf den Begriff Farbe, da einerseits nicht diskriminierbare Unterschiede der Farbe die Anwendbarkeit des Prädikates rechtfertigen, zum anderen aber ein hinreichender Wechsel von rot beispielsweise zu orange- ein Wechsel im Hinblick auf die Farbe- dazu führt, das Prädikat nicht mehr anwenden zu können, ohne daß hier eine genaue Grenze angegeben werden kann - und eben dieser gleitende Übergang ist es, der bei der Analyse vager Prädikate so schwierig und interessant ist.

29 Wright (1976) 229.

ill. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

103

Am deutlichsten wird dies bei dem sogenannten Sorites-Paradox,30 zu dem alle vagen Prädikate dieses ersten Typus führen. Man kann es in verschiedenen Versionen vorführen: Nimmt man mathematische Induktion als Beispiel, so sieht das Paradox für den Ausdruck "kleine Zahl" folgendermaßen aus:

n ist klein Wenn n eine kleine Zahl ist, dann ist auch n+ 1 klein Also ist jede Zahl klein Ein anderes Beispiel- und zwar das "klassische" Sorites-Paradox- ist das Folgende: 500 Sandkörner sind ein Haufen Wenn 500 Sandkörner ein Haufen sind, dann auch 500+ 1 (500-1) Also bildet jede Zahl von Sandkömern einen Haufen Im Falle von Beobachtungsprädikaten ergibt sich das folgende Paradox: a ist ein roter Fleck Wenn a ein roter Fleck ist und b nicht erkennbar verschieden von a, dann ist auch b ein roter Fleck Also (nach genügend viel Schritten b,c,d..) ist jeder Farbfleck ein roter Fleck Die Gründe, die jeweils das Paradox entstehen lassen, mögen unterschiedlich sein (so ist es z.B. bei Farbprädikaten die Nichttransitivität der Beziehung "nicht erkennbar verschieden von"), doch ist der Effekt in allen Fällen der gleiche: Offensichtlich wahre Prämissen führen mit offensichtlich tadellosen Schlußregeln zu ebenso offensichtlich unhaltbaren Resultaten. 31 Es gibt nun anscheinend zwei Möglichkeiten, diesem Paradox Einhalt zu gebieten: Entweder zweifelt man die Berechtigung der jeweils zweiten Prämisse an oder aber die Gültigkeit der normalen Argumentationsformen im Kontext vager Prädikate. Beides scheint nicht befriedigend zu sein: Der Induktionsschritt und auch die zweite modus-ponens-Prämisse sind ganz offensichtlich für jedes willkürliche n oder auch jede Anzahl von Sandkömern richtig, und selbst wenn man bei vagen Prädikaten die Gültigkeit der Universalisierungsregeln bezweifelt, i.e. die Berechtigung, von "Für jedes willkürliche n gilt A(n)" auf "Für alle n, A(n)" zu schließen, so hilft das nicht weiter, da sich immer noch für jedes beliebigen (in unserem Fall) die Konklusion "n ist klein" ergibt, auch wenn man den allgemeinen Satz "Für jedes n gilt, n ist klein" ablehnt. Dies ist also zumindest prima facie keine Lö-

30 Zum Sorites-Paradox vor allem: Dummett (1978) 248ff; Wright (1975) und (1976); Peacocke (1981) und (1984); der Begriff 'Sorites' (Soreites) ist bereits den Megarikem geläufig und leitet sich her von 'soros' (Haufen), cf. Prantl (1855) 54f, cf. auch 43ff, wo Prantl die unterschiedlichen "Fehl- und Trugschlüsse" der Megariker behandelt. 31 Cf. Platts ( 1979) 220.

104

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehcns

sung, es bleibt demnach die Möglichkeit, die gesamte Argumentationsfonn in Frage zu stellen: Doch scheint dies ein noch schlechterer Ausweg zu sein, da ja die Inferenzregeln gerade konstitutiv für die Bedeutung von "jede" und "wenn" sind. Aus ähnlichem Grund kann man nicht ernsthaft behaupten wollen, daß ein Argument, dessen einzelne Schritte an sich gültig sind, nicht notwendig selbst gültig ist, da dies unseren Begriff von Beweis und Argument selbst in Frage stellen würde, auch wenn man die Ungültigkeit nur auf vage Ausdrücke einschränken, sich also nicht des Vorwurfs des Selbstwiderspruchs schuldig machen würde. Es bleibt ja ein Faktum, daß wir vage Ausdrücke lernen und auch mit vagen Ausdrücken gültig argumentieren können, die Unvereinbarkeit von Inferenzregeln oder Argumentationsfonneo und Vagheit also keineswegs zu unserem Lernrepertoire gehört, wenn wir eine Sprache lernen - dennoch muß sich eine Lösung für diese scheinbare Unvereinbarkeit finden lassen, wenn wir genau dies, nämlich wie wir unstrotzvager Ausdrücke scheinbar ohne Paradoxien verständigen können, verstehen und bedeutungstheoretisch systematisieren wollen. Ich werde gleich im zweiten Teil (b) auf diese Probleme zurückkommen, hier nur noch einmal zusammenfassend feststellen: a) Für alle diese Fälle von Vagheit, i.e. für alle "slippery-slope"-Fälle, ist es möglich, ein Sorites-Paradox zu bilden,32 und das bedeutet, daß in diesen Fällen bestimmte Prinzipien klassischer Logik ungültig werden: Man kann hier nicht mehr sagen, daß das Bivalenzprinzip uneingeschränkt gültig ist, i.e. das Prinzip, daß jeder Satz entweder wahr oder falsch ist, da Sätze, in denen vage Ausdrücke erscheinen, zwar eindeutig wahr oder falsch sein können, es aber auch Bereiche von Vagheit gibt, in denen sie weder wahr noch falsch sein können. So z.B. bei einer Reihe von Farbtäfelchen, deren Schattierungen von rot bis gelb reichen und unter denen es eine Zahl - eine nicht bestimmte Zahl - von Täfelchen gibt, bei denen wir weder dem Satz "Dies ist rot" noch dem Satz "Dies ist nicht rot" zustimmen würden. Das bedeutet, daß wir bei vagen Ausdrücken disjunktive Sätze als wahr zulassen können, ohne dabei eines der beiden Disjunktionsglieder als wahr zu behaupten, also z.B. "Dies ist rot oder gelb", obwohl wir bei dem entsprechenden Farbtäfelchen weder "Dies ist rot" noch "Dies ist gelb" behaupten würden. Das heißt auch, daß das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten neu interpretiert werden muß: Es kann sein, daß der Satz "Dies ist entweder rot oder nicht rot" wahr ist, obwohl weder "Dies ist rot" noch "Dies ist nicht rot" wahr ist.33 b) Zum zweiten möchte ich hier noch einmal darauf hinweisen, daß es für uns kein Ausweg sein kann, die Vagheit dieser Ausdrücke einfach zu eliminieren, 32 Streng genommen sind alle Begriffe Sorites-verdächtig, da das Paradox beliebig genenerbar ist; darauf gehe ich unten noch ein. 33 Weiterhin können wir bei Sätzen mit vagen Ausdrücken nicht mehr von der Negation von "Für alle x, A(x)" auf "Für einige x, nicht A(x)"' schließen, da für diese Inferenz das Bivalenzprinzip nötig ist. Ebensowenig ist die Inferenz, von der Wahrheit der Negation von "Wenn A dann B" auf die Wahrheit von A zu schließen, gültig, da wiederum die Negation des Konditionals wahr sein kann, ohne daß dafür A definitiv wahr zu sein braucht, da das Konditional auch aus anderen Gründen falsch sein kann.

m. Die Systemati:lität einer Bedeutungstheorie

105

indem wir z.B. sagen, wir würden "eigentlich" immer etwas ganz bestimmtes meinen, wenn wir einen vagen Ausdruck verwenden. Würden wir diesen Weg wählen, so würden wir die Vagheit nicht "wirklich emstnehmen", wie Dummen schreibt, jede Eliminierung von Vagheit ließe sich nur gewinnen "at the cost of not really taking vague predicates seriously, as if they were vague only because we had not troubled to make them precise. A satisfactory account of vagueness ought to explain two contrary feelings we have: that expressed by Frege that the presence of vague expressions in a language invests it with an intrinsic incoherence; and the opposite point of view contended for by Wittgenstein, that vagueness is an essential feature of language." (Dummett ( 1978) 258) Diese von Dummett hier konstatierte Spannung zwischen Freges bedeutungstheoretischem Anspruch und Willgensteins Einsicht muß also zumindest erklärt werden - am besten natürlich so, daß sie sich auflöst 2. Eine zweite Klasse von Vagheit, die in der Literatur (zumindest unter diesem Titel) sehr viel weniger Beachtung gefunden hat,34 bilden Begriffe, die, wie Willgenstein es genannt hat, "Familienähnlichkeit" haben: Auch diese Begriffe sind vage, weil sie keine eindeutig festgelegten Grenzen haben - so schreibt Wittgenstein: "Man kann sagen, der Begriff "Spiel" ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern" 35 -, sie sind jedoch nicht vage im Sinne des ersten Typs, des Sorites-Typs von Vagheit, sondern vielmehr so, daß man für diese Begriffe keine eindeutigen Definitionen geben kann, die auf alle gemeinten Instanzen des Begriffs zutreffen würden: Für den Begriff "Spiel" kann man zwar eine Liste von Eigenschaften angeben, die zu einem Spiel gehören, aber um etwas ein Spiel nennen zu können, ist es nicht notwendig, daß alle diese Eigenschaften zutreffen; es ist hinreichend, daß mindestens eine zutrifft Zwei Spiele brauchen also keineswegs eine gemeinsame Eigenschaft zu haben, sie sind nicht notwendigerweise miteinander vergleichbar, wie z.B. das Schachspiel und Spiele, die Kinder mit Bällen spielen. Begriffe mit Familienähnlichkeit können eine ganze Anzahl von Anwendungsbedingungen haben, die nichts miteinander zu tun haben und unabhängig voneinander gültig sind. Die Vagheit, die diese Klasse von Begriffen auszeichnet, läßt sich nicht anband eines Paradoxes darstellen; man könnte sie "intensionale" Vagheit nennen, im Gegensatz zur "extensionalen" Vagheit des ersten Typs, da ein Familienähnlichkeits-Begriff einen nicht definitiv bestimmten Inhalt hat, während ein Sorites-Begriff einen nicht defmitiv bestimmten Umfang hat. Da diese zweite Klasse von vagen Begriffen unter den Bedeutungstheoretikem, die ich im zweiten Teil darstellen und kritisieren werde, so gut wie kein Inter-

34 Zur Familienähnlichkeit cf. etwa Baker/Hacker (1983) 185ff; zum damit verwandten Problem der "cluster-concepts" cf. Searle (1967). 35 Wittgenstein (1971) 60 (§71).

106

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

esse gefunden hat, wird diese Problematik erst am Schluß des Exkurses wieder zur Sprache kommen.36

(b) Lösungsvorschläge zum Sorites-Paradox In diesem Abschnitt sollen die Prädikate, die zu Sorites-Paradoxien führen, bedeutungstheoretisch genauer analysiert werden. Dazu gehören, wie gezeigt, verschiedene Typen von Ausdrücken, denen jedoch allen die von Wright so genannte "tolerance" gemein ist.37 Da das Problem für alle diese Typen im Prinzip jedoch immer das gleiche ist, nämlich die Frage, wie das Sorites-Paradox zu stoppen oder vielmehr so zu interpretieren ist, daß dabei noch die Beschreibung des Gebrauchs vager Prädikate als konsistent zu retten ist, kann man Lösungsversuche an Beispielfällen durchspielen, die in ähnlicher Weise für alle diese vagen Prädikate gültig sind; man kann sie, um das ihnen Gemeinsame herauszustellen (und um nicht eine komplizierte Definition suchen zu müssen, die auf alle diese Prädikate zutrifft), als "Sorites-Prädikate" bezeichnen. Die Hauptrolle spielt dabei in der Literatur das Beispiel der Farbprädikate, wohl deshalb, weil dies einer der beunruhigendsten Fälle ist, da Farbprädikate als reine Beobachtungsprädikate gelten.38 Im folgenden werden vier verschiedene Vorschläge zur Lösung des Problems diskutiert, um die mit diesem Problem aufgeworfenen Schwierigkeiten genauer zu benennen. Die Vorschläge, die ich darstellen und kritisieren will, sind paradigmatisch für je verschiedene sprachphilosophische Ansätze, sie wurden folglich nicht willkürlich ausgewählt;39 doch alle mir bekannten Vorschläge scheinen mir in der einen oder anderen Hinsicht mangelhaft zu sein. a) Kit Fines Theorie in "Vagueness, Truth and Logic" 40 soll als erste kritisiert werden - nicht unbedingt, weil sie die unkomplizierteste ist, denn das ist sie keineswegs, sondern deshalb, weil sie mir am leichtesten widerlegbar zu sein scheint, da schon die Grundannahmen, auf denen sie beruht, falsch und dem Gebrauch vager Prädikate nicht angemessen sind. Fines primäres Anliegen ist es, die klassische Logik auch für Sätze mit vagen Ausdrücken beibehalten zu können, und zwar mit Hilfe einer detaillierten Beschreibung der Wahrheitsbedingungen dieser Sätze. Er beginnt dabei mit zwei Behauptungen: Erstens, daß Vagheit

36 Unbeachtet lasse ich die anders geartete Vagheit von ästhetischen und ethischen Ausdrücken; die Gründe für diese An von Vagheit sind noch eirunal völlig andere und in unserem Zusammenhang nicht wichtig. 37 Wright (1976); cf. dazu auch Parikh (1983), besonders seine Beschreibung eines "metric space" von vagen Prädikaten, 242f. 38 Cf. Wright (1976) 233; kritisch dazu: Travis (1985) 350f. 39 Bakerfl!acker sehe ich nicht als in diesem Sinne paradigmatisch an, da sie nicht nach einer "Lösung" wie die anderen Autoren suchen, i.e. nicht nach einer "Logik der Vagheit" o.ä. Für die Davidsonschule kann Platts als beispielhaft gelten. 40 Fine (1975).

ill. Die Systematizität einer Bedeunmgstheorie

107

definiert werden muß als "Mangel an Bedeutung" ("deficiency in meaning", 265), und zweitens, daß ein vager Satz wahr ist dann und nur dann, wenn er wahr ist für alle Arten, ihn vollkommen zu präzisieren. Diese beiden Annahmen laufen darauf hinaus, daß ein Satz, der einen vagen Ausdruck enthält, nur dann Bedeutung hat, wenn er vollkommen präzisiert worden ist - und genau diese These ist es denn auch, für die Fine zu argumentieren sucht. Ich möchte seine Argumente nur so kurz wie möglich skizzieren, ohne dabei in alle Details zu gehen - ein paar sind jedoch unumgänglich, um den Argumentationsgang klar zu machen. Fines Aufsatz besteht im wesentlichen aus zwei Teilen, im ersten geht es um die Wahrheitsbedingungen "vager Sätze", im zweiten um eine Logik der Vagheit Fine führt zunächst den Begriff einer "penumbralen Verbindung" ein, um zu zeigen, daß logische Beziehungen auch zwischen unbestimmten Sätzen möglich und gültig sind, und nennt die Wahrheit, die bei penumbralen Verbindungen entsteht, "penumbrale Wahrheit" ("penumbral truth", 270). Seine These ist nun, daß keine der "herkömmlichen" Wahrheitswert-Ansätzeeine adäquate Beschreibung dieser penumbralen Wahrheit geben kann und daher eine neue Behandlung des Wahrheitsbegriffs nötig ist. Fine schlägt deshalb seine Theorie der "Super-Wahrheit" ("super-truth") als die einzig angemessene und verfügbare vor. Die Superwahrheit stützt sich auf die Beschreibung eines Speziftkationsraumes, der folgendermaßen definiert ist: Ein Spezifikationsraum besteht aus einer nicht-leeren Menge von Elementen (den Spezifikationspunkten) und einer Halbordnung (einer reflexiven, transitiven und anti-symmetrischen Beziehung) für die Menge: die Beziehung~ ist die Extensionsbeziehung, die definiert ist als: eine Spezifikation u extendiert eine andere, t, dann und nur dann, wenn u einem atomaren Satz genau den definitiven Wahrheitswert zuschreibt, den t dem Satz zugeschrieben hat.41 Fines Idee ist dabei die, daß der Speziftkationsraum dann angemessen ist, wenn jeder Spezifikationspunkt einer Präzisierung ("precisification") des in Frage stehenden Satzes entspricht. Punkte extendieren einander nur dann, wenn sie Präzisierungen entsprechen, die ihrerseits einander "im natürlichen Sinne" extendieren. Wenn wir also einen Spezifikationsraum für jeden vagen Satz haben, dann ist ein vager Satz, gemäß der Theorie der "Superwahrheit", wahr nur dann, wenn er wahr ist für alle zulässigen und vollständigen Spezifikationen. Die Behauptung eines vagen Satzes kommt also der Theorie zufolge der Behauptung (mindestens) einer seiner Präzisierungen gleich. Wenn man dies alles in Rechnung stellt, so gibt die Frage nach der Logik der Vagheit keine sonderlichen Rätsel mehr auf: Die Gültigkeit des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten ist nicht mehr wirklich in Gefahr, da ein vager Satz ohnehin nur dann bedeutungsvoll ist, wenn er präzisiert wurde, und die Wahrheit des Satzes ist jeweils relativ zu seinem Spezifikationsraum. Ebenso ist auch das Sorites-Paradox lösbar: Fine benutzt hier das Beispiel des glatzköpfigen Mannes, das normalerweise zu einem Paradox führt, da "glatzköpfig" ein vages Prädikat ist in Bezug auf die Zahl der Haare. Unter Fines Beschreibung ist jedoch die zweite Prämisse des Paradoxes falsch ("Wenn ein Mann mit n Haaren auf 41 Die "extension-relation" wird bei Fine sehr viel ausführlicher analysiert: S.268ff.

108

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

dem Kopf glatzköpfig ist, dann ist auch ein Mann mit (n+1) Haaren auf dem Kopf glatzköpfig"): Für jede vollständige und zulässige Spezifikation von "ist glatzköpfig" gibt es genau ein "spaltendes Haar" n, das die Grenze zwischen "ist glatzköpfig" und "ist nicht glatzköpfig" markiert. Gegen diese Lösung ist man, so Fine, vor allem deshalb voreingenommen, weil man die Bedeutung der "Wahrheitswertverschiebung" ("truth-value-shift") verkennt: d.h. "a oder nicht-a" ist gültig aufgrundeiner Wahrheit (der Spezifikation), die sich von Disjunktionsglied zu Disjunktionsglied, gemäß der jeweiligen Spezifikation, verschiebt Abgesehen von einigen kleinen inneren Unstimmigkeiten42 sieht Fines Interpretation recht konsistent aus, und ich habe sie deswegen mit einiger Ausführlichkeit dargestellt, weil sie paradigmatisch für die Richtung steht, die man als Versuch der Eliminierung von Vagheit bezeichnen kann. Der schlichte, aber ebenso vernichtende Fehler, der Fines Interpretation scheitern läßt, wird jedoch schon in seiner Grundannahme deutlich: Vagheit kann nicht als "Mangel an Bedeutung" definiert werden, denn vage Ausdrücke sind keineswegs abhängig von irgendeiner Art von Präzisierung, um Bedeutung zu erlangen - im Gegenteil, vage Ausdrücke verlieren ihren eigentlichen Sinn und die Funktion, die sie in unserer Sprache erfüllen, wenn sie präzisiert werden. Wenn wir ein Prädikat wie "glatzköpfig" gebrauchen, dann tun wir das im vollen Bewußtsein dessen, daß wir keine genaueZahl von notwendigen und hinreichenden Haaren angeben können, gerade deshalb machen wir ja Gebrauch von dieser Art Ausdruck. Vage Ausdrücke verlieren jedoch nicht nur ihren Witz, wenn sie präzisiert werden, sondern sie haben auch von vomherein nicht einmal das, was Fine den "Speziftkationsraum" nennt: Einen Spezifikationsraum anzugeben, heißt ja, dem Prädikat genaue Grenzen zu geben, auch wenn diese willkürlich gesetzt sein dürfen. Vage Prädikate zeichnen sich aber gerade dadurch aus, daß es für sie unmöglich ist, einen solchen Spezifikationsraum zu markieren. Geht man von der Möglichkeit aus, vage Prädikate auf Fines Art und Weise zu präzisieren, so heißt das schlicht, daß man die Vagheit von vomherein eliminiert und damit die eigentliche Schwierigkeit erst gar nicht berücksichtigt43 b) Peacockes Vorschlag44 soll als nächster diskutiert werden; ich werde wiederum zunächst seine Argumente skizzieren, um dann meine Kritik anzuschließen. Peacocke beginnt seine Analyse vager Prädikate damit, daß er den Begriff eines "Grades" einführt: "[f]wo objects arered (say) to the same degree iff any object not discriminably different from one of them in respect of colour is not discriminably different in respect of colour from the other." (Peacocke (1981) 125)

42 Cf. z.B. S.285f, wo Fine nicht zwischen Argument trennt, die die logische und solchen, die die ontologische Ebene betreffen; er scheint die Vagheit der Sprache mit der Vagheit der Welt zu identifiZieren. 43 So auch Wright (1976) 227; Dummett (1978) 258. 44 Cf. Peacocke (1981) und (1984); ich beziehe mich vor allem auf (1981).

III. Die Systematizität einer Bedeurungstheorie

109

"Grad" ist gemäß dieser Bestimmung nicht selbst auch Sache von Beobachtung, da zwei Objekte nicht erkennbar verschieden voneinander sein können und doch der Grad. zu dem ein gegebenes Beobachtungsprädikat auf sie zutrifft, nicht derselbe sein muß. Auch wenn jedoch "Unterschied im Grad" nicht immer ein Beobachtungsprädikat ist, so muß es doch als solches expliziert werden und zwar sowohl mit Hilfe von Begriffen wie "passen", "entsprechen" ("Der Grad, zu dem x rot ist, ist größer als der, zu dem y rot ist, genau dann, wenn die Farbe, die der Farbe von x entspricht, stärker rot ist als die, der y entspricht"), wie auch mit logischen Begriffen (Relationsausdrücken). Daher geht der Begriff "Grad" nicht über die Unterschiede hinaus, die kompetente Sprecher bei der Anwendung von Beobachtungsprädikaten noch manifestieren können - auf diese Fähigkeit der Manifestation im Sprachverhalten hatte z.B. ein Logiker der Vagheit im Sinne Fines keine Rücksicht genommen. Auf der Grundlage dieses Grad-Begriffs entwickelt Peacocke seine These, daß wir Sorites-Paradoxe dann vermeiden können, wenn wir vage Prädikate mit Hilfe des Grad-Begriffs interpretieren. Seine Argumentation sieht dabei folgendermaßen aus: Das Paradox ist Ergebnis des Versuchs, zwei sich gegenseitig ausschließende Bedingungen einem Konditional aufzuerlegen, das vage Prädikate enthält, wie z.B. das Standardbeispiel "Wenn a rot ist, dann ist auch b, wenn es nicht erkennbar verschieden von a ist, rot". Die unvereinbaren Bedingungen lauten: "(1) modus ponens inferences for this conditional arevalid without restriction. (2) for some observational predicate F, and any objects x and y (named by a and b respectively), if xisnot discriminably different from y, then the conditional with antecedent "a is F" and consequent "bis F" is true." (Peacocke (1981) 127) Nach Peacocke entsteht das Sorites-Paradox also nicht deshalb, weil vage Prädikate in sich inkonsistent sind, sondern vielmehr aufgrund des Gebrauchs eines Konditionals, das zwei inkompatible Bedingungen erfüllen soll. Um diese Behauptung zu unterstützen, braucht Peacocke eine Charakterisierung der Beziehung zwischen Beobachtbarkeit und nicht erkennbarem Unterschied, die nicht ihrerseits wieder zu einem Paradox führt. Er gibt diese Charakterisierung mittels der Einführung von "Wahrheitsgraden" in die Interpretation des Konditionals: Ein Konditional von der Form "Wenn a von b (im Hinblick auf die Farbe) nicht erkennbar verschieden ist, dann ist es nicht der Fall, daß a definitiv rot ist und b nicht definitiv rot ist" (in logischen Symbolen: Ixy -> -(Dfx & -Dfy)45) kann ein eindeutiges Antezedens haben, während dennoch das Konsequens nur zu einem bestimmten Grade besteht. Modus ponens kanntrotzder Inkompatibilität der oben genannten beiden Bedingungen unter bestimmten Bedingungen gültig sein und zwar dann, wenn man eine besondere Spezifizierung des Sinns von a und b einführt. Peacocke übernimmt diese Differenzierung im Begriff des Sinns

45 Peacocke (1981) 127.

110

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

eines Ausdrucks von Dummett, der sie in "Frege. Philosophy of Language" einführt: "[W]e must distinguish ( ..) between knowing the meaning of a Statement in the sense of grasping the content of an assertion of it, and in the sense of knowing the contribution it makes to determining the content of a complex statement in which it is a constituent: Iet us refer to the fonner as simply knowing the content of the Statement, and to the latteras knowing its ingredient sense." (Dummett (1981) 446f) Das heißt also, angewendet auf einen Bedingungssatz mit vagem Prädikat: Wenn der Wahrheitswert des Bedingungssatzes als eine Funktion des WahrheitsGrades seiner Konstituenten spezifiziert werden muß, dann fallen "content-" und "ingredient-sense" der Konstituenten auseinander. Wenn jedoch "content-" und "ingredient-sense" zusammenfallen, bestimmt sich der Wahrheitswert des ganzen Bedingungssatzes wie üblich aus den Wahrheitswerten seiner Konstituenten, folglich ist dann auch modus ponens gültig. Peacocke scheint, obwohl er sorgfaltig die Rede von der "Eliminierung" des Sorites-Paradoxes vermeidet, dieses Paradox lösen zu wollen, indem er behauptet, daß vage Prädikate trotz allem doch nicht inkonsistent sind, sondern nur "anders" als die normalen Prädikate unserer Sprache behandelt werden müssen, und zwar aufgrund der Inkompatibilität der oben genannten beiden Bedingungen für ein Konditional mit vagem Prädikat. Dies ist jedoch meiner Meinung nach keine Lösung des Problems, sondern vielmehr eine petitio principii und eine Verlagerung des Problems auf eine andere Stufe: Anstatt zu sagen, daß aufgrund der Inkonsistenz vager Prädikate nicht beide Bedingungen gleichzeitig erfüllt werden können, behauptet Peacocke, daß - erklärt man nur eine Bedingung für gültig - vage Prädikate keineswegs inkonsistent sind. Das heißt, daß die Frage, warum für vage Prädikate bestimmte Inferenzregeln nicht gültig sind, einfach eine Stufe weitergeschoben wird. Peacocke könnte nun diesem Vorwurf entgegenhalten, daß vage Prädikate zwar nicht inkonsistent sind, sie aber immer nur zu einem bestimmten Grade auf Objekte zutreffen und daß aufgrund dieser "Wahrheitsgrade" nicht beide Bedingungen erfüllt sein können. Dies jedoch ist ein Scheinargument Das Problem ist ja gerade, daß vage Prädikate Gradprädikate sind und von daher in manchen Fällen Inferenzregeln in Frage stellen. Auch Peacockes Übernahme der Unterscheidung zwischen "content-" und "ingredientsense" hilft hier nicht weiter, da immer noch die Frage bleibt, wann wir den "content-" und wann nur den "ingredient-sense" erfassen. Es nützt also nichts, hier nur zu sagen, daß manchmal modus ponens gültig ist und manchmal nicht - das war uns von vomherein klar -. da es gerade darum geht, Regeln anzugeben, die in konsistenter Weise die Anwendung der Prädikate bestimmen. Das Paradox entsteht genau deshalb, weil die Regeln selbst inkonsistent sind. 46 Peacockes 46 Cf. Dummett (1978) 265: "The induction step is correct, according to the rules of use governing vague predicates such as "small": but these rules are themselves inconsistent, and hence the paradox. Dur earlier model for the logic of vague expressions thus becomes useless: there can be no coherent such logic." Dummen zieht daraus den Schluß, daß Beobachtungsprä-

m. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

111

Analyse vager Beobachtungsprädikate reflektiert einfach diese Inkonsistenz, erklärt sie aber nicht wirklich und löst sie auch nicht auf. Daher kann seine Analyse nicht als Lösung des Paradoxes oder als Erklärung der Verwendungsweise vager Prädikate angesehen werden.47 c) Crispin Wright hat ebenfalls in einer Reihe von Aufsätzen das Problem der Vagheit untersucht 48 Der Unterschied zwischen Wrights Ansatz und denen von Fine und Peacocke besteht zunächst darin, daß Wright das Vagheilsproblem ganz bewußt und explizit in den Zusammenhang der allgemeinen Frage nach der Möglichkeit einer Bedeutungstheorie stellt und bedeutungstheoretische Ansätze danach kritisiert, wie sie der Vagheit von Prädikaten Rechnung tragen können. Es gibt nach Wright in der zeitgenössischen Bedeutungstheorie eine vorherrschende Meinung ("governing view"), die sich im wesentlichen auf das Bild stützt, unsere Sprache funktioniere wie ein Spiel nach Regeln, die es auf bestimmte Art und Weise zu beschreiben gilt. Wright charakterisiert dies so: Der "governing view" ruhe aufzwei Behauptungen, zum einen "that our use of language is rightly seen, like a game, as a practice in which the admissibility of a move is determined by rule, and that [zum zweiten] generat properlies of the rules may be discovered by means of the sorts of consideration just described." (Wright (1976) 225) Diese "gerade beschriebenen Überlegungen", die die "allgemeinen Eigenschaften von Regeln" entdecken helfen sollen, sind folgender Art: "[H]ere we may legitimately approach our use of language from within, i.e. reflectively as self-conscious masters of it, rather than externally, equipped only with behavioural notions. Thus it is legitimate to appeal to our conception of what justifies the application of a particular expression; ( ..) to the limitations imposed by our senses and memories on the kind of instruction which we can actually carry out in practice; and to the kind of consequence which we associate with the application of a

di.kate ein inkonsistentes Moment in unserer Sprache bilden: "(.. ) while our langnage certainly contains observational predicates as weil as re1ational expressions, the former (though not the latrer) infect it with inconsistency." (1978) 268. Angesichts der starken Forderungen nach systematischer Formalisierbarkeit, die Dummett an eine Bedeutungstheorie stellt, kann dies eigentlich nur extrem revisionistische Konsequenzen haben: Beobachtungsprädikate müßten aus unserer Sprache eliminiert werden. Da Dummett nicht eigentlich eine "Lösung" der Sorites-Paradoxie dantellt, gehe ich auf seine Ausführungen nicht gesondert ein. 47 Dies könnte insofern unfair gegenüber Peacocke scheinen, als ich seine Analysen von Beobachtungsprädikaten und "Beobachtungston" ("observational shade"), die einen großen Teil seiner Aufsätze ausmachen, ganz außer acht lasse; diese Analyse wirft aber kein neues Licht auf seine Lösung der VagheilSproblematik und ist deshalb hier nicht notwendigerweise von Bedeutung. 48 Wright (1975); (1982); (1976); ich beziehe mich in enter Linie auf den letzten der genannten Aufsätze.

112

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

particular predicate, to what we think of as the point or interest of the distinction which the predicate implements." (Wright (1976) 225) Wrights These, die er in seinen verschiedenen Aufsätzen auf immer ähnliche Art vertritt, ist die, diese beiden Behauptungen, die dem "goveming view" zugrunde liegen, seien unvereinbar und schlössen sich gegenseitig aus und zwar deshalb, weil unsere Sprache zu einem großen Teil aus vagen Ausdrücken bestehe. Wie gelangt er zu dieser These? (Ich skizziere nur eine Rekonstruktion seiner nicht immer ganz übersichtlichen Argumentation.) In einem ersten Schritt gibt Wright eine Definition von Vagheit, die ich schon oben zitiert habe und nach der vage Prädikate als "tolerant" bezeichnet werden gegenüber einem übergeordneten Begriff, in Bezug auf den keine scharfen Grenzen festzulegen sind (z.B. "rot" in Bezug auf "Farbe"). Das heißt, daß vage Prädikate "verschwommene Grenzen" haben, so daß sie qua Definition nicht die Aufgabe, die wir normalerweise Prädikaten zuweisen, erfüllen können, nämlich Objekten Eigenschaften in eindeutiger Weise zuzuschreiben. In einem zweiten Schritt begründet Wright, warum vage Prädikate notwendigerweise vage sind, i.e. warum es ein Charakteristikum von "semantischer Tiefe" ("semantical depth") ist, daß eine bestimmte Klasse von Prädikaten vage ist, wobei er sich in erster Linie auf Beobachtungsprädikate bezieht Dabei stützt er sich auf zwei Thesen: Erstens, daß der Sinn von Beobachtungsprädikaten wirklich allein von Beobachtung abhängt, i.e. nicht noch weiter, mit anderen Mitteln expliziert und begründet werden kann und muß; 49 zweitens, daß die Tatsache, daß der Sinn von z.B. Farbprädikaten rein von Beobachtung bestimmt ist, grundlegend und indiskutabel ist - "that this is a very fundamental fact about their senses, whose sacrifice would be possible only at great cost"so In einem dritten Schritt versucht Wright zu zeigen, daß die Verwendungsregeln für vage Prädikate nicht beschrieben und erfaßt werden können mit Hilfe von Überlegungen, die oben die Position des "goveming view" charakterisierten. Wright endet deshalb mit zwei miteinander verbundenen Anforderungen an eine Bedeutungstheorie, die erfüllt sein müssen, wenn man weiterhin eine systematische Bedeutungstheorie auch im Blick auf vage Prädikate für richtig halten will: Zum einen sollen wir an der Analogie zwischen Sprache und Spiel und damit an der Überzeugung festhalten, daß Sprache von Regeln "geleitet" ist "The comparison of language with a game is an extremely natural one. What better explanation could there be of our ability to agree in our use 49 Wright (1976) 233: "These predicates [sc. e.g. co1our predicates] are in the following sense purely observational : if it is possible to tell at all what co1our something is, it can be told just by looking. The Iook of an object decides its colour, as the feel of an object decides its texture, or the sound of a note its pitch. The information of one or more senses is decisive of the applicability of an observational predicate." Dies ist natürlich nicht gerade unumstritten, cf. als Beispiel einer anderen Position Travis (1985) 350ff. SO Wright (1976) 237.

DI. Die Systematizität einer Bedeunmgstheorie

113

of language than if, as in a game, we are playing by the same rules? We are thus attracted towards the assimilation of our situation to that of people to whom the practice of a highly ramified, complex game has been handed down via many generations, but of which the theory has been lost. Our centrat task, as philosophers of language, is to work towards the recovery of such a theory: a theory which will explain the mechanism of our recognition of the senses of new complex expressions by displaying them as functions of the senses of their constituents and their mode of combination, which will explicate our apprehension of valid inferences - which, in short, will explicate the overall character of our mastery of the language game." (Wright (1976) 246t) Auch wenn dieses Programm sich zunächst nicht sonderlich von dem zu unterscheiden scheint, das Wright als den "goveming view" apostrophierte und ablehnte, so wird mit der zweiten Anforderung, die die Art und Weise betrifft, wie die Sprachregeln charakterisiert werden sollen, zumindest scheinbar deutlich, wo und wie Wright sich vom "goveming view" absetzen will: "What we have leamed is that we probably cannot combine this conception of what a theory of meaning should accomplish with the notion that the investigation is something which, as masters of the language in question, we are better placed to carry out than an observer of our practice. Wehave to avoid appeal (..) to ( ..) considerations to do with what we shoutd deem a proper exptanation of the sense of an expression, the criteria which we shoutd employ for determining that someone misunderstands it, what we use the expression for, i.e., what issues turn on its application, the limitations imposed by our senses and memories on the information which we can absorb from our linguistic training, and our generat conception of what justifies the application of the expression. (..) [W]e have seen that we must dismiss them if we want a coherent account of the senses of vague expressions. The methodologicat approach to these expressions, at any rate, must be more purely behaviouristic and anti-reflective, if a generat theory of meaning is to be possible at all." ((1976) 247) Es ist sinnvoll, Wright so ausführlich zu zitieren, um unvoreingenommen darzustellen, was er über den Unterschied zwischen der "herrschenden Meinung" und seinem eigenen sprachphilosophischen Ansatz sagt - denn daraus geht m.E. deutlich hervor, daß es völlig unklar ist, wie Wrights Programm zu interpretieren ist. Der Gegensatz, den er zwischen der Sicht und Interpretation der Sprache "von innen" und der "von außen" aufbaut, ist weder klar noch sinnvollerweise aufrechtzuerhalten in der Art, wie Wright es beabsichtigt: Die Überlegungen, die er als "von innen" her interpretiert, können ebenso gut "von außen" angeführt werden, wie z.B. die Frage, was die Anwendung eines Ausdrucks rechtfertigt, oder die, was als "proper exptanation" des Sinns eines Ausdrucks zu gelten hat (nämlich die Art seiner Verwendung etc.), ebenso wie die, was als Mißverständnis zu gelten hat (falsche Reaktionen auf Äusserungen etc.). Es wird nicht ausreichend deutlich, mit welcher Intention Wright diese Entgegensetzung "außen -

114

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

innen" aufbaut. da gerade die Sorte Überlegungen hinsichtlich des Regelfolgens, die er dem "governing view" unterstellt. gar nicht mit Hilfe des Gegensatzes von "außen" und "innen" charakterisiert werden können- resp. wenn überhaupt. dann eher unter dem Titel "von außen" Sinn ergeben. Eine Kritik an einem "governing view" wäre einleuchtend gewesen, wenn Wright Vorstellungen wie die von "mentalen Bildern" oder mentalen Entitäten, die allein die Bedeutung der Ausdrücke unserer Sprache bestimmen, kritisiert hätte (wobei "goveming view" in der Tat ein unangemessener Ausdruck gewesen wäre), aber so bleibt es in seiner Darstellung unklar, gegen welche Position er sich eigentlich wendet und vor allem, wie sein "more purely behaviouristic, anti-reflective methodological approach" aussehen und auf welche Überlegungen dieser sich stützen sollte. Wrights "Analyse" ist deshalb so verwirrend, weil der "governing view" gegenwärtiger Bedeutungstheorie (wenn man z.B. den späten Wittgenstein und die Ansätze im Anschluß an ihn oder, cum grano salis, Quine und auch Dummett selbst betrachtet) tendenziell oder auch explizit behavioristisch ist und der Witz bei der Untersuchung vager Prädikate ja gerade der ist (oder zumindest einer der Witze), daß man mit behavioralen Beschreibungen der Verwendungsweise dieser Prädikate nicht sonderlich weit kommt: nämlich immer nur zu einem Paradox. Insofern könnte man im Gegenteil gerade sagen, daß man dem behavioristischen "governing view", da sich gezeigt hat, daß er hier in eine Sackgasse führt. einen "antibehavioralen, reflektiven" methodologischen Ansatz entgegensetzen müßte. Ich werde später darauf zurückkommen. d) Der letzte Vorschlag, den ich diskutieren werde, wurde von Platts gemacht.51 Er läßt sich insofern gut im Anschluß an Wright behandeln, da er selbst Wrights Position kritisiert und seine eigene aus dieser Kritik heraus entwickelt Auch Platts ist der Meinung, daß wir uns mit der Idee einer Regelsemantik auf der einen Seite und der Irregularität vager Prädikate auf der anderen Seite in Widersprüche verwickeln, die uns dazu zwingen, den Begriff der Verwendungsreget für (vage) Ausdrücke neu zu bestimmen. Er schlägtjedoch einen anderen Weg ein als Wright und versucht. folgende These zu begründen: "[F]or vague expressions, the threat of generatingparadoxes requires that we rest with austere, non-decompositional analyses."52 Was bedeutet das? Platts verlangt- das ist die zugrundeliegende Idee-, daß eine Regel wie die folgende: (S) "Something satisfies "is red" if and only if it is red" ((1979) 221) uns alles sagen kann, was es über die semantische Erklärung dessen zu sagen gibt. was es bedeutet, einen vagen Ausdruck - in diesem Fall also: den Ausdruck 51 Platts (1979) 217ff; Platts gibt hier eine ausgesprochen ungenaue Darstellung der Wrightschen Position, in manchen Punkten sogar falsch. Das ist aber für unsere Zwecke nicht weiter schlimm. 52 Platts (1979) 222; cf. auch die Einleitung von Evans/McDowell in Evans/McDowell (1976), wo sie im Anschluß an eine Kritik von Wrights Aufsatz auf die gleiche Idee wie Platts kommen; cf. (1976) Xlf.

ill. Die Syslematizität einer Bedeutungstheorie

115

"rot" - in allen möglichen Situationen korrekt gebrauchen zu können. Er behauptet, daß die "Unanalysierbarkeit" eines großen Teils von Ausdrücken der natürlichen Sprache "relates, not just to the difficulty of finding adequate decompositional analyses of many expressions ( ..), nor just to the need to avoid immediate entrapment in the paradoxes(..) but also to the "brute phenomenological fact" of the irrelevance of such analyses to our practical application of many expressions, the application which manifests our understanding of them." (a.a.O. 223f) Mit Platts These gibt es zwei Probleme: (a) ob sie den allgemeinen bedeutungstheoretischen Ansprüchen genügen kann und (b) ob sie tatsächlich, wie er meint, reicht, um das Paradox stoppen zu können. Ich werde auf (a) kurz, auf (b) etwas weniger kurz eingehen. (a) Platts verneint mit der These der "Unanalysierbarkeit" bestimmter Ausdrücke und mit der These, daß eine Regel wie (S) alles erklären kann, was es über die Verwendungsweise von (z.B.) "rot" zu sagen gibt, die Notwendigkeit einer starken "Theorie des Sinns": Mit einer Regel wie (S) ist allenfalls angehbar (wobei noch nicht einmal dies klar ist), daß "rot" die und die Bedeutung hat und sich in bestimmter Weise auf "die Welt" bezieht, nicht jedoch, worin das Wissen, das wir haben, wenn wir die Bedeutung von "rot" kennen, besteht und wie dieses sich manifestiert. Ich möchte die Diskussion um die Art der Bedeutungstheorie, die meint, mit schlichten T-Theoremen auszukommen (denn darauf läuft Platts These hinaus), hier nicht wiederholen, da die Argumente, die dafür und vor allem dagegen sprechen, oben schon vorgestellt wurden, und mich deshalb hier mit der Feststellung begnügen, daß zumindest von diesen allgemeinen bedeutungstheoretischen Überlegungen her Platts Ansatz ungenügend bleibt.53 (b) Das heißt aber nicht, daß man nicht doch untersuchen sollte, ob Platts These eine mögliche Lösung des Sorites-Paradoxes mit sich bringt. Platts Ausweg aus dem Paradox besteht darin, die Notwendigkeit der jeweils zweiten Prämisse zu bestreiten, indem er argumentiert, daß sie auf einem nicht wohl-definierten Begriff von "Beobachtbarkeit" und unserem Gebrauch von Beobachtungsprädikaten beruhe: Unser Erfassen der Bedeutung von (z.B.) Farbprädikaten basiert immer, so Platts, auf einem Paradigma und dies bedeutet, daß wir unterscheiden müssen zwischen einem "Paradigma-rot" und bloßen Beispielen von rot. Das Paradox kann nur dann entstehen, wenn wir folgende falsche Annahme machen: "Wenn ein roter Fleck nicht unterscheidbar ist von einem paradigmatischen roten Fleck, dann ist er selbst auch ein paradigmatischer roter Fleck". Ununterscheidbarkeit von einem "Paradigma-Farbfleck" bedeutet nicht gleichzeitig ein weiteres Paradigma, sondern zeigt nur, daß der in Frage stehende Fleck ein Beispiel der vom Paradigma angegebenen Farbe ist Platts schließt:

53 Platts ( 1979) 231f.

116

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

"The observationality of colour-predicates amounts to this: there is an observationally determinable sufficient condition of the application of a colour-predicate - viz. indiscriminability from a paradigm." (Platts (1979) 231) Diese Unterscheidung zwischen einem Paradigma-Rot und anderen Anwendungsweisen desselben Ausdrucks ist jedoch deshalb problematisch, weil unklar ist, welchen Status das "Paradigma" selbst hat54 und wie mit dieser Erklärung noch die Eigenschaft der Beobachtbarkeit von Farbprädikaten erhalten bleiben kann. So wie Platts den "Paradigma-Farbfleck" definiert, ist dieses Prädikat kein Beobachtungsprädikat mehr: Offenbar wird das Paradigma mittels der Bestimmung einer Farbe an einem bestimmten Gegenstand definiert. Ich will dies an einem Beispiel verdeutlichen: Man könnte das Paradigma so bestimmen, daß man sagt, "Die Farbe, die (z.B.) dieser Aschenbecher hat, ist das Paradigma-rot"; dann heißt dies aber, daß zumindest "Paradigma-rot" kein Beobachtungsprädikat mehr ist, sondern durch die Farbe definiert wird, die dieser Aschenbecher hat Nun könnte Platts dies miunachen und einfach sagen, daß in der Tat "Paradigma-rot" kein Beobachtungsprädikat ist, wohl aber das "normale" "rot". das sich durch die Ununterscheidbarkeit von "Paradigma-rot" auszeichnet. Dies jedoch ist ein Fehlschluß: Denn wenn das "Paradigma-rot" theoretisch definiert wird und das "normale" "rot" durch die Ununterscheidbarkeit vom "Paradigma-rot", dann ist auch das "normale" "rot" kein Beobachtungsprädikat mehr; denn man kann nicht mehr durch bloße Beobachtung (unter Standardbedingungen) feststellen, ob etwas "rot" ("normal") ist, sondern nur durch Vergleich mit dem (theoretisch definierten) paradigmatischen Farbfleck. Damit aber schlägt Platts Lösungsversuch fehl: Sein Ziel war es, die Sorites-Paradoxie für Beobachtungsprädikate zu lösen, wenn er aber die Prädikate so defmiert, daß sie keine Beobachtungsprädikate mehr sind, hat er zwar ein Ziel, nicht aber das von ihm angestrebte erreicht. Ich denke jedoch, daß Platts Lösung insofern zumindest ein Schritt in die richtige Richtung ist, als er zu differenzieren sucht zwischen zwei prinzipiell unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Wortes "rot" resp. irgendeines anderen Farbprädikats. Ich will deshalb im Anschluß an Platts jetzt einen eigenen Vorschlag zur Lösung der Vagheitsproblematik skizzieren.

(c) Lösung des Sorites-Paradoxes Sowohl Peacocke wie auch Platts haben den m.E. richtigen Versuch unternommen, die Gültigkeit der zweiten Prämisse des Sorites-Paradoxes in Zweifel zu ziehen: Das heißt, daß man die Tatsache erklären muß, aus welchen Gründen wir Farbprädikate - als Paradigma für Sorites-Prädikate - in manchen Kontexten problemlos als reine Beobachtungsprädikate verwenden und verstehen können und aus welchen Gründen dies in anderen Kontexten zu Paradoxien führt. Eben54 Cf. auch Peacocke (1981) 124f, dessen Kritik ich mich hier anschließe.

m. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

117

falls richtig ist sowohl bei Platts wie bei Peacocke der aus dieser Diagnose resultierende Ansatz, in der Verwendungsweise dieser Prädikate zwei grundsätzlich verschiedene Fälle voneinander zu unterscheiden: Und das wiederum heißt- worauf allerdings weder Platts noch Peacocke eingehen -, daß man auch zwei grundsätzlich verschiedene Lernsituationen bei diesen Prädikaten voneinander unterscheiden muß. Die Standardlernsituation für die Bedeutung des Wortes "rot" sieht dabei so aus, daß der lernenden Person verschiedene Beispiele der Farbe vorgeführt werden- "dies ist rot" bei einer roten Nelke, "dies ist rot" bei einem roten Aschenbecher etc. -, so daß sie lernt, auf Grund bloßen Hinsehens sagen zu können, dieser oder jener Gegenstand sei - unter Standardbedingungen - rot Dies ist die "normale" Verwendungsweise des Wortes "rot", i.e. die, bei der wir auch problemlos behaupten können, das Prädikat "rot" sei ein Beobachtungsprädikat Nun muß man davon jedoch eine andere Lernsituation unterscheiden: nämlich die, in der wir das Wort "rot" als gegenüber einer bestimmten vorliegenden Farbe theoretisch defmiert lernen. In dieser Verwendungsweise kann das Prädikat "rot" nicht als reines Beobachtungsprädikat gelten, da seine Verwendungsweise nicht durch "bloßes Hinsehen" bestimmt wird, sondern durch die Beziehung - die allerdings eine "Beobachtungsbeziehung"55 ist - zu einem anderen Prädikat Ich will dies an einem Beispiel erläutern: Wenn man sich einen Konfliktfall der Anwendung eines Farbprädikats vorstellt, in dem Sinn, daß es unterschiedliche Auffassungen etwa über die Farbe eines Gegenstands gibt ("Dieser Pullover ist doch nicht grün, sondern eher türkis!"), dann kann der Konfliktfall beigelegt werden mittels eines Vergleichs der in Frage stehenden Farbe mit einem Gegenstand, über dessen Farbe intersubjektive Einigkeit besteht. Es wird also etwa gesagt "Mein Pullover ist unbestritten grün; dein Pullover hat (fast) dieselbe Farbe; also ist doch auch dein Pullover grün (- oder eben, bei abweichender Feststellung, nicht grün, sondern türkis o.ä.)." An dieser "Lernsituation" wird deutlich, daß über die Richtigkeit der Anwendung des Prädikats "grün" im zweiten Fall - im umstrittenen Fall - nicht durch "bloßes Hinsehen" allein entschieden wird, sondern durch den Vergleich mit einem vorher durch "bloßes Hinsehen" als unstrittig festgestellten Vorkommen der Farbe, um die es geht. Die Regeln der Verwendung des Prädikats "grün" und damit die Verifzkationsbedingungen des Satzes "Dies ist grün" sind in beiden Fällen folglich nicht dieselben: Und daß ich die Bedeutung des einen Satzes - des umstrittenen Satzes - verstanden habe, zeige ich eben nicht dadurch, daß ich sage "Guck doch hin, es ist grün", sondern dadurch, daß ich auf einen Vergleich mit einem unstrittigen Fall verweise. Das heißt also, daß wir bei vagen Prädikaten - in unserem Fall zunächst nur: bei Beobachtungsprädikaten- unterscheiden müssen zwischen einer "primären" und einer "sekundären" Verwendungsweise; und nur wenn die eine mit der anderen verwechselt wird, kommt es zum Soritesparadox: Nur, wenn in der zweiten 55 Zum Begriff der Beobachtungsbeziehung ("observational relation") cf. Dummett (1978) 265ff.

118

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

Prämisse des Paradoxes die Verwendungsweise von z.B. "rot" im Sinne des Prädikats als reinem Beobachtungsprädikat angenommen wird, kann das Paradox entstehen. Begreift man dagegen in dieser zweiten Sorites-Prämisse das zweite Vorkommen des Wortes "rot" nicht als Beobachtungsprädikat, sondern als durch eine "Beobachtungsbeziehung" gegenüber einem durch Beobachtung, also durch die primäre Verwendungsregel, bestimmten Prädikat, dann wird das Paradox gestoppt Konkret heißt das: In dem Schritt der zweiten Sorites-Prämisse "Wenn a ein roter Fleck ist und b nicht erkennbar verschieden von a, dann ist auch b ein roter Fleck" unterliegen das Prädikat "rot", das sich auf a bezieht, und das Prädikat, das sich auf b bezieht, nicht derselben Regel der Verwendung, sondern werden im ersten Fall nach der primären, im zweiten Fall nach der sekundären Regel bestimmt, so daß nur das "rot" des ersten Flecks (a), nicht jedoch das des zweiten {b) als reines Beobachtungsprädikat fungiert und das zweite als gegenüber diesem ersten durch die "Beobachtungsbeziehung" festgelegtes. Das bedeutet, daß der Schluß aus den ersten beiden Prämissen "also (nach ausreichend vielen Schritten b,c,d...) ist jeder Farbfleck ein roter Fleck" ein Fehlschluß ist: Denn eine weitere Prämisse "Wenn beinroter Fleck ist und c nicht erkennbar verschieden von b, dann ist auch c ein roter Fleck" ist nicht zulässig, da in ihr das Prädikat "rot" falsch, i.e. in einer anderen als in der vorherigen (der zweiten Sorites-) Prämisse verwendeten Weise benutzt werden würde. Auf diese Weise wird dem Problem der Nichttransitivität der Beziehung "nicht erkennbar verschieden" unmittelbar Rechnung getragen: Es ist Bestandteil der sekundären Verwendungsregel des Prädikats "rot", daß ein Anwendungsfall dieser Regel nicht selbst als Ausgangspunkt für einen weiteren Anwendungsfall derselben Regel fungieren kann, daß also in unserem Fall die Anwendung des Prädikats "rot" auf den Farbfleck b nicht als Bezugspunkt für eine weiter Anwendung des Prädikats für einen weiteren Farbfleck c gelten kann. Ich denke, daß mein Vorschlag gegenüber der Erklärung vager Prädikate bei Platts folgenden Vorzug bietet: Platts hatte zwischen einem "Paradigma-rot" und nicht-paradigmatischen Fällen von "rot" unterschieden, wobei bei ihm unklar geblieben war, wie er den Status des "Paradigma-rot" selbst bestimmen will, da es offensichtlich nicht mehr als Beobachtungsprädikat gelten kann; deshalb konnte auch seine Lösung nicht als eine Lösung der Paradoxie, in die Beobachtungsprädikate führen, verstanden werden. Unterscheidet man jedoch, wie ich es vorgeschlagen habe, zwischen der primären Verwendungsregel von Farbprädikaten, die ihren Status als Beobachtungsprädikate unangetastet läßt, und der sekundären Verwendungsregel, die das Prädikat nicht mehr selbst als Beobachtungsprädikat bestimmt, sondern nur als durch eine Beobachtungsbeziehung gegenüber einem Anwendungsfall der primären Regel bestimmtes, dann wird sowohl das Zustandekommen des Paradoxes erklärt wie auch eine Möglichkeit seiner Vermeidung, und zwar unter Beachtung der Tatsache, daß Farbprädikate als Beobachtungsprädikate verstanden werden müssen. Diese Überlegungen gelten nun in analoger Weise auch für die anderen oben dargestellten vagen Prädikate: So heißt dies etwa für die Oppositionsprädikate wie "klein"-"groß", "lang"-"kurz" etc., die ebenfalls zu Sorites-Paradoxen führen

m. Die Systematizität einer Bedeublngstheorie

119

können, daß man auch hier differenzieren muß zwischen zwei unterschiedlichen Regeln der Verwendung, die beim Erlernen der Verwendungsweise desjeweiligen Begriffs erlernt werden; nämlich zum einen die primäre Regel, die die Bedeutung des Wortes in allden Kontexten bestimmt, in denen unumstritten ist, ob das Prädikat zutrifft oder nicht. Das heißt nicht, daß in diesen Fällen eindeutige Grenzen des Anwendungsbereichs des Prädikats angegeben werden können oder müssen, sondern nur, daß- bei aller Vagheit des Anwendungsbereichesklar ist, welches die Bedeutung des Satzes ist und wie er zu verstehen ist. Zum andern haben wir hier ebenfalls eine "sekundäre" Regel der Sprachverwendung, die für die Fälle relevant ist, in denen die Anwendung des Prädikats umstritten ist: Auch hier muß dann an einem Vergleichsfall, der ein Fall der primären Verwendungsreget sein muß, geprüft werden, ob das Prädikat zutrifft oder nicht56 Auch hier richten sich folglich die Verifikationsbedingungen des Satzes eines "sekundären Falls" nach dem Bezugspunkt des "primären Falls". Diese Differenzierung zwischen primärer und sekundärer Verwendungsregel gilt natürlich ebenso für das klassische Sorites-Beispiel des "Haufens". Ich will jetzt kurz zusammenfassen, was die von mir vorgeschlagene Auflösung der Paradoxie, in die die Vagheit der Sorites-Prädikate führt, generell für die Bedeutung und das Verstehen dieser Klasse vager Prädikate bedeutet und mich dabei mit den möglichen Gegenargumenten auseinandersetzen. Als erstes könnte man einwenden, daß auch mein Vorschlag unter das Verdikt einer petitio principü fällt, da zwar zwischen Fällen differenziert werde, in denen die Anwendung vager Prädikate problemlos möglich ist, und anderen, in denen dies nicht der Fall ist, diese Feststellung allein aber die Paradoxie nur beschreibe und nicht auflöse. Dies ist jedoch nicht der Fall: Wenn Gründe dafür angeführt werden, warum das Paradox entstehen kann und damit auch gezeigt wird, wie es zu vermeiden ist (und zwar ohne eine willkürliche Eliminierung der Vagheit vager Prädikate, z.B. bei Beobachtungsprädikaten), dann heißt das, daß das Paradox gelöst ist - dies zu bezweifeln hieße, überhaupt die Möglichkeit einer Auflösung der Paradoxie anzweifeln zu wollen. Weiterhin bringt die Differenzierung zwischen zwei verschiedenen Regeln der Verwendung eines vagen Prädikats die intrinsische Kontextbezogenheil dieser Prädikate zum Ausdruck: Und zwar nicht nur im Hinblick darauf, daß je nach Kontext unterschieden wird, welcher Regel der Anwendung jeweils gefolgt wird und das heißt, daß je nach Kontext die Veriftkationsbedingungen des Satzes mit einem vagen Ausdruck unterschiedlich sind; sondern auch im Hinblick darauf, daß die Anwendungsflille der primären Verwendungsregel innerhalb eines Kontextes ihre Vagheit behalten und dies auch erklärt werden kann, daß also die Bedeutung von Sätzen mit vagen Ausdrücken verstanden werden kann, ohne daß dies zu Problemen der Anwendung oder der Verstehenstheorie führt. Intrinsisch kontextbezogen sind vage Prädikate schließlich noch im Hinblick darauf, daß die Differenzierung zwischen primärer und sekundärer Verwendungsregel, die für die 56 Allerdings handelt es sich hier nicht notwendig um Beobachtungsbeziehungen wie bei Beobachtungspridikaten, sondern um Beziehungen wie "großer-kleiner", "mehr-weniger" etc.

120

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

Bedeutung und das Verstehen solcher Ausdrücke konstitutiv ist, nur in Bezug auf analog differenzierte Kontexte Sinn hat, die als strittig oderunstrittig erkannt werden müssen. Und schließlich wird mit dieser Analyse vager Ausdrücke die Vagheit selbst nicht eliminiert: Die Offenheit des Anwendungsbereiches, die vage Ausdrücke kennzeichnet. bleibt deshalb erhalten, weil sie Bestandteil der primären Verwendungsregel ist; und sie führt deshalb nicht zu Problemen, weil sie kein Bestandteil der sekundären Verwendungsregel ist und weil beim Erlernen beider Regeln genau dies gelernt wird, daß nämlich in manchen Kontexten die Offenheit des Ausdrucks für seine Bedeutung konstitutiv ist, in anderen jedoch gerade nicht.

(d) Vagheit als generelles Problem natürlicher Sprachen Auch wenn sich also eine Auflösung der Sorites-Paradoxien ergeben hat, die die Bedeutung und das Verstehen der Sorites-Prädik:ate befriedigend erk:lären kann, soll im folgenden dennoch noch einmal grundsätzlich das Problem der Vagheit von Ausdrücken der natürlichen Sprache thematisiert werden, und zwar mit dem Ziel, zu zeigen, daß die Vagheit von Sorites-Prädik:aten zwar ein spezielles, nicht jedoch ein verslehenstheoretisch völlig aus dem Rahmen fallendes Problem darstellt. Ich werde zunächst die Voraussetzungen, die von den von mir diskutierten "Vagheitstheoretikern" mehr oder minder stillschweigend gemacht werden, problematisieren; dann mögliche Strategien beschreiben, um die Problematik der Vagheit in einen anderen, weiteren, Kontext zu rücken, um so zumindest einige der problematischen Voraussetzungen zu vermeiden; und schließlich Konsequenzen ziehen für eine Bedeutungstheorie, die die Vagheit von Ausdrük:ken berücksichtigt, ohne diese zu eliminieren oder selbst widersprüchlich zu werden.

Was an allen diskutierten Lösungsvorschlägen zur Vagheit der Sorites-Prädik:ate deutlich wird, ist. daß sie die Problematik in doppelter Hinsicht isoliert betrachten: nämlich sowohl phänomenal wie bedeutungstheoretisch. Ich will dies kurz ausführen: Das Sorites-Paradox ist ja insofern ein Konstrukt, als es im sogenannten "täglichen Leben" nicht vorkommt; es kommt also nicht vor, daß wir in Situationen gedrängt werden, in denen wir z.B. behaupten müßten, eine ganze Farbskala sei rot, ein Sandkorn bilde einen Haufen oder jede beliebige Zahl sei k:lein. Wohl kommt es vor, daß wir uns über die Anwendung eines vagen Prädikats unklar sind; doch entsteht die Konstruktion des Paradoxes nur dann, wenn man die "normale" (von mir als "primäre" bezeichnete) Regel der Verwendung eines vagen Ausdrucks mit der Forcierung der lnferenzregeln kombiniert, also eine beliebige Wahrnehmungssituation von ihrem Kontext isoliert und dadurch zu falschen Schlußfolgerungen kommt. Diese phänomenale Isolierung der Verwendung eines vagen Ausdrucks muß problematisiert werden, wenn sie als Voraussetzung in einen bedeutungstheoretischen Lösungsversuch der Sorites-Paradoxe eingeht Ich habe dies - die "phänomenale Isolierung" - zunächst

ill. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

121

dadurch zu venneiden gesucht, daß ich nicht nur verschiedene Wahrnehmungs-, sondern auch verschiedene Lernsituationen voneinander unterschieden habe.

Bedeutungstheoretisch isoliert wurde das Problem bei den Vagheilstheoretikern insofern, als die Sorites-Prädikate (und bei ihnen in erster, bei manchen Autoren in ausschließlicher Linie die reinen Beobachwngsprädikate) unabhängig von anderen möglichen vagen Ausdrücken analysiert wurden. Es ist zwar nicht zu bestreiten, daß diese Klasse eine besondere Klasse der Vagheit darstellt, aber das sollte nicht daran hindern, andere Fälle von Vagheit mit in die Überlegungen einzubeziehen, um auf diese Weise eventuelle Ähnlichkeiten im Gebrauch dieser Ausdrücke bei der Klärung der Vagheilsproblematik zu berücksichtigen. Eine weitere Voraussetzung der Vagheilstheoretiker ist die, daß "nonnalerweise" die Anwendungsregeln von Prädikaten und damit die Verifikationsregeln der entsprechenden Sätze klar und unzweideutig fonnuliert werden können, daß also die Sorites-Prädikate eine eindeutige Ausnahme vom ansonsten präzise urneeißbaren Regelsystem der Sprache bilden. Der vorausgesetzte Nonnalfall ist also der eines Satzes, dessen Verifikationsbedingungen genau und vollständig angegeben werden können. Die Gültigkeit dieser Voraussetzungen wird durch den von mir skizzierten Lösungsvorschlag in Frage gestellt; dies soll jedoch durch die folgende Beschreibung anderer Perspektiven auf die Vagheilsproblematik noch weiter ausgeführt werden. Man kann bei dem Versuch, die Problematik der Bedeutung und des Verstehens vager Ausdrücke in einen allgemeineren verstehenstheoretischen Kontext zu stellen, zwei Strategien verfolgen, eine "harte" der gänzlichen Radikalisierung des Problems und eine "weiche" der bloßen Ausweiwng. Ich werde diese beiden Strategien kurz skizzieren: Die "harte" Radikalisierungsstrategie: Man könnte im Prinzip behaupten, daß alle unsere Begriffe vage sind (bis evtl. auf die mathematischen), und zwar nicht nur in einem allgemeinen, metaphorischen Sinn,57 sondern in einem die Verwendungsregeln der Ausdrücke in Frage stellenden Sinn. Dabei sind verschiedene Varianten vorstellbar: Zum einen die, das Sorites-Paradox auf alle Begriffe auszudehnen. Was beispielsweise nennen wir eigentlich einen Tisch? Muß er vier Beine haben? Offenkundig nicht - allerdings scheint mindestens ein Bein konstitutiv zu sein. Aber auch Holzklötze oder Kisten können unter Umständen als Tisch dienen und mit Recht so genannt werden - auch in dieser Beziehung lassen sich also keine eindeutigen Regeln der Verwendung angeben. Dies gilt natürlich in ähnlicher Weise für alle möglichen (empirischen) Begriffe. Eine weitere Variante der Radikalisierungsstrategie kann im Anschluß an Waismanns These der "Porösität" allunserer empirischen Begriffe ("open-texture-concepts") fonnuliert werden: 58 Waismann führt den Tenninus ein, um da-

5? Cf.Waismann (1976) 114ff, der hier einen ganz metaphorischen und schwer zu präzisierenden Begriff von Vagheit vorstellt. 58 Waismann (1968) 41ff.

122

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

mit auf die wesentliche Unvollständigkeit unserer empirischen Beschreibungen hinzuweisen, auf die Tatsache, daß wir ein materielles Objekt nie mit absoluter Präzision beschreiben können, "i.e. in such a way that every nook and cranny is blocked against entry ofdoubt"59 Diese von Waismann postulierte prinzipielle Unvollständigkeit hat zwei Gründe: Auf der einen Seite werden wir nie dazu in der Lage sein, ein materielles Objekt von allen möglichen Gesichtspunkten aus zu betrachten, weil es immer noch ein bisher vernachlässigtes Detail geben kann, das mit in die Beschreibung aufgenommen werden müßte. Waismann macht dies deutlich am Beispiel seiner rechten Hand: "I may state its size, its shape, its colour, its tissue, the chemical compound of its bones, its cells, and perhaps add some more particulars; bot however far I go, I shall never reach a point, where my description will be completed: logically speaking, it is always possible to extend the description by adding some detail or other. Every description stretches, as it were, into a horizon of open possibilities: however far I go, I shall always carry this horizon with me. "60 Auf der anderen Seite aber sind unsere empirischen Begriffe deshalb "porös", weil wir immer damit rechnen müssen, daß sich das Objekt in Zukunft in einer Weise verhält, die seine empirische Beschreibung, wenn diese als vollständige intendiert war, widerlegen würde: "There is always the chance that something unforeseen might occur. That ( ..) may mean two different things: (a) that I should get acquainted with some totally new experience such as, at present, I cannot even imagine; (b) that some new discovery was made that would affect our whole interpretation of certain facts."61 Dafür gibt W aismann wiederum Beispiele, nämlich erstens das einer Katze, die plötzlich anfängt zu reden, und zweitens das eines Stuhls, der unerwarteterweise verschwindet und wieder auftaucht, während wir ihn betrachten (ähnlich wie Wittgensteins Sessel62). Für Waismann haben diese Begründungen für die Porösität unserer empirischen Begriffe die Konsequenz, daß sich Sätze über materielle Objekte niemals vollständig verifizieren lassen. Er selbst bezeichnet dieses Phänomen zwar nur als "Möglichkeit von Vagheit", doch ist die Problematik dieselbe wie die der Vagheit (zumal Waismann hier einen ungewöhnlich restriktiven Vagheitsbegriff

59 Waismann (1968) 42; cf. auch Maleolm (1963). 60 Waismann (1968) 43f; ein Problem bei Waismann ist, daß er nicht ausreichend zwischen logischer und empirischer Unmöglichkeit der Verifikation differenzien. 61 Waismann (1968) 46. 62 Cf. Wittgenstein (1971) 65 (§80).

m. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

123

vertritt63), nämlich anzuzweifeln, daß es eindeutig formulierbare Regeln der Verwendung für Begriffe verschiedener Klassen gibt, so daß die Verifikationsbedingungen der entsprechenden Sätze nicht klar sind. Inwieweit Waismanns Vorstellungen über eine Verifikationistische Bedeutungstheorie richtig und angemessen sind (was bezweifelt werden kann), braucht uns hier nicht zu interessieren, da es in diesem Zusammenhang lediglich um verschiedene Möglichkeiten der Radikalisierung der Vagheitsproblematik gehL Diese erste Strategie verfolgt also in radikaler Weise das Prinzip, daß eigentlich für keinerlei Ausdrücke und Sätze eindeutige Verwendungs- und Verifikationsregeln angehbar sind. Damitläßt sich auf folgenden Punkt hinweisen: Zum einen wird deutlich, daß auch bei der Verwendung scheinbar eindeutig umrissener Ausdrücke - wie etwa das Beispiel des "Tisches" - der Kontext, in dem der Ausdruck gebraucht wird, für die Richtigkeit der Anwendung relevant und für die Verifikation und damit für die Bedeutung des Satzes entscheidend ist. Zum andem heißt dies, daß es offenbar einen "pragmatischen Rahmen" der Regeln von Ausdrücken gibt, innerhalb dessen diese Regeln der Verwendung lax und die Verifikationsbedingungen entsprechend variabel gehalten sind, in dem Sinne, daß es offenbar in den seltensten Fällen möglich - und notwendig! - ist, die Verwendungsregeln von Ausdrücken exakt und kontextfrei zu formulieren. Gegen Waismanns radikale These der prinzipiellen Unmöglichkeit der Verifikation von Sätzen mit empirischen Ausdrücken läßt sich jedoch einwenden, daß er zwei - zumindest heuristisch voneinander zu unterscheidende - Fragen vermischt, nämlich die des bedeutungstheoretischen Problems der Veriflkationsregeln von Sätzen und die nach der Verläßlichkeit unseres Begriffsschemas. Diese beiden Probleme gehören zwar zusammen, sind jedoch getrennt voneinander zu untersuchen: Auch wenn unser Begriffsschema verläßlich wäre, hieße dies noch nicht, daß das bedeutungstheoretische Problem der Verifikationsregeln von Sätzen, wie es an der Frage der Vagheit deutlich wird, gelöst wäre.64 Doch kam es mir hier auch nur darauf an, eine Perspektive aufzuzeigen, mit Hilfe derer das "eigentliche Vagheitsproblem" -nämlich das der Sorites-Prädikate - in einen weiteren verstehenstheoretischen Kontext gerückt wird, um auf Ähnlichkeiten zwischen anerkannt vagen und angeblich präzisen Ausdrücken hinzuweisen. Dies versucht die "weiche" Strategie noch einsichtiger zu machen: Sie ist insofern weniger radikal, als sie nicht eine prinzipielle Radikalisierung der Vagheitsproblematik beabsichtigt, sondern nur versucht, die Problematik vom Bereich der Sorites-Prädikate hin auf andere Ausdrücke auszuweiten und damit eine andere Perspektive in die Frage des Verslehens vager Ausdrücke zu bringen. Ich hatte oben schon, zu Beginn des Exkurses, auf eine andere als die "extensionale" Vagheit der Sorites-Prädikate, i.e. die Vagheit auf Grund nicht eindeutig angeh63 Cf. Waismann (1968) 42; ganz anders dagegen Waismann (1976) 114ff. 64 Umgekehrt gilt dies jedoch nicht: Wenn unser Begriffsschema nicht mehr verläßlich ist, sind Verifikationsregeln, nicht einmal mehr in einem ''vagen" Sinn, nicht mehr formulierbar.

124

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

barer Grenzen des Anwendungsbereiches, hingewiesen, nämlich die "intensionale", die z.B. Wittgensteins "Familienähnlichkeitsbegriffe" betrifft. Diese unterscheidet sich dadurch von der "extensionalen" Vagheit, daß hier im Prinzip alle möglichen Anwendungsfälle eines Begriffs aufzählbar sind - z.B. könnte man im Prinzip alle möglichen Anwendungsfälle des Begriffs "Spiel" auflisten -, sich jedoch keine eindeutige Liste der Eigenschaften, die alle Anwendungsfälle gleichermaßen kennzeichnen würde, darstellen läßt. Das heißt, daß auch hier die Verwendungsregel eines solchen Ausdrucks nicht für jeden möglichen Fall klar und eindeutig angehbar ist und damit die Veriftkationsregel eines entsprechenden Satzes vom Kontext der Verwendung des Ausdrucks abhängig ist und variabel gehalten werden muß. Ein anderes Beispiel für vergleichbare Fälle von Vagheit gibt Waismann in seinem schon oben zitierten Aufsatz,65 nämlich die Zuschreibung von Eigenschaften oder Fähigkeiten, in seinem Beispiel ist es die der "Kenntnis von etwas haben". Auch hier sind, so Waismann, keine exakten Regeln für die Verwendung des Ausdrucks möglich, vielmehr muß je vom Kontext her über die richtigen Bedingungen der Verwendung entschieden werden. Es soll nicht bestritten werden, daß die Sorites-Prädikate - und dabei nicht nur die reinen Beobachtungsprädikate, wie Farbprädikate, sondern auch die anderen von mir nur kurz diskutierten, etwa die Oppositionsprädikate - einen Spezialfall von Vagheit darstellen; es soll auch nicht bestritten werden, daß die Konsequenzen, die die angeführten verschiedenen Beispielklassen von Vagheitjeweils für eine Verslehenstheorie haben, unterschiedlich sind, was etwa darin zum Ausdruck kommt, daß nur die "echten" Sorites-Prädikate einer gesonderten bedeutungstheoretischen Analyse bedürfen. Aber was bestritten werden soll (und was sowohl durch die Lösung des Soritesparadoxes wie auch durch die beiden Radikalisierungsstrategien verdeutlicht wurde), ist, daß die Verwendungsregeln für unsere sprachlichen Ausdrücke im Normalfall präzise, völlig kontextfrei formulierbar und etwa denjenigen für mathematische Ausdrücke vergleichbar sind und die Sorites-Prädikate einen extremen Sonderfall darstellen, der eine- ohne sie mehr oder minder problemlos mögliche - systematische Bedeutungstheorie verunmöglichen würde.66 Was also- und damit komme ich zum Ende dieses Exkurses- hat sich gezeigt? Das Paradox, in das die Sorites-Prädikate führten, konnte erklärt und gelöst werden; damit hat sich die scheinbare Unvereinbarkeit einer bestimmten Klasse von Prädikaten mit unseren Argumentationsformen in der Tat als Schein erwiesen. Der Sinn, den die vagen Prädikate, die zu Sorites-Paradoxen führen können, in unserer Sprache haben, blieb jedoch durch die Art der Auflösung der Paradoxie erhalten: Der Offenheit, die diesen Ausdrücken eignet und die in der Variabilität ihres Anwendungsbereichs zum Ausdruck kommt, wird durch die Unterscheidung von "primärer" und "sekundärer" Verwendungsregel insofern Rechnung getragen, als mit der primären Regel der Verwendung erlernt wird, 65 Waismann (1968) 58f.

66 Was Dommett offenbar meint, wenn er feststellt, daß vage Prädikate unsere Sprache "inkonsistent" machen, cf. Dommett (1978) 268, cf. oben Anm. 45.

ill. Die Systematizität einer Bedeulllngstheorie

125

daß der Anwendungsbereich eines solchen Ausdrucks einen Spielraum hat, während mit der sekundären Regel der Verwendung gelernt wird, wie der Ausdruck in Konfliktfällen zu gebrauchen ist. Daß jedoch auch die "Vagheit" der primären Verwendungsregel, die ja trotz der Differenzierung erhalten bleibt und auf Grund der Differenzierung nicht mehr zu Paradoxien führt, keinen extremen Sonderfall darstellt, war auf dem Hintergrund der "harten" und "weichen" Radikalisierungsstrategien deutlich geworden. Dabei wurde zu zeigen gesucht, daß die Vagheit von Ausdrücken kein isoliertes und kein isotierbares Phänomen ist, daß vielmehr der Normalfall sprachlicher Verwendungsregeln der ist, daß diese Regeln nur mit einer gewissen Offenheit formulierbar sind. Dies wiederum hat Konsequenzen für unser Verständnis des Sprechensund Verstehenseiner Sprache generell: Je weniger präzise sich sprachliche Regeln formulieren lassen, desto mehr wird von der sprechenden und verstehenden Person an eigener konstruktiver und interpretatorischer Leistung beim Sprechen und Verstehen verlangt, i.e. desto mehr Eigenständigkeil bei der Fähigkeit des Polgens einer sprachlichen Regel muß der sprechenden und verstehenden Person zugeschrieben werden. Ich will auf diesen Punkt hier jedoch nur hinweisen und ihn im nächsten Kapitel genauer ausführen.67

4. Eine systematische Bedeutungstheorie im schwachen Sinn Die Ausgangsfrage dieses Kapitels war die danach gewesen, ob eine systematische Bedeutungstheorie notwendig und möglich ist; der Exkurs zum Problem der Vagheit hatte sich deshalb als notwendig erwiesen, weil die Vagheit von Sorites-Prädikaten durch die Möglichkeit der Paradoxien scheinbar eine Gefahr für die Konzeption einer systematischen Bedeutungstheorie darstellte. Diese Gefahr wurde nun jedoch durch die Auflösung der Sorites-Paradoxe aus dem Weg geräumt; deshalb will ich jetzt noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückkommen und kurz zusammenfassen, was sich im Blick auf die Konzeption einer systematischen Bedeutungstheorie in diesem Kapitel ergeben hat. 1. Am Anfang des Kapitels waren drei verschiedene Möglichkeiten der Konzeption einer Bedeutungstheorie unterschieden worden; dabei hatte sich die erste, die schwächste Position, als unplausibel herausgestellt, da sie nicht in der Lage ist, die Bedeutung und das Verstehen von (neuen) Sätzen zu erklären. Mit Dummett ließ sich also zunächst feststellen, daß eine systematische Bedeutungstheorie insofern sinnvoll und notwendig ist, als nur so erklärt werden kann, wie wir mit einem endlichen Grundstock von Worten eine unendliche Anzahl von Sätzen äußern und verstehen können. Für diese erste Ebene der Fragestellung, die die Beziehung der Worte zum Satz betrifft, ist die Notwendigkeit einer systematischen Bedeutungstheorie folglich klar.

67 Dort werde ich auch die Begriffe "konstruktiv" und "interpretatorisch" genauer begründen.

126

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

2. Die Frage, inwieweit sich der Gebrauch von Sätzen in analoger Weise systematisieren läßt, war bei Dummett unklar geblieben: Zwar ist deutlich, daß eine (verifikationistische) analytische Theorie der Bedeutung den Anspruch hat, die Theorie müsse auch die je unterschiedlichen Gebrauchsweisen von Sätzen mittels ihres "zentralen Begriffs" ableiten können, doch ist dieses Programm zu unspezifisch und zu wenig konkret, als daß sich ausmachen ließe, wie eine solche Theorie genauer auszusehen habe. Auch unabhängig davon, ob sich Dommetts Konzeption ausführen ließe, habe ich versucht, sachlich begründete Zweifel an der Machbarkeit und am Sinn einer vollständigen Systematisierung aller möglichen Gebrauchsweisen von Sätzen darzustellen. Das heißt, daß der Sinn einer "starken" systematischen Bedeutungstheorie zumindest in Frage gestellt wurde und bisher nur eine "schwache" Theorie, also eine, die nur bestimmte Bereiche des Sprechens und Verstehens für systematisierbar hält, begründet werden konnte. Plausibler erscheint vielmehr zum einen, daß nur bestimmte grundlegende Sprechakte (wie Behauptungen und Befehle) in einer Theorie systematisch erfaßbar sind, die die Grundlage für die vielfältigen anderen Verwendungsweisen von Sätzen bilden; und zum andern, daß weite Teile des Sprachverhaltens nicht in einem sinnvollen Sinn von "systematisch" tatsächlich systematisch erfaßbar sind, sondern daß das Sprachverhalten auf Fähigkeiten beruht, die zwar beschreibbar sind, jedoch nicht so, daß damit jedes daraus resultierende mögliche Verhalten in einer Theorie systematisch darstellbar wäre. 3. Im Zusammenhang mit dieser Frage habe ich auf grundsätzliche Zweifel an Dommetts Anspruch der vollständigen Systematisierbarkeit des Sprechens und Verstehenseiner Sprache hingewiesen; allerdings ist es bisher bei diesen Hinweisen geblieben, da ich dieser Frage noch im Kontext der Problematik der "Voraussetzungslosigkeit" einer Bedeutungstheorie nachgehen werde. 4. Und schließlich wurde auf der einen Seite gezeigt, daß die Vagheit von Ausdrücken keine Bedrohung für eine systematische Bedeutungstheorie - im starken oder schwachen Sinn - darstellt, und auf der anderen Seite, daß gerade mit Hilfe einer Analyse vager Prädikate das Verständnis des Sprechensund Verstehens einer Sprache insofern grundsätzlich näher geklärt werden kann, als eine solche Analyse zeigt, daß die Kontextabhängigkeit der Bedeutung von Ausdrücken kein isotierbares Phänomen ist, sondern darauf verweist, daß die Regeln der Verwendung sprachlicher Ausdrücke generell nur so formuliert werden können, daß ein gewisser Spielraum, der durch den Kontext der Verwendung spezifiziert werden muß, erhalten bleibt; auch auf diese Frage werde ich im nächsten Kapitel noch zurückkommen. Gegenüber dem vorhergehenden II.Kapitel, das sich mit der Grundstruktur einer Verifikationistischen Bedeutungstheorie beschäftigte, muß hier folglich ein anderes Ergebnis formuliert werden: Die sprachanalytische Theorie, für die Dummetts Ansatz zumindest in vieler Hinsicht als Paradigma gelten kann, muß dort schon in ihrem Ansatz kritisiert werden, wo sie den Anspruch erhebt, mittels ihres theoretischen Instrumentariums dem Sprach- und Verslehensbegriff im Blick auf Personen, die eine natürliche Sprache sprechen, in vollständiger Weise

ill. Die Systematizität einer Bedeutungstheorie

127

gerecht zu werden. Eine veriftkationistische Theorie der Bedeutung kann zwar die Grundlage für eine Erklärung des Sprachverstehens geben, sie kann jedoch eine vollständige Analyse des Verstehensbegriffs natürlicher Sprachen nicht leisten; dies wird im folgenden noch deutlicher werden.

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Verstehens: Kritik der analytischen Bedeutungstheorie In diesem letzten Kapitel, das sich mit der sprachanalytischen Theorie auseinandersetzt, sollen am Problem der Voraussetzungen, die eine Verstehenstheorie haben kann und muß, noch einmal grundsätzlich und zusammenfassend Schwierigkeiten benannt und so weit wie möglich geklärt werden, die sich mit einer sprachanalytischen Theorie des Verstehens, wie Dommett sie entwickelt hat, ergeben und die zum Teil schon in den bisherigen Kapiteln deutlich wurden. Dabei werde ich folgende Thesen zu begründen suchen: 1. Dornmetts Begriff des Verstehens ist zu restriktiv, als daß seine Konzeption tatsächlich seinem Anspruch genügen könnte, eine Theorie des Verstehens zu sein; das heißt, daß Dommett - und mit ihm andere sprachanalytische Bedeutungstheoretiker - durch die Reduktion des Satzverslehens auf das Verstehen der Verifikationsbedingungen des Satzes den anderen für das Verstehen eines Satzes konstitutiven Komponenten nicht gerecht werden kann. 2. Eine Theorie des Verstehens muß mehr Annahmen machen, als Dommett zulassen kann und will; Dommetts Anspruch, eine "voraussetzungslose" Theorie des Verstehens zu entwickeln, muß also fehlschlagen. 3. Dommett- und mit ihm andere sprachanalytische Bedeutungstheoretiker-gehtin seiner Theorie des Verstehens von einer problemlosen "Identität des Verstehens" von sprechenden Personen aus; das heißt, daß er einen zu restriktiven Sprachbegriff voraussetzt und dem konstruktiven und interpretatorischen Charakter des Verstehens in seiner Theorie nicht gerecht werden kann. Will man folglich Dommetts eigenem Anspruch, eine Theorie des Verslehens zu entwickeln, gerecht werden, so sind Ergänzungen und Modifikationen seiner Theorie unabdingbar, und das bedeutet, daß bei der Konzeption einer allgemeinen Theorie des Verstehens in entscheidender Weise über den sprachanalytischen Ansatz hinausgegangen werden muß. Dies wird in den folgenden Kapiteln deutlich werden.

Die genannten Thesen und die Art und Weise, wie sie miteinander zusammenhängen, werden im folgenden zum Teil explizit, zum Teil nur implizit zur Sprache kommen und begründet werden. Dabei werde ich so vorgehen, daß ich zunächst noch einmal kurz auf die wichtigsten Charakteristika von Dommetts Theorie eingehe, um anband dieser Darstellung die von Dommett an eine Theorie gestellten Forderungen zu verdeutlichen und dabei verschiedene Interpretationen der Voraussetzungen, die eine Theorie haben kann oder muß, klarzumachen; im Anschluß daran werde ich diese unterschiedlichen Forderungen, die Dornmett an eine Theorie stellt, der Reihe nach kritisieren. Eine Theorie der Bedeutung muß nach Dommett - wie wir gesehen hatten -

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Ventehens

129

eine Theorie des Verstehens sein: Sie muß zeigen, welches Wissen eine Person hat, die eine Sprache versteht, und worin dieses Wissen besteht. Zwar ist das Verstehen und Sprechen eine praktische Fähigkeit, aber: "this is no objection to its representation as propositional knowledge.(..) Thus what we seek is a theoretical representation of a practical ability." (Dummett (1976) 69) Diese "theoretische Repräsentation" wird Personen, die die Sprache beherrschen, als implizites Wissen zugeschrieben: Wissen, das zwar nicht verbalisierbar sein muß, aber im sprachlichen Verhalten vollständig manifestierbar, nämlich als die praktische Fähigkeit des Sprechens und Verstehens. Dabei muß die Theorie in einem ersten Sinn in folgender Weise voraussetzungslos sein: Sie darf keine semantischen Begriffe als primitiv voraussetzen, so daß die Theorie beim Sprecher immer schon bestimmte Begriffe als verstanden annehmen würde; dies ist der ursprüngliche Sinn von "voraussetzungslos" ("fullblooded"), mit dem Dummett sich gegen eine "bescheidene" ("modest") Bedeutungstheorie wendet Eine systematische Bedeutungstheorie in diesem Sinne ist folglich "a systematic account of the functioning of language which does not beg any questions by presupposing as already understood any semantic concepts, even such familiar ones as those of truth and of assertion." (Dummett (1978) 454) Dummett richtet sich hier- wie oben schon gezeigt wurde- gegen eine wahrheitsfunktionale Semantik im Stile Davidsons, die den Begriff der Wahrheit als primitiv voraussetzt; dabei unterscheide sich eine solche Theorie insofern nicht wesentlich von einem Übersetzungsmanual, als sie die Kenntnis einer Metasprache bei der Erklärung der Objektsprache voraussetzen müsse: "The significant contrast would, however, appear to be not between a theory which (like a translation manual) makes a specific presupposition and one which (like a modest theory of meaning) makes as heavy a presupposition, though less specific; but between theories which (like both of these) rely on extraneous presuppositions and those which (like fullblooded theories of meaning) involve no such presupposition at all." (Dummett (1975) 104) Nun war oben, bei der Diskussion von Dummetts Kritik an diesem Spezifikum der wahrheitsfunktionalen Semantik, deutlich geworden, daß eine Verifikationistische Bedeutungstheorie, wie Dummett sie hier gegen Davidson begründet, in der Tat größere Plausibilität als die wahrheitsfunktionale Theorie besitzt, insofern, als sie keinerlei Kenntnis einer Metasprache voraussetzt und auch noch erldärt, was es heißt, daß ein Satz als wahr oder falsch erkannt werden kann, während die wahrheitsfunktionale Semantik dies mit der bloßen Konstatierung der Wahrheitsbedingungen nicht leistet Allerdings sind, wenn man diesen ersten Sinn von "Voraussetzungslosigkeit"

130

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

als Anspruch an eine Theorie des Verslehens für richtig hält, damit für die weitere Konzeption der Theorie noch verschiedene Wege offen: Eine verifikationistische Semantik gibt die Art und Weise ihrer genaueren Konzeption nicht notwendigerweise vor, sondern kann in verschiedenen Hinsichten unterschiedlich verstanden und konzipiert werden. Dies werde ich im folgenden ausführlicher zu zeigen suchen mittels der kritischen Diskussion der Forderungen, die Dummett an eine Verslehenstheorie stellt und die Voraussetzungen implizieren, die als solche benannt und problematisiert werden müssen. Dabei ist es nicht wichtig, daß Dummett diese anderen Hinsichten, in denen ich seine Theorie so interpretiere, daß sie den Anspruch auf Voraussetzungslosigkeit erhebt, nicht selbst mit diesem Begriff bezeichnet; mir kommt es natürlich auf den sachlichen Punkt, nicht auf den Terminus an. Dummett charakterisiert eine Bedeutungstheorie als implizites Wissen der theoretischen Repräsentation einer praktischen Fähigkeit; dieses implizite Wissen will er jedoch in keiner Weise als "psychologische Hypothese" verstanden wissen. Ich zitiere eine Passage, in der Dummett auf diesen Punkt im Zusammenhang mit seiner Gesamtkonzeption näher eingeht: "A theory of meaning of this kindisnot intended as a psychological hypothesis. Its function is solely to present an analysis of the complex skills which constitutes mastery of a language, to display, in terms of what he may be said to know, just what it isthat someone who possesses that mastery is able to do; it is not concemed to describe any inner psychological mechanisms which may account for his having those abilities. If a Martian could leam to speak a human language, or a robot be devised to behave in just the ways that are essential to a language speaker, an implicit knowledge of the correct theory of meaning for the language could be attributed to the Martian or the robot with as much right as to a human speaker, even though their intemal mechanisms were entirely different." (Dummett (1976) 70) Was Dummett genau damit meint, wenn er sich dagegen wendet, eine Bedeutungstheorie als psychologische Hypothese zuschreiben zu wollen, wird unten noch problematisiert werden; mir kommt es bei dieser kurzen Charakterisierung der Theorie im Moment nur darauf an klarzumachen, welche Forderungen er an die Konzeption einer Bedeutungstheorie stellt nämlich

1. Die Fähigkeit des Sprechensund Verslehens einer Sprache ist prinzipiell vollständig von außen, vom Standpunkt des unbeteiligten Beobachters beschreibbar; das bedeutet auch, daß die Theorie beim Sprecher nichts (keinerlei mentale oder praktische Fähigkeiten) voraussetzen darf als das, was sich direkt vom Verhalten her beobachten läßt. Wäre dem nicht so, so wäre die Forderung, das implizite Wissen müsse vollständig manifestierbar sein, nicht erfüllt. Man kann diese erste Bedingwtg insofern als Variante des Behaviorismus hinsichtlich der mentalen Ausstattung einer Person bezeichnen, als sie postuliert, daß das relevante Sprachvermögen ausschließlich aus der Beobachterperspektive beschreibbar sein müsse.

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Ventehens

131

2. Die Fähigkeit des Sprechens und V erstehens einer Sprache ist vollständig systematisierbar; das bedeutet, daß alle für das Verstehen einer Sprache relevanten Komponenten in der Theorie systematisch erfaßbar sind. Wäre dem nicht so, so wäre die Forderung, die praktische Fähigkeit theoretisch repräsentieren zu können, nicht erfüllt.1

3. Es ist gleichgültig, wem das implizite Wissen einer Bedeutungstheorie zugeschrieben wird: Die Theorie muß so konzipiert sein, daß sie auch Marsmenschen als potentielle Kandidaten dazu in die Lage versetzt, die Sprache zu sprechen und zu verstehen. Auch diese Bedingung läßt sich, euro grano salis, als Variante des Behaviorismus bezeichnen, insofern, als sie hinsichtlich der Sprachgemeinschaft, des Kontextes, der sprechenden und verstehenden Person postuliert, daß das relevante Sprach- und Verslehensvermögen prinzipiell unabhängig von jedem Kontext beschreibbar sein müsse.2 Diese drei Forderungen sind in je verschiedener Form Bedingungen der Voraussetzungslosigkeit der Theorie: Denn durch sie wird gefordert. daß die Theorie

in den genannten Hinsichten keine Annahmen machen darf; der Begriff der "Voraussetzungslosigkeit" ist dabei insofern leicht irreführend, als Dommetts Forderungen zwar solche sind, die eine Verstehenstheorie voraussetzungslos machen sollen, gerade aber die genauere Untersuchung dieser Forderungen zeigt, daß eine Theorie des Verslehens in verschiedenen Hinsichten notwendigerweise Voraussetzungen in Anspruch nehmen muß, die in einer Theorie Dommettscher Prägung keinen Platz und keine Erklärung finden können und die damit zeigen, daß Dommetts Forderung nach Voraussetzungslosigkeit nicht erfüllbar ist. Ich halte also jede dieser drei genannten Bedingungen oder Forderungen an eine Theorie für falsch. Im Zuge der Begründung, warum ich sie für falsch halte - die ich der Reihe nach geben will - werde ich zugleich versuchen, die bisher noch offen gebliebenen Fragen und Probleme zu klären.

1. Kritik der Voraussetzungslosigkeit (1): konstruktive und interpretatorische Fähigkeiten beim Sprachverstehen Die erste Forderung, die Dommett an eine Theorie des Verstehens stellt, war diejenige, nach der eine solche Theorie prinzipiell vollständig "von außen" konstruiert werden müsse; nun muß dieses "von außen" natürlich erst einmal genauer bestimmt werden. Zunächst ist damit gemeint, daß die Theorie, die das Sprachverstehen erklären soll, nicht selbst schon eine spezielle Sprachfähigkeit, auch nicht den Teil einer solchen, voraussetzen darf: In diesem Sinne war auch

1 Cf. z.B. Dummett (1976) 69, letzter Abschnitt der Seite. 2 Man kann der Meinung sein, daß diese drei Forderungen im Grunde nur drei venchiedene Aspekte desselben Problems sind; ich werde darauf in der Diskussion der dritten Forderung mrückkommen.

132

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

oben Dommetts Argumentation gegen die wahrheitsfunktionale Semantik interpretiert und als zutreffend beurteilt worden. In diesem Sinne kann also die Forderung Dommetts als unproblematisch gelten. Zum zweiten ist bei Dommett jedoch mit dieser ersten Bedingung gemeint. daß die Theorie beim Sprecher nichts an mentalen (und anderen) Fähigkeiten voraussetzen darf als das, was sich direkt vom manifestierten linguistischen Verhalten her "ablesen" oder beobachten läßt: Wir waren auf dieses Problem oben schon an mehreren Punkten gestoßen, nämlich einmal bei der Frage des Verslehens der unentscheidbaren Sätze, dann bei der Frage nach dem Status des für das Sprachverstehen notwendigen Wissens und schließlich bei der Frage des Verstehens und Äußems vager Ausdrücke. Bei all diesen Problemen war deutlich geworden, daß Dommett in seiner Forderung dessen, was ein kompetenter Sprecher einer Sprache in seinem Verhalten manifestieren muß, fehlgeht, daß er also behavioral zuviel verlangt und deshalb zu einer falschen Konzeption dessen gelangt, was eine Theorie annehmen kann, wenn sie das Verstehen und Sprechen einer Sprache explizieren will. Im folgenden soll noch einmal von einer anderen Perspektive her dasselbe Problem diskutiert werden, und zwar von einer Perspektive, auf die ich oben schon hingewiesen hatte und die Dommett aus mir nicht ganz erklärlichen Gründen vernachlässigt: nämlich die des Problems des Fotgens einer sprachlichen Rege/.3 Einer der Gründe, warum Dommett mit seinen bedeutungstheoretischen Forderungen so unplausibel weit geht, könnte darin zu sehen sein, daß er dieser Problematik so gut wie keine Beachtung schenkt. Deshalb will ich auf diese Frage hier zumindest insoweit eingehen, als sie dazu beiträgt. Dommetts verstehenstheoretische Voraussetzungen zu kritisieren. Die Diskussion um die Frage, was es heißt, einer sprachlichen Regel zu folgen, wurde von Kripke mit seiner Willgenstein-Interpretation neu entfacht 4 Das von ihm im Anschluß an Willgenstein aufgeworfene "skeptische" Problem betraf die Frage, wie wir uns sicher sein können, immer derselben, und das heißt 3 Hinweise finden sich in Dummen (1976) 127; (1978) 171; der Regelbegriff ist aber offenbar nicht eintmal relevant genug, um in die ansonsten sehr ausführlichen Register (in (1978), (1981) und (1981a)) aufgenommen zu werden. Es ist mir nicht ganz verständlich, warum Dummen diese Problematik ausblendet 4 Cf. zum folgenden Kripke (1982); ich gehe auf die Diskussion des "skeptischen Paradoxes" samt der "skeptischen Lösung" nicht genauer ein, auch nicht auf die Frage, inwieweit Kripkes Interpretation von Wittgenstein angemessen ist. Cf. z.B. Stegmüllers klare Darstellung der Kripkeschen Argumente (allerdings ohne eine kritische Diskussion), Stegmüller (1986); McGinn (1984) und Wright ((1984), cf. dagegen allerdings Wright (1981)) kommen, von anderer Perspektive her als ich, ebenfalls zu dem Ergebnis, das skeptische Dilemma nicht als solches anerkennen zu müssen; McGinn kritisiert Kripkes Skeptizismus mit dem Rekurs auf die Irreduzibilität semantischer Fakten und linguistischer Fähigkeiten. Baker/Hacker (1984b) lehnen Kripkes Interpretation vor allem deshalb ab, weil sie mit der Verbindung von Regelskeptizismus und Privatsprachenargument Willgenstein in keiner Weise gerecht werde und auch unabhängig davon der von Kripke beschriebene Regelskeptizismus völlig unplausibel sei. Cf. auch Seebaß (1985), der an Wittgensteins behavioristischer Regelfolgenanalyse vehement Kritik übt. Ich kann hier nur einigen wenigen Aspekten der komplexen Problematik gerecht werden; dies ist aber in diesem Zusammenhang auch ausreichend, da es mir hier nur um ein mögliches Ergebnis der Debatte geht

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Ventehens

133

letztlich: überhaupt einer Regel zu folgen und damit, wie der Begriff der Bedeutung überhaupt noch gerettet werden kann. Als ein Ergebnis der im Anschluß an die Veröffentlichung von Kripkes Wittgensteinbuch entfachten Auseinandersetzung kann man feststellen, daß man mit Erlclärungsansätzen, die rein behavioral argumentieren, ohne der der Regel folgenden Person selbständige, das korrekte Regelfolgen erklärende mentale Fähigkeiten zuzuschreiben, in ein Dilemma gerät; und daß aus dieser Schwierigkeit weder der als explanatorisch gedachte Verweis auf eine das korrekte Regelfolgen garantierende Sprachgemeinschaft hilft. noch der Rekurs auf eine Praxis, die als solche nicht weiter begründbar ist Kurze Verweise auf die Begründung für diese Position müssen hier genügen: Die Fähigkeit, einer Regel zu folgen, kann nicht allein dadurch erklärt werden, daß wir uns bisher in korrekter Weise an die Regel gehalten haben, sondern verlangt, daß auf eine mentale Fähigkeit rekurriert wird, die eben dieses untadelige Verhalten immer wieder generieren kann. Das heißt also, daß wir einer Person damit zunächst einmal zuschreiben, daß sie dazu in der Lage ist, eine Lernsituation als solche zu begreifen, also z.B. semantisch relevante von semantisch irrelevanten Faktoren zu unterscheiden; weiterhin, daß sie sich erinnern und in dieser Erinnerung (unter normalen Bedingungen) nicht täuschen kann, welche Regel sie gelernt hat und wie dieser weiter zu folgen ist; daß sie in der Lage ist. von den paradigmatischen Lernsituationen aus zu extrapolieren auf alle möglichen weiteren Situationen der Verwendung des Ausdrucks; daß sie aufBefragen hin begründen kann, welcher Regel sie gefolgt ist; daß man also richtige Konditionalsätze der Form "wäre sie in der und der Situation, würde sie sich mit größter Wahrscheinlichkeit so und so äußern", bilden könnte. Geht man von einem Modell aus, nach dem jemand, der die Regel der Verwendung eines Ausdrucks lernt, zwar im Prozess des Lemens angewiesen ist auf das "Training" in einer sprachlichen Gemeinschaft, durch diesen Prozess aber zugleich in die Lage versetzt wird, auf Grund seiner "mentalen Ausstattung" in allen folgenden Fällen dieser und keiner anderen Regel zu folgen und dies auch zu wissen, so läßt sich das skeptische, auf behavioristischen Ansätzen beruhende Dilemma vermeiden. Was bedeutet dies für die Kritik an Dommetts erster verslehenstheoretischer Forderung, daß sich die Theorie nur auf direkt beobachtbares Verhalten stützen darf? Hier wird noch einmal deutlich, was oben in der Kritik an Dummetts Konzeption des impliziten Wissens5 schon gezeigt wurde: daß wir nämlich jemandem, der eine Sprache spricht und versteht, mit diesem Wissen gleichzeitig die mentalen Fähigkeiten zuschreiben, sich auch weiterhin in der gleichen korrekten, also intersubjektiv sanktionierten Weise sprachlich zu verhalten. Dies könnte nun auf der einen Seite als trivial, auf der anderen Seite als zu viel fordernd interpretiert werden: Trivial wäre eine solche Beschreibung für einen Theoretiker, der ohnehin der Überzeugung ist. daß man in einer Theorie des Verstehens mentale Fähigkeiten postulieren muß, denen eine entscheidende explana5 Cf. oben Kap.ll.6; cf. auch meine Kritik an Dummetts Erklärung des Verstehens der "unentscheidbaren Sätze", die in dieselbe Richtung geht.

134

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

torisehe Rolle bei der Erklärung des Sprechensund Verstehens zukommt; als zu viel fordernd würde sie ein Theoretiker kritisieren, der allein von einer behavioralen Basis her eine Theorie der sinnvollen Verwendung sprachlicher Zeichen entwickeln wollte. Beides halte ich für falsch: Trivial ist ein Rekurs auf die explanatorische Rolle des Mentalen dann nicht, wenn man diesen Rekurs gerade als Versuch sieht, über eine behavioristische Interpretation auf Grund ihrer Schwächen mit so wenig Annahmen wie möglich hinauszukommen; und zuviel gefordert wird dabei nur dann, wenn man nicht in der Lage ist zu akzeptieren, daß nicht jeder Verweis auf nicht direkt zugängliche mentale Phänomene mit einem Psychologismus gleichzusetzen ist, der in diesen Phänomenen nichts anderes als "geistige Bilder", die die Bedeutung von Ausdrücken ausmachen, sieht Dommett scheint zu fürchten, daß die Gefahr des falsch verstandenen Psychologismus nicht zu vermeiden ist. wenn Annahmen, die über direkt beobachtbares Verhalten hinausgehen, gemacht werden; deshalb gerät er jedoch mit seiner Konstruktion des impliziten Wissens in Schwierigkeiten. Ich denke, daß sich zeigen läßt, daß man sowohl Dommetts Schwierigkeiten wie die beiden benannten Gefahren vermeidet. wenn man die Problematik der zur Erklärung des Sprachverslehens notwendigen mentalen Voraussetzungen von der Frage des Regelfolgens her in den Blick nimmt. Ein zweiter Aspekt desselben Problems zeigt sich an der Frage des Verstehens von vagen Ausdrücken: Hier kommt es nicht nur darauf an, einer Regel der Verwendung eines Ausdrucks wie etwa der der mathematischen Addition, die präzis definiert ist, zu folgen, sondern darauf, einen Ausdruck richtig zu gebrauchen, dessen Anwendung nicht eindeutig defmierbar ist. dessen korrekte Verwendung also einen gewissen Spielraum läßt; gegenüber dem ersten Aspekt des Regelfolgens befindet man sich hier folglich auf einer zweiten Stufe der Explizierung. Vom Sprecher wird zusätzlich die Fähigkeit verlangt, vom Kontext her zu entscheiden, in welcher Weise der Ausdruck korrekt zu verwenden und wie der entsprechende Satz zu verifizieren ist. Auf Grund der intrinsischen Kontextbezogenheil solcher Ausdrücke wird an dieser Problematik besonders deutlich, daß die Fähigkeit. der Verwendungsregel eines Ausdrucks zu folgen, keine "mechanische" ist, die automatisch bei einem richtigen "stimulus" das entsprechend richtige "response" hervorruft, sondern daß diese Fähigkeit auch darin bestehen muß, eigenständig und individuell abzuwägen und zu entscheiden, in welcher Weise der in Frage stehende Ausdruck in der Situation korrekt zu verwenden ist Ich will dies den konstruktiven Charakter der Fähigkeit des Sprechens nennen: konstruktiv deshalb, weil in einer gegebenen Situation auf der einen Seite von dem her, wie die Regel der Verwendung eines Ausdrucks erlernt wurde, und von der Beschaffenheit der Situation her die "richtige" Anwendung in der Äußerung "konstruiert" werden muß und weil auf der anderen Seite, auf der des Verstehens, ebenfalls von der Kenntnis der Regel - und ihres Spielraums - und dem Erfassen der Äußerungssituation her das Verstehen "konstruiert" und damit die Äußerung in ihrem Kontext "interpretiert" werden muß. Durch den Terminus der Konstruktion soll dabei verdeutlicht werden, daß diese Fähigkeit zwar natürlich eine ist, die mit dem Erlernen der Verwendungsregel eines Ausdrucks ebenfalls er-

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Ventehens

135

lernt wird, es jedoch mehr bedarf als nur des mechanischen Reproduzierens, wenn es um das korrekte Folgen der Regel eines vagen Ausdrucks geht. Wiederum soll mit einer solchen Interpretation des Regelfotgens nicht einem Psychologismus das Wort geredet werde, der in nur introspektiv zugänglichen mentalen Entitäten die Erklärung dafür finden will, warum wir in der Lage sind, (vage) Ausdrücke zu verwenden und zu verstehen, sondern nur darauf verweisen, daß man, um das sprachliche Verhalten bei der Verwendung vager Tennini erklären zu können, mentale Fähigkeiten postulieren muß, die eine explanatorische Rolle in einer Theorie des Verslehens spielen und die nicht auf das jeweils bisher manifestierte Verbalten reduziert werden können. Diesem konstruktiven Charakter der Fähigkeit des Sprechens korreliert der interpretatorische Charakter des Verstehens: Denn wenn ein Ausdruck, von einer Person in einem Satz geäußert, einen Anwendungsspielraum hat, der je unterschiedlich genutzt werden kann, dann ist damit auf der anderen Seite notwendigerweise eine interpretatorische Leiswog der verstehenden Person verbunden, die in diesem Anwendungsspielraum der Ausdrücke im Kontext der Äußerung die Bedeub.lng der Ausdrücke zu verstehen sucht.6 Damit komme ich zu einem zentralen Punkt der Theorie Dommetts (und anderer sprachanalytischer Ansätze): Dommett geht von einem Modell des Sprachverstehens aus, in dem angenommen wird, daß das V erstehen eines Satzes, der von einer anderen Person geäußert wird, darin besteht, die Verifikationsregel des Satzes zu kennen und zu wissen, mit welcher "Kraft" er geäußert wurde. Mißverständnisse in der Kommunikation können folglich allein darauf beruhen, daß unklar ist, was die Bedeuwng einzelner Worte im Hinblick auf die Verifikationsbedingungen des Satzes ist, oder daß unklar ist, was für einen Sprechakt der Satz darstellt (oder natürlich darauf, daß der Satz akustisch nicht verstanden wurde). Das heißt, daß Dommett prinzipiell von einer problemlosen Identität des Wortgebrauchs von sprechender und verstehender Person ausgeht: Das, was an einem Satz zu verstehen ist. reduziert sich zum einen auf seine Verifikationsbedingungen. die natürlich- sonst hätte der Begriff der Verifikation keinen Sinn - objektiv, und das heißt intersubjektiv identisch sind, und zum andern auf die in der "Krafttheorie" systematisierten Sprechakttypen. Dies zeigt sich auch an einer, wie ich denke, falschen Parallelisierung, die Dommett häufig vornimmt, nämlich der zwischen dem Sprechen einer Sprache und dem Schachspiel: Das Folgen sprachlicher Regeln kann gerade nicht mit dem Folgen von Spielregeln wie etwa Schachregeln verglichen werden, da Schachzüge, wie McDowell schreibt, "keinen Inhalt haben"7 und deshalb auch nicht mißverstanden werden können- Schachzüge könnenfalsch sein, aber man kann mit ihnen nicht dieses oder jenes zum Ausdruck bringen, was man mit einem und demselben Satz sehr wohl kann; Schachzüge können deshalb auch nur in einem sehr beschränkten Sinn von "Interpretation" interpretiert werden (etwa bezogen auf ihre Funktion 6 Diese interpretatorische Leistung hat unterschiedliche Komponenten; ich gehe hier nur auf eine dieser Komponenten ein und werde auf die anderen später zu sprechen kommen. 1 Cf. McDowell (1987) 78.

136

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

innerhalb des ganzen Spiels). Für Mißverständnisse, die auf Grund des konstruktiven und interpretatorischen Charakters des Sprachverslehens entstehen können, bietet Dommetts Konzeption des Verstehens keinen Platz und seine Theorie kann diese Mißverstehensmöglichkeiten nicht erklären.8 Nun hat das Problem des Regelfotgens jedoch noch einen dritten Aspekt Die sprachliche Kompetenz beschränkt sich nicht nur darauf, den erlernten Regeln in der bisher skizzierten Weise- folgen zu können, sondern sie besteht zugleich auch immer darin, die Regeln verändern und Regeln als veränderte und sich ändernde verstehen zu können.9 Beschriebe man die Fähigkeit des Sprechens und Verstehens, die linguistische Kompetenz, analog zu einem Computerprogramm, das unter idealen Bedingungen auch genau den "out-put" generiert, der als "direkte Widerspiegelung" (Schnädelbach) seiner "Kompetenz" gelten kann, so könnte man damit die Komponenten des sprachlichen Verhaltens, die gerade die Offenheit sprachlicher Verständigung ausmachen, nicht erfassen. Mit dieser "Offenheit" ist zum einen gemeint, daß Personen, obgleich sie eine gemeinsame Sprache sprechen, auf Grund des Anwendungsspielrawns sprachlicher Ausdrücke immer auch gezwungen sind- oder doch zumindest die Möglichkeit haben-. sich über die Art ihrer Verständigung, und damit über die sprachlichen Regeln, denen sie folgen, selbst zu verständigen. Und das heißt auf der anderen Seite, daß die Personen, die eine gemeinsame Sprache sprechen, über die sprachlichen Regeln, denen sie folgen, zugleich auch immer selbst verfügen. Wäre dies nicht so, dann wäre nicht nur das sprachliche Faktum, daß Regeln sich ändern, sondern auch das Folgen sprachlicher Regeln generell nur als "blinder Naturvorgang", 10 nicht jedoch als intentionales Phänomen erklärbar. Die Fähigkeit, einer sprachlichen Regel zu folgen, hat also auch immer reflexiven Charakter: Durch ihn wird explizierbar, daß sprachliche Regeln selbst sich ändern und von den sprechenden Personen als solche begriffen werden können. Diese Kritik an Dommetts erster Forderung, die anband dreier Aspekte des Problems des Fotgens sprachlicher Regeln expliziert wurde, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Zum einen wurde gezeigt, daß wir ohnehin immer mehr an mentalen Fähigkeiten beim Sprachverstehen zuschreiben müssen, als Dommett meint, rein von der behavioralen Basis her beschreiben und verantworten zu können. Dies müssen wir tun, um überhaupt erklären zu können, wie eine Person lernen kann, einer sprachlichen Regel folgen und Ausdrücke in unendlich vielen neuen Situationen richtig verwenden zu können. Und das heißt auch, daß man, um das sprachliche Verhalten erklären zu können, auf mentale 8 Dies ist einer der Punkte, nach denen in der Diskussion der hermeneutischen Theorie des Verslehens zu fragen sein wird. Auf die Kritik an Dommetts Konzeption der "theory of force" werde ich in der Diskussion der zweiten der drei oben genannten Forderungen ausführlich eingehen. 9 Cf. zum folgenden z.B. Schnädelbach (1982) 358ff, der diesen Aspekt des Regelfotgens allerdings unter einem anderen Gesichtspunkt thematisien, nämlich dem der Rationalität kommunikativer Kompetenz, die sich in der Fähigkeit "metakommunikativer", die Kommunikation selbst problematisierender Sprachformen zum Ausdruck bringt; cf. auch Apel (1973b) 293ff. 10 Schnädelbach (1982) 359.

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Verslehens

137

Fähigkeiten rekurrieren muß, die das sprachliche Verhalten ermöglichen, aber nicht mit ihm identisch und nicht auf behaviorale Daten reduzierbar sind. Zum zweiten wurde versucht deutlich zu machen, daß Dommett mit seinem verslehenstheoretischem Modell den spezifischen Charakter des Sprachverstehens, der sich in der Differenz des Wortgebrauchs zeigt und der seitens der sprechenden und der verstehenden Person konstruktive und interpretatorische Fähigkeiten verlangt, nicht berücksichtigen kann. Und drittens kam es mir darauf an zu zeigen, daß man, um die Fähigkeit zu erklären, Regeln ändern und Regeln als veränderte verstehen zu können, ein Maß an reflexiver Sprachkompetenz zuschreiben muß, das mit den Mitteln, mit denen Dommett sprachliches Verhalten erklären wiU, nicht erfaßt wird. Die gegen den behavioristischen Ansatz postulierten mentalen Fähigkeiten lassen sich also als interpretatorische und konstruktive Fähigkeiten konkretisieren: Mit dieser Kritik am Versuch der (vollständigen) Formalisierbarkeit sprachlichen Regelfolgens, der am behavioristischen Modell mechanischen Regelfotgens orientiert ist, kommt ein Moment des "Unberechenbaren", da Nicht-Formalisierbaren in die Semantik, das die Möglichkeit der vollständigen Abbildung des Sprachverslehens in einer systematischen Theorie des Verstehens in Frage stellt. Nun stellt Dommett zwar unbestreitbar einen auch in der sprachanalytischen Verstehens-und Bedeutungstheorie, aufgrundseines Anspruchs auf Voraussetzungslosigkeit lfullbloodedness), extremen Fall dar; dennoch kann diese Kritik im Blick auch auf den veriflkationistischen Ansatz generell geübt werden. Ich werde im zweiten Teil der Arbeit auf diese Probleme noch zurückkommen.

2. Kritik der Voraussetzungslosigkeit (2): Hintergrundannahmen und Kontextabhängigkeit Ich komme nun zur Kritik an der zweiten der oben genannten Forderungen, die Dommett an eine Theorie des Verstehens stellt: nämlich der, daß die Fähigkeit des Sprechensund Verslehens einer Sprache prinzipiell vollständig systematisierbar sein muß. Daß Dommett als Ziel eine solche Theorie des Verstehens vor Augen hat, macht er an verschiedenen Stellen deutlich, etwa in "What is a Theory of Meaning? (II)": Dort skizziert er zunächst noch einmal die Sinn- und Referenztheorie, um dann festzustellen, daß es mit diesem "Wissen von Bedeutungen" nicht getan ist: "Now a very extensive body of theory is required to carry us from a knowledge of the meanings of sentences of the language ( ..) to an understanding of the actual practice of speaking the language." (Dummett (1976) 129) Um zu demonstrieren, wie "extensive" diese Theorie sein muß, bringt Dommett wiederum ein Marsmenschenbeispiel: Stellen wir uns vor, die Sprache der

13 8

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verstehens

Marsmenschen sei derart verschieden von unserer, daß eine Übersetzung de facto ausgeschlossen ist. Stellen wir uns weiterhin vor, sie beherrschten vollständig den von Dummen konstruierten Sinn- und Referenzteil einer Bedeutungstheorie; dann wären sie jedoch, so Dummett, noch lange nicht dazu in der Lage, tatsächlich an der menschlichen Kommunikation zu partizipieren, geschweige denn so, daß sie nicht sofort als Marsmenschen auffielen: "The Martian frrst masters the theories of reference and of sense for some one of our languages; but, since bis ultimate objective is to visit Earth as an alien spy, disguised as a human being, he needs to acquire a practical ability to speak: the language, not just a theoretical understandlog of it; he needs to know, not only what he may say, and when, without betraying bis alien origin, but also, within these constraints, how he can use the language as an instrument to further bis own ends of gaining knowledge and of influencing the actions of the human beings around him. Obviously, having mastered the theories of reference and of sense, he has a great deal more to leam; he has to be provided with an explicit description of our linguistic practice, in terms of our utterances of sentences whose meanings (conceived of as given in terms, e.g., of their truth-conditions) are taken as already known, and to our responses to such utterances on the part of others." (Dummen (1976) 1290

All diese notwendigen zusätzlichen Informationen, die der Marsmensch braucht, um sich sprachlich auf der Erde zurechtzufinden, werden bei Dummen in der "Kraft-Theorie" zusammengefaßt; sie besteht aus "general principles governing the unerance of sentences of the language, those principles a tacit grasp of which enables someone to take part in converse in that language." (Dummett (1976) 131) Dummett setzt hier - das wurde auch in der gerade skizzierten Darstellung seiner Theorie noch einmal deutlich - voraus, daß es sowohl nötig wie auch möglich ist, sämtliche für das Verstehen und Sprechen einer Sprache relevanten Aspekte unter Regeln bringen und damit systematisieren zu können. Dies muß er fordern, wenn das Beispiel mit den Marsmenschen einen Sinn haben soll; er muß es auch deshalb fordern, weil, wie oben an verschiedenen Stellen expliziert wurde, eine Bedeutungstheorie die theoretische Repräsentation der praktischen Fähigkeit des Sprechens und Verstehens sein soll. Dieser Punkt ist natürlich keine theoretische Marotte von Dummen: Eine veriftkationistische ebenso wie eine wahrheitsfunktionale Theorie der Bedeutung müssen, wenn sie den Anspruch erheben, eine Theorie des Verstehensausschließlich auf den Wahrheitsbegriff zu gründen, zu dieser Annahme der vollständigen Systematisierbarkeit kommen. Jede Theorie, die in dem Sinn "totalitär" ist, daß sie mittels eines Begriffs die Bedeutung von Sätzen und damit das Sprachverstehen (erschöpfend) bestimmen will, muß, auf welchem Weg auch immer, zu einem ähnlichen Ergebnis wie dem der Dommettsehen "Marsmenschen" -Zuschreibung kommen.11 11 Hier ist eine etwas ausführlichere Anmerkung notwendig: In seiner Antwort auf McDowell

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Verslehens

139

Nun ist diese Forderung an eine Bedeutungstheorie m.E. in mehrfacher Hinsicht falsch. Es ist fraglich, wie sich Dommett die "vollständige Repräsentation" der für das Sprechen und Verstehen notwendigen Fähigkeiten vorstellt; darüber sagt er meines Wissens an keiner Stelle genaueres. Ich denke, daß sein Vorhaben aus verschiedenen Gründen gar nicht möglich ist Dabei werde ich zunächst auf formal-logische Schwierigkeiten der Theoriekonstruktion eingehen und anschließend auf solche der materialen Bestimmung. a) Unter theoretischer Repräsentation einer praktischen Fähigkeit in Dommetts Sinn haben wir eine "Repräsentation als propositionales Wissen" zu verstehen: Es handelt sich hier also um Sätze, die als Regeln der "Kraft-Theorie" das beschreiben, was mit Sätzen generell zu tun ist und was man alles wissen muß, um Sätze generell - nicht die Sätze der Theorie - zu gebrauchen und zu verstehen. Hier ergibt sich zunächst ein wichtiges Nebenproblem: Denn in den Passagen, in denen Dommett sich zum Aufbau seiner Theorie äußert,12 postuliert er, daß man die Bedeutung eines Satzes vollständig erst dann erfaßt hat, wenn man nicht nur den Sinn- und Referenzteil kennt, sondern wenn mittels der "Theorie der Kraft" die konventionelle Bedeutung ("conventional significance") des Satzes bestimmt, abgeleitet ("derive") ist. Wenn wir dies auf unser gegenwärtiges Problem übertragen, ergibt sich klarerweise ein Regress: Die angenommenen Marsmenschen sollen ja gerade mit den Prinzipien, den Regeln der Krafttheorie dazu in die Lage versetzt werden, das "partielle" Wissen der Bedeutung

in (1987) macht Dummen verschiedene Bemerkungen, die weiteren Aufschluß über dieses Problem bringen können, die jedoch, wie ich meine, zueinander in Spannung stehen. Zum einen wird die Interpretation, daß Dummen die vollständige Systematisierbarlceit des Sprachverslehens voraussetzt, noch einmal unterstützt durch Passagen wie die folgende: "In my opinion (..) the words and Sentences of a language mean what they do in virtue of their role in the enormously comp/ex socilll practice in which the employment of the language ca:uists; it is the task of a theory of meaning, as I see it, to give a systematic account ofthat practice, and so to explain in virtue of what words and sentences mean what they mean, or, morc exactly, in what their having those meanings consists." ((1987) 259) (Hervorhebungen B.R.) Auf der anderen Seite scheint er jedoch McDowell, der in etwa den gleichen Punkt wie ich kritisiert, Recht zu geben, wenn er schreibt, daß man natürlich bei einer Bedeutungstheorie bestimmte Annahmen über Rationalität, Intentionalität und allgemeines Kommunikationsverhalten voraussetzen müsse, um auf diesem Hintergrund eine Bedeutungstheorie konzipieren zu können (cf. (1987) 260f). Ich werde auf diese Spannung noch in der Diskussion der dritten Dummetuchen Forderung zu sprechen kommen; um jedoch den Vorwurf zurückzuweisen, Dummen zu sehr beim Wort genommen zu haben und ihm Forderungen zu unterstellen, die er selbst so gar nicht erboben hat, verweise ich nicht nur auf die Passagen, die explizit - vor allem an Beispielen mit den "Marsmenschen" -diese Forderungen zum Ausdruck bringen (cf. auch (1981) 295ff), sondern auch darauf, daß diese Beispiele ernst genommen werden müssen, da Dummen mit ihnen eine generelle Aussage über den Begriff der Bedeutung und damit über die Konzeption einer Bedeutungstheorie machen will, selbst wenn diese so gar nicht konstruiert werden soll: "No one is actually going to construct a theory of meaning for a natura11anguage; the questions we must ask, as philosophers of 1anguage, concem how such a theory is to be constructed. The point of asking these questions is to provide a sophisticated answer to the query, "What is meaning'?"." (Dummett (1987) 254f) 12 Cf. z.B. (1976) 127ff.

140

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

von Sätzen, das ihnen der Sinn- und Referenzteil an die Hand geliefert hat. zu vervollständigen; dazu müssen sie jedoch die Sätze, aus denen der Kraftteil der Theorie besteht. schon verstanden haben - und zwar ganz, d.h. auch ihre konventionelle Bedeutung, da sie anders gar nicht wüßten, was der Gebrauch und die Funktion dieser Sätze sein sollte. Es wird folglich vorausgesetzt, was eigentlich erst erklärt werden sollte: das Verstehen dessen, was man mit Sätzen tun kann. Schon hier also würde Dommetts Theorie-Aufbau scheitern; denn auch der Ausweg, zwischen Theorie- und Objektsprache zu differenzieren, ist ihm versperrt, da dies seinem Anspruch- gegen Davidson -,eine "voraussetzungslose" Bedeutungstheorie zu konstruieren, zuwiderlaufen würde. Eine in unserem Zusammenhang entscheidende weitere formale Schwierigkeit ergibt sich, wenn wir genauer betrachten, was unter der "vollständigen Repräsentation" zu verstehen ist: Alles für die praktische Fähigkeit des Sprechens notwendige Wissen soll in propositionalem Wissen darstellbar sein. Wenn wir hierbei Dummetts Marsmenschenbeispiel ernst nehmen und davon ausgehen, daß die Marswelt von unserer Welt und das Marsleben von unserem Leben grundlegend verschieden sind, was Dummett dadurch impliziert, daß er annimmt, ihre Sprache sei nicht in die unsrige übersetzbar, so geraten wir in große Schwierigkeiten; schon ein schlichter Satz wie "Gib mir bitte mal den Aschenbecher" hätte, wollte man sämtliche für sein Verstehen notwendigen "Zusatzinformationen" (Dummetts Ausdruck!) benennen und aufzählen, eine indefmite Liste zur Folge: ein Wissen, daß Aschenbecher feste Objekte sind; daß diese sich transportieren lassen; daß Objekte allgemein sich bei Berührung nicht in Luft auflösen; daß Zigarettenasche außerhalb des Aschenbechers nicht wünschenswert ist; daß brennende Dinge im allgemeinen Asche hervorbringen; daß der Satz eine höfliche Aufforderung darstellt, der man Folge leisten sollte; etc.13 Für alle diese Sätze wäre wiederum eine solche Liste vorausgesetzten Wissens notwendig, da auch diese Sätze ihrerseits bestimmte Verslehensbedingungen und -Voraussetzungen haben. Auf der einen Seite ist man folglich mit dem Problem konfrontiert, daß allein für das Verstehen eines relativ unkomplizierten Satzes sich schon eine indefinite Liste notwendiger Verslehensvoraussetzungen zusammenstellen ließe; und auf der anderen Seite würde eine solche Liste, selbst wenn sie abschließbar wäre, in einen infiniten Regreß führen. Die Idee also, alles für das Verstehen eines Satzes notwendige Wissen (als praktisches Wissen) ließe sich in propositionalem Wissen darstellen, ist formal gar nicht durchführbar. Dieser Einwand mag zwar recht harmlos klingen, bildet jedoch für Dummetts Theorie eine unüberwindbare Schwierigkeit: Denn diese steht und fällt mit der Forderung, eine vollständig systematisierbare Theorie müsse möglich sein. 13 Bei Dommett fällt unter die in einer "theory of force" zusammengefaßten "additional informations" streng genommen wohl nur der letzte Punkt in dieser Liste (allerdings sagt er selbst dazu nichts Genaueres - man kann dies nur erschliessen); er müßte aber auch die anderen Punkte mit berüclcsichtigen, wenn sein Marsmenschen-Beispiel Sinn haben soll.

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Verslehens

141

Doch betrachten wir zunächst noch die anderen Gründe, die gegen Dommetts zweite Forderung sprechen: b) Wenn das Aschenbecher-Beispiel nicht unter dem Gesichtspunkt der formalen Regreßgefahr gesehen wird, sondern unter dem der pragmatischen Möglichkeit, sämtliche nötigen materialen Voraussetzungen für ein Verstehen des Satzes zu benennen, und zwar in dem Sinne, daß sie "theoretisch gewußt" werden (wenn auch von uns nur implizit- die Marsmenschen brauchen eine explizite Artikulation!), so ist leicht zu sehen, daß dies praktisch unmöglich ist. Von dem Aschenbecher-Beispiel allein mag man vielleicht noch nicht übel7eugt werden; nehmen wir deshalb ein anderes Beispiel: "Die Grünen werden mit großer Wahrscheinlichkeit bald in allen Landesparlamenten vertreten sein." Der "Hintergrund", um einen Terminus von Searle aufzunehmen, 14 der nötig ist, um einen solchen Satz zu verstehen, ist derart komplex, daß er in keinem sinnvollen Sinn von "möglich" möglicherweise artikulierbar wäre: Denn es wird dabei nicht nur ein "Wissen" vorausgesetzt, wer die Grünen sind und was ein Landesparlament ist, i.e. nicht nur die Standardregeln der Verwendung der Ausdrücke, die den Satz konstituieren und die uns mit dem Hintergrund, den wir haben, dazu in die Lage versetzen, die Verifikationsbedingungen für den Satz anzugeben; sondern es wird auch vorausgesetzt, daß man "weiß", daß man mit bestimmten Wahrscheinlichkeilen Wahlprognosen machen kann; daß wir in einer föderativ verfaßten parlamentarischen Demokratie leben; daß in einer solchen in bestimmten Abständen gewählt wird; daß dafür ein Parteiensystem nötig ist; und so weiter- diese Liste ist, wenn auch nicht stricte dictu beliebig lang, so doch indefinit fortsetzbar. Ich will noch an einem anderen Beispiel zeigen, worauf es hier ankommt: "Eine absolute Sonnenfmsternis wird sich bei uns erst in 7 Jahren wieder ereignen." Zum Hintergrund wäre hier zu rechnen, daß Sonne, Erde und Mond Himmelskörper sind; daß diese in bestimmte Konstellationen zueinander treten können; daß man mit entsprechenden astronomischen Theorien Vorhersagen über ihre Bewegungen machen kann; etc. Natürlich ist es nicht nötig, daß man exakt angeben kann, was eine Sonnenfinsternis ist und warum sie auftritt - Expertenwissen ist für das Standardverstehen eines solchen Satzes nicht notwendig. Eine solche Differenzierung zwischen "Normalverstehen" und "Expertenverstehen", die wir bei einer Unmenge von Ausdrücken und Sätzen implizit immer vornehmen- und die Putnam "division of linguistic labour" genannt hat 15 -,muß zusätzlich auf dem Hintergrund, der für jedes Verstehen eines Satzes notwendig ist, gemacht werden und tangiert den Hintergrund nur insofern, als dadurch deutlich wird, daß dieses Hintergrundwissen in gewissen Grenzen variabel ist. Diese Beispiele weisen auf zweierlei hin: Zum einen, daß bei jedem Verstehen 14 Cf. zum folgenden Searle (1983) ch.5 und Searle (1982) 139ff; Searle zieht jedoch aus seinen Überlegungen, wie ich finde, keine angemessenen Konsequenzen. Cf. generell zum Problem des praktischen Holismus: Dreyfus (1980); Taylor (1980) und Rorty (1980) und die Diskussion zwischen Rorty, Taylor und Dreyfuss ebenfalls in (1980); cf. auch Taylor (1982). 15 Putnam (1979) 227ff.

142

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Verslehens

von Sätzen ein nichtartikulierbarer Hintergrund angenommen werden muß, und zum zweiten, daß diese Hintergrundannahmen offenbar genuin mit den Gewohnheiten und Wissensstandards einer jeweiligen Sprachgemeinschaft verbunden sind. Zum Charakter dieses "Hintergrunds" werde ich gleich noch einiges sagen, zunächst nur dies: Unter "nicht artikulierbarem Hintergrund" ist erst einmal nicht mehr zu verstehen als habitualisierte Annahmen, die wir nach und nach erlernt haben und die uns als solche nicht mehr bewußt und so komplex sind, daß sie in toto nicht mehr artikuliert werden können. Dazu rechne ich einerseits historisch kontingentesWissen (wie etwa Wissen über Wahlen oder über die Funktion von Aschenbechern) und andererseits nicht historisch sich änderndes "Wissen" wie etwa, daß Objekte Druck standhalten, sich nicht von selbst in Luft auflösen, in bestimmter Weise funktionalisierbar sind etc. Die Grenze zwischen beidem istjedoch fließend.l6 Bevor ich noch weitere Argumente anführe, die gegen die Richtigkeit der zweiten Forderung Dommetts an eine Theorie des Verstehens sprechen, will ich kurz die bisher genannten Unterscheidungen festhalten:

1. Die Unterscheidung zwischen theoretischem Wissen, praktischem Wissen und Hintergrundwissen, oder besser: Hintergrundannalunen: Letztere unterscheiden sich vom praktischen "Wissen wie" dadurch, daß sie keine praktische Fähigkeit sind, sondern zu den Voraussetzungen der praktischen Fähigkeit des Sprechens gehören. Diese Hintergrundannahmen sind jedoch nicht einfach mit dem theoretischen Wissen zu identifizieren; denn sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht artikuliert und auf Grund ihrer Komplexität auch nicht artikulierbar sind, wenn sie auch - dies zeigte sich bei der Benennung zumindest einiger der relevanten Annahmen - natürlich propositionale Struktur haben und also im Prinzip auf eine solche reduzierbar sind 2. Die Unterscheidung zwischen den Hintergrundannahmen und dem Kennen der Bedeutung eines Ausdrucks: Denn natürlich ist es vorstellbar, daß für verschiedene Personen auf einer gemeinsamen Basis von Hintergrundannahmen jeweils einzelne - unterschiedliche - Ausdrücke unbekannt sind. 3. Die Unterscheidung zwischen dem mehr oder weniger kompetenten Kennen der Bedeutung eines Ausdrucks (Putnams "division of linguistic labour"). Bisher wurde mit dem Aufweis der Notwendigkeit von Hintergundannahmen bei der Erklärung des Sprachverslehens ein erstes Argument gegen Dommetts Forderung nach vollständiger Systematizität angeführt; ein weiteres Argument, das es zumindest äußerst fraglich erscheinen läßt, daß sämtliche für das Verstehen von Sätzen relevanten Bedeutungskomponenten vollständig systematisierbar sein sollen, läßt sich ableiten aus dem Nachweis, daß in der Bedeutung eines Ausdrucks unterschiedliche Komponenten analysiert werden können, die unabhängig von der Veriftkation des Satzes seine Bedeutung mit bestimmen und 16 Es liegt also eine Differenz vor hinsichtlich dieses "Wissens" zwischen verschiedenen Sprechern einer Sprachgemeinschaft (Putnams "division of linguistic labour") und zwischen verschiedenen Sprachgemeinschaften, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten.

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Ventehens

143

verstanden werden müssen, wenn der Satz vollständig verstanden werden soll. Die unterschiedlichen Bedeutungskomponenten zeigen sich in der Kontextbestimmtheit und -abhängigkeit der Bedeutung von Ausdrücken: und zwar sind es zum einen solche, die intersubjektiv identisch sind, aber von der Äußerungssituation her differieren können und von diesem Kontext her jeweils die Bedeutung des Satzes determinieren, zum andern solche, die sich auf die sprechende und verstehende Person beziehen und insofern von Person zu Person differieren können. Sie zeigen, systematisch gesehen, daß die Bedeutung eines Satzes durch die konkrete Situation seiner Äußerung (pragmatische Bedeutungskomponente und Färbung), durch die (gemeinsame) Geschichte der sprechenden Personen (historische) und die individuelle Perspektive einer Person selbst (subjektive Komponente) bestimmt wird. Die erste dieser kontextabhängigen Bedeutungskomponenten betrifft das Problem der Exklusion unterschiedlicher Gebrauchsweisen eines Ausdrucks; man kann sie pragmatische Bedeutungskomponente nennen und folgendermaßen erläutern (ich orientiere mich hier an einem Beispiel Searles17): In jedem der folgenden Beispielsätze a) Jemand öffnete die Tür. b) Sie öffnete die Augen. c) Er öffnete das Buch. d) Die Ärztin öffnete die Wunde. hat offenkundig das Wort "öffnen" dieselbe wörtliche Bedeutung; wollte man dies verneinen, so hieße dies, daß das Wort in problematischer Weise mehrdeutig wäre. Doch ebenso offenkundig verstehen wir das Wort in jedem dieser Sätze auf unterschiedliche Weise, was sich etwa daran zeigt, daß wir, wären die Sätze in imperativischer Form geäußert. diesen Aufforderungen in jeweils unterschiedlicher Art Folge leisten würden (man würde das Buch nicht mit dem Skalpell öffnen). Mit Hilfe dieses Beispiels können zwei Punkte verdeutlicht werden: Erstens der, daß es für zahlreiche Ausdrücke der natürlichen Sprache nicht gelingen dürfte, die Bedeutung des Ausdrucks völlig kontextfrei zu bestimmen, so daß nicht noch durch die aktuelle Situation selbst das Verstehen der Bedeutung des Ausdrucks mit bestimmt wäre. Und zweitens, daß die Art und Weise, wie wir einen Ausdruck in bestimmten Kontexten verstehen, wiederum abhängig ist von unseren Hintergrundannahmen, die durch unsere Gepflogenheiten, sozialen Praktiken etc. determiniert sind (vielleicht pflegen ja z.B. Marsmenschen ihre Bücher nur mit irgendwelchem Handwerkszeug zu öffnen). Das Beispiel zeigt, wie diese beiden Momente des Sprachverslehens ineinander spielen: Wir kennen die Bedeutung eines Wortes, wissen, wie ein Wort zu verwenden ist, wenn wir die Regel seiner Verwendung kennen und über die notwendigen Hintergrundannah1? Searle (1983) 145; cf. auch (1982) 139ff; allerdings übernehme ich nicht Searles Interpretation, da ich sie in einigen Punkten für unzureichend halte.

144

A. Untersuchung der sprachanalytischen Theorie des Ventehens

men verfügen; und wir wissen zugleich, in welcher Weise jeweils der Kontext relevant ist, innerhalb dessen Verwendungsregel und Hintergrundannahmen für das Verstehen der spezifischen Bedeutung "aktualisiert", "realisiert" werden müssen. Der zweite Einwand, der auf eine Komponente im Verstehen hinweist, die sich Dommetts Forderung nach vollständiger Systematisierbarkeit entzieht und in seiner Theorie nicht explizierbar ist, betrifft den Aspekt von Bedeutung, der mit dem historischen Wandel von Begriffen verbunden ist. Dies läßt sich unter zwei Gesichtspunkten verdeutlichen: So ist es beispielsweise bei der Lektüre eines Gryphius-Gedichts evident, daß viele der im 17. Jahrhundert gebräuchlichen Begriffe inzwischen einem Bedeutungswandel unterlegen sind, der, wenn man sich seiner nicht bewußt ist, zum völligen Mißverstehen dieser Begriffe und damit der Texte führen kann. Bei einem Text aus dem 17. Jahrhundert ist das Problem jedoch deshalb relativ leicht zu erkennen und zu lösen, weil deutlich ist, daß bestimmte Begriffe anders als heute gebraucht werden und deshalb auch eine andere als die heutige Bedeutung haben. Komplizierter wird das Problem erst dann, wenn man die Konsequenzen dieses historischen Wandels bedenkt: Kann ich mir bei einem Text aus dem 17. Jahrhundert und auch etwa einem aus dem 19. Jahrhundert noch relativ sicher sein, daß ich anders gebrauchte Begriffe als solche leicht ausmachen kann, so wird dies bei Texten aus dem 20. Jahrhundert schon schwieriger, um so mehr, je näher sie der Gegenwart liegen. Daß Bedeutungen von Ausdrücken diesem Wandel unterliegen, wird nur besonders deutlich an weiter zurückliegenden Texten, eine klare Grenze zwischen "alter" und "neuer" Bedeutung läßt sich jedoch prinzipiell nicht angeben, da die Bedeutung von Begriffen permanent im Wandel ist. Und das heißt, daß in diesen Fällen zwar theoretisch festgelegt werden kann, welche Bedeutung ein Ausdruck zum Zeitpunkt t genau hat, daß es jedoch gerade mit zur Bedeutung von Ausdrücken und damit zum Verstehen dieser Ausdrücke - gehört, daß zu diesem Zeitpunkt zur Bedeutung konstitutiv die historische Dimension des Begriffs gehörL Dies ist nun natürlich nicht ständig, nicht in jeder Sprach- und Verslehenssituation und nicht für alle Ausdrücke gleichermaßen relevant. Daß dieser Bedeutungsaspekt jedoch bei zahlreichen Begriffen für deren Bedeutung und damit für ihr Verstehen zentral ist, will ich noch an einem Beispiel verdeutlichen, nämlich dem des Begriffs "Reich", im Sinne von "Nation" oder "Imperium": Hier ist es unmittelbar evident, daß für die Bedeutung des Begriffs seine Geschichte ("Drittes Reich") konstitutiv ist, daß für eine korrekte Verwendung des Begriffs und ein entsprechendes Verständnis diese Geschichte bekannt sein muß, da anders seine negativen Konnotationen und die Unangemessenheil eines "neutralen" Gebrauchs nicht deutlich würden. Dies ist vor allem deshalb nicht trivial, weil der historische Aspekt ein für das Verstehen und die korrekte Anwendung des Begriffs notwendiges Moment darstellt, das die Verifikationsregel eines entsprechenden Satzes nicht tangiert- denn die Verifikationsbedingungen eines solchen Satzes wären dieselben, ob der Begriff nun mit oder ohne Kenntnis seiner Geschichte verwendet werden würde. Mit dem Verweis auf die historische Dimension in der Bedeutung von Begrif-

IV. Voraussetzungen einer Theorie des Verslehens

145

fen können also zwei Punkte verdeutlicht werden: Zum einen, daß wir beim Erlernen sprachlicher Regeln deren prinzipielle Variabilität mit erlernen; 18 gerade für komplexere Begriffe gilt, daß ihre Verwendungsregeln gewissen Änderungen unterworfen sein können, die wir als solche verstehen müssen, um wirklich sagen zu können, daß wir die Bedeutung der Begriffe verstanden haben. Zum zweiten bringt, wie gezeigt wurde, die historische Dimension der Bedeutung einen semantisch entscheidenden Aspekt zum Ausdruck, der über die Regeln der Verifikation von Sätzen hinausgeht. Beide Überlegungen lassen die Möglichkeit einer vollständigen Systematizität einer Bedeutungstheorie unwahrscheinlich erscheinen: Wenn beim Erlernen der Verwendungsregel deren Variabilität mit erlernt wird und wenn die Geschichte eines Begriffs für seine Bedeutung konstitutiv ist, dann wird unklar, wie man sich eine vollständige theoretische Repräsentation - auch wenn man diese zu einem bestimmten Zeitpunkt festlegen würde des semantisch relevanten Wissens vorzustellen hat. Doch selbst wenn man dies als rein pragmatische Schwierigkeit der Theoriekonstruktion abtun könnte, bliebe das Faktum, daß sich diese Art semantischen Wissens nicht mehr vom Begriff der Wahrheit oder Verifizierbarkeil ableiten ließe. Eine dritte Komponente in