Wir gehen davon aus, dass Recht nur in dem Zeitabstand existiert, die die rechtsrelevante Tat von ihren Rechtsfolgen tre
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German Pages 411 Year 2025
Table of contents :
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts (zur Einführung)
TEIL I Philosophisch-methodologische Grundlagen des Verständnisses von Recht
Kapitel 1. Unterschiede zwischen dem rechtsphilosophischen Verständnis von Recht und seiner rechtstheoretischen Forschung als Grundlage für die Festlegung des Gegenstandsbereichs der Untersuchung
Paragraph 1. Wissenschaftliche Rechtsforschung
Paragraph 2. Die philosophische Rechtsbesinnung
Paragraph 3. Die deontologische Differenz des Rechts
Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als methodologische Grundlage der Rechtsbesinnung
Paragraph 1. Die Frage nach dem Sinn des Seins als Leitfrage der Untersuchungsthematik
Paragraph 2. Die ontologische Differenz von Sein und Seiendem
Paragraph 3. Fundamentalontologie: Ein Versuch, ausgehend vom Dasein zum Sinn des Rechts durchzudringen
Paragraph 4. Die postontologische Differenz zwischen dem Sein des Seienden und dem Sein als solchem
Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis
TEIL II Die metaphysische und vormetaphysische Rechtsbesinnung
Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht, beruhend auf der deontologischen Differenz zwischen Sein und Sollen
Paragraph 1. Die Rechtsmetaphysik
Paragraph 2. Die Diskussion zwischen E. Bulygin und R. Alexy als Quintessenz des metaphysischen Rechtsverständnisses
Paragraph 3. Die Frage nach dem Wesen des Rechts als Aporie des metaphysischen Rechtsverständnisses
Schlussfolgerungen
Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung als der deontologischen Differenz des Rechts vorhergehend
Paragraph 1. Die vorsokratische Rechtsphilosophie als Erfahrung des vormetaphysischen Rechtsdenkens
Paragraph 2. Die Erfahrung des Unrechts als existentielle Grundlage des Rechts
Paragraph 3. Das Phänomen des Schicksals in der vormetaphysischen Rechtsphilosophie
Paragraph 4. Das Phänomen des Nomos in der vorsokratischen Philosophie
Paragraph 5. Das Phänomen der Polis in der vorsokratischen Philosophie
Paragraph 6. Das Phänomen des Kairos in der vorsokratischen Philosophie
Schlussfolgerungen
Teil III Die postmetaphysische Rechtsbesinnung als Überwindung der deontologischen Differenz des Rechts
Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage nach dem Sein des Rechts
Paragraph 1. Apriorische Rechtslehre von A. Reinach
Paragraph 2. Phänomenologie der Alleinheit von N. Alexejew
Paragraph 3. Die Rechtsphänomenologie von G. Husserl
Schlussfolgerungen
Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von G. Cohn
Paragraph 2. Die existentielle Rechtsauffassung von E. Fechner
Paragraph 3. Der Rechtsexistentialismus in der Rechtsphilosophie von A. Kaufmann
Paragraph 4. Die Rechtsphilosophie von W. Maihofer
Paragraph 5. Die Fundamentalontologie des Rechts von R. Marcic
Schlussfolgerungen
Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von J. Permyakow
Paragraph 2. Die Phänomenologisch-kommunikative Konzeption des Rechts von A. Polyakow
Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov
Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow
Paragraph 5. Die libertär-institutionelle Konzeption des Rechts von W. Tschetwernin
Schlussfolgerungen
Teil IV Die temporale Ontologie des Rechts
Kapitel 1. Das Rechtsereignis („Die Sache“)
Paragraph 1. Die Tat als der Anfang des Rechtsereignisses (der Sache)
Paragraph 2. Das «Wer» der Rechtstat
Paragraph 3. Das «Wie» der Rechtstat
Kapitel 2. Das Rechtssein (der Zug) als Treibkraft des Rechtsereignisses (der Sache)
Paragraph 1. „Die Spur“ als der Anlass für den Zug
Paragraph 2. Die Vervollständigung als die Grundgestalt des Rechtsseins (des Zuges)
Paragraph 3. Die Temporalität als Horizont des Rechtsseins
Kapitel 3. Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis
Paragraph 1. Das Schicksal als das Grundgebilde des Seins der Menschen im Rechtsereignis
Paragraph 2. Das Sein der Dinge im Rechtsereignis
Paragraph 3. Der Rechtstext als das Mittel zur Regelung der Geschwindigkeit (Laufzeit) des Rechtsereignisses
Schlussfolgerungen
Abschluss
Literaturverzeichnis
Phänomenologie
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Oleksiy Stovba
Die temporale Ontologie des Rechts
Phänomenologie Herausgegeben von Jakub Čapek Sophie Loidolt Alessandro Salice Alexander Schnell Claudia Serban Wissenschaftlicher Beirat Ehrenmitglieder des Advisory Boards: Jean-Luc Marion | Hans Rainer Sepp Thomas Arnold | Thomas Bedorf | Jagna Brudzinska | Martin Cajthaml | Cristian Ciocan | Steven Crowell | Natalie Depraz | Julien Farges | Christian Ferencz-Flatz | Philip Flock | Selin Gerlek | Sylvaine Gourdain | Till Grohmann | Sara Heinämaa | Steffen Herrmann | Julia Jansen | Tobias Keiling | Hilge Landweer | Sandra Lehmann | Olivier Massin | Tereza Matějčková | Kevin Mulligan | Karel Novotný | Søren Overgaard | Witold Płotka | Dominique Pradelle | Ignacio Quepons | Sonja Rinofner-Kreidl | Inga Römer | Matthias Schloßberger | Sergej Seitz | Jan Slaby | Andrea Staiti | Michael Staudigl | Tony Steinbock | Michela Summa | Hamid Taieb | Ádám Takács | Ruth Rebecca Tietjen | Gerhard Thonhauser | Genki Uemura | Francesca De Vecchi | Jaroslava Vydrová | Íngrid Vendrell Ferran | Maren Wehrle | Harald Wiltsche | Dan Zahavi
37 Alle Bände in dieser Reihe durchlaufen vor der Annahme ein Peer-Review-Verfahren.
Oleksiy Stovba
Die temporale Ontologie des Rechts
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99107-7 (Print) ISBN 978-3-495-99108-4 (ePDF)
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1. Auflage 2025 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2025. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de
Danksagung
Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner im Juni 2017 an der Nationalen Juristischen Universität Jaroslaw des Weisen (Charkiw, Ukraine) verteidigten Habilitation. Ich danke al‐ len, die mich während meiner Arbeit und bei der Überarbeitung meiner Habilitation unterstützt haben. In erster Linie möchte ich Frau Prof. Dr. Sophie Loidolt für die unschätzbare Unterstützung meines Projektes herzlich danken. Meiner Familie, die mich seit Beginn meiner Arbeit begleitet hat, gilt meine tiefste Dankbarkeit. Allen Freunden und Kollegen, die bei dieser Arbeit durch zahlreiche Gespräche und strenge Diskussionen ihren Beitrag leisteten, danke ich ganz herzlich, insbesondere Nata‐ lia Satochina, Serhiy Rabinowitsch, Petro Rabinowitsch, Andrey Po‐ lyakow, Elena Timoschina, Igor Newwagay, Yuriy Permjakow und Vadim Pawlow. Für die Übersetzung dieses Buches danke ich zutiefst Kyrylo Sa‐ lynskyy, meinem lieben Freund. Melina Licht bin ich sehr dankbar für die stilistische Überarbeitung und Korrekturen. Herzlicher Dank gilt auch Herrn Martin Hähnel und dem KarlAlber Verlag für die Unterstützung der Publikation. Ich widme dieses Buch meiner Heimatstadt Charkiw, die sich seit drei Jahren gegen die russische Invasion wehrt.
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Inhaltsverzeichnis
Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts (zur Einführung) . . . . . . . . . .
11
TEIL I Philosophisch-methodologische Grundlagen des Verständnisses von Recht Kapitel 1.
Unterschiede zwischen dem rechtsphilosophischen Verständnis von Recht und seiner rechtstheoretischen Forschung als Grundlage für die Festlegung des Gegenstandsbereichs der Untersuchung
21
Paragraph 1. Wissenschaftliche Rechtsforschung . . . . . .
21
Paragraph 2. Die philosophische Rechtsbesinnung . . . . .
24
Paragraph 3. Die deontologische Differenz des Rechts
27
Kapitel 2.
. . .
Die Philosophie von Martin Heidegger als methodologische Grundlage der Rechtsbesinnung . . . . . . . . . . . . . .
35
Paragraph 1. Die Frage nach dem Sinn des Seins als Leitfrage der Untersuchungsthematik . . . .
35
Paragraph 2. Die ontologische Differenz von Sein und Seiendem . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
Paragraph 3. Fundamentalontologie: Ein Versuch, ausgehend vom Dasein zum Sinn des Rechts durchzudringen . . . . . . . . . . . . . . .
41
Paragraph 4. Die postontologische Differenz zwischen dem Sein des Seienden und dem Sein als solchem .
45
Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis
49
. . . . .
7
Inhaltsverzeichnis
TEIL II Die metaphysische und vormetaphysische Rechtsbesinnung Kapitel 1.
Eine metaphysische Auffassung von Recht, beruhend auf der deontologischen Differenz zwischen Sein und Sollen . . . . . . . . . .
61
Paragraph 1. Die Rechtsmetaphysik . . . . . . . . . . . .
61
Paragraph 2. Die Diskussion zwischen E. Bulygin und R. Alexy als Quintessenz des metaphysischen Rechtsverständnisses . . . . . . . . . . . .
68
Paragraph 3. Die Frage nach dem Wesen des Rechts als Aporie des metaphysischen Rechtsverständnisses . . . . . . . . . . . .
73
Schlussfolgerungen Kapitel 2.
. . . . . . . . . . . . .
77
Die vormetaphysische Rechtsbesinnung als der deontologischen Differenz des Rechts vorhergehend . . . . . . . . . . . . . . .
79
Paragraph 1. Die vorsokratische Rechtsphilosophie als Erfahrung des vormetaphysischen Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . .
79
Paragraph 2. Die Erfahrung des Unrechts als existentielle Grundlage des Rechts . . . . . . . . . . . .
87
Paragraph 3. Das Phänomen des Schicksals in der vormetaphysischen Rechtsphilosophie . . . .
94
Paragraph 4. Das Phänomen des Nomos in der vorsokratischen Philosophie . . . . . . . . .
98
Paragraph 5. Das Phänomen der Polis in der vorsokratischen Philosophie . . . . . . . . .
104
Paragraph 6. Das Phänomen des Kairos in der vorsokratischen Philosophie . . . . . . . . .
107
Schlussfolgerungen
8
. . . . . . . . . . . . .
114
Inhaltsverzeichnis
Teil III Die postmetaphysische Rechtsbesinnung als Überwindung der deontologischen Differenz des Rechts Kapitel 1.
Phänomenologische Voraussetzungen der Frage nach dem Sein des Rechts . . . . . .
Paragraph 1. Apriorische Rechtslehre von A. Reinach
. . .
123
125
Paragraph 2. Phänomenologie der Alleinheit von N. Alexejew 132 Paragraph 3. Die Rechtsphänomenologie von G. Husserl . . Schlussfolgerungen Kapitel 2.
138
. . . . . . . . . . . . .
164
Die existentielle Ontologie des Rechts . . . .
167
Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von G. Cohn
. . . . .
168
Paragraph 2. Die existentielle Rechtsauffassung von E. Fechner . . . . . . . . . . . . . . . . .
176
Paragraph 3. Der Rechtsexistentialismus in der Rechtsphilosophie von A. Kaufmann
190
Paragraph 4. Die Rechtsphilosophie von W. Maihofer
. . . . . . .
Paragraph 5. Die Fundamentalontologie des Rechts von R. Marcic . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen
199 231
. . . . . . . . . . . . .
239
Das dynamische Rechtsverständnis . . . . .
243
Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von J. Permyakow . . .
249
Paragraph 2. Die Phänomenologisch-kommunikative Konzeption des Rechts von A. Polyakow . . .
263
Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow . . . . . . . . . . . . . . . .
292
Paragraph 5. Die libertär-institutionelle Konzeption des Rechts von W. Tschetwernin . . . . . . . . .
305
Kapitel 3.
Schlussfolgerungen
. . . . . . . . . . . . .
313
9
Inhaltsverzeichnis
Teil IV Die temporale Ontologie des Rechts Kapitel 1.
Das Rechtsereignis („Die Sache“)
. . . . . .
321
Paragraph 1. Die Tat als der Anfang des Rechtsereignisses (der Sache) . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
Paragraph 2. Das «Wer» der Rechtstat . . . . . . . . . . .
327
Paragraph 3. Das «Wie» der Rechtstat . . . . . . . . . . .
332
Kapitel 2.
Das Rechtssein (der Zug) als Treibkraft des Rechtsereignisses (der Sache) . . . . . . . .
Paragraph 1. „Die Spur“ als der Anlass für den Zug
. . . .
347
348
Paragraph 2. Die Vervollständigung als die Grundgestalt des Rechtsseins (des Zuges) . . . . . . . . .
350
Paragraph 3. Die Temporalität als Horizont des Rechtsseins
355
Kapitel 3.
Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis . . . . .
363
Paragraph 1. Das Schicksal als das Grundgebilde des Seins der Menschen im Rechtsereignis . . . . . . .
364
Paragraph 2. Das Sein der Dinge im Rechtsereignis
383
. . . .
Paragraph 3. Der Rechtstext als das Mittel zur Regelung der Geschwindigkeit (Laufzeit) des Rechtsereignisses . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen Abschluss
. . . . . . . . . . . . .
394
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
Literaturverzeichnis
10
387
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts (zur Einführung)
Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass im Kern jeder rechtsphilosophischen Fragestellung das Streben danach liegt, in die Tiefe des Rechts einzudringen, um nach dem ursprünglichen recht‐ lichen Phänomen zu suchen, hinter oder unter welchem es kein an‐ deres Recht gibt. Im Unterschied zu vielen modernen Rechtswis‐ senschaftlern, die ausschließlich nur den vorhandenen Sachverhalt in der rechtlichen Sphäre zu beschreiben versuchen, strebten schon die antiken Denker des Rechts danach, zu begreifen, was ursprüng‐ lich das Recht und wie es möglich sei, dass es existiert. Für die alten Griechen war das „Es gibt“ des Rechts nämlich kein Axiom. Sowohl Anaximander als auch Parmenides und insbesondere Heraklit hat‐ ten es perfekt verstanden, dass das in der Polis gegebene Recht in je‐ dem Moment durch Unrecht (αδικία) ersetzt werden, und Ordnung in Chaos umschlagen könnte. Gerade aus dieser klaren Erkenntnis erwuchs Heraklits berühmter Aufruf an das Volk – „µάχεσθαι χρὴ τὸν δῆµον ὑπὲρ τοῦ νόµου ὅκωσπερ τείχεος“. 1 Obwohl die Existenz des Rechts für die vorsokratischen Philo‐ sophen niemals eine apriorische Gegebenheit war, setzten sie als ontologische Bedingung seiner Möglichkeit zumindest eine „ehr‐ liche äußerste Bemühung um adäquate Wirklichkeitsgestaltung“ 2 (E. Fechner) voraus, während die Klassiker der Antike – Platon und Aristoteles – bereits davon ausgingen, dass das Recht schon im‐ mer existierte. Entsprechend ihrer Auffassung war sogar die meist empörende Tatsache der Willkür niemals ein Verweis auf die Ab‐ wesenheit („das Nichtsein“) des Rechts, sondern nur dessen Ver‐ 1 „Kämpfen soll die Bürgerschaft für ihr Gesetz wie für die Mauer“. Zit. nach: Diels H. Die Fragmente der Vorsokratiker. – Berlin-Charlottenburg: Weid‐ mannsche Verlagsbuchhandlung, 1960. – S. 160. 2 Fechner E. Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts. – Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956. – S. 221.
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts
letzung. So sagte beispielsweise schon Platon, dass jegliche empi‐ rische Realität – und das Recht bildete da keine Ausnahme – nur die unvollkommene Kopie der in den Sternen existierenden Welt der Ideen darstellte. Daraus folgt: Selbst wenn es in unserer Alltäglich‐ keit überhaupt kein Recht geben sollte, „gibt es“ Recht als objektiv existierende Idee. Eine derartige Vorstellung vom absoluten Sein des Rechts als sei‐ nem „immer-schon“ Vorhandensein herrschte seit Platon und im Laufe der Entwicklung des darauffolgenden rechtsphilosophischen Denkens bis Anfang-Mitte des 20. Jahrhunderts. Gemäß der do‐ minierenden Vorstellungen konnte Recht, das in Gottes Vernunft oder als Naturgesetz, kategorischer Imperativ, absolute Idee, soziale Gesetzmäßigkeit, Brauch, Grundnorm oder Feststellung des Ge‐ setzgebers existierte, zwar verletzt werden, das „absolute“ Sein des Rechts dabei jedoch unerschütterlich bleiben. Metaphorisch ausge‐ drückt, drang Recht ständig als ein gewisses unsichtbares normati‐ ves Feld durch die empirische Wirklichkeit, ähnlich wie die Luft, das Licht oder Radiowellen ständig den physischen Raum durchdrin‐ gen, ohne dass wir darüber nachdenken oder es überhaupt merken. Auf diese Weise hat das vorhandene Sein des Rechts „jenseits der Zeit“ in einer gewissen transzendenten oder transzendentalen Di‐ mension schon immer „existiert“. Diese metaphysische Vorstellung von Recht geriet erst während des Ersten Weltkriegs ins Wanken, als sich die apriorische Gege‐ benheit der vernünftigen Wirklichkeit als eine empirisch fragliche Tatsache herausstellte. In diesem Falle können wir nicht mehr vom Recht als ewigem und zweifellosem Sollenden sprechen, dessen ab‐ solutes Sein keine Verletzung erschüttern könnte. Wie die formal gesetzmäßige national-sozialistische Diktatur des dritten Reichs als auch Stalins Terror in der UdSSR nachdrücklich gezeigt haben, wäre es sinnlos, das lange Jahre in diesen Ländern herrschende rechtli‐ che Vakuum mit naiven Berufungen auf die Verletzung des „Natur‐ rechts“ zu erklären. Es stellte sich heraus, dass die Existenz des so‐ wohl positiven als auch des natürlichen Rechts keineswegs ein tran‐ szendentales Axiom ist, und Recht als solches nach der Wiederher‐ stellung der Voraussetzungen der Möglichkeit seines Seins im Laufe der gesellschaftlichen Praxis verlangt. Die erwähnten Ereignisse riefen nämlich auch die so genannte „Renaissance des Naturrechts“ hervor. Im Unterschied zum klassi‐
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts
schen Naturrecht, das das „beständige“ Sein des Rechts in Form der Naturgesetze, der Vernunft u. a. verteidigte, behaupteten die Vertre‐ ter dieser „Renaissance“, dass Recht als seinen Ursprung keine ideale Form, sondern „die konkrete Situation“ (G. Cohn), den „extraordi‐ nary case” (G. Husserl), „die Natur der Sache“ (W. Maihofer) hat, bevor und ohne welche kein Recht existiert. Nach einer anschau‐ lichen Anmerkung des dänischen Rechtsphilosophen G. Cohn, ist eben die konkrete Situation „des Rechts eigenes Heim“. 3 Dennoch konnten die Vertreter der „Renaissance des Natur‐ rechts“ keine Antwort auf die Frage geben, wie genau dieses „kon‐ krete“ Recht existiert, wie also die Gesetzmäßigkeiten seines Auftre‐ tens und seiner Existenz zu sein haben, die auf keine Ideen, keine Empirik des Gesetzes, des Brauchs oder der Rechtsprechung zu‐ rückzuführen sind. Infolgedessen ist im weltweiten rechtsphilosophischen Denken seit Anfang der 1970er Jahre eine „Gegenreaktion“ zu beobachten, in der das absolute Sein des Rechts in Form eines apriorischen Vorhan‐ denseins politisch korrekter Ideen der Menschenrechte, der Gleich‐ stellung der Geschlechter und Rassen – und anderer Gleichstel‐ lungen, der Gerechtigkeit und Moralität wieder zum Axiom wird. Nach einer zutreffenden und ironischen Anmerkung des französi‐ schen Denkers A. Badiou, war bereits Ende der 1980er Jahre eine moralische Philosophie am modernsten, die sich als eine politische tarnte. So weit das Auge reichte, würde immer jemand die Men‐ schenrechte verteidigen, Respekt für andere fordern, oder dazu auf‐ rufen, zu Kant zurückzukehren. Den angeführten Sachverhalt dia‐ gnostiziert A. Badiou als völligen intellektuellen Rückschritt. 4 Mit wenigen Ausnahmen prägt diese Situation auch heute noch den Zustand der Rechtsphilosophie, und zwar sowohl der ukrainischen und russischen als auch der westeuropäischen. Dadurch ist die aktuellste Aufgabe der modernen Rechtswissen‐ schaft eine Wiederbelebung des ewigen Strebens der Rechtsphiloso‐ phie, zur Ursprünglichkeit des Rechts vorzudringen, um zu begrei‐ fen, wie es überhaupt möglich ist, dass Recht „ist“.
3 Cohn G. Existentialism and Legal Science. – New York.: Occana publications inc., 1967. – Р.31. 4 Badiou A. Being and Event. – London: The Tower Building, 2005. – S. XI.
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts
Dabei wird dieses „ist“ kein „ewiges“ Sein des Rechts bedeuten, dessen „Nichtsein unmöglich ist“ und das bloß „verletzt werden“ kann. Denn nach der richtigen Anmerkung des russischen Rechts‐ wissenschaftlers J. Permjakow bedeutet „ist“ für das Recht die Mög‐ lichkeit des Verlusts, den Bereich des riskanten Seins. 5 Wenn man die Aussage des deutschen Philosophen M. Heidegger umformu‐ liert, bedeutet „zu sein“ bezüglich des Rechts, „sich in der fraglichen Möglichkeit des Nichtseins erhalten“. Mit anderen Worten, wenn man das Recht ins Blickfeld einführt, so wie es ist, wird es nicht mehr eine „ewige und unveränderliche Substanz“ als eine Quelle des kon‐ tinuierlichen „normativen Kraftfeldes“ darstellen, sondern das dis‐ krete und singuläre Ereignis, welches jedes Mal auch nicht auftreten kann – es dann aber auch kein Recht geben wird. Aufgrund des Dargelegten ändert sich auch die Art und Weise der rechtsphilosophischen Fragestellung selbst. Im Blickwinkel der be‐ schriebenen Problemstellung fragt der Rechtsphilosoph also nicht mehr nach dem „ewigen“ Wesen des Rechts, dessen Vorhanden‐ sein standardmäßig vorausgesetzt wurde, sondern nach dem Sein des Rechts. Insofern dieses Sein keine apriorische Gegebenheit dar‐ stellt, ist die Aufgabe des Rechtsphilosophen die Explikation jener Voraussetzungen, die es möglich machen. Mit anderen Worten, so‐ fern es auf der Welt keine Macht gibt, welche die Fähigkeit besitzt, mit absoluter Überzeugung das Vorhandensein des Rechts zu ga‐ rantieren, sind unsere Bemühungen nicht darauf gerichtet, das Sein des Rechts als eine grundlegende Norm, Idee usw. zu beschreiben, sondern auf das Begreifen der ontologischen Voraussetzungen der Möglichkeit der adäquaten Darstellung des Rechts als ein Ereignis des Immer-wieder-Entstehens in der Wirklichkeit. Offensichtlich führt das Gesagte auch eine Revision existierender Vorstellungen von Recht als solchem herbei. Wenn in traditionel‐ len Anschauungsweisen daran als an das gewisse höchste Seiende 5 Пермяков Ю.Е. Основания права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 63. [Permjakow J.E. The Foundati‐ ons of Law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Collective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013].
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts
(Idee, Norm, Brauch) gedacht wurde, das den Status des Sollens in Bezug auf die empirische Realität besaß, so erscheint uns Recht heute – dies ist die Hauptthese des Buchs – als ein dynamisches, bewegliches Ereignis, welches einen temporalen Charakter besitzt. In diesem Sinn ist hier von dem prinzipiell neuen – dynamischen – Verständnis von Recht die Rede, im Unterschied zu dem „Natur‐ recht mit wechselndem Inhalt“ von R. Stammler, oder dem „le‐ bendigen Recht“ von O. Ehrlich, die eine inhaltliche Veränderlich‐ keit des Rechts auf der Ebene des Seienden – der Norm oder des Brauchs – akzentuierten, dabei aber eine Vorstellung vom kontinu‐ ierlichen Sein des Recht behielten. 6 In diesem Fall erscheint Recht nicht als ursprünglich absolutes und ewiges Sollen, das in historisch veränderlichen, jedoch gleichwohl verdinglichten Formen normati‐ ver Vorschriften verkörpert ist, sondern als dynamische Konfigura‐ tion des Immer-wieder-Entstehens des Rechts. Die beschriebenen Thesen führen den Inhalt mehrerer origineller Konzeptionen einer Reihe moderner russischer und ukrainischer Rechtswissenschaftler zusammen: S. Maksymov, I. Newwaschaj, J. Permjakow, V. Pawlow, A. Poljakow, I. Tschestnow, V. Tschetwer‐ nin, und auch einiger anderer. So erscheint Recht in der Anschau‐ ungsweise von S. Maksymov als dynamische rechtliche Realität, in der von A. Poljakow als rechtliche Kommunikation und in der von I. Tschestnow als rechtlicher Dialog usw. Diese und andere dyna‐ mische, inhaltliche Metaphern (Austausch, Ereignis, Vorkommnis, Synergität, rechtliches Leben) werden dazu bemüht, das Recht zu zeigen, hinter welchem nichts mehr steckt. Kraft dessen wird es mög‐ 6 Hier muss angemerkt werden, dass auch C. Schmitts Ansatz zum Recht, vor al‐ lem in seiner späteren Version, der temporalen Ontologie des Rechts nahesteht, aber nicht mit ihr identisch ist. Wie wir wissen, behauptet C. Schmitt in seinem Werk „Der Nomos der Erde“, dass „[der Nomos] ein konstituirendes geschicht‐ liches Ereignis ist, ein Akt der Legitimität, der die Legalität des bloßen Gesetzes überhaupt erst sinnvoll macht” (S. 42). Das Wesen des gleichen Ereignisses ist bei ihm ein “konstituirender, raumordnender Ur-Akt”, aus dem alle folgenden Regelungen geschriebener und ungeschriebener Art ihre Kraft ziehen (S. 47). Vgl. dazu: Schmitt C. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. – 4. Aufl. – Berlin: Duncker und Humblot, 1997. Somit existiert der Nomos als Einheit von Ordnung und Ortung ständig und dauerhaft, ohne Bedarf an Wiederholung. Daher liegt der Unterschied zu der temporalen On‐ tologie des Rechts in dem Sachverhalt, dass nach einem solchen historischen Ereignis die Notwendigkeit, das Recht zu wiederholen, verschwindet.
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts
lich, anzunehmen, dass sich im postsowjetischen Raum zur Zeit eine prinzipiell neue – dynamische – Richtung des Rechtsverständnisses gebildet hat, die sich weder auf ein natürliches Recht, noch auf einen rechtlichen Positivismus, oder andere, früher bekannte Vorstellun‐ gen reduzieren lässt. Der Zweck dieses Buches besteht jedoch nicht darin, die aktuellen Richtungen im osteuropäischen Rechtsdenken zu analysieren. Kor‐ rekter wäre es zu sagen, dass die Darstellung der Gedanken anderer Forscher über das Sein des Rechts nur ein Weg zur postmetaphy‐ sischen Erfahrung des Rechts sind. Wenn auf der metaphysischen Ebene die Erfahrung des Rechts ein latenter Hintergrund der Le‐ benswelt ist, dann wird das Recht im Laufe der postmetaphysischen Erfahrung zu einem Ereignis. Ein solches Rechtsereignis schließt alle anderen – außerrechtlichen – Seinsmöglichkeiten der an einem solchen Ereignis beteiligten Seienden aus. 7 Natürlich ist eine solche „Ausschliessung“ nur zeitweilig, denn im Laufe der Zeit „kehrt“ das Seiende wieder zu seinem gewohnten Modus des Seins zurück. So wird das Sein des Rechts aus dem transzendental-metaphysischen Bestand des Sollens in ein dynamisches Rechtsereignis verwandelt. Die Konsequenz dieses Ansatzes ist die Explikation der Grundver‐ fassung des Rechtsereignisses (die Wiederrückholung des Rechts), die an die Stelle seines Konstitutionprozesses im Bewusstsein oder der dogmatischen Postulierung tritt. Im Einklang mit dem dynamischen Verständnis von Recht be‐ findet sich daher auch die dem Leser angebotene Konzeption des Autors – die temporale Ontologie des Rechts. Insofern das Sein des Rechts (Dialog, Kommunikation, Austausch usw.) der Gegen‐ stand des dynamischen Verständnisses von Recht ist, welches die Gesetzmäßigkeit des Immer-wieder-Entstehens des gegebenen Phä‐ nomens in sich trägt, ist es berechtigt, auf die Zeit zurückzugreifen, die nach den Worten M. Heideggers „der mögliche Horizont jedes
7 Damit versuchen wir noch die von A. Reinach gestellte Aufgabe zu lösen: „das rechtlich relevante Geschehen, wo es sich realisiert, tritt uns innig verwoben mit anderen, außerrechtlichen Vorgängen entgegen. Es ist eine eigene Aufgabe, es aus der verwirrenden Fülle seiner Umgebung rein herauszuheben.” Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – München, Hamden, Wien: Philosophia, 1989. – S. 268. Siehe dazu: Teil IV von unserem Werk, inbesond. Kap. 1 und 2.
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Dynamisches Verständnis von Recht und die temporale Ontologie des Rechts
Seinsverständnisses“ ist. Sofern es möglich ist, über das Sein des Rechts als ein Sein des rechtlichen Seienden aus der Zeit nachzu‐ denken, muss die dynamische Ontologie des Rechts um den tem‐ poralen Anteil ergänzt werden. Ein solches Begreifen führt dazu, dass uns das Recht in seinem zeitlichen Aspekt als ein rechtliches Sein erscheint – die veränderliche, bewegliche Konfiguration des Seins (das Auftreten und das Verschwinden) des rechtlichen Seien‐ den. Im Unterschied zu dem vom metaphysischen Rechtsverständ‐ nis dogmatisch postulierten Sein des Rechts als dessen ständigem Vorhandensein, bildet das temporale rechtliche Sein zusammen mit dem Sein des Rechts (Sein des rechtlichen Seienden) den Aufbau des diskreten, singulären und einmaligen rechtlichen Ereignisses. Zugleich, wie schon betont wurde, kann niemand und niemals mit voller Überzeugung die Anwesenheit des Rechts gewährleisten. So‐ mit beinhaltet ein rechtliches Ereignis zum gleichen Teil sowohl die Möglichkeit, dass Recht auftritt, als auch, dass Recht nicht auftritt – und dann wird es auch kein Recht geben.
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TEIL I Philosophisch-methodologische Grundlagen des Verständnisses von Recht
Kapitel 1. Unterschiede zwischen dem rechtsphilosophischen Verständnis von Recht und seiner rechtstheoretischen Forschung als Grundlage für die Festlegung des Gegenstandsbereichs der Untersuchung Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; Goethe, „Faust”
Paragraph 1. Wissenschaftliche Rechtsforschung Gemäß der im klassischen rechtlichen Diskurs verbreiteten Mei‐ nung ist die Fragestellung über Recht nur in dem Fall „objektiv wahr“, wo sie den Kriterien der Wissenschaftlichkeit entspricht. Be‐ kanntlich galt die allgemeine Rechtstheorie als das Normal der Wis‐ senschaftlichkeit in der sowjetischen Rechtswissenschaft. Ihre Auf‐ gabe war die Feststellung der meist allgemeinen Gesetzmäßigkei‐ ten des Funktionierens rechtlicher Ereignisse, welche notwendiger‐ weise auf dem Niveau gesetzgebender Praxis beachtet und bei der Entwicklung eines möglichst effektiven Mechanismus rechtlicher Regelung genutzt werden sollten. Auf diese Weise war das End‐ ziel einer allgemeinen Rechtstheorie als einer Wissenschaft die Ent‐ wicklung eines wirksamen Mechanismus rechtlicher Regelung, wel‐ cher so komplett wie möglich (idealerweise: absolut) alle Anzeichen rechtlicher Devianz durch die strenge Definition der Rechtsfolgen einer jeden Tat regeln ließe. Die Forderung, der Wissenschaftlichkeit zu entsprechen, hat sich automatisch auch auf die Rechtsphilosophie übertragen. Nach Aus‐
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Kapitel 1. Unterschiede im rechtsphilosophischen Verständnis
sage des ukrainischen Rechtswissenschaftlers N. Kosjubra, gilt die Rechtsphilosophie für die Mehrheit der dortigen Rechtswissen‐ schaftler immer noch als Wissenschaft, obwohl sie keine überzeu‐ genden Argumente zur Rechtfertigung dieser Position vorbringen. 8 Bei einer solchen Herangehensweise wird Rechtsphilosophie tat‐ sächlich mit der allgemeinen Rechtstheorie identifiziert und von dieser absorbiert. Gemäß solchen Ansichten umfasst die allgemeine Rechtstheorie im weitesten Sinne als ihre Bestandteile die Rechts‐ theorie, die Rechtsphilosophie, die Rechtssoziologie, rechtliche (ju‐ ristische) Logik usw. Diese Herangehensweise kann als allgemeintheoretisch bezeichnet werden. Der Gegenstand der Interessen ihrer Vertreter ist die Suche nach möglichst allgemeinen Gesetzmäßigkei‐ ten des Funktionierens rechtlicher Ereignisse und ihrer kategorischbegrifflichen Gestaltung. 9 Jedoch ist eine solche Gleichsetzung der Rechtswissenschaft mit der Rechtsphilosophie kaum berechtigt. Der Grund für ihre Ver‐ schiedenheit könnte in der unterschiedlichen Art des Denkens lie‐ gen, die für die genannten Sachgebiete kennzeichnend ist. So be‐ hauptet der bekannte deutsche Philosoph M. Heidegger: „Die Wis‐ senschaft denkt nicht. Sie denkt nicht, weil sie nach der Art ihres Vorgehens und ihrer Hilfsmittel niemals denken kann – denken nämlich nach der Weise der Denker. Dass die Wissenschaft nicht denken kann, ist kein Mangel, sondern ein Vorteil. Er allein sichert ihr die Möglichkeit, sich nach der Art der Forschung auf ein jeweili‐ ges Gegenstandgebiet einzulassen und sich darin anzusiedeln.“ 10 Es wird möglich, diese anscheinend paradoxe Behauptung zu erklären, wenn man sich an das Folgende erinnert: „Die Wissenschaft trifft 8 К озюбра М. Спiввiдношення фiлософiї i загальної теорiї права: iсторiя i сучаснiсть// Фiлософiя права i загальна теорiя права. – No 1.–2012. – S. 112. [Kosjubra N. The Relations between Philosophy of Law and General Theory of Law: History and Modern//Philosophy and General Theory of Law. – No 1.–2012]. 9 Als treffendes Beispiel solcher Herangehensweise kann der Artikel des ukrai‐ nischen Wissenschaftlers M. Panow dienen. Панов М.I. Проблеми методологiї формування категорiально-понятiйного апарату юридичної науки//Право України. – No 1.–2014. – S. 50–60. [Panow M.I. The Issues of Crea‐ tion Categories and Concepts of Legal Science//Law of Ukraine. – No 1.–2014]. 10 Heidegger M. Was heisst Denken?// Vorträge und Aufsätze. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2000. – S. 133.
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Paragraph 1. Wissenschaftliche Rechtsforschung
immer nur auf das, was ihre Art des Vorstellens im Vorhinein als den für sie möglichen Gegenstand zugelassen hat” 11. Mit anderen Worten, Wissenschaftist ursprünglich auf den Umgang mit dem Sei‐ enden gerichtet. Sie entwickelt zunehmend effiziente Methoden, es mittels Kalkulation und Berechnung zu verwalten. Wenn das Sei‐ ende berechnet ist, also als Möglichkeit abgeschafft und als Wirk‐ lichkeit vorgelegt ist, bekommt der Wissenschaftler die Möglich‐ keit, es möglichst effizient zu verwalten, indem er es seinem Willen für die Erfüllung unterschiedlicher Bedürfnisse unterwirft. Wie M. Heidegger zeigt: „Nur eines läßt sich schon bei geringer Wachheit des Nachdenkens erkennen, daß sowohl die Wissenschaften von der leblosen und der lebendigen Natur als auch die Wissenschaften von der Geschichte und den geschichtlichen Werken immer eindeuti‐ ger sich herausbilden zu einer Art und Weise, wie der neuzeitliche Mensch der Natur und der Geschichte und der “Welt” und “Erde” überhaupt sich durch das Erklären bemächtigt, um diese erklärten Bezirke planmäßig und je nach Bedarf nutzbar zu machen für die Sicherung des Willens, über das Ganze der Welt Herr zu sein in der Weise des Ordnens”. 12. In einer globalen Perspektive versucht der Forscher also, den Platz Gottes einzunehmen. Denn sobald alle Eventualitäten (darun‐ ter auch der Tod) mittels Berechnung geregelt sind und auch be‐ seitigt werden können, bekommt der Mensch die Möglichkeit des ewigen Lebens, indem er alle Prozesse im Universum verwaltet. 13 Wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, ist das philosophische Denken als ein „Sich-eintreffen-Lassen“ des Seins der wissenschaft‐ lichen, technisch-instrumentellen Denkweise entgegengesetzt. Wie jede andere Wissenschaft, die, um die gegebene Aufgabe zu lösen, berechnend und verwaltend auf das Seiende gerichtet ist, kann und muss die Rechtswissenschaft nicht philosophisch denken. Sobald die Rechtswissenschaft das Wesen ihrer Grundbegriffe zu überden‐ ken versucht, zerfällt unumgänglich jede ihre Konstruktion, weil 11 Heidegger M. Das Ding// Vorträge und Aufsätze. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2000. – S. 171. 12 Heidegger M. Heraklit. – Frankfurt-am-Main: Vittorio Klostermann, 1979. – S. 192. 13 Stovba O. Law and Ge-Stell / Oleksiy Stovba // Law of Ukraine. – 2011. – No 11– 12. – S. 57–63.
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alles, was ihr zugrunde liegt, plötzlich problematisch erscheint. Wenn z. B. ein Vertreter der bürgerlichen Rechtswissenschaft auf die Arbeitsdefinition eines Rechtsgeschäfts als „Ausdruck des Wil‐ lens einer Person, welcher auf Entstehen, Änderung, Auflösung des Rechtsverhältnisses gerichtet ist“, verzichtet, so verliert er sofort die Möglichkeit, effizient mit diesem Begriff zu operieren, weil er nicht mehr als axiomatisch auftritt, indem er vom Instrument zum Gegenstand der Frage wird. Dadurch, dass die Rechtswissenschaft „nicht denkt“, d. h. „nicht ihre fundamentalen Grundlagen über‐ denkt“, wird ihre Effizienz erst gewährleistet.
Paragraph 2. Die philosophische Rechtsbesinnung Im Unterschied zur Wissenschaft, die mit dem Recht als einem vor‐ handenen Seienden funktional operiert, ohne dabei über ontolo‐ gische Voraussetzungen seiner Möglichkeit nachzudenken, ist die fundamentale Besinnung des Rechts seit der Antike das Präroga‐ tiv der Rechtsphilosophie gewesen. Infolgedessen darf die Philoso‐ phie nicht auf der Basis der Wissenschaft gegründet werden. Denn jede Wissenschaft ruht auf Voraussetzungen, die niemals wissen‐ schaftlich begründbar sind, wohl dagegen philosophisch erweisbar. Alle Wissenschaften gründen in der Philosophie, aber nicht um‐ gekehrt. 14 Dadurch ist auch die Rechtsphilosophie keine Wissen‐ schaft. Sie ist im Wesentlichen nicht darauf gerichtet, die Metho‐ den des Umgangs mit dem rechtlichen Seienden zu entwickeln, son‐ dern auf die Suche nach dem Sinn des Seins des Rechts. Eine solche Aufklärung des Sinnes tritt im philosophischen Denken in Erschei‐ nung. So M. Heidegger: „Damit wir erst lernen, das genannte Wesen des Denkens rein zu erfahren und das heißt zugleich zu vollziehen, müssen wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens. Deren Anfänge reichen bis zu Platon und Aristoteles zu‐ rück. Das Denken selbst gilt dort als eine τέχνη, das Verfahren des Überlegens im Dienste des Tuns und Machens. Das Überlegen aber wird hier schon aus dem Hinblick auf πραξις und ποίησις gesehen. Deshalb ist das Denken, wenn es für sich genommen wird, nicht 14 Heidegger M. Was heisst Denken? – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2002. – S. 136.
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Paragraph 2. Die philosophische Rechtsbesinnung
»praktisch«. Die Kennzeichnung des Denkens als ΰεωρία und die Bestimmung des Erkennens als des »theoretischen« Verhaltens ge‐ schieht schon innerhalb der »technischen« Auslegung des Denkens. Sie ist ein reaktiver Versuch, auch das Denken noch in eine Eigen‐ ständigkeit gegenüber dem Handeln und Tun zu retten. Seitdem ist die »Philosophie« in der ständigen Notlage, vor den »Wissenschaf‐ ten« ihre Existenz zu rechtfertigen. Sie meint, dies geschehe am si‐ chersten dadurch, dass sie sich selbst zum Range einer Wissenschaft erhebt. Dieses Bemühen aber ist die Preisgabe des Wesens des Den‐ kens. Die Philosophie wird von der Furcht gejagt, an Ansehen und Geltung zu verlieren, wenn sie nicht Wissenschaft sei. Dies gilt als der Mangel, der mit Unwissenschaftlichkeit gleichgesetzt wird. Das Sein als das Element des Denkens ist in der technischen Auslegung des Denkens preisgegeben. Die “«Logik»“ ist die seit der Sophistik und Platon beginnende Sanktion dieser Auslegung. Man beurteilt das Denken nach dem ihm unangemessenen Maß. Diese Beurtei‐ lung gleicht dem Verfahren, das versucht, das Wesen und Vermögen des Fisches danach abzuschätzen, wie weit er imstande ist, auf dem Trockenen des Landes zu leben.. . . Die Strenge des Denkens besteht im Unterschied zu den Wissenschaften nicht bloß in der künstli‐ chen, das heißt technisch-theoretischen Exaktheit der Begriffe. Sie beruht darin, dass das Sagen rein im Element der Wahrheit des Seins bleibt und das Einfache seiner mannigfaltigen Dimensionen walten lässt“. 15 Der Sinn des Seins des Rechts, auf dessen Suche die Rechtsphi‐ losophie ausgerichtet ist, ist die ontologische Voraussetzung jedes rechtlichen Seienden als solchem. Wie E. Wolf sagte: „Philosophie fragt nach dem Sein, Rechtsphilosophie nach dem Recht-Sein“. 16 Recht bleibt nur dann Recht, wenn es mit dem Sein verbunden ist, die Abwesenheit des Seins nivelliert das Recht. 17 Sofern der Sinn des Seins des Rechts der Gegenstand der Rechtsphilosophie ist, ist
15 Heidegger M. Brief über den Humanismus//Wegmarken. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1976. – S. 314–315. 16 Wolf E. Rechtsphilosophie// Rechtsphilosophische Studien. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, S. 69. 17 Козловський А.А. Право як пiзнання: Вступ до гносеологiї права. – Чернiвцi: Рута, 1999. – S. 205. [Kozlowskiy A.A. Law as Cognition: Prolego‐ menas to Gnoseology of Law. – Cherniwtsi: Ruta, 1999].
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ihr Schicksal – nicht die Erkenntnis von Recht als dem Seienden, sondern die Besinnung des Seins des Rechts. Dabei ist eine solche, Fragen stellende Besinnung – keine abstrakt-theoretische Tätigkeit des abgetrennten Einzelnen, sondern unsere gemeinsame Weise des Seins – die Existenz als das Miteinander-Sein. Dadurch stellt die Rechtsbesinnung nicht nur die existentielle Möglichkeit des Men‐ schen dar, sondern vielleicht sogar dessen Vorbestimmung. Wie M. Heidegger schrieb, „um den Menschen als Menschenwesen, nicht als Lebewesen zu denken, müssen wir allem zuvor darauf achten, dass der Mensch jenes Wesen ist, das west, indem es in das zeigt, was ist, in welchem Zeigen das Seiende als solches erscheint. Das, was ist, er‐ schöpft sich aber nicht im je gerade Wirklichen und Faktischen. Zu dem, was ist, d. h. zu dem, was des Seins her bestimmt bleibt, gehört ebenso, wenn nicht vorwiegend das, was sein kann, was sein muss, was gewesen ist. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das ist, insofern es in das “Sein“ zeigt und deshalb selber nur sein kann, insofern der Mensch sich überall schon zum Seienden verhalt”. 18 So ist, im Unterschied zur Rechtstheorie, die dogmatisch das Vor‐ handensein des Rechts als dessen Wirklichkeit, bzw. Validität, pos‐ tuliert, dasRecht auf der rechtsphilosophischen Ebene nicht aprio‐ risch und garantiert gegeben. Weil Recht als das, was sein kann und sein muss, nicht unbedingt ist oder sein wird. Auch die Tatsache, dass Recht war, deutet auf die Unstetigkeit der Existenz dieses Phä‐ nomens hin, indem es unterstreicht, dass das Sein des Rechts in der Vergangenheit keine Garantie dafür gibt, dass Recht auch un‐ bedingt in der Gegenwart oder in der Zukunft existieren wird. Inso‐ fern Recht ist (möglich, vergangen, sollend), kann es nicht, wie das Seiende, künstlich und kontrolliert aufgerufen werden. Dadurch ist das Sein des Rechts für die Rechtstheorie verschlossen. Somit besteht der fundamentale Unterschied zwischen der Rechtsphilosophie und der Rechtstheorie darin, dass die Rechts‐ theorie, die auf die Forschung des rechtlichen Seienden gerichtet ist, dogmatisch das Vorhandensein des Rechts postuliert, während die Rechtsphilosophie auf den Sinn des Seins des Rechts als eines Ursprungsphänomens gerichtet ist, welches nicht apriorisch exis‐
18 Heidegger M. Was heisst Denken? – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2002. – S. 153.
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tiert, sondern jedes Mal neu geboren wird und in dieser Hinsicht jedem Seiendem vorangeht und es rechtlich sein lässt. Dadurch bestreitet die Rechtsphilosophie nicht all die von der Rechtstheorie entwickelten rechtlichen Konstruktionen (u. a. Norm, Institut, Sachgebiet, Rechtssubjekt, rechtliche Tatsache), sondern postuliert deren Nachrangigkeit – die ontologisch-se‐ mantische Ableitung von denjenigen rechtlichen Phänomenen (vor allem, dem Sein des Rechts), die den Gegenstand des rechts‐ philosophischen Interesses darstellen. Deswegen darf Philosophie auch nicht auf Basis der Wissenschaft begründet werden. Wie der ukrainische Rechtswissenschaftler N. Kosjubra betont, wertet der nichtwissenschaftliche Status der Rechtsphilosophie nicht nur ihre Wichtigkeit nicht ab, sondern, ganz im Gegenteil, eröffnet erst die Möglichkeit zur Vertiefung unserer Kenntnisse über das Wesen des Rechts und seiner Rolle im Leben des Menschen. 19
Paragraph 3. Die deontologische Differenz des Rechts Die Abgrenzung der Rechtsphilosophie, auf die Besinnung auf das Sein des Rechts ausgerichtet, von der Rechtswissenschaft, dogma‐ tisch-funktional das rechtliche Seiende erforschend, gibt scheinbar einen Anlass, der rechtsphilosophischen Fragestellung u. a. „Ab‐ straktheit“ und „Lebensferne“ vorzuwerfen. Zugleich führt die Ana‐ lyse des Sachverhaltes in der modernen Rechtswissenschaft aus‐ drücklich zur Notwendigkeit, das Recht vom Sein ausgehend zu denken. Zur Konkretisierung dieser Aussage ist anzumerken, dass im Ge‐ gensatz zu den fachlichen Disziplinen, die mit großem Erfolg die Aufgabe bewältigen, zunehmend feinere rechtliche Konstruktionen zur Ordnung der sich entwickelnden gesellschaftlichen Verhältnisse zu erarbeiten, die fundamentale Rechtswissenschaft öfters nicht ge‐ nau sagen kann, worüber sie spricht und was sie eigentlich er‐ 19 Козюбра М. Спiввiдношення фiлософiї i загальної теорiї права: iсторiя i сучаснiсть// Фiлософiя права i загальна теорiя права. – No 1.–2012. – S. 113. [Kosjubra N. The Relations between Philosophy of Law and General Theory of Law: History and Modern//Philosophy and General Theory of Law. – No 1.–2012].
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forscht. Der Grund dafür liegt nicht nur in der rasant wachsenden Zahl von Varianten des Rechtsverständnisses, da, wie der russische Rechtswissenschaftler V. Tolstik sehr ausdrücklich betont, von kei‐ nem Pluralismus in der Herangehensweise an das Verständnis vom Recht die Rede sein kann, sofern man über Recht nicht als über ein real existierendes gesellschaftliches Ereignis denken kann. Jeder einzelne Wissenschaftler erforscht, was er will und bezeichnet es als Recht. 20 Viele rechtliche Konzeptionen, die irgendein Ereignis als Recht bezeichnen und es zu untersuchen trachten, sind oft nicht in der Lage, zu erklären, wie das als Recht wahrgenommene Phäno‐ men eigentlich existiert und was es möglich macht, es als solches zu betrachten. 21 Anders gesagt, wird nach einer wahren Bemerkung des ukrainischen Rechtswissenschaftlers P. Rabinowitsch, die Zuge‐ hörigkeit irgendwelcher Ereignisse zu den rechtlichen Phänomenen üblicherweise nicht bewiesen, sondern einfach nur postuliert. So wird das Pferd von hinten aufgezäumt, und das, was als Ergebnis am Ende der rechtsphilosophischen Forschung stehen sollte, wird einfach selbstverständlich als Ausgangspunkt hingenommen. 22 Das Beschriebene ist nicht nur in Bezug auf die klassischen Theo‐ rien des Naturrechts berechtigt, die das ständige Vorhandensein des Rechts in Form spekulativ-abstrakter, transzendentaler Ideen
20 Толстик В.Борьба за содержание права – важнейшее научное направление//Право України. К.: ТОВ «Видавничий дiм «Iн Юре», 2010. – No 4. – С.30. [Tolstik V. The Struggle about the Legal Content – The Most Im‐ portant Scientific Direction//Law of Ukraine. – No 4.–2010]. 21 Die genannte Situation ist nicht nur für die Rechtswissenschaft charakteristisch, sondern, wie M. Heidegger betont, für die Wissenschaft im Ganzen: „Das Wesen ihrer Bereiche, die Geschichte, die Kunst, die Dichtung, die Sprache, die Na‐ tur, der Mensch, Gott – bleibt den Wissenschaften unzuganglich. Zugleich aber fielen die Wissenschaften fortgesetzt ins Leere, wenn sie sich nicht innerhalb dieser Bereiche bewegten. Das Wesen der genannten Bereiche ist die Sache des Denkens . . . .Und dennoch gibt es in jeder Wissenschaft eine andere Seite, auf die sie als Wissenschaft niemals gelangen kann: das Wesen und die Wesensherkunft ihres Bereiches, auch das Wesen und die Wesensherkunft der Wissensart, die sie pflegt, und noch anderes. „Heidegger M. Was heisst Denken? – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2002. – S. 35–36. 22 Рабiнович П. Фiлософiя права: деякi «вiчнозеленi» наукознавчi сюжети//Право України. К.: ТОВ «Видавничий дiм «Iн Юре», 2011. – No 8. – S. 15. [Rabinowitsch P. Philosophy of Law: Some „Evergreens“ Scientifical Pic‐ tures. – No 8.–2011].
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von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit verteidigen und Recht zu äußerst allgemeiner Sammelbezeichnung für die Gesamtheit der im Bewusstsein ihrer Träger enthaltenen Vorstellungen vom Rich‐ tigen umwandeln. Auch der klassische rechtliche Positivismus, der sämtliche oben genannten Interpretationen des Rechts als grund‐ los und nichts mit der realen Wirklichkeit zu tun habend zurück‐ weist, war nicht in der Lage, auf die Frage zu antworten, wie genau positives Recht existiert. Die naive Antwort, dass die Existenz des positiven Rechts mit der Existenz des positiven Gesetzes gleichge‐ setzt werden muss, zwingt zu der sofortigen Anschlussfrage, wie es denn mit jenen Gesetzen aussieht, die zwar verabschiedet wurden, jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht angewendet werden – also mit den deklaratorischen, den veralteten, oder einfach denen, die von der gesellschaftlichen Praxis ignoriert werden? Ob sie ir‐ gendwo sonst existieren, außer auf dem Papier, auf dem sie aufge‐ schrieben wurden? Die nicht weniger naive Antwort, dass positi‐ ves Recht genau dann existiert, wenn es angewendet wird, bringt einen dazu, die nicht weniger naive Frage darüber zu stellen, was es denn heißt, das Gesetz anzuwenden? Soll man annehmen, dass auch der Verbrecher das Gesetz anwendet, indem er die Bestim‐ mung des entsprechenden Artikels des Strafgesetzbuches erfüllt, der die von ihm begangene Straftat beschreibt? Kann man sagen, dass die Menschen, die durch die Straßen flanieren, in den Cafés sitzen oder Geschenke einkaufen, den Vorschriften des Zivilrechts folgen, von denen sie in der überwiegenden Mehrheit keine Ahnung ha‐ ben? Es ist doch offensichtlich, dass ihr Verhalten nur zufällig mit den Forderungen des Zivilrechts übereinstimmt oder diesem wi‐ derspricht. Schließlich, wenn wir annehmen, dass das Zivilrecht als das regulierende Handeln von Amtspersonen (Beamten, Richtern, Anwälten, Polizisten) existiert, welche die entsprechenden Normen detailliert kennen und sich nach ihnen im Alltag richten müssen, beschränken wir dann die Existenz des Rechts nicht auf das äu‐ ßerst schmale Gebiet der Anwendung des Gesetzes? Denn wem, wenn nicht den Juristen, ist schließlich bekannt, dass zwischen einer einfachen Gerichtsentscheidung und der Erfüllung des Rechts (der realen Vollstreckung der Rechtsprechung) ein äußerst langer Weg liegt, und in den allermeisten Fällen kaum von einer strenger Über‐ einstimmung zwischen dem Handeln der Amtspersonen und den gesetzlichen Normen die Rede sein kann, wenn man die Komplexi‐
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tät, Widersprüchlichkeit und Verdrehtheit der Legislatur beachtet. Letztendlich sind auch die Positivisten nicht in der Lage gewesen, methodologisch konsequent an den erklärten Positionen der Reali‐ tät des Rechts festzuhalten, sondern mussten auf das metaphysische Postulat einer „Grundnorm“ zurückgreifen. Die Sache wird auch nicht mit dem Hinweis darauf gerettet, dass, trotz aller angeführten Tatsachen, die Rechtsordnung existiert, und die Menschen sich den sogenannten „sozialen Normen“ unterwer‐ fen, welche in die alltägliche Praxis als Bräuche impliziert sind, und das sogenannte „lebendige Recht“ ergeben. Die Vertreter solcher „objektivistischer“ (nach der Terminologie von S. Maksymov) Leh‐ ren (vor allem der soziologischen und historischen Schulen), die derartige Behauptungen verteidigen, waren niemals in der Lage, zu erklären, wie es möglich ist, auf der Ebene eines Brauchs (welcher immer eine komplexe Mischung aus moralischen, rechtlichen, reli‐ giösen und sonstigen sozialen Normen darstellt), einen rechtlichen Bestandteil auszugrenzen und zu lokalisieren. Denn dieselben Taten (z. B. die Enthaltung von aggressiver Gewalt) können in jeder kon‐ kreten Situation ganz verschiedene Gründe haben, angefangen mit moralischen Verboten bis hin zu religiösen Dogmen. Demzufolge lässt sich feststellen, dass sowohl der Rechtspositivismus und das Naturrecht als auch der Rechtsobjektivismus ihr Forschungsobjekt aus dem Blick verloren und methodologisch keine Chance haben, es wieder zurückzugewinnen, weil sie sich mit der „entgleitenden Realität des Rechts“ (J. Permjakow) befassen müssen. Das klassische Verständnis von Recht ist nicht in der Lage, überzeugend zu erklä‐ ren, was es dazu berechtigt, sein Forschungsobjekt als „Recht“ zu bezeichnen. Es hat sich geweigert, eine Erklärung für den rechtli‐ chen Charakter von Phänomenen zu suchen, und hat diese durch dogmatische Annahmen ersetzt. 23 Es ist daher notwendig, die Frage nach dem Sein des Rechts als der ontologischen Grundlage, die es erlaubt, über das Recht auf der Ebene eines konkreten Seienden zu
23 Die angeführte methodologische Situation hat der ukrainische Rechtswissen‐ schaftler M. Rabinowitsch treffend als „Flucht von Wesen“ bezeichnet. Рабiнович П.М. Методологiя правознавства: проблеми плюралiзацiї // Вiсник Академiї правових наук України. – 1995. – No 3. – S. 84. [Rabinowitsch P. Methodology of Legal Science: the Questions of Pluralisation//Papers of Legal Science Academy of Ukraine. – No 3.–1995].
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sprechen, neu zu stellen. Dazu müssen zunächst alle philosophischmethodologischen Voraussetzungen beschrieben werden, die zu der bestehenden Sachlage geführt haben, und gleichzeitig auch der Aus‐ weggang aus dieser andeuten. Es ist anzunehmen, dass alle oben beschriebenen rechtlichen Pa‐ radoxe als die methodologische Aufteilung der Bereiche des Seins und des Sollens, welche in Analogie zur allgemein-philosophischen ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem (Heidegger) steht, als die deontologische Differenz des Rechts bezeichnet wer‐ den kann. Mit anderen Worten geht das klassische Rechtsverständ‐ nis (wie der Rechtspositivismus und das Naturrecht) davon aus, dass das Recht jenes gewisse, ständig vorhandene Sollen ist, das die seiende Wirklichkeit reguliert und in ihr verkörpert werden muss. Nach einer richtigen Bemerkung von S. Maksymov ist solchem Recht ein sonderlicher Modus der Existenz eigen – „sein-sollend“. 24 Das Sein des Rechts als „sein-sollend“ bedeutet nicht nur, dass die Menschen sich ihm unterordnen sollen, sondern auch, dass solches Recht unumgänglich existieren „soll“. In diesem Fall besteht der Unterschied zwischen Rechtspositivis‐ mus und Naturrecht, das in einem solchen Kontext begriffen wird, nur darin, dass die Positivisten die Normen des positiven Rechts für ein „Sollen“ und die vorhandenen Gesellschaftsverhältnisse für ein „Sein“ halten. Gleichzeitig versteht das Naturrecht „Sollen“ als in einer speziellen transzendenten oder transzendentalen Welt lo‐ kalisiert (Bewusstsein, kosmische Ordnung u. a. m.), während die Phänomene der empirischen Welt (u. a. auch die positive Rechts‐ ordnung und die Gesetzgebung) sich als „Sein“ erweisen. Nicht an‐ ders ist die Sachlage in den objektivistischen Konzeptionen, wo eine gewisse abstrakte Verallgemeinerung, ein „Extrakt“ aus der Gesell‐ schaftspraxis, für das Sollen gehalten wird, während jede neue Tat (Sein) auf die Verhältnismäßigkeit ihm gegenüber geprüft werden muss. Somit ist die deontologische Differenz – Sein und Sollen – für die angeführten Fassungen des Verständnisses von Recht aus‐ schlaggebend. Dabei wird das, was man für Sein und für Sollen hal‐ ten muss, von den Forschern ausschließlich dogmatisch definiert, je 24 Максимов С.И. Правовая реальность: опыт философского осмысления. – Х.: Право, 2002. – S. 149. [Maksymov S. Legal Reality: Experience of Philosophical Reasoning. – Kharkiv: Pravo, 2002].
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nach Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Auslegung des Rechtsverständnisses. Wenn man also Heidegger paraphrasiert, lässt sich feststellen: „Alle Metaphysik samt ihrer Gegenspieler, dem Positivismus, spricht die Sprache Platons.“ 25 Bekanntlich wird als Metaphysik in der Philosophie des 20. Jahrhunderts das Zeitalter in der Geschichte europäischer Philosophie von Platon bis Nietzsche bezeichnet, wel‐ ches sich durch die Vergessenheit des Seins als der ontologischen Grundlage des Seienden und dessen Ersetzung durch eine gewisse höhere Idee kennzeichnet. 26 Dessen Folge ist die von Platon stam‐ mende Aufteilung der Welt in die sinnliche – empirische – Welt der Dinge und die übersinnliche Welt der Ideen, in der sich die erste in einer untergeordneter Beziehung zur zweiten befindet. Dementsprechend kann die Philosophie der Vorsokratiker, die Probleme auf Basis des Seienden erforscht hat, vormetaphysisch und die moderne Philosophie des 20–21. Jahrhunderts, die den Platonismus zu übertreffen versucht, postmetaphysisch genannt werden. Wird eine solche Einteilung auf die Rechtsphilosophie extrapo‐ liert, lässt sich leicht merken, dass die oben genannte deontolo‐ gische Differenz zwischen Sein und Sollen die Modifikation der schon erwähnten metaphysischen Opposition des Sinnlichen und des Übersinnlichen ist, welche wiederum die Folge des Vergessens des Seins als des Sinnes und der Grundlage des Seienden ist. Wie wir wissen, war es ebenfalls Platon, der eine solche Aufteilung erst‐ mals einführte, indem er der Welt der empirischen Ereignisse und Dinge den Bereich der Ideen (der Eidoi) entgegensetzte. Die Dinge unserer Welt stellen dabei nur eine unvollkommene Kopie dieser Ideen dar. Analog ist das auch beim Recht der Fall, wo die „ideale“, durch den Verstand begreifbare Realität des Sollens (Sein-Sollen) der „realen“ Welt des Seienden entgegengesetzt ist und Vorrang vor dieser hat. Das Sein des Rechts bleibt dabei vergessen, aus dem Spiel 25 Heidegger M. Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Den‐ kens//Heidegger M. Zeit und Sein. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 82. 26 Mende D. «Brief über den «Humanismus». Zu den Metaphern den späten Seins‐ philosophie// Thomae D. Heidegger. Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. – Stutt‐ gart-Weimar: J.B. Metzler, 2003. – S. 248.
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Paragraph 3. Die deontologische Differenz des Rechts
genommen, weil sich nicht das Sein als einzige Grundlage eines je‐ den Seienden als des rechtlichen erweist, sondern dessen Überein‐ stimmung mit einem gewissen höheren Sein (Gesetz, Idee, Grund‐ norm, Moralität u. a. m.), welches Sollen genannt wird. Insofern ein solcher Unterschied, von Platon bis hin zu den modernen Konzep‐ tionen des Positivismus und Neopositivismus, aktuell bleibt, kann eine solche Rechtsphilosophie als metaphysisch bezeichnet werden. Dementsprechend zeichnet sich auch der Plan der weiteren Unter‐ suchung ab. Vor allem ist es notwendig, die metaphysischen Denk‐ ansätze von Recht zu analysieren, um ihre wesentlichen Züge auf‐ zuzeigen. Solche Denkansätze können in Analogie zu den metaphy‐ sischen „vormetaphysisch“ genannt werden. Danach müssen wir zu einer Analyse der modernen Konzeptionen des Rechtsverständnis‐ ses übergehen, die das Recht außerhalb der Dichotomie von Sein und Sollen zu begreifen versuchen. Wenn wir die Grundzüge einer solchen – postmetaphysischen – Weise der Besinnung auf Recht aufgezeigt haben, können wir zu der adäquaten Fragestellung über‐ gehen, wie ursprünglich Recht ist, und nach der Antwort suchen. Dabei ist es notwendig, zuerst die wichtigsten Leitlinien der Phi‐ losophie von M. Heidegger auszulegen, die uns als philosophischmethodologische Grundlage der weiteren Fragestellung dienen wer‐ den.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als methodologische Grundlage der Rechtsbesinnung
Paragraph 1. Die Frage nach dem Sinn des Seins als Leitfrage der Untersuchungsthematik Bevor wir uns weiter mit der Besinnung auf Recht befassen, sollten wir die philosophischen und methodologischen Koordinaten um‐ reißen, unter denen diese Fragestellung stattfinden wird. Die Phi‐ losophie Martin Heideggers könnte uns solche Koordinaten liefern. Diese Wahl ist keinesfalls zufällig. Wie bereits gesagt, ist unsere Su‐ che untrennbar mit der Besinnung des Seins des Rechts verbun‐ den. Daher ist die Lehre Heideggers am besten geeignet, die Ziele zu erreichen, die wir uns gesetzt haben, weil der Sinn des Seins ihr unmittelbares Thema ist. Es sei darauf hingewiesen, dass Heideggers Philosophie nicht als ein fest umrissenes System von Ideen bezeichnet werden kann. So kam der deutsche Denker, der als katholischer Philosoph begann, im späteren Verlauf zur Phänomenologie und Hermeneutik der Faktizi‐ tät, um schließlich bei der Fundamentalontologie anzukommen. Nach der sogenannten „Kehre“ in der Mitte der 30er Jahre war Heideggers Denkweise dagegen überhaupt nicht mehr eindeutig identifizierbar, weshalb es die meisten Forscher bevorzugen, einfach vom „späten Heidegger“ in Abgrenzung zu seinen „früheren“ Werken zu sprechen. Zugleich, und trotz aller Windungen seiner Gedanken, verfolgte Heidegger während seines gesamten Schaffens dasselbe Ziel, näm‐ lich das Sein überhaupt zu reflektieren. Deswegen ist Heideggers Philosophie in ontologischer Hinsicht relevant, sowohl in ihren „späten“ als auch in ihren „frühen“ Varianten. 27 Insofern wir also 27 Heidegger M. Die Grundprobleme der Phänomenologie. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1989. – S. 15 ff.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
danach streben, uns ganzheitlich darauf zu besinnen, wie Recht überhaupt ist, interessiert uns die Weise, wie der deutsche Denker das Sein thematisiert und es zum Gegenstand der Besinnung macht. Dementsprechend wollen wir im Weiteren versuchen, sowohl die Art und Weise zu untersuchen, in der das Sein auf die Betrachtungs‐ ebene gebracht wird, als auch zu welchen Ergebnissen eine solche Aktion führt. 28 Wie Heidegger selbst betonte, hatten zwei Bücher in ihm das In‐ teresse für das Sein geweckt: Franz Brentanos „Von der mannigfa‐ chen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“ und „Logische Un‐ tersuchungen“ von Edmund Husserl. Die mannigfachen Bedeutun‐ gen des Seienden nach Aristoteles hatten den jungen Philosophen zum Nachdenken darüber gebracht, was dem Seienden trotz aller Unterschiede, die zwischen seinen mannigfaltigen Manifestationen bestehen, gestattet, Seiend zu sein und Solches zu bleiben. Ander‐ seits stand der in den „Logischen Untersuchungen“ postulierte Auf‐ ruf „zu den Sachen selbst“ Heidegger ebenfalls nah, denn er deutete darauf, dass das Sein nicht im Verlauf metaphysischer Spekulatio‐ nen offenbart werden kann, sondern durch den Rückgriff zu eben jener Wirklichkeit, in der jenes Seiende existiert. 29
28 Unserer Meinung nach wäre es angebracht, nicht zwei, sondern drei Phasen in Heideggers Philosophie zu unterscheiden. In der ersten Phase („SuZ“) denkt der „frühe“ Heidegger das Sein als das Sein des Seienden aus dem Horizont der Zeit. In der zweiten („seinsgeschichtlichen“) Phase wendet sich Heidegger der „Wahrheit des Seins“ zu, die sich durch das Seiende (des Menschen) ereignet. Aber erst in der dritten Phase seiner Philosophie (“ZuS“) überwindet Heideg‐ ger die metaphysische Implikation und denkt das sogenannte „reine“ Sein, d. h. ohne Abhängigkeit vom Seienden. In diesem Fall sind Sein und Zeit gleichür‐ sprüngliche Phänomene, die im Ereignis wurzeln. Vgl. dazu: Stovba A.V. The Phenomenon of Ereignis in Martin Heidegger’s Philosophy. Horizon. – No 11 (1). – 2022. – P. 276–297. Deshalb, sofern wir versuchen, das reine Sein des Rechts ohne Rückgriff auf das Rechtsseiende zu denken, sind wir gezwungen, uns nicht an den „frühen“ Heidegger und auch nicht an den Heidegger der „seinsgeschichtlichen Periode“ zu wenden, sondern an den „späten“ Heidegger, der methodische Grundlagen liefert, das Recht postmetaphysisch – als Rechts‐ ereignis, d. h. ohne Rückgriff auf das Rechtsseiende – zu erfassen. 29 Heidegger M. Mein Weg in die Phänomenologie//Heidegger M. Zeit und Sein. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 93 und auch: Heidegger M. Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens//Heidegger M. Zeit und Sein. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 76 usw.
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Paragraph 1. Die Frage nach dem Sinn des Seins als Leitfrage
Zugleich erscheint uns das Seiende nur dank dem Sein als etwas Verständliches. Laut F.-W. von Herrmann ist Sein in Bezug auf das Seiende das, was dem Seienden ermöglicht, Seiendes zu sein und sich als Seiendes zu zeigen. Aber als solches ist es zugleich das, ange‐ sichts dessen wir das Seiende, wenn wir uns nicht-wissenschaftlich oder wissenschaftlich darauf beziehen, (immer schon) vorweg ver‐ standen haben. 30 Eine radikale Frage nach dem Sinn des Seins setzt jedoch etwas mehr voraus als nur die Offenbarung der ontologi‐ schen Bedingungen der Möglichkeit einer Besinnung des Seienden, und zwar die Explikation dessen, wie die Besinnung des Seins selbst möglich ist. Genau deshalb greift Heidegger zum Sinn des Seins im Allgemeinen. Dabei ist es notwendig, zu unterstreichen, dass der Sinn als solcher für den deutschen Philosophen – und er bezieht sich dabei auch auf den Sinn des Seins – keineswegs mit der Bedeu‐ tung gleichgesetzt wird. Der Sinn, der alle möglichen Bedeutungen vorgibt, ist „das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird“. 31 Dadurch wird jede konkrete Bedeutung eines für sich ge‐ nommenen Seienden in dessen Sein als der Sinn dieses Seienden verwurzelt. Wenn etwa ein Seiendes – z. B. ein Automobil – eine rechtliche Bedeutung bekommt, sich also nicht nur als Fahrzeug, sondern als Beweisstück, Streitgegenstand oder Tatwaffe erweist, leiten sich diese Bedeutungen dieses konkreten Seienden von des‐ sen rechtlicher Seinsart ab, welche all diese möglichen Bedeutungen beinhaltet, die das Seiende als ein rechtliches haben kann. Dement‐ sprechend bedeutet, die Frage nach dem Sinn des einen oder ande‐ ren Phänomens zu beantworten, darauf hinzudeuten, „woher“ und „woraus“ wir es als solches verstehen. Wenn wir mit Heidegger das Seiende aus dem Sein heraus verste‐ hen, erweist sich das Sein an für uns als aus der Zeit zugänglich. Die Zeit offenbart sich als der gesuchte Sinn. Dadurch ergibt sich eine gewisse Kette: Der Sinn des Seienden ist das Sein, und dessen Sinn ist die Zeit. Dementsprechend muss im Weiterem untersucht wer‐
30 Херрманн Ф. фон Понятие феноменологии у Хайдеггера и Гуссерля: Сб./Пер. с нем. – Мн.: Пропилеи, 2000. – S. 46. [Von Herrmann, Fr.-W., Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl]. 31 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 151.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
den, auf welche Weise Sein und Zeit ins Betrachtungsfeld gezogen werden können.
Paragraph 2. Die ontologische Differenz von Sein und Seiendem Das Sein hat sich bei Heidegger also als die gemeinsame Wurzel erwiesen, um unterschiedliches Seiendes zu identifizieren. Im Ge‐ gensatz zur klassischen philosophischen Tradition, die im Sein ent‐ weder ein Attribut des Seienden, oder einen äußerst allgemeinen, abstrakten Begriff für die Totalität des Seins als Ganzes 32 sah, ver‐ steht der deutsche Denker Sein als das, was Seiendes zu Seiendem bestimmt bzw. als das, im Hinblick auf welches das Seiende, wie auch immer es erörtert wird, immer schon verstanden ist. 33 Doch obwohl uns das Sein die Möglichkeit eröffnet, uns auf das Seiende als solches zu besinnen, kann es selbst nicht im Rahmen der klassi‐ schen begrifflichen Analyse erfasst werden. „Das Sein ist hinsicht‐ lich des Seienden dasjenige, was zeigt, sichtbar macht, ohne sich sel‐ ber zu zeigen“. 34 Wenn wir sagen, „ein Tisch ist“, kann dieser Tisch als das Seiende leicht von uns gesehen werden, aber sein „ist“ als Sein lässt sich nicht mit den üblichen Mitteln der Sprache erfassen. Heidegger selbst unterstreicht, dass sich der „Begriff “ (im Sinne von „concept“) aus dem lateinischen „caupere“ ableitet, das wiederum „greifen“ bedeutet. Zugleich ist der begrifflich-kategorische Apparat der Wissenschaft, der darauf eingestellt ist, das Seiende in einem Begriff zu erfassen, nicht in der Lage, das Sein zu fixieren. In der Tat wird sich jede Definition, die festhält, dass etwas dieses und jenes ist, bezüglich des Seins unweigerlich als Tautologie erweisen, da das Sein nicht etwas ist, sondern dieses „ist“ selbst. So beinhaltet jede ontologische Besinnung notwendigerweise als philosophische und methodologische Komponente nicht das logi‐ sche und begriffliche, wissenschaftliche Denken, sondern die Phi‐ 32 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 2. 33 Op.cit. S. 6. 34 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 45.
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Paragraph 2. Die ontologische Differenz von Sein und Seiendem
losophie als Phänomenologie. Wie F.-W. von Herrmann schreibt, muss das, was es durch die Phänomenologie als eine Methode der Philosophie zu sehen geben muss, etwas sein, das sich nicht nur in der natürlichen und vorwissenschaftlichen Gegebenheit des Seien‐ den, sondern auch in der wissenschaftlichen Thematisierung des Seienden zeigt, etwas, das keineswegs durch die positive Wissen‐ schaft, sondern nur durch die Philosophie gesehen werden und zur Entdeckung und zum Sich-Zeigen führen kann. 35 Wie der deutsche Philosoph betont, ist dieses Besondere im Wesentlichen so, dass es sich zunächst und am häufigsten nicht zeigt, was im Gegensatz zu dem, was sich zuerst und am häufigsten zeigt, verborgen, aber zugleich im Wesentlichen zu dem gehört, das sich zuerst und am häufigsten zeigt, nämlich das, was seinen Sinn und seine Grundlage ausmacht. 36 Natürlich ist hier von einem Sein die Rede, das dem Sei‐ enden zwar gestattet, sich zu äußern, sich selbst aber nicht äußert, als ob es sich zugunsten des Seienden „verleugnen“ würde. Obwohl beispielsweise im Bereich des Rechts das Seiende – Gesetze, Ge‐ richte, Juristen, Beweise – ständig präsent ist, bleibt das Sein dieses Seienden, dank dem „ein Gebäude“ – ein Gericht, „ein Löffel“ – ein Beweisstück und „der Nachbar“ – ein Augenzeuge ist, zum größten Teil verborgen. Das Sein also, das der Sinn und die Grundlage des Seienden ist, ist selbst kein Seiendes. Diese Unmöglichkeit, Sein auf Seiendes zu beschränken, markiert Heidegger als die „ontologische Differenz“ zwischen dem, was ist (Seiendes) und dem „ist“ selbst – dem Sein des Seienden. 37 Die Ausgliederung des Seins war für den deut‐ schen Philosophen jedoch kein Selbstzweck, denn seine Fragestel‐ lung richtete sich weiter: auf den Sinn des Seins überhaupt. 38 Als 35 Херрманн Ф. фон Понятие феноменологии у Хайдеггера и Гуссерля: Сб./Пер. с нем. – Мн.: Пропилеи, 2000. – S. 44. [Von Herrmann, Fr.-W., Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl]. 36 Op.cit. S. 45. 37 Heidegger M. Die Grundprobleme der Phänomenologie. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1989. – S. 22. 38 Und nicht zum Sinn des abgetrennt genommenen Seienden (des Menschen, des Gottes). Genau deswegen kann Heideggers Philosophie weder als Anthropolo‐ gie noch als Existentialismus bezeichnet werde, für welchen die Suche nach dem Sinn des menschlichen Seins und nicht des Sein allgemein der Zweck ist. Op.cit. S. 21.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
solche expliziert Heidegger die Zeit, die als Verständnishorizont des Seins auftritt. 39 Dadurch führt Heideggers Weg „jenseits der On‐ tologie“, wo das Sein schon nicht mehr „die letzte Grundlage“ des Seienden ist. Nach einer treffenden Bemerkung des russischen Phi‐ losophen A. Tschernjakow verkehrt sich der tief in der Tradition verwurzelte und auf Parmenides zurückgehende Widerspruch zwi‐ schen Sein und Zeit, zwischen dem Seienden und dem Zeitlichen, zwischen dem Ewigen (eidetischen) und dem Vorläufigen, unver‐ sehens in sein Gegenteil. Jetzt wird die Zeit selbst, die sachgemäß besinnt ist, zur höchsten ontologischen Grundlage (meine Kursivie‐ rung, O.S.), welche das ganze System der fundamentalen philoso‐ phischen Begriffe in Bewegung bringt. 40 Wie F.-W. von Herrmann zeigt, ist das gesuchte Einfache in der Mannigfaltigkeit des Seins der allerhöchste Horizont, aus welchem wir das Sein des Seienden in dieser Mannigfaltigkeit verstehen. Das ursprüngliche Wesen der Zeit muss als das gesuchte Einfache des Seins offenbart werden. Die Frage nach diesem ermöglichenden Ursprung ist die Frage nach der Grundlage der traditionellen Ontologie. 41 Dementsprechend sei, et‐ was vorweggenommen angemerkt, dass auch das Recht in seinem Sein, auf welches wir uns zu besinnen versuchen, „jenseits“ der klas‐ sischen Rechtsontologie liegt. Es stellt als ein temporal-ontologi‐ sches Phänomen bereits nicht mehr die „substantielle Grundlage“ von Recht als etwas Seiendem dar, sondern eine temporal-ontologi‐ sche Konfiguration des Sich-Ereignens des Rechts. Eine solche Konfi‐ guration markieren wir als das rein rechtliche Sein, das sich von Sein des Rechts (Sein des rechtlichen Seienden) unterscheidet. Folglich gibt uns die Ausführung der ontologischen Differenz eine metho‐ dologische Grundlage, nicht die traditionelle Frage nach der „recht‐ lichen Substanz“ als Grundlage des rechtlich Seienden zu stellen, 39 Heidegger M. Sein und Zeit. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2001. – S. 17. 40 Черняков А.Г. Онтология времени. – СПб.: Высшая религиозная школа, 2001. – S. 15. [Tschernjakow A.G. The Ontology of Time. – SPb.: The Highest Religious School, 2001]. 41 Херрманн Ф. фон Временность вот-бытия и время бытия//Херрманн Ф. фон. Понятие феноменологии у Хайдеггера и Гуссерля: Сб.: Пер. с нем. – Мн.: Пропилеи, 2000. – S. 151. [Herrmann von F.-W. Zeitlichkeit des Daseins und Zeit des Seins. Grundsätzliches zur Interpretation von Heideggers Zeit-Analysen].
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Paragraph 3. Fundamentalontologie
sondern einen nächsten Schritt zu tun und zu versuchen, das Recht als ganzheitliches Ereignis des Seins des Rechts (Sein des rechtlichen Seienden) und des rechtlichen Seins zu besinnen.
Paragraph 3. Fundamentalontologie: Ein Versuch, ausgehend vom Dasein zum Sinn des Rechts durchzudringen Die ontologische Unterscheidung stellt dabei weder einen rein intel‐ lektuellen Vorgang noch eine bloße Feststellung von einem gewis‐ sen erstarrten Sachverhalt dar. Wie Heidegger unterstreicht: „(. . . ) wir haben gesehen, dass dieser Unterschied nie vorhanden ist, son‐ dern dass das, was er meint, geschieht.” 42 Dabei sind paradoxer‐ weise wir in unserem In-der-Welt-Sein und Mitsein, der Ort, wo dieser Unterschied stattfindet. „Den Unterschied in seiner termino‐ logischen und thematischen Prägung beiseite lassend wagen wir den wesentlichen Schritt, uns in das Geschehen dieses Unterscheidens, in dem er geschieht, zu versetzen. . . ”. 43 So wird das Dasein als „dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat“ 44 in unser Blickfeld eingeführt. Wie Heidegger aufzeigt, können wir die Frage nach dem Sinn des Seins nämlich gerade dank unserer besonderen Stellung als Seinsstruktur stellen, welche die Besinnung auf das Sein und das Seiende als solche beinhaltet. Die Möglichkeit der ontologi‐ schen Fragestellung, die aus uns selbst hervorgeht, bedeutet jedoch keine „Subjektivität“ des Seienden oder des Seins. Wie Heidegger selbst sagt: „Seiendes ist unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und Erfassen, wodurch es erschlossen, entdeckt und bestimmt wird. Sein aber „ist“ nur im Verstehen des Seienden zu dessen Sein so etwas wie Seinsverständnis gehört. Sein kann daher unbegriffen sein, aber es ist nie völlig unverstanden.“ 45 Folglich ist, wie wir sehen, Sein we‐ der „objektiv“ noch „subjektiv“, sondern etwas, das sich im Verlauf 42 Heidegger M. Die Grundbegriffe der Metaphysik. – Frankfurt am Main: Vitto‐ rio Klostermann, 1983. – S. 524. 43 Ibid. 44 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 7. 45 Op.cit. S. 183.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
der Besinnung als eine Seinsart des Daseins verwirklicht. Dadurch erweist sich unsere ontologische Verfassung, unser Dasein, nicht als etwas „skelettmäßiges“, das in unserem Körper eingeschlossen ist, sondern als Verfassung des Ereignisses der Seinsbesinnung, welches sich vermittels unserer selbst in unserem Mit-Sein und In-der-WeltSein verwirklicht. Es ist zu betonen, dass das erwähnte Ereignis der Seinsbesinnung keineswegs eine rein intellektuelle Operation ist, sondern die Seins‐ art „solches Seienden, welches je immer wir selbst sind – des Da‐ seins“. Denn das Sein begegnet uns jedes Mal eigentlich nur ver‐ mittels des Seienden. Und der Mensch trifft nicht etwa im Kabi‐ nett eines Philosophen zum ersten Mal auf Seiendes, sondern in sei‐ ner alltäglichen Ausrichtung auf die Welt, die der Freiburger Den‐ ker „Sorge“ nennt und die in sich gleichzeitig die Möglichkeit von Theorie und Praxis umfasst. 46 In der Sorge ist dem Menschen nach Heidegger schon immer implizit jener ganzheitliche Sinn vom Sein erschlossen, der ihn das Seiende verstehen lässt. 47 Bevor wir uns also auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins begeben, ist es notwendig, uns selbst in unserer ontologi‐ schen Verfassung, dem Dasein, zu analysieren, das uns den Zugang zum Sinn des Seins überhaupt erst eröffnet. 48 Die grundlegenden Anteile des Daseins sind das erschlossene In-der-Welt-Sein und das Mitsein mit Anderen. 49 Erschlossenheit ist die Bezeichnung jener Tatsache, dass das ganzheitliche Ereignis der Seinsbesinnung – das Dasein – als eine gegenseitige Erschlossenheit angelegt ist: wir der Welt erschlossen und die Welt uns. F.-W. von Herrmann spricht in diesem Zusam‐ menhang von der selbst-ekstatischen Erschlossenheit (von uns für die Welt) und der horizontalen Erschlossenheit (von der Welt für
46 Op.cit. S. 56, 192, 193 ff. 47 Op.cit. S. 192 ff. 48 So Heidegger, die „Ausarbeitung der Seinsfrage besagt demnach: Durchsich‐ tigmachen eines Seienden – des Fragenden – in seinem Sein. Das Fragen die‐ ser Frage ist als Seinsmodus eines Seienden selbst von dem Wesenhaft her be‐ stimmt, wonach in ihm gefragt ist – des Seins. Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein”. // Op.cit. S. 7. 49 Op.cit. S. 52, 114 ff.
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Paragraph 3. Fundamentalontologie
uns), die zusammen das Ganze ergeben. 50 Somit ist hier davon die Rede, dass die Welt sich uns nicht im Verlauf einer kognitiven Bezie‐ hung „eröffnet“, sondern uns aufgrund der Tatsache unseres In-derWelt-Seins immer schon zur Verfügung steht. Dadurch ist In-derWelt-Sein also keine einfache Bezeichnung dafür, dass wir unter an‐ derem Seienden in einer gewissen Gesamtheit namens „Welt“ exis‐ tieren, sondern bringt die immer schon vorhandene Erschlossen‐ heit, die Verfügbarkeit der Welt als jenes Ganzen für uns zum Aus‐ druck, aus dem wir jedes einzelne Seiende verstehen. Ebenso erweist sich das Mit-Anderen-Sein bei Heidegger nicht als bloße banale Feststellung, dass es außer mir noch andere Men‐ schen wie mich in der Welt gibt. Erstens ist die Welt, wie Heidegger betont, für mich als Einzelnen nicht erschlossen: Denn Dasein ist immer schon Mitdasein. 51 Zweitens unterstreicht das Sein-mit-An‐ deren, dass es niemals ein einsames „Subjekt“ gibt, das erst „da‐ nach“ Verbindungen zu anderen aufbaut, sondern dass „die An‐ deren“ tatsächlich ursprünglich in die Verfassung unseres Seins – des Daseins – eingetragen sind. Wie Heideggers Schüler, H.-G. Ga‐ damer schreibt, bedeutet Mitsein nicht die Koexistenz zweier Sub‐ jekte (d. h. nur das vorhandene Zusammensein, O.S.), sondern die ursprüngliche Seinsart im „Wir“-Modus, die die primäre Gemein‐ schaft meint, und nicht die Ergänzung eines „Ich“ durch ein be‐ stimmtes „Du“ 52. Daraus ergibt sich also, dass der Sinn des Seins für uns als in der Welt Koexistierende immer schon erschlossen ist. Die philo‐ sophische Aufgabe besteht darin, zu erklären, wie dies möglich ist, d. h. in der Thematisierung des Seinsverständnisses. Insofern also die existentielle Analytik von Dasein es ermöglicht, zu erklären, auf welche Weise der Sinn des Seins für uns verfügbar ist, sodass wir fä‐ hig sind, danach zu fragen, kann die Philosophie von M. Heidegger als „Fundamentalontologie“ charakterisiert werden. 53 Das Funda‐ 50 Херрманн Ф. фон Понятие феноменологии у Хайдеггера и Гуссерля: Сб./Пер. с нем. – Мн.: Пропилеи, 2000. – S. 59. [von Herrmann, Fr.-W., Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl]. 51 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 114, 118 ff. 52 Гадамер Х.-Г. Пути Хайдеггера: исследования позднего творчества. – Минск: Пропилеи, 2007. – S. 20. [Gadamer H.-G. Heideggers Wege: Studien zum Spätwerk]. 53 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 37.
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mentale dieser Ontologie besteht nicht darin, dass sie alle sonstigen Ontologien umfasst, sondern darin, dass sie – als die existentielle Analytik des Daseins – das Fundament für jede andere ontologische Untersuchung schafft. Wie Heidegger aufweist: „Wenn das Dasein aufgrund des zu ihm gehörigen Seinsverständnisses einen Vorrang in aller ontologischen Problematik hat, ist damit gefordert, es ei‐ ner vorbereitenden ontologischen Untersuchung zu unterwerfen, die das Fundament gibt für alle weitere Problematik, die die Frage nach dem Sein des Seienden überhaupt und dem Sein der verschiedenen Seinsbezirke in sich schließt. Wir kennzeichnen daher die vorberei‐ tende ontologische Analytik des Daseins als Fundamentalontologie. Vorbereitend ist sie deshalb, weil sie zur Aufhellung des Sinnes von Sein und des Horizontes des Seinsverständnisses erst hinleitet. Sie kann nur vorbereitend sein, weil sie erst das Fundament für eine radikale Ontologie gewinnen will.“ 54 Bekanntlich sind die wichtigsten Thesen der Fundamentalonto‐ logie in Heideggers Werk „Sein und Zeit“ (1927) dargelegt. Im Ver‐ lauf der Analyse der „ontologischen Verfassung jenes Seienden, das wir je selbst sind“ geraten ganz unterschiedliche Ereignisse in Hei‐ deggers Blickfeld; im Verlauf der Analyse von Schuld tangiert Hei‐ degger auch das Recht. 55 Wir werden darauf im weiteren Verlauf ausführlicher eingehen. Hier ist es notwendig, einen besonderen Akzent auf den Umstand zu legen, dass die Beschäftigung mit dem Dasein für Heidegger bloß einen Weg bedeutete, während sein Ziel die Ausarbeitung der Seinsfrage an sich 56 blieb, also der Übergang zur radikalen Ontologie, für welche die Fundamentalontologie nur als die Vorstufe diente.
54 Heidegger M. Die Grundprobleme der Phänomenologie. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1975. – S. 319. 55 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 281–282. 56 Op.cit. S. 436.
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Paragraph 4. Die postontologische Differenz
Paragraph 4. Die postontologische Differenz zwischen dem Sein des Seienden und dem Sein als solchem Es sei darauf hingewiesen, dass eine konsequente Ausführung der ontologischen Differenz und der Analyse des Daseins an sich uns nicht erlauben, von der Fundamentalontologie zur radikalen Onto‐ logie überzugehen. Wenn die Ausführung der ontologischen Diffe‐ renz (Sonderung des Seins vom Seienden) eine Vorbedingung der Fundamentalontologie darstellt, so bedarf die Entwicklung der ra‐ dikalen Ontologie einer Ausführung der Differenz „innerhalb“ des Seins selbst. Denn um Sein als solches zum Gegenstand der thema‐ tischen Analyse zu machen, muss es vorher von den verschiedenen Seinsarten des Seienden abgesondert werden. Bei seiner Beschäftigung mit dieser Aufgabe ändert Heidegger selbst die Herangehensweise an das Sein. „«Das Sein ohne das Sei‐ ende denken» besagt also nicht, dass dem Sein der Bezug zum Sei‐ enden unwesentlich ist, dass von diesem Bezug abzusehen wäre; er besagt vielmehr, das Sein nicht in der Art der Metaphysik zu den‐ ken“. 57 Wie Heidegger betont: „(. . . ) der Versuch, Sein ohne das Sei‐ ende zu denken, wird notwendig, weil anders sonst, wie mir scheint, keine Möglichkeit mehr besteht, das Sein dessen, was heute rund um den Erdball ist, (eigens) in den Blick zu bringen, geschweige denn das Verhältnis des Menschen zu dem, was bislang «Sein» hieß, hin‐ reichend zu bestimmen”. 58 Davon ausgehend schlägt der deutsche Philosoph im Anschluss an die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem vor, eine postontologische Differenz auszufüh‐ ren: zwischen dem Sein des Seienden und dem Sein als solchem, wenn letzteres jenseits der Aufgabe gedacht wird, das Seiende zu begründen. Wie sich an dem oben angeführten Zitat von Heidegger erkennen lässt, wird unter Sein weder eine Abstraktion noch ein spekulativer 57 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 41. 58 Heidegger M. Zeit und Sein. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 5–6.
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Gedanke verstanden. Denn die Aufgabe, sich auf das sich Ereig‐ nende als solches zu besinnen, impliziert ein Höchstmaß an Kon‐ kretheit, also eine Hinwendung zur Wirklichkeit selbst. Der deut‐ sche Philosoph beginnt mit folgendem Verweis: „Sein, dadurch jeg‐ liches Seiende als ein solches gezeichnet ist, Sein besagt Anwesen. 59 Es stellt nicht die vorhandene Gegebenheit des Seienden dar, son‐ dern – ganz wörtlich – ein „An-Wesen“, also das Ereignis der An‐ wesenheit am Eigentlichen des Ereignens. Gleichzeitig betont Hei‐ degger, dass „das Sein, es selbst eigens denken, verlangt, vom Sein abzusehen, sofern es wie in aller Metaphysik nur aus dem Seien‐ den her und für dieses als dessen Grund ergründet und ausgelegt wird“. 60 Mit anderen Worten, wenn man alles Seiende als solches und danach auch das Sein dieses Seienden reduziert, so bleibt als phänomenologischer Rest das reine „ist“, das „Ereignis“ selbst übrig. Dieses „einfach Sein“ lässt sich unmöglich weder aus dem Seienden noch aus der Zeit her reflektieren, sondern nur aus der Tatsache, dass es „ einfach“ ist – aus dem „Es gibt“. 61 Heidegger bleibt jedoch nicht bei der „bloßen“ Feststellung des Ereignens als solchem stehen, sondern strebt danach, dessen Ei‐ gentliches aufzuzeigen. 62 So sagt der deutsche Philosoph: „[. . . ] das Sein eigens denken, verlangt, das Sein als den Grund des Seienden fahren zu lassen zugunsten des im Entbergen verborgen spielenden Gebens, d. h. des Es gibt“. 63 Es wird möglich, diese ziemlich kom‐ plizierte Behauptung zu verstehen, wenn man berücksichtigt, dass für Heidegger weder Sein noch Zeit etwas Seiendes ist, weshalb von diesen Phänomenen nicht behauptet werden kann, dass sie sind. Wie der deutsche Philosoph aufzeigt, sind sowohl Sein als auch Zeit nicht, sondern „Es gibt“ sie. 64 Damit ist es nur dann möglich, den verborgenen Ursprung von Sein (und Zeit) zu finden, wenn man auf das unpersönliche „Es“ verweist, „aus welchem“ Sein und
59 60 61 62 63 64
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Op.cit. S. 9. Op.cit. S. 9–10. Op.cit. S. 10. Das “Eigentliche” ist nicht dasselbe wie reines “Wesen”. Ibid. Op.cit. S. 9; Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 47.
Paragraph 4. Die postontologische Differenz
Zeit „gegeben sind“. In Versuchen, das Ereignis zu reflektieren, legt Heidegger einen besonderen Akzent auf die Aktion des „Gebens“ von Sein und Zeit aus dem Unpersönlichen (Es), welches keine klas‐ sische „Grundlage“, „Substanz“ u. a. ist, sondern reines Ereignis als solches. Dabei darf wiederum „Ereignis“ nicht als ein „bloßer Pro‐ zess“ gedacht werden, sondern als das „Er-eignende“, als Herausge‐ hen („Hierophanie“) von Sein und Zeit. Die paradoxe Natur dieses „Ereignisses“ liegt darin, dass „im Verlauf “ des „Durchgehens“ und „Herausgehens“ bzw. Gebens dieses Geben selbst verborgen bleibt zugunsten dessen, „was“ gegeben ist, nämlich Sein und Zeit, die sich wiederum zugunsten des Seienden von dem „absagen“, das stets „vor Augen“ ist. Deshalb spricht Heidegger vom Geben als von dem „Ver‐ borgenen im Erschlossenen“, wobei unter „Erschlossenem“ Seiendes in seinem Sein verstanden wird. Natürlich ist Sein, wenn es ohne Bindung zum Seienden gedacht wird, nichts „Ewiges“ und Unbewegliches. Im Unterschied zu Parme‐ nides, nach dem das Sein „einfach ist“, akzentuiert Heidegger: „Sein ist nicht. Sein gibt Es als das Entbergen von Anwesen”. 65 Wie der Fluss von Heraklit ist also auch das Eigentliche von Sein als solches bei Hei‐ degger nicht „ständig vorhanden“, sondern verwirklicht sich jedes Mal neu in der Erschlossenheit des einen oder des anderen Wesens des Geschehens. Es wird möglich, sich auf diese Gegebenheit, „in“ der etwas geschieht, mittels Hinwendung zur Wandlungsfülle des Seins zu besinnen. „Ein Versuch, der Wandlungsfülle des Seins nachzusin‐ nen, gewinnt den ersten und zugleich wegweisenden Anhalt dadurch, dass wir Sein im Sinne von Anwesen denken“. 66 Mit anderen Worten führt die Besinnung auf das Eigentliche des Seins unabhängig vom Seienden dazu, dass wir nicht mit der vorhandenen Gegebenheit des idealen Eigentlichen von Sein konfrontiert werden, die als Idee oder Substanz den Kern der Metaphysik ausmacht, sondern mit dessen Ei‐ genem als dem erneuerbaren Ereignis des Erschließens des Eigentlichen des Geschehens. Wie wir bereits dargelegt haben, verwirklicht sich ein solches Ereignis vermittels des Daseins. Demzufolge ist das Eigene des „reinen Seins“ kein ewiger und unveränderlicher Pol der Identität der Erscheinung, die „Sein“ genannt wird, sondern das Ereignis des 65 Heidegger M. Zeit und Sein. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 10. 66 Ibid.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
Erschließens der Wandlungen des Seins des Seienden, in dem sich der Horizont für jede Möglichkeit des Eigentlichen des Ereignenden eröff‐ net. Und „das Wesen des Ereignenden“ selbst stellt in diesem Fall kei‐ nen rein intellektuellen Auszug aus den vorhandenen Begebenheiten dar, sondern eine temporal-ontologische Konfiguration, die das Ereig‐ nis in seinem sinnhaften Verhältnis identifizieren lässt. Sofern sich das Wesen des Ereignisses nicht selbständig ereignet, sondern durch uns in unserer ontologischen Verfassung (dem Dasein), dem erschlosse‐ nen In-der-Welt-Sein und dem Mitsein, ist es für uns kraft dieser Be‐ teiligung immer schon verfügbar. Dadurch impliziert der Übergang zur radikalen Ontologie und der Vollzug der postontologischen Dif‐ ferenz in keiner Weise eine Abkehr von der Fundamentalontologie, die sich als existentielle Analytik des Daseins für die radikale On‐ tologie als notwendig erweist. Kraft der „apriorischen Einbettung“ des Menschen ins Ereignis selbst als das Ereignis der Verwirklichung des Seins erhält die radikale Ontologie paradoxerweise das ontische Fundament. Wie A. Tschernjakow schreibt, ist der Bezugspunkt der Ontologie bei Heidegger das Seiende, welchem die Besinnung auf das Sein eigen ist und welches kraft dieser besonderen Verfassung des Seins dazu fähig ist, in Beziehungen mit dem Seienden einzutreten, das „wir je selbst sind“ – dem Dasein. Deswegen muss die Ontologie eine ontische Grundlage (oder wenigstens einen ontischen Anfang) haben. 67 Bezogen auf das Recht eröffnen solche Konstruktionen me‐ thodologische Möglichkeiten, nicht mehr nach dem „idealen Wesen“ des Rechts als Seiendem zu suchen, sondern nach der besonderen „rechtlichen“ Konfiguration des Ereignisses, in der die Möglichkeit der Identifikation jedes Seienden in seinem rechtlichen Sein wurzelt. Die Ausführung der postontologischen Differenz ist also eine Art Analogie zur phänomenologischen Reduktion, sie „reinigt“ endgül‐ tig das Sein vom Seienden und gibt uns die Möglichkeit, nicht ein‐ fach nach dem Sinn des Seins des Seienden zu fragen, sondern Sein als solches zu reflektieren. Dabei lässt sich Sein als die Erschlossen‐ heit der Anwesenheit (im Unterschied zum Sein des Seienden) nicht mehr aus der Zeit, als dem „Verständnishorizont des Seins“ verste‐ hen, sondern erweist sich als gleichursprünglich mit der Zeit. Daher 67 Черняков А.Г. Онтология времени. – СПб.: Высшая религиозная школа, 2001. – S. 17. [Tschernjakow A.G. The Ontology of Time. – SPb.: The Highest Religious School, 2001].
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Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis
ist die Zeit, wie bereits erwähnt, nicht dem Sein entgegengesetzt, sondern tritt als alternative ontologische Grundlage auf. Dadurch wird die klassische substantielle Ontologie durch die temporale On‐ tologie ersetzt. 68 Das Postulat von der Zeit als vom gesuchten Sinn des Seins des Seienden bedarf jedoch der Erklärung, auf welche Weise sich die Zeit selbst als mit dem Sein verbunden erweist. Mit anderen Worten: Der Horizont der radikalen Ontologie umfasst sowohl die „klassi‐ sche Ontologie“ des Seins des Seienden als auch die „nicht-klassi‐ sche“ temporale „Ontologie“, in der Sein und Zeit nicht aufeinander zurückführen, sondern gleichursprünglich sind. Deswegen wird das Erfragen der Quelle notwendig, in der sowohl Zeit als auch Sein ihren Anfang nehmen. Als einen solchen Ursprung, hinter dem es nichts mehr gibt, denkt Heidegger das Phänomen, das er „Ereignis“ nennt.
Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis Ähnlich wie die Rechtsphilosophie, die sich nicht mit dem unmit‐ telbar gegebenen Recht zufriedenstellen kann, sondern stets darum bemüht ist, „hinter“ dieses zu blicken und die ontologischen Bedin‐ gungen seiner Möglichkeit zu offenbaren, versucht auch Heideggers spätes Denken Licht darauf zu werfen, wodurch Sein und Zeit über‐ haupt stattfinden können. Dadurch ist die Zeit, die in „Sein und Zeit“ als der Sinn des Seins bezeichnet wird, für den deutschen Philoso‐ phen nicht die Antwort und der Endpunkt der Fragestellung an sich, sondern nur die Benennung der Frage selbst. „Der Name «Zeit» ist der Vorname für das, was später «die Wahrheit des Seins» hieß.“ 69 Bekanntlich hat Heidegger die Wahrheit des Seins mit dem grie‐ chischen Wort ’αλήθεια bezeichnet. In Heideggers Vorlesungsreihe
68 In ähnlicher Weise führt unser Versuch, das Rechtsereignis postmetaphysisch – jenseits der Dichotomie von Sein und Sollen – zu denken, dazu, dass wir uns dem „späten” Heidegger zuwenden, der im Zuge der Erfassung des Ereignisses in „Zeit und Sein” ausreichende methodische Gründe dafür liefert. 69 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 36.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
über Parmenides wird ’αλήθεια wörtlich als „Unverborgenheit“ übersetzt. 70 Wie der Philosoph in Bezug darauf zeigt: „«Wahrheit» ist niemals «an sich», von selbst vorhanden, sondern erstritten“, 71 d. h., sie wird zurückgewonnen, wiedergegeben. Jedoch wird die‐ ses Wahrheitsverständnis vom Sein, das unter den Vorsokratikern herrschte, unerwarteterweise in der griechischen Klassik transfor‐ miert. Wie Heidegger bemerkt: „Seit Platon und vor allem durch das Denken des Aristoteles vollzieht sich innerhalb des griechischen Wesens der ’αλήθεια ein Wandel, zu dem in gewisser Hinsicht die ’αλήθεια selbst nötigt. . . Für dieses Verhalten gebraucht Aristote‐ les das Wort ’αλήθευειν: im erscheinen-lassenden Sagen entbergend an das Unverborgene sich halten. Dieses sich daran haltende Über‐ einkommen mit dem Unverborgenen heißt griechisch ὁµοίωσις das entbergende Entsprechen, das das Unverborgene ausspricht. Die‐ ses Entsprechen nimmt und hält das Unverborgene als das, was es ist.“ 72 Genau in diesem Sinne haben die Römer die Wahrheit ver‐ standen, die ’αληθεια als veritas übersetzt haben. Im Unterschied zu „’αληθεια“ ist „veritas“ eine Aussage über das eine oder andere Seiende, die auf Grundlage von einheitlichen Kriterien gemacht wird und mit Informationen über das untersuchte Phänomen arbei‐ tet, die im Verlauf eines formalisierten Beweisverfahrens gewonnen werden. Heidegger hebt hervor: „(. . . ) seit dem frühen Mittelalter ist auf dem Wege über das Römische die als ὁµοίωσις präsentierte ’αληθεια zur adaequatio geworden. Veritas est adaequatio intellectus ad rem. Im Sinne dieser Umgrenzung des Wesens der Wahrheit als Richtigkeit denkt das gesamte abendländische Denken von Platon bis zu Nietzsche. Diese Umgrenzung des Wesens der Wahrheit ist der Wahrheitsbegriff der Metaphysik, genauer, diese hat ihr Wesen aus dem so bestimmten Wesen der Wahrheit. Aber dadurch, dass die griechische ὁµοίωσις zur rectitudo wird, verschwindet der für Platon und Aristoteles noch in der ὁµοίωσις wesende Bereich der ’αληθεια, der Entbergung.” 73 Dementsprechend ändert sich auch das Verständnis von Wahrheit, darunter ebenso im Recht. Wahrheit 70 Heidegger M. Parmenides. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1992. – S. 16. 71 Op.cit. S. 25. 72 Op.cit. S. 72. 73 Op.cit. S. 73.
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Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis
ist jetzt nicht mehr etwas Individuelles, das sich in seiner Offen‐ sichtlichkeit äußert, sondern „bewiesen“, festgelegt und an das im Gesetz beschlossene „Allgemeine“ angepasst. Ein solches „rechtli‐ ches“ Wahrheitsverständnis – veritas als Wahrheit vom Seienden – herrscht nicht nur im klassischen Rechtsverständnis, sondern auch in der gesamten Metaphysik. Zugleich ist die Wahrheit des Seins, ge‐ nommen als ’αληθεια, untrennbar mit dem Recht verbunden. Noch bei Parmenides bewahrt keine andere als die Göttin Dike den Zu‐ gang zur ’αληθεια. Wie der deutsche Rechtsphilosoph E. Wolf zeigt, „als Hore ist sie (Dike, O.S.) eine lichte und lichtende, aufhellende, ins Licht stellende und das Verborgene (Unrecht) entdeckende, auf‐ deckende und enthüllende Göttin. Darin gleicht ihr Wesen dem der «Aletheia» dem göttlichen Wesen der «Unverborgenheit» (Wahr‐ heit), zu deren Sitz Dike nach dem Bericht des Parmenides allein den Zugang öffnet und schließt.“ 74 Die Suche nach der Wahrheit des Seins als ’αληθεια ist nach Hei‐ degger die Sache des Denkens, die in jeder echten Philosophie vor‐ herrscht und ihr die Bewegungsrichtung vorgibt. Da eine solche Wahrheit keine erstarrte „Übereinstimmung unserer Vorstellungen von der objektiven Realität“ ist, sondern eine dynamische Verwirk‐ lichung von Sein und Zeit in ihrem Wesen, wird nach Ansicht des deutschen Philosophen das Streben nach einer solchen Wahrheit am deutlichsten in Husserls bekanntem Aufruf „Zu den Sachen selbst!“ formuliert. 75 Wie Heidegger zeigt; „[. . . ] wenn wir nach der Aufgabe des Denkens fragen, dann heißt dies im Gesichtskreis der Philo‐ sophie: dasjenige bestimmen, was das Denken angeht, was für das Denken noch strittig, der Streitfall ist. Dies bedeutet in der deut‐ schen Sprache das Wort «Sache». Es nennt das, womit im vorliegen‐ den Fall das Denken zu tun hat [. . . ]“. 76 Sowohl in der deutschen als auch in der ukrainischen Sprache hat das Wort „Sache“ eine rechtliche Konnotation. „Der Ausdruck 74 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 36–37. 75 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 54. 76 Heidegger M. Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Den‐ kens//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 75.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
«Sache», «Sache des Denkens», der im Vortrag („Zeit und Sein“, O.S.) mehrfach vorkomme, bedeute, ausgehend vom alten Wort‐ sinne (Sache=Rechtsfall, Rechtsstreit), den Streitfall, das Strittige, das, worum es sich handelt.“ 77 Tatsächlich kann ein Ereignis nur dann zur Sache sowohl im Sinne der Rechtsprechung als auch im Sinne des Seins werden, wenn Unklarheit herrscht, etwas geklärt, ans Licht gebracht, offenbart werden muss. In rechtlicher Hin‐ sicht kann eine solche Unklarheit bedeuten, dass die Identität des Täters, bestimmte Tatumstände, eine verhältnismäßiges Strafmaße u. a. verborgen sind. Auf der Ebene des Seins erweist sich die Ver‐ borgenheit als inhärentes Merkmal des Ereignisses selbst. „Das Er‐ eignis ist in ihm selber Enteignis, in welches Wort die frühgriechi‐ sche «λήθη» im Sinne des Verbergens ereignishaft aufgenommen ist.“ 78 Dadurch tritt die „Sache“ als Bezeichnung des streitenden Charakters der Wahrheit des Seins an den Tag, welches nicht „in sich“ vorhanden ist, sondern sich als Wechsel von Erschlossenheit und Verborgenheit ereignet. Damit das Denken also eine echte philosophische Sache bleibt, muss es sich in den oben erwähnten Streit, den „Streit um das Sein“ (A.W. Achutin), einmischen. Die Wahrheit des Seins stellt gerade wegen der vorherrschenden Seinsvergessenheit in der Metaphysik etwas Umstrittenes dar. Bevor man also, so der späte Heidegger, die Frage nach der Wahrheit des Seins, nach dem Wesen von Sein und Zeit und deren Zusammenhang stellt, muss man die Seinsverges‐ senheit ins Licht rücken, die die Metaphysik seit zweieinhalb Tau‐ send Jahren beherrscht. Hierbei ist zu betonen, dass es sich bezüglich der Seinsvergessen‐ heit um eine doppelte Verborgenheit handelt. So ist zunächst die Vergessenheit selbst verborgen. Mit anderen Worten, wenn wir den Mangel an Sein nicht verspüren, der im Falle dessen bloßer Ver‐ gessenheit gegeben wäre, bedeutet dies, dass uns die Tatsache des Seinsverlustes selbst ebenfalls verborgen ist. Dies geschieht infolge der Ersetzung des Seins durch das Seiende. Wie der kanadische Phi‐ losoph J. Grondin betont, ist der Grund dafür, dass das Sein uns 77 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 46. 78 Op.cit. S. 50.
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Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis
nicht vom Schlafen abhält, einfach: Es wird nur noch das Seiende berücksichtigt, weil eben nur mit dem Seienden gerechnet werden kann. Das, womit wahrlich gerechnet wird, ist tatsächlich eine „Be‐ rechnung“, eine Kalkulation, also das Bestreben danach, Seiendes in Verfügung zu bringen, das dem Willen des zum Subjekt geworde‐ nen Menschen unterworfen ist. Allein das Seiende gibt dem Projekt einer solchen Herrschaft nach. Das Sein jedoch entzieht sich dem herrischen Griff, indem es zeigt, dass es von vornherein in keine Verfügung gestellt werden kann und damit die Endlichkeit des her‐ rischen Willens beweist. 79 Seinsvergessenheit stellt auch keinen „Denkfehler“ der Philoso‐ phen in Folge deren „Liederlichkeit“ dar. Wie der deutsche Forscher G. Seubold schreibt: „[. . . ] man nimmt die «Gabe» Sein an, ohne sich um den «Geber», das Ereignis, zu kümmern. Dieses «Verges‐ sen» aber liegt nach Heidegger in der Struktur der Sache selbst und ist keine bloße Unachtsamkeit des Menschen.“ 80 Daraus kann man Folgendes schließen: „[. . . ] die Verbergung des Seins gehört als de‐ ren Privation zur Lichtung des Seins. Die Seinsvergessenheit, die das Wesen der Metaphysik ausmacht und die zum Anstoß für «Sein und Zeit» wurde, gehört zum Wesen des Seins selbst. Damit stellt sich für ein Denken an das Sein die Aufgabe, Sein so zu denken, dass die Vergessenheit ihm wesentlich zugehört.“ 81 Die Erfüllung einer solchen Aufgabe wird im Verlauf der Be‐ sinnung des Ereignisses möglich. Denn das Ereignis „verwirklicht“ buchstäblich das Sein, d. h. es bringt es nicht nur ans Licht, son‐ dern entfremdet und verbirgt es auch. Da das Ereignis das Sein, also nur bestimmte „Seinsarten“, „verwirklicht“, schlägt es andere Möglichkeiten des Seins aus – keine konkrete andere Möglichkeit, sondern viele andere Möglichkeiten. Dabei schließt das berech‐ nende Denken nicht nur andere Möglichkeiten aus, sondern ver‐ 79 Гронден Ж. Поворот в мышлении Мартина Хайдеггера. – Спб.: «Русский миръ», 2011 – S. 176. [Grondin J. Le tournant dans la pensée de Martin Heidegger]. 80 Seubold G. Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun//Thomae D. Heidegger. Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. – Stuttgart-Wei‐ mar: J.B. Metzler, 2003. – S. 304. 81 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 37.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
kennt auch jenen spezifischen Seinsmodus, in dem es sich „ver‐ wirklicht“. Eben dieser Sachverhalt problematisiert die Wahrheit des Seins und macht sie als „Sache“ zum Objekt der philosophischen Untersuchung. Wie bereits gesagt, stellt die „Sache“ als Wahrheit des Seins in ihrem Wechsel von Erschlossenheit und Verborgenheit („Streitbar‐ keit“) keinen vorhandenen „Sachverhalt“ dar, den man bloß „er‐ schließen“ oder auffinden muss. Ähnlich dem, wie das Sein im Un‐ terschied zum Seienden nicht einfach „ist“, sondern „sich verwirk‐ licht“, „besteht“ auch die Wahrheit des Seins nicht bloß, sondern „ereignet sich“. Diese Wahrheit des Ereignisses als „Lichtung“ des Seins bekommt bei Heidegger den Titel „Ereignis“. Auf diese Weise verschmelzen die Frage nach der Zeit als dem gesuchten Sinn des Seins und das Problem der Wahrheit des Seins beim späten Heideg‐ ger in der Besinnung auf das Ereignis. „Das Sein verschwindet im Ereignis“. 82 „«Ereignis» ist immer auch «Enteignis».“ 83 „Indem Sein als Ereignis in den Blick kommt, verschwindet es als Sein.“ 84 Wie in der Fachliteratur mehrfach betont wurde, sollte „Ereig‐ nis“ nicht in Analogie zu „Vorkommnis“, „Geschehen“ oder ande‐ ren ähnlichen Erscheinungen gedacht werden. 85 Das Ereignis ist bei Heidegger der Ursprung sowohl der Zeit als auch des Seins. Inso‐ fern ein „Ereignis“ kein bestimmtes Seiendes darstellt, „ist“ es nicht, sondern „ereignet sich“. Es „verwirklicht“ im Verlauf seiner „Ereig‐ nung“ das Sein und „zeitigt“ die Zeit. Wie der deutsche Philosoph G. Seubold hervorhebt, bedeutet Ereignis für Heidegger ursprünglich «er-äugen», «er-blicken», in den Blick rufen, „an-eignen“, verstehen. Das sagt dem Nichteingeweihten nicht viel. Das Ereignis hat keine Eigenschaften, so wie ein Ding oder eine Substanz Eigenschaften hat. Das Ereignis ereignet das Sein und die Zeit, die für unseren 82 Seubold G. Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun//Thomae D. Heidegger. Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. – Stuttgart-Wei‐ mar: J.B. Metzler, 2003. – S. 302. 83 Op.cit. S. 304. 84 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein”//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 52. 85 Seubold G. Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun//Thomae D. Heidegger. Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. – Stuttgart-Wei‐ mar: J.B. Metzler, 2003. – S. 302.
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Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis
Umgang mit allem Seienden „verantwortlich“ sind. 86 Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das Ereignis gleichursprünglich die Möglichkeit sowohl der Erschlossenheit als auch der Verborgenheit (λήθη und ’αλήθεια) umfasst. Darin besteht eben sein „streitbarer“ Charakter, der es zur „Sache“ des Denkens macht. Dadurch kann die Besinnung auf das Sein nur in dem Falle fruchtbar sein, wenn man nicht nach seinem „Eigentlichen“ fragt, sondern nach seinem „Wesen“ als „Sache“, welche nicht nur als Ausdruck der Streitbarkeit des Ereignisses dient, sondern es auch als etwas Ganzes zusammen‐ hält. Wie bereits gesagt wurde, bilden Zeit und Sein das Gerippe des Ereignisses. Sowohl Sein als auch Zeit sind nicht „etwas, das exis‐ tiert“. Wie Heidegger hervorhebt, ist Sein eine Sache, die die Sache des Denkens impliziert, während die Zeit eine Sache des Denkens ist, wenn in dem Sein als Anwesenheit noch etwas wie Zeit spricht. Sein und Zeit, Zeit und Sein nennen das Verhältnis beider Sachen, den Sachverhalt, der beide Sachen zueinander hält und ihr Ver‐ hältnis aushält. Diesem Sachverhalt nachzusinnen, ist dem Denken aufgegeben, gesetzt, dass es gesonnen bleibt, seine Sache auszuhar‐ ren. 87 „Das Wort «Sache», «eine Sache» soll uns jetzt solches be‐ deuten, worum es sich in einem maßgebenden Sinne handelt, so‐ fern sich darin etwas Unübergehbares verbirgt“. 88 Daraus lässt sich schließen, dass das Maß sowohl für die Zeit als auch für das Sein von eben jener „Sache“ vorgegeben wird, die wir zuvor als etwas „Streitbares“ bezeichnet haben. Wie bereits gesagt, besteht die „Streitbarkeit“ bzw. „Sachlichkeit“ des Ereignisses darin, dass es gleichursprünglich sowohl „Vergehen“, d. h. Verschwinden, Verborgenheit, als auch „Ausgehen“, Entstehen, Auftreten umfasst. Dadurch wird im Ereignis, aufgrund des Wesens der Sache als „Ereignung“, sowohl dem Sein als auch der Zeit, die traditionell aus dem Vorhandensein bzw. der Anwesenheit definiert werden, das Maß des Auftretens und Verschwindens, der Verbor‐ genheit und des Erschließens vorgegeben. Das Wesen von Zeit und Sein wird nicht als statische Wesenheit, sondern als dynamischer 86 Ibid. 87 Heidegger M. Zeit und Sein. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 8. 88 Ibid.
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Kapitel 2. Die Philosophie von Martin Heidegger als Grundlage
Fluss aus der Verborgenheit zum Erschließen und zurück gedacht. „Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d. h. in ihrem Zusammen‐ gehören bestimmt, nennen wir: das Ereignis“. 89 Ereignis als Sache beinhaltet das Maß von Sein und Zeit. Dieses Maß wird nicht vorgeschrieben, sondern im „Es gibt“ von Zeit und Sein als deren Verhältnis „vor-gegeben“. Nach Heideggers Worten: „(. . . ) was beide Sachen zueinander gehören lässt, was beide Sachen nicht nur in ihr eigens bringt, sondern in ihr Zusammengehören verwahrt und darin hält, der Verhalt beider Sachen, der Sach-Ver‐ halt, ist das Ereignis. Der Sach-Verhalt kommt nicht nachträglich als aufgestocktes Verhältnis zu Sein und Zeit hinzu. Der Sach-Ver‐ halt ereignet erst Sein und Zeit aus ihrem Verhältnis in ihr Eigenes, und zwar durch das im Geschick und im lichtenden Reichen sich verbergende Ereignen. Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im «Es gibt Sein», «Es gibt Zeit», als das Ereignis.“ 90 Ausgehend von der Wahrheit des Seins, die die Zeit als den Ver‐ ständnishorizont der Bedeutung des Seins ersetzt, sind wir also zu dem Punkt gekommen, dass sowohl Sein als auch Zeit gleichur‐ sprünglich im – „metaontologischen“ – Phänomen, das als Ereig‐ nis bezeichnet wird, verwurzelt sind. Aus diesem „Ereignis“ geht sowohl Zeit als auch Sein hervor, in ihm geschehen sie auch. Da‐ durch ist das Ereignis nicht einfach ein gewisses „Vorkommnis“ oder ein gewisser „Sachverhalt“, sondern das maßgebende Verhältnis von Sein und Zeit in ihrem Eigentlichen. Diese „reine Gegebenheit“ von Sein und Zeit ist diejenige „Vor-gegebenheit“, welche jedem Sei‐ enden, das in das eine oder andere Ereignis verwickelt ist, seinen Seinsmodus vorgibt. Mit anderen Worten, ist eine bestimmte Seins‐ art durch nichts anderes bedingt, als durch eine bestimmte Konstella‐ tion von Sein und Zeit, die als ein Ereignis der entsprechenden Art – rechtlich, moralisch, militärisch u. s. w. – konfiguriert ist. Wie bereits gesagt, verwirklicht ein sich ereignendes Ereignis das Sein auf eine bestimmte Art, und „sperrt“ dadurch zeitweilig andere Möglichkei‐ ten vom Sein des Seienden „aus“. So wird z. B. der rechtliche Charak‐ ter eines Ereignisses, der jedes darin verwickelte Seiende in Bezug auf das Recht relevant macht, durch jene Besonderheiten von Sein
89 Op.cit. S. 24. 90 Ibid.
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Paragraph 5. Die radikale Ontologie: das Ereignis
(Ontologie) und Zeit (Temporalität) bestimmt, die seinen „recht‐ lichen“ Aufbau „zusammen-setzen“. Dementsprechend kann man vermuten, dass der gesuchte Ursprung des Rechts als die temporalontologische Bedingung der Möglichkeit von Sein des Seienden als des Rechtlichen diese besondere Konstellation von Sein und Zeit ist, welche man – bedingt und vorläufig – das rechtliche Ereignis nennen kann. Zugleich, insofern jedes Ereignis eine „Sache“, also etwas „Streit‐ bares“, darstellt, enthält jedes rechtliche Ereignis die gleichur‐ sprünglichen Möglichkeiten sowohl des Ereignens des Rechts, der Verwirklichung des Rechts und des rechtlichen Seins aus dem rechtlichen Zeithorizont heraus, als auch, dass Recht sich aus ir‐ gendwelchen Gründen nicht verwirklicht bzw. nicht ereignet. Unser Versuch, das Recht in seinem Sein aus dem Zeithorizont heraus zu reflektieren, fragt also nicht nach dem ewigen und unveränderli‐ chen „Wesen“ der „Erscheinung“ (des Rechts) und auch nicht nach der rechtlichen Zeit als dem Sinn des Seins des rechtlichen Seien‐ den, sondern strebt danach, jene „dynamische Sinnkonfiguration“ des Ereignisses zu offenbaren, die Anlass dafür gibt, das Ereignis als rechtlich relevant zu denken. Diese Konfiguration bezeichnen wir als eben jene „Sache“, der wir begegnen, wenn wir in ein rechtliches Ereignis verwickelt sind. Die Ausarbeitung dieser Hypothese wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein.
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TEIL II Die metaphysische und vormetaphysische Rechtsbesinnung
Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht, beruhend auf der deontologischen Differenz zwischen Sein und Sollen
Zu fragmentisch ist Welt und Leben, Ich will mich zum deutschen Professor begeben, Der weiß das Leben zusammen zu setzen, Und er macht ein verständlich System daraus; Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen Stopft er die Lücken des Weltenbau’s H. Heine, «Zu fragmentisch ist Welt und Leben . . . »
Paragraph 1. Die Rechtsmetaphysik Bevor wir zur Rechtsbesinnung aus dem Blickwinkel des postmeta‐ physischen Rechtsdenkens übergehen, ist es notwendig, zuerst ein‐ mal die wesentlichen Grundrisse des metaphysischen Ansatzes zu beschreiben. Wie bereits erwähnt, ist die Grundlage der metaphysi‐ schen Philosophie die Seinsvergessenheit (also die ontologische Dif‐ ferenz zwischen Sein und Seiendem), die auf Platon zurückgeht und später durch die Trennung zwischen der sinnlichen Welt der Dinge und der spekulativen Welt der Ideen ersetzt wurde. In der meta‐ physischen Auffassung von Recht wird diese Differenz in eine Po‐ lemik zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht umgewandelt. Bekanntlich besteht der Rechtspositivismus darauf, dass das Recht die von Menschen konstruierte Norm darstellt, die in der diessei‐ tigen Realität in Form des postitiven Rechts (Gesetze, Rechtspre‐ chung u. a.) lokalisiert ist. Das Naturrecht bezeugt dagegen, dass es das Recht ursprünglich als eine in der menschlichen Vernunft be‐ schlossene oder objektiv (in der Welt, im Geistigen, in Gottes Ver‐ nunft) existierende Idee gibt, die als kritischer Maßstab für positives Recht auftritt, als „Anspruch des Rechts auf Richtigkeit“ (R. Alexy). Dadurch ist die Differenz zwischen dem positiven und dem Natur‐ recht nicht weit von der Differenz zwischen der sinnlichen und der
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
übersinnlichen Welt entfernt, und basiert auf ihr im philosophischmethodologischen Sinne. Wie der berühmte deutsche Rechtswis‐ senschaftler H. Kelsen zeigt, hat der Dualismus von positivem und natürlichem Recht Ähnlichkeiten mit dem metaphysischen Dualis‐ mus von Realität und Platonischer Idee. 91 Dadurch kann die gesamte Geschichte der Rechtsmetaphysik, die bei Platon ihren Anfang nahm, und in vielerlei Hinsicht bis heute andauert, als Dualismus von positiver und naturrechtlicher Variante der Rechtsbesinnung dargestellt werden. Wie S. Maksy‐ mov hervorhebt, taucht der Positivismus, der als philosophische Strömung ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist, bereits im Alter‐ tum als eine bestimmte Tendenz des Rechtsdenkens auf. Die ge‐ samte Geschichte der Rechtsphilosophie kann im gewissen Sinne als eine Geschichte des Kampfes zwischen positivistischen und na‐ turrechtlichen Tendenzen betrachtet werden. 92 In der Antike war es der Konflikt zwischen dem Positivismus der Sophisten und der Naturrechtstheorie von Platon und Aristoteles, im Mittelalter – der zwischen den Nominalisten und den Realisten, in der Neu‐ zeit – die Konfrontation zwischen der naturrechtlichen Philosophie (Grotius, Locke, Kant) und dem positivistischen Verständnis vom Staats- und Rechtswesen (Hobbes). Im 19. und frühen 20. Jahrhun‐ dert schließlich verwandelte sich die beschriebene Polemik in eine Auseinandersetzung zwischen den Positivisten (Austin, Bentham) und den Vertretern des „wiederbelebten Naturrechts“ (Stamler). 93 Als Fortsetzung dieser Tendenz in der Mitte des 20. Jahrhunderts lassen sich die Diskussionen zwischen den Positivisten (H. Kelsen, H. L. A. Hart) und den Vertretern des Rechtsexistentialismus (G. Cohn) und Liberalismus (J. Rowles, R. Dworkin) erwähnen. So setzt auch die moderne Rechtsphilosophie die metaphysische Linie fort, z. B. durch die Diskussion zwischen E. Bulygin und R. Alexy. 94 91 Кельзен Г. Чистое учение о праве и аналитическая юриспруденция//Россйиский ежегодник теории права – No 2–2009. – S. 435. [Kelsen H. Reine Rechtslehre und analytische Jurisprudenz]. 92 Максимов С.И. Правовая реальность: опыт философского осмысления. – Х.: Право, 2002. – S. 35. [Maksymov S. Legal Reality: Experience of Philosophical Reasoning. – Kharkiv: Pravo, 2002]. 93 Ibid. 94 Антонов М.В. Спор Р. Алекси и Е.В. Булыгина о необходимости связи между правом и моралью// Российский ежегодник теории права. –
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Paragraph 1. Die Rechtsmetaphysik
Dabei gelangten alle Strömungen des rechtsphilosophischen Denkens, die nicht in die genannte Dichotomie passten, weil sie auf der Seinsvergessenheit und einer Definition vom Rechtsstand des Seienden durch ein anderes, höheres Seiendes, basierten, in eine Randposition und wurden härtester Kritik ausgesetzt. 95 Solche Strömungen können nach der Terminologie von S. Maksymov „objektivistisch“ genannt werden. D. h., dass sie das Recht durch gewisse objektive Gesetzmäßigkeiten der Existenz von Natur und Gesellschaft begründen. 96 Zu solchen Strömungen lässt sich vor allem die historische Rechtsschule, der Marxismus, sowie die so‐ ziologische Theorie des „lebenden Rechts“ zählen. Obwohl diese Richtungen, die ein Seiendes (Recht) von einem anderen Seien‐ den (objektivierbaren Erscheinungen wie „Volksgeist“, „Produk‐ tionsverhältnisse“, „Leben“) ableiten, die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem nicht explizit einführen, sind sie nicht durch einen so scharfen Gegensatz zwischen Sein und Sollen gekennzeichnet, wie dies in den Auffassungen des Positivismus und des Naturrechts der Fall ist. Zugleich sind diese Richtungen durch die Seinsvergessenheit nicht in der Lage gewesen zu erklären, wie es möglich ist, von einem rechtlichen Seienden (den vorhandenen Gesetzmäßigkeiten seiner Existenz) ein rechtliches Sollen (positives Recht, Brauch) abzuleiten. Auch hier haben wir es mit der Annahme eines bereits gegebenen, vorhandenen Rechts zu tun, wenn die Existenz von Recht als Brauch dogmatisch postuliert wird, ohne zu durchdenken, wie die rechtliche Komponente sozialer Normen entsteht. Diese Frage taucht nicht auf und wird nicht gestellt, da sie vom Wesen der soziologischen Auffassung her nicht denkbar ist, wenn die Existenz der Gesellschaft a priori die Existenz des Rechts voraussetzt. Wie der belarusische Rechtswissenschaftler W. Paw‐ low richtig anmerkt, bezieht sich die soziologische Rechtstheorie
No 2.–2009. – S. 34–38. [Antonov M.V. Discussion between R. Alexy and E. Bulygin about the Necessity of Connection between Law and Moral// Russian Yearbook of Legal Theory. – No 2.–2009]. 95 Beispielsweise die Kritik von H. Kelsen zur Konzeption „des lebendigen Rechts” von E. Ehrlich. 96 Максимов С.И. Правовая реальность: опыт философского осмысления. – Х.: Право, 2002. – S. 56. [Maksymov S. Legal Reality: Experience of Philosophical Reasoning. – Kharkiv: Pravo, 2002].
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
(wenn man z. B. die Auffassung von E. Ehrlich betrachtet) zwar auf die dynamischen Strukturen der Gesellschaftsverhältnisse und der sozialen Ordnung (und bewegt sich damit an der Grenze der Klassik und der Nicht-Klassik), deutet diese Verhältnisse jedoch als etwas, das durch die Normen des sozialen Verbands fundiert ist. Die in sozialen Institutionen habitualisierten sozialen Verhältnisse konstituieren ein „lebendes Recht“. Die tatsächlich formierte soziale Norm oder Bindung wird jedoch immer noch als das Wesen bzw. die vorhandene Grundlage der sozialen Ordnung betrachtet, die immer schon in Formen der sozialen Konvention existiert. 97 Daraus lässt sich schließen, dass auch objektivistische Konzeptio‐ nen, die den Platz von Sein und Sollen vertauschten, gleichwohl im Rahmen der obengenannten Dichotomie blieben, weil sie von der Annahme des bereits vorgegebenen, absoluten Rechtsseins ausgin‐ gen und somit Teil des Projekts der Rechtsmetaphysik waren. Auch die Differenz zwischen natürlichem und positivem Recht basiert auf der Differenz zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt, wobei der Rechtspositivismus behauptet, dass Recht ein Ele‐ ment der sinnlichen, d. h. empirischen Realität ist, während die na‐ turrechtliche Schule das Recht ursprünglich in der übersinnlichen Realität verortet. Deswegen kann die naturrechtliche Auffassung, ebenso wie der Rechtspositivismus in seiner Gesamtheit, zurecht als Rechtsmetaphysik benannt werden, die von einem apriorischen Vorhandensein (absolutes „Sein-Sollen“) des Rechts ausgeht. Ähnlich der allgemein-philosophischen Metaphysik, zeichnet sich die Rechtsmetaphysik demzufolge dadurch aus, dass sie die ontologische Differenz vergisst und durch eine deontologische ersetzt. Darüber hinaus äußert sich dieses metaphysische Rechts‐ verständnis durch Merkmale wie die dogmatische Postulierung des Seins des Rechts, die Annahme eines transzendentalen Rechtssub‐ jekts, eine instrumentale Einstellung zur Realität und ein lineares Zeitverständnis. Dabei stellen diese Phänomene keine isolierten statischen Eigenschaften dar, sondern sind miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Der russischen Forscherin E. Ti‐ 97 В.I. Павлов Методологiчнi пiдстави антропологiчної концепцiї права//Право України. – 2014. – No 1. – S. 174. [Pawlow W.I. The Methodological Grounds of the Anthropological Conception of Law//Law of Ukraine. – No 1.– 2014].
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Paragraph 1. Die Rechtsmetaphysik
moschina zufolge besteht die Besonderheit des klassischen Rechts‐ verständnisses in der objektivistischen Interpretation des Seins des Rechts als eines vom Bewusstsein unabhängigen Subjekts, das sich dem Wissenschaftler, der über das Privileg einer objektiven Sicht verfügt (Naturrecht), offenbart oder aber als eine der objektiven Betrachtung zugängliche, empirische Tatsache, die vom Subjekt entdeckt werden kann, das ähnlich dem „Ding“ in einer Welt von Raum und Zeit existiert (Rechtspositivismus). Die objektivierende Interpretation des Seins des Rechts wird durch die Kategorie eines abstrakten Subjekts gestützt – eines absoluten Beobachters, der sich aus der Opposition zum Objekt (Recht) konstituiert und über eine universelle Methode verfügt, deren Anwendung das Objekt nicht beeinflusst. Der Rechtsbegriff, entweder apriorisch vom Verstand begriffen oder induktiv gebildet, wird als etwas betrachtet, das einen dazugehörigen Referenten in der idealen Welt der Ideen bzw. der empirischen Realität besitzt. 98 So geht das gesamte metaphysische Rechtsdenken von der Vor‐ aussetzung des absoluten Sein-Sollens des Rechts als seinem aprio‐ rischen Vorhandensein aus: Sowohl positives als auch natürliches Recht gibt es schon immer. Entsprechend der Ansätze der Rechtsme‐ taphysik wird jede empirische Tatsache, die der Annahme des Seins des Rechts widerspricht, zu einem bloßen Rechtsverstoß erklärt. Pa‐ radoxerweise beeinflussen selbst Revolution, Bürgerkrieg oder Ty‐ rannei, die die rechtliche Gesellschaftsordnung radikal abschaffen und das Recht in eine Fiktion verwandeln, in keiner Weise die me‐ taphysische Annahme vom Rechtssein in einer jenseitigen Dimen‐ sion des normativen Sollens. Wie W. Pawlow treffend bemerkte, setzen sowohl der Rechtspositivismus als auch das Naturrecht eine apriorische (außerhalb der Erfahrung befindliche) Grundlage vor‐ aus, einen Ort, an dem sich der Ursprung des Rechts als einer gewis‐
98 Тимошина Е.В. Классическое и постклассическое правопонимание: обобщение основополагающих особенностей//Этические и антропологические характеристики современного права в ситуации методологического плюрализма. – Минск: Академия МВД, 2015. – S. 73. [Timoschina E.V. Classical and Post-Classical Understanding of Law: Subsumption of the Es‐ sential Specialities//Ethical and Anthropological Characteristics of the Modern Law in the Situation of Methodological Pluralismus. – Minsk. Academy MIF, 2015].
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
sen rechtlichen Norm befindet. 99 Dementsprechend kann man ver‐ muten, dass die Annahme eines absoluten Sein-Sollens des Rechts der Kern der Rechtsmetaphysik ist, die den modernen Nachfol‐ gern des von Heine ironisch allegorisierten „deutschen Professors“ erlaubt, zugunsten wohlgeformter Systeme, in deren Zentrum ein transzendentales oder transzendentes Sollen steht, die Augen vor den tatsächlichen Gegebenheiten zu verschließen. Das transzendentale Rechtssubjekt (der sogenannte „absolute Be‐ obachter“) wurde hingegen nicht als reales empirisches Subjekt ver‐ standen, sondern als eine von Platon abgeleitete Annahme, dass im System des Universums ein gewisser privilegierter Ort existiert, der es demjenigen, der sich in ihm befindet – einem Intellektuellen, ei‐ nem Monarchen, einem Richter – gestattet, ein rationales und kon‐ sistentes Weltbild zu haben. Ein derartiges Subjekt erlangt dabei Be‐ fugnisse und Möglichkeiten, eine entsprechende Wirklichkeit (Sein) rational aufzubauen und sie dem gewünschten Ideal (Sollen) an‐ zunähern. Gleichzeitig wurde Sollen – das natürliche oder positive Recht – ausschließlich als ein Werkzeug gedacht, das dem Besitzer erlaubte, „die Risse im Universum zu flicken“, also die fragmenta‐ risch existierende Wirklichkeit an seine intellektuellen Konstrukte anzupassen. Daraus folgend konnten Vergangenheit und Gegenwart des Rechts bloß durch einen Mangel an Recht charakterisiert wer‐ den, der in Zukunft behoben und auf der höchsten erreichbaren Stufe überwunden werden musste. Diese höchste Stufe stellte das ewig unerreichbare Ideal der absoluten Rechtmäßigkeit dar. Im Kern des metaphysischen Rechtsverständnisses liegt also der temporale Widerspruch. Das metaphysische Recht (sowohl das na‐ türliche als auch das positive), das sich zwischen Sein (Vergangen‐ heit und Gegenwart) und Sollen (Zukunft) erstreckt, strebt seinem Wesen entsprechend nach der ewigen Rechtsordnung, nach einer absoluten Rechtsmäßigkeit, die durch ihren „ewigen“ Status die zeit‐ liche Dimension und folglich auch das Sein eines solches Seienden annihiliert. Für das Rechtssein gibt es keine Zeit. Eben in diesem Riss 99 Павлов В.И. Синергийная антропология и постклассическая антропология права: к вопросу об антропологическком подходе к пониманию права//Фонарь Диогена. – No 1.–2015. – S. 220–221. [Pawlow W.I. Synergy’s Anthropology and Post-classical Anthropology of law//Diogen’s Laterne. – No 1.–2015].
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Paragraph 1. Die Rechtsmetaphysik
zwischen der zeitlichen Wirklichkeit und dem ewigen Ideal entfaltet sich die Dimension, die in sich jede Art sozialer Macht und Mani‐ pulation enthält. Kraft der „Zersplitterung“ und der chaotisch da‐ herkommenden, vorhandenen Realität, wird das „Reich des Rechts“ ständig „auf später“ verschoben. Dadurch wird der Herrscher dazu ermächtigt, nach eigenem Ermessen zu handeln, mit Verweis auf die Unvollkommenheit der seienden Welt. Dank des unüberwind‐ baren Auseinanderklaffens des obengenannten Risses kann dieser Zustand unendlich fortbestehen und versorgt dadurch jede in ihm herrschende Macht mit dem „ewigem Leben“. Wenn wir an dieser Stelle die oben angeführte Aussage von H. Kelsen über die Platonische Grundlage der Unterscheidung zwi‐ schen Naturrecht und Rechtspositivismus präzisieren, können wir zu dem Schluss kommen, dass die allgemein-philosophische, meta‐ physische Differenz zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinn‐ lichen in Bezug auf das Recht als Differenz zwischen Sein und Sol‐ len modifiziert wird. Schließlich würde kein Positivist die Rechts‐ norm mit ihrem materiellen Träger (einem bestimmten Gesetz, der Rechtsprechung u.ä.) identifizieren, der diese Norm für die sinnli‐ che Wahrnehmung zugänglich macht. Denn selbst wenn der Träger vernichtet werden sollte, würde dies nicht automatisch die Unwirk‐ samkeit der entsprechenden Norm bedeuten. Daraus können wir schließen, dass nicht nur das Naturrecht, sondern auch der Rechts‐ positivismus das Recht als Sein im einem gewissen „jenseitigen“ Sol‐ len, einer „Grundnorm“, verwurzelt. In diesem Licht betrachtet wird die deutlichere Diskrepanz zwi‐ schen dem Naturrecht und dem Rechtspositivismus darin beste‐ hen, dass Naturrecht das Recht in ein „Sein“ (positives Recht, das als Gegenstand der Kritik seitens des Naturrechts dient) und ein „Sollen“ (Naturrecht an sich) aufsplittert, während die Rechtsposi‐ tivisten von einer solchen Aufspaltung des Rechtsphänomens ab‐ rücken, indem sie behaupten, dass es nur das positive Recht („Sol‐ len“) gibt, welches die als Seiendes auftretende soziale Wirklichkeit reguliert.
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
Paragraph 2. Die Diskussion zwischen E. Bulygin und R. Alexy als Quintessenz des metaphysischen Rechtsverständnisses Das oben gesagte wird durch eine der bedeutendsten rechtlichen Diskussionen der Gegenwart in vollem Umfang bestätigt – den Streit zwischen dem berühmten argentinischen Rechtspositivisten E. Bulygin und dem deutschen Rechtsphilosophen R. Alexy, der sich selbst als „Nicht-Positivist“ bezeichnet. 100 Soweit diese Diskussion vollständig in den Bereich der Rechtsmetaphysik fällt, kann ihre Analyse jene Antinomien veranschaulichen, in die die Rechtsme‐ taphysik den Forscher stürzt. Bekanntlich behaupten die Vertreter des Rechtspositivismus, zu denen auch E. Bulygin gehört, dass die Welt des Rechts die Welt des Sollens repräsentiert, die in Bezug auf die Welt des Seins norma‐ tiv ist. 101 Für den Positivisten ist das (positive) Recht die Welt des Sollens, die parallel zur der Welt des Seins existiert und in Bezug auf sie präskriptiv ist. 102 Die Spezifik des positiven Rechts besteht darin, dass es erlaubt, aus einem tatsächlichen Ereignis, das an sich 100 Zu dieser Polemik: Bulygin E. Alexy’s Thesis of a Necessary Connection bet‐ ween law and Morality. Ratio Juris. 2000. No 13. P.133-137. Bulygin E. Alexy Bet‐ ween Positivism and Non-Positivism//Beltran J.F., Moreso J.J., Papayanis D.M. (eds.) Neutrality and Theory of Law. Springer, 2013. P.49-60. Und auch: Alexy R. On the Thesis of a Necessary Connection between Law and Morality: Buly‐ gin’s Critique. Ratio Juris, 2000. No 13. P.138-147. Alexy R. Between Positivism and Non-Positivism? A Third Reply to E. Bulygin. //Beltran J.F., Moreso J.J., Papayanis D.M. (eds.) Neutrality and Theory of Law. Springer, 2013. P.225-238. 101 Nach H. Kelsen ist positives Recht also die Ordnung, durch die das mensch‐ liche Verhalten in einer bestimmten Weise reguliert wird. Diese Regulierung erfolgt durch Vorschriften, die festlegen, wie sich Menschen zu verhalten ha‐ ben. Diese Vorschriften werden als Normen bezeichnet und entstehen entwe‐ der durch den Brauch (Gewohnheitsrecht) oder durch bewusste Handlungen eines bestimmten Organs (Gesetzgebung). Vgl. Кельзен Г. Чистое учение о праве и аналитическая юриспруденция//Россйиский ежегодник теории права – No 2–2009. – S. 437. [Kelsen H. Reine Rechtslehre und analyti‐ sche Jurisprudenz//Russian Yearbook of Legal Theory. – No 2.–2009]. 102 Wenn die Jurisprudenz das Recht als System von geltenden Normen betrach‐ tet, dann müssen die Aussagen, mit welchen sie seine Objekte beschreibt, die Aussagen von Sollen und nicht von Sein sein. Кельзен Г. ук. соч. S. 438. [Kel‐ sen H. Reine Rechtslehre und analytische Jurisprudenz]. Über Präskriptivität
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Paragraph 2. Die Diskussion zwischen E. Bulygin und R. Alexy
kein Recht oder Unrecht enthält, eine rechtliche Bedeutung heraus‐ zuholen. 103 Auf der Grundlage dieser Annahmen argumentiert E. Bulygin, dass das Konzept des Rechts ein unabhängiges intellektu‐ elles Konstrukt ist, das ohne Bezugnahme auf Moral, Sitten, Ideale und andere außerhalb des Rechts stehende Erscheinungen definiert werden kann. 104 Dagegen behauptet R. Alexy, dass das Recht gleichzeitig sowohl als reale oder tatsächliche als auch als ideale oder kritische Dimen‐ sion existiert. 105 So muss jedes rechtliche Seiende, also das posi‐ tive Recht als staatlich-autoritative Einrichtung und gesellschaftlich wirksame Praxis der Rechtsetzung und Rechtsanwendung, um die ideal-kritische Dimension des Rechts als Sollens, nämlich die mo‐ ralische Richtigkeit, ergänzt werden. 106 Diese Notwendigkeit (Mög‐ lichkeit) 107 der kritischen Bewertung ist implizit in jedem konkreten Recht (Rechtsordnung) als „Anspruch auf seine Richtigkeit“ festge‐ legt. 108 Diese These von R. Alexy wird von E. Bulygin abgestritten, denn entsprechend seiner Position ist das positive Recht an sich bereits (nicht weniger als die Moral) „Sollen“ und braucht zu sei‐ ner Rechtfertigung keine „höchste“ Instanz. Die Moral stellt dabei eine alternative Ordnung dar, die mit der Rechtsordnung in Kon‐ flikt geraten kann. Die Lösung dieses Konflikts ist das Prärogativ
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(und nicht Diskriptivität) von Normen des positiven Rechts vgl.: Булыгин Е. Основана ли философия права (её часть) на ошибке?// Российский ежегодник теории права. – No 2.–2009. – S. 55. [Bulygin E. Does the Phi‐ losophy of law (it’s part) Ground on a Mistake? //Russian Yearbook of Legal Theory. – No 2.–2009]. Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Sie‐ beck, 2010. – S. 136. Булыгин Е. Основана ли философия права (её часть) на ошибке?// Российский ежегодник теории права. – No 2.–2009. – S. 53 [Bulygin E. Does the Philosophy of law (it’s part) Ground on a Mistake? //Russian Year‐ book of Legal Theory. – No 2.–2009]. Alexy, R. (2019). Law’s Dual Nature. Ordines, 1, S. 42. Op.cit. S. 43. R. Alexy betont, dass diese Verbindung (zwischen zwei Dimensionen) einen notwendigen Charakter hat, während sie nach E. Bulygin nicht notwendig, sondern nur möglich, zusätzlich, optional ist. Ibid.
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
einer jeden konkreten Person, die gezwungen ist, dieses Dilemma zu lösen. 109 Es ist bemerkenswert, dass sowohl E. Bulygin als auch R. Alexy das Recht als ein schon immer existierendes, unmittelbar gegebenes positives Recht verstehen, mit dem einzigen Vorbehalt von R. Alexy, dass das positive Recht allein durch die Tatsache seiner Existenz eine ideale, kritische Dimension voraussetzt, die ihm immanent ist 110 (in Ermangelung eines besseren Wortes – die „Moral“, gleichwohl sie in einer religiösen Gesellschaft durch Religion, in einer ästhetischen Gesellschaft durch Schönheit usw. ersetzt werden kann). Die ge‐ nannte Dimension existiert tatsächlich im Bewusstsein einer Person oder einer Gruppe als deren Vorstellung vom Sollen. Demzufolge ist die oben angeführte „Richtigkeit“ nichts anderes als die Überein‐ stimmung des „realen“, positiven Rechts mit einem solchen idealen Sollen. 111
109 Булыгин Е. Основана ли философия права (её часть) на ошибке?//Российский ежегодник теории права. – No 2.–2009. – S. 61. [Bulygin E. Does the Philosophy of law (it’s part) Ground on a Mistake? //Russian Yearbook of Legal Theory. – No 2.–2009]. 110 Alexy, R. (2019). Law’s Dual Nature. Ordines, 1, S. 43. 111 In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung von R. Alexy interessant, dass Regeln das reale „Sollen“ ausdrücken und die Prinzipien – das ideale. Es scheint, dass der deutsche Rechtswissenschaftler sowohl das Naturrecht (die „Prinzipien“) als auch das positive Recht (die „Regeln“) als „Sollen“ versteht. Diese Aussage deckt sich mit unserer These, wonach das Recht nach R. Alexy eben jenes positive Recht ist („das reale Sollen“), nur kritisch ergänzt durch die Prinzipien der Moral (ideales Sollen), die dem positiven Recht (als dessen Anspruch auf Richtigkeit) immanent sind. Es scheint, dass die Einführung der neuen binären Opposition („ideales-reales“) die methodische Lücke verbergen soll, die durch das Zugeständnis von R. Alexy an den Positivismus entsteht, nämlich die Anerkennung des positiven Rechts („in Worten“) als Sollen, um Nihilismusvorwürfen zu entkommen und der Normativitätsverweigerung des positiven Rechts vorzubeugen. Tatsächlich versteht der deutsche Rechtswis‐ senschaftler positives Recht als Seiendes (und nicht als Sollen), was durch die Notwendigkeit bestätigt wird, es vermittels des höheren – „idealen“ – Sollens, also der Moral, zu justieren. So verwendet R. Alexy den Sollensbegriff in zwei verschiedenen Bedeutungen: Wenn er vom positiven Recht spricht, bedeutet „Sollen“ Normativität – die Pflicht der Menschen, ihm zu gehorchen. Wenn er vom „idealen Sollen“ spricht, spricht er von der „Pflicht“ des positiven Rechts selbst, der Moral zu „gehorchen“, d. h. von der dogmatisch in das positive Recht eingebetteten Notwendigkeit, seinen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei
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Paragraph 2. Die Diskussion zwischen E. Bulygin und R. Alexy
Es scheint, dass der Streit zwischen R. Alexy und E. Bulygin inso‐ fern unlösbar bleibt, als dass die Streitparteien von der Dichotomie von Sein und Sollen ausgehen, sie dabei aber ganz unterschiedlich auslegen. Nach der Tradition von H. Kelsen versteht E. Bulygin un‐ ter Sollen die normative Ordnung des positiven Rechts, die das Sein, d. h. die Wirklichkeit der Gesellschaftsverhältnisse, reguliert, wäh‐ rend R. Alexy behauptet, dass eine derartige, tatsächliche positivrechtliche normative Ordnung als Teil der sozialen Wirklichkeit das Sein ist, indem er an die Stelle des Sollens die ideale Dimension der Moralität setzt. Dadurch befinden sich die Streitparteien also bereits im Vorfeld im Rahmen der rechtlichen Auslegung der metaphysischen Dicho‐ tomie von Sein und Sollen. Dabei wird das, was die Positivisten un‐ ter Sollen (dem positiven Recht) verstehen, von Nicht-Positivisten als Sein bezeichnet, während das, was von Nicht-Positivisten als Sol‐ len (die Moral) verstanden wird, von Positivisten überhaupt nicht als Recht anerkannt wird. Aus diesem Grund wird dieser Streit nie‐ mals produktiv gelöst werden können, denn dafür müssten entwe‐ der die Positivisten das positive Recht auf das Niveau des Seins her‐ absetzen und dadurch dessen ideal-normative Dimension zunichte machen (was dem neukantianistisch-kelsenschen Geist des Rechts‐ positivismus an sich widersprechen würde), oder die Nicht-Positi‐ visten müssten die Selbstgenügsamkeit des positiven Rechts akzep‐ tieren, sodass sich dessen notwendige Verbindung mit der Moral als unnötig erweisen würde. Es sollte hinzugefügt werden, dass die beschriebene Antinomie von Sein und Sollen unsere Aufmerksamkeit auf ein weiteres wich‐ tiges Merkmal der Rechtsmetaphysik leitet – die Rechtsseinsver‐ gessenheit. Mit anderen Worten: Wenn von der deontologischen Differenz ausgegangen wird, ist es genauso sinnlos, zusätzlich nach dem Sein des seienden Rechts (z. B. dem positiven Gesetz) zu fra‐ gen, das einfach bereits als Sein existiert, wie nach der Anwesen‐ heit eines sollenden Rechts (z. B. der Idee der Gerechtigkeit, Frei‐ heit, Gleichheit), das per Definition deontologisch ist. Zugleich ver‐ liert ein Recht, das in einer solchen Perspektive als zwischen Sein und Sollen „langgestreckt“ betrachtet wird, jede Fähigkeit „als Recht bleibt die Frage nach den Ursprüngen solcher „Pflicht“ des positiven Rechts allerdings offen . . . .
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
zu sein“. Das seiende Recht lässt uns nämlich dauernd an seinem „rechtlichen Sein“ zweifeln, insofern als sein rechtlicher Charakter nicht von ihm selbst abhängig ist, sondern von der Übereinstim‐ mung mit dem „Sollen“ – einem gewissen „idealen“ Recht, der Mo‐ ral, Gerechtigkeit u.ä. Gleichzeitig kann das „sollende“ Recht nicht einfach dadurch existieren, dass es das Sollen und nicht das Sein ist. 112 Auf diese Weise sind sich das natürliche und das positive Rechts‐ verständnis in dem Punkt einig, dass kein „seiender“ Sachverhalt selbstgenügsam ist, sondern stets durch irgendein „äußerliches“ Sollen – die Normen des natürlichen oder positiven Rechts – regle‐ mentiert werden muss. In diesem Fall tritt sowohl das natürliche als auch das positive Recht als einer Art „Werkzeug“ auf, das verwendet wird, um die „seiende“ Wirklichkeit in die „sollende“ Richtung zu lenken. 113 So kommt W. Pawlow nach der Analyse der Auffassungen von R. von Jhering zum Schluss, dass die Jurisprudenz als solche nichts anderes als eine Technik der Verwaltung von Sozialkörpern darstellt. 114 Im Einklang damit steht auch die Behauptung von M. 112 Wie H. Kelsen betont, ist die Differenz zwischen Sein und Sollen die Grund‐ lage des Normbegriffs. Vgl.: Кельзен Г. Чистое учение о праве и аналитическая юриспруденция//Россйиский ежегодник теории права – No 2–2009. S. 441. [Kelsen H. Reine Rechtslehre und analytische Jurispru‐ denz//Russian Yearbook of Legal Theory. – No 2.–2009]. Jedoch lässt sich der ontologische Status des positiven Rechts bei H. Kelsen selbst nicht ganz klar fassen: Ist es Seiendes oder Sollen? So weist der deutsche Rechtswissenschaftler darauf hin, dass wir, wenn wir sagen, dass die Norm existiert (meine Kursivie‐ rung, O.S.), meinen, dass die Norm gilt. Normen gelten für diejenigen, deren Verhalten sie regeln. Zu sagen, dass die Norm für das Individuum gilt, zieht nach sich, dass sich das Individuum so verhalten muss, wie es die Norm vor‐ schreibt; es bedeutet aber nicht, dass sich das Individuum zwangsläufig so ver‐ hält, dass sein Verhalten tatsächlich der Norm entspricht. Das letzte Verhältnis wird durch die Aussage ausgedrückt, dass die Norm gilt. Кельзен Г. Ук. соч. S. 437. [Kelsen H. Reine Rechtslehre und analytische Jurisprudenz//Russian Yearbook of Legal Theory. – No 2.–2009]. So verkörpert nach H. Kelsen die Rechtsnorm, sofern sie wirkt und gilt, zu‐ gleich Seiendes und Sollen. Gleichzeitig bleibt die Frage nach ihrer Unterschei‐ dung offen, was, wie oben angedeutet, für H. Kelsen die Schlüsselrolle spielt. 113 Stovba O. Law and Ge-Stell / Oleksiy Stovba // Law of Ukraine. – 2011. – No 11– 12. – Р. 57–63. 114 В.I. Павлов Методологiчнi пiдстави антропологiчної концепцiї права//Право України. – 2014. – No 1. – S. 167. [Pawlow W.I. The Methodological
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Paragraph 3. Die Frage nach dem Wesen des Rechts als Aporie
Foucault, wonach das Recht mit seinem Spiel von dem Gesetzmäßi‐ gen und Gesetzwidrigen, von Gesetzesverletzung und Strafe heutzu‐ tage die universelle Form der Macht darstellt. Unabhängig von der Form, in der sie ausgeübt wird, wird Macht immer in einer recht‐ lichen Form schematisiert, und die Folgen ihrer Wirkung werden als Gehorsam definiert. 115 Wie M. Foucault feststellt, befinden wir uns seit mehreren Jahrhunderten in einer gesellschaftlichen Form, in der das Rechtliche immer weniger in der Lage ist, die Macht zu kodieren oder als Repräsentationssystem für sie zu dienen. Unser rutschiger Pfad führt uns immer weiter weg von der Herrschaft des Rechts, die bereits zu jener Zeit begann, sich in die Vergangenheit zurückzuziehen, als die Französische Revolution und mit ihr die Epoche von Kodizes und Verfassungen aller Art für die unmittel‐ bare Zukunft auszurufen schien. 116
Paragraph 3. Die Frage nach dem Wesen des Rechts als Aporie des metaphysischen Rechtsverständnisses Das Auslassen der Frage nach dem Rechtssein stellt die Rechtsme‐ taphysik vor einen weiteren unlösbaren Widerspruch. Bekanntlich ist die Frage nach dem Wesen des Rechts die zentrale Frage der Rechtsmetaphysik, sowohl im Rechtspositivismus als auch im Na‐ turrecht. 117 Als Fragestellung ist sie eine direkte Folge der auf Platon zurückgehenden Differenz zwischen der übersinnlichen Ideenwelt und der sinnlichen Erscheinungswelt. Dadurch zielen die Bemü‐ hungen sowohl der allgemein-philosophischen als auch der Rechts‐ metaphysik darauf ab, ein ideales zeitloses Wesen zu finden, das hin‐
Grounds of the Anthropological Conception of Law//Law of Ukraine. – No 1.– 2014]. 115 Фуко М. Воля к истине: по ту сторону знания, власти и сексуальности. – М.: Касталь, 1996 – S. 184. [Foucault M. «L’Histoire de la sexualité»]. 116 Op.cit. S. 189–190. 117 В.I. Павлов Методологiчнi пiдстави антропологiчної концепцiї права//Право України. – 2014. – No 1. – S. 173. [Pawlow W.I. The Methodological Grounds of the Anthropological Conception of Law//Law of Ukraine. – No 1.– 2014].
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
ter den veränderlichen Erscheinungen steht. Das Ergebnis einer sol‐ chen Forschung sollte die Begriffserfassung (Hegel) des gefundenen Wesens sein, d. h. seine begrifflich-kategorische Gestaltung. Und doch ist trotz aller Versuche in den zweieinhalbtausend Jah‐ ren der Rechtsmetaphysik kein befriedigender Rechtsbegriff gefun‐ den worden. 118 Das ist durchaus nicht auf mangelnde Bemühun‐ gen der Rechtswissenschaftler zurückzuführen. Vielmehr waren alle Versuche, das Wesen des Rechts zu definieren, zum Scheitern ver‐ urteilt, solange die ontologische Differenz zwischen Sein und Sei‐ endem außerhalb des Blickfeldes der Rechtsmetaphysik blieb und durch die deontologische Differenz zwischen Sein und Sollen er‐ setzt wurde (in der Sollen als konkretes, besonderes, privilegiertes und „höchstes“ Seiendes begriffen wird). Der Grund dafür steckt in der begrifflich-kategorischen Herangehensweise selbst, bei der ver‐ sucht wird, das gesuchte Wesen (Subjekt) – z. B. das Recht – durch ein bestimmtes anderes Wesen zu definieren, das dabei als Prädikat auftritt. Demzufolge erweist sich das gesuchte Wesen stets als die bloße Sammelbezeichnung für die Gesamtheit seiner Eigenschaften. Wir wollen versuchen, diese These am Beispiel der Analyse eines der vollständigsten und logisch kohärentesten metaphysischen Rechts‐ konzepte zu betrachten – der libertären Rechtstheorie des russi‐ schen Rechtswissenschaftlers W. Nersesjanz. W. Nersesjanz’ Forschungsziel ist die Formulierung des Rechts‐ begriffs, der für ihn (nach Hegel) die begriffene Einheit vom Wesen des Rechts und seiner Erscheinung darstellt. 119 Deshalb ist die Kon‐ zeption des russischen Wissenschaftlers per Definition metaphy‐ sisch, denn sie geht von der Differenzierung zwischen dem über‐ sinnlichen Wesen und der empirischen Erscheinung aus, die nur begrifflich vereinbar sind. Dabei tritt Recht im libertären Rechtsver‐ ständnis in der Rolle des Wesens auf, während das Gesetz (als Sam‐ melbezeichnung für sämtliche von einer kompetenten Quelle er‐ lassenen Rechtsvorschriften) die Erscheinung ist. 120 Dadurch wird 118 Law and Legal Cultures in the 21th Century. Diversity and Unity (Plenary lec‐ tures) / ed. T. Gizbert-Studnicki, J. Stelmach. – Warsaw, 2007. – S. 18. 119 Нерсесянц В.С. Философия права: либертарно-юридическая концепция//Вопросы философии. – 2002. – No 3. – S. 3. [Nersesjanz W. Philosophy of Law: Libertarian-Juridical Conception//Issues of Philosophy. – No 3.–2002]. 120 Нерсесянц В.С., ук. соч, S. 4. [Nersesjanz W. Philosophy of Law: LibertarianJuridical Conception//Issues of Philosophy. – No 3.–2002].
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Paragraph 3. Die Frage nach dem Wesen des Rechts als Aporie
selbst der Ausdruck „Rechtswesen“ zur Tautologie, weil der russi‐ sche Rechtswissenschaftler das Wort Recht für die Bezeichnung des Wesens einer Erscheinung, also des Gesetzes, reserviert. 121 Nach W. Nersesjanz ist das Gesetz also rechtswidrig, wenn die Er‐ scheinung (Gesetz) nicht dem Wesen (Recht) entspricht. Unter dem „Wesen des Rechts“ (laut ihm also des Gesetzes, O.S.) wird dogma‐ tisch das Prinzip der formalen Gleichheit verstanden. 122 Zugleich impliziert die Rechtsform der menschlichen Beziehungen formale Gleichheit (ein Maß und eine einheitliche Form für alle), formale Freiheit (formale Unabhängigkeit und Handeln nach einer einheit‐ lichen Form), und formale Gerechtigkeit (ein gleiches System von Erlaubnissen und Verboten für alle). 123 Dabei besteht der Unterschied zwischen Recht und Moral, Re‐ ligion, Sittlichkeit u.ä. darin, dass letzteren jene nur für das Recht bezeichnende abstrakt-einheitliche Form (und einheitliche Forma‐ lisierung) fehlt, in der der abstrakt-einheitliche, absolut (universell) formalisierte Sinn der Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit in der jeweiligen Gesellschaft ausgedrückt werden kann. „So kann Recht als eine einheitliche, notwendige und einzige Seinsform und Aus‐ drucksform von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit im mensch‐ lichen Sozialleben charakterisiert werden.“ 124 Somit versteht W. Nersesjanz das Recht als ein dem Prinzip der formalen Gleich‐ heit entsprechendes Normensystem, das vom Staat festgelegt oder sanktioniert und durch die Möglichkeit der Anwendung staatlicher Zwangsmaßnahmen abgesichert wird. 125 Wie man sieht, versucht der russische Rechtswissenschaftler die Dichotomie von Naturrecht und Rechtspositivismus zu überwinden, indem er dem seienden Subjekt – dem Normensystem – Prädikate hinzufügt, von denen einige in der empirischen Realität (Anerken‐ nung des Staates und Sicherstellung durch Machtmittel) und andere in der übersinnlichen Realität (formale Gleichheit) angesiedelt sind. Dies ändert jedoch nichts an der eigentlichen – metaphysischen – 121 Die Differenz zwischen Recht und Gesetz ist dieselbe, wie die metaphysische Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung. 122 Ibid. 123 Ibid. 124 Op.cit. S. 5. 125 Op.cit. S. 8.
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
Essenz der libertär-rechtlichen Auffassung, bei der das einheitliche Phänomen zersplittert wird – in die „diesseitige“ Dimension, die die vom Staat sanktionierten und durch Macht sichergestellten Normen (Gesetz als Erscheinung) enthält, und die „jenseitige“ Dimension der Ideen (der intellektuellen Konstrukte), zu welchen das Prinzip der formalen Gleichheit (Recht als Wesen) gehört. Dennoch bleibt das „Rechtswesen“ als solches immer noch unentdeckt, da die Bezeichnung „Recht“ bloß „Gesetzeswesen“ bedeutet. Den Konstrukten des russischen Wissenschaftlers zufolge, ver‐ körpert positives Recht, indem es das Sein des rechtlichen Wesens konstituiert, quasi zwei Wesen – das „ideale“ (formale Gleichheit) und das „reale“ (die formale Bestimmtheit und die Sicherstellung staatlicher Zwangsanwendung). Dadurch sind in einem Seinsmo‐ dus des rechtlichen Seienden – dem positiven Recht – zwei We‐ sen seiend. Ist das möglich? Denn wenn das Wesen des Gesetzes das eine Wesen ist (der Wille des kompetenten Subjekts, der in ei‐ ner bestimmten Form ausgedrückt und durch Sanktion sicherge‐ stellt wird) und das Wesen des Rechts, das unabhängig vom Willen und der Einschränkungen der formalen Gleichheit ist – das andere, sollte man da nicht auch zwischen Gesetzessein und Rechtssein un‐ terscheiden? Mit anderen Worten: Trotz der Aktualisierung der Dif‐ ferenz zwischen Recht und Gesetz (die er als den eigentlichen Ge‐ genstand der Rechtsphilosophie definiert), verfehlt W. Nersesjanz die Frage nach dem Wesen des Rechts, indem er den Begriff „Recht“ als Bezeichnung für das Wesen des Gesetzes erachtet. In diesem Fall erweist sich die Differenz zwischen Recht und Gesetz paradoxer‐ weise als identisch mit der durch den Existentialismus (einschließ‐ lich des Rechtsexistentialismus) akzentuierten Differenz zwischen Wesen und Existenz. 126 Aus dem oben gesagten lässt sich schließen, dass der russische Rechtswissenschaftler versucht, ein „reales“ Seiendes – die Norm – 126 So hat beispielsweise der deutsche Rechtsphilosoph A. Kaufmann bereits 1965 in seiner “Ontologischen Struktur des Rechts” betont, dass die Positivisten die Existenz des Rechts (in der Form des Gesetzes) verabsolutisieren, und die Jus‐ naturalisten – sein ideales Wesen, weshalb die reale Struktur des Rechts beide Momente enthalten muss. Dabei macht A. Kaufmann selbst den gleichen Feh‐ ler wie W. Nersesjanz und versucht, statt nach dem Wesen von positivem und Naturrecht in deren Verschiedenheit zu suchen, sie als Essenz und Existenz auseinanderzuhalten.
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Schlussfolgerungen
auf der Grundlage seiner Beziehung zum einem anderen – „idea‐ len“ – Seienden (Wille, Macht, formale Gleichheit), zu definieren, das wiederum zum Wesen des ersteren erklärt wird. Dadurch ver‐ liert „Recht als solches seinen eigenen, einzigartigen Inhalt und stellt den Sammelbegriff für die Gesamtheit eines anderen Seien‐ den (des Willens, der Macht, der formalen Gleichheit) dar. Folg‐ lich kann die metaphysische Auffassung von Recht grundsätzlich ihr Ziel, nämlich das Wesen des Rechts zu finden, nicht erreichen, weil in der Metaphysik das Wesen jeder Erscheinung nicht durch sich selbst, sondern durch eine andere Erscheinung definiert wird.
Schlussfolgerungen Die metaphysische Rechtsphilosophie lässt sich durch folgende Merkmale beschreiben: Erstens geht die Rechtsmetaphysik von der Annahme aus, dass Recht, sei es das positive oder das natürliche, schon immer existiert. Insofern, als diese Existenz einen absoluten Charakter hat, kann Recht bloß verletzt werden, derweil seine vorhandene Gegebenheit niemals in Frage gestellt wird. Zweitens ist für die Rechtsmetaphysik die Rechtsseinsvergessen‐ heit charakteristisch, die mittels der Gleichsetzung mit dem Sollen stattfindet, das dem Sein entgegengestellt wird (Auslassung der on‐ tologischen Differenz). Drittens basiert das Verständnis eines jeden empirischen Seien‐ den, das in Bezug auf Recht relevant ist, auf seiner Korrelation mit einem gewissen „höchsten“ Seienden – dem Sollen (Gesetz, Idee, Grundnorm u.ä.) (Ersetzung der ontologischen Differenz durch die deontologische). Viertens wird das Wesen des Rechts im Verlauf der metaphy‐ sischen Forschung durch den Bezug auf das andere Seiende defi‐ niert – Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Wille des kompetenten Subjekts u.ä. Dadurch stellt das metaphysische Rechtsverständnis bloß eine äußerst allgemeine Sammelbezeichnung für die dogma‐ tisch genommene Gesamtheit des rechtlichen Seienden dar (eine Situation der Flucht vor dem Wesen). Fünftens impliziert ein Verständnis von Recht als eines Seienden der höchsten Art seinen instrumentellen Charakter. Recht als Sollen
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Kapitel 1. Eine metaphysische Auffassung von Recht
wird als Instrument der Umgestaltung der seienden Wirklichkeit in die gewünschte Richtung verstanden, ohne das menschliche Verhal‐ ten zu limitieren, sondern mit einer Legitimierung des notwendigen Handelns, das durch den Verweis auf jenes höchste Seiende gerecht‐ fertigt wird.
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung als der deontologischen Differenz des Rechts vorhergehend
Stünde es so, dann könnte freilich das vorstellende Denken der Metaphysik dieses Wesen der Wahrheit nie erreichen, mag es sich auch noch so eifrig um die vorsokratische Philosophie historisch bemühen; denn es handelt sich nicht um irgendeine Renaissance des vorsokratischen Denkens — solches Vorhaben wäre eitel und widersinnig — sondern um das Achten auf die Ankunft des noch ungesagten Wesens der Unverborgenheit, als welche das Sein sich angekündigt hat. Heidegger M. Einleitung zu „Was ist Metaphysik?“
Paragraph 1. Die vorsokratische Rechtsphilosophie als Erfahrung des vormetaphysischen Rechtsdenkens Die im vorherigen Kapitel vorgenommene Analyse der metaphysi‐ schen Art des Rechtsverständnisses hat ausführlich gezeigt, dass die Rechtsbesinnung als des immer schon existierenden, vorhandenen, gegebenen Sollens, welches vorschreibende Eigenschaften bezüglich der seienden Wirklichkeit besitzt, im Wesentlichen antinomisch ist und den Forscher in unlösbare Widersprüche stürzt. Unter den me‐ taphysischen Rechtsantinomien haben wir die Dichotomie von na‐ türlichem und positivem Recht aufgezeigt sowie die Frage nach dem Wesen des Rechts, welche jeweils im Verlauf der zweieinhalbtau‐ sendjährigen Geschichte der Rechtsmetaphysik immer noch keine adäquate Auflösung bekommen haben. Zugleich ist die Metaphysik – auch die Rechtsmetaphysik – nur eine Entwicklungsstufe sowohl des philosophischen als auch des rechtsphilosophischen Denkens. Wie bereits gesagt wurde, hat Sein des Rechts schon für die Vorsokratiker keinerlei absolute Gegeben‐ heit dargestellt. Die Fluidität, Veränderlichkeit und Beweglichkeit des
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung
Seins, worauf Heraklit bestanden hat, haben anschaulich gemacht, dass kein Phänomen den Anspruch auf die absolute Existenz besit‐ zen kann. Und Recht war dabei keine Ausnahme. Nach Auffassung des altgriechischen Denkers existiert νόµος nicht apriorisch, an sich, sondern bedarf einer ständigen Erneuerung seines Seins im Verlauf der menschlichen Tätigkeit. Eben gerade diese Sache unterstreicht Heraklit in seinem bekannten „rechtsphilosophischen Aphorismus“: µάχεσθαι χρὴ τὸν δῆµον ‘υπέρ τοῦ νόµου ‘όκωσπερ τείχεος. 127 Wiewohl sich die philosophischen Konstruktionen des Parmeni‐ des, wonach Sein statisch und bewegungslos ist, von den herakliti‐ schen unterscheiden, denkt auch er analog das Recht außerhalb der Metaphysik, d. h. außerhalb der metaphysischen Koordinaten von Sein und Sollen. Erinnern wir uns daran, dass beim eleatischen Phi‐ losophen keine andere als Göttin Dike die abwechselnd mal eröff‐ nenden, mal verschließenden Torschlüssel zur Wahrheit des Seins, ’αλήθεια, besitzt. Wie der Wechsel von Tag und Nacht, d. h. von Er‐ schlossenheit und Verborgenheit, so ist auch die Wahrheit des Seins in ihrem Wesen dynamisch. Die von Dike bewachten Tore lassen sich nur von ihr selbst öffnen, indem man sich mit weisen und ge‐ schickten Reden an sie wendet. Der Weg zu den Toren der Wahrheit bei Parmenides ist Gesetz, Gericht und Wahrheit. Dadurch ist Recht auch bei diesem Philosophen kein vorhanden gegebenes Phäno‐ men, sondern nur der Weg zur Wahrheit, welchen man finden und gehen, d. h. immer wieder erneuern muss. Im Gleichen gibt es auch die angeblich apriorische Verbindung von Recht und Sollen nicht: Recht wird nicht dem Sein entgegengesetzt, sondern erweist sich als Teil dessen. Nach Parmenides hält gerade Dike Geburten und Tode in ihren Fesseln: Sie leitet das Entstehen und die Vernichtung des Seienden, also dessen Sein. Laut A. Kaufmann handelt auch der Spruch des Anaximander von der Verbindung von Sein und Recht als eines der ältesten Merk‐ male des europäischen Denkens. 128 Es sei vermerkt, dass Recht in folgendem Spruch nicht als eine gewisse, absolut gegebene, statische 127 „Kämpfen soll die Bürgerschaft für ihr Gesetz wie für die Mauer“. Zit. nach: Diels H. Die Fragmente der Vorsokratiker. – Berlin-Charlottenburg: Weid‐ mannsche Verlagsbuchhandlung, 1960. – S. 160. 128 Kaufmann A. Ontologische Struktur des Rechts // Rechtsphilosophie im Wan‐ del. – Frankfurt am Main: Stationen eines Weges, 1972. – S. 131.
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Paragraph 1. Die vorsokratische Rechtsphilosophie
Gesamtheit von positiven oder natürlichen Normen und Regeln ge‐ dacht werden soll, sondern als ein sich bewegendes, dynamisches Ereignis: „Woraus aber die Dinge das Entstehen haben, dahin geht auch ihr Vergehen nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einan‐ der Strafe und Busse für ihre Ruchlosigkeit nach der festgesetzten Zeit.“ 129 Den Ausdeutungen von diesem äußerst vielschichtigen und geheimnisvollen Fragment ist eine Vorlesungsreihe von M. Heideg‐ ger gewidmet. 130 Der deutsche Philosoph hält es zunächst für notwendig, darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck «τἂ ’όντα», mit dem Anaximanders Satz beginnt, nicht nur „Sein“ im üblichen Sinne bezeichnet, sondern das Seiende in seinem Sein, und Sein als solches. 131 Das mit diesen Worten bezeichnete Phänomen interpretiert Heidegger als das „An‐ wesende“. Nach Anaximander versteht auch er unter dem „Anwesen“ keineswegs etwas in der Art eines bloßen „Gegenstandes“. Ihm zu‐ folge sprechen wir heute vom Anwesen als von einem Haus samt Hof und Land. Im „Anwesenden“ als dem griechisch gedachten Seienden schwingt dieses mit, dass etwas zum Haben angeboten wird, wobei das Dargebotene nur insofern angeboten werden kann, als es ihm selbst und von ihm selbst her schon zu Gebot steht. 132 Für eine Be‐ zeichnung dessen, wovon Heidegger spricht, gibt es noch ein genaue‐ res Wort – das Schicksal. Im Zusammenhang mit den schicksalhaften Konnotationen im urtümlichen Spruch von Anaximander, wo es um den Ursprung vom Entstehen und Verschwinden des Seienden geht, ist jenes Wort sehr angemessen. Dementsprechend lässt sich vermu‐ ten, dass das Fragment des griechischen Philosophen von nichts an‐ derem spricht als vom Schicksal des Seienden in seinem Sein, welches eine untrennbare Verbindung mit dem Recht hat. Wiederum hielt Heidegger es für möglich, «γένεσις» und «φθορά», welche traditionell als „Geburt“ und „Vernichtung“ übersetzt wurden, als „Entstehen“ und „Entgehen“ zu übersetzten. 133 Dieses 129 Diels H. Die Fragmente der Vorsokratiker. 1. Aufl., Weidmannsche Buchhand‐ lung, Berlin 1903, S. 16. Zitiert nach: Heidegger M. Der Spruch des Anaximan‐ der. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2010. – S. 3. 130 Heidegger M. Der Spruch des Anaximander. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2010. – S. 351. 131 Op.cit. S. 41–42. 132 Op.cit. S. 60–61. 133 Op.cit. S. 117.
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Entstehen und Entgehen bedeutet nicht bloß Anwesenheit oder Ab‐ wesenheit vom Seienden, sondern jenen „Zug des Seins“, welcher nämlich im Phänomen des „Anwesenden“ als „Schicksal“ enthalten ist. Mit anderen Worten handelt es sich im ersten Teil des genannten Fragments um das Schicksal vom Seienden – „ent-stehen“ und „entgehen“ im „Zuge des Seins“. Gleichzeitig reicht es eindeutig nicht aus, diesen Sachverhalt ein‐ fach zu konstatieren. Im untersuchten Fragment bezeichnet Anaxi‐ mander nicht einfach das „Herkommen“ der Dinge als solche, son‐ dern zeigt ebenso die „Notwendigkeit“ von diesem „Gang des Seins“ auf. Genau so – als „Notwendigkeit“ – wird auch «κατά τὸ χρεών» bei Anaximander von vielen Auslegern übersetzt, wobei sämtliche Dinge „nach der Notwendigkeit“ geboren und vernichtet werden. Jedoch sollte man unter der „Notwendigkeit“ bei Anaximander in keinem Fall die metaphysische „Notwendigkeit“ als „reinen Deter‐ minismus“ verstehen. „Κατά τὸ χρεών, «nach der Notwendigkeit» kann wohl nur von dem gesagt sein, was in dem ganzen Satz als das Wesentliche gedacht wird, daß es nämlich das Selbe ist, das, «aus welchem her» und das, «zu dem hin» Entstehen und Entgehen als solche entstehend anwesen“. 134 Die „Notwendigkeit“ also, „nach welcher“ «γένεσις» und «φθορά» geschehen, ist das Maß, gemäß welchem der genannte „Zug des Seins“ geschieht. 135 Dieses Maß ist das, was das bestimmte „Schicksal vom Seienden“ als das Verhältnis von seinem „Entstehen“ und „Entgehen“ festlegt. Nach Heidegger, obwohl wir uns ungern von der Übersetzung von «χρεών» als „Not‐ wendigkeit“ loslösen, ist letztere das, was keine andere Möglichkeit gestattet, keinen anderen Weg zulässt als den einen, auf welchen sie den Gang der Dinge schickt, ohne dass die Nötigung bloß ein blinder Zwang sein müsste. So gedacht meint die Notwendigkeit Schickung und Schicksal, 136 welche Dinge in Gang setzt, als Verhältnis von Entstehen und Entgehen ihres Schicksals. Nach Heidegger werden Dinge von der Notwendigkeit nicht zwangsläufig in den genannten „Gang“ gesetzt. Er versteht Notwendigkeit als Not. 137
134 135 136 137
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Op.cit. S. 124. Ibid. Op.cit. S. 128. Ibid.
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Analog bedeutet „Not“ sowohl in deutscher als auch in ukrai‐ nischer Sprache einen „Mangel“, eine gewisse Unvollständigkeit. Diese Unvollständigkeit «ruft» sie zu füllen. Dementsprechend sollte man Notwendigkeit, die das Schicksal der Dinge als ihr Ent‐ stehen und Entgehen in „Gang“ setzt, im wahren Sinne des Wortes „Nötigung“ als „Zwang” verstehen. 138 Dies ist allerdings kein blo‐ ßer „Zwang“, sondern eine Bewegung in diejenige Richtung, welche vom Mangel, der Unfertigkeit in dem, was sich bewegt, der von der „Schickung“ erzeugten „Not“, hervorgerufen wird. Anders gesagt, der gesuchte Ursprung des Schicksals vom Seienden in seinem Sein, der sich als Entstehen und Entgehen ereignet, ist die Notwendigkeit als Schickung, von welcher Not, Mangel und Unvollständigkeit her‐ vorgebracht werden. 139 Letztendlich lautet die Heideggersche Über‐ setzung vom ersten Teil des Spruchs folgendermaßen: „Aus wel‐ chem her aber das Entstehen sich bringt den Anwesenden (d. h. dem Schicksal vom Seienden, O.S.) auch sogar das Entgehen zu diesem hin (als dem Selben) entsteht füglich dem Brauch.“ 140 Wie Parmenides, der im Recht den Pfad, den Weg zur Wahr‐ heit sah, beschreibt Anaximander den durch die Notwendigkeit ge‐ gebenen „Schicksalsweg vom Seienden in seinem Sein“ vermittels Rechtsbegriffe. Im zweiten Teil seines Spruchs nutzt er solche Wör‐ ter wie «δίκη», «’αδικία», «θέσις». Heidegger zufolge betont der grie‐ chische Philosoph durch die Nutzung dieser Wörter jenen Umstand, dass Sein sich nicht als reines Vorhandensein manifestiert, sondern gleichzeitig die Selbstbeschränkung ist, so wie dieses Weggehen (die „Entgleitung“), auf welches «φθορά» deutet, das „Entgehen“ ist. Als solche Einschränkungen lassen sich Sein–Nichtsein, Sein–Schein, Sein–Werden, Sein–Bewusstsein, Sein–Wahrheit, Sein–Sollen und Sein–Wert nennen. Jede dieser Unterscheidungen, die das mensch‐ liche Denken nicht „gemacht“ hat, zeigt nicht nur eine je andere Möglichkeit der Beschränkung des Seins, sondern diese Möglich‐ keiten deuten ihrerseits auf einen verborgenen Reichtum im We‐ sen des Seins selbst. 141 Wie aus dem angeführten Verzeichnis zu entnehmen, kann Beschränkung des Seins als seine Verborgenheit 138 139 140 141
Ibid. Das, woraus dieser Mangel entsteht, wird weiter expliziert. Op.cit. S. 136. Op.cit. S. 153.
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vermittels Recht zum Ausdruck gebracht werden. Denn «δίκη» und «θέσις», welche im zweiten Teil des Spruchs erwähnt werden, galten traditionell als Wörter für die Bezeichnung von „Sollen“: „Recht und Gerechtigkeit“. Wenn es jedoch darum geht, die Gedanken der Vorsokratiker zu interpretieren, sollte man sowohl Recht als auch Gerechtigkeit nicht deontologisch – formal-rechtlich oder moral-ethisch – denken, son‐ dern ontologisch, d. h. im Lichte der erwähnten Verbindung von Sein und Recht, wo letzteres die dem Sein eigene Beschränkung be‐ zeichnet. Wie Heidegger zeigt, können wir nicht vermeiden, Dike als Recht zu übersetzten. Aber es besteht auch kein Anlass, Recht in der Bedeutung von „ius“, oder „iustitia“ zu denken. 142 Denn sowohl „ius“ als auch „iustitia“ gehören als römische Begriffe der Epoche der Metaphysik an, wo Recht („ius“) nicht als die dem Sein imma‐ nente Beschränkung, sondern als das für Sein äußeres Sollen ge‐ dacht wird. So, wie Heidegger betont hat, „die römische veritas zur «Gerechtigkeit» des Willens zur Macht geworden” ist. 143 Der Wille zur Macht ist jedoch das Erzeugnis der Metaphysik und hat deswe‐ gen in der vormetaphysischen Periode noch keinen Sinn. Das Wort „Gerechtigkeit“ (iustitia) hat seinen Ursprung in „ius“, welches von „jubeo“ abgeleitet ist. Nach Heidegger gehört in den Wesensbereich «des Befehls» das römische «Recht» (ius), was wiederum mit «ju‐ beo» zusammenhängt: Heißen, durch Geheiß tun lassen und im Tun und Lassen bestimmen. Der Befehl ist der Wesensgrund der Herr‐ schaft und des römisch verstandenen «im Recht sein» und «Rechthabens», des iustum. Demgemäß hat die iustitia einen ganz anderen Wesensgrund als die «δίκη», die aus der «’αλήθεια» west. 144 Offensichtlich liegt am Grunde der römischen iustitia eine Wahr‐ heitskonzeption, die vollkommen anders ist, als das griechische «’αλήθεια». „Im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit zu einem ge‐ schichtlichen Gesamtzustand der Erde erscheint das römische We‐ sen der Wahrheit, die veritas als rectitudo und iustitia, als die «Ge‐ rechtigkeit», so Heidegger.“ 145 Deswegen ist es genauso sinnlos, 142 Op.cit. S. 160. 143 Heidegger M. Parmenides. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1992. – S. 78. 144 Op.cit. S. 59. 145 Op.cit. S. 78.
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«δίκη» als Gerechtigkeit in Analogie zu iustitia zu übersetzten, wie «’αλήθεια» als „Wahrheit“ mit veritas gleichzusetzen. Eine solche Übersetzung verdunkelt eher das Wesentliche des entsprechenden Phänomens, hinterlässt es nicht nur unverstanden, sondern auch unbewusst in seiner Problematik. Wie man sieht, ist Recht, das als Beschränkung des Seins genommen wird, bei Anaximander die Be‐ zeichnung von Notwendigkeit, die als Mangel und Unvollständig‐ keit die Dinge in den rechtlichen Gang setzt. Bei der Auseinandersetzung mit dem Spruch von Anaximan‐ der übersetzt Heidegger «δίκη» nicht als Recht oder Gerechtigkeit, sondern als Fug. 146 Nach seiner Aussage geht das gewöhnlich zur Übersetzung gebrauchte Wort „Recht“ zurück auf rectus, „gerade“, „direkt“ „aufrecht“, „waagrecht“, „lotrecht“, „perpendikulär“ – das Rechtliche meint hier das Weisen in eine „Richtung“: Aber ein Wei‐ sen, das nicht etwa nur in die Richtung zeigt, sondern die Richtung nimmt, genommen hat und sich so fügt, weil es das Fügende ist. Sollte δίκη mit «δείκνυµι», «zeigen», verwandt sein, dann wäre δίκη dergleichen wie das Weisen, aber nicht nach der Art des Zeigens, in der ein «Wegweiser» zeigt, sondern wie der Weg selbst und ur‐ sprünglicher noch als dieser, der immer schon in sich birgt, dass er durch ein Gehen ergangen ist, das sich zu ihm, auf ihm und durch sein Ergehen verfügt hat, und solche Verfügung ist. Dike lässt sich dann in unsere Sprache übersetzten durch die Fuge, die verfügend fügt und Fügung ist – nicht nur weisend, sondern eigens in An‐ spruch nehmend: Die Fuge als der Fug, den die Weisheit unserer Sprache schon mit dem Recht zusammen gedacht hat, indem sie uns sagen lässt: „Mit Fug und Recht“. 147 Dadurch zeigt sich «δίκη» als „Fuge“ im Wesentlichen als ein dynamisches Phänomen, das nicht einfach den gewissen „Schick‐ salsweg des Seienden in seinem Sein“ kennzeichnet, sondern auch die Weise, ihn zu gehen. Denn gemäß einem Lexikon ist eine der Bedeutungen des Wortes „Fuge“ die „Ordnung in der Ausführung“, der „Ritus“. 148 Anderseits bedeutet „Fuge“ den Rang einer Person, 146 Heidegger M. Der Spruch des Anaximander. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2010. – S. 161. 147 Op.cit. S. 161–162. 148 Даль В. Толковый словарь живого великорусского языка: В 4 т. – М.: Гос. изд-во иностр. и нац. словарей, 1955. – Т. 4: Р. – V. – S. 604–605. [Dal’
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welche „nach dem Rang“ zu etwas befugt ist. Dem „Rang“ nach kann man auch etwas tun, begehen, etwas unterordnen, antun, d. h. Maßnahmen ergreifen, welche dem Rang (der Fuge) entsprechen als einer Ordnung, sowie dem Status derjenigen, der diese ergriffen hat. Und deshalb kann der erwähnte Weg nicht irgendwie und nicht von jedem gegangen werden, sondern nur in der bestimmten Rang‐ ordnung (füglich) und nur von jemandem, der nach der Fuge dazu befugt ist. Anderenfalls haben wir es mit dem Unfug zu tun, welcher auch in Anaximanders Fragment zu sehen ist. So übersetzt Heideg‐ ger in ebenjenem Spruch das griechische «’αδικία» durch „Unfug“; denn dies bedeutet es im Deutschen: Dem griechischen Präfix „a-“ entspricht das deutsche „Un-“. Das griechische Wort “θέσις“, das im erwähnten Fragment tradi‐ tionell als „Zahlung der Buße“, „das Zukommenlassen, was einem anderen gehört“ übersetzt wurde, interpretiert Heidegger durch das altdeutsche Wort „ruoch“, was so viel bedeutet wie „Kümmerung, die Anderes je in seinem Eigenen gewähren lässt“. 149 Insofern der „Schicksalsgang der Dinge“ auf dem Weg des Rechts durch Notwen‐ digkeit bestimmt wird, die als Not und Mangel verstanden wird, er‐ weist sich die ontische „Zahlung der Buße“ als ihr Ausgleich. Anders gesagt ist „Kümmerung, die Anderes je in seinem Eigenen gewähren lässt“ darauf gerichtet, jedem das zukommen lassen, was ihm je nach Fuge zugehört, d. h. entsprechend dem, was und wie er selbst ist. In Konkretion Heideggers: „“Die Weile ist die eigentliche Fuge, der überstehende Übergang. In dieser Fuge ist die Einheit von γένεσις und φθορά gefügt. Die Fuge selbst ist verfügt aus dem her, was das Selbe ist, von dem her und zu dem hin Entstehen und Entgehen wesen, worin sie entlassen sind in ihre Einheit und einbehalten zu‐ gleich. Das Fügende der Fuge der Weile ist der Fug als der Brauch, der lassend-zwingend die Bracht der Weile erbringt“. 150 Dadurch bringt Notwendigkeit als Not das Seiende auf den Weg des Rechts, auf welchem sich der Gang vermittels der bestimmten, „gefügten“ Ordnung ereignet, als der Wechsel von Entstehen und V. Dictionary of Russian Language. – Moscow: State Ed. of international and national Dictionaries, 1955]. 149 Heidegger M. Der Spruch des Anaximander. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2010. – S. 166. 150 Op.cit. S. 172.
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Entgehen, Erschlossenheit und Verborgenheit des Seienden in sei‐ nem Sein. Wie schon gesagt wurde, die „Schickung“ tritt als der Ursprung vom erwähnten Weg auf, auf welchem „Dinge in Gang gesetzt werden“. Infolgedessen kommt Heidegger zum Schluss, dass Anaximanders Spruch so klingen muss: «Aus welchem her aber das Entstehen sich bringt den jeweiligen Anwesenden (d. h. Schicksal des Seienden – O.S.), auch sogar das Entgehen zu diesem hin (als dem Selben) entsteht füglich dem Brauch; gehören lassen nämlich sie (die Jeweiligen) Fug (dem Brauch) darum auch Ruoch einan‐ der (aus der Verwindung) des Un-Fugs füglich der als der Erweilnis fügenden Zu- und Einweisung». 151 Anders gesagt, bringt die Schi‐ ckung das Schicksal der Dinge in Gang als eine Ordnung von ihrem Entstehen und Entgehen. Dieser Gang wird durch die Notwendig‐ keit als Not und Mangel festgelegt, die durch die erwähnte Schi‐ ckung hervorgerufen wird, welche das Seiende dazu bringt, einan‐ der zu erreichen, um sie zu erfüllen. Diese Erfüllung ist auf dem Weg des Rechts möglich, welcher in einer bestimmten –„gefugten“ – Weise gegangen werden soll. Diese Auffassungen werden im Verlauf der nachfolgenden Auslegung ausführlicher aufgezeigt. Inzwischen muss festgestellt werden, dass Recht im vormetaphysischen Rechts‐ denken nicht als statisches Sollen erscheint, das sich „jenseits des Seins“ befindet, sondern als dynamischer Weg, auf dem alles Seiende sich in Wahrheit seines Seins ereignet – wie das, was und wie es ist, d. h. in seinem Schicksal.
Paragraph 2. Die Erfahrung des Unrechts als existentielle Grundlage des Rechts Die Aufgabe der Rekonstruktion des vormetaphysischen Rechts‐ verständnisses setzt die Beschreibung von dessen Koordinaten vor‐ aus. Bekanntlich dachte die metaphysische Rechtsphilosophie Recht in Rahmen der Dichotomie von Sein und Sollen, welche auf der Annahme vom absoluten Sein des Rechts basierte. Solche Gren‐ zen erweisen sich jedoch dem vormetaphysischen Rechtsdenken als fremd. Da Recht bei den Vorsokratikern prinzipiell nicht als das
151 Op.cit. S. 203.
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gewisse Seiende verdinglicht werden darf, sondern nur gelegentlich und beweglich existiert, so ist der adäquatere Ansatz, um es zu ver‐ stehen, eine Rekonstruktion jener Umstände, welche es „ins Leben rufen“. Dementsprechend, wenn Recht nach Auffassungen von Ana‐ ximander, Heraklit und Parmenides gedacht wird, soll seine weitere Beschreibung den Inhalt jener Phänomene aufschließen, welche un‐ umgänglich auf diesem Wege anzutreffen sind. Die Notwendigkeit treibt den Menschen auf den Weg des Rechts (κατὰ τὸ χρεών). Ihre Spezifik wurde vorher als „Not“, „Mangel“ und „Unvollständigkeit“ des Seienden – des Menschen – in seinem Sein mit anderen Menschen beschrieben. Dieser Mangel kann auf dem Weg des Rechts gefüllt werden. Der Weg des Rechts („Fug“) enthält wiederum νόµος als die Angabe der Richtung auf diesem Weg, πόλις als den „Ort“, an dem er existiert, und „καιρός“ als die spezielle „richtige“ Zeit, wann der erwähnte Weg zu dem Gesuchten führen kann – dem Schicksal des Seienden, das auf dem Weg des Rechts geht, als Wahrheit seines Seins. Wie mehrfach betont wurde, war für die Vorsokratiker die Tat‐ sache offensichtlich, dass die Existenz des Rechts keinerlei „übliche Sache“ ist. Denn in einer von den Kräften des Chaos beherrschten Welt, die im Raum der Polis als ’έρις (Zwietracht) und ’αδικία (Un‐ fug) widergespiegelt werden, kann nicht nur die Rechtsherrschaft, sondern selbst die Möglichkeit von dessen Sein allstündlich in Frage gestellt wurde. Die Verwunderung über das Sein des Rechts wird von W. Maihofer treffend zum Ausdruck gebracht, in dem er Hei‐ degger umformuliert und fragt: „warum ist überhaupt Rechtliches und nicht vielmehr nicht?“ 152 Die Rechtsphilosophie begann mit einer ähnlichen Verwunderung über das, was später metaphysisch als offensichtliche Tatsache akzeptiert wurde – dass das Recht über‐ haupt ist, obwohl es möglicherweise auch nicht sein kann. Mit obigen Ausführungen existierten Möglichkeiten von Recht und Unrecht in der vormetaphysischen Rechtsphilosophie Seite an Seite. Keineswegs zufällig bemerkt Heraklit, εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεµον ἐόντα ξυνόν, καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόµενα πάντα κατ’ ἔριν
152 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 38.
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καὶ χρεών. 153 Dadurch haben beide Gegensätze den gleichen Ur‐ sprung – die Notwendigkeit. Jene Notwendigkeit ist keine Synthese beider n, sondern eine ontologische Grundlage, in welcher beide Möglichkeiten gleichursprünglich verwurzelt sind. Wie wir bereits wissen, stellt die erwähnte „Notwendigkeit“ den Mangel, die Not dar, die während des gefugten Ganges des Men‐ schen auf dem Weg des Rechts gefüllt wird. Insofern Recht als eine Beschränkung von Sein gedacht wird, können jene Not und je‐ ner Mangel als diejenigen wirklichen oder angeblichen Schäden be‐ trachtet werden, welche der Mensch in seinem Sein mit Anderen er‐ litten hat. Zu sagen, dass die meisten Denkmäler der vormetaphysi‐ schen Rechtsphilosophie aufgrund der erlebten Schadenserfahrung entstanden sind, scheint keine Übertreibung zu sein. So beginnt Homer die Ilias mit der Beschreibung des ungerechten Prozesses geführt von Agamemnon, der anstelle der von ihm freigelassenen gefangenen Chryseis willkürlich beschloss, Achilles seinen gerech‐ ten Anteil an der Beute – Briseis – wegzunehmen. All das Elend, das die Griechen in der Ilias erleiden, ist das Ergebnis dieser Unge‐ rechtigkeit. Hesiod hat seine „Werke und Tage“ während des Strei‐ tes geschrieben, den er zugunsten seines Bruders Perses verloren hat, als der vom letzteren bestochene Richter Perses ein Erbe zuge‐ sprochen hat, das dem Hesiod zustand. Die Tragödie des Sophokles „König Ödipus“ beginnt mit einer Seuche, die Thiva infolge eines Verbrechens ereilte. Über Recht und Unrecht handelt es sich auch in den oben angeführten philosophischen Sprüchen von Anaximander und Heraklit. Aufgrund dessen kann man zu einer scheinbar paradoxen Schlussfolgerung kommen: Die Grundlage des Rechts ist die Erfah‐ rung des Unrechts. Der österreichische Rechtsphilosoph R. Marcic hat diesen Sachverhalt als „skandalös“ bezeichnet: Der Mensch sieht durch das Fenster vom Unrecht den Garten des Rechts. Unrecht ist in das Recht eingesetzt. 154 Dementsprechend sollte man bei der 153 Маn soll аbеr wissen, dass der Кrieg gemeinsam (allgemein) ist und das Recht der Zwist und dass alles geschieht auf Grund von Zwist und Schuldigkeit. Zit. nach: Diels H. Die Fragmente der Vorsokratiker. – Berlin-Charlottenburg: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung, 1960. – S. 169. 154 Marcic R. Rechtsphilosophie. Eine Einführung. – Freiburg: Rombach, 1968. – S. 15.
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Rekonstruktion der vormetaphysischen Vorstellungen von Recht als den Weg zunächst die Erfahrung des Unrechts offenlegen, die einer Art „existentieller Anlass“ war, um „den Weg einzuschlagen“. Bekanntlich bekommt die Erfahrung des Unrechts in der altgriechi‐ schen Philosophie eine bildhafte Personifikation: Erstens ist Hybris der Antagonist von Dike, der Gerechtigkeit. Wie E. Wolf zeigt, heißt derjenige der Hybris verfallene ἀνὴρ ἂδικος. Er ist der übermütige und maßlose Mensch, der die Grenzen seines Daseins leugnet und sich selbst vergöttern möchte. 155 Dieses Wort wird am häufigsten als «Stolz», «Hochmut» sowie «Willkür» über‐ setzt. Ohne Einwände gegen die formale Richtigkeit dieser Überset‐ zungen zu erheben, sollte angemerkt werden, dass Hybris als Anti‐ pode von Dike nicht nur Stolz verkörpert, sondern “einen Anspruch auf das hat, was über die Grenzen des Zustehenden hinausgeht.“ So ist z. B. Hybris für einen Sterblichen der Anspruch auf Unsterb‐ lichkeit, Allwissenheit usw. In rechtlicher Hinsicht geht Hybris über die festgelegten Grenzen hinaus, die die angemessene Seinsart mit anderen beschreibt, den Anspruch auf etwas, das dieser Seinsartals-jemandem nicht zusteht. Wie E. Wolf unterstreicht, ist Hybris das Unmaß. Ihr besonderes Wesen ist das Übermaß, ein «Zuviel» in allem, eine Überschreitung der im Wesen des Menschen selbst gegebenen Grenzen. 156 Dementsprechend wird jemand Dike ver‐ nachlässigen, sobald er einen Anspruch auf etwas erhebt, was „ihm nicht zusteht“, oder wenn jemandem etwas zugesprochen wird, was ihm nicht zusteht. Zweitens kann Dike vergessen werden. Dementsprechend ist die zweite Gegnerin Dikes – Lethe, d. h. „die Vergessung“. Sie lässt die Strafe und Sühne, die Wiederherstellung, auf die es Dike ankommt, vergessen. 157 Wie schon gesagt ist „Lethe“ als Vergessung das Ge‐ genteil von «’αλήθεια». Das ist aber kein psychologisches Phäno‐ men. So Heidegger, „gemäßer benennen wir das Ereignis der Ver‐ gessenheit mit dem früher gebräuchlichen Wort Vergessung: Etwas gerät in die Vergessenheit.” 158 Die Vergessung ist derjenige Platz, 155 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 196. 156 Op.cit. S. 50–51. 157 Op.cit. S. 49. 158 Heidegger M. Parmenides. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1992. – S. 106.
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welcher jener einnimmt, der rechtswidrig handelt. Anders gesagt bezeichnet Lethe das Phänomen, wobei jemand sich vergessen hat, d. h. „seinen Platz vergessen hat“, „unbefugt handelt“. Wie M. Hei‐ degger schreibt: „λήθη, die Vergessung, ist eine Verbergung, die We‐ sentliches entzieht und den Menschen selbst ihm selbst , d. h. Mög‐ lichkeit, in seinem Wesen zu wohnen.” 159 Drittens kann Dysnomia das Ergebnis von Hybris und Lethe sein. Wie der Name schon sagt, verkörpert sie Gesetzlosigkeit und Will‐ kür. All dies ist die Folge des Verlustes der Richtung und des Maßes, die der Nomos verkörpert. Infolge von Dysnomie wird es unmög‐ lich, die richtige Richtung in Bezug auf die Anderen zu bestimmen sowie die Konsequenzen der begangenen Tat, die dem Recht ent‐ spricht. Da alle „Plätze“ sich vermischt haben, ist es nicht mehr möglich zu verstehen, wer handelt und seinem Wesen nach, d. h. „nach Fug“ bekommt, und wer – nicht. Hingegen erhält auch die Erfahrung der Kompensation solche Schäden, die durch „Platzvermischung“, „Vergessung“ usw. entste‐ hen, eine mythologisch-figurative Personifikation in Form der Fi‐ guren von Nemesis, Styx und Erinius. Nemesis hat traditionell Ahndung verkörpert. Jedoch ist Nemesis Vergeltung, wie E. Wolf bemerkt. 160 Indem sie für das Begangene vergilt, „zeigt“ Nemesis sozusagen auf das, was getan wurde, und lenkt den Täter in die richtige, zuvor verlorene Richtung. So betei‐ ligt sich Nemesis als Tochter von Gaia auch an der Zuteilung des Schicksals, indem sie jeden nach seinen Taten vergilt. Im Phänomen der „Vergeltung“ prägt sich das Wesen von Neme‐ sis am vollständigsten aus. Dies ist nicht nur eine Ahndung, eine Strafe für die begangene Tat. Vergeltung sollte in diesem Fall nicht rein negativ verstanden werden. Denn sie ist fällig auch für die rich‐ tige Tat. Deshalb ist, wie E. Wolf zeigt, „das Wesen der Nemesis «Vergeltung». Dies sagt nicht einfach dasselbe wie «Strafe», «Ent‐ sühnung» und «Wiederherstellung», welche Dike bewirkt. . . Das «Vergelten» ist zwar der fügend-verfügende Spruch der Temis und, wie das Zuteilen des Zukommenden durch Dike, ein Zufügen. Aber dieses ist nicht das Besondere und Wesentliche der Nemesis, son‐ 159 Op.cit. S. 107. 160 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 26.
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dern die Wirkung, welche sie stiftet: der Ausgleich. Nicht das Zu-tei‐ len, sondern das Ver-teilen, das Zumessen ist die Wesensauszeich‐ nung ihres Wirkens. . . Was Nemesis ausgleicht, ist also nicht etwa Glück oder Macht, sondern Unrecht und Schuld. . . . was die Schuld ausgleicht, ist aber «Strafe».“ 161 Also, Nemesis ist nicht «Rache», sie verteilt, stellt durch Teilung her, misst bei. 162 Es sollte bedacht werden, dass die Schuld, von der E. Wolf spricht und die Nemesis „ausgleicht“, im Rahmen moderner Konzepte kei‐ nesfalls als „die psychische Einstellung einer Person zur begange‐ nen Tat“ verstanden werden sollte. Wie Heidegger betont: „Schuldig sein hat dann die weitere Bedeutung von «schuld sein an», das heißt Ursache-, Urheber-sein von etwas oder auch «Veranlassung sein» für etwas“. 163 Das Phänomen der Schuld wird bei der Besinnung der existentiellen Quelle des Rechts analysiert. Hier ist es wichtig zu be‐ achten, dass Nemesis die Verbindung zwischen der Tat als „Schuld“, d. h. dem Grund für das Geschehene, symbolisiert hat und die Be‐ strafung als das Zeigen auf das, was getan wurde und was im Verlauf eines solchen Verweises das Begangene „berichtigte“ oder „aufrich‐ tig“ machte. Dementsprechend kann festgestellt werden, dass Ne‐ mesis als Verbündete von Dike dann eingetreten ist, als das Wis‐ sen darüber verloren ging, was demjenigen zustand, der vor Ge‐ richt stand. Durch Nemesis wurde das dem vor Gericht Stehendem Zustehende vollzogen, das vorher verborgen war. Insofern Nemesis diejenigen bestrafte, die die festgelegte Grenze überschritten haben und einen für sie unangemessenen Anteil beansprucht haben, so befand sie sich in einer wesentlichen Konfrontation mit Hybris. Wie aus der alten Mythologie bekannt, war Styx ein Titanide, die der Unterwelt angehörte und Festigkeit und Unverletzlichkeit des Eides verkörperte. Nach den altgriechischen Bräuchen wurden Ver‐ sprechen oder Verträge mit einem Eid besiegelt. Das Brechen des Vertrages bedeutete nicht nur, die vereinbarten Bedingungen nicht zu erfüllen, sondern auch das zu gefährden, was die Vertragspar‐ teien während der Vertragsschließung waren. In einem Eid wurden die entsprechenden Orte und Status der beteiligten festgelegt. Wie E. Wolf geschrieben hat, „in Eid setzt der Schwörende seine ganze 161 Op.cit. S. 56–57. 162 Op.cit. S. 57. 163 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 282.
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Person: «Leib und Seele», diesseitiges und jenseitiges Dasein zum Pfande ein. Gilt der Schwur nichts, so fällt mit ihm der Schwörende: Sein Sein enthüllt sich als Schein, sein Dasein ist nichtig, verwirkt. Aus diesem Grunde erkannten die Griechen im Meineid ein un‐ sühnbares Unrecht; sie erfuhren ihn als eine Selbstzerstörung, über welche kein menschlicher Richter urteilen kann. Deshalb vermag auch Dike ihn nicht zu strafen“. 164 Von daher mischte sich Styx dann ein, als der Verbrecher infolge des Begangenen „sich vergessen hat“, d. h. seinen Platz verlor, sich fand „ohne Schicksal“. Gemäß dem Eid, der aufbewahrt und im Gedächtnis behalten werden muss sowie den Schwörenden in seinem Wesen hält, widersetzt sich Styx der Lethe (Vergessung). Wenn infolge von Dysnomie alles durcheinandergerät, das Ange‐ messene vom Unangemessenen nicht getrennt werden kann und es unmöglich ist zu erkennen, wer wer ist, kommen die Erynien zum Zug. Sie greifen ein, wenn weder Dike noch Themis prinzipiell das Schicksal aus der Verborgenheit holen kann. Diese Unmöglichkeit hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass jede Definition von „An‐ teil“ und „Schicksal“ als Wesen des Seins von den vor Gericht Ste‐ henden nur innerhalb der Polis möglich ist, d. h. in einem „bereits von Nomos geregelten“ Raum. Wenn jedoch solche Taten begangen werden, die das Menschenwesen vollständig zerstören, können sie von Dike oder Themis nicht „verurteilt“ werden. Es handelte sich um Taten eines Menschen, der „sich verging an Göttern, am Gaste, am Haupte der Eltern“. 165 Dies wurde von den Erinyen bestraft. 166 Und zwar deshalb, weil nach vormetaphysischen Ansichten das Be‐ urteilen, d. h. die Bestimmung des Schicksals (das Menschenwesen) nur bei jemandem möglich war, der ein solches hatte. Aber insofern dieses Wesen als der „Ort“ in der Polis durch die begangene Tat zerstört wurde und die gesamte Polis dadurch bedroht war, waren Themis oder Dike machtlos. Die Erde selbst erhob sich gegen solche Verbrecher. Wie E. Wolf schreibt, ist Erinys eine sehr alte Gottheit, deren Name «die Zürnende Erde» heißt. An ihre Funktion – die Verbrechen zu strafen, welche gegen die Polisgrüende gerichten wa‐ 164 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 56. 165 Op.cit. S. 60. 166 Ibid.
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung
ren – erinnert auch ihr Geschlecht: so sind die Erinyen Ausgeburten der Gaia; als Zeus seinen Vater Kronos entmannte, entstanden sie aus dem auf die Erde niedertropfenden Blut. 167 So griffen die Eri‐ nyen ein, obwohl Chronos „tot“ war, d. h. das Schicksal des Täters konnte weder „jetzt“ noch „in der Zukunft“ in Erfüllung gehen.
Paragraph 3. Das Phänomen des Schicksals in der vormetaphysischen Rechtsphilosophie Wie wir also sehen können, wurde der „Gang des Schicksals des Sei‐ enden“ auf dem Weg des Rechts durch Notwendigkeit als „Mangel“ und „Unvollständigkeit“ dieses Seienden festgelegt, die in Form des Phänomens „Schaden“ konkretisiert wurde. Wie bereits mehrfach erwähnt, waren nicht „Menschenrechte“ oder „Gerechtigkeit“ der Kern der rechtlichen Fragestellung im Zeitalter der vorsokratischen Philosophie, sondern das „Schicksal“ als das Wesen des Seins desje‐ nigen, der den Weg des Rechts aufgrund der genannten Notwendig‐ keit beschritt. Es ist zu beachten, dass das vormetaphysische Schicksalsver‐ ständnis sich erheblich von der modernen, allgemein verwende‐ ten Bedeutung dieses Wortes unterscheidet. Bekanntlich waren die Moiren die Göttinnen des Schicksals im alten Griechenland. Das Wort „Moira“ wurde nicht nur als göttlicher Name verwendet, son‐ dern auch als allgemeines Appellativ in der Bedeutung des Schick‐ sals. Dabei wurde es als jene Grenzen verstanden, die nicht über‐ schritten werden konnten, ohne aufzuhören, „man selbst“ zu sein. Wie der sowjetische Wissenschaftler W. Goran zeigte, „verdient der Auffassungsinhalt der alten Griechen, der durch das Wort «Moira» ausgedrückt wird, die besondere Aufmerksamkeit. Der zentrale Punkt hierbei ist die Auffassung von «Moira» als das Vorhandensein von «Grenzen» der Macht (und Willkür) nicht nur für Menschen, sondern auch für Götter.“ 168 Dementsprechend war im archaischen 167 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 58. 168 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 133 [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novo‐ sibirsk: Nauka, 1990].
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Paragraph 3. Das Phänomen des Schicksals
Griechenland das Phänomen des Schicksals untrennbar mit einer bestimmten Grenze verbunden, durch welche Macht und Willkür eingeschränkt wurde. Und hier sind die rechtlichen Konnotationen bereits deutlich zu erkennen. Schließlich legt auch Recht bestimmte Grenzen fest, die Macht und Willkür einschränken. Die Verbindung zwischen Schicksal und Recht wird in Gestalt von Themis personifiziert, welche traditionell als „Göttin der Ge‐ rechtigkeit“ gilt. Gleichzeitig verbirgt dieses spätere Klischee ihr Wesen, anstatt es zu verdeutlichen. So denken heute nur wenige an das, was während vormetphysischer Zeit selbstverständlich war: Themis ist eine Titanin, eine ursprüngliche, schicksalhafte, geistige Macht. Ihr unter den Titanengeschwistern am ähnlichsten sind Me‐ tis und Mnemosyne, und so ist Themis mit den Schicksalsgotthei‐ ten, den “älteren” Moiren verschwistert. 169 Wie W. Goran zeigt, sind diese Fesseln (Netze), die das Schicksal einer Person auferlegt, in Wirklichkeit genau der Faden, den die Moiren spinnen. 170 Tatsäch‐ lich manifestieren sich die schicksalhaften Konnotationen von The‐ mis’ Gestalt laut E. Wolf auf drei Arten. Erstens, Themis ist eine Gottheit der Fügung. Ihr Wesen ist es, das Verhängte zu verkünden in einem Spruch, der den Göttern als Rat, den Menschen als Orakel erteilt wird. In ihrem Namen und Wesen erfahren wir etwas über das frühgriechische Wissen davon, dass Götter und Menschen unter dem Schicksal stehen; einer al‐ les bindenden und bestimmenden, anfänglichen Fügung des Seins. Darin erweist sich das Wesen der Themis als Ordnung; denn die Fügung des Seins und die aus ihr verfügten Geschicke sind nicht beliebige, willkürliche Zufügungen einer gewaltigen Macht oder wi‐ dersprüchliche Regungen eines blinden Zufalls; sie sind vielmehr Entsprechungen des Seins selbst, das sich im Seienden entfaltet und den Kosmos gestaltet. 171
169 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 25–26. 170 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 93. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990]. 171 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 32.
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung
Zweites, Themis ist auch die Göttin der Gründung. Mit ihren Weisungen und Sprüchen gründet sie, was Götter, Menschen und Kosmos in der ihnen gefügten und verfügten Ordnung erhält. 172 Drittes, Themis ist auch die Gottheit der Bindung (ebenso der Gegensätze). 173 So können wir nach Wolf sagen, dass Themis’ Wirkung die ei‐ ner gebietenden Weisung ist: Sie bindet die Beteiligten, gründet den Frieden unter ihnen und fügt ihr fernes Schicksal. 174 Nach vormetaphysischen Auffassungen verfügt Themis über das Schicksal, in dem sie das gründet, was Menschen und Göttern zu‐ steht, und verbindet dadurch all das Seiende zu einem einheitli‐ chen Ganzen. Der Anteil des einzelnen Seienden in diesem Gan‐ zen ist auch dessen Schicksal. Dabei ist der Status des Schicksals als das, was mit Menschen geschieht, zweideutig. Einerseits trat es als Folge menschlicher Taten selbst auf, andererseits als Schicksal, d. h. unmotivierte Verfügung. Dabei ist zu bemerken, dass jegliche Tat nicht von einer „abstrakten Person“ begangen wird, sondern von jemandem, der in seinem Sein mit anderen immer „als jemand ist“: Vater, Schuldner, Käufer, Mieter, Beamter, usw. Wie W. Maihofer gesagt hat: „Überall weist das «Themis existiert» auf das, was dem Menschen unumstößlich, unveränderlich, unverletztbar gefügt ist, als Mann oder Weib, König oder Sklave, der er ist.“ 175 So ist der Mensch, der „als etwas“ existiert, immer an bestimmte Grenzen gebunden, über die er nicht unbeschadet seines Als-Seins hinausgehen kann: Beispielsweise kann er als Vater seine Tochter nicht heiraten, als Schuldner muss er seine Schulden zurückzahlen und als Käufer die Ware bezahlen. Natürlich geht es nicht darum, dass all dies tatsächlich „nicht“ stattfinden könne. Aber indem er seine Tochter heiratet, die Schulden nicht zurückzahlt, die Ware nicht bezahlt, d. h. „gegen sein eigenes Wesen“ handelt, hört er auf, „er selbst“ zu sein, d. h. das, was er ist. Von einem Vater, einem Schuldner, einem Käufer wird er zu „einem, der sein Schicksal ver‐ loren hat“: einem, der die für ihn festgelegte Grenze überschritten 172 173 174 175
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Op.cit. S. 33. Op.cit. S. 34. Op.cit. S. 81. Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie / Werner Maihofer. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 32.
Paragraph 3. Das Phänomen des Schicksals
und damit das getan hat, was es ihm unmöglich macht, zu bleiben, was er war. Das ist jedoch nicht alles. Durch die Begehung der Straftat „zer‐ stört“ der Mensch nicht nur seine Seinsart, sondern auch die korre‐ lativ einhergehende Seinsart des Anderen: Tochter, Verkäufer, Gläu‐ biger usw. Diese Menschen können infolge des Hinausgehens über die Grenzen des Gestatteten auch nicht weiter sein, was sie waren. Ihre Seinsart erleidet ebenfalls Schaden, sie werden zu Beschädig‐ ten. Hier ist bereits deutlich sichtbar, dass die Grenze zwischen der möglichen und der unmöglichen Tat unter dem Gesichtspunkt des Mitseins, genommen als Als-Sein-mit-Anderen, darauf hinweist, dass jede Tat im rechtlichen Aspekt „zweiseitig“ bewertet wird. Es wird nicht nur derjenige berücksichtigt, der handelt, sondern auch derjenige, auf den diese Handlung gerichtet ist, im Größtmaß – die gesamte Gesellschaft als Ganzes. Somit nimmt jeder Mensch, der mit anderen „als“ etwas ist, im Allgemeinen bezüglich dieser Ande‐ ren einen bestimmten «Platz» ein, der die Grenzen seiner Ansprü‐ che bestimmt. Hier kehren wir unmerklich wieder zum Schicksal zurück. Wie oben erwähnt wurde, nimmt jeder von uns, der in einem bestimm‐ ten gemeinsamen Ganzen mit Anderen zusammen ist, einen durch die Grenzen bestimmten Platz darin ein – „Schicksal“. Einem Men‐ schen kann etwas nur entsprechend dem zustehen, was er ist – sei‐ nem Schicksal: dem Verkäufer – das Geld, dem Passanten – der Zug, dem Gläubiger – die Schuld. Dadurch hat jeder von uns bestimmte „Rechte“ als Anspruch auf den „Anteil“, der entsprechend seinem Platz im Ganzen zusteht (Schicksal). Der „Anteil“ war jedoch zu jeder Zeit gleichbedeutend mit dem Geschick (= Los, Würfel), d. h. Schicksal. Laut W. Goran standen im antiken Griechenland die Dar‐ stellungen, die durch die Gestalt des Loses symbolisiert wurden, ur‐ sprünglich mit den Begriffen „Teil“ ,“Portion“ und „Anteil“ in Ver‐ bindung. Diese Konzepte setzten die Begrenzung der Ansprüche der‐ jenigen voraus, dem dieser Anteil zuteil wird, durch das, was nicht über seine Grenzen hinausgeht (meine Kursivierung, O.S.). 176 Das oben erwähnte „µοῖρα“ hatte traditionell die Bedeutung von „An‐ 176 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 128. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990].
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teil“ als „Teil von etwas“. Das Wort „µόρος“, von dem „µοῖρα“ abge‐ leitet wird, hatte die Bedeutung „Teil des Landes“, „Landmaß.“ 177 Bereits in dieser Annäherung wird der Zusammenhang zwischen Recht und Schicksal deutlicher. Das Schicksal bei den Vorsokra‐ tikern kann im rechtlichen Sinne vorläufig als dasjenige bezeich‐ net werden, “was ein Mensch ist”, je nach seinem “Schicksal”, sei‐ nem Anwesen im gemeinsamen Ganzen, jedesmal konkret-situativ, sowie das, was ihm dementsprechend zugeteilt wird, für ihn „be‐ stimmt“ ist. Das semantische Feld des Schicksalsphänomens um‐ fasst auch Grenzen, welche die Taten des Menschen einschränken, in seinen konkreten Arten des Als-Seins mit Anderen. So zeigt sich das „rechtliche“ Schicksal in der vormetaphysischen Epoche in ers‐ ter Linie als ein durch die Grenze bestimmter Ort (Unterschied zwi‐ schen dem Möglichen und Unmöglichen), welcher ein Mensch in seinem Als-Sein mit Anderen einnimmt, wo ihm das gewisse Etwas zugeteilt wird, entsprechend seiner Taten.
Paragraph 4. Das Phänomen des Nomos in der vorsokratischen Philosophie Zugleich haben wir noch gar nicht das Gesuchte als Gesuchtes gefun‐ den. Das Schicksal wird erst dann zum Gesuchten, wenn man danach fragt. Danach wird nur dann gefragt, wenn es verborgen ist. Deshalb nämlich wird der Weg des Rechts eingeschlagen, wobei das eine Ein‐ schränkung bezeichnet, welche dem Sein als Anwesenheit (Schicksal) eigen ist – die Verborgenheit. Basierend auf dem Angeführten kann die Schicksalsverborgenheit Folgendes bedeuten: die Unklarheit der Grenze, d. h. das, worüber in der einen oder anderen Situation verfügt werden darf und worüber nicht, in Bezug auf die Möglichkeit des AlsSeins mit Anderen. Dies kann auch die Verborgenheit der Anwesen‐ heitsart desjenigen sein, der die Tat begangen hat. Darüber hinaus kann unklar bleiben, was der in ein rechtliches Ereignis verwickelten Person zugeteilt wird, entsprechend seinen Taten. Wie M. Heidegger zeigt, wurde in der vormetaphysischen Ära die Verborgenheit mit der Erde, währenddessen die Erschlossen‐ heit mit dem Himmel identifiziert. Was jedoch erschlossen werden 177 Op.cit. S. 123.
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Paragraph 4. Das Phänomen des Nomos in der vorsokratischen Philosophie
muss, wird zuerst verborgen: Denn was soll sonst erschlossen wer‐ den? Daher ist es kein Zufall, dass Themis eine Tochter des Him‐ mels (Uranus) und Gaia (Erde) ist, und Gerechtigkeit im archai‐ schen Denken der Griechen als die Abwechslung von Verborgen‐ heit und Erschlossenheit auftritt. Ähnlich verhält es sich mit der Tochter von Themis – Dike. Die, so E. Wolf, „[. . . ] wenn es zeitig ist, darüber entscheidet, was aus der Verbergung ins Unverborgene kommt und wieder in die Verbergung zurückkehren soll. Sie ist es, die den Rhythmus des Daseins alles Seienden: auf- und unterzuge‐ hen, «γένεσις» und «φθορά» bestimmt“. 178 Seinerseits bemerkt der deutsche Phänomenologe, dass Dike die Göttin der Gerechtigkeit ist und dafür sorgt, dass die Grenze zwischen dem Bereich des Son‐ nenlichts (und allem, was in diesem Licht ist) und dem des uns un‐ zugänglichen Nachtschlundes unversehrt bleibt. Diese Grenze wird von ihren Helferinnen bewacht. 179 Hier begegnet uns das paradoxe Verständnis von Gerechtigkeit im vormetaphysischen Griechenland. Während in der Neuzeit Ge‐ rechtigkeit traditionell mit der Aufklärung des Sachverhalts und der vernünftigen Entscheidung auf der Grundlage rational begründeter Mittel zur Wahrheitsfindung durchgeführt wurde, deren Ergebnis die vollständige Transparenz der Situation ist, handelt es sich hier um ein Phänomen der ganz anderen Art. Nach der Anmerkung von E. Fink verkörperten sich schon bei Heraklit Dunkelheit und Licht, Entdeckung und Verbergung in den Gestalten von Tag und Nacht. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht verwirklicht sich im Be‐ reich der Sonne, er wird durch ihre Anwesenheit oder Abwesenheit vorgegeben. Dann existiert Dike, die darauf achtet, dass die Sonne nicht über das vorgeschriebene Maß hinausgeht, als diejenige, die kontinuierlich das Maß von Offenheit und Verschleierung wahrt. Gleichzeitig ist das sich ins Offen-Unendliche ausstrahlende Son‐ nenlicht durch die Verschlossenheit der Erde in seiner Verbreitung begrenzt. 180
178 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 292. 179 Хайдеггер М. Финк Е. Гераклит. – Спб.: Владимир Даль, 2010. – S. 98. [Heidegger M. Fink E. Heraklit]. 180 Op. cit., S. 109.
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung
Die vormetaphysische Gerechtigkeit tritt somit als die spezifi‐ sche Art des Erschließens des Verborgenen auf, welches in Gestalt der Erde verkörpert ist. Recht tritt hier als die Grundlage solchen Erschließens auf. Nach altgriechischen Vorstellungen steht Recht (νόµος) als das Erschließen des Verborgenen in einem wesentlichen Zusammenhang mit der Erde als Verkörperung der Schicksalsver‐ borgenheit. Denken wir daran, dass „µοῖρα“ (Schicksal) selbst von „µόρος“ (Landmaß) abgeleitet ist. Im „Durchmessen“ der Erde als des „Verbergenden“, kommt Schicksal ans Licht. Dieses „Durch‐ messen“ ereignet sich auf der Grundlage von Recht. Hier betont C. Schmitt: „Die Erde wird in mythischer Sprache die Mutter des Rechts genannt. Das deutet auf eine dreifache Wurzel von Recht und Gerechtigkeit. Erstens, birgt die fruchtbare Erde in sich selbst, im Schoße ihrer Fruchtbarkeit, ein inneres Maß. Denn die Mühe und Arbeit, Saat und Bestellung, die der Mensch an die fruchtbare Erde verwendet, wird von der Erde durch Wachstum und Ernte ge‐ recht belohnt. Jeder Bauer kennt das innere Maß dieser Gerech‐ tigkeit. Zweitens zeigt der vom Menschen gerodete und bearbei‐ tete Boden feste Linien, in denen bestimmte Einteilungen sinnfäl‐ lig werden. Sie sind die durch Abgrenzungen der Äcker, Wiesen und Wälder eingeführt und eingegraben. In der Verschiedenheit der Fluren und Felder, des Fruchtwechsels und der Brachen werden sie sogar eingepflanzt und eingesät. In diesen Linien werden die Maße und Regeln der Bewirtschaftung erkennbar, nach denen die Arbeit des Menschen an der Erde vor sich geht. Drittens endlich trägt die Erde auf ihrem sicheren Grunde Umzäunungen und Einhegungen, Grenzsteine, Mauern, Häuser und andere Bauwerke. Hier werden die Ordnungen und Ortungen menschlichen Zusammenlebens of‐ fenkundig. Familie, Sippe, Stamm und Stand, die Arten des Eigen‐ tums und der Nachbarschaft, aber auch die Formen der Macht und der Herrschaft werden hier öffentlich sichtbar. So ist die Erde in dreifacher Weise mit dem Recht verbunden. Sie birgt es in sich, als Lohn der Arbeit; sie zeigt es an sich, als feste Grenze; und sie trägt es auf sich, als öffentliches Mal der Ordnung. Das Recht ist erdhaft und auf die Erde bezogen.“ 181
181 Schmitt C. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum / Carl Schmitt. – 4. Aufl. – Berlin: Duncker und Humblot, 1997. – S. 13.
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Paragraph 4. Das Phänomen des Nomos in der vorsokratischen Philosophie
Wie man sehen kann, findet die zuvor angeführte Deutung des Rechts als Einschränkung des Seins aufgrund der dem Sein eige‐ nen Verborgenheit ihre Bestätigung. Der Weg des Rechts als νόµος dient als die Grundlage, um das menschliche Schicksal aus der Verborgenheit herauszuführen. Es wurde bereits erwähnt, dass der wahre, ursprüngliche Sinn vieler vormetaphysischen Phänomene durch die nachfolgende Tradition verborgen wurde. „Νόµος“ blieb davon ebenso wenig verschont. In der metaphysischen Rechtswis‐ senschaft wird dieser Begriff im Gegensatz zum „natürlichen“ Recht (φύσις) als „positives“ Recht verstanden. E. Wolf zufolge entstand dieses Entgegenstellen jedoch erst ziemlich spät (Ende des 5. bis Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr.) im Verlauf der Polemik von So‐ krates und Platon mit den Sophisten. 182 Auch C. Schmitt bestätigt diesen Sachverhalt: „Trotz jener, schon in der klassischen Zeit ein‐ tretenden Veränderung der Denk- und Ausdrucksweise ist stets er‐ kennbar geblieben, dass das Wort Nomos ursprünglich keineswegs eine bloße Setzung angibt, in der Sein und Sollen getrennt und die Raumstruktur einer konkreten Ordnung außer Acht gelassen wer‐ den könnten. 183 Der ursprüngliche Sinn des mit dem Wort «νοµος» bezeichneten Phänomens geriet bei der nachfolgenden Tradition außer Sicht. „Die Zerstörung des ursprünglichen Sinnes (von No‐ mos, O.S.) wird durch eine Reihe von Distinktionen und Antithesen bewirkt. Unter ihnen ist Entgegensetzung von Nomos und Physis die wichtigste. Durch sie wird der Nomos zu einem auferlegten Sol‐ len, das sich des Seins absetzt und sich ihm gegenüber durchsetzt. Als bloße Norm und Setzung war der Nomos jetzt nicht mehr un‐ terscheidbar von Thesmos, Psephisma oder Rhema und anderen Be‐ zeichnungen, die nicht das innere Maß der konkreten Ordnung und Ortung, sondern nur Satzungen und Setzungen zum Inhalt haben bis sie schließlich – je zentralistischer, umso intensiver – nur noch die legalitäre Setzung von Setzungen mit Gehorsams-ErzwingungsChance bedeuten“, so C. Schmitt . 184 182 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 170. 183 Schmitt C. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum / Carl Schmitt. – 4. Aufl. – Berlin: Duncker und Humblot, 1997. – S. 38. 184 Schmitt C. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum / Carl Schmitt. – 4. Aufl. – Berlin: Duncker und Humblot, 1997. – S. 38.
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung
Beim Übergang zum Versuch der authentischen Explikation des mit dem Begriff „νoµος“ bezeichneten Phänomens muss darauf hin‐ gewiesen werden, dass es in der Geschichte des rechtsphilosophi‐ schen Denkens kein einheitliches Verständnis dafür gibt. Wie von M. Heidegger gezeigt, leitet sich das «νόµος» von «νέµειν» ab. “Der νόµος ist nicht nur Gesetz, sondern ursprünglichedie in der Schi‐ ckung des Seins geborgene Zuweisung. Nur diese vermag es, den Menschen in das Sein zu verfügen. Nur solche Fügung vermag zu tragen und zu binden. Anders bleibt alles Gesetz nur das Gemachte menschlicher Vernunft. Wesentlicher als alle Aufstellung von Re‐ geln ist, dass der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet. Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren. Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des Seins”. 185 W. Goran sieht dagegen in νόµος das ursprüngliche semantische Synonym für µοῖρα. Ursprünglich bedeuteten beide Wörter Teilung oder Anteil, aber mit einem wichtigen Unterschied. Das Wort „µοῖρα“ bezeichnete die mit der Auslosung verbundene Teilung, wäh‐ rend das Wort νόµος ebenfalls Teilung bedeutete, jedoch ohne Ver‐ bindung zur Auslosung. Die Verwendung von „µοῖρα“ und „νόµος“ im Altgriechischen zeigt nachfolgend, dass sich die Verwendung des ersten so entwickelt hat, dass das Schicksal als die über dem Men‐ schen stehende Kraft bezeichnet wurde, die seinen Lebensweg von außen bestimmt, und das zweite – das Gesetz als eine Feststellung, die von den Menschen selbst kommt. 186 „Der Nomos ist im ursprünglichen Sinne aber grade die volle Un‐ mittelbarkeit einer nicht durch Gesetze vermittelten Rechtskraft; er ist ein konstituierendes geschichtliches Ereignis, ein Akt der Legiti‐ mität, der die Legalität des bloßen Gesetzes überhaupt erst sinnvoll macht“, wie C. Schmitt sagt. 187 Der deutsche Philosoph zeigt fer‐ ner, dass die Erde den ursprünglichen Zusammenhang mit Nomos hat. „Nomos ist das dem Grund und Boden der Erde in einer be‐
185 Heidegger M. Brief über den Humanismus//Wegmarken. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1976. – S. 361. 186 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 125. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990]. 187 Schmitt C. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum / Carl Schmitt. – 4. Aufl. – Berlin: Duncker und Humblot, 1997. – S. 42.
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Paragraph 4. Das Phänomen des Nomos in der vorsokratischen Philosophie
stimmten Ordnung einteilende und verortende Maß und die damit gegebene Gestalt der politischen, sozialen und religiösen Ordnung. Maß, Ordnung und Gestalt bilden hier eine raumhaft konkrete Ein‐ heit“. 188 Dieser Auffassung kommt auch die Position von E. Wolf nahe, wenn er sagt, dass „Die älteste Bedeutung des vom Vokalstamm «νέµ», der mit «nehmen» verwandt ist, herrührenden Wortes ist die des herausgenommenen, abgesonderten, zugeteilten Weideplatzes (nomos); daraus wird später der Gau, der eingeteilte und zugeteilte Landdistrikt. In veränderter Akzentuierung bedeutet Nomos dann Weise, Melodie, rituell festgelegte Form des Kultliedes [. . . ] In der Polis erscheint Nomos dann eben als Grundordnung, Gesamtord‐ nung. Die einzelnen Setzungen, Satzungen hießen anfänglich «θεσµοί». Erst viel später wird Nomos dann auch Begriff des «Gesetzes» im Einzelfall, bleibt aber stets auch ein allgemeines die Gesamtver‐ fassung der Polis einbegreifendes Wort.“ 189 Wie man sehen kann, wird die in der Gestalt der Erde verkörperte Verborgenheit des Schicksals unter den Vorsokratikern im Zuge ih‐ rer Abgrenzung mittels νόµος übertroffen. Das Wesentliche dieser Abgrenzung liegt im Herausführen aus der Verborgenheit, mittels einer Trennung des „eigenen“ („möglichen“) von dem „fremden“ („unmöglichen“). Dies wird durch die Klarstellung der Grenzen er‐ reicht, indem sie als ihre primäre Zeichnung identifiziert werden oder indem die Grenzen korrigiert oder begradigt werden, die falsch gezeichnet oder gelöscht wurden. Klare Grenzen (Unterschied zwi‐ schen dem Möglichen und Unmöglichen), die auf der Grundlage des Nomos gezogen werden, weisen dem Menschen auf „seinen“ Platz hin, der sich von dem eines „anderen“ (fremden) unterschei‐ det. Da die Grenze, wie bereits zuvor angeführt, für die Definition von “Anwesen“, d. h. die Seinsart des Menschen konstitutiv ist, lässt sie die letztere erscheinen bzw. führt sie aus dem Verborgenen her‐ aus. Dadurch wird konkretisiert, was dem Menschen als „Zutei‐ lung“ oder „Schicksal“ gerechtfertigt zusteht, was auch das Ergeb‐ nis von Verschwinden der Verborgenheit ist. Im Verlauf der Klar‐ stellung des Schicksals des Menschen, wird sie von νοµος “geführt“. 188 Op.cit. S. 40. 189 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 169.
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung
Diese Führung ist im Wesentlichen die Besinnung und verwirklicht sich als Übergang des Menschen von der Unverständlichkeit zu der Existenzart, die dem entspricht, was sich ereignet. Folglich wird die Grenze als der Unterschied zwischen dem Möglichen und Unmögli‐ chen nicht auf der Grundlage von νόµος gezogen, sondern offenbart sich selbst als solche. Νόµος existiert als der Weg – das Ereignis der Klarstellung der Grenze, die die Richtung für Menschen in ihrem Als-Sein mit An‐ deren festlegt und als ständige Trennung existiert, d. h. das Heraus‐ führen des Schicksals aus der Verborgenheit, indem das „eigene“ Schicksal von dem „eines anderen“ getrennt wird.
Paragraph 5. Das Phänomen der Polis in der vorsokratischen Philosophie Zugleich existiert der Weg als νόµος, wie bereits gesagt, nur im Ver‐ lauf des Ganges auf diesem. Er ist nicht an sich vorhanden, son‐ dern wird durch die menschlichen Anstrengungen reproduziert. Der Mensch kann sich jedoch auch auf dem Weg des Rechts „ver‐ laufen“, nachdem er die entsprechende Richtung falsch interpre‐ tiert hat. Hierzu E. Wolf: „Das bloße Vorhandensein einer Rechts‐ ordnung, eines Nomos ist deshalb noch keine Gewähr für Euno‐ mie, denn auch dieser Nomos kann nützlich oder schädlich, recht oder schlecht sein“. 190 Aus diesem Grund reicht die Anstrengung des Menschen für die Existenz von νόµος nicht aus, sondern es ist auch notwendig, eine Reihe anderer ontologischer Bedingungen zu erfüllen. Dazu gehört vor allem die Polis. Die Verbindung zwischen No‐ mos und Polis ist untrennbar. Wie die Polis nur dank νόµος mög‐ lich ist, d. h. dass die “Anwesensplätze” ihrer Bürger schon markiert sind, so ist auch νόµος nur in der Polis möglich. Dazu E. Wolf: „Einmal heißt νόµος bei Heraklit nicht etwa «Gesetz» oder «Ord‐ nung», auch nicht «richtige Ordnung» oder «Richtschnur», über‐ haupt nicht Wertendes, sondern Verfasstheit des Wesens, «Verfas‐ sung» des Daseins, seinsgemäßer Zustand.“ 191 Natürlich ist νόµος 190 Op.cit. S. 206. 191 Op.cit. S. 244.
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Paragraph 5. Das Phänomen der Polis in der vorsokratischen Philosophie
keine Existenzverfassung des einzelnen Individuums, sondern der Polis als eines Ganzen. Darunter wird verstanden, dass der dem Sein angemessene menschliche Zustand nur in der ganzheitlichen Struk‐ tur der Polis stattfinden kann. Jede tatsächliche Richtung, Abgren‐ zung, Maß oder Begradigung erhält nur innerhalb der Polis eine Bedeutung. Um dieselbe Sache nämlich geht es in den berühmten «rechtsphilosophischen Ansprüchen» bei Heraklit: „µάχεσθαι χρὴ τὸν δῆµον ὑπὲρ τοῦ νόµου ὅκωσπερ τείχεος“. 192 Wie aus diesem Spruch hervorgeht, existiert νόµος in der Po‐ lis nicht an sich, sondern ist das Produkt des „Krieges“. Der Krieg („µᾶχος“) sollte hier nicht destruktiv, sondern agonal als Synonym für „πόλεµος“ (Kampf) verstanden werden. Laut E. Wolf bedeutet bei Heraklit «πόλεµος» (als eine für das Sein jegliches Seienden gel‐ tende Aussage) nicht den Krieg, dagegen die notwendig wesenhafte Art des Seienden, und modus essendi dieser ist die „Auseinander‐ setzung“. 193 Nach Heraklit liegt das Wesentliche dieser Seinsart in der Tatsache, dass im Verlauf des Kampfes das Seiende zu sich selbst gekommen wäre und sich kritisch von allem abgegrenzt hätte, was für es nicht angemessen ist. In diesem Sinne also sollte der weitere berühmte Spruch von Heraklit verstanden werden: “Πόλεµος πάντων µὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς. . . ”, welcher allerdings oft als «Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König » übersetzt wird. 194 Da wie für E. Wolf πόλεµος als Inbegriff des Daseins der Polis hat einen «agonales» Sinn hat, bedeutet es nicht den Krieg im Sinne der Vernichtung des Einen durch das Andere, sondern den Wettstreit im Sinne von gegenseitiger Auseinandersetzung und dadurch be‐ wirkter Klärung des je eigenen Wesens. 195 Dieser Wettbewerb oder Streit ist somit jene Trennung als Feststellung der menschlichen Schicksale in ihrem Zusammensein, wovon im vorherigen Absatz die Rede war. Wie aus dem Gesagten hervorgeht, haben νόµος und πόλεµος letzteres als Ereignisart des ersten, welche auf der Ebene
192 „Kämpfen soll die Bürgerschaft für ihr Gesetz wie für die Mauer“. Zit. nach: Diels H. Die Fragmente der Vorsokratiker. – Berlin-Charlottenburg: Weid‐ mannsche Verlagsbuchhandlung, 1960. – S. 160. 193 Op.cit. S. 249–250. 194 Diels H. Die Fragmente der Vorsokratiker. – Berlin-Charlottenburg: Weid‐ mannsche Verlagsbuchhandlung, 1960. – S. 162. 195 Op.cit. S. 265.
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Kapitel 2. Die vormetaphysische Rechtsbesinnung
der Polis betrachtet werden, paradoxe Eigenschaften. Einerseits ist νόµος als die Grundstruktur der Polis universell, andererseits er‐ eignet es sich als πόλεµος, αγών, und ermöglicht es jedem, seinen eigenen einzigartigen, unnachahmlichen „Anteil“, sein „Schicksal“ zu finden und dadurch das Wesentliche seines Seins zu erfüllen. Diese These findet ihre Bestätigung in der Interpretation von He‐ raklit, die von M. Heidegger und E. Fink vorgenommen wurde. So kommen die deutschen Philosophen bei der Analyse der Aussage „τὰ δὲ πάντα οἰακίζει Kεραυνός“ 196 von Heraklit zum Schluss, dass der Blitz erleuchtet, das Seiende erscheinen lässt und die Konturen von allem, was von ihm beleuchtet wird, klar ableuchtet. 197 Im Licht des Blitzes werden also die Konturen hervorgehoben, d. h. die Gren‐ zen des Seienden (im Gegensatz zur Sonne, welche ständig etwas in seiner Gesamtheit beleuchtet). Wenn wir uns daran erinnern, dass die Grenze früher als der Unterschied zwischen dem Möglichen und Unmöglichen gedacht wurde, dann wird die Blitzherrschaft nicht durch „Zwang“ ausgeführt, sondern durch Hinweis auf die dem Sei‐ enden angemessene Grenze als Einschränkung seiner Möglichkei‐ ten. Somit ist der Blitz nach M. Heidegger und E. Fink dem νόµος gleichgesetzt, welcher für alle Bürger der Polis bestimmt, was ihnen zusteht. 198 Nach M. Heidegger spiegelt sich die Verbindung zwischen der Polis und νόµος in der Philosophie von Parmenides wider, in der das Wesen der Polis im Wesen von „αλήθεια“ verwurzelt ist, der Lichtung der Wahrheit des Seins. „«πόλις» ist der: «πόλος»,der Pol, der Ort, um den sich in eigentümlicher Weise alles dreht, was dem Griechentum an Seiendem erscheint. Der Pol ist der Ort, um den sich alles Seiende wendet und so zwar, dass sich im Bereich dieses Ortes zeigt, welche Wendung und Bewandtnis es mit dem Seienden hat. Der Pol lässt als dieser Ort das Seiende in seinem Sein jeweils im Ganzen seiner Bewandtnis erscheinen. Der Pol macht nicht und schafft nicht das Seiende in seinem Sein, sondern als Pol ist er die 196 „Das Weltall aber steuert der Blitz“. Zit. nach: Diels H. Die Fragmente der Vor‐ sokratiker. – Berlin-Charlottenburg: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung, 1960. – S. 165. 197 Хайдеггер М. Финк Е. Гераклит. – Спб.: Владимир Даль, 2010. – S. 109. [Heidegger M. Fink E. Heraklit]. 198 Op.cit. S. 77.
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Paragraph 6. Das Phänomen des Kairos in der vorsokratischen Philosophie
Stätte der Unverborgenheit des Seienden im Ganzen . . . .Zwischen «πόλις» und «Sein» waltet ein anfänglicher Bezug.“ 199 So wird πόλις vom einfachen Äquivalent der modernen „Stadt“ in einen besonderen Ort verwandelt, an welchem im Verlauf der Erfüllung von νόµος als πόλεµος all das Seiende zu dem wird, was es wirklich ist. Dies ist der einzigartige τόπος, wo es möglich wird, dass das Wesen des Seins des bestimmten Menschen – sein Schicksal – aus der Verborgenheit, der Geheimhaltung herausgeht. Gleichzeitig ist der Sachverhalt nicht der gleiche wie im Mythos: Das Schick‐ sal gibt es „schon“ immer und es sollte nur „erkannt“ werden. Im Gegenteil, das Schicksal als „das eigene“ erscheint erst dann, wenn der Weg des Rechts gefugt gegangen wird. Wie wiederholt betont wurde, besteht dieser Weg darin, „das Eigene“ von „dem Fremden“ dem Anwesen nach, dem „Schicksal“ eines Menschen im Ganzen der Polis, abzugrenzen. Das Wesen dieses Phänomens ist sehr er‐ folgreich von E. Wolf expliziert worden: „Indem das Seiende sich auseinandersetzt (was nur besagt: es will sein, was es ist; im Unter‐ schied zu dem, was ein anderes ist) geschieht ein Dreifaches; es wird Seiendes in seiner Besonderheit ins Licht gestellt; es entscheidet sich für das, was es ist; und es folgt damit einer Wesensbestimmung des Seins selbst.“ 200
Paragraph 6. Das Phänomen des Kairos in der vorsokratischen Philosophie Die Frage nach der Polis als „Raum“ für die Verwirklichung des füg‐ lichen Wegs des Rechts (νόµος) setzt unweigerlich die Suche nach der geeigneten „Zeit“ voraus. Aber so wie sich Polis grundlegend vom „üblichen“ Raum unterscheidet und nicht in einer Analogie zu diesem verstanden werden kann, so ist auch die Zeit des Rechts ein sehr spezifisches Phänomen. Um die gesetzliche Zeit im archaischen Griechenland adäquat zu besinnen, ist zu bedenken, dass der in der Neuzeit vorherrschende lineare Zeitbegriff, der die Einheit der Zeit 199 Heidegger M. Parmenides. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1992 – S. 132–133. 200 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 262.
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in eine Abfolge von sich gegenseitig ersetzenden „Jetzts“ aufpaltet, nichts mit der Zeitwahrnehmung im vorsokratischen Griechenland gemeinsam hat, z. B. bei Pindar oder Sophokles. 201 Darüber hin‐ aus machte es das moderne europäische Zeitverständnis im Prinzip unmöglich, Recht in seinem vormetaphysischen Sinne zu verwirk‐ lichen. Beim Übergang zum Versuch, das Phänomen der Zeit im Zeitalter der Vorsokratiker in seiner Beziehung zum Recht positiv zu beschreiben, sei angemerkt, dass die Zeit metaphorisch ausge‐ drückt eine Art «Gewebe» war, worin der Weg des Rechts verlegt wurde. Wenn in der metaphysischen Epoche Zeit ein homogenes Kontinuum ist, in dem jeder Moment mit jedem anderen identisch ist, so kann Recht als das Herausführen des Schicksals aus der Ver‐ borgenheit, nicht zu jeder Zeit, sondern nur zu einer gewissen „be‐ sonderen Zeit“ stattfinden. Noch bei Solon “hat Dike ihre Zeit. Sie wirkt nicht nur in der Zeit – das tun alle unsterblichen Götter, die an ihren Aion, den olympischen, gebunden sind. Sie wirkt zu bestimm‐ ter Zeit, sie hat «ihre Stunde», mit der sie gleichsam verschmilzt. Die Zeit erscheint selber als Dike, weil sie es ist, die das Wesen und die Wahrheit alles Seienden zur Reife bringt. Dike und Chronos wurden eins.” 202 Wie wir uns erinnern können, kommt M. Heidegger zu einem ähnlichen Ergebnis, der im Verlauf der Interpretation von Anaxi‐ manders Spruch darauf hinweist, dass „δίκη“ als „Fug“ selbst die Weile des Übergangs ist. Die über den Fug verfügende Weile ist Fug als Not, welcher die Weile zwingend-befreiend in Bewegung bringt. 203 Mit der Konkretisierung dieser Aussagen sollte ange‐ merkt werden, dass die Sonne die Kraft war, die die Zeit für die archaischen Griechen bestimmt. 204 Früher wurde die Sonne als der Bereich benannt, in dem der Unterschied zwischen Tag und Nacht sich verwirklicht, d. h. eine Abwechslung von Erschlossenheit und
201 Хайдеггер М. Финк Е. Гераклит. – Спб.: Владимир Даль, 2010. – S. 141. [Heidegger M. Fink E. Heraklit]. 202 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 193. 203 Heidegger M. Der Spruch des Anaximander. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2010. – S. 172. 204 Хайдеггер М. Финк Е. Гераклит. – Спб.: Владимир Даль, 2010. – S. 130. [Heidegger M. Fink E. Heraklit].
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Verborgenheit. Wenn also die Sonne die Zeit bestimmt, ist der Lauf der Zeit selbst nichts anderes als eine Abwechslung von Erschlos‐ senheit und Verborgenheit. Wir haben bereits früher darauf hinge‐ wiesen, dass im archaischen Griechenland die Abwechslung von Er‐ schlossenheit und Verborgenheit unter der Aufsicht von Dike stand. Aus dem Gesagten können wir schließen, dass die Gleichheit von Dike und Chronos unter dem Aspekt der Abwechslung von Er‐ schlossenheit und Verborgenheit verstanden werden sollte. Dikes eigene Zeit wird von E. Wolf als Zukunft bezeichnet. 205 Die Zukunft in der archaischen Ära ist jedoch keineswegs eine unbestimmtverschwommene, berechnet-erwartete Zeit, welcher Vergangenheit und Gegenwart vorausgehen. Für die alten Griechen ist die Zukunft das, was auf uns zukommt, durch uns hindurchgeht und sich in die Vergangenheit verwandelt, der Vergangenheit und der Gegenwart vorausgeht. Mit anderen Worten ist jede Vergangenheit, „bevor“ sie Vergangenheit wird, „anfänglich“ Zukunft. Dieser aus der Zu‐ kunft erwachsene Beginn, der von den Griechen als „Arche“ (Ana‐ ximander) gedacht und von E. Wolf und M. Heidegger als „Anfang“ bezeichnet wurde, ist der Horizont jeder möglichen Zuteilung des dem Sein des Seienden Angemessenen, d. h. Dike. 206 Solche Zukunft ist kein statistisch berechnetes Anwendungsfeld der Wahrschein‐ lichkeitstheorie. Das ist das gemeinsame Schicksal der Menschheit, d. h. das Ganze, das ihr und nur ihr passieren kann. Es ist Dikes Aufgabe, einen Anteils von diesem Ganzen einem Menschen zuzu‐ teilen. Wie E. Wolf aufzeigt: „Dikes Zuteilung des Zukommenden bleibt immer eine verborgene «Zukunft», ist nicht berechenbar oder bestimmbar. Sie ordnet und sichtet, richtet und straft, wie es der Fügung entspricht. Das ist ihre «Gerechtigkeit».“ 207 Weiter: „Dikes Erscheinung ist zeitgebunden und zwar an den jeweiligen καιρός gebunden. Nie kann etwas in anderer Weise δίκη sein als zu «sei‐ ner Zeit» (heute, je und jetzt): ein Anspruch zielt darauf, «fällig» zu werden; ein Verfahren muss «prozedieren», d. h. zeitlich sich entwi‐ ckeln, fortschreiten und einmal zu «seinem» Ende (der Rechtskraft) kommen; ein Urteil oder reiner Rechtssatz muss «verkündet», d. h. 205 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 194. 206 Op.cit. S. 223. 207 Op.cit. S. 44.
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zu einem bestimmten Termin gesprochen, «in Kraft gesetzt» sein. Jede δίκη hat ihren καιρός.“ 208 So tritt «καιρός» in unser Aufmerksamkeitsfeld ein. In der altgrie‐ chischen Mythologie ist Kairos der Gott des günstigen Zeitpunk‐ tes. Dementsprechend kann angenommen werden, dass diese my‐ thologische Personifizierung auf die qualitative Heterogenität der Zeit hinweisen sollte. Was zu einer bestimmten Zeit passieren kann, kann keinesfalls zu jeder beliebigen Zeit passieren. Nach Aussage des russischen Wissenschaftlers I. Mikhailow, weist der Aspekt der Zeit, der durch den Begriff „καιρός“ ausgedrückt wird, auf die qua‐ litative Natur der Zeit hin, auf die besondere Position, die ein Ereig‐ nis oder eine Tat besitzt. Ein solches Ereignis kann nicht zu irgend‐ einem Zeitpunkt eintreten, sondern nur zu einem bestimmten, zu einer Zeit, die auch „nicht kommen“ kann. Sehr häufig wird „καιρός“ als „richtige Zeit“ übersetzt. 209 Καιρός weist auf die Bedeu‐ tung des Ereignisses und seine Bestimmung hin. Darüber hinaus symbolisiert καιρός, wie aus der oben angeführten Aussage von E. Wolf hervorgeht, die Zeit des Endes, den Abschluss eines bestimm‐ ten Prozesses, seine „Zeitigung“. Wie der deutsche Rechtsphilosoph selbst konkretisiert: „Das eigentliche Wesen des καιρός enthüllt sich aber erst in seiner Kennzeichnung als «rechter» oder «richtiger» Augenblick [. . . ] Gemeint ist im καιρός ein Geschehen oder Tun, das zu seiner Zeit richtig, nämlich «zeitig» oder «fällig» ist; aus dem Wesen des Geschehenden selbst «gezeitigt». Dem καιρός entspricht ein Geschehen dann, wenn es als wesentliches, nämlich dem Wesen des Menschen oder Dinges, woran oder womit etwas geschieht, ge‐ mäßes Geschehen angesprochen werden kann. Hier zeigt sich die Bedeutung des καιρός-Gedankens für das Wesen der δίκη.” 210 «Zei‐ tigen» bedeutet, ein eigenes Limit zu erreichen, die Vollständigkeit des eigenen Wesens. Dementsprechend tritt καιρός dann auf, wenn
208 Op.cit. S. 185. 209 Михайлов И.А. Ранний Хайдеггер: между феноменологией и философией жизни. – М.: Прогресс-Традиция, Дом интеллектуальной книги, 1999. – S. 183. [Mikhailow I.A. Early Heidegger: Between Phenomenology and Philosophy of Life. – Moscow: Progress-Tradition, House of Intellectual Book, 1999]. 210 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 184.
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sich etwas so klar und vollständig offenbart, dass es nicht mehr ignoriert werden kann. In Bezug auf Recht als einen gefugten Gang des Weges bedeutet dies, dass in diesem Augenblick derjenige, des‐ sen Schicksal in Frage steht, dieses „treffen“ kann. Gerade jetzt kann es sich verwirklichen, „sich er-eignen“, was bedeutet, sein Wesen zu manifestieren und so ans Licht zu kommen. Darin besteht die pa‐ radoxe Natur von καιρός. Einerseits ist er als die „Zeitigungszeit“ „objektiv“, indem er nicht nach dem Willen oder der Willkür von jemandem erscheint, sondern „zur angemessenen Zeit“. „Den Καιρός kann man nicht wollen oder suchen, er ist da, wenn es ihm gefällt; wo er waltet, geschieht etwas mit uns und an uns, eine Be‐ gegnung.” 211 Andererseits ist er als Zeit des Erschließens eines einzigartigen und unnachahmlichen Wesens „individuell“ und seine Offenbarung setzt die Teilnahme des Menschen voraus. Laut E. Wolf muss „der καιρός“ erkannt werden. Er muss bewusst ergriffen, festgehalten, genutzt werden. Er hat, wie δίκη teil am Logos: Er ist kein «blin‐ des Geschehen». Daraus folgt, dass der καιρός übersehen, versäumt oder verstreut werden kann; dann «geschieht» eben nichts oder ein Falsches; wie ja auch δίκη verfehlt oder versäumt werden kann und nicht «von selber» sich durchsetzt. Also der καιρός ist dem Men‐ schen anvertraut, in die Hand gegeben. . . der καιρός muss aber auch seiner Erkenntnis gemäß wahrgenommen werden, es muss etwas getan werden. ∆ίκη fordern, gewähren, sprechen kann nur, wer zur Tat bereit ist, in der es geschieht.“ 212 Daraus folgt eindeutig, dass, genau wie der νόµος nicht an sich existiert, sondern als πόλεµος, über welchen Bürger der Polis verfü‐ gen müssen, auch der καιρός zwangsläufig Menschen für seine Exis‐ tenz braucht. „Der Nomos selbst, der Verfassung der Polis als Ver‐ sammlung ihres eigensten Wesens, kann, sagt er, zum rechten καιρός einmal in einem Einzigen erscheinen. Wenn er den Logos ver‐ körpert, ist dieser Politikos das Maß der Polis, ihr Nomos selbst.“ 213 So waren die großen Gesetzgeber die Nomotheten der Antike. Sol‐ che sind fast alle der sieben großen Weisen, die lange vor Sokrates gelebt haben, gewesen. Neben Solon, der Athen das Gesetz gab, wa‐ 211 Ibid. 212 Op.cit. S. 185. 213 Op.cit. S. 272.
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ren Cleobulus auf Rhodos, Chilon in Sparta, Periandros in Korinth, Pittakos in Mytilene und Bias von Priene, der als fairster Richter bekannt war, Nomotheten. Aber wie alles, was Menschen anvertraut wird, ist καιρός sehr „zerbrechlich“. Denn, wie bereits gesagt, kann καιρός unbemerkt kommen und gehen, und die Zeit, zu welcher allein es möglich ist, das Schicksal des Menschen aus der Verborgenheit herauszufüh‐ ren, kann unwiederbringlich verloren gehen. Darüber hinaus wir‐ ken bekanntlich im Ereignis der Gerechtigkeit nicht nur die Kräfte der Erschlossenheit, sondern auch der Verborgenheit, verkörpert durch die Gestalten von Himmel und Erde. Somit ist καιρός als ein bestimmter Zeitpunkt durch eine gewisse Spannung zwischen Erschlossenheit und Verborgenheit gekennzeichnet. Sowohl dem Richter als auch anderen Menschen, welche an der Verfügung über das Recht beteiligt sind und deren Schicksal in Frage steht, ist es anvertraut, diese Spannung auszuhalten. Nach I. Michailow, weist kairologische Zeit auf eine Zeit der Spannung und des Konflikts hin, anders gesagt auf die Krise, d. h. sie kennzeichnet einen sol‐ chen Ereignisablauf, wenn von einem Menschen eine Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt verlangt wird. „Καιρός“ bezeichnet die Zeit, in der etwas passieren oder getan werden muss – die „rich‐ tige“, „beste“ Zeit, die Zeit, in der Ereignisse uns vor eine bestimmte Situation stellen – eine Krise, in der eine Entscheidung getroffen werden muss. 214 Der rechtliche Charakter von καιρός als Spitzen-, Schlüssel‐ zeitpunkt, wird keineswegs versehentlich durch den „κρίσις“ aus‐ gedrückt. Die Κρίσις als höchster Spannungspunkt, wenn etwas entweder vollständig erfüllt, verwirklicht, ans Licht kommt oder in Vergessenheit gerät und verborgen wird, ist ursprünglich ein rechtlicher Begriff gewesen. Im antiken Griechenland bedeutete dieses Wort: Auseinandersetzung, Gerichtsverhandlung, Entschei‐ dung, Urteil, Verurteilung, entscheidendes Ergebnis, Streit, Wettbe‐ werb und Auslegung. Dieser Begriff leitet sich vom Verb „κρίνω“ 214 М ихайлов И.А. Ранний Хайдеггер: между феноменологией и философией жизни. – М.: Прогресс-Традиция, Дом интеллектуальной книги, 1999. – S. 183. [Mikhailow I.A. Early Heidegger: Between Phenomenology and Philosophy of Life. – Moscow: Progress-Tradition, House of Intellectual Book, 1999].
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ab: trennen, auseinandersetzten, beurteilen, vor Gericht stellen, be‐ schuldigen, verurteilen, fragen, ausspüren, für sich wählen, verkla‐ gen und streiten. Der Ausdruck «κρίνω δίκη» bedeutete nämlich «vor Gericht gehen», «streiten». 215 Gleichzeitig wie E. Fink konkre‐ tisiert, bedeutet „κρίνω“ ebenso „teilen“. Genau davon ist die Rede im Fragment 66 von Heraklit, der das kommende Feuer als den Richter bezeichnet. Das Feuer kommt aus der Zukunft, erhellt alles in seinem Wesen; es urteilt, teilt alles Seiende und prägt jedem genau seine Eigenartigkeit auf. 216 Daher verwendet Heraklit «urteilen» im Sinne von „teilen“, d. h. das Feuer (das sich hier mit dem zuvor er‐ wähnten herrschenden Blitz als identisch erweist, der in Fragment 64 unweit erwähnt wird) umreißt das Seiende in seinen Grenzen und teilt durch das Umreißen dem Seienden zu, was ihm zukommt. Das Feuer als kommender Richter gleicht hier der Dike. Gleichzei‐ tig, da sowohl Feuer als auch Dike der kommenden Zukunft ange‐ hören, kommt ihre gegenseitige Verbindung mit Chronos in dieser Zugehörigkeit ans Licht. Somit kann der temporal-ontologische Charakter des archai‐ schen griechischen Rechtsdenkens am genauesten durch den Be‐ griff „κρίσις“ ausgedrückt werden. Die breiteste Etymologie dieses Wortes enthält sämtliche Bedeutungen, die bei unserer Suche von ausschlaggebender Bedeutung waren. Zusätzlich zur „Gerichtsver‐ handlung“ ist dies auch „Streit, Wettbewerb“, das in πόλεµος als ei‐ ner Seinsart des νόµος verkörpert ist. Das ist auch die «Wahl für sich selbst» als Verkörperung des «gewählten Anteils», d. h. des Schick‐ sals als Geschick. Dazu gehört auch die “Abtrennung” des zuste‐ henden Schicksals, “des eigenen” gemäß dem Anwesensort, d. h. die Festlegung der Grenze, welche das Schicksal als das Selbst des Wäh‐ lenden darstellt, in seinem Unterschied zum Anderen. Es gibt auch offensichtliche semantische Konnotationen des „Fragens und Aus‐ spürens“ als Mittel zur Erschließung des Verborgenen. All dies zeigt in seiner Gesamtheit eindeutig, dass „καιρός“ genau die „richtige Zeit“ ist, zu welcher eine “Krise” stattfinden kann, d. h. die Lösung 215 Греческо-русский словарь. – М.: Греко-латинский кабiнет Ю.А. Шичалина, 1991 – S. 731–732. [Russian-Ancient Greek Dictionary. – Moscow: Greek-Latine Office of Y.A. Shichalin, 1991]. 216 Хайдеггер М. Финк Е. Гераклит. – Спб.: Владимир Даль, 2010. – S. 158. [Heidegger M. Fink E. Heraklit].
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des Problems von Erschlossenheit und Verborgenheit des Schicksals als des Wesens des Seins desjenigen, der auf dem Weg des Rechts steht. Dementsprechend können wir feststellen, dass das Sein eines Menschen im vormetaphysischen Rechtsdenken untrennbar mit dem Recht verbunden war. Diese Verbindung war von zweierlei Art: Der Mensch “bewahrte” νόµος und verfügte darüber im Verlauf von «πόλεµος», aber gleichzeitig «bewahrte» dieser «πόλεµος» das We‐ sen des Seins des Menschen, d. h. sein Schicksal als Zuteilung des ihm zustehenden Anteils, d. h. Geschick. “Wir erfahren, dass es zum Wesen des Menschen gehört, im Recht zu sein und ein Recht (gegen andere) auf etwas haben. Ohne im Recht zu sein und sein Recht zu haben wäre der Mensch nicht, was er seinem Wesen nach ist. Des‐ halb kann nichts Wesentliches vom Dasein des Menschen ausgesagt werden, ohne sein Dasein in Recht mitzumeinen.” 217
Schlussfolgerungen Erstens existiert Recht („Nomos“) im vormetaphysischen Rechts‐ denken nicht als das sich jenseits befindende statische Sollen, son‐ dern als dynamischer Weg, auf dem alles Seiende sich in Wahrheit seines Seins verwirklicht – als das was und wie es ist, d. h. in seinem Schicksal. Zweitens existierte zur Zeit der Vorsokratiker die Normativität des Rechts nicht in Form der „Eigenschaft“ der natürlichen oder po‐ sitiven Norm des Sollens, das dem Subjekt etwas vorschreiben darf “, sondern als Notwendigkeit, „Not im Schicksal“, d. h. sein „Mangel“, seine „Unvollständigkeit“, welche aufgrund ihrer Existenz den Men‐ schen dazu zwang, den Weg des Rechts einzuschlagen, im Laufe ih‐ rer Vervollständigung. Drittens lag der Fokus der Fragestellung der vormetaphysischen Rechtsphilosophie nicht auf „Gerechtigkeit“ oder „Menschenrech‐ ten“, sondern auf dem Schicksal, das als „der Anteil des Menschen“ angesehen wurde: das, was ihm zugeteilt wird, entsprechend dem, was und wie er selbst ist. 217 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 72.
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Schlussfolgerungen
Viertens könnte Recht, als das Herausführen des Schicksals aus der Verborgenheit, nur an einem besonderen Ort existieren – der Polis, wo alles im Verlauf des Kampfes (Polemos) Anwesende in der Fülle seiner Natur offenbart wird, d. h. sein Schicksal finden kann. Fünftens kann nach den Vorstellungen der Vorsokratiker Recht als Weg nicht zu jeder Zeit eingeschlagen werden, sondern nur zu der besonderen, günstigen Zeit – „Kairos“, verstanden als „Krise“, in der das Schicksal des in den rechtlichen Sachverhalt verwickelten Menschen aus der Verborgenheit kommen kann und er dadurch zu dem werden kann, was er ist.
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Teil III Die postmetaphysische Rechtsbesinnung als Überwindung der deontologischen Differenz des Rechts
Die postmetaphysische Rechtsbesinnung als Überwindung
Wie man sehen kann, ist die Annahme des absoluten Seins des Rechts und des Rechtsverständnisses im Rahmen der für die Rechts‐ metaphysik charakteristischen Dichotomie von Sein und Sollen nur eine konkrete historische Variante des Rechtsverständnisses. Eine andere Art des Rechtsdenkens ist die Rechtsphilosophie der Vor‐ sokratiker, wo Recht als Weg zur Offenbarung des Schicksals des Seienden in seinem Sein nicht absolut existiert, sondern nur in den Koordinaten von Polis, Kairos usw. Der Versuch, die allgemeine philosophische Metaphysik zu über‐ winden, fand seinen Ausdruck in den Werken der einflussreichs‐ ten Philosophen des 20. Jahrhunderts – zunächst von M. Heideg‐ ger, M. Merleau-Ponty, H.-G. Gadamer, P. Ricoeur, J. Derrida, J. Deleuze und anderen – und ging dabei kaum an der Rechtsphi‐ losophie vorüber, in der zu jener Zeit eine Reihe von Strömun‐ gen des Rechtsdenkens entstanden, die als „postmetaphysisch“ be‐ zeichnet werden können. Dazu gehören die Rechtsphänomenolo‐ gie (A. Reinach, N. Aleksejew, G. Husserl), der Rechtsexistentialis‐ mus oder die existentielle Rechtsontologie (G. Cohn, E. Fechner, A. Kaufmann, W. Maihofer, R. Marcic), das dynamische Rechtsver‐ ständnis (J. Permyakow, S. Maksymov, A. Polyakow, I. Tschestnow, W. Tschetwernin sowie der Autor dieser Arbeit). Bei all den Unter‐ schieden, die zwischen diesen Varianten der Besinnung auf Recht bestehen, sind sie alle gleichermaßen durch das Streben gekenn‐ zeichnet, Recht „jenseits“ des Dualismus von Naturrecht und po‐ sitivem Recht zu denken und damit die Koordinaten der Rechts‐ metaphysik zu überwinden, in welchen sich das Rechtsdenken seit Platon bis zu unseren Tagen bewegt hat. 218 Gemeinsam ist den Vertretern aller genannten postmetaphysi‐ schen (nicht-klassischen) philosophischen und rechtlichen Lehren die Schlussfolgerung, dass sowohl der traditionelle Rechtspositi‐ vismus, der auf dem philosophischen Positivismus (Austin, Berg‐
218 Es ist anzumerken, dass eine Reihe von Rechtsauffassungen als postmetaphy‐ sisch bezeichnet werden können – Hermeneutik, Autopoiesis, Postmodernis‐ mus, Poststrukturalismus usw. Da aber diese Varianten keine ontologischen Probleme hervorheben, wenden wir uns diesen nicht zu. Denn unsere Suche zielt darauf ab, den Sinn des Seins des Rechts zu finden, im Sinne „woher“ wir etwas als „Recht“ verstehen (vgl. dazu: Heidegger M. Sein und Zeit – Tübingen: Max Niemeyer, 2001, S. 151).
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Die postmetaphysische Rechtsbesinnung als Überwindung
bohm) oder dem Neokantianismus (Kelsen) gründet, als auch die klassischen naturrechtlichen Auffassungen, die auf rationalistischen Konzepten der Aufklärung und der neuen Zeit basieren, nicht in der Lage sind, Recht adäquat zu reflektieren. Alle erwähnten Rich‐ tungen wurzeln in der metaphysischen Dichotomie von Sein und Sollen. So wird das einheitliche Rechtsphänomen in transzenden‐ tale und empirische Dimensionen ‚zerlegt‘, deren Verbindung aus‐ schließlich in den Köpfen der Rechtswissenschaftler vollzogen wird. Für das ganzheitliche Rechtsverständnis ist es daher notwendig, sich jenseits metaphysischer Grenzen der postmetaphysischen Philoso‐ phie zuzuwenden, die über die klassischen binären Gegensätze (Sein vs. Sollen, Subjekt vs. Objekt, Transzendenz vs. Immanenz usw.) hinausgeht. Ein solches Hinausgehen erfolgt im Rahmen von For‐ schungsstrategien und Methoden der Reduktion (E. Husserl), De‐ struktion (M. Heidegger) und Dekonstruktion (J. Derrida), die sich bei existentialistischen Denkern (K. Jaspers, J.-P. Sartre und andere) sowie bei einer Reihe von Vertretern der Postmoderne und des Post‐ strukturalismus (E. Levinas, M. Foucault, J. Deleuze, J. Baudrillard usw.) entwickelt haben. In den Werken der genannten Philosophen werden die erwähnten – starren und statischen – binären Gegen‐ sätze durch solch dynamische semantische Figuren wie die onto‐ logische Differenz zwischen Sein und Seiendem (M. Heidegger), den Unterschied zwischen Essenz und Existenz (J.-P. Sartre) sowie die „Différance“ (J. Derrida) ersetzt. Dadurch wird ein ganzheitli‐ ches Verständnis des Rechtsphänomens außerhalb der beschriebe‐ nen Antinomie von Sein und Sollen auf der Grundlage der oben ge‐ nannten Auffassungen möglich, welche aufgrund ihrer Beweglich‐ keit und Dynamik solches Verständnis ermöglichen. Für eine voll‐ ständigere und umfassendere Formulierung sowie Besinnung auf die Hauptfrage dieser Forschung – die Frage nach dem Sein des Rechts – ist es daher erforderlich, auf die Werke jener Rechtswis‐ senschaftler zu verweisen, die ihre Arbeit auf die Konzepte der ge‐ nannten Philosophen gestützt haben. Als zu solchen Forschungen auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie des 20. bis frühen 21. Jahr‐ hunderts zählend können die folgenden Bereiche hervorgehoben werden. Erstens sind dies diejenigen Rechtsphilosophen, welche aus der Phänomenologie E. Husserls hervorgegangen sind und Recht als
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Die postmetaphysische Rechtsbesinnung als Überwindung
Phänomen des Bewusstseins betrachten. Hierfür sind A. Reinaсh, N. Aleksejew sowie der Sohn von E. Husserl – G. Husserl zu nennen. Zweitens diejenigen, die ihre Forschung hauptsächlich auf dem Existentialismus von K. Jaspers, J.-P. Sartre und anderen existentia‐ listischen Philosophen sowie (teilweise) auf der Fundamentalonto‐ logie von M. Heidegger gegründet haben. Eine solche Auffassung – die der existentiellen Rechtsontologie – wird in den Werken von R. Marcic und W. Mayhofer offenbart. Die prominentesten Ver‐ treter dieser Richtung sind auch E. Fechner, G. Cohn sowie unter einigen Vorbehalten A. Kaufmann, der Recht als eine besondere – rechtliche – Art des Seienden betrachtete. Die dritte Gruppe sind Vertreter des sogenannten „dynamischen Rechtsverständnisses“ (J. Permyakow, S. Maksymov, A. Polyakow, I. Tschestnow, W. Tschetwernin sowie der Autor dieser Arbeit). Diese versucht, das Phänomen des Rechts nicht als das a priori sta‐ tisch existierende Sollen, stattdessen in der Dynamik seiner Ver‐ wirklichung – Kommunikation, Dialog, Austausch usw. vorzustel‐ len. Dementsprechend wird im Folgenden eine nähere Darstellung all dieser Auffassungen vorgenommen, um durch die kritische Ana‐ lyse, wodurch wir eine klarere Vorstellung davon erhalten, was noch zu tun ist, die Aufgabe der ursprünglichen Rechtsbesinnung zu er‐ füllen.
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Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage nach dem Sein des Rechts
Und heute? Die Zeit der Phänomenologischen Philosophie scheint vorbei zu sein. Sie gilt schon als etwas Vergangenes, das nur noch historisch neben anderen Richtungen der Phi‐ losophie verzeichnet wird. Allein die Phänomenologie ist in ihrem eigensten keine Richtung. Sie ist die zu Zeiten sich wan‐ delnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen. Wird die Phänomenologie so erfahren und behalten, dann kann sie als Titel verschwinden zugunsten der Sache des Denkens, deren Offenbarkeit ein Geheimnis bleibt. M. Heidegger “Mein Weg in die Phänomenologie”
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsphänomenologie in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts eine schlecht entwickelte Dis‐ ziplin war. Bekanntlich träumte der Begründer der modernen allge‐ meinphilosophischen Phänomenologie E. Husserl davon, dass diese Richtung zu einer universellen Wissenschaftsmethodologie werden würde. Dementsprechend teilte er als “oberster Herrscher“ den ta‐ lentiertesten Studenten eine Art “Feldmarke“ zu: M. Heidegger war verantwortlich für die Einführung der Phänomenologie in die Re‐ ligionsphilosophie, R. Ingarden – in die Ästhetik, L. Landgrebe – in die Naturwissenschaften, E. Fink – in die Geisteswissenschaf‐ ten. Die Rechtswissenschaft fiel dem talentierten, jungen deutschen Rechtsphilosophen Adolf Reinach zu. Aufgrund seines tragischen Todes während des Ersten Weltkrie‐ ges (1917) beschränkte sich die Rechtsphänomenologie jedoch zu Beginn der 1920er Jahre nur auf ein grundlegendes Werk: „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes“ (1913). Wenig später wurden die Werke von E. Stein, „Eine Untersuchung über den Staat“ (1924), und von G. Husserl, „Rechtskraft und Rechtsgeltung“ (1925), veröffentlicht. Diese Arbeiten hatten jedoch keinen wesentli‐ chen Einfluss auf die Entwicklung der phänomenologischen Rechts‐
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Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage
philosophie und blieben nur einem engen Kreis von Historikern der Rechtsphänomenologie bekannt. 219 Parallel und unabhängig davon wurden 1924 in Prag die Ergebnisse der phänomenologischen Un‐ tersuchungen des russischen Rechtswissenschaftlers N. Alexejew („Grundlagen der Rechtsphilosophie“) veröffentlicht. 220 Die Phänomenologie erhielt Anfang bis Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts fruchtbare Impulse, als G. Husserl begann, aktiver zu arbeiten. So wurde 1929 sein grundlegendes Werk „Recht und Welt“ veröffentlicht, das eine Erfahrung der rechtsphänomenologi‐ schen Entwicklung auf der Grundlage der Philosophie E. Husserls und teilweise von ”Sein und Zeit“ M. Heideggers darstellte. Die Ver‐ öffentlichung dieses Werkes löste in der damaligen deutschen Rechts‐ philosophie (E. Wolf) 221 bedeutende Resonanz aus und gab den An‐ stoß für weitere Diskussionen in diesem Bereich in den kommenden Jahrzehnten. Der Aufstieg der Nazis zwang G. Husserl zur Auswan‐ derung in die Vereinigten Staaten, verlangsamte jedoch seine Förde‐ rung rechtsphänomenologischer Ideen erheblich (diese fanden keine adäquate Resonanz in den Vereinigten Staaten, wo zur damaligen Zeit der Rechtsrealismus oberste Priorität hatte). Deshalb wurde das nächste entscheidende Werk von G. Husserl, „Recht und Zeit“, erst nach seiner Rückkehr nach Deutschland (1955) veröffentlicht. Auf‐ grund der Tatsache, dass der Existentialismus gerade zu dieser Zeit in Europa den Höhepunkt seiner Popularität erreichte, verschwand allmählich die „reine“ phänomenologische Lehre in der Rechtsphi‐ losophie und es wurde auf die Philosophie von E. Husserl zur Be‐ sinnung auf Rechtsprobleme zurückgegriffen, allerdings ausschließ‐ lich in Verbindung mit anderen „verwandten“ Auffassungen: von M. Heidegger, M. Merleau-Ponty, J.-P. Sartre usw. 222 Deshalb werden wir im weiteren Verlauf versuchen, uns mit den rechtsphilosophischen 219 Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Sie‐ beck, 2010. – S. 111–121, 183–201. 220 Алексеев Н. Н. Основы философии права. – Санкт-Петербург: Лань, 1999. – S. 256. [Alexejew N.N. The Grounds of Philosophy of Law. – SanktPetersburg: Lan’, 1999]. 221 Wolf E. Recht und Welt//Rechtsphilosophische Studien. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1972. – S. 30–54. 222 Zur Ausgiebigkeit von Husserls Ideen zur Untersuchung der rechtsphilosophi‐ schen Probleme im Allgemeinen siehe die neuesten Grundlagenuntersuchun‐ gen der österreichischen Phänomenologin S. Loidolt: Loidolt S. Anspruch und
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Paragraph 1. Apriorische Rechtslehre von A. Reinach
Konzepten von A. Reinach, N. Alexejev und G. Husserl auseinander‐ zusetzen, um sich ein eigenes Urteil über ihre Ausgiebigkeit bei der Lösung des von uns gestellten Problems (ganzheitliche Besinnung auf das Ereignis des Rechts) zu bilden.
Paragraph 1. Apriorische Rechtslehre von A. Reinach Bekanntlich war A. Reinach ein Vertreter der „realistischen Phäno‐ menologie“: Er war nicht zufrieden mit der Verschließung des Phä‐ nomens im Rahmen eines transzendental reduzierten Bewusstseins, das E. Husserl in „Ideen I“ (1913) durchgeführt und dabei versucht hat, die ursprüngliche Botschaft “Zu den Sachen selbst!“ zu bewah‐ ren, von ihm als dem Begründer der Phänomenologie in den „Lo‐ gischen Untersuchungen“ ausgerufen. Für A. Reinach ist es deshalb äußerst wichtig, sich auf die Ontologie des Rechts zu besinnen: Wie existiert „Recht an sich“? „Die Gebilde, welche man allgemein als spezifisch rechtliche bezeichnet, besitzen ein Sein, ebenso gut wie Zahlen, Bäume oder Häuser; dieses Sein ist unabhängig davon, ob die Menschen es erfahren oder nicht, insbesondere ist es unabhän‐ gig von jeglichem positiven Recht.“ 223 Jedoch was für Sein ist das? Das ideale Sein des Naturrechts? Wie S. Loidolt bemerkt hat: „Die apriorische Rechtslehre muss genauso wie vom positiven Recht auch vom Naturrecht unterschieden wer‐ den.“ 224 Reinach eröffnet so ein Feld der „rein rechtlichen Gesetz‐ mäßigkeiten, die in jedem Sinne unabhängig von der «Natur» be‐ stehen: unabhängig von der menschlichen Erkenntnis, unabhängig von der menschlichen Organisation, und unabhängig vor allem von der faktischen Entwicklung der Welt.“ 225 Wie der deutsche Recht‐ Rechtfertigung. Eine Theorie des rechtlichen Denkens im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls. – Dordrecht: Springer, 2009. – S. 336. 223 Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – München, Hamden, Wien: Philosophia Verlag, 1989. – S. 143. 224 Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Sie‐ beck, 2010. – S. 83. 225 Reinach A. Sämtliche Werke. Hg.von K. Schuhmann und B. Smith: München / Wien: Philosophia 1989. – S. 278. Zitiert nach: Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. – S. 83.
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sphänomenologe selbst bemerkt hat, „von den rechtlichen Gebilden gelten apriorische Sätze. Diese Apriorität soll nichts Dunkles und Mystisches besagen, sie ist an den schlichten Tatsachen orientiert, die wir erwähnt haben: jeder Sachverhalt, der im angegebenen Sinne allgemein ist, und notwendig besteht, wird von uns als apriorischer bezeichnet.“ 226 Gleichzeitig sollte die Apriorität keinesfalls im Kantischen Sinne als „kategorischer Imperativ“ verstanden werden, der keine empiri‐ schen Wurzeln hat und als unbedingter Leitfaden für das bewusste Handeln verstanden wird. Dies ist auch keine Vorschrift für das po‐ sitive Recht, dem Naturrecht zu entsprechen. Wie Reinach meint, kann das positive Recht nach Belieben von den Wesensgesetzlich‐ keiten abweichen, welche von den rechtlichen Gebilden gelten. 227 Der deutscher Rechtsphilosoph behauptet nur das eine: „Die so‐ genannten spezifisch-rechtlichen Grundbegriffe haben ein außerpositiv-rechtliches Sein, genau so wie die Zahlen ein Sein unabhän‐ gig von der mathematischen Wissenschaft besitzen.“ 228 Demzufolge versteht er unter der Apriorität jene wesentlichen Gesetzmäßigkei‐ ten, die dem Recht immanent sind und die für den Gesetzgeber nicht aufgrund der „höheren moralischen Anforderungen“ verbind‐ lich sind, sondern aufgrund des objektiven Bedeutungsinhaltes des bestimmten Rechtsphänomens. So kann der Gesetzgeber beispiels‐ weise einen Spenden- bzw. Kauf- und Verkaufsvertrag zum realen oder zu einem Konsensualkontrakt machen, ist dabei jedoch nicht in der Lage, den ersten in einen entgeltlichen und den zweiten in einen unentgeltlichen Vertrag umzuwandeln. Die apriorischen Grundlagen des Rechts stellen also keineswegs abstrakte Axiome dar, sondern etwas, das für positives Recht immer schon von Bedeutung ist, und zwar nicht aus „Wertgründen“ (wie es sich beispielsweise N. Alexejew vorgestellt hat), sondern auf not‐ wendige Weise, d. h. „objektiv“. Nach Reinach „bestehen die recht‐ lichen Gebilde unabhängig vom positiven Rechte, sie werden aber von ihm vorausgesetzt und benutzt. So kann ihre Analyse, die rein 226 Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – München, Hamden, Wien: Philosophia, 1989. – S. 144. 227 Op.cit. S. 145. 228 Ibid.
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immanente, intuitive Klärung ihres Wesens von Bedeutung werden für die positiv-rechtlichen Disziplinen. Aber auch die Gesetze, die in ihrem Wesen gründen, spielen innerhalb des positiven Rechtes eine weit größere Rolle, als man ahnen mag.“ 229Wenn wir zurück zur Ontologie des Rechts blicken, ist anzumerken, dass nach A. Reinach das Sein des Rechts weder vom positiven Recht noch vom Sein der Natur, d. h. Naturrecht, abhängig ist. Für den Rechtsphilo‐ sophen liegt der Ursprung des Rechts in den sozialen Akten. „Als soziale Akte bezeichnen wir die spontanen und vernehmungsbe‐ dürftigen Akte.“ 230 Eine Art des sozialen Akts ist ein Versprechen, dem, im angemessenen Verhältnis zu seinem Wesen, Anspruch und Verbindlichkeit entsprechen. Dabei sollte „Versprechen“ nicht wört‐ lich, sondern im weiteren Sinne verstanden werden. Es ist bemer‐ kenswert, dass die Frage nach den Grenzen der Auslegung von Ver‐ sprechen nicht eindeutig ist. Wie A. Reinach selbst festhält, ist „das Versprechen [. . . ] eine Willenserklärung; spezieller, es ist die Äuße‐ rung oder Kundgabe der Absicht, im Interesse eines anderen, dem gegenüber die Äußerung geschieht, etwas zu tun oder zu unterlas‐ sen“ (op.cit., S. 157. Natürlich, das ist nur „die gemeinübliche Ant‐ wort“ auf die Frage, was Versprechen sei. Einige Zeilen unten kann man lesen: „Keineswegs ist das Versprechen nichts weiter als die schlichte Kundgabe eines Willenentschlusses.“). Aber wir als Juris‐ ten wissen, daß man das Versprechen geben kann, ohne die explizite Aussage „Ich verspreche. . . “ zu machen. So kennt beispielsweise das bürgerliche Recht stillschweigende Geschäfte, welche ohne ein ein‐ ziges Wort abgeschlossen werden können. Auch A. Reinach selbst sagt, dass das Versprechen „nicht die einzig mögliche Quelle von Anspruch und Verbindlichkeit“ ist. „Auch aus gewissen Handlun‐ gen können sie unter bestimmten Voraussetzungen entspringen. So erwächst aus der Wegnahme einer Sache, welche einem anderen ge‐ hört, wesensgesetzlich die Verbindlichkeit und der Anspruch auf die Rückgabe der Sache”(Op.cit., S. 149). In diesem Falle können wir gewisse Parallelen zwischen den Phänomenen des Versprechens und Delikten als die sozialen Akten ziehen, welche die Quellen von 229 Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – München, Hamden, Wien: Philosophia Verlag, 1989. – S. 146. 230 Op.cit., S. 159.
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Anspruch und Verbindlichkeit sind. Aber die Frage nach dem Ver‐ hältnis zwischen Versprechen und Delikt ist sehr schwierig und er‐ fordert selbstständige Forschung. Somit öffnet A. Reinach seine eigene Sphäre, in der von Recht nicht als von der positiv festgesetzten Norm gesprochen wird, son‐ dern als vom „rechtlichen Gebilde”, das ein gewisses Wesen besitzt. Wie S. Loidolt bemerkt hat: „Auf diese Weise begründet er (Rein‐ ach, O.S.) eine apriorische Rechtslehre, die der These folgt, dass sich schlichte Seinsgesetze von rechtlichen Gebilden aufstellen las‐ sen, die unabhängig vom positiven Recht sind.“ 231 Gleichzeitig sollte sowohl unter ‚Anspruch‘ als auch unter ‚Verbindlichkeit‘ nichts Psy‐ chologisches, Emotionales oder gar ein Erlebnis verstanden werden. Wie A. Reinach feststellt, existieren die Ansprüche und Verbind‐ lichkeiten auch dann, wenn das Subjekt keine Erlebnisse hat oder zu haben braucht, etwa im Schlafe oder in tiefer Ohnmacht. Ansprüche und Verbindlichkeiten entstehen, dauern eine bestimmte Zeitlang an und verschwinden dann wieder. So also scheinen sie zeitliche Gegenstände einer ganz besonderen, bisher nicht beachteten Art zu sein. 232 Dieserart tritt die Zeitdimension dem Untersuchungsfeld der Rechtsphilosophie hinzu. Die Verbindung des Rechtsphänomens mit dem Sein (d. h. seine ontologische Verwurzelung) wird bei A. Reinach vermittels der Temporalität charakterisiert. Im Gegensatz zu Zahlen, Begriffen und Bestimmungen, deren wesentliches Merk‐ mal ihre außer-zeitliche Natur ist, entstehen wie vergehen An‐ spruch und Verbindlichkeit hinsichtlich einer bestimmten Zeitpe‐ riode, sind also wesentlich temporär. Gleichzeitig, wie bereits er‐ wähnt, betreffen Anspruch und Verbindlichkeit die künftige Hand‐ lung. Damit offenbart sich für das Recht seine eigene Zeitlichkeit als Zukunft, in welcher die Apriorität von Anspruch und Verbindlich‐ keit mit der realen Wirklichkeit verbunden ist. Hier stoßen wir jedoch auf eine paradoxe Erscheinung. Sobald Anspruch und Verbindlichkeit sich in der Zukunft verwirklichen, 231 Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Sie‐ beck, 2010. – S. 81. 232 Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – München, Hamden, Wien: Philosophia Verlag, 1989. – S. 148.
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werden sie dadurch sofort aufgehoben und verschwinden. Die Rea‐ lisierung des rechtlichen Anspruchs und die Erfüllung der Verbind‐ lichkeit bedeuten das Verschwinden von solchen rechtlichen Gebil‐ den (Rechtsphänomenen). Somit kann der Sinn des Rechts weder in der Gegenwart, solange es auf seine „zukünftige Verwirklichung“ wartet, noch in der Zukunft, wo seine Realisierung die Aufhebung des Anspruchs und der ihr entsprechenden Verbindlichkeit bedeu‐ tet, gegründet werden. Den Ausweg aus dieser Aporie sieht A. Reinach in der Suche nach den Grundlagen des Rechts. Im Gegensatz zu seinem Zeitge‐ nossen N. Alexejew, für welchen die Rechtsbasis in den vom Sub‐ jekt im Anerkennungsakt aufgenommenen Werten bestand, ist für den deutschen Rechtsphänomenologen A. Reinach die ontologi‐ sche Rechtsgrundlage in der empirischen Realität der bestimmten Ereignisart verwurzelt. „Kein Anspruch und keine Verbindlichkeit beginnt ohne «Grund» zu existieren, oder erlischt ohne einen sol‐ chen Grund. Es ist ja ohne weiteres klar: soll ein Anspruch er‐ wachsen oder erlöschen, so muss in dem Augenblick, in dem er erwächst oder erlischt, irgend etwas eingetreten sein, aus dem und durch das er erwächst. Und wir können sogleich hinzufügen: immer wenn genau dasselbe Geschehen wieder eintritt, muss auch der ent‐ sprechende Anspruch wieder erwachsen (erlöschen). Er ist durch das Geschehen notwendig und hinreichend determiniert.“ 233Wie A. Reinach also betont: „Wir haben neben der allbekannten Sphäre der Naturgegenstände, d. h. des Physischen und Psychischen, eine ei‐ gene Welt zeitlicher (Kursivierung O.S.), aber nicht zur Natur im üblichen Sinne gehöriger, aus sozialen Akten erwachsender Ge‐
233 Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – München, Hamden, Wien: Philosophia Ver‐ lag, 1989. – S. 154. Fairerweise sollte angemerkt werden, dass A. Reinach ein Paradox durch ein anderes beseitigt: nämlich Außer-Zeitlichkeit des Rechts durch dessen Determination als ein apriorisches Gebilde und zwar als ein em‐ pirisches Ereignis eines Sozialaktes (Versprechen usw.). Andererseits könnte ein möglicher Einwand A. Reinachs lauten, dass ein Ereignis bloß bestimmte Rechtsformationen ontologisch erzeugt und dann die Macht über sie verliert, die es zugunsten der apriorischen sinnlichen Gesetze aufgibt, welche diesen Formationen immanent sind.
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genständlichkeiten herausgehoben.“ 234 Solche Gegenständlichkei‐ ten sind rechtliche Gebilde (Anspruch und Verbindlichkeit). Ihre spezifische Zeitlichkeit besteht darin, dass ähnliche (rechtliche) Ge‐ bilde in einer Art Zeitschleife existieren, die sich aus den recht‐ serzeugenden und rechtsaufhebenden Ereignissen zusammensetzt (diese bezeichnet die klassische Rechtswissenschaft auf ontischer Ebene als rechtliche Tatsachen). Der deutsche Rechtsphilosoph ver‐ steht also Recht als Phänomen von Forderungen und Pflichten, die durch ein bestimmtes Geschehen – einen sozialen Akt wie ein Ver‐ sprechen oder auch andere Quellen – hervorgerufen werden, für dessen Existenz besondere – apriorische – rechtliche Gesetzmäßig‐ keiten von Bedeutung sind. Soziale Akte sind auf einen Anderen gerichtet oder setzen seine aufmerksame Teilnahme voraus (ein Akt ist jede Handlung, ob Tätigkeit oder Untätigkeit, die durch Inten‐ tionalität charakterisiert werden kann). Die ontologische Voraus‐ setzung für die Existenz des Rechts ist also kein untätiger Einzel‐ gänger – ein transzendentales Subjekt, das apriorische rechtliche Gesetzmäßigkeiten betrachtet, sondern es sind mindestens zwei – Ich und der Andere, die in sozialer Interaktion stehen. Offenkun‐ dig findet im Verlauf sozialer Akte zwischen diesen beiden Polen eine Art “Austausch“ statt, nämlich wenn in Antwort auf die ge‐ richtete Tätigkeit (oder Untätigkeit, O.S.) einer Person (etwa ein „Versprechen“) Anspruch der anderen Person bzw. Verbindlichkeit gegenüber dem anderen entsteht. Da jedoch der soziale Akt zeit‐ lich dem rückwirkenden Akt der anderen Person vorausgeht, ist das wichtigste Merkmal für die Existenz des Rechts die zeitliche Lücke zwischen jenen beiden Momenten. In diesem Zeitintervall nämlich sind die „apriorischen rechtlichen Gesetzmäßigkeiten“ lokalisiert, d. h. ebenjene logischen Offensichtlichkeiten, deren Untersuchung A. Reinach als entscheidend für die Rechtsphilosophie erachtet. Dementsprechend lässt sich daraus schließen, dass im Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung über den «Subjektivismus» der Rechtsphänomenologie, Reinachs Lehre eine Reihe wichtiger on‐ tologischer Implikationen beinhaltet. Dies ist sowohl die rechtliche Kommunikation, die durch die sozialen Akte erzeugt wird (der Aus‐ 234 Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – München, Hamden, Wien: Philosophia Verlag, 1989. – S. 246.
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tausch von Forderungen und Pflichten), als auch die Polysubjekti‐ vität 235 (der Dialog zwischen Ich und dem Anderen, welcher wäh‐ rend des erwähnten Austauschs stattfindet), wie auch die rechtliche Temporalität als die zeitliche Lücke zwischen dem sozialen Akt und der wechselseitigen Pflicht oder Forderung. Nichtsdestotrotz fand der deutsche Rechtswissenschaftler auf eine Reihe wichtiger Fragen keine Antwort. Erstens, da nicht jede Interaktion zwischen Menschen sozial ist (im Sinne austauschbarer sozialer Rollenverhältnisse gegenüber einer affektiven Zwischen‐ menschlichkeit): Gibt es Kriterien, die es ermöglichen würden, ins‐ besondere den sozialen Aspekt in der menschlichen Kommunika‐ tion zu spezifizieren? Andernfalls verlieren wir die Möglichkeit, die soziale Kommunikation und ihre Ableitungen – gesetzliche For‐ derungen, Verpflichtungen und Versprechen – von der zwischen‐ menschlichen Kommunikation zu trennen, welche nicht immer zum Rechtsbereich führt. Zweitens: Wodurch wird eine Person im Laufe eines bestimmten sozialen Aktes gerade als das „Rechtssub‐ jekt“ feststellbar, d. h. zum ”Teilnehmer“ an Rechtsbeziehungen? Schließlich kann die Interaktion immer auf der Ebene freundli‐ cher oder geschäftlicher Kommunikation bleiben und sich nicht zur rechtlichen entwickeln. Und, am wichtigsten, drittens: Was ist eigentlich Recht? Für die Existenz der von A. Reinach erwähn‐ ten “Rechtsgebilde“ sind bestimmte “apriorische Gesetzmäßigkei‐ ten“ von Bedeutung. Aber was für Gebilde sind das – Rechtsbezie‐ hungen, Objekte (Gegenstände) des Rechts (bewegliche und unbe‐ wegliche Dinge, Rechte, Pflichten), Rechtsnormen, Rechtssubjekte? Und sind sie an sich rechtlich aufgrund ihres immanenten Inhalts oder nur infolge sozialer Akte? Somit war A. Reinach eben nicht in der Lage, das „dynamische Bildungsprinzip“, die Prozessualität von Rechtsphänomenen voll‐ ständig festzustellen, indem er bei der Annahme der Erzeugung von Rechtsphänomenen im Verlauf sozialer Akte verharrte und damit nicht ausführlich erklären konnte, aus welchem Urgrund das unter‐ schiedliche Seiende wie Menschen, Dinge, Normen und Beziehun‐ gen seinen rechtlichen Status erhält und weshalb es unter die Macht 235 Diese ist nicht mit “transzendentaler Intersubjektivität” zu identifizieren. Mir scheint, dass A. Reinach als ein Vertreter der “realistischen Phänomenologie” diese Idee von E. Husserl nicht akzeptieren konnte.
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der ”apriorischen Gesetzmäßigkeiten“ der Existenz von Rechtsge‐ genständen fällt. Insofern die Quelle vom Rechtsstatus jedes Seien‐ den in seinem Sein aufgesucht werden sollte, bestand der Haupt‐ nachteil von A. Reinachs Konzept darin, die Frage nach dem Sein des Rechts auszulassen und sie durch die Frage nach der abstrakten Existenz der rein rechtlichen Gesetzmäßigkeiten zu ersetzen. Infol‐ gedessen wird es unmöglich, den rechtlichen Status dieses oder je‐ nes Seienden noch zu begründen.
Paragraph 2. Phänomenologie der Alleinheit von N. Alexejew N. Alexejew gilt zu Recht als einer der bedeutendsten russischen Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Der Grund dafür ist seine originelle Auffassung von Recht auf phänomenologischer Grund‐ lage. Das Ergebnis seiner phänomenologischen Forschung waren die 1924 in Prag veröffentlichten “Grundlagen der Rechtsphiloso‐ phie“. 236 Wie der russische Rechtswissenschaftler selbst anmerkt, ist die‐ ses Buch das Ergebnis derjenigen intellektuellen Erfahrung, die ver‐ sucht, das innere Wesen des Rechts zu ersehen und begreifen. Die Ideenquellen waren in diesem Fall die deutsche Phänomenologie, die Lebensphilosophie (A. Bergson) und die russische Religions‐ philosophie (N. Losski). 237 Dabei blieb die Phänomenologie stets die methodisch führende Richtung. Nach Aussage von N. Alexe‐ jew konnte kaum eine ernsthafte, gegenwärtige oder zukünftige phi‐ losophische Richtung auf eine zufriedenstellende Lösung ihrer Er‐ kenntnisaufgaben zählen, ohne Erfahrungen, Methoden und Ergeb‐ nisse der neuesten phänomenologischen Forschungen zu berück‐ sichtigen. 238 Bekanntlich sah E. Husserl als Begründer der Phänomenologie deren Haupterrungenschaft darin, dass sie (dank Reduktion und 236 Алексеев Н. Н. Основы философии права. – Санкт-Петербург: Лань, 1999.-256 s. [Alexejew N.N. The Grounds of Philosophy of Law. – Sankt-Pe‐ tersburg: Lan’, 1999]. 237 Op.cit. S. 17. 238 Op.cit. S. 40.
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Wesensanschauung) dasjenige offenbaren kann, was für das Be‐ wusstsein in der sogenannten „natürlichen Einstellung“ grundsätz‐ lich unzugänglich ist; reiner Sinn als solcher, der im Verlauf der Wesensanschauung ersehen und dank der Reduktion von allen em‐ pirisch zufälligen „Beimischungen“ gereinigt wird. Der russische Rechtswissenschaftler sieht die Phänomenologie auch als Gelegen‐ heit, einen neuen Forschungsbereich zu eröffnen: Die Phänomeno‐ logie sei als Intuition der Alleinheit das Erkenntnismittel, sich in Ideen hineinzufühlen und hineinzudenken, wodurch sich vor un‐ serem mentalen Blick eine Vielzahl völlig neuer, fast unbekannter Beziehungen offenbart. 239 Dabei sticht ein Unterschied ins Auge. Wenn E. Husserls Phä‐ nomenologie die Disziplin ist, die es ermöglicht, den Sinn des be‐ stimmten, in der Wahrnehmung gegebenen Phänomens zum Ge‐ genstand der thematischen Analyse zu machen (d. h. zum Gegen‐ stand der besonderen Untersuchung), dann ermöglicht N. Alexe‐ jews Phänomenologie, den Sinn vom nicht nur wahrgenommen, denkbaren, imaginären usw. Objekt zu verstehen, sondern vom All‐ gemeinen, d. h. der Welt im Ganzen. Hier sind die Implikationen im phänomenologischen Denken der russischen Philosophie offen‐ sichtlich, vor allem der Philosophie der Alleinheit. Währenddessen fällt der russische Rechtswissenschaftler jedoch nicht in Abstrak‐ tion und Unpersönlichkeit: Wie N. Alexejew zeigt, ist Philosophie in ihrem Wesentlichen eine Weltanschauung, d. h. die Intuition des Weltganzen als des Ganzen. Zu dieser Intuition gehört nicht nur das Begreifen der Welt, sondern auch das Begreifen des Schicksals des diese Welt erfahrenden Menschen, seines Platzes in der Welt und seiner Haltung zur Welt. 240 Das Objekt der Philosophie als der Phä‐ nomenologie ist somit nicht bloß das Allgemeine, sondern die Welt als Ganzes. Neben dem Allgemeinen umfasst dieses Ganze auch den individuellen menschlichen Ansatz – das Schicksal. Für N. Alexejew ist die Welt in ihrer Ganzheit nicht lediglich das Allgemeine. Es gibt auch konkrete, rein vereinzelte und individuelle Erscheinungen auf der Welt. Wer die Welt in ihrer Gesamtheit ergreifen möchte, muss 239 Op.cit. S. 41. 240 Алексеев Н. Н. Основы философии права. – Санкт-Петербург: Лань, 1999. – S. 43. [Alexejew N.N. The Grounds of Philosophy of Law. – SanktPetersburg: Lan’, 1999].
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auch das berücksichtigen, was nicht vom Allgemeinen bestimmt wird. Die Welt ist nicht nur eine Idee, sondern auch eine empirische Tatsache. 241 Dementsprechend sollte Phänomenologie in der Auslegung des russischen Rechtsphilosophen über den idealen Bereich des Sinnes hinausgehen und sich der Welt als dem Ganzen zuwenden. Dieser Ansatz kommt der realistischen Phänomenologie wie der von M. Scheler (oder von A. Reinach) viel näher als dem transzendentalen phänomenologischen Denken von E. Husserl. Ein solcher Übergang (von der transzendentalen zu einer realistischen Phänomenologie) ist auf das Problem der Hinwendung zu jenem Recht zurückzuführen, das vom Standpunkt der Metaphysik aus, ähnlich dem Kantischen Subjekt, welches „Bürger zweier Welten“ ist, die realen sozialen Be‐ ziehungen reguliert (positives Recht) und gleichzeitig die ideale kri‐ tische Skala zur Beurteilung des Gesetzes (Naturrecht) darstellt. Wie man jedoch sehen kann, war N. Alexejew mit solcher Spaltung nicht zufrieden: Wie jeder echte Rechtswissenschaftler suchte er nach dem Ursprung des Rechts, nach seinen tiefsten Grundlagen, die das Recht tatsächlich zum Recht machen. Dessen Identifizierung sicherzustel‐ len musste der Trennung eines einheitlichen Phänomens in das ge‐ schriebene (positive) und das ungeschriebene (natürliche) Recht vor‐ ausgehen. „Es gibt den speziellen Bereich von rechtlichen Tatsachen oder rechtlichen Phänomenen als gewisse ursprüngliche rechtliche Gegebenheiten. Aber was sind diese rechtlichen Tatsachen? Wo sollte man nach ihnen suchen und wie sind sie möglich?“ 242 – Solche Fra‐ gen stellt sich der russische Rechtsphilosoph. Im Gegensatz zu A. Reinach, der Recht anfänglich im Bereich apriorischer rechtlicher Gegebenheiten lokalisierte, d. h. gewisser vorerfahrener Gesetzmäßigkeiten, meinte N. Alexejew, dass Recht nicht auf eine Dimension reduziert werden könne. Denn Recht beinhaltet als ein ganzheitliches Phänomen sowohl „reales“, d. h. po‐ sitives Recht, als auch seine „ideale“ Urquelle. Daher unterliegen rechtliche Fakten und anfängliche rechtliche Gegebenheiten kei‐ nen Definitionen, da letztere nur eindimensionale Phänomene be‐ 241 Op.cit. S. 42. 242 Алексеев Н. Н. Основы философии права. – Санкт-Петербург: Лань, 1999. – S. 53. [Alexejew N.N. The Grounds of Philosophy of Law. – SanktPetersburg: Lan’, 1999].
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schreiben können. Um das Wesentliche der Sicht auf die Mehrdi‐ mensionalität des Rechts zu verstehen, ist es notwendig, den Boden der Definitionen endgültig zu verlassen. Die phänomenale Rechts‐ struktur erscheint vor uns als die Einheit mehrerer Dimensionen. 243 Eine phänomenologische Beschreibung widerspricht somit einem durch Definitionen vorgeschriebenen rechtlichen Seienden: Darin ist der russische Rechtswissenschaftler einvernehmlich mit A. Rein‐ ach, nach dessen Meinung es ein Zeichen philosophischer Unbil‐ dung ist, dort Definitionen zu verlangen, wo sie nicht möglich sind oder nichts zu leisten vermögen. 244 N. Alexejew identifiziert drei Elemente der Rechtsstruktur. Das erste ist das Subjekt als Träger der im Recht enthaltenen Werte. Das Subjekt wird als der Handelnde betrachtet, als der Träger der Akte, die die Werte offenbaren – u. a. die Akte der Anerkennung. Werte werden erst lebendig und real, wenn sie einen lebendigen Träger fin‐ den. „Anerkennung haben“ bedeutet für das Subjekt, sich in den Ak‐ ten der Anerkennung zu befinden, „in der Anerkennungstätigkeit zu leben“, sie zu erfüllen, zu erfahren und zu betrachten. Das zweite Ele‐ ment sind Werte. Das dritte sind jene Definitionen, die das spezifische Rechtsverhältnis von Werten untereinander sowie darüber hinaus zwischen ihnen und ihrem Träger charakterisieren. Solche Grundde‐ finitionen sind „Rechtsberechtigung“ und „Rechtspflicht“. 245 Diese drei Elemente der Rechtsstruktur in ihrer Einheit nämlich sind in der Lage, jedes empirische Phänomen zu einem Rechtlichen zu machen und es als rechtlich zu identifizieren. Selbst das „ur‐ sprünglich“ rechtliche Seiende, z. B. das Gesetz, verliert ohne min‐ destens einer dieser Komponenten seine rechtliche Relevanz. Nach N. Alexejew ist es die Rechtsstruktur, die den verschiedenen Phä‐ nomenen die Rechtsform gibt. Insbesondere sind die Rechtsnor‐ men nur deshalb rechtlich, weil sie die rechtliche Struktur widerspie‐ geln. Der russische Rechtswissenschaftler nennt diejenigen Normen „rechtlich“, welche im Gegensatz zu anderen einen besonderen Träger 243 Op.cit. S. 73. 244 Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes. – Halle: Verlag von Max Niemeyer, 1922. – S. 759. 245 Алексеев Н. Н. Основы философии права. – Санкт-Петербург: Лань, 1999. – S. 74–75. [Alexejew N.N. The Grounds of Philosophy of Law. – SanktPetersburg: Lan’, 1999].
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(Anerkennungsfähigkeit) voraussetzen, worin realisierte Werte aus‐ gedrückt und welche in besonderen Definitionen (Rechte und Pflich‐ ten) formuliert werden. 246 Diese dreifache Rechtsstruktur ist gerade jene „Brücke“, welche die „ideale“ und „reale“ Dimension des Rechts verbindet. Denn wir beobachten das reale Recht nur dann, wenn die ideale Rechtsstruktur eine gewisse soziale Verkörperung erhält. 247 Was jedoch ist dieser „Zauberstab“, der im Handumdrehen den Menschen, der noch nicht mal an Recht gedacht hat, zum berechtig‐ ten und verpflichteten Kläger, Angeklagten, Augenzeugen, Antrags‐ gegner macht? Schließlich ergeben „das Leben in den Erkennungs‐ akten“, „Umsetzung der Rechtswerte“ usw. offensichtlich nicht den Inhalt der menschlichen alltäglichen Handlungen. Und dann ist N. Alexejew gezwungen, über die von ihm festgelegte dreifache Rechtsstruktur hinauszugehen: Er sagt, dass Rechte und Pflichten nicht alleine, sondern infolge der „normativen Fakten“, der echten, in Zeit und Raum geschehenden Ereignissen entstehen, die einen bestimmten Sinninhalt haben (meine Kursivierung, O.S.). 248 Was bestimmt dabei diesen Ereignisinhalt? Immerhin gibt es viele Er‐ eignisse, die keinerlei Bezug auf Recht haben. Die gestellte Frage ist kein Problem für den Rechtspositivismus, insofern der letztere den rechtlichen Status des Ereignisses in Abhängigkeit von der Lösung des kompetenten Subjekts bringt. Die Phänomenologie aber, die auf der Überwindung des rechtlichen Positivismus besteht, kann sich mit solcher Antwort nicht zufriedengeben. Ist das Ereignis rechtlich an sich, d. h. „immanent“ oder die Folge der Bewusstseinsaktivität, die seinen rechtlichen Sinn bildet? Der Autor der «Grundlagen. . . » findet allerdings keine Antwort auf diese Frage. Darüber hinaus bietet N. Alexejew keine Kriterien für die Unterscheidung der «normativen» Fakten von den «nicht nor‐ mativen». Aus welchem Grund besitzen gewisse besondere Akte die Eigenschaft der Normativität in Bezug auf das menschliche Verhal‐ ten, wodurch sie Rechte und Pflichten für Menschen schaffen? Im Versuch es zu erklären ist der russische Wissenschaftler nicht mehr in der Lage, auf der phänomenologischen Plattform zu bleiben, und fällt in die Spekulation über die Alleinheit: Nur die Idee des Ganzen und 246 Op.cit. S. 197. 247 Op.cit. S. 193. 248 Op.cit. S. 190.
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die hieraus resultierende Notwendigkeit kann die mysteriöse und er‐ staunliche Erscheinung der absoluten ethischen und rechtlichen Ver‐ bindung erklären. Auf welche Weise kann „jeder“ rein „tatsächlich“ und „natürlich“ mit „jedem“ verbunden sein? Immerhin kann man nicht alle, schon gar nicht die noch nicht mal Geborenen, durch einen Befehl miteinander verbinden. Wie ist also eine solche automatische Verbundenheit möglich? Es reicht jedoch die Annahme, dass die Ver‐ bundenheit nicht automatisch, sondern ideal ist, dass in dem allge‐ meinen historischen Ethos alle als Mitglieder des Ganzen leben; so wird klar, warum jeder verpflichtet ist. Dies ist die Logik der Ideen, auf denen das Leben des Rechts gebaut ist. 249 Schließlich ist zu sagen, dass die Auffassung von N. Alexejew definitiv ein bedeutender Schritt im Projekt der phänomenologi‐ schen Suche nach den Grundlagen des Rechts ist. Er gliedert also die Struktur des Eidos von Recht aus, dank welcher es möglich ist, die Dichotomie von Positivismus und Naturrecht zu überwin‐ den, indem ihre gemeinsame Quelle aufgefunden wird. Sein zwei‐ felloser Verdienst ist ebenso die Abkehr vom abstrakten „Rechts‐ subjekt“ des klassischen Rationalismus und seine Feststellung der anthropologischen Eigenschaft von Recht, wonach der aktiv Han‐ delnde zum „Rechtsmenschen“ wird, der ein einmaliges Schicksal hat und Recht in seinen Anerkennungsakten bestätigt. Somit erhält Recht eine axiologische und anthropologische Grundlage. Gleich‐ zeitig findet der russische Rechtswissenschaftler jedoch keine on‐ tologische Grundlage des Rechts: Er markiert normative Fakten als eine Art Katalysator, der den Phänomenen rechtlichen Charakter verleiht; dennoch kann er weder die Gesetzmäßigkeit dieses Pro‐ zesses (und wodurch der erwähnte Charakter verliehen wird) noch die Natur der Normativität jener Tatsachen erklären. Offensichtlich könnte die folgende Antwort gegeben werden, wonach zunächst die Frage nach dem Sein des Rechts im Sinne seiner ontologischen Ba‐ sis, die den rechtlichen Charakter von jeglichem Seienden bedingt, gestellt werden kann sowie die Frage nach der Zeit des Rechts als Horizont dieses Seins. Obwohl N. Alexejew in die Nähe des Pro‐ blems vom Sein des Rechts gelangt, kann er dieses durch seine Be‐ schränkung auf die Beschreibung der idealen Rechtsstruktur nicht feststellen. 249 Op.cit. S. 159.
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Paragraph 3. Die Rechtsphänomenologie von G. Husserl Es sei betont, dass die oben beschriebenen „ontologischen Lücken“ bei der Begründung des Rechts durch A. Reinach und N. Alexejew weitgehend die Folge davon darstellen, dass Probleme von Sein und Zeit in der Phänomenologie insgesamt nicht ausgearbeitet worden sind. Die Situation hat sich 1927 durch die Veröffentlichung des Werks „Sein und Zeit“ von M. Heidegger geändert, welches laut dem herausragenden deutschen Philosophen W. Maihofer den brand‐ neuen Horizont der Fragestellung (auch für die Rechtsphilosophie) eröffnete. 250 Das Erscheinen von „Sein und Zeit“ führte zur Spaltung in der Phänomenologie, da M. Heidegger eine Reihe von Thesen formu‐ lierte, hinsichtlich welchen er sich grundsätzlich von der Position E. Husserls unterschied. Wie M. Heidegger betont hat: „In der Her‐ ausarbeitung der Intentionalität als des thematischen Feldes der Phänomenologie bleibt die Frage nach dem Sein des Intentionalen unerörtert [. . . ] Die Seinsfrage selbst bleibt unerörtert.“ 251 Dement‐ sprechend hält M. Heidegger es für notwendig, die Frage nach dem Sinn des Seins wiederaufzunehmen, aber dabei als Ausgangspunkt nicht das transzendentale Bewusstsein zu wählen, das während der Reduktion (Phänomenologie von E. Husserl) gereinigt worden ist, sondern „die ontologische Verfassung jenes Seienden, das wir je selbst sind“ – das Dasein. Infolge dieser «ontologischen Kehre» befanden sich die Rechts‐ wissenschaftler phänomenologischen Fundaments in einer schwie‐ rigen methodologischen Situation. Einerseits war es nach „Sein und Zeit“ unmöglich über Recht zu schreiben, ohne die in jener Ar‐ beit ausgedrückten Thesen wahrzunehmen. Andererseits schien es ebenso unmöglich, weiterhin im phänomenologischen Paradigma zu denken, nachdem man mit E. Husserl völlig gebrochen hatte. Des Weiteren erwies sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Phänomenologie E. Husserls und der Fundamentalontologie M. 250 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 13. 251 Heidegger M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1979. – S. 157.
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Heideggers als so kompliziert, dass es sogar jetzt kaum möglich ist, eine klare und endgültige Antwort darauf zu geben. Gleichzei‐ tig konnte die Rechtsphilosophie nicht auf die endgültigen Ergeb‐ nisse der philosophischen Forschung warten, da die Probleme des Rechts beharrlich hervortraten und nach ihrer Stellung und Besin‐ nung verlangten. In einer derart methodologisch zweideutigen Si‐ tuation befand sich der deutsche Rechtswissenschaftler G. Husserl (1893–1973) Ende der 1920er Jahre. 252 Es sei darauf hingewiesen, dass das Schaffen dieses großen deut‐ schen Rechtsphänomenologen sehr uneinheitlich ist. So stand er an‐ fänglich vollständig unter dem Einfluss seines Vaters E. Husserl und versuchte, dessen Ideen auf das Gebiet der Rechtsphilosophie zu übertragen. Gleichzeitig erwies sich diese Auffassung als nicht sehr produktiv und die diesbezüglichen Werke von G. Husserl 253 sollten wenig Differenz vom Rechtspositivismus bemerken lassen. 254 Im Gegenteil, beginnend mit der Veröffentlichung seiner Arbeit «Recht und Welt» (1929), die unter dem stärksten Einfluss der Ideen von M. Heidegger geschrieben wurde, bewegt sich G. Husserl zur reifen Etappe (Hauptetappe) seines Schaffens, welche nämlich durch den Versuch gekennzeichnet wird, die Auffassungen von E. Husserl und M. Heidegger auf der Ebene der Rechtsphilosophie methodologisch zu vereinen. 255 In dieser Periode versucht G. Husserl nicht nur, die Fragen der rechtlichen Erkenntnistheorie zu beantworten, diejenigen nach der Kenntnis vom Eidos des Rechts, vom Mechanismus seiner Verfas‐ sung usw., sondern auch die Probleme der Rechtsontologie zu re‐
252 Für weitere Details zur philosophischen Biographie von G. Husserl und sei‐ nem Weg zur Rechtsphänomenologie siehe: Стовба А.В. Живет ли право в жизненном мире: феноменология права Г. Гуссерля//Проблеми фiлософiї права. – T. VIII–IX. – 2010–2011. – S. 92–96 [Stovba O.V. Does Law Live in the Life-world: Phenomenology of Law by G. Husserl//Philosophy of law Issues. T. VIII–IX. – 2010–2011. – S. 92–96]. Auch: Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. – S. 185 ff. 253 Rechtskraft und Rechtsgeltung (1925) und Rechtssubjekt und Rechtsperson (1927). 254 Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Sie‐ beck, 2010. – S. 187. 255 Wolf E. Recht und Welt//Wolf E. Rechtsphilosophische Studien. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1972. – S. 32.
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Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage
flektieren. Zunächst geht es um die Seinsart des Rechts. Im Gegen‐ satz zu A. Reinach, der sich mit der Feststellung der Anwesenheit ei‐ nes Bereichs bestimmter rechtlicher Gesetzmäßigkeiten zufrieden‐ gab, deren Sein dem Sein der Zahlen in der Mathematik ähnlich ist, und auch von N. Alexejew, der sich auf die eidetische Rechtsstruktur konzentrierte, die in den Anerkennungsakten des Subjekts verwur‐ zelt ist, beschäftigt sich G. Husserl anderweitig mit der Suche nach den Grundlagen des Seins des Rechts: Wie existiert Recht, wie ereig‐ net es sich, wie ist die Welt des Rechts mit der Welt unseres Alltags verbunden? In den 30er und 40er Jahren setzte G. Husserl seine Suche nach den Antworten auf diese Fragen fort. Deshalb kann seine Schaffensperiode durchaus als eine ontologische bezeichnet werden. Wie M. Heidegger jedoch deutlich gezeigt hat, verlangt die Aus‐ arbeitung der Seinsfrage notwendigerweise die vorausgehende Hin‐ wendung zur Zeit als dem Horizont der Verständlichkeit des Seins. Deshalb legt G. Husserl ab seiner Rückkehr in die Heimat aus der er‐ zwungenen Auswanderung in die Vereinigten Staaten in den 1950er und 1960er Jahren einen besonderen Akzent auf die Zeitproblema‐ tik, dessen Ergebnis seine Arbeit «Zeit und Recht» (1955) war. 256 Diese Umstände bestimmen die Charakteristik der dritten – spä‐ ten – Etappe seines Philosophierens als zeitlich. Vorliegend wird versucht, eine detaillierte Auseinandersetzung mit seinen Werken vorzunehmen, welche der späten und reifen Periode seines Schaf‐ fens angehören, vor allem «Recht und Welt» und «Recht und Zeit», sowie mit einem kleinen, aber äußerst wichtigen Text mit dem Ti‐ tel «Alltag und Recht» (1940). Das Ergebnis dieser Analyse soll ein ganzheitliches Bild der Hauptetappen der Rechtsphilosophie E. Husserls ergeben, wie auch die Hervorhebung jener kontroversen Fragen, deren weitere Ausarbeitung für unsere Untersuchung als notwendig angesehen wird. “Das menschliche Dasein ist ein in-der-Welt-sein. . . Zur Ausstat‐ tung der Welt gehören auch rechtliche Dinge. Das Welt-haben um‐ fasst offenbar ein Recht-haben. Dem Menschen sind mit seiner Welt Dinge des Rechts der Gemeinschaft, der er angehört, gegeben. Wie
256 Husserl G. Zeit und Recht. 5 Rechtphilosophisches Essays. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1955. – S. 225.
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«gegeben»? Die Frage bedarf der Überlegung.” 257 So fängt Husserls Werk «Recht und Welt» an. Für ihn ist die Schlüsselfrage, wie es in der Gesamtheit des Seienden, unter der allgemeinen Bezeichnung „Welt“, möglich wird, eine bestimmte Art darunter zu lokalisieren: das rechtliche Seiende. Nach G. Husserls Auffassung geschieht dies im Rahmen einer besonderen Erfahrung, der „rechtlichen“ Erfah‐ rung. Dementsprechend impliziert die Antwort auf die Frage nach der Gegebenheitsart der rechtlichen Dinge die Rekonstruktion der Rechtserfahrung, in welcher der Mensch etwas als Recht „erfährt“. Bekanntlich basiert die transzendentale Phänomenologie von E. Husserl auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Er‐ fahrungsarten – der sogenannten «natürlichen» und «phänome‐ nologischen». 258 Diesen beiden Erfahrungsarten entsprechen zwei Bewusstseinseinstellungen. In der „natürlichen“ Einstellung ist der Mensch von der Existenz der Welt überzeugt und orientiert sich an Objekten, die im Verlauf solcher „Erfahrung der Welt“ entstehen und verschwinden. In der phänomenologischen Einstellung wird die „naive“ Überzeugung von der Existenz der Welt und ihrer Be‐ standteile „reduziert“. Eine solche «phänomenologische Epoche» 259 zielt nicht darauf ab, an der Realität der materiellen Welt zu zwei‐ feln, sondern leitet die Aufmerksamkeit von den Objekten selbst auf ihren Sinn um. 260 Die Gesamtheit dieser Sinne, Phänomene als solche – reine Gegebenheit der Dinge im Bewusstsein – ist das Gegenstandfeld der transzendentalen Phänomenologie, 261 das den speziellen ontologischen Bereich darstellt. Folgend dieser Tradition sagt G. Husserl, „naive Erfahrung ist, (von einem scharf umgrenzten Ausnahmetatbestand abgesehen), überhaupt nicht imstande, demMenschen Rechtliches zu originärer
257 Op.cit. S. 67. 258 Гуссерль Э. Идеи к чистой феноменологии и феноменологической философии. – М.: Дом интеллектуальной книги, 1999. – S. 110. [E. Hus‐ serl Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo‐ sophie. – Moscow: House of Intellectual Book, 1999]. 259 Epoche (griechisch) „das Zurückhalten des Urteils.“ Für weitere Details zur Umsetzung der Epoche im Zuge der phänomenologischen Reduktion siehe: Op.cit. S. 74 ff. 260 Op.cit. S. 197, 202, 203, 279 ff. 261 Op.cit. S. 111.
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Selbstgegebenheit zu bringen.“ 262 Unter naiver Erfahrung versteht er solche, die sich im natürlichen Lauf der Zeit entfaltet. „Der Akt naiver Erfahrung entfremdet den Erfahrenden nicht seiner lebenderlebten Daseinswirklichkeit, mag auch das heute neu Erfahrene mit früher Erlebtem im Widerspruch stehen. . . Die der natürlichen Er‐ fahrung gegebene Welt ist eine Welt des Zweifels.“ 263 Das, was heute als rechtlich erfahren wird, kann sich morgen im Zuge der neuen Erfahrung „entkörpern“ und als etwas anderes erscheinen. Dement‐ sprechend sind andere, glaubwürdigere Gründe als der empirische Wahrnehmungsfluss erforderlich, um das Seiende sicher als recht‐ lich zu identifizieren. Um aus der Welt des Zweifels herauszukom‐ men und der Welt des Rechts einen festen Boden zu geben, schlägt G. Husserl eine besondere methodische Operation vor, die er „tran‐ szendente Setzung“ nennt: Dabei transzendiert der Mensch seine Grenzen als empirisches Wesen, die ihn normalerweise in einem kontinuierlichen zeitlichen Erfahrungsstrom versunken sein lassen, und setzt und eine „andere Welt“, die des Rechts. 264 So sind „rechtliche Gegenstände grundsätzlich naiver Erfah‐ rung nicht erreichbar“ und bekommen ein „transzendentes Sein“. 265 Gleichzeitig ist G. Husserl sich bewusst, dass eine solche Aussage noch mehr Fragen aufwirft. Aber „wie ist diese Transzendenz des Rechtlichen beschaffen, welcher ist der Zugangsweg zum Recht, der es dem Menschen in originärer Selbstgegebenheit offenbar wer‐ den lässt, und in welchem Sinn ist hier eine Einschränkung zu machen?“ 266 Durch die positive Explikation des Phänomens des Rechts zeigt G. Husserl Folgendes: “Das Recht ist Willenswerk: ein willentlich gewirktes Etwas, das selbst wirkender Wille ist”. 267 In der Wesensstruktur des Rechtswillens bezeichnet der deutsche Rechtsphilosoph das Recht (identifiziert mit Rechtsordnung) als Wille der Rechtsgemeinschaft. 268 Gleichzeitig bedeutet die Rechts‐
262 Husserl G. Recht und Welt //Husserl G. Recht und Welt. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1964. – S. 67. 263 Op.cit. S. 68. 264 Op.cit. S. 69. 265 Op.cit. S. 77. 266 Ibid. 267 Ibid. 268 Ibid.
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gemeinschaft keine einfache Summe von Menschen als empirischer Wesen. Sie besteht aus Personen, die als Rechtsgenossen genom‐ men werden. „Rechtsgenosse sein heißt ein Glied der Rechtsge‐ meinschaft sein, die daseinsmäßig in diesen ihren Mitgliedern wur‐ zelt. Rechtsgemeinschaft und Rechtsordnung müssen aber zualler‐ erst geschaffen werden.“ 269 Die Schaffung der Rechtsgemeinschaft und der Rechtsordnung ist kein empirischer Schöpfungsakt. Solange die in der Erfahrung gegebene Welt eine Welt des Zweifels ist, kann die zeitlose transzen‐ dente Wirklichkeit des Rechts nicht darauf beruhen. Hier besteht eine Art von Zirkel: Der Wille, der Recht schafft, muss bereits ir‐ gendwie rechtlich geregelt sein und damit aus dem „diesseitigen“ Bereich des Zweifels herausgenommen werden. Dies ist jedoch nur auf der Grundlage des bereits bestehenden Rechts möglich, das wie‐ derum eines erzeugenden Willens bedarf. Der deutsche Phänomenologe sieht einen Ausweg aus diesem Zirkel im Überdenken der Zeitlichkeit des Rechts. Die erwähnten Schwierigkeiten beruhen auf dem Versuch, Recht innerhalb des li‐ nearen Zeitbegriffs zu verstehen, wo „vorher“ und „nachher“ einen bestimmten Sinn haben. Nach allgemeiner Meinung existiert Recht, das die Beziehungen empirischer Subjekte regelt, zwar in einem ähnlich linearen Fluss. Trotzdem hat Recht, wie G. Husserl meint, durchaus nicht die Zeitstruktur eines Dauernden. Das Recht hat eine abstrakte Zeit. Seine Geltung ist Geltung ein für alle Mal. Das Recht selbst ist ein Ende. Es hat keine Zukunft, in die es sich entwi‐ ckelnd hineinlebt. Es will nichts wissen vom Vielleichtsein der Welt, dem seine Normen diktatorischen Widerspruch entgegensetzen. 270 Die in diesem Fall auftretenden Zweifel, wie solches Recht in der Lage sein kann, reale soziale Beziehungen zu regeln, versucht G. Husserl mit der folgenden Argumentation zu beseitigen. „Das Recht geht so vor, dass es an Vorgänge der Sozialwirklichkeit – «Tatbe‐ stände» – Rechtsfolgen knüpft. Aber gerade, indem das geschieht, sperrt das Recht die in eine ungewisse Zukunft fließende Wirklich‐ keit aus. Die Tatbestände, mit denen die Rechtsnorm operiert – und sie enthalten die ganze Wirklichkeit, von der das Recht weiß – sind
269 Ibid. 270 Op.cit. S. 78–79.
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«Wenn-Tatbestände». Das Recht schafft sich einen eigenen Bereich von Willenssachverhalten, der ein von der Realität konkreter sozia‐ ler Akte völlig gelöstes Dasein führt.“ 271 Die «Rechtswelt» ist somit eine besondere normative Realität, die sozusagen parallel zur «realen Wirklichkeit» existiert und die «unbedingten» rechtlichen Konsequenzen begangener Taten bil‐ det. Gleichzeitig verwischt paradoxerweise die Grenze zwischen der Rechtsphänomenologie von G. Husserl und der Normenlehre von H. Kelsen (seiner Lehre von der Grundnorm, worauf die Rechts‐ natur aller empirischen rechtlichen Ereignisse gründet). 272 Jene Durchführung wird nur im Verlauf der Beantwortung der Frage möglich, was genau die «rechtlichen» (und nicht «moralischen», «religiösen» usw.) Konsequenzen der begangenen Handlung er‐ zeugt. Wenn auch die Antwort für einen Normativisten offensicht‐ lich ist – die Tatsache der Existenz der entsprechenden Rechtsnorm, dann ist auf der phänomenologischen Ebene keineswegs alles so eindeutig. Vor allem, so G. Husserl, ist die Rechtsnorm im Willen der Rechtsgemeinschaft (die aus Rechtsgenossen zusammengesetzt ist) begründet. 273 „Das Rechtsgenossensein ist der Ausdruck einer normbejahenden Willensgesinnung. Sie ist es, welche die Rechts‐ gemeinschaft zu ihrem Selbstsein erweckt und aufrechterhält [. . . ] Wer zum Rechtsgenossen wird und als Rechtsgenosse seine Rechts‐ besinnung bestätigt, bewegt sich nicht im Handlungsraum der naiv 271 Op.cit. S. 79. 272 Über «Brücke» zwischen Rechtspositivismus und Phänomenologie vgl. Loi‐ dolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. – S. 186. 273 Husserl G. Recht und Welt //Husserl G. Recht und Welt. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1964. – S. 79. In dieser Frage folgt G. Husserl der Un‐ tersuchungen seines Vaters. Wie S. Loidolt gezeigt hat, ist nach E. Husserl Recht ein Phänomen, das als idealer Gegenstand in der transzendentalen Mo‐ nadengemeinschaft konstituiert wird und durch die realen Subjekte (bzw. ihre psychophysischen Leibkörper) vollzogen wird: einerseits durch ihr normiertes Verhalten, andererseits durch das jeweils verstehende Aktualisieren des Rechts in lebendigen Einsichten. Es ist sowohl in der Faktizität der geschichtlichen Welt vorhanden (als diese Willensgemeinschaft, die jetzt und hier in dieser Rechtsgemeinschaft lebt, die ich erfahre), als auch der «Erneuerung» durch phänomenologische Besinnung auf ihr Vernufttelos fähig. Vgl.: Loidolt S. Ein‐ führung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. – S. 72–73.
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erfahrbaren Welt. Indem der Mensch gesinnungsmäßigen Zugang zu den Dingen des Rechts gewinnt, erschließt sich ihm eine neue jenseitige Welt.“ 274 Wie aus den Konstrukten des deutschen Rechtswissenschaft‐ lers hervorgeht, wird die Änderung der Einstellung von „naiv“ zu „rechtlich“ und das Eintauchen in die Erfahrung des Rechts dank der besonderen rechtlichen Denkweise erreicht, die für den Rechts‐ bereich konstitutiv ist. Die Konstitution einer solch „anderen Welt“ kann jedoch nicht das Endziel des Rechtsschaffens sein, welche durch den vereinten Willen der Rechtsgemeinschaft verwirklicht wird. Recht hat soziale Aufgaben. Recht sollte seine Willkür-ver‐ treibende Kraft im intersubjektiven Raum der lebendigen Wirklich‐ keit von Handlungen einsetzen. Solches Sollen ist dem Recht im‐ manent. Nach der Auffassung von G. Husserl ist Recht aufgrund seiner Fähigkeit zu „verzeiten“ zu einem solchen sollenden Vertrei‐ ben fähig. Die Rechtsnormen können durch ihre Anwendung auf sozial-wirkliche, normativ-inhaltsreich-abstrakte, vorgegebene tat‐ sächliche Sachverhalte „verzeiten“. Hier handelt es sich um die „Ver‐ wirklichung des Rechts“. Es handelt sich in der Tat mit G. Husserl um ein Hinübergreifen aus dem Jenseits der entzeiteten Rechtswelt in das Diesseits der im natürlichen Zeitfluss liegendenWillenswirk‐ lichkeit, auf die als eine von der Norm betroffene der Rechtssatz konkret bezogen wird. 275 Demnach sollte zwischen Recht als einer Reihe von Normen, die in der empirischen Realität in Erscheinung treten, wovon jede ge‐ ändert, aufgehoben, verletzt usw. werden kann und Recht als einer idealen Dimension der Rechtsordnung, welche als Wille der Rechts‐ gemeinschaft die Realität jeder einzelnen „empirischen Norm“ ver‐ wirklicht, streng unterschieden werden. Wenn Ersteres «verzeitet» ist, d. h. in einem Zeitstrom existiert, wobei die Versunkenheit in diesen die Existenz, Anwendbarkeit oder Wirklichkeit jenes Rechts allstündlich in Frage stellt, dann ist Zweiteres „entzeitet“, unterliegt also nicht der Wechselhaftigkeit und Bedingtheit, welche das alltäg‐ liche Verständnis der Zeit mit sich bringt. Deshalb erweist sich das ganzheitliche Phänomen des Rechts sozusagen als «gespannt» zwi‐ 274 Husserl G. Recht und Welt //Husserl G. Recht und Welt. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1964. – S. 80. 275 Op.cit. S. 82.
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schen der transzendentalen und der empirischen Welt. „Das Zeit‐ sein des konkreten Rechts ist von dem des abstrakten Rechtssat‐ zes wesentlich verschieden.“, so G. Husserl. „Jenem ist nicht das zeiterstreckte Permanentsein der verzeitungsfähigen Norm eigen. Konkretes Recht ist durch Verzeitung in der sozialen Wirklichkeit zeiträumlich fixiertes Recht.“ 276 Dabei sollten solche Konstrukte nicht so verstanden werden, als ob Recht, irgendwo in der „idealen“ Wirklichkeit existierend, sich gleich Platons Ideenwelt plötzlich wie ein segensreicher Re‐ gen spezifischer Rechtsinstitutionen über unsere Welt der naiven Erfahrung ergießt. Durch die „Bindung“ von Rechtsfolgen an be‐ gangene Handlungen „zieht“ konkretes Recht diese Tatsachen aus dem Strom der alltäglichen Wirklichkeit „heraus“, indem es sie in die transzendentale Existenz der Rechtsordnung einbezieht und ihnen „rechtlichen Sinn“ verleiht. So wird ein Messer im Körper zum „Mordbeweis“, dieser Körper wird selbst von einem physischen Körper zum «Objekt der Expertenforschung» usw. Somit gehen so‐ wohl «konkretes» Recht als auch die Lebensumstände und «Dinge», die beide das Anwendungsgebiet des Rechts sind, über die „natür‐ liche“ Welt hinaus.“Das konkrete Recht ist keine Gegebenheit der naiv erfahrbaren Welt. . . Das Recht hat, dieses Stückes Weltwirklich‐ keit sich bemächtigend und sie nach seinem Bilde formend, ihrem natürlichen Dasein ein Ende gesetzt. Das konkrete Recht ist Offen‐ barung des Rechts und nimmt, den betreffenden Willensachverhalt seinem natürlichen Lebensbereich entfremdend, an dem transzen‐ denten Sein der Rechtsordnung teil.” 277 Dementsprechend ist konkretes Recht keine einfache Tatsache der empirischen Wirklichkeit, sondern einer Art «Brücke», worüber die Tatsachen, Dinge, Menschen und Umstände «gehen», um da‐ durch rechtlich zu werden, rechtlichen Sinn zu erlangen und damit einen Übergang von der Alltagswelt in die transzendentale Welt zu vollziehen. Konkretes Recht ist die Thematisierung des Rechtsbe‐ reichs, seine Einführung in das Sichtfeld durch Ausnahme des «Hin‐ tergrundmodus» seiner Wahrnehmung aus der Selbstverständlich‐ keit. Die Schlüsselrolle liegt dabei beim Richter. Ihm kommt die ge‐
276 Op.cit. S. 83. 277 Ibid.
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bührende Macht zu, welche es ihm ermöglicht, Recht und Tatsachen in Verbindung zu bringen. 278 Somit existiert Recht nach Ansicht G. Husserls gleichzeitig als «ideale Dimension der Rechtsordnung», erzeugt durch den Wil‐ len der Rechtsgemeinschaft der Rechtsgenossen, und als «konkrete Normen», welche mit menschlichen Handlungen durch verhältnis‐ mäßige rechtliche Konsequenzen verbunden werden und sie aus dem «natürlichen» Leben «herausziehen». Dadurch erweist sich Recht als untrennbar mit der «Welt» verbunden. Was jedoch ist diese «Welt»? Aus dieser Frage lassen sich ganze weitere Kritik‐ punkte und Einwände entfalten, die in Bezug auf die Position des deutschen Phänomenologen erhoben werden können. Vor allem müssen seine methodologischen Vorannahmen kri‐ tisch geklärt werden. Auf den ersten Blick sind das die Phänomeno‐ logie von E. Husserl und die Fundamentalontologie von M. Heideg‐ ger. Eine detailliertere Analyse zeigt jedoch, dass G. Husserl den Ra‐ dikalismus M. Heideggers nicht vollständig akzeptierte und tatsäch‐ lich innerhalb des Rahmens der transzendentalen Phänomenologie blieb. Wie bereits erwähnt, konstatiert G. Husserl: “Das menschliche Dasein ist in-der-Welt-sein”. 279 Diese These ist eindeutig M. Heideg‐ ger entliehen. Und darauf folgt sofort: „Zur Ausstattung der Welt gehören auch rechtliche Dinge. Das Welthaben umfasst offenbar ein Rechthaben. Dem Menschen sind mit seiner Welt Dinge des Rechts der Gemeinschaft, der er angehört, gegeben.“ 280 So wird deutlich, dass G. Husserl nicht realisiert hat, dass Heideg‐ gers «Dasein» kein vorhandenes Sein, kein vorhandenes menschli‐ ches Sein ist, sondern die ontologische Verfassung «jenes Seienden, das wir je selbst sind». 281 Und “diesem Seienden eignet, dass samt und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist.” 282 Aufgrund dieser ursprünglichen Erschlossenheit ist die Frage nach den Arten der Gegebenheit sinnlos. Die Dinge und die Welt als Ganzes wer‐ den für den Menschen einfach dadurch offen und zugänglich, dass 278 279 280 281
Op.cit. S. 84. Op.cit. S. 67. Ibid. Heidegger M. Sein und Zeit / Martin Heidegger. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 7. 282 Op.cit. S. 12.
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er bereits in der Welt ist. G. Husserl übersieht die Tatsache, dass M. Heidegger unter «Welt» nicht die «Summe der Dinge» versteht, sondern (in einem ontischen Sinne) “als das «worin» ein faktisches Dasein als dieses «lebt».” 283 So ist die Welt ein Sinnesnetzwerk, das immer schon über Seiendes geworfen ist, und zwar nicht im Verlauf der Erkennungsbeziehung, sondern eben durch das In-der-Welt-Sein des Menschen. Gleichzeitig nimmt G. Husserl den philosophisch-methodologi‐ schen Apparat des älteren Husserls nicht vollständig wahr. So führt er während der Besinnung auf das Verhältnis zwischen Welt und Recht nicht die Hauptoperation der transzendentalen Phänome‐ nologie aus – die phänomenologische Reduktion. Um jedoch das Verhältnis zwischen Welt und Recht klarzustellen, ist die Reduktion (oder Begründung der Abwesenheit solcher Notwendigkeit) äußerst wichtig. Schließlich sollte die Bedeutsamkeit der Welt laut E. Hus‐ serl während der Reduktion eingeklammert und auf ihre Verfas‐ sung hin befragt werden. 284 Mit anderen Worten, bevor G. Husserl danach fragt, in welcher Beziehung Recht zur Welt steht, sollte er deutlicher machen, um welche Art von Welt es sich handelt – um die reduzierte Welt der Phänomenologie oder um die «naive» Welt der Alltagserfahrung. Der sich anbietende Hinweis, dass es sich um die «Lebenswelt» handelt, bringt uns allerdings auch nicht weiter, da auch im Rahmen solcher Welt ihre transzendentalen und on‐ tologischen Aspekte getrennt werden sollten. „Während unter dem ontologischen Lebensweltbegriff einfach die alltägliche Erfahrungs‐ welt verstanden wird, ist mit dem transzendentalen Lebensweltbe‐ griff die geschichtliche Dynamik und Sedimentierungsstruktur ge‐ meint. . . “. 285 Beim Übergang von den methodologischen zu den rechtlichen Aspekten sollte angemerkt werden, dass G. Husserls Vermischung
283 Op.cit. S. 65. 284 Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Sie‐ beck, 2010. – S. 192. Eine ähnliche Operation sollte in Bezug auf Recht durchge‐ führt werden: Denn sowohl die bestehende Rechtsordnung als auch die Thesen der Rechtswissenschaft sollten in der ersten Etappe der Reduktion (EpocheEtappe) eingeklammert werden. Die allgemeine Richtlinie, dass es Recht und Ordnung „gibt“, ist ausgeschaltet. Für weiteres siehe: Op.cit. S. 54. 285 Op.cit. S. 39.
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der «Welten» von M. Heidegger und dem älteren Husserl zu fol‐ genden Überlegungen führt. Erstens erscheint die Behauptung G. Husserls zweifelhaft, dass uns Recht nicht in naiver Erfahrung ge‐ geben werden könne. Einerseits hat er recht, insofern «naive Er‐ fahrung» vor uns als eine Art synkretistischer Wahrnehmungsfluss erscheint. In einem solchen Erfahrungsstrom verschmelzen in ein und demselben Gegenstand (z. B. Person oder Ding) ästhetische, re‐ ligiöse, moralische, rechtliche und andere Sinne miteinander. An‐ dererseits übersieht er die Tatsache, dass der Übergang zu «rein» rechtlichen, religiösen, ästhetischen und anderen Einstellungen oft gar nicht im Zuge der willkürlichen Ansichtsverschiebung in der Alltagserfahrung erfolgt. Denn der Übergang vom naiven sinnli‐ chen Synkretismus zu «rein» rechtlichen, moralischen usw. Positio‐ nen ist immer das Ergebnis des besonderen Ereignisses des sozia‐ len Aktes (A. Reinach) bzw. der normativen Tatsache (N. Alexejew), welches nämlich alle anderen Perspektiven überdeckt. 286 So hebt die Beobachtung einer schönen Frau die ästhetische Erfahrung in den Vordergrund, ihr Mord die rechtliche, moralische, religiöse usw. Warum jedoch darf solche Erfahrung, in deren Verlauf ein Objekt sich jeweils nach den Umständen aus unterschiedlichen sinnlichen Winkeln an uns wendet, nicht als «natürlich» bezeichnet werden? Denn um all dies zu erfassen, bedarf es keines Juristenphänomeno‐ logen, Priesterphänomenologen, Ästhetenphänomenologen . . . Zweitens, während G. Husserl Recht im Sinne der Rechtsord‐ nung durch den universellen Willen der Rechtsgemeinschaft zum Recht im Sein verwurzelt, definiert er den ontologischen Status solches „idealen Willens“ nicht eindeutig. Denn, wie der deut‐ sche Phänomenologe eindringlich betont, sind sowohl die einzel‐ nen „Rechtsgenossen“ als auch die „Rechtsgemeinschaft“ insgesamt keine empirischen, sondern „idealen“ Gebilde. Tatsächlich stellen sowohl «Rechtsgenossen» als auch «Rechtsgemeinschaft» auf ihren «reinen» Bedeutungsinhalt reduzierte Phänomene dar. Wie können diese amorphen und abstrakten Phänomene den Willen erzeugen, der eine wirklich wirksame Rechtsordnung formt? 286 Für weitere Einzelheiten siehe: Стовба А.В. О перемене сущности или «что есть» право в эпоху постметафизки// Правоведение. – No 1.– 2008. – S. 162. [Stovba A.V. About The Change of Essence or “What is” Law at the Post-metaphysics Age//Legal Science. – No 1.–2008].
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Die Antwort auf diese Frage könnte durch die Erwähnung gege‐ ben werden, dass durch obige Akte die ideale Sinn-Dimension kon‐ stituiert wird, die jeder einzelnen, empirisch bestehenden Rechts‐ norm Bedeutsamkeit und Wirksamkeit, Geltung verleiht. Darüber sagt G. Husserl jedoch nichts. Im Gegenteil, er besteht darauf, dass sowohl die «entzeitete» ideale Dimension der Rechtsordnung als auch das «verzeitete» «reale» Sein des Rechts eine Art einheitlichen «Mechanismus» darstellen, welcher die Gegebenheiten der «nai‐ ven» Welt herrisch in die transzendente Maßgabe der Rechtserfah‐ rung transformiert. 287 Drittens scheint der deutsche Phänomenologe das Forschungs‐ gebiet – die Welt des Rechts – rein dogmatisch zu bestimmen, ohne dessen Rahmen und Grenzen zu begründen. Es sollte danach gefragt werden, «wonach sich Recht orientiert», wenn es als durch den Wil‐ len der Menschen («Rechtsgenossen») geschaffene ideale Rechts‐ ordnung einige Tatsachen aus der empirischen Wirklichkeit in die rechtliche «herauszieht», während die anderen unbeachtet bleiben. Mit anderen Worten, worauf beruht die «rechtliche Relevanz» eini‐ ger Dinge, Tatsachen, Handlungen, Wesen und die «rechtliche Ir‐ relevanz» anderer? Warum war Hexerei im Mittelalter ein rechtlich relevanter Akt und heute nicht mehr? Solche Transformation kann nach der Logik von G. Husserl nicht durch den einfachen Verweis auf die veränderten empirischen Bedingungen erklärt werden. Außerdem gibt die Rechtsdeutung des deutschen Phänomenolo‐ gen als eine im Willen der Rechtsgemeinschaft verwurzelte Rechts‐ ordnung keine Bestimmungskriterien, wie «reales» und «ideales» Recht miteinander korrelieren. Was ist, wenn sie voneinander ab‐ weichen, d. h. wenn der «Rechtswille» der «Rechtsgenossen» sich nicht in den Normen der positiven Gesetzgebung widerspiegelt? Auch die Frage, wo die Grenzen des «Rechtswillens» liegen, lässt sich im Rahmen eines solchen Ansatzes nicht beantworten: Ist je‐
287 Wie S. Loidolt feststellt: „Nach E. Husserl bewegt sich auch das Recht im dia‐ lektischen Übergangsbereich zwischen Faktizität und Idealität, einerseits weil es als Normeinheit durch den Staat als Zwangsregel vollzogen wird, anderer‐ seits, indem es stets am höheren Ideal des intermonadischen Telos orientiert bleibt und danach immer wieder «erneuert» werden muss.“ Vgl.: Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. – S. 67.
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der beliebiger Inhalt, der durch jenen Willen erzeugt wird, wirklich «Recht»? 288 Angesichts der obigen Einwände bleibt unklar, in welcher Welt G. Husserl Recht verwurzeln will: der Alltagswelt (in der es «tatsäch‐ lich» gilt) oder der «transzendenten» Welt, welche von der «Welt der naiven Erfahrung» abweicht, in der die Quelle der «Geltung» des Rechts liegt? Somit erweist sich für den jüngeren Husserl Recht, ähnlich dem Kantischen Menschen, als eine Art «Bürger zweier Welten» und sein Werk verdient eher den Titel «Recht und Welten». Der deutsche Phänomenologe erkennt diese Probleme und forscht weiter, um herauszufinden, wie Recht eben in unserer gewöhnlichen Welt existiert. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen wurden von ihm in einem kleinen Werk mit dem Titel „Everyday Life and Law“ vorgestellt, das 1940 in englischer Sprache in den USA veröffentlicht worden ist. 289 G. Husserl beginnt dieses Werk damit, dass im Laufe unseres Le‐ bens die sogenannten «gewöhnlichen» und «außergewöhnlichen» Situationen herausdifferenziert werden können. Erstere sind nach seiner Auffassung durch den Brauch geregelt, letztere gehören dage‐ gen zum Eingriffsfeld des Rechts. 290 Aber, so zweifelt er, haben wir es nicht alle im Alltag, wenn wir ein Taxi nehmen, eine Zeitschrift oder eine Bahnfahrkarte kaufen, mit Recht zu tun? 291 Natürlich be‐ streitet niemand, dass es sich bei solchen Situationen um ein Rechts‐ verhältnis handelt. Ihr wahrer rechtlicher Charakter kommt jedoch erst dann vollständig ins Licht, wenn sie nicht normal verwirklicht werden können und in die Hände eines Richters geraten. 292 Da‐ 288 Laut S. Loidolt kommt bei G. Husserl Recht «zur Welt» als ein in der Wil‐ lensgemeinschaft der transzendentalen Intersubjektivität fundiertes und be‐ kommt so seine Geltung. “Denn auf diese Weise ist jedes Recht, das noch nicht «weltlich» bzw. wirklich geworden ist (also etwa das Naturrecht) von der Untersuchung ausgeschlossen, so lange, bis es durch intersubjektive Gel‐ tungserzeugung «zur Welt» kommt. Darüber hinaus ist der Inhalt des Rechts vollkommen gleichgültig, was dem Naturrechtsgedanken ebenfalls am schärfs‐ ten widerspricht.” Vgl.: Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. – S. 186. 289 Husserl. G. Everyday Life and the Law//Husserl G. Recht und Welt. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1964. – S. 297–313. 290 Op.cit. S. 299. 291 Ibid. 292 Op.cit. S. 300.
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durch verlieren solche Situationen ihren „natürlichen“ Charakter und werden wirklich «rechtlich». Der Rechtsbereich existiert fluktu‐ ierend, während der Alltagsbereich kontinuierlich ist. Nach Ansicht G. Husserls ist dieser für uns äußerlich selbstverständliche Sach‐ verhalt das Produkt historischer Entwicklung. In der Frühzeit der Menschheitsgeschichte war der «Alltag», wie wir ihn heute denken, etwas völlig Unbekanntes. Das menschliche Leben in einer primi‐ tiven Gesellschaft war in seinen Erscheinungsformen und Gestal‐ tungen im Wesentlichen formal. 293 Mit anderen Worten, in dieser historischen Epoche hat das Ritual, das alle Lebensbereiche durch‐ gedrungen hat, den Unterschied zwischen Recht und Brauch um‐ griffen. Derartiges führte dazu, dass sich mit der Komplikation des gesell‐ schaftlichen Lebens und der entsprechenden Rituale bereits im anti‐ ken Rom eine Kaste von „Priestern“ klar herausgebildet hat, welche über besonderes, monopolistisches Wissen verfügten. Im Gegen‐ satz zur Kenntnis der primitiven Rituale, die nicht speziell erlernt, sondern „mit der Milch aufgesogen“ wurden, war das Wissen der „Priester“ spezialisiert, etwas das man lehren und lernen konnte. Damit wurden die Voraussetzungen für die Entstehung des Rechts als autonome geistige Wirklichkeit geschaffen. 294 Diese Untertei‐ lung in drei Bereiche – den alltäglichen, religiösen und rechtlichen – spiegelt sich am besten in der Sprache wider. Wie G. Husserl bemerkt, zeigt der Bereich der Worte gegenwär‐ tig den deutlichen Unterschied zwischen der literarischen Sprache und der Sprache der alltäglichen Interaktion. In der idealen Di‐ mension handelt es sich trotz ihrer engen Verwandtschaft um zwei verschiedene Sprachen. 295 Gleichzeitig erfordert der Rechtsbereich des menschlichen Miteinanders eine spezielle Sprache, die über den Rahmen des alltäglich Angewandten hinausgeht. Nach Worten des deutschen Phänomenologen umfasst die Sprache der alltäglichen Interaktion keine außergewöhnlichen Erfahrungen. Um dies auszu‐ drücken, verwenden wir verschiedene Redefiguren. „Ich habe ge‐ schwiegen“, „ich fand keine Worte“, „es gab nichts mehr zu sagen“
293 Ibid. 294 Op.cit. S. 302. 295 Op.cit. S. 305.
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und so weiter. 296 In solchen Momenten hört der Mensch die Stim‐ men des Alltags nicht. Die Alltagssprache ist ausgeschaltet. Worte aus dem anderen Sprachbereich sollten ihm helfen, aus dieser Lage herauszukommen. 297 Die Sprache des Rechtsbereichs wird von einer Art „Experten‐ tum“ monopolisiert. Darunter werden keinesfalls „Personen, die et‐ was gut wissen oder können“ verstanden. Rechtsexperte ist nach G. Husserl nur derjenige, der nicht „Angeborenes“, nicht „von Kin‐ desbein an Angeeignetes“, sondern im Laufe des rationalen Ler‐ nens erworbenes Wissen besitzt. Der Verlust dieses Wissens führt zur „Vulgarisierung“ des Rechts, wenn in der sozialen Welt Recht und Brauchtum zusammenfließen, wo rationales Verständnis nicht geschätzt wird, wo alltägliche Erfahrung und Standards des ge‐ meingültigen gesunden Menschenverstands allmächtig werden. Um solchem Rechtsverfall entgegenzuwirken, sollte man vom Gefühl durchdrungen sein, dass der Maßstab aller Dinge nicht der gewöhn‐ liche Mensch ist, dass der Schlüsselbereich unseres Lebens nicht der Alltag ist, sondern irgendwo tief in uns liegt. 298 Das Ergebnis solcher „Reinigung“ des Rechts, die Feststellung der fundamentalen Differenz zwischen den Verhaltensregeln des All‐ tags und jenen Normen, die in ungewöhnlichen, nicht alltäglichen Situationen den Ausweg aufzeigen, ist die Wiederherstellung der sozialen Ordnung vermittels des Rechts. Die Regeln des Brauch‐ tums sind keine Regeln des Rechts. Recht ist das, was der Richter zuteilt. 299 Um Recht zu schaffen, muss sich der Richter sowohl von der Diktatur der Öffentlichkeit als auch vom blinden Glauben an‐ jedwede „übernatürliche Instanz“ befreien. Der Weg zur rechtlichen Lösung, schließt G. Husserl, ist die Induktion von den Besonderhei‐ ten des Einzelfalls auf die allgemeinen Rechtsprinzipien. 300 Der deutsche Rechtswissenschaftler versucht also, Recht im All‐ tag zu verwurzeln, indem er die Platonisch-Kantische metaphysi‐ sche Differenz zwischen der intelligiblen vs. sinnlichen Welt und ihre Modifikation als Differenz zwischen den naiven vs. phänome‐ 296 297 298 299 300
Ibid. Op.cit. S. 306. Ibid. Op.cit. S. 313. Ibid.
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nologisch-reflexiven Bewusstseinseinstellungen in E. Husserls Phä‐ nomenologie auf Recht extrapoliert. Als Ergebnis erhält G. Husserl die zwei wichtigsten Unterscheidungen, in welchen sich sein Den‐ ken bewegt. Einerseits ist dies der Unterschied zwischen Recht als Normensystem, welches Lösungen für ungewöhnliche Situationen bereithält, und dem Brauchtum als etablierter Praxis der Regelung alltagstypischer Verhältnisse. Anderseits ist es der Unterschied zwi‐ schen dem «intuitiven», vorreflexiven Brauchtumswissen und dem intellektuell angeeigneten Rechtswissen. Obwohl solcher Ansatz von erheblichem Interesse ist, scheint G. Husserl die vorliegende Aufgabe nicht gelöst zu haben, nämlich zu definieren, wie Recht eigentlich im Alltag existiert. Denn wenn Recht nur in „außerordentlichen“ Ereignissen, die über den Rahmen des gewöhnlichen Ablaufs hinausgehen, «aktualisiert» wird, dann wird ihm (dem Recht) der Zugang zum Alltagsgeschehen verwehrt. Auf den ersten Blick ist G. Husserls Position richtig: Für den „ge‐ wöhnlichen“ Menschen, der Recht an «Wendepunkten» seines Le‐ bens antrifft (etwa bei einer Erbeinsetzung, einer Geburtsanzeige, beim Erhalt der Sterbeurkunde eines Angehörigen, der Heirat oder der Gütertrennung bei der Scheidung) bedeutet es, über den «übli‐ chen» Lauf der Dinge hinauszugehen. Gleichzeitig wird unsere Auf‐ merksamkeit auf einen scheinbar unauffälligen Umstand gelenkt. Jedes Mal, wenn man vor Gericht, zur Polizei, zur Staatsanwalt‐ schaft usw. geht, handelt es sich um die «Wiederherstellung verletz‐ ter Rechte» des Anspruchstellers, Klägers (im Zivilverfahren)oder des Opfers (im Strafverfahren). Der Sinn des (im weiten Sinne Straf-, Zivil- usw.) rechtlichen Verfahrens besteht eigentlich darin, herauszufinden, ob eine Verletzung der Rechte einer Person vor‐ liegt und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um diese wiederherzustellen. Wenn aber nach G. Husserl Recht erst existiert, wenn ein Richter bei der Lösung eines Streitfalles Gesetz anwen‐ det, was wird dann im Alltag verletzt? Um wessen Wiederherstel‐ lung kümmern sich alle in den Justizbereich verwickelten Perso‐ nen? Wir können das Problem auch umfassender betrachten. Wann existiert das Gesetz selbst? Die These des «strengen» Positivismus, dass das Gesetz kraft seiner Annahme existiert, ist höchst umstrit‐ ten. Denn wenn Gesetz deklarativ ist, wie lässt sich dann behaupten, dass es, strenggenommen, «ist»? Offensichtlich verliert es in einem solchen Fall die wichtigste Eigenschaft des positiven Rechts – die all‐
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gemeinverbindliche Normativität. Eine noch paradoxere Situation entsteht, wenn man aus diesen Positionen die Normen des Strafoder Verwaltungsrechts analysiert: Denn in diesem Fall «verletzt» der sogenannte «Täter» nicht («nicht befolgen»), sondern handelt im Gegenteil so, wie es in der Disposition der entsprechenden Norm beschrieben ist, d. h. «führt» sie «aus»! Streng im positivistischen Rahmen denkend, wären wir zur Aussage gezwungen, dass Verbre‐ cher und Richter in diesem Fall «Komplizen» sind, da der erste die Disposition der kriminellen Norm erfüllt und der zweite ihre Sank‐ tion in Gang setzt (welche strenggenommen «die Disposition für den Richter» ist). Daran ändert auch nichts der Hinweis darauf, dass Gesetz im Akt seiner Anwendung existiert. Wann kann man schließlich sagen, dass Gesetz befolgt wird? Offensichtlich wenn die Person den Inhalt der entsprechenden Rechtsnorm kennt und bewusst in der Überein‐ stimmung mit ihr handelt. Ebenso offensichtlich jedoch, dass sol‐ cher Mechanismus nur für Beamte und Juristen funktioniert, die mit den normativen Vorschriften ihrer Tätigkeit wirklich vertraut sind. Aber inwieweit ist solches Schema auf den durchschnittlichen Bürger anwendbar? Wie G. Husserl zurecht zeigt, handelt «der ge‐ wöhnliche Mensch», bewusst oder unbewusst, überwiegend nicht auf der Grundlage des Gesetzes (Vorstellungen darüber sind für die meisten Menschen verschwommen und stimmen im Allgemeinen mit der Moral des Dekalogs überein), sondern auf der Grundlage des aus der sozialen Praxis angewöhnten Brauchs. Lässt sich in die‐ sem Fall tatsächlich vom „Befolgen“ oder der «Anwendung» des Ge‐ setzes durch Menschen sprechen, wenn ihrem Handeln «rückwir‐ kend» die entsprechenden Rechtsnormen zugeschrieben werden? Denn solches Befolgen trägt, wie Kant gezeigt hat, einen zufälligen, nicht obligatorischen Charakter und kann jederzeit zu einer ebenso «zufälligen» Verletzung von Rechtsnormen werden. Dabei beantwortet G. Husserl nicht die Frage, die sich auch beim Lesen von «Recht und Welt» stellt: nach den Kriterien für die «recht‐ liche Identifizierung» von Dingen, Ereignissen, Personen und Um‐ ständen. Neben dem Hinweis darauf, dass bestimmte außergewöhn‐ liche Umstände Recht «zum Leben erwecken», gibt der deutsche Rechtswissenschaftler nicht an, was genau ihre «rechtliche Außer‐ gewöhnlichkeit» ist. Man kann annehmen, dass diese Frage u. a. auch deshalb unbeantwortet bleibt, weil ihre explizite Formulie‐
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rung und Lösung notwendigerweise zum Schluss führen würde, dass der rechtliche Ursprung jedes Seins nicht in der transzenden‐ talen Wirklichkeit der Sinne verwurzelt ist, sondern in einer realen, empirischen – dem Ereignis, welches aufgrund seines tatsächlichen Ereignens verschiedenes Seiende zu sich heranzieht und ihm dadurch Rechtscharakter verleiht. Allerdings müsste der deutsche Rechtswis‐ senschaftler in diesem Fall entscheidend über die Bewusstseinsphä‐ nomenologie hinausgehen und zur Phänomenologie des Seins des Rechts übergehen sowie die Temporalität des Rechts als Horizont seines Seins aktualisieren. In diese Richtung versucht er sich in seinem letzten bedeutenden Werk “Recht und Zeit“ (1955) zu bewegen. G. Husserl findet sich auch in diesem Buch wieder zwischen «Hammer und Amboss», der transzendentalen Phänomenologie von E. Husserl und der Funda‐ mentalontologie von M. Heidegger. In der Erkenntnis darüber, dass die Frage nach dem Sein des Rechts, seiner ontologischen Quelle, notwendig gestellt werden muss (im Sinne M. Heideggers), glaubt er, dass dies eben das ideale Sein des Sinnes der Rechtsphäno‐ mene ist (E. Husserl). So wird Zeit vom „Horizont der Verständ‐ lichkeit des Seins“ (M. Heidegger) bei G. Husserl zu jenem „tran‐ szendentalen Hintergrund“, vor dem sich die intentionale Tätigkeit des Rechtsbewusstseins entfaltet, als dem Konstitutionsprozess von Rechtsphänomenen. Trotz der Berufung auf die Heideggersche Pro‐ blematik von Sein und Zeit werden diese Begriffe in „Recht und Zeit“ deswegen in der Auslegung E. Husserls verwendet. Das Buch „Recht und Zeit“ selbst ist die Sammlung von fünf philosophischrechtlichen Essays. Uns interessieren vor allem die ersten beiden: „Recht und Zeit“ sowie „Erfahrung des Rechts“. Im ersten dieser Werke nähert sich G. Husserl drei Fragen: I) das Recht in der geschichtlichen Zeit; II) Die innere Zeitstruktur von Dingen des Rechts; III) Wie werden – temporal gesehen – Dinge des Rechts erfahren von Menschen, denen die Setzung oder An‐ wendung des Rechts aufgegeben ist, oder für welche die Normen des Rechts die Grenze ihres Handelns bilden? Was ist die Zeitperspektive des Gesetzgebers, des Richters, des Mannes der Exekutive? 301
301 Husserl G. Zeit und Recht. 5 Rechtphilosophisches Essays. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1955. – S. 10.
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So merkt G. Husserl an: “Die Rechtsnorm hat ihre Daseinswur‐ zel immer in einer bestimmten geschichtlichen Situation.” 302 Diese Situation motiviert den Rechtsschöpfer (den Gesetzgeber). 303 Aber indem ein Ding des Rechts der (gesetzlichen, O.S.) Form, in der es auftritt, entkleidet wird, erleidet es notwendig einen Sinneswandel. Denn um den Sinneskern des Rechts zu erreichen, ist die Reduktion zu vollziehen. 304 Dabei ist anzumerken, dass uns solcherlei Reduk‐ tion des Phänomens des Rechts auf den Kern seines Sinnes keine be‐ sondere Kategorie von «hohen» Dingen offenbart, die «über» oder «hinter» einer bestimmten historischen Rechtsordnung stehen. Wie der deutsche Rechtsphilosoph betont, öffnet uns die gedankliche Abkehr zum «Kern des Sinnes» des Rechtszustandes, den wir in der Rechtswirklichkeit treffen, die Augen nicht für irgendwelche «ab‐ soluten Verhaltensnormen», sondern für Rechtswahrheiten, welche jedoch keine normative Kraft haben. Die Ausführung der Reduktion klärt für uns die Grundstrukturen jedes möglichen Rechts, welches die Natur des juristischen Apriori besitzt. Im Zuge solchen Prozes‐ ses erwerben wir logische (aber keineswegs formal-logische) Vor‐ aussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Gesellschaftsord‐ nung den Sinn einer Rechtsordnung bekommt. 305 Somit wiederholt G. Husserl tatsächlich viele von A. Reinachs Auffassungen und eröffnet uns dennoch den gesuchten Durchgang zum «Sein» des Rechts, das jedoch ausschließlich «Sein» im tran‐ szendental-phänomenologischen Sinne (E. Husserl), aber nicht im fundamentalontologischen (M. Heidegger) ist. Das Sein der Grund‐ strukturen des möglichen Rechts, von denen G. Husserl spricht, existiert ausschließlich in Form der Existenz logischer Gesetzmä‐ ßigkeiten, des Seins der Meinungswahrheit. Der deutsche Phäno‐ menologe erweist sich als nicht in der Lage, weiter als A. Reinach zu gehen, der vierzig Jahre vor ihm auch über das juristische Apriori schrieb, dessen Sein mit dem Sein der Zahlen in der Mathematik vergleichbar sei. 306 302 303 304 305 306
Ibid. Op.cit. S. 11. Op.cit. S. 12. Op.cit. S. 14. Reinach A. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes. – Halle: Max Niemeyer, 1922. – S. 690.
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G. Husserl erkennt die Geschlossenheit des von ihm in der tran‐ szendentalen Sphäre gefundenen Seins des Rechts, und versucht aus dieser auszubrechen: Denn er begreift, dass Recht nicht aus‐ schließlich in der Welt der logischen Offensichtlichkeiten existieren kann. Die Überlegung des deutschen Rechtsphänomenologen ist in dieser Hinsicht folgende. Was von Dingen gilt, die auf dem Wege sinnlicher Wahrnehmung erfahren werden, gilt mutatis mutandis auch von idealen Gegenständen der menschlichen Erfahrung. Zu den letzteren gehören die Dinge des Rechts. Jeder Dingkategorie entspricht eine eigene Region des Apriori. Weil die Welt nicht eine Summe von Dingen ist, so gibt es zwischen ihnen einen engen Sinn‐ zusammenhang. Das Gleiche gilt von den ihnen entsprechenden Regionen des Apriori und den «Sinneskernen», die in diesen Regio‐ nen enthalten sind. 307 Somit ist Recht als «ideales Ding» der gleichwertige Bestandteil der Welt wie die «realen Dinge», da die Welt neben den Dingen auch Sinn-Verbindungen zwischen ihnen enthält, die in den ent‐ sprechenden apriorischen Bereichen verwurzelt sind. Und in diesen Auffassungen von G. Husserl lässt sich auch die Fortsetzung der Traditionen der realistischen Rechtsphänomenologie von A. Rein‐ ach erkennen, für den das Phänomen des Rechts kein «subjekti‐ ver Bedeutungsinhalt» war, sondern eine wesentliche Gesetzmä‐ ßigkeit des Sinnes, die «objektiv bedeutsam», für ein bestimmtes Fachgebiet «geltend» ist. 308 So hat die Anwendung der reduktiven Methode bei G. Husserl den begrenzten Zweck: „die Vergleichung von Rechtssachverhalten, die wir in verschiedenen Rechtssystemen der gleichen Geschichtsperiode vorfinden.“ 309 So müssen wir die „Dinge“ enthüllen, welchen „eine eigentümliche Festigkeit gegen‐ über dem Ablauf der geschichtlichen Zeit“ mangelt. „Sie sind nicht nur «in der Geschichte», sie sind selbst Geschichte, sie haben die Zeitstruktur der Geschichtlichkeit“. 310 307 Husserl G. Zeit und Recht. 5 Rechtphilosophisches Essays. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1955. – S. 18. 308 Die Ausdrücke „subjektiv“ und „objektiv“ werden hier in Anführungszeichen gesetzt, da für die Phänomenologie, die sich mit dem intentionalen Bewusst‐ sein befasst, das eine korrelative Verbindung mit seinem Objekt darstellt, der Unterschied zwischen Subjektivität vs. Objektivität keinen Sinn ergibt. 309 Op.cit. S. 19. 310 Op.cit. S. 22.
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Diese Dinge konstituieren eine komplexe Ordnung des gesell‐ schaftlichen Lebens. „In dieser Ordnung sind generelle Richtlinien enthalten für das Verhalten der Menschen, die dieser Gemeinschaft angehören. . . die «Richtlinien» von sehr verschiedener Art sind.“ 311 Dabei es geht um Teilordnungen, die in einer Gesamtordnung die‐ ser menschlichen Gemeinschaft (nicht notwendig in widerspruchs‐ freier Harmonie) zusammengefügt sind. 312 Die Rechtsordnung ist eine dieser Teilordnungen. Sie enthält «Richtlinien», die Handlungsmaximen, welche die Wesensart und die normative Kraft von Rechtsnormen haben. 313 Aber “eine Rechts‐ ordnung ist immer mehr und anders als ein System verbal formu‐ lierter Rechtssätze. Ein Rechtssatz entfaltet die ihm innewohnende normative Kraft, indem er zu konkreter Anwendung gelangt”. 314 Deshalb haftet jeder Rechtsnorm ein Element der «Unfertigkeit» an. Sie wird «fertig», tritt ein in die geschichtliche Zeit nur durch das Verhalten des Menschen. 315 Das menschliche Verhalten als die Aus‐ legung der Rechtsnormen ist zeitlich (konkret-historisch) bedingt. “Normen des Rechts entfalten die ihrem Sinne gemäße Wirkung, indem und insoweit sie «mit der Zeit mitgehen».” 316 Folglich hat jede Rechtsnorm ihre Wurzeln in der geschichtlichen Wirklichkeit. Das Recht geht grundsätzlich so vor, dass es gewisse, typische Lebenssituationen beschreibt. Aber wenn Vertrag, Delikt oder Ehe eine rechtliche Regelung erhalten, so erfahren sie einen Strukturwandel. Sie, als Dinge des Rechts, bilden eine eigene Kate‐ gorie von Gegenständen menschlicher Erfahrung. 317 Dementspre‐ chend ist es notwendig, zwischen bestimmten «Dingen» im alltägli‐ chen und im rechtlichen Sinne zu unterscheiden. Um den Kaufvertrag oder den letzten Willen der Person als das zu begreifen, was sie de jure sind, müssen wir uns den (nicht unbedingt schriftlichen) Rechtsnormen zuwenden, denen diese rechtlichen Dinge ihr Sein verdanken. Jedes solche Ding kann im Grunde Ge‐ 311 312 313 314 315 316 317
Op.cit. S. 22. Ibid. Ibid. Ibid. Op.cit. S. 23. Op.cit. S. 26. Op.cit. S. 28.
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Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage
genstand der Rechtserfahrung werden. Und so ist auch evident, dass jedes dieser Dinge in der geschichtlichen Zeitstruktur der Rechts‐ ordnung, der sie Sinn und Dasein verdanken, teilhaben. Jedes von ihnen besitzt eine Zeitstruktur entsprechend seiner rechtlichen Ei‐ genart. 318 So vollzieht sich jeder Rechtssachverhalt als rechtlich relevantes Ereignis oder Handlung zu einem Zeitpunkt. Wie G. Husserl be‐ tont, gibt es Rechtssachverhalte, die keine Zeitgrenze haben (z. B. den Menschen als Rechtsperson). 319 Auf der anderen Seite gibt es rechtliche Dinge, zu deren Wesen es gehört, dass ihr Dasein von Rechts wegen zeitlich limitiert ist (z. B. der Anspruch, der Rechts‐ anfang und Rechtsende hat). 320 Die Zeitintervallpole, zwischen de‐ nen ein Rechtsanspruch existiert, sind Daten in der objektiven Zeit (welche G. Husserl auch als leere Zeit bezeichnet). 321 In der «leeren» Zeit, von dem abstrahiert, was während dieser geschieht, vollzieht sich eine «Entkörperung» des Dinges als Gegenstandes naiver Er‐ fahrung und dessen Reduktion auf den «Sinn-Kern», welcher der Gegenstand phänomenologischer Erfahrung ist. Diese «leere Zeit» ist eben der Behälter des «juristischen Apriori». Im letzten Teil seines ersten Essays «Recht und Zeit» versucht G. Husserl eine zwischenzeitliche Zusammenfassung der Ergebnisse seiner Forschung vorzunehmen.“Die einen Rechtssachverhalt tra‐ gende Idee des Rechts erweist ihre normative Kraft, indem sie sich im Willen der normbetroffenen Menschen durchsetzt.” 322 Dement‐ sprechend, um das von G. Husserl gesetzte Ziel – die begriffliche Klärung der temporären Rechtsstrukturen und des inneren tem‐ porären Sinns eines konkreten Sachverhalts – zu erreichen, ist es notwendig zu untersuchen, wie sich die temporäre Rechtsproble‐ matik in menschlicher Erfahrung widerspiegelt. So orientiert sich der deutsche Rechtsphilosoph nach den Zeitmodi, in denen der Mensch das Recht erfährt: der besonderen Zeitperspektive, in der er die Rechtswirklichkeit sieht. 323 318 319 320 321 322 323
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Ibid. Op.cit. S. 30. Op.cit. S. 31. Ibid. Op.cit. S. 41. Op.cit. S. 42.
Paragraph 3. Die Rechtsphänomenologie von G. Husserl
Nach G. Husserl sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Dimensionen der menschlichen Erfahrung. 324 Er hält es für mög‐ lich, Parallelen zwischen diesen drei zeitlichen Dimensionen des menschlichen Seins und den drei Machtzweigen, dem Exekutiven, Legislativen und Judikativen, zu ziehen. „Der Gegenwartsmensch repräsentiert die Idee des Mannes der Tat“. 325 Er entspricht der exe‐ kutiven Macht. Der „Zukunftsmensch“ wird durch den Gesetzgeber repräsentiert. 326 Dementsprechend: “Der Richter ist ein Vergangen‐ heitsmensch insofern als sein Handeln von der Vergangenheit her motiviert ist.“ 327 Gleichzeitig macht der Mensch bei seiner Begegnung mit Recht eine ganz besondere Erfahrung, die nicht mit der Alltagserfahrung identisch ist. Insofern nach G. Husserl der ontologische Rechts‐ bereich in der Rechtserfahrung konstituiert wird, muss diese Er‐ fahrung analysiert und spezifiziert werden. Schließlich sind sowohl der Richter oder Beamte als auch der Gesetzgeber keine Bewohner gewisser „Elfenbeintürme“, sondern lebende Menschen, die neben der Rechtswelt auch die Alltagswelt wahrnehmen. Wie also hän‐ gen Rechtserfahrung und Alltagserfahrung eigentlich zusammen? Eine Antwort auf diese Frage versucht G. Husserl im zweiten seiner Essays zu geben – „Erfahrung des Rechts“. Demnach gibt es in der Umwelt jedes Menschen eine große Viel‐ falt von Dingen, sichtbaren und unsichtbaren. Einige von ihnen sind für mich bekannt und die anderen sind fremd. Die letzten ver‐ stehe ich nicht, aber da sind andere Menschen, die sie verstehen. 328 In meiner alltäglichen Erfahrung treffe ich auf rechtliche Dinge. So habe ich, als Rechtsgenosse, ein Wissen von Recht. Wie G. Husserl betont: “Dinge des Rechts gehen uns alle an. Eine universale, d. h. nicht auf Fachleute beschränkte Erfahrung des Rechts, ist ein kon‐ stitutiver Faktor für den Bestand der sozialen Ordnung, die in dieser Rechtsgemeinschaft Geltung beansprucht und die wir «Recht» nen‐ nen.” 329 Aber andererseits kann es sich beim rechtlichen Sachverhalt 324 325 326 327 328 329
Ibid. Op.cit. S. 46. Op.cit. S. 54. Op.cit. S. 59. Op.cit. S. 68. Op.cit. S. 73.
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Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage
um Seiendes handeln, das seinen geistigen Inhalt nur den Juristen offenbart. Es bedarf einer besonderen, natürlichen, die Erfahrung eines gewöhnlichen Menschen transzendierenden Ausbildung, wel‐ che die Dinge des Rechts zur ursprünglichen Gegebenheit bringen würde. Um diesen Widerspruch aufzulösen, hält G. Husserl es für notwendig, folgende Überlegungen anzustellen. Wie er behauptet, es geht um typische Situationen, in welchen der Mensch im Bereich seiner natürlichen Erfahrung auf Recht trifft. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten. Da den Menschen, die Handlungen ausführen, deren Rechtsrelevanz offensteht, kann man nach G. Husserl in die‐ sem Fall von der gemeinsamen Rechtserfahrung sprechen, welche die rechtliche Seite der Handlungen miterfasst. „Der Rechtsgenosse, der im Rahmen eines normalen Rechtsverkehres dem Rechte ge‐ mäß handelt, hat einen Zugang zum Recht, der von keiner Vermitt‐ lung durch Spezialisten des Rechts abhängig ist. . . Es liegt im We‐ sens des Rechts begründet, dass es von jedermann erfahren werden kann.“ 330 Gleichzeitig unterscheidet sich die Erfahrung des Rechts eines Juristen dadurch, dass die rechtliche Seite der Dinge zum eigenen Erfahrungsgegenstand wird. Dies geschieht in der Abstraktion als Denkprozess. Der Jurist abstrahiert in seiner Erfahrung von jedem Dinginhalt, der rechtlich nicht relevant ist. In dieser Abstraktion wird ein neuer Gegenstand der Erfahrung konstituiert, wie er in der sozialen Wirklichkeit, die uns alle angeht, nicht vorfindlich ist. Was vor dem Teil war, ist in der Rechtserfahrung des gelehrten Juristen ein Ganzes geworden. 331 Nach G. Husserl ist die Rechts‐ erfahrung von Nicht-Juristen die Erfahrung Erster Stufe, und die von Fachjuristen die Zweiter Stufe. 332 Aber noch gibt es die Dritte Stufe der Rechtserfahrung, die rechtliche Sachverhalte im modus der Rechtsevidenz zur Gegebenheit bringt. 333 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass G. Husserl auch in seinem letzten Werk nicht in der Lage war, die Spaltung zu be‐ seitigen, welche seine bisherigen Rechtswerke durchzog. Einerseits 330 331 332 333
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Op.cit. S. 75. Op.cit. S. 77. Op.cit. S. 78. Op.cit. S. 85.
Paragraph 3. Die Rechtsphänomenologie von G. Husserl
ist bei ihm das Phänomen des Rechts im Bereich des juristischen Apriori lokalisiert, in dem sich jeder mögliche rechtliche Sinn kon‐ stituiert. Andererseits wird Recht als Phänomen der empirischen Wirklichkeit mit der Rechtsordnung gleichgesetzt. Den Zusammen‐ hang dieser beiden Dimensionen des Seins des Rechts versucht G. Husserl durch die Geschichtlichkeit zu ziehen, indem er in dieser sowohl die konstitutive Aktivität des transzendentalen Rechtsbe‐ wusstseins als auch den spezifischen Inhalt jeder Rechtsordnung verwurzelt. Nichtsdestotrotz konnte er die Gesetzmäßigkeiten der Erlangung von einem bestimmten Seienden seines rechtlichen Cha‐ rakters nicht erklären. Denn indem G. Husserl diesen Prozess der Gnade des Richters, Gesetzgebers oder Beamten überlässt, der im Laufe seiner Tätigkeit den Erfahrungsphänomenen die Rechtsform verleiht, somit diese Phänomene rechtlich relevant macht, gerät G. Husserl geradezu in einen Empirismus und Relativismus, in de‐ ren Begrenzung der Begründer der Phänomenologie E. Husserl ihre Berufung gesehen hat. Mit anderen Worten, indem er die Tatsache betont, dass diese Personen die Wirklichkeit quasi «durchseihen» und nur die rechtlich relevanten Aspekte durchzulassen scheinen, während alles andere weggelassen wird, kann G. Husserl nicht er‐ klären, wo die Kriterien der rechtlichen Relevanz herkommen, wo‐ durch das erwähnte «Durchseihen» stattfindet. G. Husserls Hauptversäumnis scheint die ursprüngliche Lokali‐ sierung von Recht in der Rechtserfahrung als Bewusstseinserfah‐ rung zu sein. Nie konnte er das Paradox bewältigen, dass Recht ei‐ nerseits die Konstante der Lebenswelt sein und sich andererseits nur durch ein phänomenologisch gereinigtes Bewusstsein als «reine Ge‐ gebenheit» offenbaren soll. Mit der Feststellung, dass die «rechtli‐ che Seite der Dinge» aufgrund «besonderer», «außergewöhnlicher» Umstände zum Gegenstand der thematischen Analyse wird, konnte G. Husserl, begrenzt durch den Bewusstseinsrahmen und der erleb‐ ten Erfahrung, eben keinen entscheidenden Schritt machen. Wie zu vermuten ist, könnte solcher Schritt darin bestehen, den Ursprung des rechtlichen Charakters der Phänomene nicht in der konstitu‐ tiven Aktivität des Bewusstseins zu suchen, sondern eben in jenen «besonderen» Umständen, welche demjenigen sich in diesen Um‐ ständen befindendlichen Seienden «plötzlich» den rechtlichen Sinn verleihen. Die konstitutive Tätigkeit des Rechtsbewusstseins würde somit schon den zweiten Schritt darstellen. Sie würde nicht den
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Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage
willkürlichen rechtlichen Sinn in dieses oder jenes Ereignis oder Ding hineinlesen, sondern das Wesen des Geschehens erfassen und darauf reagieren, was eigentlich geschieht. Mit anderen Worten hat G. Husserl es trotz seiner Bekanntschaft mit den Werken von M. Heidegger eben nicht geschafft, die „ontologische Kehre“ im Recht durchzuführen, das Sein des Rechts über den Rahmen des Bewusst‐ seins hinauszubringen und die rechtliche Zeit als Horizont dieses Seins aufzuschließen.
Schlussfolgerungen Nach der Analyse der Rechtsauffassungen der drei bekanntesten Vertreter der Rechtsphänomenologie lässt sich feststellen, dass trotz der Spezifität und der individuellen Eigenartigkeit der Lehren je‐ des einzelnen von ihnen mehrere Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden können, die für die Rechtsphänomenologie im Gesamten charakteristisch sind. Erstens ist es die Lokalisierung des Rechts im Bereich der idealen, apriorischen, rechtlichen Gesetzmäßigkeiten (A. Reinach, G. Hus‐ serl). Diese Dimension ist nicht mit der Welt des Sollens gleich‐ zusetzen: dem Reich der klassischen naturrechtlichen Feststellun‐ gen oder der ideal bedeutsamen Dimension des positiven Rechts. Recht gehört zum Bereich des „materiellen Apriori“ (E. Husserl), dessen Gegenständlichkeiten einen besonderen ontologischen Sta‐ tus besitzen, ähnlich dem Sein der Zahlen in der Mathematik. Diese Gesetzmäßigkeiten sind weder von den Vorschriften des Gesetzge‐ bers noch von den natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Naturrechts abhängig; sie sind der Bereich der Offensichtlichkeiten, welche der Sinn-Sphäre des Rechts immanent sind. Zweitens ist es die tatsächliche Anerkennung der Polysubjektivi‐ tät im Recht. Im Gegensatz zu klassischen naturrechtlichen Kon‐ struktionen, die zunächst auf dem Monosubjekt, dem Individuum beruhen, geht die Rechtsphänomenologie davon aus, dass im Recht, welches ein korrelatives Verhältnis von Rechten und Pflichten ist (A. Reinach, N. Alexejew), die Beteiligung von mindestens zwei vor‐ ausgesetzt wird (welche eben Träger dieser Rechte und Pflichten sind). In der Rechtsphilosophie von G. Husserl kommt zu diesen Zweien das unpersönliche Dritte hinzu – die Rechtsgemeinschaft,
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Schlussfolgerungen
bestehend aus „Rechtsgenossen“, wobei nur deren vereinter Wille sämtlichen einzelnen Rechten und Pflichten Bedeutsamkeit (Gel‐ tung) verleihen kann. Drittens wird die oben erwähnte Sphäre des „materiellen rechtli‐ chen Apriori“ nicht willkürlich aktualisiert, sondern durch das be‐ stimmte „äußere“ Ereignis: den sozialen Akt (A. Reinach), die nor‐ mative Tatsache (N. Alexejew), die außergewöhnliche Erscheinung (G. Husserl). Die «Welt des Rechts» existiert somit nicht «im Allge‐ meinen», sondern wird aufgrund bestimmter – ontologisch beding‐ ter – Faktoren «eingeschaltet», welche aufgrund der Tatsache ihres Seins eine rechtliche Besinnung erfordern. Schließlich, viertens, ist das charakteristische Merkmal der phä‐ nomenologischen Auffassung die Hinwendung zum Problem der Temporalität. Für A. Reinach ist Zeit also das Handlungsfeld des Rechts, insofern jedes Versprechen, welches Rechte und Pflichten erzeugt, in die Zukunft gerichtet ist und auf ihre zeitliche Erfüllung wartet. G. Husserl wiederum betrachtet die Zeit als jenen universel‐ len Hintergrund, vor dem sich die Erfahrung des Rechts entfaltet, und hebt dabei eine «objektive», «historische» und «leere» Zeit her‐ vor, welche jeweils der bestimmten Art von Rechtserfahrung ent‐ sprechen. Fünftens wenden sich alle genannten Vertreter der Rechtsphäno‐ menologie auf der Suche nach dem Ursprung des Rechts der Er‐ fahrung des Bewusstseins zu. Ihrer Meinung nach ist die ursprüng‐ liche, «urtümliche» Wirklichkeit des Rechts im Bewusstsein gege‐ ben. Bei dieser Auffassung ist das «primäre» Sein des Rechts der im transzendentalen Bewusstsein konstituierte rechtliche Sinn, der em‐ pirisch wahrgenommenen Phänomenen den rechtlichen Charak‐ ter verleiht: Subjekten, Normen, Beziehungen etc. Als die «Brücke» vom transzendentalen Rechtsbewusstsein zur Betrachtung empiri‐ scher Gegenständlichkeiten „als“ der rechtlichen dient der «Wille der Rechtsgenossen» (G. Husserl), die «Rechtsstruktur» (N. Alexe‐ jew) etc. Zugleich, indem Rechtsphänomenologie die Quelle des Rechts in den Akten des Bewusstseins sieht, verweigert sie dem Recht den direkten Zugang zu den «Sachen selbst», insofern deren rechtli‐ cher Charakter eine Ableitung der konstitutiven Aktivität des Be‐ wusstseins ist. In der Erkenntnis, dass der «Katalysator» des rechtli‐ chen Sinnes bestimmte äußerliche, in Bezug auf Bewusstsein «Akte»
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Kapitel 1. Phänomenologische Voraussetzungen der Frage
oder «Tatsachen» sind, sind die Phänomenologen unfähig zu erklä‐ ren, warum manche Handlungen oder Ereignisse im Bewusstsein schlummernde rechtliche Sinne «erwecken», während sie andere «weiterschlafen» lassen. Die Frage nach der rechtlichen Spezifik sol‐ cher Ereignisse sowie darüber, wie durch das erwähnte «Erwachen» die umgebenden Dinge von den «gewöhnlichen» zu den «rechtli‐ chen» werden, wird nicht gestellt. Somit ist Phänomenologie, indem sie also das «primäre Sein» des Rechts in den Rahmen der Bewusst‐ seinserfahrung stellt und die Zeit ausschließlich als «inneren Hin‐ tergrund» der Sinneswahrnehmung versteht, nicht in der Lage, jene Ereignisse, Erscheinungen und Umstände zu reflektieren, die nicht auf das Bewusstsein des Wahrnehmenden reduziert werden kön‐ nen, in welchen jedoch die ontologische Quelle des Rechts wurzelt. Aus diesem Grund ist es notwendig, diejenigen Auffassungen der Rechtsbesinnung zu betrachten, welche die Grundlagen des Rechts über den Rahmen des Bewusstseins hinausführen und das Sein des Rechts thematisieren.
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
Die Diskreditierung des Rechtspositivismus durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zeigte auch gleichzeitig die Schwäche von „rein“ rationalistischen Lehren, die das Recht auf den „Offensicht‐ lichkeiten“ der Vernunft gründeten. Deshalb hat die Strömung des „wiederbelebten Naturrechts“ den Akzent auf die Begründung des Rechts aus etwas „ontologisch mehr Greifbarem“ anstelle der „nack‐ ten“ rationalen Postulate gelegt. Zu einer solchen Variante, sich auf das Phänomen des Rechts zu besinnen, ist der Rechtsexistentialis‐ mus geworden (G. Cohn, E. Fechner, A. Kaufmann etc.). Aus methodischer Sicht basierte diese Richtung auf den allge‐ meinen philosophischen Postulaten des Existentialismus (vor al‐ lem J.-P. Sartre und K. Jaspers) und (teilweise) auf einigen Thesen der Fundamentalontologie von M. Heidegger. So nutzten Vertreter der existentiellen Rechtsphilosophie aktiv die von J.-P. Sartre ein‐ geführte ontologische Differenz von Essenz vs. Existenz (A. Kauf‐ mann, G. Cohn), die Vorstellungen von K. Jaspers und M. Heideg‐ ger über die Grenzsituation (G. Cohn, E. Fechner, W. Maihofer) so‐ wie die den existentialistischen Philosophen gemeinsame Formu‐ lierung der Existenz als „wahres“, „einzigartiges“ Sein des Menschen im Gegensatz zu einem unwahren, unpersönlichen „Allgemeinsein“ (E. Fechner). Kommt man zu den rechtlichen Aspekten des Existentialismus, so ist anzumerken, dass alle oben genannten Denker versuchten, in der Erkenntnis über die legalisierte Willkür des Nationalsozialis‐ mus, sich auf das Sein des Rechts sowohl „außerhalb des Gesetzes“ (also außer-positiv), als auch außerhalb des Rahmens des transzen‐ dentalen Sollens des Naturrechts zu besinnen. Über die Grenzen der Rechtsmetaphysik hinausgehend und die Annahme des absoluten Seins des Rechts als ein Sollen verneinend, versuchten Vertreter des existentiellen Ansatzes die ontologische Grundlage des Rechts in der konkreten Situation (G. Cohn), in der allgemeinen Ordnung der Dinge (E. Fechner), in der richtigen Entscheidung während einer
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konkreten Situation (A. Kaufmann), im Sein (R. Marcic) wie auch in der “geschichtlichen Situation” (M. Müller) etc. zu finden. 334 Gleichzeitig ist anzumerken, dass die existentialistischen Rechts‐ philosophen während ihrer tiefen Suche nach den Grundlagen des Rechts, ernsthafte Schwierigkeiten mit der Beantwortung der Frage hatten, was genau das nicht mit dem Gesetz übereinstimmende Recht ist und welchen Modus sein Sein hat. Deshalb begann seit Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die rechtsphilosophi‐ sche Strömung des Existentialismus abzunehmen zugunsten einer zunehmenden Stellung der rechtlichen Hermeneutik und neuer nicht-positivistischer Konzepte. Da die Vertreter des existentiellen rechtsphilosophischen Denkens zugleich ernstzunehmende Erfolge bei der Entwicklung der existentiell-ontologischen Grundlagen des Rechts erzielt haben, und dadurch ein bedeutender Schritt zu dessen Seinsbesinnung getan wurde (was immerhin der Zweck der vorlie‐ genden Arbeit ist), müssen wir ihre Ansichten detailliert analysie‐ ren, um diese Ergebnisse auf dem Weg der weiteren Suche zu be‐ rücksichtigen.
Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von G. Cohn Das Buch des dänischen Rechtswissenschaftlers Georg Cohn (1887– 1956) «Existentialismus und Rechtswissenschaft» war eines der ers‐ ten Werke, das speziell der Explikation der Ideen der existentiellen Philosophie auf dem Gebiet des Rechts gewidmet wurde. Sein un‐ bestrittener Erfolg wird durch die Tatsache belegt, dass es bereits drei Jahre nach seiner Veröffentlichung (1952) ins Deutsche (Basel, 334 In der Tat ist M. Müller ein sehr interessanter Vertreter der existentialistischen Philosophie. Sein Werk „Existenzphilosophie. . . “ ist bemerkenswert als wun‐ derbares Beispiel für Einfachheit und Tiefe der Darstellung zugleich. Zweifel‐ los kann jeder, der den Existentialismus klar verstehen möchte, aus diesem Buch viel lernen. Aber es scheint mir, dass M. Müller selbst keine eigenstän‐ dige Konzeption des Rechts hat. In seinem Werk „Existenzphilosophie. . . “ gibt es nur wenige direkte Bezüge zum Recht. So spricht er vom „historischen Naturrecht“ als Gegenteil des positiven Rechts und des Naturrechts. Meiner Meinung nach ist es nicht genug, um von einer selbstständigen Rechtsauffas‐ sung zu sprechen. Vgl.: Müller M. Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart. – Heidelberg: F.H. Kerle. 2.erweiterte Auflage, 1958. – S. 99–100.
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1955) und dann ins Englische (New York, 1967) übersetzt wurde. 335 Darüber hinaus erwies sich die in diesem Werk enthaltene Kritik am Rechtspositivismus als so scharf, dass solch prominenter Ver‐ treter dieser Strömung wie Hans Kelsen darauf reagieren musste. 336 Als nächstes werden wir versuchen, die Hauptthesen des dänischen Werks zu analysieren, um uns ein eigenes Urteil über die Fruchtbar‐ keit seines Ansatzes zu bilden. Wie aus dem Titel dieser Arbeit hervorgeht, ist sie der Besin‐ nung auf die Frage gewidmet, welche Konsequenzen die Rezeption der Postulate des Rechtsexistentialismus in der Rechtslehre haben wird. So kritisiert G. Cohn das ganze Buch hindurch das Axiom des Rechtspositivismus, nach welchem der Ursprung des Rechts als die allgemeine Norm verstanden wird: der normative Akt, der Prä‐ zedenzfall usw. Seiner Meinung nach ist der Ursprung des Rechts nicht dort anzusiedeln, sondern in dem konkreten Fall, der eine Person dazu bringt, sich an den Juristen zu wenden. 337 Der däni‐ sche Rechtswissenschaftler sieht Recht in jener Sphäre lokalisiert, wo Probleme in der alltäglichen Praxis auftreten und gelöst werden. Wie die im vorigen Abschnitt erwähnten Vertreter der Recht‐ sphänomenologie nimmt G. Cohn als Anhaltspunkt das bestimmte gesellschaftliche Ereignis, dessen Ereignen Recht «einschließt». Da‐ bei interessiert ihn vor allem die Frage nach der Genesis des Rechts‐ problems und den Quellen seiner Lösung. 338 Sind diese Quellen die Normen oder beinhaltet der Konflikt immanent ein Lösungsbestre‐ ben? Mit anderen Worten, besteht die Frage darin, ob die „rechtli‐ che Ladung“ in der Rechtsnorm oder in den Sachen selbst enthalten ist? Der Autor von «Existentialismus. . . » hält sich an den zweiten Standpunkt und behauptet, dass die Quelle der rechtlichen Relevanz in bestimmten Handlungen, Tatsachen und Situationen selbst ent‐ halten ist. Die Rechtsnorm stellt in diesem Fall nur den «zweiten Schritt» dar, sie erzeugt nicht den rechtlichen Charakter der ent‐
335 Cohn G. Existentialism and Legal Science. – New York.: Occana publications inc., 1967.-148 p. 336 Kelsen H. Existentialismus in der Rechtswissenschaft? Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie: ARSP. – Stuttgart: Steiner. – Vol. 43.1957, 2, p. 161–186. 337 Cohn. G. Existentialism and Legal Science. – New York.: Occana publications inc., 1967. – P. 2. 338 Op.cit. P. 3.
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sprechenden Phänomene, sondern leistet nur Hilfe zur Lösung des entsprechenden Problems. Wie G. Cohn betont, ist das wichtigste Element der Gerichtsent‐ scheidung die konkrete Situation, nicht die Norm oder der Prä‐ zedenzfall, und damit all dasjenige, was als Quelle des Rechts be‐ zeichnet wird. Der dänische Rechtswissenschaftler nennt seine Po‐ sition „existentialistisch“, im Gegensatz zu der in der dogmatischen Rechtslehre allgemein akzeptierten „essentialistischen“ Sichtweise, indem er die Ansicht verteidigt, dass die Quelle des Rechts die kon‐ krete Situation und kein abstraktes Sollen ist. 339 G. Cohn geht den Ursprüngen der essentialistischen Auffassungen von Recht nach und kommt zum Schluss, dass sie aus dem Konzept der Platoni‐ schen Ideen stammen, woraus durch Aristoteles, Kant, Hegel und Marx die Tradition hervorgeht, konkretes Leben durch abstrakte Ideen und konzeptionelle Schemata zu ersetzen. Im Rahmen sol‐ cher Denkweise wird Recht von einem Bestandteil der realen Situa‐ tion zu amorphen Forderungen. Die Vertreter der essentialistischen Auffassungen übersehen jedoch dabei, dass abstrakte Schemata und Normen für sich keine Realität sind, sondern diese im Bewusstsein bestehen. Statische Vorstellungen können die dynamische Realität nicht ersetzen. 340 Des Weiteren versucht der dänische Rechtsphilosoph, das Ver‐ hältnis von Begriffen und Realität zu verstehen und kommt zu dem Schluss, dass im europäischen Denken die Tendenz dominiert, Rea‐ lität durch Begriffskonstruktionen zu ersetzen und letzteren einen ontologischen Status zuzuschreiben. 341 Diese Denkweise hat sich in besonderem Maße in der klassischen Rechtslehre entwickelt, welche das Leben übersieht und sich in einer von der Realität losgelösten Welt des Sollens befindet. In der Kritik an normativen Theorien stellt G. Cohn fest, dass diese, wenn sie über den besonderen Wert von Recht oder Normen sprechen, als ob es eine spezifische Form der Realität wäre, sich ähnlich den religiösen Theorien an der Welt der Konzepte zu orientieren versuchen, um damit Zugang zur Auto‐ rität zu erlangen, welche die Macht verleiht, die Realität zu beherr‐
339 Op.cit. P. 4. 340 Op.cit. P. 10. 341 Op.cit. P. p. 12, 18, 20.
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schen und ihre rechtlichen Konflikte zu lösen. 342 Nach der Meinung des dänischen Rechtswissenschaftlers streben die Vertreter der nor‐ mativen Auffassungen nicht danach, die wirklichen Sachverhalte zu erfragen, sondern versuchen bestimmte Geisteszustände zu objek‐ tivieren oder zu verwirklichen. Dieser Weg führt zu einer PseudoExistenz von Recht. Dabei ist bemerkenswert, dass die begriffliche Analyse, wofür G. Cohn die Positivisten kritisiert, von letzteren selbst nicht als Schwä‐ che, sondern im Gegenteil als Stärke ihres Ansatzes angesehen wird. So betont H. Kelsen, der in seinem Artikel auf die Vorwürfe von G. Cohn antwortet, dass gerade dadurch, dass begriffliche Erkenntnis Ordnung in die Fülle ihres Sinn-Ausdrucks bringt, diese Erkenntnis Dinge schafft und ihren Gegenstand konstituiert. 343 Die Rechtswelt existiert nach H. Kelsens Auslegung nicht an sich, sondern entsteht im Zuge ihrer begrifflichen Konstruktion durch Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Nach G. Cohn lebt die Rechtswirklichkeit allerdings gegenteilig im konkreten Einzelfall, dem Rechtskonflikt und seiner Lösung. 344 Der bestehende Konflikt oder Zweifel wird hier und jetzt gelöst; die Lösung kann nicht ausschließlich im Gesetz oder in allgemeinen Normen gefunden werden, da deren Existenz und Anwendungs‐ möglichkeit (in diesem konkreten Fall) ein Problem ist. 345 Dabei rutscht G. Cohn weder in eine existentielle Willkür noch in eine rücksichtslose Verleugnung der Normen ab. Seiner Meinung nach sind normative Vorschriften nur ein Teil des Rechtskonflikts: Sie sollten berücksichtigt werden, aber nur als einer der Faktoren bei der Lösung der Situation. Wenn diese Normen jedoch nicht die richtige Lösung für eine konkrete Situation bieten, sollten sie nicht angewendet werden. 346 Jegliche Norm oder Regel muss in jeder spe‐ zifischen Situation ihr Recht auf Existenz beweisen und kann erst
342 Op.cit. P. 47. 343 Kelsen H. Existentialismus in der Rechtswissenschaft? Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie: ARSP. – Stuttgart: Steiner. – Vol. 43.1957, 2, S. 161–186. 344 Cohn. G. Existentialism and Legal Science. – New York.: Occana publications inc., 1967. – P. 21. 345 Op.cit. P. 24. 346 Op.cit. P. 51.
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dann als gebieterische Autorität im bestimmten Fall anerkannt wer‐ den. 347 Obwohl G. Cohn der Auffassung zustimmt, dass Norm für die Lösung des Rechtskonflikts von entscheidender Bedeutung ist, steht die Rechtmäßigkeit der einzelnen Norm in einer konkreten Situa‐ tion jedoch in Zweifel. Er verweigert der (hinsichtlich der gegebe‐ nen Situation) äußeren Norm die exklusive gebieterische Autorität; nur die situationsimmanente Norm besitzt solche Autorität. Her‐ auszufinden, ob die vorweg gegebene Norm zur Lösung des konkre‐ ten Falles geeignet ist – dies ist die wichtigste Aufgabe des Richters. Solche Norm ist kein direkter Ausführungsbefehl, sondern nur eine Form, welche Recht in der konkreten Situation annehmen kann; und wenn der Befehl eine falsche Handlung vorschreibt, ist sie nicht rechtlich (aber nur für diesen konkreten Fall). 348 Somit geht die konkrete Existenz des Rechts seinem konzeptionellen Wesentlichen (Essenz) voraus, Recht existiert nicht vorgegeben, sondern wird in der konkreten Situation jedes Mal neu erzeugt; 349 es muss als eine Selbsttäuschung bezeichnet werden, dass die Entscheidung auf Nor‐ men und deren Auslegung gegründet wird. G. Cohn verweigert der positiven Norm ihren Charakter als das exklusive Mittel zur Lösung der Rechtssituation und muss deshalb gezwungenermaßen die Frage beantworten, was in diesem Fall das Kriterium für den adäquaten Ausweg aus der entstandenen Lage ist, welches rechtlicher Lösung bedarf. Der Philosoph versucht also zu zeigen, wie in der konkreten Situation nach der richtigen Lösung zu suchen ist. Abstrakte theoretische Normkenntnisse können seiner Meinung nach nicht als Grundlage eines solchen Auswegs dienen: Nur der in die konkrete Situation verwickelte Mensch kann wirk‐ lich das begreifen, was von uns als Recht bezeichnet wird. 350 Um gebührlich zu wissen, was Recht ist, muss man es einst persönlich erfahren haben. Der Autor behauptet, dass nur derjenige aus eigener Erfahrung von Leid oder Unrecht Wissende weiß, was Recht ist und es anhand konkreter Umstände erklären kann. 351 347 348 349 350 351
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Op.cit. P. 52. Op.cit. P. 54. Op.cit. P. 56. Op.cit. P. 115. Op.cit. P. 116.
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Somit offenbart sich Recht in seiner Gesamtheit im konkreten Fall, welcher immanent die Kriterien für seine rechtliche Lösung enthält. G. Cohn bestreitet nicht, dass der Richter bei seiner Ent‐ scheidung in erster Linie verpflichtet ist, die bestehenden Normen zu berücksichtigen, betont jedoch, dass die Normen ihr Anwen‐ dungsrecht in jedem konkreten Fall «beweisen» müssen; veraltete oder fehlerhafte Normen sollten nicht bloß aus formalen Gründen angewendet werden. Denn keine Rechtsnorm kann über ihre Gren‐ zen hinausgehen, sofern sie inhaltlich begrenzt ist, und die rich‐ tige Entscheidung hängt nicht von der Möglichkeit ab, aus dem sogenannten objektiven Recht abgeleitet zu werden. 352 Der däni‐ sche Philosoph betont die Notwendigkeit individueller Beteiligung an der Verwirklichung von Recht: Weder Staatsbefehl oder Zwang noch die Gerichtsentscheidung gehen dem Recht voraus und sie werden nicht mit dem Recht identifiziert: Recht verlangt persönli‐ che Beteiligung an der Sache, Risiko und Verantwortung, welche für diejenigen vorausgesetzt wird, die an diesem Prozess teilnehmen. 353 Dabei ist G. Cohn sich darüber im Klaren, dass der Akzent an der individuellen Komponente der konkreten Situation noch keinen Schlüssel zu ihrer rechtlichen Lösung bietet. Er betrachtet deswe‐ gen auch die Folgen, die die Aufgabe der theoretischen Grundlagen der konzeptionellen Rechtslehre nach sich ziehen kann. Der Autor schlägt daher vor, den richtigen Ausweg aus der konkreten Situa‐ tion nicht nur in den Gesetzesnormen zu suchen, sondern auf der Grundlage aller Umstände des konkreten Falls in ihrer einzigartigen und unnachahmlichen (wie das Sein selbst) Gesamtheit. Das Ziel, eine «rein rechtliche Lösung» der Situation zu finden, wird von G. Cohn abgelehnt. 354 Es ist seiner Ansicht nach unbegreiflich, dass die gesetzliche Grundnorm in dem Sinne, in welchem sie die Begriffs‐ jurisprudenz versteht, alle verworrenen Fäden des Falles und die widersprüchlichen Bestrebungen der Parteien auflösen kann und allgemeine Rechtsstandards für die Lösung dieser unvergleichbaren Probleme sicherstellt, und zwar mittels Kategorisierung, d.h An‐ passung des konkreten Falls an die allgemeine Norm. 355 Der däni‐ 352 353 354 355
Op.cit. P. 119. Op.cit. P. 117. Op.cit. P. 123. Op.cit. P. 127.
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
sche Existentialist sieht in der Kategorisierung eine pseudo-ratio‐ nale Begründung für das Streben der Menschen nach Freiheit und Gerechtigkeit, welche mit allen Mitteln rational zu begründen ver‐ sucht wird. 356 Deshalb, behauptet er, muss eine rechtliche Lösung dadurch gesucht werden, dass man sich an die Experten für be‐ stimmte Situationsarten wendet, welche eben die Richter sein soll‐ ten. Die klassische Rechtsprechung weigert sich, die Möglichkeit der Einzelfalllösung ohne konzeptionelle Begründung anzuerken‐ nen, und trennt in Bezug auf den Einzelfall die Tatsachenwelt und die Rechtswelt künstlich voneinander, was nicht weiter geschehen darf. G. Cohn behauptet, dass die Entscheidung sowohl auf tatsäch‐ lichen als auch auf rechtlichen Elementen gegründet werden muss, die untrennbar in ihrer Ganzheit genommen werden sollten. 357 Fasst man die Auslegung der Konzeption des dänischen Rechts‐ wissenschaftlers zusammen und geht zu seiner Einschätzung über, ist festzustellen, dass seine Stärke durchaus in der Betonung der „realen“, „lebensechten“ und „existentiellen“ Komponenten des Rechts liegt. G. Cohn weist völlig richtig darauf hin, dass ohne die konkrete Situation, die nach ihrer Lösung verlangt und die Men‐ schen dazu ermutigt, sich dem Recht zuzuwenden, letzteres zum leeren scholastischen Konstrukt wird, das abstrakte Vorstellungen vom Sollen von seinem Schöpfer enthält und nur scheinbare Chan‐ cen hat, sich zu verwirklichen. Der dänische Existentialist lenkt sehr berechtigt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Probleme der Anwendbarkeit der Norm in jedem Einzelfall, auf die Möglichkeit, ihre Adäquanz bezüglich der konkreten Situation festzustellen, auf die Kritik an den schablonenhaften Ansätzen und das methodi‐ sche „Getue“ der klassischen Rechtswissenschaft, die unter dem Deckmantel der „Interpretation“ und „Analogie des Gesetzes“ das konkret-situative Rechtsschaffen verbirgt und nur methodologische Lücken schließt. Doch G. Cohn führt zwar brillante, in Bezug auf die Praxis originelle Beispiele an und unterwirft Postulate juristischer Dogmatik seiner vernichtenden und begründeten Kritik, ist aber oft nicht in der Lage, etwas Konkretes als Ersatz anzubieten. Mit dem Hinweis darauf, dass Recht nicht in der Norm, sondern in
356 Op.cit. P. 128. 357 Op.cit. P. 132.
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Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von G. Cohn
der konkreten Situation lokalisiert ist, formuliert der Autor von „Existentialismus . . . “ nirgendwo aus, was genau unter Recht zu verstehen ist: Gerichtsentscheidung, richtige Handlung des Teil‐ nehmers oder schließlich die dieser Situation adäquate Norm? G. Cohn betont, dass «reales Recht» durch bestimmte Lebenstatsachen, Ereignisse und Umstände erzeugt wird, konkretisiert aber nicht, wie es möglich ist, zwischen «moralischen», «rechtlichen», «wirtschaft‐ lichen» und anderen Situationen zu unterscheiden, von denen jede nach ihrer eigenen «richtigen» wirtschaftlichen, moralischen, recht‐ lichen Lösung verlangt. Mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit einer «rein» rechtlichen Lösung 358 der Situation verliert G. Cohn den eigentlichen Gegenstand der Rechtsphilosophie – das Recht – genauso wie die von ihm kritisierte konzeptionelle Jurisprudenz. Die aufgezeigten Lücken in der positiven Rechtsbesinnung sind darauf zurückzuführen, dass G. Cohn methodologisch bei Sartres Differenz zwischen Essenz und Existenz bleibt, indem er den Akzent auf den Vorrang des existentiellen Anfangs des Rechts vor seiner essentiellen Ebene setzt, und dabei nicht die Heideggersche „onto‐ logische Differenz“ zwischen Sein und Seiendem und genausowenig die Zeit als Horizont der Verständlichkeit des Seins berücksichtigt. Aus diesem Grund kann G. Cohn, indem er Recht auf die Exis‐ tenzebene abführt, nichts anderes tun, als den «existentiellen Pri‐ mat» des Rechts und die abgeleitete, sekundäre Natur seiner Essenz festzustellen. Dies reicht offensichtlich nicht aus, um eine explizite Analyse der ontologischen Verfassung des Rechts, der Modi des rechtlichen Seins und der Verwirklichungsarten des Rechts durch‐ zuführen. Der dänische Rechtswissenschaftler übersieht die Zeit als die Lichtung «wo» Recht primär stattfindet, versteht die «Situation» als eine Art selbstgenügsame synkretische Einheit von Zeit, Raum, Menschen, Umständen etc.. Er ist nicht in der Lage, das Phäno‐ men des Rechts aus dem ganzen Komplex auszugliedern und es in seinem innewohnenden, besonderen, eigenartigen und spezifischen Sein zu reflektieren.
358 Cohn. G. Existentialism and Legal Science. – New York.: Occana publications inc., 1967. – P. 123.
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Paragraph 2. Die existentielle Rechtsauffassung von E. Fechner Der Tübinger Professor Erich Fechner (1903–1991) ist neben Wer‐ ner Maihofer und Arthur Kaufmann der vielleicht berühmteste Ver‐ treter der deutschen Rechtsphilosophie der Nachkriegszeit. Berühmt wurde er durch sein grundlegendes Werk „Rechtsphilosophie. So‐ ziologie und Metaphysik des Rechts“, welches 1956 in Tübingen er‐ schienen ist. 359 Dieses Buch, das zahlreiche Reaktionen und Rezen‐ sionen in der modernen rechtsphilosophischen Literatur hervorrief, gehört zu den «klassischen» Werken der existentiellen Rechtswissen‐ schaft. 360 Es soll deshalb im Weiteren sein Inhalt dargelegt werden, um das Konzept von E. Fechner kritisch erfassen zu können. Im ersten Teil («A») seines Werkes analysiert der deutsche Rechtswis‐ senschaftler die Geschichte der Frage nach dem Wesentlichen des Rechts. Er behauptet, dass in der Tradition des Rechtsdenkens zwei Arten der rechtsphilosophischen Auffassung von der Reflektion „des Wesens des Rechts“ unterschieden werden können: Die „empirische“ und „idealistische.“ 361 Die erste baut Recht gewissermaßen von un‐ ten her auf den realen Gegebenheiten des Lebens sowie den sozia‐ len Tatsachen auf und die zweite leitet es „von oben“, vom absolu‐ ten „geist-bestimmten Rechtsmaß ab.“ 362 Zur ersten Art der Rechts‐ auffassung gehören Rechtsbiologismus, Rechtsökonomische Lehren, „die politische Rechtsauffassung“, „Soziologismus und Positivismus im Recht.“ 363 Zur zweiten gehören „Vernunftlehren des Rechts“, die „Werttheorie des Rechts“ und „theologische Rechtsauffassungen.“ 364 359 Fechner E. Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts– Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956. – S. 303. 360 Für Rezensionen auf das Buch siehe z. B.: Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts by Erich Fechner. Review by: Th. Würtenberger. Archiv für die civilistische Praxis, 156 Bd., H. 4. (1958), S. 350; Hippel v. E. Rechtsphi‐ losophie by Erich Fechner. JuristenZeitung. 13 Jahrg. Nr. 16 (15. August 1958), S. 518–519. 361 Fechner E. Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts– Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956. – S. 21. 362 Ibid. 363 Op.cit. S. 23–26. 364 Op.cit. S. 37–48.
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Paragraph 2. Die existentielle Rechtsauffassung von E. Fechner
Im nächsten Teil des Buches («B») formuliert der Tübinger Den‐ ker sein Hauptziel: „die Unhaltbarkeit der einseitigen Rechtsauf‐ fassungen“ zu überwinden und zur gewissen fruchtbaren Synthese zu gelangen. 365 E. Fechner sieht den Hauptnachteil der historisch gebildeten Rechtsauffassungen eben in ihrer Einseitigkeit, wodurch nur eine Teilwahrheit erreicht wird. Weiter («C») stellt er die Frage, “wieweit die einzelnen Kräfte, die von den verschiedenen Rechts‐ auffassungen einseitig in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden, bei der Rechtsgestaltung tatsächlich beteiligt sind.” 366 Mit neuesten Beispielen faschistischer Gesetzgebung vor Augen ver‐ sucht E. Fechner folgendes herauszufinden: „Muß es sich, wenn das Recht auf den Willen des Menschen gestellt ist, um Willkür handeln, oder ist Objektivität (Eingebundenheit in einen objektiven Seinszu‐ sammenhang) auch denkbar und gegeben, wenn der Mensch das Recht aus «freiem Entschluß» gestaltet?“ 367 E. Fechner selbst neigt zur zweiten Antwort und plädiert für den objektiven Charakter der rechtsbildenden Kraft. Basierend auf den Errungenschaften der Tiefenpsychologie von C.-G. Jung weist er darauf hin, dass es auf den Menschen gleichsam ankommt, zur Welt “gehörig” zu sein und so auch freie Entscheidung zu treffen. 368 Dementsprechend, wenn Recht also nicht einseitig, sondern als Ein‐ flussbereich verschiedenster Faktoren begriffen wird, entgeht es der Macht menschlicher Willkür. Der Akzent auf die gewissen «objek‐ tiven Gesetzmäßigkeiten» der Rechtsbildung macht offensichtlich die Hinwendung zur naturrechtlichen Tradition notwendig, welche nämlich im nächsten Teil («F») des Werkes des deutschen Philoso‐ phen vorgenommen wird. Der Ausgangspunkt für E. Fechner ist der Hinweis auf die Not‐ wendigkeit, das Naturrecht zu überdenken. Wenn es früher als eine Reihe statischer Axiome außerhalb der Realität betrachtet wurde, schlägt der Autor nun vor, es dynamisch zu betrachten: „Das «Na‐ turrecht» ist keine geschlossene Lehre, sondern der wechselvolle Gegenstand eines dramatischen Kampfes gegensätzlicher Lehrmei‐
365 366 367 368
Op.cit. S. 53. Op.cit. S. 129. Op.cit. S. 129. Op.cit. S. 176.
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nungen». 369 Gleichzeitig ist solche Streitbarkeit und Vieldeutigkeit des Naturrechts kein Nachteil (wie die Positivisten zu beweisen ver‐ suchen), sondern Ausdruck seines Wesentlichen. Zu den wichtigs‐ ten naturrechtlichen Auffassungen zählen das sogenannte «natura‐ listische» und «spiritualistische» Naturrecht. 370 Befürworter der ersten Auffassung sehen die «Natürlichkeit» des Rechts in seiner Übereinstimmung mit den menschlichen Instink‐ ten und Wünschen, während die Anhänger des zweiten Standpunk‐ tes die «Vernünftigkeit» des Rechts, seine Eigenschaft, einem tie‐ rischen, ungeordneten Zustand Grenzen zu setzen, als natürlich sehen. Nach E. Fechner sind beide Auffassungen sowie der Posi‐ tivismus, der sie leugnet, einseitige Extremfälle. Wie die für den Rechtsphilosophen gegenwärtige Realität des Nachkriegsdeutsch‐ lands zeigt, waren sowohl Positivismus als auch «naives» Natur‐ recht nicht in der Lage, die Wirklichkeit adäquat zu begreifen. Un‐ bedacht waren sowohl das rücksichtslose Lobpreisen des Natur‐ rechts als auch die konservativ-restaurierenden Tendenzen des Po‐ sitivismus. Nach der Meinung E. Fechners wäre der erste Schritt in solcher Situation das Verständnis der dynamischen Natur des Rechts. 371 Recht ist einerseits objektiv, andererseits unterliegt es dem menschlichen Einfluss, und das Verhältnis dieser Faktoren ist keineswegs konstant. Deshalb muss für ein angemessenes Rechts‐ verständnis diese Veränderlichkeit berücksichtigt werden. Wie ver‐ halten sich miteinander aber die Objektivität des Rechts und der Anteil menschlicher Willkür daran? Um diese Frage zu beantwor‐ ten, schlägt der deutsche Rechtsphilosoph vor, den Platz des Rechts im gesamtheitlichen Zusammenhang des Seins zu untersuchen. Gleichzeitig wird seiner Ansicht nach die Lokalisierung des Rechts in der bestimmten globalen Ordnung dazu beitragen, die Existenz‐ art des Rechts klarer zu definieren: „Indem wir aber nach dem Ort des Rechts im Zusammenhang des Seienden fragen, fragen wir zu‐ gleich nach dem Seinscharakter des Rechts im Vergleich zu ande‐ rem Seienden und unternehmen es, eine Ontologie des Rechts zu entwerfen.“ 372 369 370 371 372
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Op.cit. S. 179. Op.cit. S. 180. Op.cit. S. 187. Op.cit. S. 189–190.
Paragraph 2. Die existentielle Rechtsauffassung von E. Fechner
Wie zu sehen ist, führte E. Fechners Fragestellung zu zwei Ba‐ sispunkten: die Fragen nach den Grundlagen des Rechts und nach seiner Seinsart. Im Prozess der Besinnung auf diese grundlegenden Probleme kommt er zu der Notwendigkeit, Recht in die allgemeine Ontologie der Welt als Ganzes einzuschreiben. Nach E. Fechners Position ist Recht, ausgehend von der durch N. Hartmann einge‐ führten Einteilung in anorganische, organische, psychische und spi‐ rituelle Schichten des Seins, „Teil der Ordnung eines Teils der Ord‐ nung“ und kann im Bereich des Sozialen lokalisiert werden. Die Rechtsordnung darf weder der anorganischen (da der Mensch ein materieller Körper ist) oder der organischen (da er ein Lebewesen ist) noch der mentalen oder spirituellen Ebene des Seins widerspre‐ chen. Gleichzeitig stellt die Gesellschaftsordnung (und die Rechts‐ ordnung als ihr Teil) keine eigenständigen Seinsschichten dar, ähn‐ lich den vier oben genannten, sondern durchdringt sie und muss ihnen entsprechen. Somit scheint es möglich, die ersten Ergebnisse zur Frage nach den Grenzen menschlicher Eingriffe im Bereich des Rechts zu ge‐ winnen. Offensichtlich kann der Mensch das Recht verändern, so‐ lange es den Gesetzmäßigkeiten der obigen Seinsschichten nicht widerspricht. Denn Versuche, mit Hilfe des Rechts die organische Ordnung umzuändern, führen unweigerlich zu Widersprüchen, Konflikten und Chaos. 373 Somit befindet sich der Mensch in Be‐ zug auf Recht zwischen „Gegebenheit“ und „Aufgegebenheit“, wel‐ che einerseits Spielräume für sein Eingreifen als Veränderung der „Aufgegebenheit“ eröffnen und ihm andererseits Grenzen durch die „Gegebenheit“ der hohen Seinsschichten setzen. Aber wie unterscheidet man das Eine von dem Anderen? Wo hört die „Gegebenheit“ auf und beginnt die „Aufgegebenheit“? Nähmen wir die erste für die zweite, riskierten wir, die Verantwortung unbe‐ gründet abzulehnen. Verwechselten wir die zweite mit der ersten – so verfielen wir in Willkür und die Illusion der Allmacht. Solche Situation, die den Menschen unter Bedingungen der Ungewissheit zu ständigen Entscheidungen zwingt, ruft eindeutig Analogien zur „Grenzsituation“ des Existentialismus hervor. Bekanntlich ist hier der einzig mögliche Ausweg ein Durchbruch in die Wahrheit des 373 Als Beispiel kann man den berühmten Vorschlag von Platon anführen, den Müttern sofort nach der Geburt die Kinder wegzunehmen.
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Seins, der (nach J.-P. Sartre und K. Jaspers) im Zuge der freien Wahl einer Verhaltensoption und der Verantwortungsübernahme dafür verwirklicht wird. Kraft dessen wird Naturrecht aus der abstrakten Idee, die im transzendentalen Bewusstsein des Sollens existiert, zur Seinsart des Menschen. Deshalb ist, wie E. Fechner zeigt, das Natur‐ recht „[. . . ] wo immer es echt ist, ehrliche und äußerste Bemühung um adäquate Wirklichkeitsgestaltung, bei der der Richtzeiger un‐ verrückt auf ein Absolut-Gültiges eingestellt bleibt, so wenig auch im konkreten Fall dieser Absolutheit erreicht oder die Wahrheit ab‐ solut gewiß werden kann.“ 374 Somit veranlasst selbst der Prozess der Besinnung auf die gestell‐ ten Probleme (der Grundlagen des Naturrechts und seiner Seinsart) den Tübinger Rechtswissenschaftler dazu, sich der Existenzphiloso‐ phie zuzuwenden, zur Analyse dessen, welche Folgen deren Impli‐ kationen bezüglich der rechtsphilosophischen Fragestellung ( Teil „G“) für das Recht haben kann. So konstatiert E. Fechner: „Aus allem ergibt sich die Stellung des Menschen im Recht zwischen Gewißheit und Ungewißheit, zwi‐ schen Eingebundensein und Ausgesetztsein, zwischen Geborgen‐ heit und Ungeborgenheit. . . Angesichts einer solchen Lage drängt sich die Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie auf, die die Ungewissheit des Menschen zu ihrem Thema macht.“ 375 Aller‐ dings scheint Recht, das Menschen unifiziert, sie zu unpersönlichen „Rechtssubjekten“ macht, und der Existentialismus, der zum ein‐ zigartigen, wahren Sein des Selbst durchbrechen will, grundsätzlich unvereinbar. „Recht will menschliches Zusammenleben ordnen und befrieden, damit möglichst für Alle ein erträglicher Zustand herge‐ stellt wird und erhalten bleibt, in dem menschliches Dasein, vor den gröbsten Störungen äußerlich gesichert, ablaufen kann. Existenz be‐ deutet demgegenüber Absehen von allen zweckhaften Veranstaltun‐ gen zur Lebensfristung und Hinwendung des Menschen zu „seinem eigensten Seinkönnen.“ Die „Ferne zwischen dem Raum, in dem Recht «wichtig» ist und der Sphäre, in der Existenz sich vollzieht, scheint unüberbrückbar.“ 376
374 Op.cit. S. 221. 375 Op.cit. S. 223. 376 Op.cit. S. 227.
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Aber ist die „Ferne“ zwischen der Rechtsordnung und der Exis‐ tenz denn so „weit“? Zunächst ist zu klären, was mit jenem Recht ge‐ meint ist, das der Existenz entgegensteht. Offensichtlich ist der Vor‐ wurf an Rechtsinstitutionen, dass sie festgefahren, träge und gleich‐ gültig gegenüber individuellen Unterschieden seien, vollkommen gerechtfertigt, wenn es um metaphysisches Recht geht – das Gesetz oder das abstrakte Sollen des Naturrechts. Gleichzeitig erschöpft sich Recht für existentialistische Rechtswissenschaftler keineswegs im Gesetz oder in den Normen des Naturrechts. Worum handelt es sich dann? Auf der Suche nach einer Antwort wendet sich E. Fechner der Philosophie von M. Heidegger zu. Basierend auf dessen Analyse des „innerweltlich begegnenden Seienden“ als das zuhandene Zeug, des‐ sen Seinsstruktur durch Verweisungen bestimmt ist, 377 kommt der Phänomenologe zu folgendem Schluss: „Auch das Recht ist als Zeug zu begreifen, dessen Dienlichkeit darin besteht, dem Menschen im sozialen Raum Richtweise, Sicherheit und Frieden zu geben.“ 378 Da‐ mit ist jedoch die Natur des Seins des Rechts nicht ausgeschöpft. E. Fechner behauptet, dass Letzteres in Analogie zur Seinsart der Sprache (Logos) verstanden werden kann, welche die Grundlage der gegenseitigen Verständigung ist. 379 Daraus lässt sich schließen, dass nach E. Fechner die Seinsart des Rechts als des Seienden darin besteht, auf eine bestimmte – berechtigte – Verhaltensweise hinzu‐ weisen. Dabei sollte solcher Hinweis nicht nur für den Einzelnen verständlich sein, sondern für alle, die mit dem Handelnden koexis‐ tieren. Da laut der Philosophie des Existentialismus auch zwischen Men‐ schen über Existenz verfügt wird, ist dieser „Zwischen-Raum“ der „Schlich“, wodurch das Recht hindurchgeht und dadurch Bestand‐ teil des „wahren Seins“, der Existenz werden kann. Dabei ist das Vor‐ handensein des Rechts keineswegs die Garantie der Existenz. Wie E. Fechner zeigt: Die „Möglichkeit von Existenz geht an „Recht“ zugrunde oder bewährt sich an ihm in der jeweils konkreten Situa‐
377 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 74. 378 Fechner E. Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts– Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956.- S. 230. 379 Ibid.
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tion.“ 380 Es geht darum, dass der Mensch nach dem fundamenta‐ len Postulat der Existenzphilosophie zur Freiheit «verdammt» ist. Er wählt einige Möglichkeiten, während er andere aufgibt. Deshalb hat der Mensch immer schon die Schuld, indem er etwas nicht rea‐ lisiert oder aufgegeben hat, was dementsprechend zum Grund sei‐ ner Vernichtung geworden ist (Jaspers, Heidegger). 381 Ein solches Schuld-Sein ist nicht nur das Schicksal der «einfachen Leute». “Un‐ mittelbar existentiellen Gehalt umschließt das Verhältnis des Straf‐ richters zum Angeklagten. Jener hält Leben und äußere Freiheit als Möglichkeiten des Selbstseins wie des Verfallens in seiner Hand. Durch Verhängung von Strafe, durch deren Bemessung und durch Absehen von ihr entscheidet er nicht nur über das äußere Schicksal des von seinem Spruch Betroffenen, sondern greift auch in dieses Dasein als mögliche Existenz ein. Da dieser Eingriff ein von ihm persönlich zu verantwortendes Tun ist, ist er zugleich für sich selbst vor die Möglichkeit eigener Existenz oder eigenen Verfalls gestellt. Ähnliches gilt im weiteren Sinne auch für Gesetzgebung und Po‐ litik, die Dasein ordnen oder erweitern, stören oder einengen und damit Möglichkeiten des Selbstsein schaffen, verhindern oder ver‐ nichten.” 382 Wie ersichtlich «verschmelzen» so Recht und Existenz in einer konkreten Lösung, wenn einige Möglichkeiten des gemeinsamen Seins von Menschen aktualisiert, während andere aufgegeben wer‐ den. Wer die Entscheidungen trifft, hat nicht nur Freiheit, sondern auch Verantwortung für die möglichen Folgen seiner Wahl. Da über die Existenz sowohl der entscheidenden Person als auch anderer Menschen «entschieden» wird, befinden sie sich an der «Grenze», von der aus man zur Existenz durchbrechen oder in die Unwahr‐ heit des Massenseins absteigen kann. Zugleich können weder Ver‐ fassung und Gesetz noch irgendeine andere «äußere» Autorität den Menschen von der Verantwortung entlasten oder eine «absolut» ex‐ akte, richtige Entscheidung vorschlagen. Daraus schließt E. Fech‐ ner, dass die Situation der gerichtlichen Entscheidung gleichzeitig
380 Op.cit. S. 235. 381 Für weitere Details siehe z. B.: Heidegger M. Sein und Zeit. S. 280 ff. 382 Fechner E. Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts – Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956.- S. 241–242.
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eine Grenzsituation ist. 383 Bekanntlich bedeutet «Grenzsituation» in der Philosophie des Existentialismus die Gesamtheit von Vor‐ aussetzungen, welche den Menschen vor eine unvermeidliche Wahl stellen, und zwar so, dass im Laufe dieser Wahl seine Sterblichkeit, Endlichkeit, Abgeschiedenheit von anderen, die Unmöglichkeit, sich auf «externe» Autorität zu verlassen für ihn offenbar werden. Laut E. Fechner charakterisieren alle solche Konstanten gleicherma‐ ßen die Voraussetzungen, unter welchen auch eine Rechtsentschei‐ dung getroffen wird: “Existenz verwirklicht sich. . . nicht aus der Stellung des Menschen in der (relativen oder vermeintlichen) Ge‐ borgenheit der überlieferten Rechtsordnungen, solange diese funk‐ tionieren und Sicherheit bieten. Dies vermögen sie aber nur bis zu bestimmten Grenzen, hinter denen die Fragwürdigkeit des Rechts beginnt. In dieser Fragwürdigkeit kann der Mensch unausweichlich zu Entscheidungen gezwungen sein, in denen er vor der schicksal‐ haften Notwendigkeit steht, eine Leere auszufüllen. Wie das Recht Schutz bietet gegen Unordnung und Chaos, so sprengt das zerbre‐ chende Recht auch immer wieder die schützende Mauer. Sich im‐ mer wieder als unzulänglich zu erwiesen und zu zerbrechen, gehört zum Wesen des Rechts.” 384 Hier scheint der Autor die Antwort auf die zweite der gestellten fundamentalen Fragen gefunden zu haben: nach der Begründung des sich vom Gesetz unterscheidenden Rechts. Solche Grundlage ist die Situation, die ihre Teilnehmer dazu zwingt, sich nicht nur dem Gesetz, sondern auch dem Recht zuzuwenden, um in dieser eine richtige Entscheidung zu treffen, richtig zu handeln oder – in einer breiteren Disposition – sie als Ganzes zu reflektieren. Gleichzeitig wird Recht auch auf der Existenz der Beteiligten in einer solchen Situation gegründet, welche eine verantwortungsvolle Entscheidung im Zuge der freien Wahl treffen und über Recht verfügen oder in Unwahrheit „verfallen“. Diese Situation, welche die existentiell-onto‐ logische Quelle des Rechtsphänomens ist, kann als rechtlich bezeich‐ net werden. 385 „Eine solche Entscheidungssituation erfüllt (im Raum des Rechts) die Merkmale existentieller Grenzsituation: die Unbe‐ 383 Op.cit. S. 243. 384 Op.cit. S. 244–245. 385 Für weitere Details siehe: O. Stovba „Rechtliche Situation als Quelle von Sein des Rechts“, Charkow, 2006.
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dingtheit des Einsatzes, den Vollzug in völliger Einsamkeit und die Gefahr des Scheiterns. In der letzten Zuspitzung auch des rechtlich Fragwürdigen ist der Mensch auf sich gestellt und hängt alles von seinem Tun ab.“ 386 Hier drängt sich jedoch die Frage auf, die dem E. Fechner selbst natürlich nicht entgehen konnte. Wenn der Mensch in der rechtlichen Grenzsituation an keine «äußere», «vorgegebene» Autorität gebunden ist, wie lässt sich dann seine «wahre», «existen‐ tielle» Entscheidung von Willkür unterscheiden? Für den deutschen Rechtswissenschaftler liegt die Antwort auf Ebene der existentiellen Ontologie. Er zeigt, dass der Mensch bei einer rechtlichen Entschei‐ dung ein bestimmtes „Stück Transzendenz“ trifft, nämlich „dass das Dasein so ist, dass es in ihm Ordnung gibt und diese Ordnung ist, dass es ein «Chiffre seiner Transzendenz» gibt und dass dieser Chif‐ fre als ein Maßstab für die Entscheidung dienen muss.“ 387 So be‐ ginnt die Rechtsphilosophie mit dem Erstaunen davor, dass es Ord‐ nung gibt und nie Chaos. Und sobald der Mensch begreift, dass diese Ordnung nicht zufällig ist, sondern auf einer gewissen Gesetzmäßig‐ keit des Seins beruht, die diese Ordnung vor dem Verfall bewahrt, wird er zur eigenständigen existentiellen Suche nach der richtigen Lösung fähig, in welcher Recht sich verwirklicht. Zugleich aber ist jenes „Chiffre“ nicht klar und eindeutig gegeben. 388 Die Entschlüs‐ selung muss durch die Auslegung „des Zusammenhangs der Ord‐ nung der vier großen Seinsschichten“ erfolgen, der diese durchdrin‐ genden sozialen Ordnung sowie des Rechts als ihrem Teil. Deshalb hängt laut E. Fechner nicht nur das positive, sondern auch das Na‐ turrecht von der Auslegung ab. Bei der existentiell-rechtlichen Ent‐ scheidung sollte verstanden werden, ob die entsprechende Handlung in die oben genannten Schichten (Seinsordnungen) hineinpasst oder ob sie dagegen verstößt usw. Das Ergebnis einer solchen – richtigen oder falschen – Auslegung wird die Richtung sein, die dem Schick‐
386 Fechner E. Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts– Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956.- S. 245. 387 Op.cit. S. 246. 388 Sie ist jedoch nicht weniger klar gegeben als die Texte vieler normativer Akte. Es ist kein Zufall, dass bei allem Streben nach konkreten und eindeutigen Ge‐ setzen die „langlebigsten“ davon solche sind, die möglichst abstrakt formuliert sind und einen breiten Spielraum zur Entschlüsselung lassen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die US-Verfassung.
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sal der Menschen gegeben wird. “Das Recht als Teil des Daseins teilt dessen doppelte Möglichkeit: zu verfallen oder zum Eigentli‐ chen durchzustoßen.” 389 Dabei besteht der Philosoph keineswegs auf der blinden Leugnung des Gesetzes. Er zeigt, dass die Frage nach dem vom Gesetz abweichenden Verhaltensmaßstab nicht dort ent‐ stehen sollte, „wo objektive Faktoren der Rechtsgestaltung eindeu‐ tige und zwingende Wirkungen auslösen oder bejahte Vorentschei‐ dungen den Zweifel beheben.“ 390 Das „existentielle“ Recht kommt genau dann ins Spiel, wenn das sogenannte „objektive Recht“ uns nicht vorschreiben kann, wie wir zu handeln haben. Dabei kann we‐ der der Rechtsphilosoph noch der Gesetzgeber eine Antwort auf die Frage geben, ob in jedem konkreten Fall die zuvor erwähnte „Ge‐ gebenheit“ verändert werden oder man sich der „Aufgegebenheit“ fügen sollte, sondern nur derjenige, der in die Situation verwickelt und zur Entscheidung aufgerufen ist. „Nach Ansicht der Existenz‐ philosophie, die sich mit den Ergebnissen unserer Betrachtung auch hierin deckt, kann sie nicht allgemeingültig beantwortet werden. Die Maßstäbe lassen sich nicht für alle zukünftigen Entscheidungen si‐ cher und eindeutig bereitstellen. Es entstehen immer wieder Situa‐ tionen, die neue, an Vorentscheidungen nicht auszurichtende Ent‐ scheidungen fordern.“ 391 „Erst in der Verwirklichung erweist sich die Entscheidung als richtig oder verfehlt.“ 392 Deshalb, wie E. Fech‐ ner schließt, handelt es sich aus der Sicht des Existentialismus nicht um Naturrecht mit dem im Voraus gegebenen oder veränderlichen Inhalt, sondern “um ein Naturrecht mit werdendem Inhalt, an dem der Mensch entscheidenden Anteil hat, ein Naturrecht, in dem er es wagt, die Haltbarkeit eines neuen zu erproben in einem Raum, dessen Struktur und Gesetze er nur zu einem kleinen Teile kennt, ein Naturrecht, das unter stetem Einsatz menschlichen Seins und menschlicher Seligkeit aus immer erneuten Würfen wächst, ein Na‐ turrecht, das in seinem Ursprung subjektiv, in seinem Ziel objektiv ist.“ 393 389 Fechner E. Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts– Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956.- S. 247. 390 Op.cit. S. 253. 391 Op.cit. S. 257. 392 Op.cit. S. 258. 393 Op.cit. S. 261.
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Letztendlich (Teil „H“) kommt der deutsche Rechtswissenschaft‐ ler zur Notwendigkeit, Soziologie und Metaphysik als zwei Kom‐ ponenten der Rechtsphilosophie zusammenzuführen. „Recht ist zu‐ gleich beides: Regelung menschlicher Beziehungen auf Grund em‐ pirisch feststellbarer Daten und immer erneute innere Entschei‐ dung aus rational nicht faßbaren inneren Vorgängen.“ 394 Somit ist die Beziehung zwischen Rechtssoziologie und Rechtsmetaphysik notwendig. Wie man jedoch aus den angeführten Auffassungen sehen kann, erweist sich der Ansatz E. Fechners auf konzeptioneller Ebene als innerlich widersprüchlich. Denn indem der Autor auf der Dynamik des Rechts, auf seiner Verwirklichung ausschließlich durch mensch‐ liche Beteiligung besteht, setzt er den Akzent auf die postmetaphy‐ sischen rechtlichen Postulate und lehnt die metaphysische Voraus‐ setzung des absoluten Sein-Sollens des Rechts ab. Gleichzeitig stößt E. Fechner auf Schwierigkeiten bei der adäquaten konzeptionellen Gestaltung seiner Ideen, spricht von „Naturrecht“ mit werdendem Inhalt sowie von der „Metaphysik des Rechts“. Deshalb, wie der bekannter deutsche Rechtswissenschaftler E. von Hippel behaup‐ tet, Autor einer der Rezensionen zu E. Fechners „Rechtsphilosophie . . . “, „es handelt sich hier um einen Versuch und in gewissem Sinne auch um ein Bekenntnis. Denn Fechners Buch ist, unbeschadet aller Gelehrsamkeit, in hohem Maße persönlich.“ 395 Wie der Rezensent bemerkt, bekommen die Freiheit und Autonomie in Fechners Buch objektiven Charakter. Denn die Objektivität des Rechts ist in höhe‐ rem Maße die abstrakte, im Bewusstsein wurzelnde Idee. Fechner‐ sche Versuche, das Recht in der Seinsordnung zu begründen, ver‐ leiten sie ihrerseits zum Naturalismus. So kann, laut E. von Hippel, der von Fechner erreichte Standpunkt nur als eine Übergangsstufe zur Objektivität des Rechts betrachtet werden. 396 Der Freiburger Rechtswissenschaftler Thomas Würtenberger ist nicht so kritisch: „Wer im weiten Felde der rechtsphilosophischen Forschung sich orientieren will, kann daraus reichen Gewinn zeich‐ nen. Verdienstvoll ist auch, mit welcher Selbstständigkeit Fechner 394 Op.cit. S. 292. 395 Hippel v. E. Rechtsphilosophie von Erich Fechner. JuristenZeitung. 13 Jahrg. Nr. 16 (15. August 1958), S. 518–519. 396 Ibid.
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sich nicht nur mit neuesten Erkenntnissen der Philosophie unse‐ rer Zeit, sondern auch mit den Ergebnissen zahlreicher, für die Rechtsphilosophie grundlegender Einzelwissenschaften wie Sozio‐ logie, Psychologie usw. auseinandersetzt.“ 397 Und ferner: „Fechners Ansatz führt hier teils hier über die existenzphilosophischen Bemü‐ hungen Welzels, Maihofers, Thyssens u. a. hinaus . . . .“ 398 Zugleich erkennt T. Würtenberger an, dass die von E. Fechner ge‐ stellten Fragen sehr bedeutsam sind und deren Weiterentwicklung zu einer tieferen Einsicht in das Sein des Rechts führen kann. „Hebt Fechner auf die in Zukunft wirkende «existenzielle Entscheidung» des Menschen im Recht ab, so lassen sich daraus jedoch kaum Maß‐ stäbe für das menschliche Rechtshandeln gewinnen.“ 399 So kann die von E. Fechner entworfene Konzeption eines „werdenden Na‐ turrechts“ den Kern jedes echten Naturrechts umgehen, – der ver‐ bindliche Maßstab für die Rechtsentscheidung des Menschen. „Ein «existenzielles» Naturrecht müßte daher auf einem anderen Boden erarbeitet werden. . . “ 400, z. B. aus der geschichtlichen Situation. So verdient auch der Versuch, das Wesen des Rechts als «Teilordnung des Seins» zu erfassen, Beachtung, doch dieser Versuch nur ver‐ stärkt den Zweifel, ob die Unterscheidung zwischen Sein überhaupt und Dasein (Seiendes) für das Rechtsdenken fruchtbar ist. 401 Jedoch kritisiert der berühmte niederländische Rechtsphilosoph W. Luijpen auch die Gegner von E. Fechner (A. Hartmann, H. J. Hommes), welche behaupten, dass, wenn es keine vorgegebenen Normen gibt und wenn die Entscheidungen, in denen das Rechts‐ system wurzelt, in der Freiheit des Menschen liegen, dann die Ent‐ scheidungen und folglich das Rechtssystem der Willkür des Men‐ schen ausgeliefert und der Gebrauch des Terminus “Naturrecht” nicht legitim ist. 402 Laut W. Luijpen verstehen die Kritiker E. Fech‐
397 Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts von Erich Fechner. Review by: T. Würtenberger. Archiv für die civilistische Praxis, 156 Bd., H. 4. (1958), S. 350. 398 Ibid. 399 Ibid. 400 Op.cit. S. 351. 401 Ibid. 402 Luijpen W. Phänomenologie des Naturrechts. – Haag: Martinus Nijhoff, 1973. – S. 221.
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ners nicht die existentielle Konzeption der Wahrheit selbst, in wel‐ cher dieser seine Rechtsphilosophie begründet. Der Existentialis‐ mus verweist auf keine Werte und abstrakten Normen, welche “an sich” existieren. Dagegen ist im existential-ontologischen Verständ‐ nis die Wahrheit als Ereignis von Unverborgenheit möglich, wenn das Subjekt-als-Cogito existiert hat. 403 So bedeutet die Verneinung des positiven Gesetzes für E. Fechner keine Herrschaft der Willkür, sondern die Verneinung der harten Kausaldetermination des menschlichen Verhaltens durch die Ge‐ setzgebung. 404 Dem an den Menschen gerichteten Willen des Ge‐ setzgebers muss eine freie Entscheidung des Menschen selbst, seine „Mitbeteiligung am Gesetz“ entsprechen. Nur in diesem Fall findet Gesetz und kein Diktat desjenigen statt, der die Regeln herausgibt. Aber die freie Entscheidung ist keine menschliche Willkür, sondern gründet in dem Maß, kraft dessen der Mensch er selbst bleibt. Des‐ halb, so schließt V. Luijpen, werden diejenigen, welche die Wahrheit des Rechts als eine bestimmte Wahrheit-der-Norm-in-sich versteht, E. Fechner nie verstehen. Eine ausreichende Reflektion der Ideen der «Rechtsphiloso‐ phie. . . » E. Fechners setzt also, wie sich zeigt, gründliche Kenntnis der Philosophie M. Heideggers, K. Jaspers und J.-P. Sartres voraus. Kritiker laufen ansonsten der Gefahr entgegen, in die Konstruktio‐ nen des Tübinger Rechtswissenschaftlers einen seiner Intention gegenüber fremdartigen Sinn hineinzulesen. Mit einer Zusam‐ menfassung der Ideen von E. Fechner und einer Untersuchung des Standpunkts der existentiellen Analytik ist festzuhalten, dass er einige Probleme brillant löst, zugleich aber eine Reihe anderer zum Leben erweckt. Zu diesen gehört zweifellos das grundlegende ontologische Problem hinsichtlich der Seinsart des Rechts. Wie ersichtlich wird, erwähnt E. Fechner Recht im dreifachen Sinne: Positives Recht, welchem die Seinsart des Hilfsmittels und zugleich in Analogie die Seinsart der Sprache innewohnt, das Existenzrecht als die Seinsart des Menschen, die der bestimmten Situation ad‐ äquat ist, und schließlich Recht als „Teil der Ordnung des Teils der Ordnung“. Diese Rechtsauslegung hinterlässt jedoch eine Reihe strittiger Momente ohne explizite Antwort. 403 Op.cit. S. 224. 404 Op.cit. S. 225.
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Erstens ist es aufgrund der von E. Fechner vertretenen Position unmöglich zu verstehen, wie „Recht als Teil der Ordnung“ existiert: Ist es eine „objektive Ordnung“, die dem „Sein an sich“ innewohnt, in „Dingen“ existiert („metaphysische Antwort“), oder ist es eine Gesetzmäßigkeit, die von Menschen in die Welt „eingeführt“ wird und nur für ihn vorhanden ist („postmetaphysische Antwort“)? Zweitens setzt er die Seinsart des Rechts mit der Seinsart des Hilfsmittels gleich, gibt aber keine Antwort auf die Frage, wie sich definieren lässt wann solches Mittel „ungeeignet“ ist, wie etwa die Vorschrift, Beamte nichtarischer Herkunft zu entlassen (in Deutschland 1933 verabschiedetes Gesetz «Zur Wiederherstel‐ lung des Berufsbeamtentums»). Als “das Mittel, dessen Wesentliches darin besteht, vorzuschreiben“ erweisen sich sowohl die US-Verfas‐ sung als auch die Gesetze Nazi-Deutschlands. Auch der Hinweis des Philosophen auf die Analogie mit der Seinsart der Sprache ver‐ dunkelt das Wesentliche der Sache eher. Denn in „Sein und Zeit“, worauf sich E. Fechner bezieht, weist M. Heidegger darauf hin, dass sogar der Horizont dieser Frage verhüllt ist. 405 M. Heidegger klärt die Seinsart der Sprache auch nicht in dem anderen Werk, auf das sich E. Fechner bezieht („Brief über den Humanismus“), da der ab‐ genutzte Satz daraus („Sprache ist das Haus des Seins“) uns diesbe‐ züglich gar nichts sagt. Drittens, indem E. Fechner darauf hinweist, dass Naturrecht als „Recht mit werdendem Gehalt“ oder als «ehrliche äußerste Bemü‐ hung um adäquate Wirklichkeitsgestaltung» existiert, übersieht er, dass es solche „Gestaltung“ auch schon mindestens in Religion und Moral gibt. Deshalb wäre es sinnvoll, die Spezifik der Situation zu klären, die einer „rechtlichen“ Gestaltung bedarf, die eine spezifi‐ sche – „rechtliche“ – Seinsart vom Menschen fordert. Dementspre‐ chend würde die Seinsart des Rechts durch die existentielle Analytik der Seinsart des Menschen «im Recht» konkretisiert werden. 406 Somit lässt E. Fechner die zentrale Frage der Rechtsontologie, was Recht konkret ist und wie es existiert, ohne befriedigende Ant‐ 405 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 166. 406 Für eine ausführlichere Ausarbeitung der entsprechenden Problematik siehe: Стовба А. В. Правовая ситуация как исток бытия права. – Харьков: Диса+, 2006. – S. 79–87, 133u s.w [Stovba O.V. Law Situation as Origin of Law Being. – Kharkiv: Disa+, 2006].
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wort. Er betrachtet ausschließlich die „pünktliche“ Zeit, das „Hier und Jetzt“ der existentiellen Lösung, und verwurzelt dadurch Recht im Sein des Menschen (seiner freien Wahl), führt jedoch nicht die Zeit als Horizont der Verständlichkeit des Seins des Rechts im All‐ gemeinen in sein Blickfeld. So ließen sich alle Vorwürfe gegen E. Fechner bezüglich des „existentiellen Voluntarismus“ und der „Ab‐ straktheit“ seines Rechtsverständnisses vermeiden, indem man die Frage nach den ontologischen, d. h. Seinsgrundlagen des Rechts be‐ antwortet und die rechtliche Zeit als Horizont des Seinsverständ‐ nisses des Rechts expliziert. Indem er jedoch das Phänomen des Rechts zwischen „objektiver Ordnung“ und „freier Entscheidung“ (d. h. zwischen Metaphysik und Postmetaphysik) „festklemmt“, hat der Autor der „Rechtsphilosophie. . . “ eben nicht die ontologische Struktur des Rechts und seinen existentiellen Sinn in den Bereich der philosophischen Betrachtung eingeführt.
Paragraph 3. Der Rechtsexistentialismus in der Rechtsphilosophie von A. Kaufmann Der deutsche Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann (1923–2001) gilt neben E. Fechner als ein klassischer Denker des Rechtsexistentia‐ lismus. Da sein Schaffen sehr vielseitig ist (welches neben dem Existentialismus auch Phasen der Begeisterung für den Neukan‐ tianismus, die Hermeneutik und die Logik der Beziehungen um‐ fasst), 407 werden im Weiteren seine rechtsphilosophischen Thesen analysiert, die für den existentiell-rechtlichen Zusammenhang be‐ deutsam sind. A. Kaufmann hat seine Ansichten zu den existenti‐ 407 Für mehr Details über die Etappen der Schaffensbiografie von A. Kaufmann, siehe : Стовба А.В. Артур Кауфманн: в поисках «целого» права// Российский ежегодник теории права. – No 1.–2008. – S. 144–150; [Stovba O.V. Arthur Kaufmann: Searching “the Whole” Law//Russian Yearbook of Legal Theory. – No 1.–2008.] Стовба О.В. Фiлософiя права Артура Кауфмана: у пошуках «третього шляху» //Фiлософiя права i загальна теорiя права. – No 1.–2013. – S. 322–329; [Stovba O.V. Philosophy of Law of Ar‐ thur Kaufmann: “the Third Way”//Philosophy of Law and General Theory of Law. – No 1.–2013]. Стовба А.В. Жизнь и творчество Артура Кауфманна//Правоведение. – No 6.–2013. – S. 200–209 [Stovba O.V. Life and Way of Arthur Kaufmann//Legal Science. – No 6.–2013].
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ellen Grundlagen des Rechts in der Arbeit „Ontologische Struktur des Rechts“ (1962) dargelegt. 408 Im Folgenden ist in Kürze auf die wichtigsten Punkte dieses Werks einzugehen. Das Problem der ontologischen, also der existentiellen Struktur des Rechts, wurde bekanntlich durch zwei Voraussetzungen mög‐ lich. Der erste, «praktische» Anstoß für diese Position war die Hit‐ lerdiktatur, als mit Hilfe des rechtlichen Seienden – Gesetze, Ge‐ richte, Juristen – Unrecht geschehen ist. Dabei wurde offensicht‐ lich, dass das Vorhandensein des rechtlichen Seienden noch keine Garantie für Recht ist. Im Gegenteil, sie kann sich als Verkörperung von Willkür erweisen. 409 Dabei konnten die «klassischen» Schulen des Rechtsverständnisses dem Positivismus nichts entgegensetzen. So wurde beispielsweise die neukantianische Wertlehre durch den Ersten Weltkrieg erschüttert, als die Kluft zwischen «philosophi‐ scher» Axiologie und «realer» Ontologie die Hoffnungen von H. Rickert und W. Windelband auf die Restaurierung von Kants Ideen verschluckt hat. Somit wurde Recht aus der «jenseitigen», transzen‐ dentalen (Wert-)Dimension «verdrängt». Gleichzeitig wurde jedoch klar, dass die Lokalisierung des Rechts ganz im «diesseitigen», em‐ pirischen, positiv-rechtlichen ontologischen Bereich mit dem Ver‐ lust des Wesens des Rechts behaftet ist, welches von der «nackten» Rechtsform, der positiven Existenz von Recht in Form behördlicher Vorschriften, verschlungen wurde. Die zweite, sogenannte «theoretische» Voraussetzung für das Problem der Seinsstruktur des Rechts war die von M. Heidegger eingeführte ontologische Differenz von Sein und Seiendem. Wenn in der klassischen Ontologie Sein eins der Attribute des Seienden ist, so bedingt Sein in der Fundamentalontologie von M. Heidegger dagegen nur Seiendes als Seiendes. Dementsprechend erzeugt nicht rechtliches Seiendes rechtliches Sein, sondern Seiendes kann im Ge‐
408 Kaufmann A. Die Ontologische Struktur des Rechts//Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 470–508. 409 Für weitere Details zur ontologischen Differenz im Recht siehe: Стовба А. В. О перемене сущности или «что есть» право в эпоху постметафизики // Правоведение. 2008. No 1. S. 157–164. [Stovba A.V. About The Change of Es‐ sence or “What is” Law at the Post-metaphysics Age//Legal Science. – No 1.– 2008].
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genteil «wahrhaft rechtlich» nur in einer besonderen – rechtlichen – Seinsart werden. Der französische Existentialist J.-P. Sartre modifi‐ zierte die ontologische Differenz und deutete darauf hin, dass sie in Bezug auf den Menschen als die Differenz zwischen der Essenz und ihrer vorausgehenden Existenz interpretiert werden sollte. 410 Von diesen Prämissen, eindeutig von der ersten und unschein‐ barer von der zweiten ausgehend formuliert A. Kaufmann die Hauptfrage seines Werks: “Welche Wesensform, welche ontologi‐ sche Struktur, welche Seinsverfassung hat diejenige Seiendheit, die wir Recht nennen?” 411 Der deutsche Philosoph versteht Recht als das Seiende. Aber was für ein Seiendes? Schließlich gibt es unüber‐ schaubar viele Definitionen des Rechts. Recht ist sowohl Gesetz als auch die Idee von Recht, wie auch Brauch und vieles mehr. Des‐ halb reduziert A. Kaufmann die ganze Vielfalt der Definitionen auf die seiner Ansicht nach ursprüngliche Dichotomie: des natürlichen und des positiven Rechts. Dabei werden sowohl der Positivismus als auch die Naturrechtstheorie kritisiert. Für die adäquate Fragestellung nach der ontologischen Struktur des Rechts bedient sich A. Kaufmann an der erwähnten Modifika‐ tion der ontologischen Differenz Heideggers, bei welcher J.-P. Sartre statt der Differenz von «Sein und Seiendem» das Paar «Essenz und Existenz» einführt. Laut A. Kaufmann betonen die Positivisten sehr einseitig die existentielle Seite des Rechts, die Positivität, wenn das Dasein des Rechts sein Wesen determiniert. Die Naturrechtslehre betont dagegen nur das rechtliche Wesen, wodurch die Frage nach den Seinsarten dieses Wesens ohne Antwort bleibt. 412 A. Kaufmann versucht diese Gegensätzlichkeit zu überwinden und betont: „Erst die Doppelheit von Rechtswesenheit und Rechtsexistenz, von Na‐ turrechtlichkeit und Positivität, macht die realontologische Struktur des Rechts aus.“ 413 Deshalb kann seine eigene Position am genaues‐
410 Сартр Ж.-П. Экзистенциализм – это гуманизм // Сумерки богов. – М.: изд-во политической лит-ры, 1989. – S. 319–345 [Sartre, J.-P. L’existentialisme est un humanisme]. 411 Kaufmann A. Die Ontologische Struktur des Rechts//Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 470. 412 Op.cit. S. 474–475. 413 Op.cit. S. 477–478.
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ten als «rechtlicher Dualismus» bezeichnet werden:“[. . . ] Wesen und Positivität des Rechts [sind] nicht voneinander ablösbar. Sie verhal‐ ten sich zueinander wie Leib und Seele.” 414 A. Kaufmann ist sich als ehemaliger Richter ist jedoch bewusst, dass damit erst die halbe Sache getan ist. Denn allein die Tatsa‐ che, dass ein Rechtsgesetz verabschiedet wurde (d. h. die sogenannte „formale“ Einheit vom rechtlichen Seienden und positiver Existenz) bedeutet keine automatische Umsetzung dessen. Immerhin kann es sich auch als deklarativ erweisen, wodurch das ganze ontologische Pathos verschwindet. Deshalb ist, wie A. Kaufmann klarstellt, die Positivität des Rechts nicht so etwas wie eine Norm, in dem Sinne, „dass sie wie einem Subjekt gesetzt worden ist“. Die „Positivität des Rechts bedeutet ein solches Maß der Aktualisierung und Konkreti‐ sierung seines Wesens, dass es «justiziabel» ist, das heißt, dass wir es feststellen, handhaben, anwenden können“. 415 Somit existiert Recht für A. Kaufmann dann, wenn rechtliches Gesetz umgesetzt wird. Dies findet bei der Beilegung eines Streites statt: „Das Gesetz ist eine allgemeine Norm für eine Vielheit mög‐ licher Fälle, das Recht dagegen entscheidet eine wirkliche Situation im Hier und Jetzt.“ 416 Und weiter: „Das Recht ist kein Bestand an Normen, kein abstraktes Schema für das richtige Handeln, es ist vielmehr das rechte Handeln selbst und die rechte Entscheidung in der konkreten Situation.“ 417 Dabei steht der Philosoph unweigerlich vor dem Problem der Le‐ gitimation von sowohl Recht als auch Gesetz. Denn, indem es abge‐ lehnt wird, Recht und Gesetz gleichzusetzen, wird es unmöglich, das Recht durch die Autorität des Gesetzgebers zu rechtfertigen. Sowohl für das Gesetz als auch für die Entscheidung des Gesetzgebers sollte ein adäquates Bewertungskriterium gewählt werden. Und hier gerät A. Kaufmann in eine Art „philosophisch-rechtlichen Wirbelsturm“, der Recht und Gesetz ergreift und sie, wie Paolo und Francesca in Dantes Hölle, aufzuwirbeln beginnt, aber gleichzeitig ihre Vereini‐ gung verhindert. Zunächst weist Kaufmann auf Folgendes hin: Das Recht „wurzelt in der natürlichen Ordnung der Dinge. Es kommt 414 415 416 417
Op.cit. S. 483. Op.cit. S. 482. Op.cit. S. 503. Op.cit. S. 504.
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nicht aus dem Willen einer Autorität, sondern es ist ursprünglich seinshaft. Dass mit dem Sein zugleich auch das Recht gegeben ist, ist der älteste Gedanke des Abendlandes, den wir besitzen. . . Wer das Sein denkt, denkt auch das Recht.“ 418 Durch solche Erklärung, die im Geiste der Antike das Recht in der Ordnung der Dinge verwurzelt, wird jedoch das ganze Pathos der behaupteten Überwindung der Dichotomie von Naturrecht und positivem Recht zerstört. Deshalb äußert A. Kaufmann einen selt‐ samen, aber keineswegs zufälligen Vorbehalt: „alles Recht hat das Gesetz zur Voraussetzung. Es kann keine Rechtsentscheidung geben ohne eine Norm, ohne einen Maßstab des Richtigen. Ontologisch hat das Recht den Vorrang, logisch ist dagegen das Gesetz das Pri‐ märe. 419 Der deutsche Rechtswissenschaftler versucht das Paradox zu lö‐ sen: Einerseits geht Recht als die gewisse natürliche Ordnung der Dinge dem Gesetz voraus; andererseits beinhaltet die natürliche Ordnung der Dinge vieles, was nichts mit Recht gemeinsam hat (z. B. Rache als natürliche Reaktion auf die angerichteten Schäden). In einer natürlichen Situation hat jeder «seine» Wahrheit, «sein» Recht. Deswegen bleibt A. Kaufmann nichts anderes übrig, als Recht durch Gesetz zu vermitteln, welches die primären Kriterien für das Begreifen der Natur der Dinge bei der Suche nach der richtigen Lösung der Situation logisch setzen würde. Diese Lücke zwischen Logik und Ontologie versucht er mit Axiologie zu füllen und weist darauf hin, dass “. . . die staatliche Gesetzgebung schon auf gewissen Grundwertentscheidungen beruht, die der Gesetzgeber selbst nicht trifft, sondern als gegeben hinnimmt.” 420 Also, das Gesetz muss gerecht und moralisch sein. Das Recht, als die richtige Entscheidung in der konkreten Situation, entspricht der Natur die Sache. Besteht hier etwa nicht die Dichotomie von Sein (das Recht) und Sollen (das Gesetz)? 421
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Ibid. Op.cit. S. 505. Ibid. Eine ausgezeichnete Analyse des Problems der Anwendbarkeit des Gesetzes als „externes“, „schablonenhaftes“ Kriterium zur Bewertung des einzigartigen Inhalts einer bestimmten Situation, siehe.: Cohn G. Existentialism and Legal Science. – New York: 1967. – S. 4, 24, 28–29, 37 ff.
Paragraph 3. Der Rechtsexistentialismus von A. Kaufmann
Außerdem erzeugt Axiologie immer die Frage nach der ange‐ messenen Gnoseologie. Wenn, nach A. Kaufmann, der Gesetzgeber nicht die Moral und Gerechtigkeit begreift, die von den Kriterien der «Gesetzlichkeit» des Gesetzes vorausgesetzt werden, wie wer‐ den sie ihm dann bekannt, und zwar so, dass sie den Maßstab der Gesetzlichkeit ergeben? Der deutsche Philosoph zeigt selbst, dass “. . . eine gewisse gnoseologische Relativität hier sehr wohl einge‐ räumt werden muss.” 422 So kommt A. Kaufmann ausgehend von der ontologischen Struk‐ tur des Rechts, für ihn unmerklich, zur Axiologie. Denn das Sein des Rechts (das Treffen der richtigen Entscheidung in einer konkreten Situation unter Berücksichtigung der Natur der Dinge) ist nur auf der Grundlage des Gesetzes möglich, d. h., wie es aus der Sicht der Werte sein sollte, welche das Gesetz begründen. Er versucht, dieses «Aufhängen» des Rechts am Haken der Axiologie in seinem Sein dadurch zu überwinden, indem er Recht auf sich selbst abschließt. Auf den ersten Blick geschieht dies ganz im Geiste Hegels. „Der Werdegang des Rechts vollzieht sich damit in drei Stufen: die erste Stufe ist die Grundsatznorm (Naturgesetz, Prinzip), die zweite ist das positive Gesetz, die dritte Stufe ist die Entscheidung in der kon‐ kreten Situation.“ 423 Wie die nähere Betrachtung jedoch zeigt, um‐ fasst der Hegelsche Übergang von der abstrakten Idee zu ihrer kon‐ kreten Verkörperung keineswegs den gesamten Lösungsvorschlag des Münchner Rechtswissenschaftlers. Hier kommt dessen richter‐ liche Vergangenheit wieder zum Vorschein. So formuliert A. Kauf‐ mann: „Das Gericht ist der Ort, an dem das Recht in seiner Fülle existent wird. Aber freilich nicht nur das Gericht, denn was für die Rechtsprechung gilt, gilt analog für alle, die zu konkreten Rechts‐ entscheidungen berufen sind, etwa für die Tätigkeit des Staatsan‐ walts oder des Rechtsanwalts und weitgehend natürlich auch für die vollziehende Gewalt.“ 424 Somit versucht er die einseitige «Jenseitigkeit» des Naturrechts und dieselbe einseitige «Diesseitigkeit» des positiven Rechts zu 422 Kaufmann A. Die Ontologische Struktur des Rechts//Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 505. 423 Op.cit. S. 506. 424 Op.cit. S. 507.
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überwinden, indem er sie im Rahmen der gemeinsamen ontologi‐ schen Struktur vereint. Diese beinhaltet die Essenz des Rechts (Na‐ turrecht) und seine Existenz (positives Recht). Die reale Gemein‐ samkeit von Essenz und Existenz des Rechts, die ontologische Ein‐ heit seiner Struktur, wird durch die richtige Entscheidung einer Per‐ son in einer konkreten Situation erreicht. Es scheint jedoch, dass die von A. Kaufmann vorgeschlagene Lö‐ sung trotz ihrer Einfachheit und Eleganz nicht endgültig ist und nicht alle Fragen beantwortet. So macht eine seltsame Dualität auf sich aufmerksam: Der deutsche Rechtsphilosoph spricht in seinem gesamten Werk gleichzeitig von Recht als „der richtigen Entschei‐ dung“ und „der richtigen Lösung“ einer Situation sowie vom „rich‐ tigen Handeln“ in einer solchen Situation. Ob dies zufällig ist? Wer ist dann das Subjekt des Rechtsschaffens? Sind das an der Rechts‐ situation beteiligte Fachleute, 425 wie der Autor selbst am Ende des Werkes sagt, oder handelt es sich um einfache Bürger, die die Rechtssituation zwar nicht lösen können, aber darin die richtige Entscheidung treffen, richtig handeln können? Daraus ergibt sich folgende Frage: Wenn auch ein einfacher Mensch Subjekt des Rechtsschaffens sein kann, wie bezieht sich sein Handeln dann auf das positive Recht? Denn es ist kein Geheim‐ nis, dass die meisten Bürger sehr vage Vorstellungen von Gesetzes‐ inhalten haben, und sich mit ihrer gemeinen Vernunft abfinden, die es ihnen dennoch ermöglicht ohne Gesetzesverstöße zu han‐ deln. In diesem Fall zerfällt das ganze von A. Kaufmann gezeich‐ nete Schema der ontologischen Rechtsstruktur, indem das richtige Handeln oder die richtige Entscheidung ohne Berücksichtigung des positiven Rechts existiert, dessen Inhalt dem Handelnden unbe‐ kannt sein kann. Wenn zudem beide Beteiligten in der einfachs‐ ten Rechtssituation (z. B. Käufer und Verkäufer) richtig gehandelt haben (gegenseitige Verpflichtungen erfüllt haben), dann wird der Fall zwar überhaupt nicht vor Gericht gebracht, Recht wird aber nicht weniger voll verwirklicht. Schließlich stellt das Gericht nur das verletzte Recht wieder her, während es im gegebenen Beispiel überhaupt nicht verletzt wird. Es scheint, dass die folgende Hypothese dazu beitragen wird, auf dem Forschungsweg weiter voranzukommen. Was, wenn positives 425 Die sogenannten „Dritten“ in der Terminologie von P. Ricoeur.
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Recht nicht einen Bürger, sondern vor allem einen Beamten zum Adressaten hat, wenn es lediglich eine Anweisung des Gesetzgebers für den letzteren darstellt, im den Falle bestimmter (richtiger oder falscher) Handlungen anderer Personen? Das Verfassungsrecht auf Freizügigkeit bedeutet in diesem Fall nicht, dass der Staat der Per‐ son erlaubt, sich zu bewegen (beim Gehen nutze ich nur meine Füße und ich erfülle nicht die Disposition einer Norm, von der ich vielleicht nicht einmal weiß), sondern nur eine Anweisung an den Beamten, die Bürger dabei nicht zu behindern. Analog kann das Gesetz zur Steuerzahlung (von dem ich vielleicht nichts weiß) mich nicht direkt dazu verpflichten, sondern schreibt dem Finanz‐ inspektor nur vor, bei Nichtzahlung entsprechende Sanktionen ge‐ gen mich zu verhängen. Diesem Weg folgend ist der Schluss möglich, dass A. Kaufmann wie üblich im Rahmen des klassischen Konzepts des Mechanis‐ mus rechtlicher Regulation gedacht hat. Bekanntlich besteht diese darin, dass der Gesetzgeber, der gesellschaftliche Verhältnisse ratio‐ nal begreift, zur Notwendigkeit der Verabschiedung einer bestimm‐ ten Norm kommt, die von den entsprechenden Adressaten erfüllt (werden muss) und durch die Sanktion unterstützt wird. Daraus folgt, dass die Rechtsordnung und das in ihrem Rahmen vollzogene menschliche Handeln streng durch den Inhalt der Gesetzgebung bestimmt werden, die von den Menschen aufgrund rationaler Aner‐ kennung (der «höchste Typ» des Rechtsbewusstseins), Konformis‐ mus, («mittlerer Typ») oder Sanktionsangst («unterer Typ») geach‐ tet wird. Doch inwieweit entspricht dieses Schema der Realität? Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Der Gesetzgeber verordnet das Zufußge‐ hen und verbietet unter Androhung von Sanktionen das Stehen auf dem Kopf. Werden wir behaupten, dass das Gehen mit den Füßen und das nicht-auf-dem-Kopf-Stehen Ergebnis unseres Gehorsams gegenüber der Norm ist? Offensichtlich nicht. Aber ist die Sach‐ lage nicht auch die gleiche bei weniger kontrafaktischen Beispielen, etwa bei der Kriminalisierung von Mord, Diebstahl oder Vergewal‐ tigung? Würden denn die meisten Menschen natürlicherweise nicht Mord, Diebstahl und andere Straftaten vermeiden, schon allein we‐ gen der Verunmöglichung aus Gewissensgründen? Oder umgekehrt halten die strengen gesetzlichen Sanktionen für diese Verbrechen einige Menschen auch nicht davon ab, diese Normen zu verletzen.
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Deswegen scheint es angebrachter, hier nicht von der präskriptiven Regelung des Verhaltens eines Individuums zu sprechen, sondern von der Anweisung des Gesetzgebers an die Strafverfolgungsbehör‐ den bezüglich ihres Verhaltens bei Feststellung von Straftaten. Hier wäre der Einwand möglich, wonach das Gesetz der Moral entsprechen muss, an der sich die meisten Menschen orientieren, was den hohen Prozentsatz der Einhaltung der meisten gesetzli‐ chen Vorschriften erklären würde. Dabei wird jedoch übersehen, dass Moral als Kriterium für die Lösung von rechtlichen Fragen unweigerlich als zweischneidiges Schwert auftritt. Beispielsweise kann Rachemord aus bestimmter moralischer Sicht sowohl verur‐ teilt als auch gerechtfertigt werden. Ebenso ein Diebstahl, der vom bedürftigen Menschen begangen wird. Auch die Nichterfüllung der Verpflichtung wegen Geldmangels des Schuldners ist moralische Antinomie. Hingegen haben alle diese Fälle aus rechtlicher Sicht eine klare Lösung. Ein Beamter hat bei der Identifizierung solcher Fälle die Möglichkeit, die Täter zur Verantwortlichkeit heranzuzie‐ hen. Diese Möglichkeit nämlich, die auch nicht zur Realität werden kann, deutet eben darauf hin, dass der Prozess der Anwendung des positiven Rechts in jedem Einzelfall durch ihre Wahrscheinlichkeit und nicht Kausalität charakterisiert wird, wodurch die Rechtsord‐ nung nicht durch die Rechtsnormen streng definiert werden darf. 426 Somit kann A. Kaufmann die ontologische Struktur des Rechts nicht vollständig erfassen, da er Recht als Seiendes versteht und das rechtliche Sein dieses Seienden (des Rechts) ausklammert. Indem er das Sein des Rechts durch die Existenz der positiven Norm (Gesetz, Präzedenzfall etc.) vermittelt, relativiert er das Sein des Rechts und setzt dieses in die Abhängigkeit des Willens des Gesetzgebers, Rich‐ ters etc. Nach der Fragestellung hinsichtlich der Seinsstruktur des Rechts ist A. Kaufmann daher nicht in der Lage, das Sein des Rechts selbst zu erfassen und seine Spezifik aufzudecken, wodurch er para‐ doxerweise eine «Ontologie ohne Sein» erhält und sich nur auf Sei‐ endes beschränkt. Der Münchner Rechtswissenschaftler überwin‐ det die «Einseitigkeit» des Rechtspositivismus und der Naturrechts‐
426 Es sollte noch hinzugefügt werden, dass menschliches Handeln auch ohne des‐ sen tatsächliche Vermittlung durch das Gesetz rechtmäßig oder rechtswidrig (unrechtmäßig) sein können.
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schule, verfällt dafür aber in eine andere Einseitigkeit, deutet Recht gänzlich als Seiendes und lässt sein Sein unbeachtet. Es scheint, dass dies dadurch hätte vermieden werden können, wenn A. Kaufmann als Existentialist nicht bei Sartres Modifika‐ tion der ontologischen Differenz (zwischen Essenz und Existenz des Rechts als des Seienden) verharrt, sondern sich der Heideggerschen Version zugewandt hätte – der Differenz zwischen Sein und Seien‐ dem. Wie A. Kaufmann selbst konstatiert, „für alle Ontologie, zu‐ mal auch für die Rechtsontologie, ist die Differenz von Essenz und Existenz das Wesentliche, während die Differenz von Sein und Sei‐ endem nur insofern von Bedeutung ist, als sie den transzendenten Hintergrund des ontologischen Fragens aufleuchten lässt“. 427 Damit beraubte er sich der Möglichkeit, die auf sich genommene Aufgabe zu lösen: die des umfassenden Verständnisses der Seinsstruktur des Rechts, das nicht nur Recht als Seiendes, sondern auch dessen Sein umfasst.
Paragraph 4. Die Rechtsphilosophie von W. Maihofer Den Durchbruch zum Sein des Rechts sowie zum Sein des Men‐ schen im Recht versuchte ein Schüler von Erik Wolf, der deutsche Rechtsphilosoph Werner Maihofer, zu verwirklichen, welcher ohne Zweifel einer der größten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts ist. Grundlage für solch ausgesprochene Einschätzung ist vor al‐ lem sein verbreitetes Werk „Recht und Sein“, in dem er jene The‐ sen formuliert hat, welche jahrzehntelang richtungsweisend für die Entwicklung der deutschen Rechtsphilosophie waren. 428 Für das Niveau dieser Arbeit spricht zumindest, dass ihrem Autor weni‐ ger als ein Jahr später schon die Stelle des ordentlichen Profes‐ sors an der Universität des Saarlandes angeboten wurde, wo er bis Ende der 1960er Jahre tätig war. 429 Außerdem hält es fast je‐ 427 Kaufmann A. Die Ontologische Struktur des Rechts//Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 492. 428 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – 125 S. 429 Von 1960 bis 1969 – zusammen mit anderem herausragenden Vertretern des deutschen rechtsphilosophischen Denkens A. Kaufmann.
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der moderne Rechtswissenschaftler, der sich der Besinnung auf das Sein des Rechts zuwendet, für seine Pflicht, dieses Werk zu erwäh‐ nen. 430 Im Folgenden betrachten wir deswegen die wichtigsten The‐ sen von „Recht und Sein“, um die Entwicklung dieser Ideen in ande‐ ren Schlüsselwerken des deutschen Rechtswissenschaftlers weiter zu verfolgen. Danach soll die Kritik zu den Ansichten von W. Maiho‐ fer durch seine Zeitgenossen analysiert werden, um sich ein eigenes Urteil in Bezug auf seine Philosophie im Kontext der Reflektion der Frage nach dem Sein des Rechts zu bilden. Übergehend zur direkten Analyse von „Rechte und Sein“ ist anzu‐ merken, dass dieses Werk auf Basis gründlicher Kenntnis des zeit‐ genössischen philosophischen Denkens verfasst wurde. Das Werk enthält eine fundamentale kritische Analyse der philosophischen Positionen von J.-P. Sartre, K. Jaspers, M. Heidegger und E. Husserl. Bemerkenswert ist, dass die Betrachtung der Werke dieser Philoso‐ phen unter rechtlichem Blickwinkel erfolgt. Während diese Denker in der Geschichte des philosophischen Denkens traditionell als die sogenannten «reinen Philosophen» galten, analysiert W. Maihofer ihre Schriften bezüglich der Folgen für das Recht. Besonders spür‐ bar ist der Einfluss, den M. Heidegger auf den jungen deutschen Rechtswissenschaftler hatte. Dies lässt sich nicht nur aus dem Titel des Werkes („Recht und Sein“ – analog zu Heideggers Hauptwerk „Sein und Zeit“) ablesen, sondern auch aus einer Reihe anderer Momente. So wird die „Sein und Zeit“ vorangestellte Widmung an E. Husserl in Bezug auf den Lehrer des Autors – E. Wolf – prak‐ tisch wörtlich übernommen. Das kurze Vorwort von „Sein und Zeit“ 430 Von den Zeitgenossen von W. Mayhofer siehe z. B. Heinemann W. Die Rele‐ vanz der Philosophie Martin Heideggers für das Rechtsdenken. Freiburg im Breisgau, 1970; Kaufmann A. Ontologische Struktur des Rechts // Rechtsphilo‐ sophie im Wandel. Frankfurt am Main, 1972. S. 104–134; Marcic R. Rechtsphi‐ losophie. Eine Einführung. Freiburg, 1968. – Von den zeitgenössischen westli‐ chen Forschern siehe z. B. Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenolo‐ gie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2010; Minkkinen P. Thinking without Desire. Portland, 1999; Sprenger G. Über den Ort des Rechts in der Fundamentalon‐ tologie Martin Heideggers // Rechtsstaat und Menschenwürde / Festschrift für W. Maihofer zum 70. Geburtstag. Frankfurt am Main, 1988. S. 549–569; Tontti J. Right and Prejudice. Prolegomena to a Hermeneutical Philosophy of Law. Burlington, 2004. Also siehe: Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags. Berlin: BWV, 2010.–192 S.
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(über Zeit als Horizont der Seinsverständlichkeit) wird in einem ähnlichen Vorwort von „Recht und Sein“ (über existentielles AlsSein als das dem Sein des Selbst gleichursprüngliche) quasi wie‐ derholt. Der primäre Einfluss von M. Heidegger ist auch im Vo‐ kabular von „Recht und Sein“ zu spüren: Solche «Heideggerismen» wie „Dasein“ im Gegensatz zum bloß „Vorhandenen“, das „Man“, „In-der-Welt-Sein“, „Erschlossenheit“, „Grundverfassung“, „Seinss‐ truktur“ etc. durchziehen das gesamte Werk und schaffen eine Art sprachlichen Hintergrund und der Darlegungsweise. W. Maihofer selbst verbirgt den Einfluss von Heideggers Ideen offensichtlich nicht. So beginnt „Recht und Sein“ mit der Aufgaben‐ stellung in direktem Bezug zu „Sein und Zeit“: „Mit Martin Hei‐ deggers Schrift «Sein und Zeit» (1927) hat für die Philosophie ein neues Fragen begonnen. Für die Rechtsphilosophie folgte aus ihm die Aufgabe einer Auslegung auch des Rechts «auf die Grundver‐ fassung seines Seins»: die Ausbildung einer Ontologie des Seins‐ bereichs also, den Rechtswissenschaft wie Rechtsphilosophie zu ihrem Gegenstand hat.“ 431 Vorauseillend ist jedoch festzuhalten, dass W. Maihofer dieses Problem nicht endgültig löst. Das Werk „Recht und Sein“ blieb (er‐ neut in Analogie zu Heideggers großem Werk) unvollendet. Der deutsche Rechtswissenschaftler selbst sagt vorbehaltlich, dass sein Buch, wie aus dem vollen Titel folgt, nur Prolegomena zur Onto‐ logie des Rechts und nicht ihre vollständige systematische Ausle‐ gung sind. Wie bereits erwähnt, beginnt die Arbeit mit der allge‐ meinen Aufgabenstellung, der Auslegung des Rechts hin «auf die Grundverfassung seines Seins». Es wird also der Anspruch erhoben, bestimmtes Seiende – Recht – zu definieren, aber nicht durch den Bezug auf anderes Seiende, sondern durch die Explikation seiner Seinsstruktur, welche den rechtlichen Charakter von diesem oder jenem Seienden bedingt. Auf der Suche nach dem methodischen Fundament zur Errei‐ chung dieses Ziels wendet sich W. Maihofer an Heidegger, Sartre und Jaspers. Auf Grundlage der Analyse der Werke dieser Denker kommt der deutsche Rechtsphilosoph zum Schluss, dass das Recht nach deren Auffassung ausschließlich der Sphäre des «unwahren», 431 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 13.
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«durchschnittlichen», «massenhaften» Seins, des «Allgemeinseins» zuzuordnen sei, während es mit dem wahren Sein, der «Existenz» nichts zu tun habe. Bekanntlich ist der Sinn des menschlichen Seins nach der Philosophie des Existentialismus nicht universell: Jeder muss seinen eigenen Sinn im Übergang vom «unwahren » zum «wahren Sein» durch die Suche und Verwirklichung eines einzig‐ artigen «persönlichen Projekts» finden. 432 Zugleich sind die cha‐ rakteristischen Merkmale einer solchen Suche neben Einzigartig‐ keit auch Freiheit (der Wahl des persönlichen Projekts) und Ver‐ antwortung (zuletzt für die mögliche falsche Wahl). Dementspre‐ chend zwingt Recht, welches die Einzigartigkeit des Einzelnen ab‐ wertet und gemeinsame Regeln unabhängig individueller Merkmale für alle festlegt, den Menschen dazu, «wie alle» zu sein und gilt somit ausschließlich auf Ebene des sogenannten «sozialen Seins», das individuelle Unterschiede auslöscht. Am kürzesten lässt es sich in Paraphrasierung P. Ricoeurs wie folgt ausdrücken: Für das Recht bist du nicht «du», sondern «jeder». Doch für W. Maihofer ist die Verwurzelung des Rechts in der Sphäre des unwahren Seins keineswegs Axiom. Deswegen versucht er herauszufinden, ob Recht schon immer dieser Sphäre zugerech‐ net wurde. Die Hinweise auf die Grundlosigkeit der Identifizierung des Rechts mit dem unwahren Seinsmodus sieht er schon darin, dass Sartre (als auch Jaspers) eine existentialistische Wiederholung des kategorischen Imperativs gemacht hat, um sich von der Anklage im existentialen Voluntarismus zu schützen. 433 Aber „was dem Idealis‐ ten Kant recht war, ist dem Existentialisten Sartre noch lange nicht billig“, 434 weil der gleiche Ansatz der freien Wahl vom Selbstsein begrenzt ist. Die Implikationen des Kantianismus in den Thesen des Existentialismus weisen auf die Grundlosigkeit der Eliminierung des Rechtlichen aus der Sphäre des wahren Seins hin. Deutlichere Spuren vom Recht außerhalb des Bereichs des un‐ wahren Seins der «Menschen» finden sich bei M. Heidegger und 432 Für weitere Informationen zur Verwirklichung des persönlichen Projekts in Bezug auf Recht siehe: Стовба А. В. Правовая ситуация как исток бытия права. – Харьков: Диса+, 2006. – S. 81–87. [Stovba O.V. Law Situation as Origin of Law Being. – Kharkiv: Disa+, 2006]. 433 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 24–27. 434 Op.cit. S. 25.
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zwar dort, wo er Fragmente der Philosophie der Vorsokratiker in‐ terpretiert. Dies geschieht bereits während der Analyse des zwei‐ ten Fragments von Anaximander. 435 Das bei Anaximander vor‐ kommende Wort «Dike» übersetzt Heidegger mit «Fug» («Unfug» ist das Antonym zu diesem in demselben Spruch). Somit bedeu‐ tet dies nicht, obwohl Heidegger in seiner Übersetzung von vorn‐ herein jeden Bezug zur Welt des Rechtlichen verdrängt, dass Recht „von Natur aus“ keine Beziehung zum Sein hat (wie eine Gegen‐ überstellung der Interpretation desselben Fragments bei Erik Wolf zeigt). 436 Ähnlich verhält es sich mit der Auslegung anderer Sprü‐ che – von Parmenides, Heraklit oder Sophokles. Wie W. Maihofer unterstreicht, verschiebt Heidegger, wenn er bei all diesen Inter‐ pretationen überall Dike als „Fug“ deutet, die Rechtsbedeutungen dieses Wortes. 437 Wie W. Maihofer schließt, stehen wir somit vor einem Di‐ lemma:Einerseits gehört Recht nach den Existentialisten zur Sphäre des unwahren Seins, andererseits weist die Auslegung der Frag‐ mente der Vorsokratiker auf die ursprüngliche Verbindung zwi‐ schen Sein und „Dike“ hin. Wie es scheint findet sich ein Ausweg in Folgendem: „Menschliche Existenz ist hier wesenhaft soziale Exis‐ tenz. Im Sein als πολίτης, im sozialen Mitsein mit anderen, existiert hier der Mensch. . . Erst als πολίτης, in seiner sozialen «Mitwelt» ist der Mensch «im Recht», hat er die Möglichkeit der Sinnerfüllung wie auch der Verfehlung eigentlichen Daseins.“ 438 Aber was ist diese «soziale Eigentlichkeit»? Laut W. Maihofer geht es bei diesem Im-Recht-Sein nicht um „die individuale Eigenheit des Selbstseins, sondern um die soziale Eigentlichkeit des Seins als Bruder, Sohn, Gast oder Gastfreund. Als dieser unterliegt er dem Anspruch und geschieht ihm der Zuspruch des Rechts.“ 439 Soziale Eigentlichkeit bedeutet nicht das individuelle und einzigartige Sein
435 Siehe das den Vorsokratikern gewidmete Kapitel dieses Werkes sowie die Vor‐ lesungsreihe von M. Heidegger: Heidegger M. Der Spruch des Anaximander. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2010. – S. 351. 436 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 29. 437 Op.cit. S. 30. 438 Op.cit. S. 31. 439 Ibid.
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eines Subjekts, sondern das Sein des «echten» Vaters, Bruders, Rich‐ ters, Käufers usw. Das Maß für die Eigentlichkeit dieses Seins wird es sein, wie vollständig der Mensch das verwirklicht, was er in einer bestimmten Situation im Wesentlichen ist. “Überall weist das [«The‐ mis existiert», Übersetzung O.S.] auf das, «was dem Menschen un‐ umstößlich, unveränderlich, unverletzbar gefügt ist», als Mann oder Weib, König oder Sklave, der er ist . . . .Nicht anders ist es bei der δίκη, verstanden als der aus diesem Verfügtsein folgende «konkrete Anspruch» auf das Verhalten eines andern, und notfalls Zuspruch dessen durch Rechtsspruch, worauf so ein Anrecht besteht.” 440 Aus dem Gesagten folgen eine Reihe wichtiger Thesen. Erstens setzt W. Maihofer den Akzent darauf, dass unser Sein ursprünglich ein Sein-mit-Anderen 441 ist, aber nicht «im Allgemeinen», sondern immer ein konkretes Alssein: als Freund, als Käufer, als Bürger usw. Zweitens kann der Mensch aufgrund der Natur eines solchen Status mit anderen in der Öffentlichkeit wahrhaft koexistieren, nur indem er vollständig verwirklicht, was er jedes Mal ist, ein «wahrer Vater», «ein eigentlicher Rechtsanwalt» usw. Dabei werden die Kriterien für solche Eigentlichkeit nicht durch den Willen des Menschen festge‐ legt, sondern aus dem Alssein heraus: Sein-als-Vater, -Sohn, -Nach‐ bar usw. Drittens ist der Umfang der Rechtsbefugnisse, die jedem von uns im entsprechenden Alssein zustehen, (Arzt, Mieter, Kind usw.), nicht ursprünglich gesetzlich festgelegt. An die Stelle der po‐ sitiven Norm tritt selbst die «Natur» des bestimmten Status: Wie man sich verhalten soll, um «eigentlich» zu sein (Arzt, Mieter usw. – «eigentlich» heilen, Miete zahlen). Dabei muss klargestellt werden, dass, wenn in „Recht und Sein“ von der «Natur des Status» gesprochen wird, dies nicht eine be‐ stimmte «soziale Rolle» oder «Maske» eines Menschen bedeutet, die sein «eigentliches Antlitz» verbirgt. Der Autor von „Recht und Sein“ stimmt in dieser Hinsicht nicht mit E. Fechner überein, der die Soziologie als notwendigen Teil der Rechtsphilosophie sieht. W. Maihofer behauptet hingegen, dass es sich hier um den vom Men‐ schen eingenommenen «Platz» handelt, durch dessen Einnahme be‐ stimmte Anforderungen an den Menschen gerichtet sind. Dabei ist 440 Op.cit. S. 32. 441 Auch diese These geht zurück auf Heideggers Existential des Mitseins. Heideg‐ ger M. Sein und Zeit. S. 117–120.
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solcher «Ort» nur in Verbindung mit der ganzen Gesamtheit mög‐ licher «Plätze» gegeben, die ein Mensch in der Gesellschaft ein‐ nehmen kann. So ist der «Platz» des Verkäufers nur bei Gegeben‐ heit der entsprechenden «Platzverfügbarkeit» des Käufers verfüg‐ bar, der Platz des «Rechtsanwalts» nur bei Platzverfügbarkeit des «Gerichts», «Staatsanwalts», «Beklagten» usw. Bei diesem Ansatz weist „Alssein“ selbst nicht nur auf die «Seinsart eines bestimm‐ ten Individuums» hin, sondern auf den Horizont des Daseins als Mitseins, in welchem die gesamte entsprechende Welt des gesell‐ schaftlichen Seins impliziert ist, welcher als eine Auffächerung je‐ ner möglichen Plätze expliziert wird, die wir in dieser Koexistenz besetzen können. Somit, wie W. Maihofer schließt, gehört für die Existenzphilo‐ sophie Recht nur deshalb zum Bereich des uneigentlichen Seins, weil das menschliche Sein für solche Philosophie vor allem Sein des Selbst ist, während die Ursprünglichkeit des Seins-mit-Anderen, des Alsseins, übersehen wird. Deswegen hält er es weiterhin für not‐ wendig, die ontologischen Strukturen dieser Philosophie kritisch zu untersuchen, um den wahren Ort des Seins des Rechts zu ersehen. Vor allem sollte selbst die Frage nach dem Sein des Rechts „legi‐ timiert“ werden. Denn traditionell wurde Recht nicht ontologisch verstanden, sondern deontologisch, als gewisses Sollen, das vor‐ schreibt, wie Sein sein soll. Dabei ist die Frage keineswegs «theo‐ retisch»; „und doch kann es geschehen, dass wir aus der beruhigten Sicherheit dieses gewohnten alltäglichen Umgehens mit der Wirk‐ lichkeit des Rechts irgendwann einmal herausfallen im Gerichtssaal, im Gefängnis, in der Amtsstube des Notars, und uns die Frage an‐ fällt: Was soll das alles?“ 442 Oftmals bedeutet ein solches «Heraus‐ fallen» Abwesenheit des Rechts. Schließlich werden Rechtsinstitute meist dann eingeschaltet, wenn der «Rechtsmangel» offensichtlich wird, um welchen aufzufüllen sie auch aufgerufen sind. 443 Deshalb
442 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. –S. 38. 443 Für weitere Details siehe: Стовба А. В. Правовая ситуация как исток бытия права. S. 83 ff. [Stovba O.V. Law Situation as Origin of Law Being. – Khar‐ kiv: Disa+, 2006], sowohl W. Maihofer selbst, der in seinen anderen Werken als Quelle des Rechts Eris (Zwietracht) und Polemos (Kampf) sieht; siehe den diesbezüglichen Paragraphen weiter unten.
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hält es W. Maihofer für richtig, zu fragen: „Warum ist überhaupt Rechtliches und nicht vielmehr nichts?“ 444 Diese Frage berührt zu‐ allererst uns selbst, die Fragenden in unserem Sein-mit-Anderen, als Frage nach dem Sinn und der Grundlage solchen Seins. Da‐ bei wird Recht vom «transzendentalen Sollen» zur Konstante, der notwendigen Bedingung unseres Seins als Sein-mit-Anderen, und die entsprechende Fragestellung wird nicht «zu einer für die Praxis unbrauchbaren bloßen Theorie», sondern zu einer ontologisch be‐ dingten Seinsart-als-Rechtswissenschaftler. 445 So “stellt sich unsere «Grundfrage» auch als eine ganz « praktische», unmittelbar zu unserem alltäglichen Im-Recht-Sein, sei es als «Rechtslaien» oder «Juristen» in Bezug gesetzt: als die Frage philosophischer Erhellung unseres alltäglichen Seins im Recht.” 446 Und hier folgt der deutsche Rechtsphilosoph dem onto‐ logisch-fundamentalen Gedanken von M. Heidegger. Im Gegensatz zu Existentialisten, die sich dem Recht auf ihrer Suche nach dem eigentlichen Sein des Menschen – der Existenz – zuwenden, ist für W. Maihofer “die philosophische Klärung unseres Seins im Recht“ kein Selbstzweck. Wie M. Heidegger, für den die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Seins nur die Grundlage für die Problemstellung des Sinns des Seins im Ganzen war, klärt W. Maihofer menschliches Sein im Recht, um die Grundlage für das Erreichen des im „Recht und Sein“ angekündigten Ziels zu legen, und nämlich die Interpretation des Rechts aus der Grundverfassung seines Seins. Selbst solche Fragestellung und die Suche nach einer Antwort darauf ist keine abstrakte theoretische «Kabinetttätigkeit» des Wissenschaftlers, sondern die Seinsart des Fragestellers selbst, für welchen es notwendig ist, um Recht zu begreifen, vorher sein eigenes Sein zu überdenken.
444 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 38. 445 Wie W. Maihofer selbst ironisch bemerkt: „Schon immer geht die Rede, dass Rechtsphilosophie den «guten» Juristen verderbe, dass sie ihm seine Unbe‐ kümmertheit und Sicherheit zerschlage und die Selbstgefälligkeit seiner an‐ gelernten handwerklichen Praktiken mit «Skrupeln» und «unnützen» Beden‐ ken belaste; ihm ein «schlechtes Gewissen» zu seinem Berufe schaffe.“ (Op.cit. S. 40). 446 Op.cit. S. 41.
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W. Maihofer versucht das Problem des Seins des Rechts aus der von M. Heidegger eingeführten ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem zu reflektieren. Bekanntlich wurde Sein in der sogenannten «traditionellen Ontologie» entweder als Sammelbe‐ zeichnung für die ganze Gesamtheit des Seienden oder als sein Attribut gedacht. Heidegger dagegen weist darauf hin, dass nur Sein Seiendes als Seiendes bedingt, aber selbst nicht Seiendes ist. 447 Dementsprechend wird Sein von einem Attribut oder einem leeren Titel, um ein Seiendes zu bezeichnen, zur Bedingung seiner Mög‐ lichkeit. 448 So bedeutet also nach dem Sein des Rechts zu fragen für W. Maihofer: Warum überhaupt ist das Recht, was es ist? 449 Und hier sieht der deutsche Rechtswissenschaftler keine Mög‐ lichkeit, im Kontext M. Heideggers weiter zu fragen, Recht mit dem Sein im Allgemeinen zu verbinden, und geht methodisch von der Heideggerschen auf die Phänomenologie des Bewusstseins von E. Husserl zurück. Er sieht bei Heidegger keine ontologischen Grund‐ lagen, welche den «rechtlichen Charakter» dieses oder jenes Seien‐ den begründen könnten, und wendet sich E. Husserls Lehre über die «regionalen Ontologien» (womit er seinen Versuchen der „Interpre‐ tation von Recht aus der Grundverfassung seines Seins“ eigentlich ein Ende setzt). Wie W. Maihofer sagt, versteht er unter dem Recht ein gewisses Seiendes. Nach ihm die Rechtsontologie „Lehre des Seins eines be‐ stimmten Seinsbereiches des innerweltlich antreffbaren Seienden: des Bereichs des Rechtlichen in dieser Welt. Damit ist sie regionale Ontologie.“ 450 Der Begriff „regionale Ontologie“ wurde bekannt‐ lich erstmals vom Begründer der Phänomenologie E. Husserl in den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ eingeführt. In dieser Arbeit wird die systematische Lehre über Phänomene entwickelt. Dabei wird das Phänomen nicht mit der Kantischen «Erscheinung, die im Laufe der sinnlichen Er‐ kenntnis gegeben und in diesem Sinne dem im Laufe der intellektu‐ 447 Heidegger M. Sein und Zeit / Martin Heidegger. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 7. 448 Op.cit. S. 6, 42 ff. 449 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 50–51. 450 Op.cit. S. 53.
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ellen Betrachtung erfassten Noumenon entgegengesetzt ist» gleich‐ gesetzt. Phänomen ist etwas, das ausschließlich zum reduzierten Bewusstsein gehört. Der Sinn der Reduktion nach Husserl besteht darin, die Realität der umgebenden Welt als solche «einzuklam‐ mern», wodurch im «phänomenologischen Rest» ein ganz neuer ontologischer Bereich bleibt – der Sinn-Bereich. Der Sinn «ist» im Gegensatz zum Seienden nicht; er gilt. Reduktion bedeutet somit nicht, die Existenz der umgebenden Welt zu leugnen oder an ihrer Existenz zu zweifeln, wie im Solipsismus oder Skeptizismus. Es ist ein rein methodologischer Schritt, der es uns ermöglicht, von den in der konkreten Wahrnehmung gegebenen Phänomenen zu abstra‐ hieren, um dadurch das «Eidos» zu offenbaren, den reinen Sinn des in der Betrachtung Gegebenen, aufgrund dessen wir den «Gegen‐ stand» nicht nur als «gegebenen Gegenstand» wahrnehmen können, sondern als «Gegenstand als solchen», wobei die «Solchheit» des Gegenstandes das Ergebnis der eidetischen Verfasstheit ist. Als Er‐ gebnis der vorgenommenen Reduktion offenbart sich uns eine be‐ sondere «Welt des Eidos», als Sinn-Hierarchie, die im Zuge konkre‐ ter Bewusstseinsakte auf individuelles Seiende «aufgeworfen» wird. Somit kann nach E. Husserl die Frage, wie mir ein bestimmtes Phänomen als rechtlich gegeben wird, nur im Zuge der Reduktion beantwortet werden, die die gesamte Menge der empirischen recht‐ lichen Erscheinungen auf das jeweils zugrundeliegende korrespon‐ dierende Eidos zurückführt. Dabei, wie W. Maihofer betont, muss man die aktuelle Intentio‐ nalität 451 (den Ich-Blick auf Etwas haben) und potentielle Intentio‐
451 Intentionalität ist nach den „Logischen Untersuchungen“ von E. Husserl „die Eigenschaft des Bewusstseins, immer schon auf etwas gerichtet zu sein“. Es handelt sich also nicht darum, dass Bewusstsein „am Anfang“ die Intention wie einen „Strahl“ ausstrahlt, der „in Folgendem“ gar “etwas“ aus der Dun‐ kelheit aufschnappt. Da Bewusstsein und sein intentionales Objekt eigentich Korrelate sind, existiert alles oben Beschriebene gleichzeitig. In diesem Fall ist das intentionale Objekt nichts anderes als Sinn und keineswegs „ein Objekt der materiellen Welt“. Die wirklichen Schwierigkeiten der Husserlschen Phi‐ losophie beginnen mit Versuchen, zu erklären, wie dieser bewusstseinsimma‐ nente Sinn in die „Sache selbst“ hinein „implantiert“ wird, der Durchbruch zu welchem das Motto der Phänomenologie ist. Siehe E. Husserls Erklärungsver‐ suche in: Гуссерль Э. Идеи к чистой феноменологии и феноменологической философии. – М.: Дом интеллектуальной книги, 1999. – S. 27–28
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nalität (die Möglichkeit, Erlebnisse einer bestimmten Art überhaupt zu haben) unterscheiden. 452 Dazu E. Husserl: „Jede konkrete em‐ pirische Gegenständlichkeit mit allen materiellen Entitäten unter‐ steht der entsprechenden höchsten materiellen Gattung, der Region der empirischen Gegenstände. Dann entspricht dem reinen Wesen des Bereichs die eidetische Wissenschaft der Region oder die On‐ tologie der Region. Das regionale Eidos repräsentiert die notwen‐ dige materielle Form aller Gegenstände in der Region». 453 Somit versucht W. Maihofer mit Hilfe der regionalen Ontologie von E. Husserl die Frage zu beantworten: Wie ist es möglich, dass ich ein bestimmtes Phänomen, das dem Gebiet des Rechtlichen zugeordnet wird, wahrnehme? Die Antwort lautet: aufgrund der konstitutiven Aktivität des Bewusstseins. In der Erkenntnis, dass die Phänome‐ nologie im Bereich des Bewusstseins (wenngleich des reduzierten) operiert, muss W. Maihofer, um den Verdacht des transzenden‐ talen Subjektivismus abzuschütteln, erneut den methodologischen «Kniff» zu M. Heidegger machen. Er versucht, die regionale On‐ tologie mit der «apriorischen Logik der Dinge» zu kreuzen. Dafür wird die folgende Operation durchgeführt. Einerseits erleben wir vorprädikativ eine gewisse „Rechtserfahrung“, andererseits setzt die Identifizierung dieser Erfahrung «als rechtlich» (im Gegensatz zur beispielsweise «moralischen») unumgänglich gewisse konstitutive Rechtsintention voraus, Immer-schon-Orientierung-des-Bewusst‐ seins-auf-Recht. Es bedarf also einer Art «Begegnung» des Bodens der rechtlichen Bewusstseinserfahrung mit dem Boden des Seins des Rechts, welche die parallelen Dimensionen von Bewusstsein und Sein verbinden würde. So zitiert W. Maihofer wiederum M. Müller: „Aufgabe aller Rechtsontologie als regionaler Ontologie ist demnach: jene «Seinsverfassung zu erforschen, die objektiv be‐ trachtet, allen Gegenständen dieses Bereichs ihre spezifische Seins‐
u s.w. [E. Husserl Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo‐ gischen Philosophie. – Moscow: House of Intellectual Book, 1999]. 452 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 61. 453 Siehe in: Гуссерль Э. Идеи к чистой феноменологии и феноменологической философии. – М.: Дом интеллектуальной книги, 1999. – S. 37. [E. Husserl Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. – Moscow: House of Intellectual Book, 1999].
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art . . . verleiht, und die subjektiv betrachtet, schon im Zusammen‐ treffen mit diesen Gegenständen bekannt sein muss, damit diese als Gegenstände dieser Region angesprochen und erkannt werden können».“ 454 Und hier fällt W. Maihofer (wie A. Kaufmann mit seinem «on‐ tologischen» Primat des Rechts und seinem «logischen» des Geset‐ zes) in den ontologisch-gnoseologischen Kreis. Einerseits wird der Charakter der «Sache» als der rechtlichen durch das Bewusstsein in der entsprechenden Intentionalität konstituiert, andererseits soll «nach der Logik der Sache» die entsprechende Sache selbst (vor der Begegnung mit dem Bewusstsein) rechtlich sein und seinen rechtli‐ chen Charakter aus den „entsprechenden Seinsgrundlagen“ schöp‐ fen. Aber solche Grundlage kann laut regionaler Ontologie nur kon‐ stitutives Bewusstsein sein! Den Weg zum Erschließen dieses Kreises versucht W. Maihofer in den von M. Heidegger angegebenen Besonderheiten der onto‐ logischen Struktur „jenes Seienden, das wir je selbst sind“ – des Daseins 455 zu finden. Bekanntlich nennt M. Heidegger das In-derWelt-Sein die Grundstruktur des Seins. Dies weist nicht darauf hin, dass der Mensch neben dem anderen Seienden in einem bestimm‐ ten Behälter, die «Welt» genannt wird, eingeschlossen ist. Für M. Heidegger bedeutet «Welt» nicht die Gesamtheit des Seienden, son‐ dern «die Sinn-Ganzheit», die immer schon über die Dinge gewor‐ fen ist und solche Dinge zur «Welt», zum Kosmos umwandelt. Dabei wird solches «Überwerfen» im Gegensatz zu Husserl nicht im Zuge einer «intentionalen Beziehung» ausgeführt, sondern selbst durch die Tatsache unseres Seins. 456 Wie P. Ricoeur diesbezüglich treffend bemerkt: «Ontologie des Verstehens von M. Heidegger weigert sich über die Methode zu debattieren und überträgt sich sofort auf die Ebene der Ontologie des endlichen Seins, um hier Verstehen nicht mehr als Erkenntnisart, sondern als Seinsart zu finden. In diese Ontologie wird nicht eingetaucht, indem schrittweise die metho‐ dischen Möglichkeiten vertieft werden, — dahin versetzt man sich
454 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 66. 455 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 7. 456 Op.cit. S. 58–59, 64, 85–86.
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plötzlich, mit der scharfen Wendung der Problematik: was ist das für ein Wesen, dessen Sein im Verstehen besteht»? 457 W. Maihofer geht davon aus, dass unser Dasein neben dem Inder-Welt-Sein auch Mitsein ist. Somit sind uns in unserem Dasein die Anderen erschlossen, welche wir in unserem alltäglichen Mit‐ sein treffen. Gleichzeitig ist das charakteristische Merkmal solchen Treffens, dass „die Anderen für uns das sind, was sie betreiben.“ 458 Durch diese «betreibende» Beziehung mit uns bekommt der An‐ dere als «Jemand»“einen bestimmten Platz (topos) im Sinnzusam‐ menhang unserer Welt, in der wir leben, an dem ihm durch seine Position zu uns eine bestimmte, mit «allen Anderen» die es noch gibt, unvergleichbare Bedeutung für unser Dasein zukommt.” 459 Dadurch wird unser Sein-mit-Anderen als das Existential (Seins‐ modus) spezifiziert: Alssein. Es stellt den gewissen Horizont aller möglichen «Plätze» im Sein als Mitsein dar; „alles was das Dasein in der Welt überhaupt sein kann, liegt als Gestalt des Alsseins be‐ reit, gleichsam als eine von der Welt her vorgezeichnete «Leerform». Bereit, jede Daseinsäußerung an einer aus dem umgreifenden Sinn‐ zusammenhang der Welt vorgezeichneten Topos aufzufangen, an dem ihr im Universum des Menschlichen Seins damit ein bestimm‐ ter Ort, vergleichbar mit Anderen und unterscheidbar von Anderen «zukommt».“ 460 In diesem Seinsmodus kann Mensch sich sowohl in der Eigent‐ lichkeit seines Seins als auch im Selbstsein befinden. Dabei handelt es sich keineswegs um eine willkürlich errichtete soziale Ordnung: “Tritt die Frau «als Mutter» in eine nicht von ihr «erfundene», son‐ dern «von Natur» vorgezeichnete «Beziehung» zum Kinde, die ihr Sein als Mutter über jedes individueller Beliebe hinaus «bestimmt» und es in die Eigentlichkeit eines «bestimmten» Verhaltens «umwillen» des Kindes weist.” 461 Also konstatiert W. Maihofer: “Grund und Ziel allen Rechts ist dabei die Eigentlichkeit des Alsseins, in der sich das Selbstsein 457 Рикер П. Конфликт интерпретаций. Очерки о герменевтике. М., 1995. S. 7, 8. [Ricoeur P. Le conflit des Interpretations]. 458 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frank‐ furt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 91. 459 Ibid. 460 Op.cit. S. 115. 461 Op.cit. S. 108.
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in seinem Dasein mit Andern zu vollbringen hat.” 462 Laut dem deutschen Rechtswissenschaftler «gestaltet» Recht bloß das entspre‐ chende Exemplar des Alsseins. Dabei wird nichts über die Grund‐ verfassung des Seins jenes Seienden, welches wir «Recht» nennen, gesagt. Hieraus wird deutlich, dass der Autor die gestellte Aufgabe der ontologischen Rechtsbesinnung (“Deutung des Rechts aus der Grundverfassung seines Seins“) nicht vollständig löst, indem er bei seiner existentiellen Begründung (aus dem menschlichen Sein her‐ aus) stehenbleibt. Gleichzeitig sagt die Feststellung, dass das wahre Sein des Men‐ schen – die Existenz – die Grundlage des Rechts sei, noch nichts über die positive Verfassung des Phänomens des Rechts aus. W. Maihofer lehnt zwar die Antwort der Positivisten ab, wonach Sein des Rechts mit dem Vorhandensein der positiven Norm gleichge‐ setzt ist, füllt aber Recht mit keinem konkreten Inhalt. Deshalb ver‐ sucht der deutsche Rechtswissenschaftler neun Jahre nach “Recht und Sein“ in seinem anderen Werk „Naturrecht als Existenzrecht“ (1963) 463 zu klären, was Recht ist, welches sich vom Gesetzt unter‐ scheidet und wie es existiert. Die Frage nach dem Recht, welches sich dem positiven Recht wi‐ dersetzt, ruft unweigerlich den ganzen Komplex natürlich-rechtli‐ cher Probleme zum Leben: Was ist das Wesentliche des Rechts, das nicht mit dem Gesetz übereinstimmt, wie existiert solches Recht, was sind seine Grundlagen? Wie bereits mehrfach bemerkt wurde, ist im 20. Jahrhundert die Lehre vom «klassischen» Naturrecht, die letzteres als eine Reihe rationaler Postulate interpretierte, wel‐ chem kraft der «allgemeinen Vernunftgesetze» positives Recht ent‐ sprechen müsse, diskreditiert worden. W. Maihofer analysiert des‐ halb zu Beginn seines Werks kurz jene Varianten naturrechtlicher Konzepte, welche es zu seiner Zeit in Deutschland gab: “das Na‐ turrecht mit wechselndem Inhalt” (R. Stammler), “historisch-elasti‐ sches” (E. Spranger), “Naturrecht mit werdendem Inhalt” (E. Fech‐ ner), “konkretes Naturrecht”(K. Engisch) und “geschichtliches Na‐ turrecht” (A. Kaufmann). 464 462 Op.cit. S. 125. 463 Maihofer W. Naturrecht als Existenzrecht. – Frankfurt am Main: Vittorio Klos‐ termann, 1963. – S. 54. 464 Op.cit. S. 13.
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Im Zuge der Analyse kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass alle genannten Ansätze auf „die Auflösung dialektisch gespannter Verhältnisse“ zwischen Ordnung und menschlichem Willen gerich‐ tet sind, welche im Bereich des Rechts stattfinden. Laut Maihofer ist Naturrecht gleichzeitig dem Menschen vorgegebene und aufge‐ gebene Ordnung und Entscheidung. Damit ist die Natur der Grund solcher Ordnung und das Maß solcher Entscheidung. 465 Doch wie kann die Natur solche scheinbar sich gegenseitig ausschließenden Tendenzen vereinen? Wie der deutsche Rechtswissenschaftler be‐ merkt, ist seit Platon und Aristoteles die Natur im Begriff NaturRecht als die hinter den Dingen stehende Idee oder in den Dingen steckende Substanz verstanden. 466 Diese Substanz oder Idee ist der Grund des menschlichen Wesens und auch das Wesen des Rechts. Aber jetzt an die Stelle des «ewigen» menschlichen Wesens tritt eine Auffassung der «Natur» oder des «Wesens» des Menschen, nicht mehr aus einer ihm zugrundeliegenden Idee oder ihm innewohnen‐ den Substanz, sondern aus der Existenz, die der Mensch in der Welt führt, der Weise wie er sein Wesen in der Welt treibt. 467 Also liegt der existentielle Begriff von Natur oder Wesen den heutigen Kon‐ zeptionen des Naturrechts zu Grunde, wo der Mensch nicht mehr als ein Subjekt für sich oder an sich genommen, sondern in seinem In-der-Welt-sein aufgefasst wird. 468 Mit Änderung der philosophisch-methodologischen Vorausset‐ zungen verändert sich notwendigerweise auch das Verständnis des Naturrechtsphänomens selbst. Dabei geht es nicht um den existenti‐ ellen Voluntarismus des Menschen. Schließlich handelt der Mensch nie in einem gewissen «leeren» Raum, sondern immer in der Welt und mit anderen Menschen. Laut W. Maihofer will und fordert der Mensch allein nichts grundlos, sondern angesichts einer bestimm‐ ten in der sozialen Wirklichkeit gegebenen Konstellation von Inter‐ essen und Erwartungen der in der alltäglichen Lebenswelt miteinan‐ der umgehenden und sich aufeinander einlassenden Menschen. 469 Damit geht es nicht um das Wesen oder die Natur des einzelnen 465 466 467 468 469
Ibid. Op.cit. S. 15. Op.cit. S. 18. Op.cit. S. 20. Op.cit. S. 22.
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Menschen, sondern um das, was ihrem Wesen nach die Menschen in ihrem Mitsein sind. Somit muss man im Lichte des neuen Ver‐ ständnisses von Naturrecht über die Natur der Sachen sprechen, in denen der Mensch sein Wesen bekommt und ist, was er ist, Käu‐ fer oder Mieter, Arzt oder Patient, Richter oder Angeklagter, Mann oder Frau. 470 Aus der «konkreten Natur» des Menschen folgt jedoch keine all‐ gemeine Ordnung; “sie wird sichtbar in der sinnverstehenden und wertauslegenden Analyse der jeweiligen Situation im Ganzen: der Lebensbeziehungen (Rechtsbeziehungen wie z. B. Kauf) oder Le‐ bensgebilde (Rechtsgebilde wie z. B. Familie) mit ihrer jeweiligen typischen Konstellation von Interessen und Erwartungen der in solchen Beziehungen einander begegnenden, in solchen Gebilden miteinander lebenden Menschen.” 471 Diese Interessen und Erwar‐ tungen sind nicht willkürlich von außen in die Situation hinein‐ gebracht, sondern die lebenswahren, existentiellen Bestrebungen ihrer Teilnehmer, die in der Natur der jeweiligen Situation ver‐ wurzelt sind. Dementsprechend entsteht vor dem Gesetzgeber oder dem Richter ein Problem: Wie lassen sich diese oft gegenseitig wi‐ dersprechenden Interessen und Erwartungen in Einklang bringen? „Die Maßstäbe für die Lösung solcher in der Natur der Sache lie‐ genden Interessenkonflikte können letztlich nur im Menschen selbst liegen: in dem, was der Mensch als seine Bestimmung begreift. . . “ 472 In diesem Fall sollte Recht, wie der deutsche Rechtswissenschaft‐ ler betont, den Horizont der Sinn-Definition des Seins des Selbst und des Seins des Menschen offen halten, welche die konkrete Situa‐ tion transzendieren. Dabei sollte man nicht bloß nach bestimmten besonderen Rechten und Pflichten suchen, die eine bestimmte Na‐ tur (der Angelegenheiten) der existentiellen Situation entsprechend institutionell umfassen, als gewisse Bedingungen für die Möglich‐ keit des Alsseins der Menschen: des Seins des bestimmten Jeman‐ den in einer sozialen Rolle oder Position. Der Mensch muss allen‐ falls er selbst sein und bleiben, das Grundrecht auf Selbstverwirkli‐ chung im Kreise anderer Menschen besitzen. Recht sollte heißen, dass der Mensch in jeder existentiellen Situation (des Angeklag‐ 470 Ibid. 471 Op.cit. S. 23. 472 Op.cit. S. 26.
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ten und des Richters, des Festgenommenen und des Wärters) ein Mensch sein und bleiben können soll, dass wir unter Berücksichti‐ gung der Grunddefinitionen des zum Menschlichen Gehörenden, im Abkommen über die Menschenrechte, in Bürgerrechtskatalo‐ gen mit ihren Garantien der Grundrechte auf Leben und Gesund‐ heit, Ehe, Eigentum, Arbeit, die Bedingungen der Möglichkeit des Mensch-Seins unter Menschen begreifen müssen. Aber W. Maihofer betont auch, „was uns an solchen wie den be‐ handelten Konfliktsituationen deutlich wird, in die der Mensch in der Welt «geworfen» ist. . . ist die in sich widerspruchsvolle, unheim‐ liche und unheilvolle Struktur der Wirklichkeit selbst. Eben sie ist der Grund allen Rechts in der Welt. . . “ 473 Also „im Unterschied zum Positivismus, der die Frage nach dem Sinn menschlichen Daseins und seiner sinnvollen Ordnung zu einer privaten Beschäftigung der Einzelnen herabsetzt, ist für uns heute die Frage nach dem Natur‐ recht nichts anderes als die öffentliche Frage nach eben diesem Sinn menschlichen Daseins und seiner Sinnvollen Ordnung in einer im Grunde unheilen: unheimlichen und unmenschlichen Welt. . . “ 474 Damit ist Naturrecht nach W. Maihofer der Begriff oder Formel für diese Sache: die vom Menschen geforderte, ständig neue und er‐ neuerte Selbstvergewisserung, worauf es mit ihm eigentlich hinaus soll. 475 Wie jedoch leicht zu erkennen ist, lässt eine solche Antwort viele Fragen offen. Denn Selbstverwirklichung im eigenen Sein-mit-An‐ deren hat viele Varianten, die nichts mit Recht zu tun haben – von Liebe bis zur religiösen Kommunikation. Ebenso stellt die Identi‐ fizierung des Rechts mit Streit und Zwietracht sofort die Frage, ob diese These bedeutet, dass es kein Recht beim rechtmäßigen Verhal‐ ten von Menschen gibt (was zumindest zweifelhaft erscheint)? Au‐ ßerdem weist W. Maihofer nicht darauf hin, was genau in der „Na‐ tur“ der entsprechenden Tatsachen die „rechtliche Ladung“ trägt, d. h. die rechtliche (und nicht moralische, religiöse, wirtschaftliche, politische etc.) Lösung erfordert? Um diese und eine Reihe weiterer Fragen zu beantworten, ver‐ fasst der deutsche Rechtswissenschaftler ein weiteres Werk mit dem 473 Op.cit. S. 30. 474 Op.cit. S. 37. 475 Op.cit. S. 42–43.
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Titel “Die Natur der Sache“, welches nach der Veröffentlichung in der von A. Kaufmann bearbeiteten Sammlung „Die ontologische Begründung des Rechts“ (1965) 476 weithin bekannt wurde. Eine ontologischen Begründung des Rechts versuchend und «von der Natur die Sachen» ausgehend, sagt W. Maihofer, “. . . dass wir rechtliche Ideen nicht einfach wie künstlerische in den «Stoff» hin‐ einlegen können, sondern, wohl eher aus ihm herauslesen müs‐ sen.” 477 Laut ihm herrschen in der gegenwärtigen Rechtsphiloso‐ phie Vorstellungen über die “Natur der Sache” als der “Sinn” ei‐ nes Lebensverhältnisses. 478 Dabei ist die Deduktion und Argumen‐ tation aus der Natur der Sachen ein Versuch, durch das positive Recht verwirklichte Feststellungen des Sollens aus etwas abzuleiten, das sich außerhalb der positiv-rechtlichen Festlegungen befindet. Dieses Ziel wird nicht durch die Deduktion des abstrakten Natur‐ rechts aus gewissen obersten Rechtsgrundsätzen erreicht, sondern in Form des konkreten Naturrechts aller Zeiten, aus den im Rechts‐ stoff liegenden Rechtssachverhalten selbst. 479 Denn Rechtssachver‐ halte sind nicht, wie A. Reinach meinte, die „spezifisch-rechtlichen Grundbegriffe“ des in innerer Schau erfahrbaren, des mit den ma‐ thematischen und geometrischen „Gebilden“ vergleichbaren Seins, sondern Sachverhalte „in der Welt draußen“ und „vor der wir ste‐ hen“; nicht durch Recht „gebildet“, sondern mit einem Wort: Lebens‐ sachverhalte. 480 W. Maihofer versteht diese Lebenssachverhalte als den äußerli‐ chen „Komplex des Geschehens“. Nicht die „Tatsachen“, verstanden als isolierte Dinge oder sogar Gegenstände, sondern der komplexe Sachverhalt des menschlichen Lebens zwischen Subjektivität (des Menschen) und Objektivität (der Welt). Mit anderen Worten, die Gestalten der menschlichen Beziehung zur Welt, das In-der-WeltSein, um dessen Markierung und damit dessen Bereitstellung und Verwirklichung jede Ordnung der Moral und des Rechts kreist. „Als solche Lebenssachverhalte begegnen uns Kauf und Miete, Diebstahl 476 Maihofer W. Die Natur der Sache// Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 52–86. 477 Op.cit. S. 59. 478 Op.cit. S. 56. 479 Op.cit. S. 65. 480 Op.cit. S. 65–66.
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und Betrug, als mit positivem und negativem Vorzeichen versehene Weisen solchen Geschehens zwischen Mensch und Welt, mit an‐ deren Worten als eigentlich oder uneigentlich ausgelegte Weisen menschlicher Koexistenz.“ 481 Dementsprechend versteht der deutsche Rechtswissenschaftler die Sache, um die es sich in Bezug auf die «Natur der Dinge» han‐ delt, als ihren «draußen» in der Welt existierenden Lebenssachver‐ halt und hält es für möglich, zur Betrachtung von unmittelbaren Rechtsfragen überzugehen. Mit Verweis auf Nietzsche bemerkt er, dass solche Lebenssachverhalte als Geschehenskomplexe zwischen Subjektivität (Mensch) und Objektivität (Welt) keine Existenz einer isolierten Substanz besitzen, weder in einem Subjekt noch in einem Objekt: Ihr Sein besteht eben in dem, was «zwischen» diesen Polen des Ereignisses passiert, im Prozess der «Aufhebung» von Subjek‐ tivität in Objektivität und umgekehrt, der Existenz von etwas (des Menschen) in etwas (der Welt). Die sich in solchen Gestalten des Verhältnisses des Menschen zur Welt verwirklichenden Objektivie‐ rungen schaffen Komplexe von Ereignissen, deren Synthesen natür‐ lich in der Analyse zu Subjekt und Objekt zersetzt werden können. Somit trennen wir dennoch die einigende Verbindung zwischen dem Sein und dem Sinn des Ereignisses als solches. Wenn wir jene Lebensverhältnisse wie Kaufen und Verkaufen deutlicher ins Blick‐ feld bringen, dann wird es uns, meint W. Maihofer, schnellstmöglich klar, dass sowohl die Frage nach der Substanz von Kauf–Verkauf als auch die Frage nach ihrem Wesentlichen eigentlich sinnlos sind, da es sich tatsächlich nicht um eine bestimmte «Sache» von Verkauf und Kauf handelt, sondern um den Sachverhalt, um die Art (Ge‐ stalt) der Koexistenz, nämlich um das «Verhältnis» von VerkäuferSein und Käufer-Sein als bestimmte Gestalt (Art) der Begegnung der Menschen in der Alltagswelt: “Mit dieser scheinbaren Selbst‐ verständlichkeit: der Auslegung dieses Geschehens nicht als reale Sache, sondern als existentialer Sachverhalt, öffnet sich uns unverse‐ hens aber nun den Weg einer Antwort auf unsere einleitende Frage nach dem Sein dieser Sachverhalte als Kultursachverhalte. In allen diesen Kultursachverhalten treffen wir auf Menschen in bestimmten «Eigenschaften» als Käufer und Verkäufer, Mieter und Vermieter,
481 Op.cit. S. 66.
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Arzt und Patient, Lehrer und Schüler, Eigentümer, Besitzer, Vater, Mutter, als Bauer, Bürger . . . . Eigenschaften, die nicht mehr als am Subjekt isoliert vorfindbare «Beschaffenheiten», wie Ausgedehnt‐ heit oder Widerständigkeit fassbar sind und doch offenbar genau das betreffen, worum es als die Sinnmitte dieser Lebenssachverhalte geht: ihre «Natur der Sache». Man nennt solche Eigenschaften, die nicht aus der Substanz, sondern der Existenz eines Seienden folgen, Bewandtnisse.” 482 Alle betrachteten kulturellen Sachverhalte sind laut W. Maiho‐ fer Geschehenskomplexe zwischen Mensch und Welt, Gestalten des In-der-Welt-Seins des Menschen, Seinsarten seiner Existenz. Des‐ sen Sein und Sinn sind in bestimmte Lebensformen eingeschlossen (soziale Positionen wie Käufer, Vater oder Bürger) und Lebenssi‐ tuationen, welchen sie begegnen (soziale Situationen wie z. B. Not‐ wehr oder extreme Not). Diese Lebensformen und Lebenspositio‐ nen sind der persönliche und reale Raum, in dem sich die individu‐ elle Entfaltung des Individuums in der Welt der Anderen als «ewige Wiederkehr des Gleichen» verwirklicht, sie sind im Wesentlichen die Grundlage der Welt des objektiven Geistes. Die ontologische Rechtsbesinnung und der Versuch seiner Verwurzelung im Sein des Menschen in der Welt erfordern jedoch eine entsprechende Ana‐ lyse der Arten und Formen eines solchen Seins. Deshalb geht der deutsche Rechtswissenschaftler im Weiteren zur Betrachtung der existentiellen Struktur sozialer Lebensrollen und Lebenspositionen über.“Basis der Seinsstruktur dieser Lebensgestalten sind bestimmte Verweisungen des Seienden aufeinander mit ihren beiden Polen der Angewiesenheit und der Angelegtheit (von etwas auf etwas) in denen alles Brauchen und Gebrauchtwerden seinen ontologischen Grund hat. . . diese Verweisungen stiften Entsprechungen des Seienden zu‐ einander, auf denen das Fundament des Ordnungsgefüges aller Welt der Kultur aufruht, mit seinen beiden Ebenen der Zuordnung von etwas zu etwas (Arzt und Patient) und der Gleichordnung (Patient zum Patienten), in denen alle Ungleichheit und Gleichheit ihren on‐ tologischen Grund hat.” 483 Solcher Sachverhalt findet in der rechtli‐ chen, moralischen und wirtschaftlichen Ordnung statt.
482 Op.cit. S. 71. 483 Op. cit. S. 73.
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Damit ist W. Maihofers Ansicht nach die Ontologie im recht‐ lichen Bezug indifferent, da Verweisungen und Entsprechungen nicht nur rechtliche, sondern auch andere Ordnungsarten darstel‐ len. Deswegen hält er es für notwendig, die Sinnstruktur sozia‐ ler Lebensrollen und Lebenspositionen zu analysieren: Bewandtnis und Bedeutung. Alle oben erwähnten Entsprechungen schaffen Be‐ wandtnisse des Seienden in Bezug auf anderes Seiende, genauer: Bewandtnisse von jemandem zu jemandem, vom Verkäufer zum Käufer, dem Lehrer zum Studenten. Diese Bewandtnisse sind die ontologische Grundlage jeder Hinwendung zueinander, des „etwas zu tun Habens“ miteinander. Das sind die Bewandtnisse, die nicht mehr in dem Selbstsein des Seienden ihren Grund haben, sondern in dem, was wir das Alssein genannt haben, worum alle menschli‐ che Ordnung sich als seine Sinnmitte dreht. 484 Diese Bewandtnisse wiederum geben dem aufeinander verweisenden und damit dem sich gegenseitig entsprechenden Seienden in umgekehrtem Verhält‐ nis zu seinem eigenen Sein bestimmte Bedeutungen füreinander. Bedeutungen als etwas für etwas (Vater für Sohn usw.). Diese Be‐ deutungen sind ontologische Gründe für das außerordentliche „Ge‐ wicht“, das wir in der Alltagswelt füreinander gewinnen: Ein Aus‐ druck der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Seienden vonein‐ ander, die Grundlage dafür, dass uns etwas fehlt, wenn wir den An‐ deren als solchen verlieren. 485 Die Wertestruktur sozialer Lebensrollen und Lebenssituationen setzt sich wiederum aus Erwartungen und Interessen zusammen. „Der Andere «fehlt» uns, weil alle Bedeutungen für den jeweiligen Anderen als Solchen in der Natur der Sachen die Lebensgestalt be‐ stimmen, liegende Erwartungen einander begründen (Erwartungen an etwas als etwas), des Vaters an den Sohn als Solchen. . . Diese Verhältnisse sind der ontologische Grund für das aus der Natur der Sache sich ergebende, als «natürlich» oder «vernünftig» bezeichnete Interesse, das wir an dem Sein und Verhalten des Anderen als Solchen nehmen, damit aber auch für den Wert und Unwert des Verhaltens des Anderen als Solchen für uns. Ist er uns doch zur Erfüllung unse‐ res eigenen Seins als Solcher nötig.“ 486 484 Op.cit. S. 74. 485 Ibid. 486 Op.cit. S. 75.
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
Und hier nähern wir uns dem Recht. Jedes Recht ist aus diesem Horizont der Erwartung heraus gedacht und „gemacht“, indem es «von Rechts wegen» am Maßstab dieser (positiven oder negativen) «Erwartungen» dem jeweils Anderen die Grenzen des Gesollten und Nichtgesollten vorzeichnet, so die «Erfüllung» dieser Erwartungen sicherstellt und Notfalls unter Rechtszwang durchsetzt. 487 Gleich‐ zeitig erkennt W. Maihofer, dass gegenseitige Erwartungen und In‐ teressen auch außerhalb der Sphäre des Rechts – im Bereich der Liebe, der Wirtschaft, der Politik etc. – existieren können. Deshalb behauptet er, dass es eine Brücke gibt, die von der aus der Natur der Lebensgestalten und Lebenslagen sich ergebenden Erwartungen und damit Interessen zu den hieraus folgenden Forderungen an den betreffenden Anderen als Solchen führt, und zwar Forderungen an das der Natur seiner Rolle und Lage seinerseits entsprechende Ver‐ halten. 488 Aber jeder –im rechtlichen Sinne relevante – Anspruch (wie A. Reinach schon gezeigt hat) setzt die entsprechende Verbindlichkeit voraus, d. h. entsprechendes Verhalten desjenigen, an den solche Forderung gerichtet ist. 489 Deswegen bedarf es einer Analyse der Struktur des Sollens der sozialen Lebensrollen und Lebenspositio‐ nen: Forderungen und Verpflichtungen. Zugleich sollte an diesem Punkt der Forschung derjenige, der einen Anspruch auf eine onto‐ logische Rechtsbesinnung erhebt, besonders vorsichtig sein: Denn die Differenz von Sein und Sollen öffnet den direkten Weg von der Ontologie zu ihrem Gegenteil, der Deontologie.
487 Ibid. 488 Op.cit. S. 76. 489 So bemerkt A. Reinach: „Der Verbindlichkeitsgegner ist zugleich der Träger eines inhaltsidentischen Anspruches; auch dieser Anspruch hat notwendig sei‐ nen Gegner, der zugleich der Träger der Verbindlichkeit ist. So besteht eine eigenartige Korrelativität zwischen Anspruch und Verbindlichkeit, eine Iden‐ tität des Inhaltes und ein wechselseitiges streng gesetzliches Verflochtensein von Trägerschaft und Gegnerschaft“. Vgl. Reinach A. Die apriorischen Grund‐ lagen des bürgerlichen Rechtes//Reinach A. Sämtliche Werke. Band 1. – Mün‐ chen, Hamden, Wien: Philosophia, 1989. – S. 151–152. Auch wenn wir über so‐ genanntes “absolutes Recht” nachdenken, sehen wir, dass z. B. „absoluter An‐ spruch“ des Eigentümers als sein notwendiges Korellat die “absolute Verbind‐ lichkeit” gegenüber den anderen (dessen Eigentumsrecht nicht zu verletzen) hat.
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Deshalb betont W. Maihofer: „Alles Recht ist so gedacht, aus der Rolle und Lage des Anderen. Wir müssen uns so als Lehrer in die Rolle des Schülers, als Arzt in die Rolle des Patienten, als Käufer in die Rolle des Verkäufers und umgekehrt versetzen und fragen, was wir als Solcher von einem «vernünftigen» Lehrer, Arzt, Ver‐ käufer «natürlicherweise» und darum «berechtigterweise» erwarten würden.“ 490 So ist jedes Recht durch genannte «Analogie» gemacht, d. h. “als eine Verallgemeinerung des aus der Natur der Sache ei‐ ner bestimmten, gleichsam isotopen, in der Welt der Alltäglichkeit wiederkehrenden Rolle oder Lage sich ergebenden Verhaltensollens zum Verhaltensgesetz, nicht für jedermann «überall und immer», aber doch als verpflichtend, weil in der Sache berechtigt, für jeden in solcher Rolle oder Lage.” 491 Daher, so akzentuiert Maihofer, “mö‐ gen wir theoretisch noch so selbstsichere Leugner allen Naturrechts sein, praktisch «leben» wir, Laien wie Juristen, nicht etwa nach den Sollensätzen des positiven Rechts, wie dies der Positivismus so gerne fingieren möchte, sondern «richten» uns genau nach jenen als Na‐ turrecht verleugneten Sollensgesetzen des außerpositiven Rechts, die «begründet» sind in der «Natur der Sache»: den berechtigten Erwar‐ tungen und Interessen, den gerechten Forderungen und Pflichten, die Gültigkeit und Geltung haben für uns als Solche: in solcher Rolle und solcher Lage.” 492 So tritt W. Maihofer vor uns in der Rolle des Autors eines ori‐ ginellen philosophisch-rechtlichen Konzepts auf. Ihm zufolge stellt Recht keinen eingefrorenen Komplex von «natürlichen» oder «po‐ sitiven» Normen und Vorschriften dar, sondern «konkretes natür‐ liches Recht»: eine Reihe von Forderungen und Verpflichtungen, die den Beteiligten in einer Situation kraft der Natur der Tatsa‐ chen, welche sie erzeugt haben, entstehen, wenn der konkrete Um‐ fang der Forderungen und Verpflichtungen der genannten Teilneh‐ mer durch ihre Rollen und Gegenüberstellung in der Situation be‐ stimmt wird. Damit überwindet der deutsche Rechtswissenschaft‐ ler das metaphysische Verständnis des Naturrechts als das absolutes Sein besitzende Sollen. Gleichzeitig sorgten die beschriebenen An‐ sichten bei all ihrer Neuheit und Überzeugungskraft nicht nur für 490 Op.cit. S. 78. 491 Op.cit. S. 79–80. 492 Op.cit. S. 82.
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Anerkennung, sondern auch für eine Reihe kritischer Bemerkun‐ gen, die sich nicht nur auf die Lehre der «Sachverhalte», sondern auch auf die gesamte Rechtsphilosophie von W. Maihofer beziehen. So bemerkt sein Kollege an der Universität des Saarlandes, A. Kaufmann als ebenso herausragender Rechtsphilosoph, dass die Be‐ sinnung auf die Rechtsontologie von W. Maihofer widersprüchlich ist. Zwar verkenne dieser nicht, dass es sich dabei um eine regio‐ nale Ontologie handelt; er hält es für möglich, die Heideggersche Frage «warum überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts» ist zur Frage «warum ist überhaupt Recht und nicht vielmehr Nichts?» zu transformieren. 493 Jedoch, wie Kaufmann betont, “wird das ei‐ gentliche Thema der Rechtsontologie schon im Ansatz verfehlt. Die Frage, warum es überhaupt irgendwelches Seiendes gibt, ist ganz und gar verschieden von der anderen, warum es denn gerade dieses oder jenes bestimmte Seiende gibt. . . Die zweite Frage dagegen braucht durchaus nicht zum «Sein» des bestimmten Seienden zu führen, denn sein nächstliegender Grund kann ja in anderem Seienden lie‐ gen. Und das ist beim Recht denn auch tatsächlich der Fall.” 494 Und weiter: „Maihofer erklärt die Seinsart des Rechts aus der Seinsart des Menschen, also, ein Seiendes aus anderem Seienden, was aber, je‐ denfalls im Sinne Heideggers, keine Ontologie ist . . . .Indessen lässt sich Maihofers Vorgehen als Methode der Rechtsontologie durch den Gedanken der analogia entis sehr wohl rechtfertigen; der Sein‐ scharakter des Rechts kann in der Tat weitgehend nur durch Ver‐ gleich mit der Seinsweise des Menschen ausgemacht werden. Aber verfehlt ist auf jeden Fall die Fragestellung Maihofers. Denn wenn man fragt: Warum ist Recht überhaupt?, hat es den Anschein, als ginge es in der Rechtsontologie primär darum, etwas über die Ei‐ gentümlichkeiten des Menschen im Bezug auf seine Stellung zum Recht zu erfahren (Rechtsanthropologie).“ 495 Der Hauptvorwurf von A. Kaufmann gegen W. Maihofer ist so‐ mit rein methodologischer Natur. Nachdem Letzterer die Absicht erklärt hat, Recht nicht durch Verweis auf anderes Seiende, sondern 493 Kaufmann A. Die Ontologische Struktur des Rechts//Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 490. 494 Ibid. 495 Op.cit. S. 491.
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aus der Grundverfassung seines Seins zu interpretieren (was unserer Meinung nach eine absolut rechtmäßige Position ist), hält er die ge‐ wählte Richtung nicht aufrecht und rutscht von der Fundamental‐ ontologie M. Heideggers zur regionalen E. Husserls. In diesem Fall verschwindet jedoch all das angekündigte Pathos der ontologischen Begründung des Rechts, da jede regionale Ontologie im Bewusstsein des Phänomenologen verwurzelt ist. Auch der italienische Rechtsphilosoph A. Baratta hat die Ansich‐ ten von W. Maihofer ausführlich kritisiert. In seinem umfangrei‐ chen Artikel „Natur der Sache und Naturrecht“, der in die bereits erwähnte Grundlagensammlung „Ontologische Rechtsgrundlagen“ (1965) aufgenommen wurde, analysiert er dessen Ideen. 496 Seine Vorwürfe gegen ihn lauten wie folgt. Laut A. Baratta gelingt es W. Maihofer nicht, die normative Natur der Sache auf das Innere des Faktums selbst zu begründen, weil auch er das Faktum in seiner bereits gebildeten und daher abstrakten Objektivität betrachtet und nicht im konkreten Moment seiner Entstehung, das heißt in dem Akt, der es setzt. 497 So behauptet A. Baratta: „die Natur der Sache ist die Aktivität des Subjekts, die das Faktum setzt und qualifiziert, indem sie ihm immer wieder neuen Sinn gibt.“ 498 Anders gesagt werden die Sachen zum Recht ausschließlich durch die juristische Qualifizierung. 499 Ähnlich W. Luijpen: “was Maihofer das «institutionelle Natur‐ recht» nennt, ist einfach das positive Recht. Er verwendet den Ter‐ minus «Naturrecht», weil das positive Recht in der Natur der Exis‐ tenz als «Alssein» fundiert ist.” 500 Somit sagt A. Baratta: „Über die Positivität der naturrechtlichen Vorschriften, seien sie nun «kon‐ kret» oder «abstrakt», seien sie apriori durch die Vernuft deduziert oder a posteriori aus der soziologischen Beobachtung gewonnen, entscheidet die reale Rechtserfahrung einer Gesellschaft, je nach‐
496 Baratta A. Natur der Sache und Naturrecht// Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 104– 163. 497 Op.cit. S. 151. 498 Op.cit. S. 158. 499 Op.cit. S. 156. 500 Luijpen W. Phänomenologie des Naturrechts. – Haag: Martinus Nijhoff, 1973. – S. 195.
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dem dieser Vorschriften sich im Bewusstsein und im Verhalten des geschichtlichen Subjekts realisieren.“ 501 Kritik an W. Maihofers Ansichten findet sich auch im in dersel‐ ben Sammlung erschienenen Artikel des deutschen Rechtsphiloso‐ phen J. Thyssen „Zur Rechtsphilosophie des Alsseins“. Nach seiner Behauptung antwortet W. Maihofer auf die Frage nach dem Sein des Rechts durch die Analytik des Alsseins. 502 Dieses Existential ist gleichursprünglich mit dem Selbstsein. Weil, wie J. Thyssen sagt, W. Maihofer das Selbst als Einzigartigkeit des Individuums versteht, sind seine Versuche, auf dem existenzphilosophischen Boden des «Selbstseins» zu bleiben und doch das soziale Sein als gleichberech‐ tigt anzuerkennen, vielleicht so etwas wie die Quadratur des Zir‐ kels. 503 Aber – so fragt J. Thyssen – warum statt «Quadratur des Zir‐ kels» “nicht einfach anerkennen, dass der Mensch eben ursprüng‐ lich und nicht erst durch geschichtliches Schaffen ein soziales We‐ sen ist, und die Bestimmung des Selbst durch die Einzigartigkeit des Individuums als einseitig aufgeben?” 504 W. Maihofer baue seine Rechtsphilosophie auf einem schlechten methodologischen Grund: “auf dem Einseitigen und Unbefriedigenden des individualistischen Ansatzes der Existenzphilosophie.” 505 Im Übergang zu den modernen Interpretationen des Werks von W. Maihofer ist auf die fundamentale “Einführung in die Recht‐ sphänomenologie“ (2010) der österreichischen Phänomenologin S. Loidolt hinzuweisen. 506 Laut ihr „bezieht sich Maihofer damit auf das Welt- und Menschenbild der alten Griechen, die im Gegensatz zum individualisierten Einzelgänger des Existentialismus den Men‐ schen gar nichts anders als «zoon politikon» denken konnten . . . .bei diesem Im-Recht-Sein geht es nun aber nicht um die individuelle Eigenheit des Selbstseins, sondern um die soziale Eigentlichkeit des
501 Baratta A. Natur der Sache und Naturrecht// Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 155. 502 Thyssen J. Zur Rechtsphilosophie des Alsseins//Die Ontologische Begründung des Rechts. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965. – S. 329. 503 Op.cit. S. 329–330. 504 Op.cit. S. 338. 505 Op.cit. S. 339. 506 Loidolt S. Einführung in die Rechtsphänomenologie. – Tübingen: Mohr Sie‐ beck, 2010. – S. 411.
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Seins als Bruder, Sohn, Gast oder Gastfreund.“ 507 Aber „der An‐ satz, den Maihofer anfangs verfolgt, das Dasein immer schon als «Im-Recht-Sein» zu verstehen, verliert sich in der Ausarbeitung des Alsseins im komplexen Verhältnis von Individuum und Gesell‐ schaft.“ 508 Damit, weil laut M. Heidegger Dasein immer schon Mit‐ sein ist, brauche die ganze gesellschaftliche Dimension im Grunde nicht noch durch ein Alssein ergänzt zu werden. 509 Die neuesten Interpretationen der Rechtsphilosophie von W. Maihofer sind auch in der 2010 erschienenen Werksammlung des Kolloquiums enthalten, der seinem 90. Geburtstag gewidmet war. 510 So schreibt der deutsche Rechtsphilosoph A. Hollerbach, dass W. Maihofer in „Recht und Sein“ den Ansatz von M. Heidegger in Richtung einer Recht- und Sozialphilosophie entwickelt. Durch das Existential des Alsseins schließt W. Maihofer die „Interpretation sei‐ ner Rechtsphilosophie im Sinne eines subjektivistischen Existentia‐ lismus aus. Aber sie hat wohl die Probleme noch nicht voll aus‐ geschöpft und die in der Heideggerschen Philosophie steckenden Möglichkeiten noch nicht voll ergriffen,“ 511 z. B. die Strukturen des Miteinanderseins phänomenologisch zu erhellen. 512 Damit stellt A. Hollerbach eine Reihe von Fragen an die Rechtsphilosophie von W. Maihofer. Erstens, „es fällt auf, dass man keine zureichende Antwort auf die Frage findet, die uns eine Passage aus Heideggers HumanismusBrief aufgibt, die man geradezu als rechtsphilosophischen Grund‐ satz Heideggers qualifizieren kann. . . “. 513 Zweitens scheint es, „dass W. Maihofer dem Begriff «Mitsein» keinen fundamentalen Stellenwert zuerkennt, obwohl es dafür An‐ knüpfungspunkte bei Heidegger gibt. Liegt nicht «Mitsein» als Aus‐ 507 508 509 510
Op. cit. S. 207. Op.cit. S. 214. Ibid. Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat / Ergebnisse eines Kolloqui‐ ums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags. Berlin: BWV, 2010. – S. 192. 511 Hollerbach A. Werner Maihofer in Freiburg // Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat / Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags. Berlin: BWV, 2010. – S. 22. 512 Op.cit. S. 23. 513 Ibid.
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druck unhintergehbarer Koexistenz des Menschen als Grundsach‐ verhalt vor jeder Ausdifferenzierung in die lebensweltlich geprägten Rollen des Alsseins?“ 514 Drittens, “die Beispiele der Alsseins-Beziehungen sind so vielfäl‐ tig und bunt wie das Leben. Aber gibt es nicht ganz unterschiedliche Wertigkeiten solcher Bezüge? Gibt es gar solche apriorischer Natur gegenüber solchen, die nur historisch geworden oder vom Recht geschaffen sind?” 515 Und letztens, wie verhält sich “institutionelles Naturrecht” von W. Maihofer zur Figur der “konkreten Ordnung” von C. Schmitt? 516 Die Bemerkungen von A. Hollerbach zeigen nicht nur strittige Stellen in W. Maihofers Konzept, sondern zugleich auch die Rich‐ tung weiterer Fragestellungen auf, in der sich derjenige notwendi‐ gerweise bewegt, der sich auf die von ihm aufgeworfenen Probleme besinnen muss. Deswegen ist es kein Zufall, dass andere Teilneh‐ mer des Kolloquiums ohne Absprache praktisch die gleichen Fra‐ gen stellen. Ein weiterer deutscher Rechtsphilosoph, G. Sprenger, sagt, dass die Kritiker W. Maihofers betonen, „dass der Seinscha‐ rakter des «Im-Recht-Seins» nicht hinreichend eingegrenzt ist ge‐ genüber einem allgemeinen «Sozial-sein».” 517 Zugleich verwirft aber G. Sprenger zusammen mit A. Hollerbach die Anschuldigung des «existentiellen Subjektivismus» gegen W. Maihofer, denn “mit dem was hier «Alssein» genannt wird, ist also nicht ein zweites Sein ge‐ meint, das der ursprünglichen Existenz sozusagen «auferlegt» ist wie eine zweite Rolle, die ein Darsteller auf der Bühne zu «verwirk‐ lichen» hat. Vielmehr ist dieses «Als» für das «Ich-sein» wesenhaft ursprünglich, nicht von ihm zu trennen. . . ” 518 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die obigen kritischen Bemerkungen größtenteils berechtigt sind. Wenn Vorwürfe an W. Maihofer aufgrund von Individualismus unbegründet sind, weil
514 515 516 517
Ibid. Op.cit. S. 23–24. Op.cit. S. 24. Sprenger G. Lebensweltige Gerechtigkeit. Der Existentialontologische Ansatz Werner Maihofers // Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat / Ergeb‐ nisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags. Berlin: BWV, 2010. – S. 61. 518 Op.cit. S. 40.
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Dasein von M. Heidegger (und Alssein als eine seiner Formen) kein klassisches Individuum ist, sondern die Verfassung unseres Seins darstellt, dessen konstitutiven Momente In-der-Welt-Sein und Mit‐ sein sind, dann können wir anderen Einwänden zustimmen. Dazu gehören natürlich A. Kaufmanns Hinweis auf den methodologi‐ schen Eklektizismus von W. Maihofer („ausgestreckt“ zwischen der Fundamentalontologie M. Heideggers und der regionalen (eideti‐ schen) Ontologie E. Husserls) sowie Verweise von A. Hollerbach, S. Loidolt und G. Sprenger auf die Unklarheit des Verhältnisses zwi‐ schen den Existentialen des Alsseins und Mitseins. Angebracht ist auch die Bemerkung von S. Loidolt zu W. Maihofers Vermischung moralischer und rechtlicher Aspekte des Seins (auf welche der Au‐ tor des vorliegenden Werks in einem Artikel bereits vor der Veröf‐ fentlichung des Buches S. Loidolts hingewiesen hat). 519 Zur Kritik von A. Baratta ist anzumerken, dass er W. Maihofer zwar zu Recht vorgeworfen hat, Recht aus der Natur der Dinge abgeleitet zu ha‐ ben, rechtliche Spezifik den letzteren aber nicht begründet haben können, hat der italienische Rechtswissenschaftler aber nichts bes‐ seres als Relativismus und ontologische Amorphie angeboten, wenn über den Rechtscharakter jeglicher Lebensumstände ausschließlich als das Produkt ihrer juristischen Qualifikationen verkündet wird. Im Übergang zu einer eigenen kritischen Bewertung der Rechts‐ philosophie von W. Maihofer kann der wichtigste Schritt des deut‐ schen Rechtswissenschaftlers nicht geleugnet werden – die authen‐ tische Problemstellung des Seins des Rechts, insofern vorgeschla‐ gen wird, Recht nicht durch die formale logische Definition ande‐ res Seienden (Freiheit, Gerechtigkeit usw.) herzuleiten, sondern aus der Grundverfassung seines Seins, d. h. von ihm selbst. Gleichzeitig konnte der Autor von „Recht und Sein“ wie schon mehrfach betont nicht in der gewählten Forschungsrichtung bleiben, da er das Phä‐ nomen des Rechts nicht daraus interpretiert hat, wie es wirklich „inder-Welt“ ist, sondern aus dem „idealen Sein“ der Sinn-Welt – der regionalen Ontologie.
519 Стовба А.В. Вернер Майхофер: от «Бытия и времени» к «Праву и бытию»// Российский ежегодник теории права. – No 1.–2008. – S. 175– 185. [Stovba O.V. Werner Maihofer: From “Being and Time” to “Law and Being”//Russian Yearbook of Legal Theory. – No 1.–2008].
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Demzufolge ist der erste Vorwurf an W. Maihofer, dass er trotz der Überschrift seines Werkes „Recht und Sein“ das Verhältnis zwi‐ schen den Phänomenen von Sein und Recht nicht geklärt und da‐ mit die angekündigte Aufgabe der ontologischen Begründung des Rechts (aus dem Sein als solchem) nicht erfüllt hat, indem er beim Versuch, es existentiell (aus dem menschlichen Sein) zu begründen, stehengeblieben ist. W. Maihofer, der seinen Ansatz als Fortsetzung der Fundamenta‐ lontologie von M. Heidegger bezeichnet hat, hat das Verhältnis von Recht und Dasein nicht klar begriffen. Bekanntlich analysiert M. Heidegger auf dem Weg zum Sinn des Seins im Ganzen als notwen‐ dige Forschungsstufe die existentielle Verfassung des Seienden, wel‐ ches nach dem Sinn des Seins fragt, d. h. nach uns selbst. Er bezeich‐ net dieses Phänomen als Dasein und weist darauf hin, dass, da wir nie „an sich“ sind, sondern immer schon in der uns zusammen mit anderen Menschen erschlossenen Welt, die wichtigsten Bestandteile des Daseins In-der-Welt-Sein, Erschlossenheit und Sein-mit-Ande‐ ren sind. Folglich – und darin besteht der zweite Vorwurf an W. Maihofer – muss derjenige, der behauptet, Recht aus der ontolo‐ gischen Verfassung des Menschen zu begründen, notwendigerweise zeigen, welchen Platz Recht in der erwähnten ontologischen Ver‐ fassung einnimmt, in welchem Verhältnis es zu den angegebenen Grundkomponenten steht. Da der deutsche Rechtswissenschaftler jedoch keine solche fundamentalontologische Analyse des Rechts vornimmt, sondern auf der Festhaltung des Verhältnisses von Sein des Selbst und Sein-im-Recht durch Alssein stehenbleibt, erweist sich Recht eigentlich als im Unbekannten „hängend“ (unabhängig davon, inwieweit der „Platz“ des Rechts sowohl im Alssein als auch im Dasein im Allgemeinen konkretisiert wird). Gleichzeitig wird die Situation durch den Übergang vom Alss‐ ein zur Natur der Dinge nicht gerettet. Nachdem W. Maihofer in „Recht und Sein“ darauf hinweist, dass Alssein den Horizont (d. h. die Auffächerung der Möglichkeiten) davon darstellt, was Dasein im Sein-mit-Anderen sein kann, rutscht er anschließend in den po‐ sitiven Soziologismus ab, indem er Alssein nicht mehr als Existen‐ tial (also als Seinsmodus) versteht, sondern als konkret-historisch bedingte soziale Maske oder Rolle (also als Seiendes). Dadurch ver‐ ebbt die gesamte fundamentalontologische Schlagkraft von „Recht und Sein“ und wird in weiteren Werken (wie bereits von Kritikern
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bemerkt) durch einen positiv-soziologischen Inhalt ersetzt, der fer‐ ner durch existentielle Rhetorik verdeckt wird. Aber damit wird die Begründung des Rechts von einer ontologischen oder schlimmsten‐ falls existentiellen zur konkret-historischen und positiv-soziologi‐ schen! W. Maihofer geht auf der Suche nach den Grundlagen des Rechts zum Sachverhalt über, ist aber nicht in der Lage (wie bereits er‐ wähnt) seine rechtliche Natur zu begründen, die gewisse „dyna‐ mische Prozessualität“ des „Überfließens“ des Rechts der Leben‐ statsachen in konkrete Rechtsentscheidungen und -Normen zu zei‐ gen, oder, in der Sprache der klassischen Rechtsphilosophie, Sol‐ len aus dem Sein abzuleiten. Somit trifft der deutsche Existentialist das gleiche Problem an, bei welchem die oben genannten Vertre‐ ter der Rechtsphänomenologie zuvor stehengeblieben waren – dass Recht nicht an sich, in einer gewissen abstrakten Dimension des Sol‐ lens existiert, sondern als Folge eines besonderen, rechtserzeugenden Ereignisses entsteht, des sozialen Aktes (A. Reinach), der normati‐ ven Tatsache (N. Alexejew) oder der außergewöhnlichen Umstände (G. Husserl). Aber obwohl W. Maihofer für diese Aufgabe über ein wesentlich solideres methodologisches Werkzeug (den fundamen‐ talontologischen Apparat von M. Heidegger) verfügt als seine Vor‐ gänger, konnte er die rechtliche Natur der Dinge eben nicht reflek‐ tieren, welche sie eben von anderen Lebensumständen unterschei‐ det, die zu Entstehung moralischer, sexueller, wirtschaftlicher, poli‐ tischer und anderer Beziehungen und Situationen führen. Dabei erscheint die Bemerkung des koreanischen Rechtswissen‐ schaftlers Z.-W. Shim während des erwähnten Kolloquiums durch‐ aus zutreffend. Er zeigt: „Unsere Frage über das menschliche Dasein in der Welt richtet sich nicht auf die Substanz eines bestimmten Lebenssachverhaltes, sondern auf die ihm innewohnende Koexis‐ tenzweise, d. h. die Verhältnisse, die der sich auf bestimmte Weise ereignenden menschlichen Begegnung in der Welt der Alltäglichkeit zugrunde liegen.“ 520 Anders ausgedrückt, im Gegensatz zur phä‐ nomenologischen Fragestellung nach dem „rechtlichen Wesen“ be‐ 520 Shim Z.-W. Die Rechtsphilosophie des Alsseins und die Lehre über den richti‐ gen Namen bei Konfuzius// Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags. Berlin: BWV, 2010. – S. 96–97.
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stimmter Tatsachen muss derjenige, der im Kontext von W. Maiho‐ fer weiterfragen möchte, sich des Zusammenhangs zwischen den Seinsmodi des Seins-mit-Anderen und der Natur jener konkreten Lebenssituation im Klaren werden, in welcher sich im Zuge des ge‐ meinsamen Seins des Menschen Recht ereignet. Nur so kann die dritte Lücke geschlossen werden, welche der deutsche Rechtswis‐ senschaftler „uns als Erbe hinterlassen hat“: Wie existiert eigentlich Recht? Denn auch die Frage nach dem Sein des Rechts bleibt bei W. Maihofer ohne explizite Antwort. Ordnung, rechtmäßige Erwar‐ tungen und Interessen, Selbstlegitimation des existierenden Men‐ schen – sind all diese Zwischendefinitionen des Rechts des deut‐ schen Rechtswissenschaftlers nicht ontologisch amorph, ohne eine klare Vorstellung davon zu geben, wie Recht sich ereignet? Es ist anzunehmen, dass W. Maihofer infolgedessen gescheitert ist, dass er eines der methodischen Hauptpostulate der Philosophie M. Heideggers nicht berücksichtigt hat – über die Zeit als Hori‐ zont der Verständlichkeit des Seins. Mit anderen Worten, soweit wir Sein aus der Zeit verstehen, bedarf jede Frage nach dem Sein der temporalen Analyse. Die Frage nach dem Sein des Rechts ist keine Ausnahme. Durch deren Stellung müssen wir die rechtliche Zeit ins Blickfeld einführen. Denn Dasein als Sein des Selbst (das W. Maiho‐ fer als die wahre Grundlage des Rechts versteht) verwirklicht Recht in verschiedenen Gestalten des Alsseins nicht in einer gewissen zeit‐ losen Wirklichkeit, sondern im Zeithorizont. Nach einer treffenden Anmerkung des schon erwähnten Z.W. Shim, „befindet sich die vor‐ gezeichnete Sozialgestalt mit «Alssein» in der ewigen Wiederkehr des Gleichen, und zwar in einer unendlich in sich verschlungenen Kette von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die «Welt des Alsseins» legt nämlich die Bahnen der wechselseitigen Begegnungen der Sozialgestalten die Eigentlichkeit ihres Seins.“ 521 Somit hat W. Maihofer zwar die Frage nach dem Sein des Rechts erstmals klar explizit formuliert, lässt jedoch sowohl das Verhältnis von Recht und Sein, den Platz des Rechts in der ontologischen Ver‐ fassung des Menschen – des Daseins, als auch wie Recht existiert, 521 Shim Z.-W. Die Rechtsphilosophie des Alsseins und die Lehre über den richti‐ gen Namen bei Konfuzius// Menschliche Existenz und Würde im Rechtsstaat Ergebnisse eines Kolloquiums für und mit Werner Maihofer aus Anlass seines 90. Geburtstags. Berlin: BWV, 2010. – S. 97.
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Paragraph 5. Die Fundamentalontologie des Rechts von R. Marcic
ungeklärt. Um den von W. Maihofer aufgezeigten Weg der Frage‐ stellung weiterzugehen, scheint es notwendig zu sein, die temporale Perspektive ins Blickfeld zu bringen, indem sich auf die rechtliche Zeit als Horizont des Seins des Rechts besinnt wird.
Paragraph 5. Die Fundamentalontologie des Rechts von R. Marcic Das Problem des Verhältnisses von Sein und Recht steht für den berühmten österreichischen Rechtsphilosophen R. Marcic (1919– 1971) im Mittelpunkt. Sein tragischer Tod beim Flugzeugabsturz über Belgien führte jedoch leider dazu, dass er kein vollständiges, ganzheitliches Rechtskonzept entwickeln konnte. Gleichzeitig ent‐ halten die nach ihm verbliebenen Schriften durchaus interessante Ansätze, über das Sein des Rechts nachzudenken. Seine Arbeit „Mensch – Recht – Raum: Drei Gedankenwege ins Dasein“ 522 beginnt der österreichische Rechtsphilosoph mit der Feststellung über die Dualität des Phänomens des Rechts. Einerseits ist Recht die Erscheinung, die an die zwischenmenschliche Kommu‐ nikation gebunden ist und andererseits ist das Rechtsproblem in der Existenz verwurzelt, im einzigartigen Sein des Menschen. 523 Aber es wird möglich, die «sozial-kommunikative» Ebene des Seins des Rechts und seine «existentielle» Schicht durch das Phänomen der Ordnung zu vereinen. Denn sowohl Kommunikation als auch Exis‐ tenz finden immer schon «innerhalb» einer Ordnung statt, sind von ihr «durchdrungen». Das Vorhandensein von Ordnung weist auf ein gewisses tiefgründiges Ereignis hin, das sowohl das Sein des Indivi‐ duums (Existenz) als auch die gemeinsame Existenz der Menschen (Kommunikation) «zusammennäht».“das Existenzproblem ist das Rechtsproblem; die zentrale Frage des Daseins ist die Frage nach dem Recht als der Ordnung, die das Zusammenleben der Menschen ermöglicht, bewahrt und entfaltet.” 524
522 Marcic R. Mensch – Recht – Kosmos. Drei Gedankenwege ins Dasein. – Wien, Köln, Stuttgart, Zürich: Europa, 1965. – S. 117. 523 Op.cit. S. 7. 524 Op.cit. S. 12.
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Das Phänomen der Ordnung, das ebenso die Existenz des In‐ dividuums wie auch das gemeinsame Sein der Menschen durch‐ dringt, wirft unumgänglich die Frage nach den Grenzen der Ein‐ griffe des Menschen ins Recht auf: Kann der Mensch willkürlich diese oder jene Ordnung herstellen oder ist er nur dazu verdammt, diese hinzunehmen, bestimmte objektive Gesetzmäßigkeiten aufzu‐ zeigen und zu befolgen? Eine ähnliche Frage, wie wir uns erinnern, hat ebenso E. Fechner beschäftigt, welcher die Position des Men‐ schen im Recht zwischen der «Gegebenheit» und «Aufgegebenheit» der Voraussetzungen seines Seins charakterisierte. Im Gegenzug weist R. Marcic, mit ähnlichem Problem konfron‐ tiert, auf folgendes hin: „Mensch und Recht sind von jeher und für alle Zeiten einander übereignet . . . .es leuchtet jedermann ein, dass der Mensch nicht ohne das Recht sein kann. Kann das Recht ohne den Menschen sein? Ist der Mensch Herr des Rechts? Oder steht der Mensch unter der Herrschaft des Rechts?“ – so fragt er. 525 Um also die Grenzen menschlicher Eingriffe ins Recht zu erken‐ nen, muss vorher geklärt werden, in welchem Sinne die genannten Phänomene – Mensch und Recht – verstanden werden sollten. Im Gegensatz zu den klassischen Interpretationen des Individuums als Rechtssubjekt mittels Vernunft oder Willen, besinnt sich R. Marcic auf das Wesentliche des Menschen auf Ebene der Existenzphiloso‐ phie, deren Schlüsselkategorien In-der-Welt-Sein und Grenzsitua‐ tion sind. Laut R. Marcic „ist der Mensch, wie alle anderen Dinge, ein Teil, ein Glied des Universums. . . . Er ist der Ort, wo die sicht‐ bar-sinnfällige Welt, die Natur, und die unsichtbar-übersinnliche Welt, die Übernatur, ineinandergreifen. . . Er steht an der Grenze, und zum Wesen eines Wächters gehört es, dass er über die Grenzen schaut.“ 526 So besteht das Seinswesen des Menschen im ständigen Übergang: von Selbstsein (der Existenz) zum Sein-mit-Anderen, von empirischem Sein zum metaphysischen Sein usw. Die Grenzen, welche den Menschen von der Gesellschaft trennen, sind das, was die Welt zusammenhält und sie nicht ins Nichts niedergehen lässt. Somit verhilft der Mensch als Wächter der Ordnung ihr, sich zu ver‐ wirklichen. Aber “wenn der Mensch nur mit der Gemeinschaft, in
525 Op.cit. S. 25. 526 Op.cit. S. 27.
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Paragraph 5. Die Fundamentalontologie des Rechts von R. Marcic
der Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft existiert, dann ist er auch immer schon in das Geflecht dieser Ordnungsregeln eingewo‐ ben. Diese Regeln werden «Recht» genannt.” 527 Somit sind für R. Marcic Existenz des Menschen und Sein des Rechts untrennbar miteinander verbunden. Doch was versteht man unter Recht als den ordnenden Regeln? Natürliches oder positi‐ ves Recht? Und hier befindet sich die Antwort des österreichischen Rechtswissenschaftlers ganz im Bann des rechtlichen Existentialis‐ mus, dessen Vertreter versuchten, die Dichotomie von natürlichem und positivem Recht zu überwinden. Er betont, „dass Naturrecht und positives Recht eine Einheit bilden, dass wir es hier nicht mit zwei wesensverschiedenen Systemen zu tun haben, die einander vernichten können. Naturrecht und positives Recht bilden eine ge‐ schlossene Einheit, innerhalb deren eine Rangordnung in der Weise waltet, dass die ranghöhere Norm kräftiger ist als die rangniedri‐ gere und infolgedessen jene diese verdrängt.“ 528 Zugleich ist es of‐ fensichtlich, dass die Gleichsetzung des Rechts mit einer bestimm‐ ten – «superpositiven» und «übernatürlichen» – Ordnung uns nach der Natur und dem Wesentlichen dieser, nach ihrem Ursprung zu fragen zwingt: Wo kommt das Recht her? 529 Folglich wurde, wie man sehen kann, im Zuge der Fragestellung des österreichischen Rechtswissenschaftlers, die Frage von der ursprünglich «eng exis‐ tentiellen», nach den Grenzen menschlichen Eingriffs ins Recht, zur «ontologischen», nach den Grundlagen des Rechts insgesamt. Der Verlauf der weiteren Überlegungen von R. Machic ist Fol‐ gender. “Sachgemäß spricht man von der Seinsordnung. Naturrecht ist Seinsordnung, besser gesagt: eine Emanation der Seinsordnung. Die Seinsordnung ist die lex aeterna und ihre erste Ausprägung in Raum und Zeit ist die lex naturalis.” 530 Somit ist Recht als Teil des Universums in der Ordnung des Seins verwurzelt. Laut R. Marcic ist der Grund und so auch der Geltungsgrund des Rechts Ordnung des Seins. Man kann sich ihn in drei Gabelungen vorstellen: Die phy‐ sikalische Welt, die sittliche Welt, die rechtliche Welt. Also waltet
527 528 529 530
Op.cit. S. 36. Op.cit. S. 38. Ibid. Op.cit. S. 39.
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
Naturrecht als seinsmäßige, eigenständige und gleichursprüngliche Ordnung neben der ethischen und moralischen Ordnung. 531 Was soll man jedoch unter dem natürlichen Recht verstehen? Handelt es hier nicht um die verborgene Rückkehr zu den Thesen des klassischen Naturrechts, welches Recht in der Natur des Men‐ schen oder in den allgemeinen «Gesetzen des Universums» gegrün‐ det hat, die dem rationalen Verständnis unterliegen? R. Marcic er‐ kennt die Gefahr eines solchen «methodologischen Rücklaufs» und betont ausdrücklich, dass Naturrecht genauer als «Seinsrecht» be‐ zeichnet werden sollte. 532 Somit ist die Erstgrundlage des Rechts bei R. Marcic, im Gegensatz zur klassischen naturrechtlichen Begrün‐ dung, weder der Wille oder der Vernunft des Menschen noch der Wille oder der Intellekt Gottes. „. . . Weltall nach einer Grundverfas‐ sung geordnet, die Natur genannt wird. . . Diese Natur, diese Grund‐ verfassung ist der Herkunftsboden des Rechts. So ist das Recht in seinem Grund Sein, nicht Sollen, doch kommen seine Normen: die Maßstäbe des Rechts auf den Menschen in der Gestalt des Sollens zu. Das Recht ist Sein, obwohl es in der Gestalt des Sollens dem Menschen entgegentritt.“ 533 Daraus ist schon die Antwort auf die „Existenzfrage“, nach den Grenzen menschlichen Eingriffs in die Sphäre des Rechts, klar er‐ sichtlich. Insofern Recht aus dem Sein entsteht, ist der Mensch ebenso wenig der Herr des Rechts, wie er Herr des Seins ist. „Der Mensch ist der Herrschaft des Rechts unterworfen und er ist in dem Maße mit dem Recht besonders verbunden, wie er zum Sein in ei‐ ner ausnehmenden Beziehung steht.“ 534 Die Freiheit des Menschen liegt in Bezug auf Recht darin, dass er den Befehl des Rechts so‐ wohl ausführen als auch nicht ausführen kann (allerdings die Ver‐ antwortung für seine Wahl trägt). Und hier stimmt R. Marcic den wichtigsten Thesen des rechtlichen Existentialismus zu und weist darauf hin, dass die Besonderheit der Beziehungen von Mensch und Recht darin bestehe, dass der Mensch das einzige sichtbare Wesen ist, das durch die persönliche Entscheidung die Ordnung der Dinge
531 532 533 534
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Op.cit. S. 40. Op.cit. S. 38. Op.cit. S. 41. Op.cit. S. 44.
Paragraph 5. Die Fundamentalontologie des Rechts von R. Marcic
vollzieht. 535 Daraus ist deutlich zu erkennen, dass Recht für den österreichischen Rechtswissenschaftler keine gewisse statische Ord‐ nung ist, ähnlich der in der transzendentalen Dimension des Sol‐ lens erstarrten Ordnung des klassischen Naturrechts. Ebenso ist der «rechtliche Mensch» von R. Marcic nicht mit dem «Rechtssubjekt» der klassischen Rechtswissenschaft gleichzusetzen, welcher entwe‐ der Recht willkürlich konstruiert (Positivismus) oder passiv den erkannten Gesetzmäßigkeiten des Naturrechts folgt. Insofern über Recht als Ordnung des Seins mittels der menschlichen Entschei‐ dung in einer konkreten Situation verfügt wird, erscheinen sowohl das Phänomen des Rechts als auch der rechtliche Mensch als kon‐ tinuierlicher dynamischer Prozess des «Ereignens», der Verwirkli‐ chung des Rechts, der in einer Art «Resonanz» der menschlichen Existenz und des Seins des Rechts geschieht, welche folglich die Be‐ zeichnung «Recht des Seins» bekommt. Die genannten Thesen wurden in weiteren Werken des ös‐ terreichischen Rechtswissenschaftlers entwickelt. So wendet sich R. Marcic im Rahmen des 1968 erschienenen rechtsphilosophi‐ schen Vorlesungskurses 536 den Fragen der Definition des Fachge‐ biets Rechtsphilosophie, Rechtsontologie, Rechtsontogenese (Ur‐ sprung der Normativität des Rechts) etc. Er stellt fest, dass das Pro‐ blem der Besinnung auf das Sein als solches untrennbar mit Recht verbunden ist. R. Marchic versteht die Ordnung des Seins so weit wie möglich, einschließlich Recht und Unrecht. 537 Er glaubt, dass wir Recht er‐ kennen, wenn wir Unrecht treffen. 538 Wiederum, damit Unrecht als solches überhaupt existieren kann, ist bereits eine Rechtsordnung notwendig: sonst könnten wir überhaupt nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Unter Bezugnahme auf Aristoteles be‐ hauptet R. Marchic, dass Recht in der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht bestimmt wird. 539 Somit, insofern Unrecht eine Rechtsordnung voraussetzt, hat Recht seinen fixierten Topos im 535 Ibid. 536 Marcic R. Rechtsphilosophie. Eine Einführung. – Freiburg: Rombach, 1968. – S. 294. 537 Op.cit. S. 16. 538 Op.cit. S. 17. 539 Op.cit. S. 22–23.
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
Reich der Wirklichkeit. 540 Hier treffen wir die ganz eigenartige Dy‐ namik des Rechts. Primär existiert es als eine für den Menschen erschlossene Rechtsordnung, welche aber vorerst als solche quasi „verborgen“ ist. Recht „kommt ans Licht“ vermittels des Unrechts, wenn die verletzte Rechtsordnung vom Menschen „verlangt“, sie wiederherzustellen. Somit ist Recht ins Fundament der menschli‐ chen Existenz eingebaut. 541 Bevor wir auf diese Welt kamen, wurde das Netz des Rechts über uns geworfen, welches das Leben der Men‐ schen wie Luft umgibt. 542 Dabei stellen sowohl das Recht des Seins als auch die Rechts‐ ordnung in der Auslegung des österreichischen Philosophen kei‐ neswegs eine sichere logische Gesamtheit der Normen dar, die ir‐ gendwo in der Welt des Sollens „schweben“ und sich im Laufe der Reaktion auf einen Rechtsbruch „aktualisieren“. Insofern Recht mit Sein untrennbar verbunden ist, aus welchem wir Seiendes als sol‐ ches verstehen, so ist es die ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit der Intelligibilität des Seins als solchem. Metaphorisch ist Recht mit Licht zu vergleichen, welches, obwohl selbst unsichtbar ist, alles andere sichtbar macht. Wie R. Marcic aufzeigt, tendierte die Rechtsmetaphysik zur Metaphysik des Lichts: Licht als Prinzip des Kosmos, des Universums, ist jenes lumen naturale, das den Blick in das Nicht-Rechtliche, Vor-Rechtliche, Urmaß der Weltwirklichkeit möglich macht. Die menschliche Vernunft ist der Ort, in den die‐ ses lumen naturale eindringen kann. Recht ist, wie Licht, die große Kraft des Universums. 543 Die Rechtsordnung besitzt aufgrund ihrer Verbindung mit dem Sein den Vorrang im Verhältnis zu sittlichen, ethischen und ande‐ ren verwandten Ordnungen. 544 Jeder Auftrag ist Verhältnis; dies be‐ tont der österreichische Rechtsphilosoph. 545 Die Rechtsordnung ist dementsprechend das dem Menschen erschlossene Verhältnis des Seienden (vor allem Menschen) zueinander. Solches Verhältnis er‐ schließt sich dem Menschen dadurch, dass er immer schon in der 540 541 542 543 544 545
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Op.cit. S. 18. Op.cit. S. 20. Op.cit. S. 21. Op.cit. S. 32. Op.cit. S. 36. Op.cit. S. 111.
Paragraph 5. Die Fundamentalontologie des Rechts von R. Marcic
Welt und unter anderen Menschen ist und deshalb wahrnehmen kann, wenn in Folge eines Rechtsbruchs dieses Verhältnis gebro‐ chen wird. Daraus folgt, dass der Unterschied zwischen der Reali‐ tät des Seins als anfänglicher Ordnung (Kosmos, Physis) und einer durch einen konkreten historischen Weg begründeten abgeleiteten Ordnung (geschriebenen oder ungeschriebenen) ursprünglicher ist als die Dichotomie Natur- vs. Positivrecht. 546 Die Ontologie geht je‐ doch davon aus, dass jeder historisch gebildeten Ordnung die nicht gebildete, präpositive Ordnung des Seins oder der Natur zugrunde liegt. Wenn dem Werk menschlicher Hände eine Idee, eine Spur der präpositiven Ordnung fehlt, dann ist solche Schöpfung nur schein‐ bare Ordnung. 547 In seinem letzten Werk „Geschichte der Rechtsphilosophie: Schwerpunkte – Kontrapunkte“ (1971) 548 versuchte der österrei‐ chische Rechtswissenschaftler den Zusammenhang von Recht und allgemeinen philosophischen Problemen und vor allem der Frage nach der Wahrheit am deutlichsten zu akzentuieren. Er sagt „das Recht und die Wahrheit sind strukturverwandt.“ 549 Dabei ist anzu‐ merken, dass R. Marcic unter Wahrheit keineswegs statisches, abso‐ lutes Wissen versteht, das in Bezug auf die Realität vorschriftlich ist. Ebenso stellt diese Übereinstimmung keine logische adaequatio dar, sondern die ontologische Entsprechung, den Zufall, die Begegnung. Laut Marcic hat die Wahrheit seinen Ursprung in Bewegung. 550 Deswegen, wenn wir also die Übereinstimmung als Struktur der Wahrheit betrachten, so ist damit noch nichts darüber ausgesagt, ob wir sie statisch oder dynamisch erfassen. Aber wenn wir sehen, dass das Statische und das Fixe im Schema der Wahrheit als der Entspre‐ chung überwiegt, ist das Dynamische, Variable bloß impliziert. 551 Offensichtlich unterscheidet sich solches Verständnis von Wahr‐ heit und Übereinstimmung von dem, wie es in der klassischen Rechtswissenschaft vorherrschte, welche Wahrheit als adaequatio 546 Op.cit. S. 112. 547 Op.cit. S. 113. 548 Marcic R. Geschichte der Rechtsphilosophie. Schwerpunkte – Kontrapunkte. – Freiburg: Rombach, 1971. – S. 368. 549 Op.cit. S. 107. 550 Op.cit. S. 108. 551 Op.cit. S. 110.
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
rei ad intellectus gesehen hat. Auf der Suche nach der Begründung für seine Position wendet sich der österreichische Rechtswissen‐ schaftler an die Tradition des philosophisch-rechtlichen Denkens. Er wendet sich an das vorsokratische Denken. 552 Im Lichte der vorsokratisch verstandenen Wahrheit (als Unverborgenheit) zeigen sich die Dinge der Welt so, dass Maß der Erscheinung Maß der Wahrheit bedeutet. Da uns dabei aber nie ein einzelnes Ding, son‐ dern immer die Welt als Ganzes gegeben ist, ist die Wahrheit in diesem Fall nicht die Wahrheit des einzelnen Dings, sondern die universelle Verbindung der Dinge als Universum. Nach Marcic, weil unter «Wahrheit» die Vorsokratiker einen Grundzug des Seins und des Seienden selbst verstehen, so sind Dike und die rechtliche Wahr‐ heit ein und dasselbe. Doch die Besinnung auf Recht, das untrenn‐ bar mit dem Sein verbunden ist, und zwar nicht als Seiendes son‐ dern als Bestandteil des Seins selbst, erfordert die entsprechende Methodologie. Die Philosophie, die die Seinsfrage am deutlichsten gestellt hat, ist die Fundamentalontologie von M. Heidegger. Wie Marcic schreibt, waltet laut Heidegger ein unzugänglicher, unan‐ tastbarer Kernbezirk des Rechts immer schon voraus. . . Es gibt prä‐ positives Recht, Seinsrecht, das an sich gilt, von sich aus, aus sich. 553 Solche Schlussfolgerung, wonach Recht als Recht des Seins keiner weiteren Begründung bedarf, sondern an sich gilt, fordert die wei‐ tere Klärung der Verbindung von Recht und Sein, Analyse ihres Ver‐ hältnisses, Umsetzungsmethoden etc. Hier können wir zwei mögli‐ che Richtungen zur Lösung des Problems festlegen. Einerseits kann man sich an die Werke von M. Heidegger selbst wenden, um dort Hinweise in Bezug auf Recht zu finden, um dann seine Philosophie rechtlich «aufzufüllen». 554 Andererseits kann man versuchen, Recht des Seins ausgehend von den Ergebnissen seines Philosophierens zu 552 Ibid. 553 Marcic R. Geschichte der Rechtsphilosophie. Schwerpunkte – Kontrapunkte. – Freiburg: Rombach, 1971. – S. 335. 554 Unter anderen sind W. Heinemann, G. Sprenger und eine Reihe anderer For‐ scher (A. Villani, O. Ben-Dor etc.) diesen Weg gegangen. Unserer Meinung nach, insofern die Philosophie von M. Heidegger kein vervollständigbares „System“ ist, sondern eine sich immer wieder zu erneuernde Fragestellung nach dem Sinn des Seins im Ganzen, so ist ein solcher Ansatz auswegslos und entspricht eben nicht dem eigentlichen Geist und der Absicht von Heideggers Denken.
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Schlussfolgerungen
begreifen, und zwar Recht ausgehend vom Ereignis zu überdenken, als andauernde Verwirklichung der ontologischen und postontolo‐ gischen Differenz, sowie vom Horizont der Zeit. 555 Welchen Weg R. Marcic gewählt hätte, können wir nur erahnen. Wie bereits er‐ wähnt, wurde sein Schaffensweg mit 52 Jahren durch einen Flug‐ zeugabsturz tragisch unterbrochen. Deswegen werden wir weiterhin dankbar auf seine genialen Intuitionen auf unserem eigenem Weg zur Besinnung auf die Frage nach dem Sein des Rechts zurückgrei‐ fen.
Schlussfolgerungen Wie man sehen kann, ist die Doktrin des Rechtsexistentialismus also ein ganzheitlicher Komplex von Rechtsvorstellungen, die vom Standpunkt der Existenzphilosophie (vor allem von J.-P. Sartre und K. Jaspers) und der damit verbundenen Fundamentalontologie von M. Heidegger aus gebildet sind. Ohne die individuelle Besonderheit der Ansätze von G. Cohn, E. Fechner, W. Maihofer, A. Kaufmann und R. Marcic zu leugnen, scheint es dennoch möglich, eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen des existentiellen Ansatzes als sol‐ chen im Recht hervorzuheben. Erstens ist dies der Hinweis darauf, dass Recht nicht an sich in einer apriorischen Realität des Sollens (Naturrecht) oder des abso‐ luten Vorhandenseins der Grundnorm (Positivismus) existiert, son‐ dern sich nur durch die menschliche Praxis, „die richtige Entschei‐ dung in einer konkreten Situation“, verwirklicht. Deswegen ist der primäre Ursprung von Recht keine Norm, Idee oder Präzedenzfall, sondern jene konkrete Situation, welche ihrer rechtlichen Besin‐ nung bedarf. Anderenfalls gibt es eine ausschließlich „tote“ Gesamt‐ heit von Normen, welche nur theoretische Chancen haben, in der Realität umgesetzt zu werden. Somit verschwindet der fundamen‐ tale Riss zwischen Sein und Sollen, welcher sowohl für das „klassi‐ sche“ Naturrecht als auch für den Rechtspositivismus charakteris‐ tisch war. Zweitens folgt der Verwurzelung des Rechts in der konkreten Si‐ tuation verursachungsgerecht das Umdenken des Status des Rechts‐ 555 Dieser Ansatz wird weiter als Leitfaden für diese Forschung gewählt.
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
subjekts. Im Unterschied zur Phänomenologie, für welche das tran‐ szendentale Rechtssubjekt „primär“ war, d. h. das Bewusstsein, das den rechtlichen Sinn konstituiert, ist im rechtlichen Existentialis‐ mus das Ausgangssubjekt des Rechts der empirische Mensch, der in eine konkrete (Grenz-) Situation der Wahl „geworfen“ ist. Dement‐ sprechend, insofern die Hauptmerkmale der Existenz eines solchen Menschen Freiheit und Verantwortung sind und Recht im Zuge der Wahl einer Variante seines Verhaltens aktualisiert (oder im Gegen‐ teil annihiliert) wird, so erweist sich das Sein des Rechts als unmit‐ telbar in der menschlichen Existenz gegründet. Der Rechtsexisten‐ tialismus weicht somit sowohl von den klassischen Vorstellungen des „rein rationalen Rechtssubjekts“ ab, das die rechtlichen Gesetz‐ mäßigkeiten mit Hilfe der Vernunft begreift und sie mittels Willens‐ kraft in die empirische Realität überträgt (Naturrecht), als auch vom „herrischen Rechtssubjekt“ des Positivismus, das Recht willkürlich in Form der allgemein verbindlichen Normen konstruiert, welche durch das existierende Dasein ersetzt werden. Drittens ist das Ergebnis des Überdenkens der existentiell-onto‐ logischen Grundlagen des Rechts die Feststellung des abgeleiteten, sekundären Charakters klassischer Rechtsquellen (Idee von Recht, Rechtsnormen etc.). Trotz der herrschenden Ansicht weigern sich die Vertreter des Rechtsexistentialismus nicht, sich der Norm zuzu‐ wenden, sondern unterstreichen, dass nur solche Norm den recht‐ lichen Status besitzt, welche dem Ereignis adäquat ist, das die Hin‐ wendung der Menschen zum Recht ausgelöst hat. Somit sind die Ideen von Recht, Rechtsnorm, Präzedenzfall usw. keine primären, sondern sekundären Quellen des Rechts, die Hilfsmittel bei dessen Verwirklichung. Viertens erzeugt die Stellung des infragestehenden Rechtscharak‐ ters von Normen, Institutionen und Rechtssubjekten das Problem der Quelle von deren rechtlichen Status. Der Rechtsexistentialis‐ mus verwirft den Verweis sowohl auf den Willen des Gesetzgebers (Positivismus) als auch auf die apriorischen Vernunftgesetze (Na‐ turrecht) und besinnt sich des Problems in den Koordinaten der ontologischen Differenz von Sein vs. Seiendes bzw. Essenz vs. Exis‐ tenz (M. Heidegger, J.-P. Sartre). Sowohl die Frage nach der recht‐ lichen Seinsart eines gewissen Seienden (Idee, Norm, Gerichtsent‐ scheidung, Rechtssubjekt) als auch die Frage nach seinem rechtli‐ chen Wesentlichen (Essenz) verweist notwendigerweise auf Sein im
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Schlussfolgerungen
Allgemeinen oder auf das Sein des Menschen (Existenz). Das zen‐ trale Problem des Rechtsexistentialismus (der existentialen Ontolo‐ gie des Rechts) ist somit Sein des Rechts als Grundlage der rechtli‐ chen Seinsart jedes Seienden. Fünftens ist allen Vertretern des Rechtsexistentialismus das Stre‐ ben gemeinsam, die Dichotomie des natürlichen und positiven Rechts zu überwinden. Indem die Existentialisten eine konkrete Si‐ tuation als Quelle des Rechts denken, verwischen sie tatsächlich die Differenz zwischen der Rechtsquelle und dem Subjekt rechtlicher Regulierung (Sollen und Seiendem), wodurch die „klassische“ Frage nach dem Vorrang des „natürlich-rechtlichen“ oder „positiven“ Sol‐ lens bei der Klärung der Situation an Gehalt verliert. Insofern die Quelle der Besinnung auf die Rechtssituation deren immanente Kri‐ terien sind, die sich im Zuge der verantwortungsvollen Wahl durch ihrer Beteiligten bilden, werden die Normen des Natur- und des positiven Rechts nur zu einer der Variablen einer solchen Situation, die Handlungen der Subjekte nicht streng bestimmt, sondern bloß alternative Optionen für ihr Verhalten bietet. Mittlerweile lässt sich bei aller Schärfe und Aktualität der ge‐ stellten Fragen feststellen, dass Vertreter des Rechtsexistentialismus dennoch keinen Erfolg auf der Suche nach endgültigen Antworten auf diese hatten. Obwohl sie also die konkrete Situation als primäre Quelle des Rechts bezeichnet haben, konnten existentiell orientierte Rechtswissenschaftler dennoch nicht jene Spezifik herausarbeiten, welche die rechtliche Situation von angrenzenden politischen, wirt‐ schaftlichen, moralischen und anderen derartigen Situationen un‐ terscheidet. 556 Obwohl Recht im menschlichen Sein (Existenz) oder im Sein im Ganzen verwurzelt ist, hat niemand gezeigt, wie genau Recht in die Struktur des menschlichen Sein eingebaut ist oder wel‐ chen Platz das Phänomen des Rechts im Sein überhaupt einnimmt. Ohne den primären Rechtscharakter von Normen, Präzedenzfällen und anderen offiziell-machthabenden Institutionen anzuerkennen, war der Existentialismus doch nicht dazu in der Lage, klar zu for‐ mulieren, was in diesem Fall unter Recht zu verstehen ist, wie es existiert usw. 556 Ein Versuch, diese Lücke zu füllen, ist meine Monographie, siehe: Правовая ситуация как исток бытия права. – Х.:, Диса+, 2006.–176 с. [Stovba O.V. Law Situation as Origin of Law Being. – Kharkiv: Disa+, 2006].
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Kapitel 2. Die existentielle Ontologie des Rechts
Es scheint, dass diese Lücken nicht zuletzt dadurch verursacht werden, dass die zeitliche Dimension des Rechts ignoriert wird, wel‐ che nach M. Heidegger eben den Zugang zur Thematisierung des Seins des entsprechenden Seienden eröffnen kann. Somit erwartet das von den Existentialisten gestellte Problem des Seins des Rechts (Sinn und Grundlagen des Rechts, seine Seinsarten, das struktu‐ relle Verhältnis des Rechts zum Sein des Menschen und zum Sein überhaupt) noch seine adäquate Besinnung aus dem Horizont der rechtlichen Zeit.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Wie bereits erwähnt führte der Niedergang des Rechtsexistentia‐ lismus am Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zum Ab‐ klingen der Diskussionen über das Sein des Rechts. Insofern die rechtliche Zeit, aus welcher allein sich auf das Sein des Rechts zu besinnen ist, letztendlich nicht ins Blickfeld der Rechtswissenschaft geraten ist, konnte die existentiell-phänomenologische Rechtsphi‐ losophie nicht über die einfache Feststellung des Vorhandenseins der Seinswurzeln des Rechtsphänomens hinausgehen. Es scheint, dass der oben erwähnte Fortschritt der existential-ontologischen Analyse bezüglich der Explikation der spezifischen Verfassung des Verhältnisses von Sein und Recht, wie genau Recht in die Existenz des Menschen eingebaut ist, die Offenbarung der Seinsarten des Rechts usw., bestehen könnte. Die Ergebnisse solcher Untersuchun‐ gen würden es ermöglichen, die ursprüngliche Rechtsfrage zu be‐ antworten – nach dem Sinn des Seins des Rechts. Jedoch ist anzumerken, dass die moderne westliche Rechtsphi‐ losophie grundsätzlich den Weg der Vergessenheit der Frage nach dem Sein des Rechts gegangen ist, indem sie diese durch die Versu‐ che der weiteren Operationalisierung des Rechts ersetzt hat, durch die Kriterien für das Konstruieren von Gerechtigkeit, durch Dis‐ kussionen über den Umfang des Rechtsbegriffs (insbesondere der An- bzw. Abwesenheit der notwendigen Verbindung mit Moral) und die Entwicklung angewandter Probleme juristischer Argumen‐ tation usw. 557 Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass die meisten dieser Forschungen sich im Rahmen der metaphysischen Dicho‐ 557 Die bestehenden Versuche der Rechtsbesinnung im postmodernen Paradigma basieren auf den Untersuchungen u. a. von M. Foucault oder etwa J. Derrida und überwinden zwar die Metaphysik, verlieren aber im gleichen Maße das Sein des Rechts aus den Augen. Somit wird das Phänomen des Rechts entweder zum geschlossenen, selbstreferentiellen Diskurs, der ausschließlich „in sich“ Sinn ergibt und keine Rechte gegenüber der für ihn „äußeren“ Wirklichkeit be‐ sitzt, oder zur „monologischen Machttechnik“, welche Recht zum Instrument der Repression macht. Für mehr Details siehe: Foucault and the Law. – Surrey: Ashgate Publishing Company, 2010. – S. 125–179, 461–537.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
tomie von Sein und Sollen bewegt haben, und dadurch Recht in einer Art «ideale» Sphäre unterbracht und ihm den unmittelbaren Zugang zum Sein abgeschnitten haben. 558 Im Gegensatz zu den in der modernen westeuropäischen und amerikanischen Rechtsphi‐ losophie dominierenden Tendenzen wandte sich die postsowjeti‐ sche Rechtswissenschaft Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhun‐ dert aktiv den Problemen der Ontologie des Rechts zu. Die Jahr‐ zehnte der Dominanz von Positivismus und Normativismus in der sowjetischen Rechtstheorie hat zu einer starken Gegenreaktion ge‐ führt und den Rechtsphilosophen den Anreiz gegeben, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie Recht außerhalb der ideologischen Konstrukte und des repressiven Rahmens des Gesetztes existieren kann. Diese Frage, „wie Recht selbst wirklich existiert“ ist in ihrem Wesentlichen postmetaphysisch. „Keine Metaphysik, sei sie idealis‐ tisch, sei sie materialistisch, sei sie christlich, kann ihrem Wesen nach, und keineswegs nur in den versuchten Anstrengungen, sich zu entfalten, das Geschick noch einholen, dies meint: denkend er‐ reichen und versammeln, was in einem erfüllten Sinn von Sein jetzt ist.“ 559 Es scheint, dass eine Reihe von Versuchen postsowjetischer Rechtsphilosophen um die Jahrhundertwende, sich auf das „Recht wie es selbst ist“, d. h. in seinem Sein, zu besinnen, als „dynami‐ sches Rechtsverständnis“ bezeichnet werden kann. 560 Laut dem russischen Philosophen A. Tschernyakow verweist δύναµις als uni‐ verseller ontologischer Begriff auf eine der Deutungen von Sein
558 Ein Beispiel dafür ist die oben erwähnte Diskussion zwischen E. Bulygin und R. Alexy. 559 Heidegger M. Brief über den Humanismus//Wegmarken. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1976. – S. 341. 560 Der Begriff „dynamisches Rechtsverständnis“ wurde von mir in einer Reihe von Veröffentlichungen ausprobiert: Стовба А.В. Темпоральная онтология права//Классическая и постклассическая методология развития юридической науки на современном этапе – Минск: Академия МВД, 2012 – S. 33–39. [Stovba O.V. Temporal Ontology of Law//Classical and Postclassical Methodology of Contemporary Legal Science Development. – Minsk: Academy MIA, 2012]; Стовба О. Темпоральна онтологiя права. Пролегомени //Фiлософiя права i загальна теорiя права. – No 2.–2012. – S. 95– 101. [Stovba O.V. Temporal Ontology of Law. Prolegomens//Philosophy of Law and General Theory of Law. – No 2.–2012].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
im Aristotelischen Sinn-Register – auf δυνάµει oν, d. h. darauf, dass etwas solches und solches, bestimmtes aus-geformtes Seiendes sowohl sein als auch nicht sein kann. 561 Die Dynamik des Rechts bedeutet also nicht nur seine „Agilität“, „Fluidität“ oder „Veränder‐ lichkeit“. Im ursprünglichen Sinne des griechischen δύναµις wurzelt noch etwas mehr: „Dynamik“ sollte in diesem Fall interpretiert werden als Versuch zu verstehen, warum dieses oder jenes Seiende – in unserem Fall Recht – rechtlich ist, während es auch anders sein – oder überhaupt nicht sein könnte. Mit anderen Worten, ein dynamisches Rechtsverständnis geht davon aus, dass Sein des rechtlichen Seienden keineswegs ein Axiom oder ein Dogma ist. Es könnte durchaus auch kein Recht geben. 562 Wie ist es passiert, dass es Recht gibt, wenn es das eben auch nicht geben könnte? 563 Ist Sein 561 Черняков А.Г. Онтология времени. – СПб.: Высшая религиозная школа, 2001. – S. 60. [Tschernjakow A.G. The Ontology of Time. – SPb.: The Hig‐ hest Religious School, 2001]. 562 Siehe in diesem Zusammenhang die äußerst ausdrucksvolle Passage von W. Bibikhin: „Wir haben Probleme mit Wasser, Luft, Straßen, Wärmeversorgung, wir haben viele Probleme. Aber Sein als Ganzes, die Welt? Wie sieht es damit aus? Und was ist damit? Nichts. Die Welt als Ganzes ist wie die Welt als Ganzes. Stören Sie uns nicht, wir haben Probleme. Aber dass es die Welt gibt, wenn es sie auch nicht geben könnte? Wir werden als «bekloppt» angesehen. Stören Sie uns nicht“ / Бибихин В.В. Ранний Хайдеггер (материалы к семинару). – М.: Институт философии, теологии и истории Святого Фомы, 2009. – S. 29–30. [Bibikhin V.V. Early Heidegger (materials to the workshop). – Mos‐ cow: Institute of Philosophy, Theology and History of Holy Thomas, 2009]. Ebenso verlieren Vertreter der metaphysischen Rechtswissenschaft, die sich mit den Problemen des „Umfangs des Rechtsbegriffs“ (Positivismus), seines „notwendigen Zusammenhangs mit der Moral“ (Nichtpositivismus) etc. be‐ fassen, das fundamentale Problem des Rechts aus dem Blick: Wie ist Sein des Rechts als solches möglich? Nach der weiteren treffenden Bemerkung von W. Bibikhin ist das eben Nihilismus: nicht im naiven Sinne von Kulturwissen‐ schaftlern und Moralmenschen, schlechter Nihilismus der Ablehnung der gu‐ ten Welt der Ideen, sondern Nihilismus im Grundsinn des Wortes, wenn unter Nihil an alles herangeführt wird: alles im Ganzen. Kein Problem: mit Allem ist im Ganzen nichts! / Бибихин В.В., op. cit., S. 36. [Bibikhin V.V. Early Heideg‐ ger (materials to the workshop). – Moscow: Institute of Philosophy, Theology and History of Holy Thomas, 2009]. 563 Es gibt gewisse Kontinuität und Übereinstimmung mit der Fragestellung von W. Maihofer: „Warum ist überhaupt Rechtliches und nicht vielmehr nichts?“ Siehe.: Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 38. Auch E. Fechner ak‐
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
des Rechts einfach eine indeterminierte Singularität, ein konkrethistorischer Zufall, oder ist es möglich, dieses Sein im Rahmen einer ihm eigenen Prozessualität bzw. einer invarianten Sinn-Figur zu begreifen? Aus der obigen Fragestellung ist deutlich zu sehen, dass dyna‐ misches Rechtsverständnis sich prinzipiell nicht auf die bisher be‐ kannten Rechtsverständnisarten reduzieren lässt, die mit ihm nur „äußere“ Ähnlichkeiten aufweisen. Im Unterschied zur soziologi‐ schen Theorie des „lebenden Rechts“ von E. Ehrlich, der histori‐ schen Schule des Rechts oder dem „Naturrecht mit veränderlichem Inhalt“ von R. Stammler betont das dynamische Rechtsverständnis nicht nur die inhaltliche Veränderlichkeit des Rechts als natürli‐ che oder positive Norm, die durch ihre geografischen, historischen oder nationalen Merkmale verursacht wird. In diesem Falle liegt der Akzent auf der Ontologie des Rechts. Die Dynamik des Rechts als seine „fragende Haltung in der Möglichkeit des Nichtseins“ lässt zum ersten Mal die Frage nach den ontologischen Voraussetzun‐ gen für die Möglichkeit des Rechts stellen. Wir fragen danach, wie Sein des Rechts (Sein des rechtlichen Seienden) als solches möglich ist und welche Sinn-Gesetzmäßigkeiten sich dabei aufzeigen lassen. Indem die Vertreter des dynamischen Rechtsverständnisses diese Gesetzmäßigkeiten durch die Konstruktion dynamischer Sinn-Me‐ taphern – Rechtskommunikation, Austausch, Dialog usw. explizie‐ ren, versuchen sie Recht nicht nur als inhaltliche Normengesamt‐ heit (die historisch gebildet ist, von der Macht festgelegt ist, natür‐ lich existiert etc.) zu identifizieren, sondern als sich ständig repro‐ duzierende dynamische Sinngeschichte der Existenz des Rechts. 564 In diesem letzten Fall erscheint Recht nicht in Form des klassischen «normativen Kraftfeldes», das unser Leben unsichtbar wie Luft oder elektromagnetische Wellen durchdringt, sondern als ein besonde‐
tualisiert eine ähnliche Problematik. Fechner E. Rechtsphilosophie. – Tübin‐ gen: Mohr Siebeck, 1956. – S. 246. 564 Somit lässt sich von den bisher bekannten Rechtsauffasungen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem dynamischen Rechtsverständnis nur im Konzept von E. Fechner feststellen, der vorgeschlagen hat, Recht als etwas „werdendes“ zu be‐ trachten. Für weitere Details siehe den Paragraphen dieser Arbeit, welcher der Darlegung der Ansichten von E. Fechner gewidmet ist, und auch: Fechner E. Rechtsphilosophie. – Tübingen: Mohr Siebeck, 1956. – S. 261.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
res, «spezielles» Ereignis, welches im konkreten Einzelfall sich auch nicht ereignen kann, und nur wahrscheinliche Chancen hat, in der Wirklichkeit umgesetzt zu werden. Wenn Recht sich jedoch ereig‐ net, dann unterwirft sich dieses Ereignis ebenjenen Sinn-Gesetzmä‐ ßigkeiten, welche die Vertreter des dynamischen Rechtsverständ‐ nisses zu beschreiben versuchen. Im Gegensatz zu Physikern, die die Suche nach dem «Perpetuum Mobile» aufgegeben und solche Versuche für unwissenschaftlich er‐ klärt haben, versuchten die Anhänger der metaphysischen Rechts‐ lehre seit Platons Zeit das «Perpetuum Mobile» der Normativität anfahren zu lassen, welches das absolute Sein-Sollen des Rechts dogmatisch generieren würde. Ein dynamisches Rechtsverständ‐ nis hingegen stoppt diesen Motor, bestreitet seinen „ewigen“ Sta‐ tus und fragt, wie er im Einzelfall „angestoßen“ werden kann und unter welchen Voraussetzungen er sich „ausschaltet“. Das Ergebnis dieser Auffassung ist die radikale Revision der Rechtsrealität, wie sie sich die Anhänger der klassischen Rechtslehre vorstellen, wenn alles rechtliche Seiende, das bisher als unverletzlich angenommen wurde – die Norm, das Rechtsverhältnis, der Mechanismus rechtli‐ cher Regelung, das Rechtssubjekt, sogar die gesamte Rechtsordnung als solche, in Frage gestellt wird. Diese „Infragestellung“ wird vor allem dadurch verursacht, dass sich ausgehend von den obigen Postulaten des dynamischen Rechts‐ verständnisses Sein des Rechts (und Sein des rechtlichen Seienden als des rechtlichen) als nicht „außerhalb der Zeit“ (absolut) und nicht „in der Zeit“ (kontinuierlich), sondern „von Zeit zu Zeit“ (dis‐ kret) erscheint. Aus dieser These folgen drei wichtige Momente. Erstens existiert Recht aufgrund der Ablehnung des Konzepts sei‐ ner Kontinuität nicht notwendig, da sie nicht mehr problemlos von „einem Zeitpunkt zum anderen“ übergeht, sondern riskiert, nicht mehr zum nächsten Zeitpunkt zu gelangen. Zweitens impliziert die Akzeptanz der Diskontinuität des Seins des Rechts eine „Lücke“, eine „Pause“ zwischen den Zeitpunkten seiner Existenz. Und somit gerät die erwähnte Wahrscheinlichkeit in unser Blickfeld, dass sich Recht nicht in jener „Zukunft“ befinden wird, „wo“ wir es erwar‐ ten – dort kann sich entweder „nichts“ oder „etwas anderes“ als Recht befinden. Die Verbindung zwischen zwei Punkten, „in“ wel‐ chen Recht existiert, ist weder starr deterministisch, wo das Vor‐ handensein des Rechts im Punkt „A“ notwendigerweise zu seinem
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Vorhandensein im Punkt „B“ führt, noch formal-logisch, wo das Vorhandensein des Rechts im Punkt „A“ seine logische Folge in seinem Vorhandensein im Punkt „B“ hat, sondern temporal-on‐ tologisch, da sich Recht für den „Übergang“ von „A“ zu „B“ im Zeitabstand zwischen ihnen reproduzieren muss. Und deshalb wird Recht, drittens, ontologisch ursprünglich nicht in den Gemächern der Vernunft oder in den Mechanismen der Staatsmacht und nicht in den Tiefen der Natur erzeugt, sondern im gemeinsamen Sein der Menschen, wo es – eben wie Recht, und nichts anderes – ursprüng‐ lich im zeitlichen Riss, in der Diskretion zwischen den „zwei Jetzt“ entsteht – und sich reproduziert; wenn Recht „noch nicht“ und wenn es „schon“ ist. Der Mechanismus dieser Erzeugung-Repro‐ duktion wird als Rechtskommunikation, Rechtsdialog, Austausch usw. gedacht. Unsere Aufgabe ist es, einen Schritt weiterzugehen, indem wir dieses „zwischen“ beschreiben, wo sich Recht tatsächlich ereignet. 565 Das „Infragestellen“ der fundamentalen Begriffe der klassischen Rechtstheorie bedeutet somit nicht ihre Abschaffung. Sie werden einfach nicht mehr als bedingungslos gegebener, stabiler Zustand (Rechtsordnung) und die ihm entsprechenden realen Ereignisse (Rechtsnormen, Subjekte, Institutionen etc.) gedacht, die somit als adaequatio rei ad intellectus den ontologischen Status beanspru‐ chen. Ausgehend vom dynamischen Rechtsverständnis erweisen sie sich nur als Marker, die ein „schon-ereignetes“ Ereignis des Rechts bezeichnen sollen, einen gewissen vorhandenen Sachverhalt, in wel‐ chem die Tatsache präsumiert wird, dass es Recht schon gibt. Ge‐ rade in der angeführten Präsumtion – des vorhandenen Seins des Rechts als Sein-Sollen – besteht das Wesentliche der rechtlichen Dogmatik und Rechtsmetaphysik als solchen. Die dynamische Auf‐ fassung geht dagegen tiefer als die metaphysische, da sie davon 565 In der einfachsten Konjunktion der Zeit erscheint „jetzt“ immer wie ein Dop‐ peltes – das Vorherige und das Nächste, und zwischen ihnen ist eine Lücke, ein Abstand (διάστηµα), eine Mitte (µεσότης), eine „leere“ Differenz. In diesem „phänomenologischen“ Kontext – denn hier handelt es sich davon, wie wir Zeit verstehen, erfassen, empfinden – steht es im Gegensatz zum doppelten „Jetzt“ und erscheint als Andersartigkeit an sich, als ereignis-indifferente Differenz. // Черняков А.Г. Онтология времени. – СПб.: Высшая религиозная школа, 2001. – S. 91. [Tschernjakow A.G. Ontology of Time. – SPb.: The Highest Religious School, 2001].
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Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von J. Permyakow
ausgeht, dass es auch kein Recht geben könnte, und bildet keine Begriffe (die mit dem immer schon vorhandenen Recht arbeiten), sondern dynamische Sinn-Konfigurationen (Kommunikation, Aus‐ tausch, Synergie etc.) als alternative Beschreibungen der ontologi‐ schen Möglichkeiten für die Erzeugung von Recht, seiner Herstel‐ lung, kurz gesagt, dass Recht ist. Eigentlich ist jede einzelne Vari‐ ante des dynamischen Rechtsverständnisses eben ein Versuch der Explikation davon, wie die Reproduktion von Recht möglich ist (im Zuge von Kommunikation, Dialog usw.). Wie bereits erwähnt, war das Ergebnis solcher Versuche der Rechtsbesinnung eine Reihe origineller, eigenartiger Konzeptionen: die phänomenologisch-kommunikative (A. Polyakow), die dialogi‐ sche (I. Tschestnow), die Rechtsrealität (S. Maksymov), die libertär‐ institutionelle (W. Tschetwernin) und andere. Insofern all diese Auf‐ fassungen vom Bestreben geprägt sind, Recht nicht als Idee, Ord‐ nung oder Norm mit absolutem Sein zu denken, sondern als kon‐ kret-singuläre, diskrete, dynamische Erscheinung (Dialog, Kom‐ munikation etc.), ist es eben möglich, sie unter der Rubrik „dyna‐ misches Rechtsverständnis“ zu vereinen, zu dessen Vertretern sich auch der Autor der vorliegenden Arbeit bekennt. Dementsprechend werden im Weiteren die Postulate der führenden Vertreter dieser Richtung dargelegt, um deren Vor- und Nachteile zu offenbaren, und das Problemfeld dieser Forschung klarer zu definieren.
Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von J. Permyakow Bei der Charakterisierung der philosophisch-rechtlichen Ansich‐ ten von J. Permyakow ist anzumerken, dass er von allen Vertretern des dynamischen Verständnisses dem Existentialismus am nächs‐ ten steht. Das primäre rechtliche Phänomen ist für den russischen Rechtsphilosophen das Rechtssubjekt, während alle anderen recht‐ lichen Erscheinungen – Normen, Beziehungen, Institutionen – die Ableitungen sind, die ihre ontologischen Grundlagen und ihren rechtlichen Charakter aus diesem Subjekt schöpfen. Dabei ist not‐ wendig zu betonen, dass J. Permyakow unter dem „Rechtssubjekt“ keinerlei „abstrakte“ Person versteht, d. h. eine rechtliche Konstruk‐ tion, die willkürlich für wissenschaftliche Zwecke eingeführt ist. Der russische Forscher betont, dass das einzige ontologisch verlässliche
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Subjekt sozialen Handelns die nach seinem Schicksal fragende Per‐ son ist. 566 Es handelt sich somit nicht um einen gewissen «recht‐ lichen Subjektivismus», der die ganze Vielfalt der rechtlichen Er‐ scheinungen auf die subjektiven Vorstellungen einer einzelnen Per‐ son reduziert. Im Gegenteil bedeutet die Betonung der persönlichen Komponente bloß, dass nur das Fragen des Menschen nach seinem eigenen Schicksal, welches in den Koordinaten des Rechts stattfin‐ det, der Welt der rechtlichen Abstraktionen (Normen, Ideen, Insti‐ tutionen usw.) „Leben einhauchen“ kann. Wendet man sich der detaillierten Beschreibung des Rechtsver‐ ständnisses des russischen Philosophen zu, so sollte unterstrichen werden, dass sein Augenmerk nicht auf der Konstruktion einer uni‐ versellen Definition von Recht liegt, sondern auf dem Recht als lebendigem Phänomenen in seiner Selbstgegebenheit: „Was genau und aus welchen Anlässen kann Recht von sich erklären?“ – fragt er. 567 So findet die Gegebenheit des Rechts ursprünglich nicht im Bewusstsein statt (wie in der Phänomenologie), sondern ist die exis‐ tentielle „Begegnung“ des Menschen mit dem Recht. Daher be‐ deutet „Recht erfahren“ also nicht, sein gewisses „ewiges und un‐ veränderliches Wesen“ zu offenbaren, sondern die Gesetzlichkeit der erwähnten Begegnung zu beschreiben. Es scheint, dass solche Beschreibung ausgehend von der obigen Frageformulierung min‐ destens drei Elemente enthalten sollte: 1) was genau Recht von sich selbst erklärt; 2) in welchem Zusammenhang, d. h. aus welchen Gründen es dieses tut; 3) wie genau sich Recht erklärt. Recht erklärt von sich vor allem, dass es ist. Offensichtlich kann Sein des Rechts nicht mit dem bloßen Vorhandensein der Norm oder des Gerichtsurteils gleichgesetzt werden. Schließlich kann die Norm „tot“ sein, d. h. in Wirklichkeit nicht erfüllt werden, die Ge‐ richtsentscheidung ungerecht und gesetzwidrig sein, usw. Laut J. 566 Пермяков Ю.Е. Основания права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 72 [Permjakow J.E. The Founda‐ tions of Law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Collec‐ tive monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013]. 567 Op.cit. S. 62.
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Paragraph 1. Die Rechtsphilosophie von J. Permyakow
Permyakow bedeutet „ist“ die Möglichkeit des Verlustes, den Be‐ reich des riskanten Seins. 568 Genau darin besteht das Spezifikum der dynamischen Auffassung von Recht, welches nicht die „absolute Welt des Sollens“ darstellt, sondern in „unserer“ Realität existiert, wo es, sich selbst erklärend, stündlich den Versuchen des Verstoßes, der Abschaffung, der Unterschiebung ausgesetzt ist. M. Heidegger paraphrasiert können wir sagen, dass der Schlüssel zur Tatsache der Existenz des Rechts „seine fragende Haltung in der Möglichkeit des Nichtseins“ ist. Solche Behauptung ist für eine Rechtsmetaphy‐ sik undenkbar, für welche sich jedes empirische Annihilieren des Rechts nur als seine „Verletzung“ erweist, ohne sein in der transzen‐ dentalen Dimension des Sollens lokalisiertes „Sein“ zu berühren. Wie leicht zu erkennen ist, steht die Position des russischen Rechts‐ philosophen in diesem Fall den Ansichten der rechtlichen Existen‐ tialisten nahe, insbesondere W. Maihofer und E. Fechner, welche mit der Frage «warum es Recht und nicht Nichts gibt» rechtliche und Grenzsituation gleichgesetzt haben, wobei der Akzent auf das der letzteren innewohnende Risiko, die Wahl, die Eigenverantwor‐ tung usw. gesetzt wurde. Mit anderen Worten, die Tatsache, dass es Recht gibt, wird am deutlichsten durch die Skizze aufgezeigt, dass es möglicherweise dasjenige nicht geben könnte, welches die vielfälti‐ gen Folgen davon erschließt. Über die positiven Eigenschaften des Rechts ist damit jedoch nichts gesagt worden. Bekanntlich betrach‐ tete die klassische Rechtstheorie als drei Hauptmerkmale des letzte‐ ren die Normativität, die formale Eindeutigkeit und die Gewährung von staatlichem Zwang. J. Permyakow denkt solche Behauptungen kreativ um. So weist er darauf hin, dass Normativität nur postu‐ liert, aber nicht als Eigenschaft oder Tatsache festgestellt werden kann. 569 Somit sind alle Versuche der klassischen Jurisprudenz im Zuge der Forschung, Normativität in der Norm selbst zu finden, zum Scheitern verurteilt: dies ist nur dogmatisch möglich. In Wirk‐ lichkeit ist dagegen der Anstoß, sich der Norm als der allgemeinver‐ bindlichen Rechtsquelle zuzuwenden, die konkrete Forderung, wel‐ che J. Permyakow als einen Anspruch oder eine Anordnung, in der öffentlichen Kommunikation zum Ausdruck kommene, formuliert.
568 Op.cit. S. 63. 569 Op.cit. S. 64.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Es wird nämlich zum Ereignis, wobei die Reaktion darauf die recht‐ liche Form voraussetzt. 570 Somit erhalten wir eine Antwort auf die zweite der zuvor gestellten Fragen, dass Recht „sich“ im Zusammen‐ hang mit dem bestimmten Ereignis, der Situation, dem Geschehen „erklärt“. Und in Bezug darauf ist die Position von J. Permyakow ähnlich den Ansichten von A. Reinach, N. Alexejew und G. Husserl, wonach der rechtliche Sinn kein reines Produkt der konstitutiven Tätigkeit des Bewusstseins ist, sondern die „Reaktion“ des letzteren auf einen bestimmten sozialen Akt. In existentieller Hinsicht besinnt sich der russische Philosoph so‐ wohl auf den Formalismus als auch die Zwangsläufigkeit des Rechts. Damit weist er darauf hin, dass die mit Hilfe der Norm erreichte Formalisierung einen existentiellen Sinn hat. 571 Dank ihr sind für das Individuum im gesellschaftlichen Leben die Wahl, das Handeln und die Gerechtigkeit möglich. Die Rechtsform ist einer Art „Si‐ cherung“ für das gemeinsame Sein der Menschen vor Missbrauch seitens der Staatsmacht. So verstanden ist Recht eine Art kollek‐ tive Überlebensstrategie. Kraft dessen ist die Tatsache, dass es Recht gibt, keine Aussage über die Tatsache normativen oder herrischen Zwanges, nicht das Vorhandensein von Verfahren als solchem, son‐ dern eine Art von Kommunikation, in welcher ihre Teilnehmer von der gegenseitigen Anerkennung der Rechtspersönlichkeit und der Notwendigkeit einer gemeinsamen Quelle autoritativer Ansichten über Sollen ausgehen. 572 Damit ist die Antwort auf die dritte der gestellten Fragen gewonnen: Recht „erklärt sich“ als Umgang mit der Grundlage gegenseitiger Anerkennung als Rechtssubjekte im Zuge der offenbarten Notwendigkeit einer Unterwerfung unter die gemeinsame Quelle der Normativität . Zugleich wirft die Besinnung auf den rechtlichen Charakter des Umgangs als Existenzweise des Rechts unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht auf. Zwar kön‐ nen die Normen des positiven Rechts einerseits im Zuge der Kom‐ munikation umgesetzt werden, andererseits erfordert die etablierte Praxis gesellschaftlicher Beziehungen oft die Abweichung von den Vorschriften der juristischen Normen zugunsten des sogenannten 570 Ibid. 571 Ibid. 572 Ibid.
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natürlichen Rechts: Sitten, Gerechtigkeitsvorstellungen usw. Indem J. Permyakow diese Frage beantwortet, befindet er sich wieder in‐ nerhalb des existentiellen Rechtsverständnisses. So bedeutet Natur‐ recht für ihn das Eintreten in den Sinn-Bereich, die Geburt des Sub‐ jekts, welches als solches die Fähigkeit zur Unterscheidung seiner eigenen Haltung zum Sein besitzt. 573 Wenn das Sein des Subjekts in eine Sphäre gedrängt wird, in der es weder legitime Macht noch eine Quelle legitimer Ansichten gibt, wird für es der Kampf um Recht zur einzigen Verhaltensstrategie, die in ihrem existentiellen Inhalt mit dem Kampf um die Erhaltung des Sinnes übereinstimmt. Wenn es kein Recht gibt, verliert alles seinen Sinn. 574 Dementsprechend ist Recht für den russischen Philosophen wie für viele Vertreter des westlichen Rechtsexistentialismus (E. Fechner, W. Maihofer etc.) untrennbar mit dem Problem der Suche nach Sinn und Grundla‐ gen des menschlichen Seins verbunden. Dabei ist weder positives Recht noch das Naturrecht vereinzelt in der Lage, solchen Sinn auf‐ spüren. Laut J. Permyakow bilden der «natürliche» und «positive» Inhalt des Rechts, welche seine sich abstrakt gegenüberstehenden Seiten sind, in der historischen Realität ein Sinn-Ganzes, ein einiges konkret-historisches Phänomen, in dem Recht als solches, Recht als historische Realität und historische Tatsache erkannt werden sollte. 575 Somit erweist sich Rechtsrealität also nicht nur als eine Reihe von Phänomenen, welche jedem mit dem Inhalt offizieller Dokumente vertrauten Juristen bekannt sind, sondern als eine Denkweise, in welcher sich der ihm entsprechende Stil des Rechtsumgang und die
573 Op.cit. S. 69. 574 Перм’яков Ю. Невловима реальнiсть права//Фiлософiя права i загальна теорiя права. – No 1.–2012. – S. 90. [Permjakow J.E. The Flowing Reality of Law//Philoosphy of Law and General Theory of Law. – No 1.–2012]. 575 Пермяков Ю.Е. Основания права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 70. [Permjakow J.E. The Founda‐ tions of Law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Collec‐ tive monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Seinsart des Rechtssubjekts offenbart. 576 Somit, J. Permyakow fol‐ gend, kommen wir zum Schluss, dass die Spezifik des Rechts bezüg‐ lich der anderen sozialen Regulatoren (Moral, Religion usw.) durch die Analyse der entsprechenden Denkweise und der menschlichen Existenzart aufgezeigt werden kann. Mit anderen Worten, wenn wir festgestellt haben, was im Sein der Person ihr als Rechtssubjekt er‐ möglicht zu sein, d. h. den Vorschriften des Rechts zu unterliegen und somit Recht zu denken, ihre Koexistenz mit anderen Menschen auf seiner Grundlage zu verstehen, explizieren wir Recht als solches. Gleichzeitig erinnern wir daran, dass solche Explikation für den rus‐ sischen Rechtsphilosophen nicht die Möglichkeit des Konstruierens bestimmter Definitionen bedeutet, sondern dem Recht zu ermögli‐ chen, „sich selbst zu erklären“, d. h. sich in seiner ganzen Fülle zu zeigen. Das grundlegende Merkmal des Rechtsmenschen ist die Freiheit, welche untrennbar mit Verantwortung verbunden ist. Wie J. Per‐ myakow zeigt, ist die Fähigkeit zur Verantwortung die besondere Eigenschaft der Rechtspersönlichkeit, die besondere Seinsart des Menschen, in welcher er sich selbst begegnet. Diese Fähigkeit zur Begegnung ist in die Kultur vermittels der Kategorie des Schicksals eingeflochten, welche bei aller Vielfalt ihres Verständnisses das von ihm abgeleitete Geschick des Menschen bedeutet. Im Schicksal fin‐ det seine Erfüllung alles, was im menschlichen Leben wertvoll ist, jedes Sollen, jede menschliche Absicht, Stimmung und jeder Ge‐ danke. Aber Schicksal ist kein Gemeingut, welches ohne allen An‐ lass zum menschlichen Leben gegeben wird. Es muss verdient wer‐ den und man muss dessen würdig sein. 577 Im obigen, äußerst tiefgründigen Fragment machen gleich meh‐ rere Punkte auf sich aufmerksam. Erstens tritt Verantwortung nicht nur als klassische Pflicht der Person, die vom Gesetz bestimmten Folgen der von ihr begangenen Tat zu erfahren, sondern als die Seinsart des Menschen. Mit anderen Worten: Verantwortung er‐ 576 Перм’яков Ю. Невловима реальнiсть права//Фiлософiя права i загальна теорiя права. – No 1.–2012. – S. 88. [Permjakow J.E. The Flowing Reality of Law//Philoosphy of Law and General Theory of Law. – No 1.–2012]. 577 Пермяков Ю.Е. Основания права. – Самара: «Юниверс-груп», 2003 – S. 331. [Permjakow J.E. The Foundations of Law. – Samara: Universe-Group, 2003].
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scheint nicht als Akzidens, als zufällige Eigenschaft der Person, die ihm von Fall zu Fall innewohnt, sondern als ihre Substanz. Zwei‐ tens ist dies die Existenzart eben der Rechtspersönlichkeit. Somit, entgegen der allgemein verbreiteten Ansicht, dass Verantwortung sowohl moralisch als auch religiös sein kann, handelt es sich hier um das spezifisch rechtliche Phänomen. Drittens begegnet in dieser Seinsart der Mensch sich selbst. Und schließlich, viertens, weist der russische Rechtsphilosoph darauf hin, dass sich solche Begegnung im Phänomen des Schicksals als Geschick des Menschen, der Ablei‐ tung von ihm selbst, herauskristallisiert. Betrachten wir die letzten beiden Behauptungen genauer. Be‐ kanntlich sollte in der klassischen Rechtstheorie das Ergebnis der begangenen Tat das Heranziehen des Schuldigen zur gesetzlich vor‐ gesehenen Verantwortung sein. Bei dieser Auffassung bedeutet „Ge‐ schick“ nichts anderes als das nach positivem Recht festgelegte Strafmaß. Es ist jedoch offensichtlich, dass J. Permyakow vom an‐ deren, viel ursprünglicheren Phänomen spricht, das sich nicht auf die Hinwendung zum Gesetz und Rechtsinstitutionen beschränkt. Wie der russische Rechtsphilosoph betont: „Die Macht des Schick‐ sals ist höher als jede Macht . . . egal wie frei wir in der Wahl unseres Handelns sind, sind ihre Folgen unvermeidlich, sie sind auf uns ge‐ richtet und werden uns überall einholen. Dem Menschen wird nicht das unterstellt, was er tut, sondern was er ist.“ 578 Wie aus obiger Aussage hervorgeht, handelt es sich hier nicht um das klassische Modell der Rechtsverletzung, sondern darum, dass bestimmte Handlungen die Existenzart des Menschen selbst verändern. Mit anderen Worten, die Seinsart des Menschen „nach Recht“ unterscheidet sich von der „rechtswidrigen“. Und dabei han‐ delt es sich nicht nur um die „Übereinstimmung“ oder „Widrig‐ keit“ seines Handelns gegenüber dem Gesetz. Insofern oben gesagt wurde, dass der Kampf um Recht der Kampf um die Erhaltung des Sinns ist, können wir daraus schließen, dass die „Rechtswidrigkeit“ der Handlung ihre „Sinneswidrigkeit“ ist. Wenn der Mensch den Rechtsbruch begeht (der nicht immer mit der Verletzung der offi‐ ziellen Norm einhergeht), „verdunkelt“ er denjenigen Sinn, welcher durch seine Verbindung mit anderen Menschen zum gewissen Gan‐
578 Op.cit. S. 332.
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zen die Koexistenz von Menschen als solche ermöglicht. Weil ich nicht „an sich“ bin, sondern immer schon mit Anderen koexistiere, so ändere ich meine Seinsart infolge meines „sinneswidrigen“ Han‐ delns und dränge somit rechtswidrig in die Sphäre der Anderen ein, die korrelativ mit meiner verbunden ist. Meine rechtswidrige Seins‐ art wird mir insofern unterstellt, als ich damit eine andere Person in ihrer entsprechenden Existenzart „in Frage stelle“. Indem ich z. B. gewissenloser Käufer bin und mich weigere, die Ware zu bezahlen, verweigere ich dem Verkäufer, vollständig „zu sein“, d. h. Geld für die verkaufte Ware zu erhalten. Eine solche Situation ist «sinnlos», da es unmöglich ist, zu verstehen, was geschieht. Es scheint sehr einfach, einen Einwand gegen die obigen Überle‐ gungen zu finden. Was soll hier unverständlich sein, die Person ist der Verpflichtung nicht nachgekommen und sollte zur Verantwor‐ tung gezogen werden! Aber schon in dieser Ansicht erklärt Recht sich selbst. Ohne Recht (welches, wie wir uns erinnern, nicht mit dem geschriebenen Gesetz gleichgesetzt werden kann) hätten wir nie herausgefunden, was eigentlich geschieht. Und umgekehrt, durch die „Einschaltung“ vermittels des Rechts in den rechtlichen Modus der Besprechung des Geschehens, können wir den Sinn des entspre‐ chenden Ereignisses feststellen. Wie ersichtlich haben wir, dem Gedanken von J. Permyakow fol‐ gend, einen gewissen Kreis gezogen und somit die zuvor angeführte Aussage aktualisiert, wonach die Rechtsrealität eine Denkweise ist, in welcher sich der Stil des Rechtsumgangs und die Seinsart des Rechtssubjekts offenbart. An dieser Stelle sollte lediglich angemerkt werden, dass Denken nicht als „reine“ intellektuelle Tätigkeit ver‐ standen wird, sondern als die Seinsart des rechtlichen Menschen, in der er sich auf die von ihm oder einer anderen Person begangene Tat besinnt. Ebenso erweist sich Schicksal bei J. Permyakow nicht als gewisse mystische, jenseitige Kraft, sondern als die rechtlichen Konsequen‐ zen (Änderung des Status des Subjekts, seiner Seinsart), die notwen‐ digerweise durch die begangene Tat verursacht werden. Dadurch wird die bereits erwähnte These verständlich, dass der Mensch im Verantwortlich-Sein sich selbst begegnet: Denn nachdem der Mensch rechtswidrig gehandelt hat und dadurch den ihn im Seinmit-Anderen verbindenden Sinn verloren hat, kann er ihn nur durch Rechts wiederfinden, sich selbst wieder begegnen und ver‐
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stehen, was er im Verhältnis zu anderen Menschen ist, sowie auch sein Schicksal als Folge des Begangenen akzeptieren. Laut J. Per‐ myakow, wenn wir in unserem eigenen Leben uns nicht aus dem Dialog mit uns selbst ausschließen, gestehen wir unsere Schuld ein und vereinigen uns mit unserem Schicksal. 579 Somit besitzt Schick‐ sal beim russischen Rechtsphilosophen einen doppelten Status: Ei‐ nerseits hängt es von der Person ab, da es sich aus ihrem Handeln ableitet. Anderseits, insofern der Mensch etwas getan hat, stößt er unumkehrbar den Schicksalsmechanismus an. „Unsere Wahl kann das Schicksal ändern, aber seine Macht kann sie nicht abschaffen“, betont J. Permyakow. 580 Dementsprechend ist gerade das Können, im eigenen Verant‐ wortlich-Sein zu sich selbst zurückzukehren, eigenes Schicksal zu finden, indem die Entfremdung, die durch den Verlust des Sinnes des gemeinsamen Seins-mit-Anderen entsteht (Rechtsbruch im ur‐ sprünglichen Sinne des Wortes), überwunden wird, jenes Merkmal der menschlichen Existenz, welches es ermöglicht, dass sich die Rechtsspezifik offenbaren kann, dass Recht „sich erklären“ kann. Recht erweist sich als untrennbar mit dem Sinn als jener gemein‐ samen Dimension verbunden, welche die Menschen in ihrer Ko‐ existenz vereint und es ermöglicht, Sinn im Falle seines Verlustes zu finden. Gleichzeitig erzeugt diese Antwort jedoch mindestens zwei Fra‐ gen. Erstens scheint der Mensch trotz der Behauptung über die Un‐ vermeidlichkeit des Schicksals in der Lage zu sein, sich diesem zu entziehen, indem er sich tatsächlich vor der Verantwortung verbirgt (z. B. dadurch, dass man dem Gericht oder Verfahren davonläuft). Zweitens, ob die obigen Überlegungen nicht eine ungerechtfertigte Verabsolutierung des Rechts enthalten? Es ist doch offensichtlich, dass das Recht in einer Reihe von Situationen schweigt und der Sinn des Geschehens durch Moral, Religion usw. offenbart werden kann? Wie J. Permyakow zeigt, gibt es in jeder Gesellschaft viele kon‐ kurrierende Institute für die Einführung der Normativität – Kunst, Sport, religiöse Institutionen, Presse usw. Die Besonderheit des Rechts liegt nun darin, dass in seinen Tiefen die Instanz erzeugt
579 Op.cit. S. 333. 580 Op.cit. S. 331.
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wird, welche nicht von außen zu den Beteiligten der Rechtssituation kommt. Recht ist nämlich die gesellschaftliche Form, in welcher die Suche und das Werden der autoritativen Instanz stattfindet, dank welcher der Gedanke des beanspruchenden Subjekts über Sollen und Gerechtigkeit die Zeichen eines sozialen Ereignisses mit uni‐ versellem Sinn bekommt: Der Schuldspruch wird im Namen des Volkes und für immer und ewig abgegeben. 581 Das Gericht tritt als solche autoritative Instanz auf. In diesem Phänomen sind Recht und Schicksal miteinander verflochten, indem sie einerseits das Sein des vor Gericht stehenden ans Licht bringen, und andererseits in sol‐ chem Bringen dem Recht die Selbsterklärung ermöglichen. Der Ge‐ dankenzug des russischen Rechtsphilosophen ist dabei der folgende. Obwohl es im Zuge der Forschung noch geklärt werden sollte, „was genau und aus welchen Anlässen Recht von sich erklärt“, braucht Recht auf seiner ontologischen Ebene dennoch eine Art «Verto‐ nung», eine Art «Ausrufer», welcher es aussprechen würde. Das cha‐ rakteristische Merkmal für solches Aussprechen ist sein autoritati‐ ver Charakter, der Streitigkeiten über den rechtlichen Status seines Inhalts nicht zulässt. Als solche unpersönliche Instanz, die die Sa‐ che im Wesentlichen entscheidet, tritt das Gericht als Recht selbst auf, welches eine menschliche Stimme braucht, um seinen eigenen Inhalt zu verkünden. 582 Im Gegensatz zum „klassischen“ Gericht als eine Art „Gerechtig‐ keitsfabrik“, die den einzelnen Fall mechanisch unter die allgemeine Norm bringt und Gerichtsentscheidungen regelmäßig „stempelt“, denkt J. Permyakow das Gericht in erster Linie als die LebenssinnInstanz. Nach seinen Worten spricht Gericht Recht nicht nach ei‐ genem Willen, sondern ist selbst ein Fall in den Händen des all‐ mächtigen Schicksals. 583 Gleichzeitig wird nicht eine Art «mysti‐ scher Fatalismus» vorausgesetzt, der dem Richter seinen eigenen Willen nimmt: Durch die Kategorie des Schicksals unterstreicht der russische Rechtsphilosoph die Tatsache, dass Gericht die Wahrheit des Geschehenen nicht ignorieren kann – jene faktische Tat, wel‐ che dazu diente, dass der Mensch, um dessen Geschick es sich han‐ delt, vor Gericht erscheint. Selbst wenn ein ungerechtes Gericht ein 581 Op.cit. S. 90–91. 582 Op.cit. S. 362. 583 Op.cit. S. 343.
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rechtswidriges Urteil fällen will, muss es dafür vor allem das We‐ sentliche des Geschehens verzerren, indem es einige Umstände ver‐ schweigt und andere künstlich erschafft oder falsch darstellt. Dementsprechend ist das Phänomen des Gerichts untrennbar mit Wahrheit verbunden. Gleichzeitig ist Wahrheit nicht nur mecha‐ nische Darstellung des Geschehenen: Ihre Erlangung im Zuge der Rechtsprechung ist das, was die Entscheidung des Gerichts legiti‐ miert, sie rechtfertigt. Wie J. Permyakow richtig zeigt, ermangelt die Staatsmacht, die das Gericht gründet, der Möglichkeit, ihm Recht zu gewähren oder einen bestimmten Angeklagten zu bestrafen; dieses Recht erlangt das Gericht erst im Zuge seines Aufstiegs zur Wahr‐ heit. 584 Das Gericht, das nicht in allen Umständen des Falles be‐ wandert ist, würde niemals die Legitimität für die Erlassung eines offiziellen Urteils erlangen. Aber es nähert sich, der Logik des Spiel‐ geschehens untergeordnet, seinem Finale und endet erst, wenn der im Gerichtsprozess aufgedeckte Verhandlungsgegenstand aus dem Ereignis, das die Möglichkeit der weiteren Deutung verbirgt, zur von der Hypothese der Norm umrissenen Tatsache wird, die in der Norm definierte rechtliche Folgen nach sich zieht. 585 Somit ist der obige Zweifel an der Unvermeidlichkeit des durch Recht bestimmten Schicksals insofern verschwunden, als unter ihr die Unvermeidlichkeit des Gerichtsurteils zu verstehen ist, das den Menschen vom freien Geschöpf, dessen Möglichkeiten des Seins Variabilität behalten, zum Sträfling macht, dessen Geschick klar durch das Urteil bestimmt wird. Wie ein anderer russischer Rechts‐ philosoph, W. Bibikhin, diesbezüglich treffend gesagt hat, sollte das Gericht nicht als die Instanz gefürchtet werden, welche verurteilen anstatt freizusprechen vermag. Sondern als der Ort, wo in jedem Fall und sofort jenes Fatum ausgeströmt wird, dass man in sei‐ nem Schicksal erkannt werden wirst und dass es ans Licht kommen wird. 586 Außer der Definition vom Schicksal des Menschen als dem, was ihm gemäß dem Begangenen zusteht, prägt sich das existentielle 584 Op.cit. S. 350. 585 Op.cit. S. 370. 586 Бибихин В.В. Введение в философию права. – М.: Ин-т философии РАН, 2005. – S. 166. [Bibikhin V.V. The Introduction into Philosophy of Law. – Moscow: Institute of Philosophy RAS, 2005].
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Moment des Gerichts auch darin aus, dass die Gerichtsentschei‐ dung immanent die Möglichkeit des Fehlers enthält. Alle zuvor beschriebenen Attribute der Grenzsituation – Freiheit, Verantwor‐ tung, Risiko – sind für den Gerichtsprozess vollumfänglich von Be‐ deutung. Der Schrecken des menschlichen Gerichtswesens besteht darin, dass Gericht als das Wahrheit-Beherrschende Recht spricht und in voller Überzeugung über sein absolutes Recht ist, aus der Position des Sittengesetzes über das Schicksal des Menschen zu ver‐ fügen. 587 Deswegen kann die vor Gericht erlangte Wahrheit auf die Methode und den Gegenstand der richterlichen Erkenntnis zurück‐ geführt werden, nicht aber auf das Gerichtsurteil. 588 Die vom Ge‐ richt festgestellte Wahrheit hat in Bezug auf die betrachtete Situa‐ tion keinen „äußeren““, transzendenten Charakter, sondern ist der begangenen Tat bereits im Moment ihrer Begehung „immanent“ (worin sich auch der unumkehrbare Charakter des Gerichtsurteils über das Schicksal äußert, welches unmittelbar nach Begehung der Tat möglich wird). J. Permyakow weist darauf hin, dass Gerechtig‐ keit durch den Streit um Recht erzeugt wird, deshalb ist die Gerichts‐ entscheidung dem Inhalt der Beziehungen immanent, in welchen der Konflikt stattgefunden hat. Gericht ist keine Rechtspersönlichkeit und kann nicht der staatlichen Gerechtigkeitsfabrik gleichgesetzt werden, die ihre Produkte in Form von Gerichtsurteilen heraus gibt. Das durch das einzelne Ereignis erzeugte Urteil entsteht und exis‐ tiert in jeder Angelegenheit nur einmal und für einen bestimmten Zweck. Das Gericht findet sein Sein nur im Raum der zu lösenden konkreten Situation. 589 Somit erschafft der russische Rechtsphilosoph eine überaus ori‐ ginelle und überzeugende Beschreibung von Recht. Mit der Ableh‐ nung der dogmatischen Postulierung des Seins des Rechts und dem Versuch aufzuzeigen, „was genau und aus welchen Anlässen Recht über sich selbst erklärt“, kommt er zum Schluss, dass solche „Er‐ klärung“ oder Selbstmanifestation des Rechts im Zuge der Suche nach dem Sinn des menschlichen Seins stattfindet, welche von dem 587 Пермяков Ю.Е. Основания права. – Самара: «Юниверс-груп», 2003 – S. 345 [Permjakow J.E. The Foundations of Law. – Samara: Universe-Group, 2003]. 588 Op.cit. S. 355. 589 Op.cit. S. 360.
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sich Besinnenden die Hinwendung zum Recht als dem spezifischen Modus des Verständnisses des Geschehens erfordert. Indem solche Besinnung autoritativer Instanz bedarf, ist dies das Prärogativ des Gerichts, wo jedem sein Geschick (Schicksal) zugeteilt wird, wel‐ ches die Ableitung dessen, was er begangen hat. So wird Gerech‐ tigkeit aus dem logisch-deduktiven Prozess, der absoluten Charak‐ ter besitzt, zum singulären Ereignis der Verkörperung des Rechts, das jener Situation immanent ist, welche ihrer Deutung bedarf. In ähnlicher Weise wird Recht aus dem «klassischen» System positiver oder natürlicher Normen, die «jenseits der Realität» existieren, zum Prozess der Besinnung auf das Geschehen, in welchem Rechtssub‐ jekte, die sich gegenseitig als solche anerkennen, den Sinnesmangel ihres Seins im Zuge der Hinwendung zur gemeinsamen Quelle au‐ toritativer Urteile auffüllen. Bei der Bewertung der Konzeption des Rechts von J. Permyakow ist es vor allem notwendig, ihre Stärken zu verzeichnen. Zu solchen gehören unbedingt die Ablehnung der dogmatischen Konzeptualisie‐ rung des Rechts und der Versuch der Beschreibung des „lebenden“ Rechts in seiner „Selbstgegebenheit“. Der unbestrittene Vorteil der von dem russischen Rechtsphilosophen gewählten Auffassung liegt auch in der Betonung der dynamischen Natur des Rechts, in der Feststellung der Verbindung des Rechts mit dem Problem des Sinns des menschlichen Seins und der Verwurzelung des Rechts nicht im Willen des Gesetzgebers oder menschlicher Willkür, sondern in der menschlichen Aktivität, das auf die Suche nach dem Schicksal aus‐ gerichtet ist. Es sollte insbesondere darauf hingewiesen werden, dass J. Permyakow das Schicksal in den rechtlichen Kontext hineinführt und somit das „Menschenmaß“ des Rechts begründet, es also von einem „äußeren“ und dem Menschen „fremden“ Phänomen in eine immanente Konstante des menschlichen Seins verwandelt. Gleichzeitig erzeugen solche Antworten eine Reihe neuer Pro‐ bleme und kritischer Anmerkungen. Insbesondere die Verabsolu‐ tierung des „rechtlichen Status“ des Schicksals wirft Fragen auf. Denn das menschliche Geschick, das die Ableitung von ihm selbst ist (genauso definiert J. Permyakow das Schicksal), akzentuiert sich traditionell zumindest auch in moralischen und religiösen Aspek‐ ten. Daraus lässt sich schließen, dass die Feststellung der „rechtli‐ chen Dominanz“ im Phänomen des Schicksals einer weiteren Be‐ gründung bedarf.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Zweitens, indem J. Permyakow darauf hinweist, dass Recht vor Gericht objektiviert wird, insofern es eine „Stimme“ zur Explika‐ tion seines Inhalts braucht, erweckt er den Eindruck, dass in sei‐ nem Konzept dem Recht den Zugang zum Alltag verwehrt wird. Mit anderen Worten, während der Lokalisierung des Rechts im Ge‐ richt gibt der russische Rechtsphilosoph nicht an, wie Recht „außer‐ halb“ dessen existiert: in den Rechtsbeziehungen, in der alltäglichen Lebenspraxis, im menschlichen Handeln usw. Denn es ist offen‐ sichtlich, dass vor Gericht nur die Wiederherstellung des verletzten Rechts erfolgt, die Konfliktlösung, während „im Leben“ Recht oft als „unverletzt“, „verwirklicht“, „beachtet“ etc. existiert. Metapho‐ risch können wir sagen, dass J. Permyakow Recht als „Kriegsrecht“ beschreibt und währenddessen das „Friedensrecht“, die Seinsart des Rechts «vor» und «außerhalb» des Rechtsstreits, unbeachtet lässt. Drittens, während J. Permyakow richtig darauf hinweist, dass Recht im Prozess der Suche nach dem Seinssinn des Menschen, sei‐ nen Versuchen, „zu sich selbst zurückzukehren“, aktualisiert wird, gibt er keine Kriterien an, welche es ermöglichen, die sogenannten «rechtlichen Situationen» von den politischen, wirtschaftlichen, reli‐ giösen etc. abzugrenzen. Mit anderen Worten: Insofern der Mensch in den rechtlichen Modus der Besinnung nicht willkürlich, son‐ dern aufgrund der besonderen Situation hineingezogen wird, die ihn in Verlegenheit bringt und Aufklärung bedarf, wäre berechtigter‐ weise herauszufinden, ob es eine Prozessualität der Hinwendung zum Recht gibt, welches den Menschen dazu antreibt, sich ausdrücklich ihm hinzuwenden und nicht zur Religion, Moral, Mystik, Wissen‐ schaft usw. Denn es ist offensichtlich, dass in einigen Grenzsitua‐ tionen des Lebenssinnes (z. B. Trennung von einem nahestehenden Menschen, Schaffenskrise usw.) das Recht schweigen wird, während Moral, Mystik oder Religion helfen können, den Sinn des Geschehens zu begreifen. Da J. Permyakow mit der «dogmatischen Prozessua‐ lität» nicht zufrieden ist, worin die Hinwendung zum Recht durch die Notwendigkeit der gerichtlichen Streitschlichtung erklärt wird, würde es die Hervorhebung der erwähnten «rechtlichen Prozessuali‐ tät» ermöglichen, die Besonderheit der Suche nach dem „rechtlichen Sinn“ im Gegensatz zum moralischen, religiösen usw. und damit den Sinn des Rechts als solches zu betonen. Während J. Permyakow somit «A» sagt, d. h. auf der dynamischen Natur des Rechts und seiner Verwirklichung im Zuge des Umgangs
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Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
zwischen Menschen besteht, sagt er nicht «B», indem er nicht klar‐ stellt, wie genau Recht in der Struktur des menschlichen Zusam‐ menlebens «vor» und «außerhalb» des Gerichtsstreits lokalisiert ist. Während der russische Rechtsphilosoph Recht in der menschlichen Existenz verwurzelt, zieht er keine klare existentielle Grenze zwi‐ schen Recht und anderen Arten der Besinnung auf die menschliche Existenz – den moralischen, politischen, religiösen usw. Der Auf‐ gabe solcher «Destillation» des Rechts scheint die Weiterentwick‐ lung der These zu dienen, wonach Recht als das Fragen nach dem Schicksal zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen (also nach dem rechtlichen Schicksal) eingeschlossen ist. Dieser für die Thematisie‐ rung des Seins des Rechts entscheidende Schritt wurde jedoch letzt‐ endlich nicht getan. Dementsprechend werden wir in dieser Studie weiter versuchen, diese Lücke zu füllen, indem wir uns zur rechtli‐ chen Zeit als dem Horizont des Rechtsseins zuwenden.
Paragraph 2. Die Phänomenologisch-kommunikative Konzeption des Rechts von A. Polyakow Der Erfinder einer der grundlegendsten Konzeptionen des Rechts in der postsowjetischen Rechtsphilosophie ist der St. Petersburger Rechtsphilosoph A. Polyakow. Im Folgenden ist seine Auffassung, die als phänomenologisch-kommunikativ bezeichnet wird, darzu‐ legen. Wie andere Vertreter des dynamischen Rechtsverständnisses (I. Tschestnow, J. Permyakow, W. Tschetwernin u. a.), versteht A. Polyakow Recht als dynamisches, veränderliches und bewegliches Phänomen. Recht stellt seinen Worten nach keine abstrakte meta‐ physische Idee, keinen apriorischen Wert, keine symbolisch-textu‐ elle (Zeichen-)Vorschrift dar, hinter welchem sich jemandes „Wille“ verbirgt, sondern „lebendes“ (ganzheitliches, sich entwickelndes), soziales Ereignis. 590 Es ist anzumerken, dass solche Besinnung auf Recht unweigerlich zur Überwindung der Dichotomie von Positi‐ vismus und Naturrecht führt, wo Recht als statischer Gegenstand 590 Поляков А.В. Прощание с классикой, или как возможна коммуникативная теория права//Российский ежегодник теории права. – 2008. – No 1. – S. 12. [Polyakow A.W. Good-bye to Classics of How the Communicative Theory of Law Possible Is?//Russian Yearbook of Legal Theory. – 2008. – No 1].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
gedacht wird. Im Falle sowohl des natürlichen als auch des positiven Rechts erscheint es als ein Phänomen, das keine innere anthropolo‐ gische Quelle der Selbstentwicklung und Bewegung besitzt, und tritt als „totes“, abstraktes, „äußeres“ Recht für das Subjekt auf, als ge‐ wisse apriorische Gegebenheit oder als Zeichenkomplex, abgetrennt vom Menschen oder seiner Lebenswelt. 591 Dementsprechend können wir daraus schließen, dass das philo‐ sophisch-rechtliche Denken von A. Polyakow durch den Übergang vom „toten“, „abstrakten“, „statischen“, seinen ontologischen Wur‐ zeln entrissenen Recht zu jenem Recht charakterisiert werden kann, das „konkret existiert“, „lebendig“ und „dynamisch“ ist. Letzteres stellt kein einzelnes, isoliertes rechtliche Seiende (Normen, Ideen) dar, sondern ist an sich ständige Bewegung oder Übergang. Diese Dynamik oder Beweglichkeit des Rechts verfestigt der St. Peters‐ burger Rechtsphilosoph durch den Begriff der «Rechtskommunika‐ tion». Bevor wir jedoch zur positiven Definition des Rechts übergehen, muss es von anderen, angrenzenden Ereignissen abgegrenzt wer‐ den. Schließlich kann Kommunikation auch moralisch, politisch und wirtschaftlich usw. sein. Was unterscheidet denn die rechtliche von den anderen Kommunikationsarten? Laut A. Polyakow grün‐ det Recht als praktisches Handlungssystem auf gegenseitigem Ver‐ ständnis, ohne welches seine Existenz selbst unmöglich ist. Es gibt kein Recht dort, wo es kein reziprok-referenzierendes Verhalten gibt. 592 Gleichzeitig ist reziprok-referenzierendes Verhalten nicht das ausschließliche Prärogativ der rechtlichen Sphäre. Deshalb ist, wie A. Polyakow betont, Recht dort, wo Menschen davon überzeugt sind, dass es ist. Und sie sind davon überzeugt, wenn Recht eben ein Teil dieser Lebenswelt wird, d. h. ein Raum der rechtlichen Kom‐ munikation. Die Habitualisierung und Institutionalisierung von Rechtstexten, also ihre Anerkennung (Legitimation) ist der Mo‐ ment, welcher der physischen Kraft, der Gewalt im Recht entgegen‐ gesetzt ist. 593
591 Op.cit. S. 11. 592 Op.cit. S. 17. 593 Ibid.
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Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
Dementsprechend ist Rechtskommunikation nicht nur Interak‐ tion zwischen Menschen in Rahmen der Rechtsinstitutionen. Ihr charakteristisches Merkmal ist die Implikation von Rechtstexten, deren Anerkennung die Determinante des rechtlichen Status der Kommunikation ist. Gleichzeitig besteht A. Polyakow nicht auf dem „absoluten“, „primären“ Charakter der Rechtstexte in Bezug auf an‐ dere Rechtsphänomene. Nach seiner Auffassung wird Recht we‐ der durch Rechtstexte noch Rechtswerte oder subjektives Rechtsbe‐ wusstsein, noch durch individuelle Rechtsansprüche als vereinzelte Elemente gebildet. Was sie vereint, ist die Rechtskommunikation, die als intersubjektive Realität entsteht, deren Bindeglied die inter‐ agierenden Subjekte sind. 594 Einzelne Bestandteile des Rechts, z. B. Rechtstexte oder die Subjekte selbst, welche das Rechtsbewusstsein und den Willen besitzen sowie ihre reale Aktivität in der sozialen Zeit und Raum, stellen an sich nicht Recht als integrales (ganzheit‐ liches) Ereignis dar. Erst durch die gewisse „chemische Reaktion“ – die Entstehung der rechtlichen Kommunikation – entsteht Recht. Recht ist eigentlich die Rechtskommunikation. 595 Wie wir sehen, ist für A.V. Polyakow Recht ursprünglich ein ganzheitliches, dynamisches Phänomen, welches nicht auf einzelnes «primäres» rechtliches Seiende reduziert werden kann: Im Gegen‐ teil vereint es in seiner Beweglichkeit die ganze Vielfalt rechtlich relevanter Phänomene und verleiht ihnen den rechtlichen Status. Jedes statische rechtliche Seiende ist «sekundär», dagegen ist Recht in seiner Dynamik, in der Kommunikation (oder, um vorliegend alles beim richtigen Namen zu nennen, im Sein) «primär». Doch wie ereignet sich die Rechtskommunikation genau? Denn der bloße Hinweis darauf, dass sie von interagierenden Subjekten ausgeführt wird, ist an sich zu allgemein, zu abstrakt. Deswegen präzisiert der russische Rechtsphilosoph, dass Recht als werdendes Recht exis‐ tiert, das sich in der ständigen Dynamik des textuell-informationel‐ len und energetisch-verhaltensbedingten gegenseitigen Austauschs befindet. Wie wir Recht verstehen, die Auseinandersetzungen um Recht, die Abstimmung verschiedener Rechtspositionen und -auf‐ fassungen, der Kampf um Recht – all das sind kommunikative Pro‐
594 Op.cit. S. 18. 595 Op.cit. S. 21.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
zesse, die das Leben des Rechts und seine Entwicklung sicherstel‐ len. 596 Rechtskommunikation wird hier also möglichst breit verstan‐ den, einschließlich jeglicher Interaktion von Menschen in Bezug auf Recht, im Laufe welcher dieses verwirklicht, „wird“. Die Spezifik solcher Interaktion ist die gegenseitige Anerkennung der Rechts‐ subjekte, welche im Zuge solcher Anerkennung den gegenseitigen Rechtsstatus konstituieren. Bei der kommunikativen Auffassung wird Recht nicht als abstrakte Vorschrift (Wille, Befehl, Norm) ver‐ standen, sondern als etwas, das erst durch das Prozedere der Ab‐ stimmung und der Verständigung mit dem „verallgemeinerten An‐ deren“ entsteht. Diese Abstimmung ist als systemische Abstimmung zu verstehen und nicht als persönliche Willensbekundung in all ih‐ rer Willkür. Die Verwurzelung des rechtlichen Seins im Anderen ist die Grundvoraussetzung für Recht. 597 Der Mensch ist nicht an sich das Hauptsubjekt des Rechts, sondern durch sein Verhältnis zum anderen Menschen; d. h., ursprünglich ist er eben das Subjekt der Rechtskommunikation. 598 Somit behauptet der russische Rechtsphilosoph, dass Recht als Prozess der Kommunikation existiert. Unter Kommunikation wird die Interaktion zwischen Menschen in Bezug auf Recht verstan‐ den, die allem Seienden, das an solcher Interaktion beteiligt ist, rechtlichen Status verleiht. Wie schon darauf hingewiesen, muss um rechtlich zu sein solche Kommunikation eine Reihe von Kriterien erfüllen, von denen die wichtigsten folgende sind: Die gegensei‐ tige Anerkennung der Subjekte und die Anerkennung der Rechts‐ texte. Daraus folgt, dass kein isoliertes rechtliches Seiende – die Idee von Recht, Rechtsnorm oder Institution – als Ursprungsquelle des Rechts anerkannt werden kann. Wie A. Polyakow betont, existiert Recht als die kommunikative, ungeteilte Ganzheit. Eben aus diesem Grund wird das Wort «Recht» in Bezug sowohl auf Gesetze und subjektive Rechte als auch für die Idee von Gerechtigkeit verwendet. Nur die analytische Aktivität des Bewusstseins teilt es im Verstand in seine Bestandteile auf. 599 596 597 598 599
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Op.cit. S. 19. Op.cit. S. 21. Op.cit. S. 40. Op.cit. S. 42.
Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
Die paradoxe Folge aus dem oben dargelegten ist A. Polyakows Behauptung, dass es Recht «als solches» nicht gebe. Anders ge‐ sagt, der Ausdruck „Recht“ hätte keinen empirisch erkennbaren Referenten. 600 Diese Aussage erscheint jedoch nur auf den ersten Blick paradox. Denn es ist offensichtlich, dass jedes «immanent rechtliche» Seiende – Gesetz, Gericht usw. sich immer die Mög‐ lichkeit vorbehält, rechtswidrig zu sein (z. B. tyrannisches Gesetz, ungerechter Gerichtsprozess). Und umgekehrt werden „äußerlich“ rechtlich irrelevante Phänomene – z. B. ein Auto oder Geschirr – durch eine bestimmte „Wende im Prozess“ zum rechtlichen Sei‐ enden – dem Beweisstück, Streitgegenstand usw. Deshalb kann als eine der wichtigsten Folgen der phänomenologisch-kommunikati‐ ven Theorie des Rechts (sowie anderer ihr nahestehender dynami‐ scher Konzepte) die Schlussfolgerung formuliert werden, dass kein Seiendes „an sich“ rechtlich ist: Sein rechtlicher Status leitet sich aus einem «externen» Prozess (Kommunikation, Dialog, Ereignis, etc.) ab. Hier offenbart sich offensichtlich die allgemeine Verwandtschaft des dynamischen Rechtsverständnisses (einschließlich der kommu‐ nikativen Auffassung) mit der Phänomenologie, welche auch auf die «äußeren» Anlässe für die Konstitution von rechtlichen Phänome‐ nen achtgegeben hat – soziale Akte (A. Reinach), normative Tatsa‐ chen (N. Alexejew) usw. Es ist jedoch zu beachten, dass A. Polyakow nicht nur den rechtlichen Status des bestimmten Seienden vom «äu‐ ßeren» Ereignis ableitet, sondern Recht selbst dynamisch denkt: Es ist die Rechtskommunikation, d. h. der kontinuierliche Prozess der Existenz-Reproduktion des Rechts. Der phänomenologische Charakter der kommunikativen Kon‐ zeption des Rechts kommt auch darin zum Ausdruck, dass A. Po‐ lyakow Recht ursprünglich in der Welt der Sinne und Bedeutungen unterbringt, die von der Innenwelt des Menschen und seinen Be‐ 600 П оляков А.В. Коммуникативно-феноменологическая концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 94. [Polyakow A.W. Communicative-Phenomenological Concept of Law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Col‐ lective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philoso‐ phy of Law Issues”, 2013].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
ziehungen zu anderen Menschen untrennbar ist, und die durch das Bewusstsein auf der Grundlage institutionalisierter sozialer Prakti‐ ken konstruiert werden. 601 Dementsprechend ist Recht in der Kon‐ zeption des russischen Rechtsphilosophen der vom Bewusstsein er‐ zeugte Sinn. Dieser Sinn ist jedoch nicht willkürlich konstruiert, sondern wird im Zuge der durch die Institutionen und gesellschaft‐ lichen Praktiken vermittelten rechtlichen Kommunikation vollzo‐ gen. Dies ist der „intentionale“ Sinn, welcher nicht in der Sphäre des Bewusstseins eingeschlossen ist, sondern auf die «äußere» Wirklich‐ keit gerichtet ist, in welche dadurch der rechtliche Status «implan‐ tiert» wird. Und wenn wir im Rahmen dieses Raums der rechtli‐ chen Kommunikation die phänomenologische Reduktion vorneh‐ men, dann erhalten wir am Ende einen gewissen „Sinn-Identitäts‐ pol“ des Rechts, seine „Was-heit“, die das gesamte System rechtlicher Phänomene zusammenfasst. 602 Nach Ansicht des russischen Rechtsphilosophen ist solche „Washeit“ etwas, was jene Antinomien der klassischen Rechtsphiloso‐ phie überwinden lässt, innerhalb welcher sich das Denken bisher bewegt hat, (subjektiv–objektiv, materiell–ideal, Sein–Sollen usw.). Solche „Was-heit“ ist der spezifische textuelle Sinn der Interaktion zwischen Menschen, welcher es ermöglicht, Recht von anderen ge‐ sellschaftlichen Phänomenen zu unterscheiden. 603 Allerdings besteht hier ein gewisses Paradox. Wenn Recht dyna‐ misch gedacht wird, als die die Vielfalt der rechtlichen Phänomene zusammenfassende Kommunikation, so kann auch der rechtliche Sinn nicht als statisches „Was“ vorgestellt werden. Denn er könnte in diesem Fall, eingeschlossen im Bewusstsein seines Trägers (oder so‐ gar intersubjektiv im Bewusstsein vieler verwurzelt), nicht das ver‐ schiedenartige rechtliche Seiende im Sein „zusammenbinden“, weil er ausschließlich das Phänomen des Bewusstseins darstellen würde. Deshalb nimmt A. Polyakow die Behauptung zum Ausgangspunkt, dass sich Recht (als Ganzes, d. h. als dynamischer Sinn, O.S.) auf das menschliche Verhalten bezieht und untrennbar mit diesem verbun‐ den ist. Im Unterschied zu den Naturereignissen modifiziert Recht menschliches Verhalten, schränkt es ein, bestimmt seinen Rahmen 601 Ibid. 602 Op.cit. S. 95. 603 Ibid.
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Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
und gibt dadurch jedem Rechtssubjekt die Möglichkeit, mit be‐ stimmtem Erfolg rechnend zu handeln. 604 In dieser Aussage lassen sich zwei interessante Punkte anmer‐ ken. Erstens tritt der russische Rechtsphilosoph für sich unmerklich in die Sphäre der Temporalität ein. Denn jedes «Rechnen», über welches A. Polyakow spricht, setzt das Eintreten der bestimmten Rechtsfolgen in der Zukunft voraus, welche durch die ihnen zeit‐ lich vorausgehende Tat verursacht wurden. Diese Folgen müssen jedoch nicht unbedingt eintreten. Somit erweist sich die Möglich‐ keit für das Seins des Rechts (nach A. Polyakow – für die rechtli‐ che Kommunikation) als fragend gehalten in der Zeitlücke zwischen der begangenen Tat und ihren wahrscheinlichen Rechtsfolgen. Hier erweist sich die Position des St. Petersburger Rechtsphilosophen (vermutlich für ihn selbst unerwartet) als nahe der oben angeführ‐ ten J. Permyakows Behauptung, wonach zu sein für das Recht die Möglichkeit des Verlustes, den Bereich des riskanten Seins bedeutet. Hier zeigt sich auch die tiefe Einheit der Einstellungen aller Rechts‐ philosophen, die dem dynamischen Rechtsverständnis angehören. Vorauseillend ist jedoch zu beachten, dass A. Polyakow den zeitli‐ chen Horizont der rechtlichen Kommunikation nicht aktualisiert, wodurch er die Möglichkeit des authentischen Zugangs zur Quelle des Seins des Rechts verliert. Zweitens gibt der einfache Hinweis auf den beschränkenden Cha‐ rakter des Rechts in Bezug auf das menschliche Verhalten immer noch nicht die gesuchte Besonderheit an: Schließlich setzen sowohl Religion wie Moral als auch Bräuche den Rahmen dessen, wie man sich zu verhalten habe. Die Lage wird auch nicht durch A. Poljakows Hinweis darauf geändert, dass die Rechtsbeziehungen an die Mög‐ lichkeit freier Wahl der Subjekte und an ihre gegenseitige Verant‐ wortung gebunden sind (Verantwortung zu tragen bedeutet eben, in Kommunikation zu sein), 605 denn sowohl Freiheit als auch Ver‐ antwortung sind nicht ausschließlich rechtliche Phänomene. Da jeder Versuch, Recht außerhalb der menschlichen Beziehun‐ gen zu denken, die sich durch Akte freien, sinnvollen Verhaltens ausdrücken, 606 scheitert, wendet sich A. Polyakow für die weitere 604 Op.cit. S. 96. 605 Ibid. 606 Ibid.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Suche nach dem Recht an das menschliche Verhalten selbst und seine Grundlagen. Für Recht ist jenes Verhalten charakteristisch, das sich bestimmten Regeln fügt. 607 Demzufolge ist es notwendig, die Art der Beziehung zwischen 1) den Rechtsnormen (rechtlichen Regeln) 2) den Rechtssubjekten und 3) ihren Verhältnissen zu defi‐ nieren. 608 Und hier, eben beim Versuch, die Spezifik der rechtlichen Regeln zu definieren, webt sich die Zeit wieder unbemerkt ins Denken des russischen Rechtsphilosophen. So weist er darauf hin, dass die Nor‐ mativität als allgemeines Merkmal intersubjektiver sozialer Bezie‐ hungen betrachtet werden kann. Damit solche Beziehungen beste‐ hen können, müssen die Subjekte den Sinn der Verhaltensakte des anderen verstehen und seine zukünftigen Akte vorhersehen. Dar‐ über hinaus sollten sie die Möglichkeit haben, selbst Akte zu bege‐ hen, deren Sinn und Bedeutung von anderen erwartet und verstan‐ den wird (Kursivierung von A. Polyakow). Somit erweist sich wieder die Zeit als der unsichtbare, latente Hintergrund rechtlicher Kom‐ munikation, d. h. die Lücke zwischen der Tat und der entgegenkom‐ menden Rechtsfolgen als „Re-aktion“ anderer auf das Begangene. Mit anderen Worten, was bei A. Polyakow als der Raum der recht‐ lichen Kommunikation bezeichnet wird und als gewisses selbstver‐ ständliches und weiter unzerlegbares Phänomen akzeptiert, erweist sich tatsächlich als rechtliche Zeit, aus deren Horizont allein die ganzheitliche Besinnung der rechtlichen Kommunikation möglich ist. Vorweggreifend muss darauf hingewiesen werden, dass es sich hier nicht nur um den „Ersatz“ des Raums durch die Zeit handelt: Es geht darum, dass A. Polyakow, indem er die Rechtskommuni‐ kation räumlich besinnt, er ihre zeitliche Dimension dadurch als synchron postuliert. Dabei wird die diachrone Ebene der rechtli‐ chen Kommunikation übersehen, in welcher nämlich die rechtliche Normativität als eine Art „Anziehungskraft“ lokalisiert wird, welche Rechtsfolgen zur begangenen Tat heranzieht. Auf der synchronen Ebene der Rechtskommunikation wird solche „Anziehungskraft“ nicht thematisiert. Somit, indem A. Polyakow sich nicht auf die Diachronie der Rechtskommunikation konzentriert, verliert er den
607 Op.cit. S. 97. 608 Ibid.
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Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
Zugang zum Phänomen der Normativität in seinem Selbstsein und wird daher der Möglichkeit beraubt, das Besondere der rechtlichen Normativität im Vergleich zu ihren anderen Arten (moralischen, religiösen usw.) zu ermitteln. Es lässt sich vermuten, dass A. Po‐ lyakow die Dynamik des Rechts im Rahmen der allgemein-philo‐ sophischen kommunikativen Auffassung (ohne den Begriff „Sein“ anzuwenden) auszudrücken versucht und daher für sich keine Not‐ wendigkeit sieht, den temporalen Horizont zu aktualisieren. Gleich‐ zeitig scheint die Fundamentalontologie von M. Heidegger als die ursprünglich auf Sein im Ganzen gerichtete mehr Möglichkeiten für die rechtliche Forschung zu bieten als die kommunikative Philo‐ sophie, für die Kommunikation nur ein Mittel zur Erklärung be‐ stimmter Gesetzmäßigkeiten der Interaktion des Seienden ist. Zurückgehend zur weiteren Darlegung und Analyse der Ansich‐ ten von A. Polyakow ist darauf hinzuweisen, dass nach seiner Posi‐ tion die allgemein akzeptierte Vorstellung für sozial interagierende Subjekte davon, was man im bestimmten Fall tun bzw. nicht tun sollte, die soziale Norm ist. 609 Doch die Rechtsnorm ist im Gegen‐ satz zu anderen gesellschaftlichen Normen das institutionelle Ergeb‐ nis der Erkenntnis davon, was von anderen verlangt werden darf und was nicht, und was selbst getan werden kann, einberechnet das Verständnis und das Mitwirken anderer als die für sie obliga‐ torische Verhaltensform (Kursivierung von A.V. Polyakow). 610 Die Rechtsnormen sind somit untrennbar mit subjektiven Rechten und Pflichten verbunden, unterscheiden sich von ihnen aber im Wesent‐ lichen. Subjektive Rechte sind die den Subjekten zugebilligten sou‐ veränen Möglichkeiten, bestimmte bewusste Verhaltensakte durch‐ zuführen, die durch die Pflichten anderer gesichert sind. Solche An‐ erkennung (Legitimation) braucht die notwendige Grundlage. Dies ist die Rechtsnorm. 611 Konstitutiv für den rechtlichen Charakter der Norm ist die Insti‐ tutionalisierung. Andernfalls ist es unmöglich, die rechtliche Norm von allen anderen Normen (Brauch, Moral usw.) zu unterscheiden, die ebenfalls Forderungen und entsprechende Pflichten enthalten. Gleichzeitig stoßen wir im Zuge der Analyse der Konstruktionen 609 Ibid. 610 Ibid. 611 Op.cit. S. 97–98.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
von A. Polyakow auf ein Phänomen, das bedingt als „zweistufige Anerkennung (Legitimation)“ bezeichnet werden kann. Unter Le‐ gitimation versteht man das Begreifen des Sinnes des Rechtstex‐ tes und die Anerkennung seiner Gültigkeit (Geltung) unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmäßigkeit und der daraus entstehenden Notwendigkeit, diesem zu folgen. 612 Die Spezifik der rechtlichen Forderungen (der subjektiven Rechte) sowie der entsprechenden Pflichten liegt darin, dass sie zur Sicherstellung ihres allgemeinnormativen Status solcher Anerkennung (Legitimation) bedürfen. Solche Anerkennung (Legitimation) der ersten Stufe erfordert die notwendige Grundlage – die Rechtsnorm. Laut A. Polyakow ist die Rechtsnorm eine sinnvolle und legitime Verhaltensregel, welche die Rechte und Pflichten der Subjekte bestimmt. 613 Dementsprechend ist die Norm nicht „an sich“ rechtlich, sondern bedarf Legitimation, um rechtlich zu sein. Beim Versuch, den rechtlichen Charakter der Norm zu begrün‐ den, schreibt A. Polyakow, dass die Rechtsnorm durch das Bewusst‐ sein des Rechtssubjekts aus derjenigen Quelle abgeleitet wird, welche wiederum für die Norm die faktische (und formale) Grundlage ist. 614 Auf der Suche nach den Grundlagen des Rechts kommt der russi‐ sche Jurist somit zur zweiten Stufe der Anerkennung (Legitimation), welche als institutionell bezeichnet werden kann. So weist die oben erwähnte „Faktizität“ der Quelle der Rechtsnorm laut A. Polyakow darauf hin, dass diese die Natur des sozialen Faktes hat, d. h. den überindividuellen, transpersonalen, intersubjektiven, institutionel‐ len Charakter. Dies wiederum bedeutet, dass die soziale Faktizi‐ tät eine Quelle hat, die nicht von einem Subjekt, sondern von der ganzen Gemeinschaft als legitime (rechtmäßige) Quelle des Rechts (der subjektiven Rechte und Rechtspflichten) anerkannt wird. Sol‐ che Rechtsquellen treten in Form von Rechtstexten auf. 615 Im angeführten Fragment zieht der Hinweis Aufmerksamkeit auf sich, wonach das Kriterium der sozialen Faktizität der Rechtsquelle nicht nur ihre Anerkennung durch die Gemeinschaft, sondern die Anerkennung als legitime Rechtsquelle ist. Wenn jedoch subjektive 612 613 614 615
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Op.cit. S. 102. Op.cit. S. 98. Op.cit. S. 98. Ibid.
Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
Rechte und Pflichten ihre Grundlage in der Rechtsnorm erlangen und die Rechtsnorm ihrerseits im Zuge ihrer Hervorhebung aus der entsprechenden Quelle durch das Bewusstsein legitimiert wird, worauf gründet dann die Legitimität der letzteren? Mit anderen Worten, wenn der rechtliche Charakter der subjektiven Rechte und Pflichten durch den Verweis auf die Rechtsnorm begründet wird und der rechtliche Charakter der Norm in der Quelle gegründet ist, was ist dann die Determinante für den rechtlichen Charakter der Quelle selbst? Wenn der rechtliche Charakter der Quelle in ihr selbst enthalten ist, muss radikaler gefragt werden: Worin besteht denn ihre „Rechtlichkeit“? Laut A. Polyakow ist die Besonderheit der Rechtstexte ihre objek‐ tivierte, zeichenhafte, symbolische Gestalt. 616 Gleichzeitig sind sol‐ che Besonderheiten nicht das ausschließliche Prärogativ der Rechts‐ texte. Deshalb, um die Frage zu beantworten, welcher Text als recht‐ lich anerkannt werden kann, betont der russische Rechtsphilosoph, dass aus Sicht der kommunikativen Theorie des Rechts nämlich das Vorhandensein miteinander verbundener (korrelativer) Rechte und Pflichten der interagierenden Subjekte, welche sich aus den institu‐ tionell fixierten, legitimen Texten ableiten lassen, auf ihre rechtliche Bedeutung verweist. Der Text wird nicht durch die offizielle Form (z. B. ein Staatsgesetz) und nicht durch die Idee (z. B. über das Gute und die Gerechtigkeit) rechtlich, sondern durch die legitime Ver‐ wendung der aus ihm als normative Grundlage abgeleiteten korre‐ lativen Rechte und Pflichten. 617 Es ist leicht zu bemerken, dass solche Begründung des rechtlichen Charakters des Textes (und folglich des rechtlichen Charakters der Kommunikation als solcher) mehr Fragen als Antworten erzeugt. So weist A. Polyakow absolut zu Recht darauf hin, dass der rechtliche Charakter des Textes weder durch seine Form noch durch seinen In‐ halt determiniert werden kann. Der Hinweis darauf, dass der recht‐ liche Charakter des Textes durch die legitime Nutzung der aus ihm abgeleiteten Rechte und Pflichten determiniert wird, schafft jedoch klare Voraussetzungen für Rechtsrelativismus. Denn in diesem Fall wird dem Text selbst der Rechtsstatus verwehrt und letzterer wird
616 Ibid. 617 Op.cit. S. 99.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
von der Ableitung von Rechten und Pflichten aus ihm und deren anschließender legitimer Verwendung abhängig gemacht. Was soll man tun, wenn die sich aus demselben Text ergebenden Rechte und Pflichten, von dem einen Subjekt legitim und vom anderen nicht le‐ gitim genutzt werden? Bedeutet dies, dass derselbe Text gleichzeitig sowohl rechtlich als auch nicht rechtlich ist?! Problematisch ist auch die Definition des rechtlichen Charakters des Textes durch den Verweis darauf, dass daraus ein bestimmter Verhaltensinhalt (Rechte und Pflichten) abgeleitet wird. Wie A. Po‐ lyakow selbst schreibt, ist das Bezeichnende und das Bezeichnete im Text nicht durch kausale Beziehungen verbunden. 618 Dementspre‐ chend können wir nicht von direkter Determination des menschli‐ chen Verhaltens durch den Inhalt von Rechtstexten sprechen. Wenn unter der „Ableitung“ die Begründung des Normativen verstanden werden soll, d. h. des allgemeinverbindlichen Charakters der Mög‐ lichkeiten für das entsprechende Verhalten, dann befinden wir uns in einer Art Zirkel. Sein Wesentliches besteht im Folgendem. Wie bereits erwähnt, lokalisiert der St. Petersburger Rechtsphilo‐ soph Recht im Verhalten der Menschen und weist darauf hin, dass Recht sich in menschlichem Verhalten als Rechtskommunikation verwirklicht. Der rechtliche Charakter des menschlichen Verhal‐ tens (d. h. der Kommunikation) wird von der Gebundenheit durch Rechtsregeln verliehen, wodurch menschliches Verhalten in Ter‐ mini von Rechten (rechtmäßiges Verhalten) und Pflichten (gehö‐ riges oder erforderliches Verhalten) beschrieben werden kann. Die rechtliche Spezifik der Regeln liegt in ihrem institutionellen Cha‐ rakter, der die Rechtsnorm von anderen gesellschaftlichen Normen unterscheidet. Der institutionelle (d. h. spezifisch rechtliche) Cha‐ rakter der Norm wird wiederum dadurch determiniert, dass sie vom menschlichen Bewusstsein aus der legitimen Rechtsquelle – dem Rechtstext – abgeleitet wird. Gleichzeitig ist der rechtliche Charak‐ ter des Textes nicht in ihm selbst enthalten – weder auf der Ebene der Form (offiziell) noch auf der Ebene des Inhalts (gerecht, wohl‐ tuend, etc.), sondern leitet sich aus der legitimen Verwendung der daraus abgeleiteten Rechte und Pflichten ab. Solche Verwendung von Rechten und Pflichten ist jedoch ausschließlich im menschlichen
618 Op.cit. S. 98.
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Verhalten – der Kommunikation – lokalisiert, für deren Begründung des rechtlichen Charakters wir uns den Rechtstexten zugewandt ha‐ ben. Somit hängt der rechtliche Charakter der Kommunikation vom Rechtstext ab und der rechtliche Charakter des Textes von der Kom‐ munikation. Hier muss betont werden, dass A. Polyakow das Phänomen des «Textes» auf eigenartige Weise versteht. Für ihn erscheint der Text nicht nur in seiner «klassischen» Form der schriftlichen Quelle, sondern als jedes Zeichensystem im Ganzen. Für den russischen Rechtsphilosophen tritt also auch das subjektive Recht selbst als Text auf, insofern es möglich ist, das Verhalten des Anderen als im rechtlichen Bezug sinnvoll wahrzunehmen. 619 Aber auch hier gibt es einen Zirkel: Denn wie A. Polyakow behauptet, ist der Rechts‐ text nur dann Rechtstext, wenn aus seiner Interpretation und Le‐ gitimation subjektive Rechte abgeleitet werden. 620 Somit wird dem Leser angeboten, den zweiten Text (subjektive Rechte) aus dem ers‐ ten Text (schriftliche Rechtsquelle) abzuleiten, im Zuge dessen le‐ gitimer Verwendung der Rechtsstatus des ersten Textes begründet wird. Bei solcher Auffassung erhält die Rechtskommunikation un‐ erwartet postmoderne Züge (was sie mit der dialogischen Konzep‐ tion des Rechts von I. Tschestnow verwandt macht) und stellt einen geschlossenen selbstreferentiellen Diskurs von Rechtstexten dar. Es sollte jedoch betont werden, dass der beschriebene Zirkel in der Begründung des Rechts keinen logischen, sondern hermeneu‐ tisch-ontologischen Charakter hat (was A. Polyakow jedoch selbst nicht bemerkt). Dies ist nicht der Versuch, das Unbekannte durch das Unbekannte zu begründen, sondern der Hinweis darauf, dass die Interpretation des menschlichen Verhaltens (Kommunikation) als eine rechtliche das Vorverständnis des Phänomens des Rechts als solches im Ganzen erfordert. Da A. Polyakow seinerseits auf die dogmatische Postulierung des rechtlichen Charakters sowohl als Form als auch Inhalt der Rechtsnorm verzichtet, muss er sich, um den Text als rechtlich zu verstehen, der Interpretation des menschlichen Verhaltens (rechtmäßigen und verpflichtenden) als der Rechtskommunikation zuwenden, die die Gesamtheit aller kon‐
619 Op.cit. S. 99. 620 Op.cit. S. 98.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
kreten Rechtsereignisse umfasst. Solch hermeneutischer Zirkel trägt einen Sinn-Charakter und stellt eine Art «Bewegungslogik» des Teil‐ nehmers der Rechtskommunikation dar, im Zuge der Suche und Reproduktion ihres Sinnes. 621 Daher tritt bei A. Polyakow die kommunikative Konzeption des Rechts selbst nicht in Form abstrakter „theoretischer“ Tätigkeit auf, sondern ist ein Bestandteil der Rechtskommunikation, in welcher sich eben die oben genannte „rechtliche Was-heit“ als spezifischer textlicher Sinn der zwischenmenschlichen Interaktion widerspie‐ gelt. An dieser Stelle sollte noch einmal betont werden, dass solcher Sinn nicht mit der logisch-semantischen Bedeutung identisch ist, d. h. mit dem Prädikat, das dem gewissen Seienden zugeschrieben wird, sondern den ontologischen Charakter der Bewegung zwischen Verständnis und Interpretation hat. Die zuvor erwähnte Behaup‐ tung von A. Polyakow, dass Recht zur Welt der Sinne und Bedeutun‐ gen gehört, die von der inneren Welt des Menschen und seiner Be‐ ziehung zu anderen Menschen untrennbar ist sowie vom Bewusst‐ sein auf Grundlage institutionalisierter sozialer Praktiken konstru‐ iert wird, sollte so verstanden werden, dass Recht als Rechtskom‐ munikation eben der Sinn ist, d. h. jene Bewegung des Subjekts zwi‐ schen Verständnis und Interpretation, in welcher sich die Rechts‐ realität als etwas Ganzes ereignet. In solchem Sinne des Rechts als Ganzes (das sich im Zuge der Rechtskommunikation ereignet) wur‐ zelt jede spezielle rechtliche Bedeutung des einzelnen Seienden. Des‐ halb ist die bekannte Tautologie in der Schlussbehauptung von A. Polyakow darüber, dass „das Wesentliche der Rechtskommunika‐ tion und der kommunikativen Theorie des Rechts darin besteht, dass die rechtliche Interaktion im Gegensatz zu allen anderen Inter‐ aktionsarten die institutionelle und legitime Interaktion zwischen Subjekten auf Grundlage von Rechten und Pflichten ist“, 622 dadurch zu rechtfertigen, dass sie keine logische Definition darstellt, son‐ 621 So ist z. B. der hermeneutische Zirkel bei M. Heidegger eine Sinn-Dimension, welcher sich in der kontinuierlichen Bewegung zwischen Verständnis und In‐ terpretation ereignet. Mehr dazu siehe: Heidegger M. Sein und Zeit. – Tüübin‐ gen: Max Niemeyer, 2001. – S. 153. 622 Поляков А.В. Коммуникативно-феноменологическая концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) –
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dern eine rein deskriptive Ansicht ist, die die Seinsart des Rechts be‐ schreibt. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die Konzeption von A. Poly‐ akow noch keinen „erstarrten“, „dogmatischen“ Ideen- und Theo‐ rienkorpus darstellt, sondern von ihrem Autor ständig umgestaltet, verändert und korrigiert wird. Alle folgenden Anmerkungen sollen deswegen nicht darauf abzielen, den Autor der kommunikativ-phä‐ nomenologischen Auffassung bei einigen Widersprüchen zu „ertap‐ pen“, sondern den „unklaren Komplex“ seines Denkens ans Licht zu bringen und jene Prämissen zu klären, die für ihn selbst verborgen bleiben. Dazu gehört zweifellos sein Eintritt in das Gebiet der Tempo‐ ralität sowie in den hermeneutischen Zirkel. Indem A. Polyakow seine Überlegungen auf die Sozialontologie von P. Berger und T. Luckmann stützt und Recht auf der existentiell-kommunikativen Ebene der «Erwartungserwartungen» verwurzelt, führt er latent den Zeithorizont ein, insofern jede Erwartung in die Zukunft gerich‐ tet ist und auf Erfahrungen der Vergangenheit gründet. Ebenso ist der Versuch, subjektive Rechte und Pflichten aus der Rechtsnorm, die Norm aus dem Text und den Rechtsstatus des Textes selbst aus der legitimen Verwendung von Rechten und Pflichten abzuleiten, nichts anderes als der Eintritt in den ontologisch-hermeneutischen Zirkel. Dabei führt die Tatsache, dass A. Polyakow selbst nicht be‐ merkt, dass er «in Prosa spricht», zu einer Reihe höchst umstrittener Momente in seiner Rechtskonzeption. Um also in seinen Versuchen zu klären, wie „reales Recht“ funk‐ tioniert, „schreibt“ der St. Petersburger Rechtsphilosoph das ge‐ samte soziale Verhalten von Individuen innerhalb der Kategorien von „Rechten“ und „Pflichten“ „um“. Dabei geht es nicht um die formale Bindung von Rechtsnormen an menschliche Taten. Nach seiner Auffassung ist jedes subjektive Recht so lange unmöglich, bis alle anderen, die den Sinn dieses Rechts verstehen können, nicht verstehen, dass sie verpflichtet sind, jeden Inhaber dieses Rechts bei Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 100. [Polyakow A.W. Communicative-Phenomenological Concept of Law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Col‐ lective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philoso‐ phy of Law Issues”, 2013].
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seiner Verwirklichung nicht zu behindern, und dass sie zur Unter‐ lassung von Handlungen verpflichtet sind, die jenes Recht verletzen. Die Erkenntnis über solche Pflicht und das entsprechende Verhalten der Gesellschaftsmitglieder konstituiert die Geltung solch subjekti‐ ven Rechts als ein reales. 623 Es scheint jedoch, dass das beschriebene Bild in bedeutendem Maße künstlich ist. Trotz der richtigen Feststellung, dass das bloße Vorhandensein des subjektiven Rechts im Gesetz oder im Bewusst‐ sein der Menschen noch nicht bedeutet, dass es «real existiert», übersieht der russische Rechtsphilosoph, dass die überwiegende Mehrheit der sozialen Handlungen (auch in der Rechtssphäre) 1) unbewusst, 2) automatisch sowie 3) synkretistisch verübt wird. Die Unbewusstheit des sozialen (einschließlich rechtlichen) Han‐ delns bedeutet, dass es, um die gewünschten Konsequenzen zu er‐ langen (sozial effektiv zu sein) nur selten erforderlich ist, dass das Subjekt seine Pflicht versteht. Wenn Menschen z. B. in die Bäckerei gehen, um Brot zu kaufen, zahlt die überwiegende Mehrheit das Geld nicht, weil sie sich reflektorisch ihrer Pflicht bewusst ist, die Rechte des Verkäufers nicht zu verletzen. Die faktische Zahlung des geforderten Betrags ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass dies der einfachste Weg ist, das Gewünschte zu bekommen – einen Laib Brot. Denn es ist offensichtlich, dass, wenn der Verkäufer aus irgendwelchen Gründen nicht vor Ort wäre, ein gewisser Anteil der Käufer das Brot einfach kostenlos mitnehmen würde, ohne sich die Mühe zu machen, über Rechte und Pflichten nachzusinnen. Gleich‐ zeitig hätte sich der Prozentsatz der Menschen, welche noch Geld hinterlassen oder in ein anderes Geschäft gehen würden, am aller‐ wenigsten auf die entsprechende Norm des Bürgerlichen Gesetzbu‐ ches gestützt. Es scheint, dass es in solchem Fall die Hauptsache für jene ehrlichen Menschen wäre, dass sie durch den Diebstahl «aufhö‐ ren würden, zu sein, was sie sind». Mit anderen Worten, durch den Diebstahl würden sie sich in ihrem Alssein als „ehrliche Menschen“ „in Frage stellen“, würden sich gegenüber anderen „angreifbar“ ma‐ chen. Betrachten wir eine parallele Variante: Diejenigen, die das Brot stehlen würden, würden die von ihnen begangene Tat (Diebstahl)
623 Op.cit. S. 100.
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Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
nicht weniger offensichtlich mit der Möglichkeit für das Eintreten entsprechender Rechtsfolgen abmessen – der Feststellung des Tat‐ bestandes, ihrer Festnahme, strafrechtlicher Verfolgung usw. Für den Fall, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Rechtsfol‐ gen bei fast null läge, würde natürlich kein „Verständnis der sub‐ jektiven Rechte und Pflichten“ jene Menschen vom Diebstahl ab‐ halten. Somit ist deutlich zu erkennen, dass die im menschlichen Verhalten verkörperte „reale Wirkung“ des Rechts (d. h. sein Sein) keineswegs in der Erkenntnis (im Verstehen) über das Vorhanden‐ sein von Rechten und Pflichten liegt, sondern im Abmessen der Tat mit der Wahrscheinlichkeit ihrer Rechtsfolgen. In der ersten der oben genannten («rechtmäßigen») Verhaltensvarianten verbinden Menschen die Möglichkeit, eine unrechtmäßige Tat zu begehen, mit der Änderung ihrer Seinsart, welche als Rechtsfolge des Begange‐ nen auftritt. 624 In der zweiten («rechtswidrigen») Variante misst das Subjekt die Möglichkeit der Begehung der rechtswidrigen Tat mit der strafrechtlichen Verfolgung ab, wenn letztere als Rechtsfolge des Begangenen auftritt. Aus dem Beschriebenen folgt auch die zweite der beschriebenen Charakteristika rechtlicher Interaktion – ihre „Automatik“. Offen‐ sichtlich ist, dass nur ein Jurist oder ein Beamter mit seiner spe‐ ziellen Ausbildung die Grenzen der Rechte und den Umfang der Pflichten von diesem oder jenem Rechtssubjekt detailliert beschrei‐ ben kann. Gleichzeitig hindert dies jeden von uns (u. a. auch die rechtlichen Dilettanten) nicht daran, täglich zahlreiche „Rechtsbe‐ ziehungen“ einzugehen: Einkäufe tätigen, Auto fahren, arbeiten usw. Die Betonung des „Verstehens“, welches angeblich einzig und allein die „schlummernden“ Rechte und Pflichten „einschalten“ könne, ist somit eine deutliche Übertreibung. Im Laufe der sozialen Erziehung gewöhnt sich der Mensch lediglich unbewusst an die in dieser oder jener Gesellschaft angenommenen Bräuche. Sowohl das Verständ‐ nis des rechtlichen Status des Geschehens als auch die Reflexion diesbezüglich ist das Geschick einer sehr engen Gruppe von Men‐ schen (Juristen, Beamte, Philosophen). Daraus folgt die dritte der angeführten Besonderheiten des sozia‐ len (einschließlich rechtlichen) Handelns: sein Synkretismus. Beim 624 Im Recht ist (im Gegensatz zur Moral) das, was du bist, eine Ableitung dessen, was du getan hast.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Begehen einer Vielzahl von Handlungen stützt sich der Mensch nur in sehr seltenen Fällen auf das Verständnis der Rechte anderer und die ihnen entsprechenden Pflichten. In seinen täglichen Aktivitäten ist der Mensch in den engen Wickel von rechtlichen, moralischen, religiösen, wirtschaftlichen, kooperativen und vielen anderen Nor‐ men „verwoben“. Beim Blumenkauf für ein Mädchen (anstatt sie zu stehlen), versteht ein Mann zuallerletzt seine Pflichte als Käu‐ fer, die Rechte des Verkäufers zu beachten (das Wichtigste für ihn ist, Blumen zu besorgen); ebenso versteht das Mädchen, welches diese Blumen annimmt, in den allermeisten Fällen nicht, dass sie als Beschenkte einen gewissen Komplex von Rechten und Pflich‐ ten innehat, welche infolge der Annahme des Geschenks entstehen. Daraus wird deutlich, dass trotz des „formalen“ Vorhandenseins von Rechtsverhältnissen die rechtliche Kommunikation im gege‐ benen Beispiel nicht in ausgedehnterem Maße als die wirtschaftli‐ che, physikalische, erotische, chemische, biologische usw. vorhan‐ den ist. Das Gesagte gilt in Bezug auf die überwältigende Mehrheit der sozialen Handlungen, woraus nämlich jenes menschliche Ver‐ halten gebildet ist, worin bei A. Polyakow die rechtliche Kommuni‐ kation lokalisiert ist. Nach der treffenden Bemerkung eines anderen Vertreters des dynamischen Rechtsdenkens, I. Tschestnow, liegt der Sinn der These, dass Recht ein soziales Phänomen sei, darin, dass es den allgemeinsozialen Gesetzmäßigkeiten untergeordnet und mit anderen sozialen Phänomenen so eng verflochten ist, dass es nur analytisch aus dem Lebensstrom des Menschen ausgegliedert wer‐ den kann. 625 Somit führt das Ignorieren der temporalen Dimension und das Übersehen des Seins des Rechts als den Zusammenhang zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen (die sogenannte «soziale Reaktion») zur Konstruktion des etwas künstlichen Bildes der rechtlichen In‐ teraktion, in welcher die dominierende Bedeutung der reflektiv be‐ wussten Konstituierung von Rechten und Pflichten zukommt, die in Bezug auf das menschliche Verhalten präskriptiv ist. Ebenso führt der unbemerkte Eintritt in den hermeneutischen Zirkel dazu, dass 625 Честнов И.Л. Постклассическое правопонимание. – Краснодар: Краснодарский университет МВД России, 2010. – S. 7. [Tschestnow I.L. Post‐ classical Understanding of Law. – Krasnodar: Krasnodar University of MIA of Russian Federation, 2010].
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Paragraph 2. Die Konzeption von A. Polyakow
A. Polyakow sich dem Apparat der klassischen Rechtstheorie zu‐ wenden muss, auf welchen (als dem auf die Hinwendung zum Recht gerichteten als statischem Seienden) in Bezug auf die Problematik der Rechtskommunikation durchaus verzichtet werden könnte. So ist der russische Rechtsphilosoph angesichts der Notwendig‐ keit rechtlicher Legitimation gezwungen, sich den Werten zuzuwen‐ den. Wie er zeigt, lässt die Analyse der apriorischen Grundlagen der Rechtskommunikation zu, Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerech‐ tigkeit, Verantwortung und Ordnung aus dieser abzuleiten. Ohne diese Werte ist rechtliche Kommunikation selbst als Interaktions‐ system, das auf der Anerkennung des gehörigen Verhaltens und der Verantwortung für das Ungehörige gründet, nicht möglich. 626 Der hermeneutische Zirkel äußert sich hier darin, dass, wenn Werte an‐ fänglich aus der Rechtskommunikation abgeleitet werden (was be‐ rechtigt ist, insofern Rechtskommunikation das Ganze des Rechts ist, das das separate rechtliche Seiende einschließlich der Werte zu‐ sammenhält), diese Werte nachher nicht als Ableitungen erschei‐ nen, sondern primär in Bezug auf die Rechtskommunikation, in‐ dem sie die Voraussetzungen für ihre Möglichkeit sind. Es kann vermutet werden, dass es sich hier nicht um einen bana‐ len Fehlschlusshandelt, sondern vielmehr darum, dass das Ignorie‐ ren des hermeneutischen Zirkels dazu zwingt, die Aufgabe der Be‐ gründung der Kommunikation vermittels des Hinweises auf Werte zu lösen; der rechtliche Charakter der letzteren kann aber zu‐ gleich nur aus der Rechtskommunikation heraus begründet werden. Gleichzeitig macht das Verstehen des Sinn-Schemas der Rechts‐ kommunikation als hermeneutischen Zirkel die Hinwendung zu den Rechtswerten als das Mittel zur Begründung der Rechtskom‐ munikation unnötig. Denn der Rechtsstatus der Werte erweist sich in diesem Fall als das Ergebnis der im Zuge der Rechtskommuni‐ 626 П оляков А.В. Коммуникативно-феноменологическая концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 104. [Polyakow A.W. Communicative-Phenomenological Concept of Law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Col‐ lective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philoso‐ phy of Law Issues”, 2013].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
kation vorgenommenen Interpretation, welche als Sein des Rechts nicht durch den Verweis auf rechtliches Seiende (Werte) begrün‐ det werden kann. Dabei geht es natürlich nicht darum, die Rechts‐ kommunikation als Teil der rechtlichen Hermeneutik darzustellen. Rechtskommunikation ist die ontologische Metapher dessen, wie Recht existiert, seines Seins. Gleichzeitig lässt sich der Bewegungs‐ prozess des Rechts, in dessen Verlauf das vielfältige Seiende seinen Rechtsstatus erhält, als hermeneutischer Zirkel zwischen dem Ver‐ stehen des ganzheitlichen Rechtsphänomens (Rechtskommunika‐ tion) und der Interpretation des einzelnen Seienden als einem recht‐ lichen beschreiben. Unter Nichtbeachtung dessen, dass die Rechtskommunikation als hermeneutischer Sinn-Kreis verwirklicht wird (in dem Sinne, in dem dieser Begriff von M. Heidegger in „Sein und Zeit“ verwendet wird) muss A. Polyakow, um den rechtlichen Charakter der Kom‐ munikation zu betonen, alle Kategorien der klassischen Rechtstheo‐ rie in sein Konzept einschreiben: Materielles–Ideales, Sein–Sollen, Subjektives–Objektives usw. 627 All diese Konzepte haben jedoch keinen heuristischen Wert im Rahmen der Rechtskommunikation, welche weder subjektiv noch objektiv, weder materiell noch ideal, weder Sein noch Sollen, weder innerlich noch äußerlich ist, aber das Sein des Rechts darstellt, welches „jenseits“ des gesamten erwähnten kategorialen Apparates existiert, der auf die Analyse des rechtlichen Seienden gerichtet ist. Zusammenfassend können wir also feststellen, dass der Konzep‐ tion der Rechtskommunikation von A. Polyakow eine ganze Reihe unbestreitbarer Vorteile innewohnt. Dies ist in erster Linie die An‐ erkennung des abgeleiteten Charakters des Rechts als Sein und das Streben, Recht in seinem Sein zu besinnen – in der Rechtskom‐ munikation. Dank dessen überwindet der russische Rechtsphilo‐ soph den klassischen Gegensatz von Positivismus und Naturrecht und erreicht eine prinzipiell neue Ebene des Rechtsverständnisses. Darüber hinaus ermöglicht die Betonung der Kommunikation als Form der Verwirklichung des Rechts durch menschliches Verhal‐ ten, das „Menschenmaß“ des Rechts zu begründen, im Gegensatz zur Interpretation des Rechts als das für den Menschen „äußere“
627 Op.cit. S. 105.
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Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov
Normensystem (Positivismus) oder als apriorische Werte (Natur‐ recht). Gleichzeitig erzwingt das Ignorieren der temporalen Dimen‐ sion, der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem, wel‐ che im hermeneutischen Sinn-Kreis (M. Heidegger) ihre Verkörpe‐ rung findet, A. Polyakow in Bezug auf seine Methodologie, einen Schritt zurückzutreten, indem er den Inhalt seines Konzepts mit‐ hilfe des Apparats der klassischen Theorie entfaltet, dessen heuris‐ tischer Wert allein durch die Tatsache der kommunikativen Besin‐ nung auf das Rechts zunichte gemacht wird. Metaphorisch gespro‐ chen sieht der Versuch von A. Polyakow, „seinen philosophischrechtlichen Appetit zu stillen“, während die «Ziegen», «Lämmer» und andere «friedliche Schafe» der klassischen Rechtstheorie unbe‐ schadet bleiben, wie ein unangebrachter Pazifismus und eine bloße Verschiebung des unvermeidlichen Endes letzterer aus.
Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov Neben den Auffassungen von I. Tschestnow, A. Polyakow und J. Per‐ myakow ist die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov „si‐ gnifikant“ für die postsowjetische Rechtsphilosophie um die Jahr‐ hundertwende. 628 Mit vielen Merkmalen des dynamischen Rechts‐ verständnisses ist es zweifellos ein «neues Wort» in der Reflektion der vielen Kernprobleme der Rechtsphilosophie und vor allem der Frage, wie Recht existiert. Am Anfang der Beschreibung der Rechtsphilosophie von S. Mak‐ symov ist anzumerken, dass mit ihr so wie auch einer Reihe an‐ derer Konzepte des dynamischen Rechtsverständnisses die phäno‐ menologische und existentiell-rechtliche Schulen „verwandt“ sind. So weist der ukrainische Rechtsphilosoph darauf hin, dass das Pro‐ blem der Rechtsbesinnung durch das Aufzeigen seiner Verwurze‐ lung im menschlichen Sein, seiner Anwesenheit im menschlichen Leben gelöst wird. Die Frage danach, was Recht ist, wird durch die Klärung der Frage gelöst, was wir selbst sind. In gewisser Weise 628 Максимов С.И. Правовая реальность: опыт философского осмысления. – Х.: Право, 2002. – S. 328. [Maksymov S. Legal Reality: Experience of Philosophical Reasoning. – Kharkiv: Pravo, 2002].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
können wir sagen, dass nicht wir Recht deuten, sondern dass Recht uns deutet. 629 Somit lässt sich in der Position von S. Maksymov, der Recht existentiell als den unabdingbaren Zug unseres Seins inter‐ pretiert, die unbestreitbare Ähnlichkeit mit den Einstellungen von J. Permyakow erkennen (der vorschlägt, sich „anzuhören“, was bzw. aus welchen Anlässen Recht etwas von sich erklärt), sowie mit E. Fechner, W. Maihofer und anderen Vertretern des Rechtsexisten‐ tialismus, für die die Frage nach dem Sein des Rechts untrennbar mit der Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz verbunden war. Für den ukrainischen Rechtsphilosophen ist Recht die Sphäre von Dramen und Konflikten, schwierigen existentiellen Wahlen und Entscheidungen, wenn die tiefen Grundlagen des menschlichen Seins buchstäblich auf Schritt und Tritt entblößt werden. 630 Neben existentiellen Motiven sind auch phänomenologische Konnotationen in der Konzeption des Rechts von S. Maksymov sehr stark, also die Orientierung auf Recht als das Sinn-Gebilde. Zugleich ist Sinn keinesfalls als „statische Bedeutung“ zu verstehen, die dem einen oder anderen Rechtsphänomen zugeschrieben und im erstarrten Begriff verfestigt wird. Wie der ukrainische Rechts‐ philosoph zeigt, ist Recht kein zu klärender Begriff, sondern ein erzählend strukturierter gesellschaftlicher Prozess, in welchem Teil‐ nehmer der rechtlichen Praxis ihre Interpretationen bestimmter Aspekte der Rechtsrealität zum Ausdruck bringen. Daraus folgt, dass das Ziel der Rechtstheorie nicht darin besteht, das ideale rechtliche Narrativ zu schaffen, um es in die Praxis einzubringen, sondern die Aktivität der Theorie im kreativen Narrativ des Rechts als die Überwindung statischer Konventionen und als die Ermög‐
629 Максимов С.И. Концепция правовой реальности// Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 52. [Mak‐ symov S.I. Concept of Legal Reality//Non-classic Philosophy of Law: Questi‐ ons and Answers. Collective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013]. 630 Максимов С.И. Правовая реальность как предмет философского осмысления: Дисс. . . д-ра юрид. наук:12.00.12. – Х., 2002. – S. 23. [Mak‐ symov S. Legal Reality as the Subject of Philosophical Reasoning: Dissertation to obtain the Degree the Doctor of Legal Sciences. – Kharkiv: 2002].
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Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov
lichung der umfassenderen Teilhabe am kontinuierlichen Prozess des Schaffens und der Transformation der rechtlichen Sinne. 631 Somit dominieren im wesentlich dynamischen Rechtsverständnis von S. Maksymov neben dem Existentialismus einerseits phänome‐ nologische Motive mit kommunikativen Komponenten (und dies zeigt die unbestrittene Nähe des Konzepts der Rechtsrealität zu den Auffassungen von A. Polyakow), und andererseits die hermeneu‐ tische Komponente. Laut S. Maksymov ist im Rahmen der Kon‐ zeption der Rechtsrealität die Erkenntnis des Rechts in streng er‐ kenntnistheoretischem Sinne theoretischer Erfahrung unmöglich. Vielmehr kann von einem hermeneutischen Verständnis als Repro‐ duktion des Rechts im Zuge seiner Verwirklichung gesprochen wer‐ den. 632 Beim Übergang zur detaillierten Beschreibung der Auffassungen von S. Maksymov ist darauf hinzuweisen, dass für ihn sowie für die anderen Vertreter des dynamischen Rechtsdenkens die nega‐ tive Haltung gegenüber der Verdinglichung des Rechts charakte‐ ristisch ist. So betont der ukrainische Rechtsphilosoph ähnlich A. Polyakow, für welchen wiederum „es kein Recht als solches gibt“: „Recht ist nicht ein gewisses Ding, auf das man zeigen kann: ge‐ nau das ist nämlich Recht. Recht ist eine besondere Welt, die Welt des Rechts.“ 633 Gleichzeitig ist die Welt keine einfache Gesamtheit des Seienden, sondern die besondere Art, sie zu organisieren. Die Welt des Rechts liegt nicht «außerhalb» der Wirklichkeit. z. B. kann ein und dasselbe Ding gleichzeitig ein «Bürger» der physikalischen, ästhetischen, chemischen, rechtlichen, mathematischen und vieler anderer Welten sein. Wie S. Maksymov zeigt, stellt die Rechtsreali‐ tät keinen substitutionalen Teil der Realität dar, sondern ist nur die Organisations- und Interpretationsweise bestimmter Aspekte des 631 Максимов С.И. Концепция правовой реальности// Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 53. [Mak‐ symov S.I. Concept of Legal Reality//Non-classic Philosophy of Law: Questi‐ ons and Answers. Collective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013]. 632 Ibid. 633 Op.cit. S. 31.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
sozialen Lebens, des Seins des Menschen (was seine Ansichten mit dem rechtlichen Institutionalismus von W. Tschetwernin verwandt macht). 634 Und insofern Realität die den Phänomenen innewoh‐ nende Eigenschaft, unabhängig von unserem Willen und Begehren, das Sein zu haben, ist, umfasst die Rechtsrealität auch solche Offen‐ sichtlichkeiten, die zwar kein dingliches Sein haben, mit welchen aber dennoch gerechnet werden sollte. 635 Die Rechtsrealität hat bei S. Maksymov einen Sinn-Aufbau und stellt vor allem die Realität des Sinnes dar, die besondere Weise, sich auf verschiedene Arten von Ereignissen zu besinnen. Als komplexes System mit vielen Ebenen stellt Recht keinen statischen Satz von Elementen dar, sondern ist ein dynamischer Prozess eigenen Werdens. 636 Jedoch hält sich der ukrainische Rechtsphilosoph in den Versu‐ chen zu beschreiben, worin genau der spezifische – rechtliche – Sinn besteht, wie sich das dynamische Werden der Rechtsrealität verwirklicht, nicht auf der postmetaphysischen Ebene der Rechtsbe‐ sinnung auf und weicht methodologisch zur metaphysischen Posi‐ tionen ab, die wichtigste von welchen die Dichotomie von Sein und Sollen ist. Also, wie bereits erwähnt, für S. Maksymov das wirklich, womit man rechnen muss. Es ist schwer, dieser These zu widerspre‐ chen. Danach macht der ukrainische Rechtsphilosoph jedoch eine (für die nichtklassische Rechtswissenschaft) merkwürdige Aussage: Die Welt des Rechts ist im Grunde die Realität des Sollens, nicht der Existenz. 637 Das Spezifikum der Rechtsontologie liegt nach Ansichten des ukrainischen Rechtsphilosophen darin, dass das Sein des Rechts eine besondere Seinsart ist, das „Sein-Sollen“. Die Rechtsrealität wird somit nicht als Tatsache gegründet, sondern kraft ihrer Wer‐ tigkeit für den Menschen. 638 Aber kraft wessen besitzt Recht diese Wertigkeit? S. Maksymov zeigt, , dass wenn die gemeinsame Exis‐ tenz der Menschen in Willkür umzuwandeln droht, da die onto‐ logische Grundlage des Rechts die intersubjektive Interaktion ist, die nicht als substantielle Realität, sondern als ihr ideal-sinnhafter 634 635 636 637 638
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Op.cit. S. 32. Op.cit. S. 31. Op.cit. S. 32. Ibid. Ibid.
Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov
Aspekt betrachtet wird, das Recht das Moment des Sollens für die Einschränkung dieser enthält. Die Rechtsontologie ist intersubjek‐ tiv, und die „primäre Rechtsrealität“ tritt als ihr Sinn auf, der in ge‐ wissem Sollen besteht. Somit ist Recht für den Menschen als der in gewisser Art intersubjektiv im menschlichen Bewusstsein verwur‐ zelte Sinn des „Sollens“ bedeutend, d. h. im Wesentlichem eine ge‐ wisse apriorische Wertigkeit. Mit solcher Erklärung, wonach Recht, das zuvor zum Teil der menschlichen Existenz erklärt wurde, sich plötzlich als im Bewusstsein lokalisiert (wenn auch intersubjektiv) erweist, wird die gesamte existentielle Komponente des Rechts, all seine Angemessenheit bezüglich des menschlichen Seins, zunichte gemacht. Bei der Lokalisierung des Rechts im menschlichen Bewusstsein als die a priori bedeutende Sinn-Struktur muss S. Maximow nach einer Antwort auf mindestens zwei Fragen suchen. Erstens, wie verkörpert sich solch ideales, deontologisches Gebilde in der „rea‐ len Realität“ der sozialen Beziehungen? Zweitens, worin besteht die rechtliche Spezifik des Sollens, insofern das apriorische Moment des Sollens in jedem Phänomen enthalten ist, das soziale Normativität besitzt – Moral, Religion usw.? Um die erste Frage zu beantworten, gibt der ukrainische Phi‐ losoph an, dass Recht als deontologische Wirklichkeit das ideal konstruierte Sein ist, dessen Sinn das Sollen ist. Die Rechtsrea‐ lität hat einen Sinn-Aufbau. Rechtliche Sinne verdinglichen sich in mentalen Einstellungen, Ideen und Theorien, in der zeichensymbolischen Form von Normen und Institutionen, in menschli‐ chen Handlungen und Beziehungen, d. h. in verschiedenen Erschei‐ nungsformen der Rechtsrealität. 639 Gleichzeitig ist Recht kein sta‐ tischer Satz von Elementen, sondern der dynamische Prozess sei‐ nes eigenen Werdens. Als Quelle der Entwicklung treten die wider‐ sprüchlichen Interaktionen seiner Kehrseiten auf, die sich in der Polarität und Komplementarität verschiedener Rechtsauffassungen widerspiegeln. Die relativ autonomen Ebenen der rechtlichen Wirk‐ lichkeit (Seinsformen des Rechts) sind a) die Welt der Ideen (Idee von Recht), b) die Welt der Zeichenformen (Rechtsnormen und Ge‐ setze) sowie c) die Welt der sozialen Interaktionen (rechtliches Le‐
639 Op.cit. S. 32.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
ben). Sie stellen die Ebenen des Werdens des Rechts dar, welche sich in der Entfaltung der Konzeption der Rechtsrealität von abstrakten zu immer konkreteren Definitionen ausdrücken. Die Idee von Recht tritt als die logisch ursprüngliche Kompo‐ nente der Rechtsrealität auf, deren Wertigkeit durch die Operation der logischen Anerkennung des Rechts oder seiner Begründung festgelegt wird. Positives Recht ist seinerseits die Verwirklichung der Idee von Recht. Seine weitere Verkörperung findet die Idee des Rechts auf der Ebene des rechtlichen Lebens, wenn im Prozess der Rechtsverwirklichung ein Übergang von Gesetzen zu materiell kon‐ kreten Definitionen stattfindet. Der Höhepunkt des Rechtslebens ist die Gerichtsentscheidung. Dabei treten die Anerkennung von Norm sowie Zwang und Macht als die Voraussetzungen des erwähn‐ ten Übergangs auf. 640 Letztendlich erweist sich die wahre Rechts‐ realität weniger als starrer Mechanismus herrischen Zwanges, son‐ dern mehr als feine Netz besonderer mentaler Zustände – rechtli‐ cher Sinne. Als solche grundlegenden rechtlichen Sinne treten die fundamentale Pflicht, das Recht des anderen zu respektieren, und die sie ergänzende Pflicht, das eigene Recht zu verteidigen, auf. 641 Aus einem solchen Rechtsverständnis folgt auch die Antwort auf die zweite der zuvor genannten Fragen: nach dem Unterschied zwi‐ schen dem rechtlichen Sollen und seinen moralischen, religiösen und anderen Analogien. Insofern die Voraussetzungen für die „Ma‐ terialisierung“ der abstrakten Norm ihre Anerkennung, Zwang und Macht sind, erweist sich der Unterschied zwischen dem rechtlichen Sollen und den anderen ihm angrenzenden Typen als ausschließ‐ lich institutionell. Deswegen ist S.Maximows Einverständnis mit den Thesen von E. Solowjow zur Komplementarität von Moral und Recht, sowie mit R. Alexys Aussage zur Moralität des Rechts keines‐ wegs zufällig. 642 Indem der ukrainische Rechtsphilosoph das Phä‐ nomen des apriorischen Sollens als den Ausgangspunkt der Rechts‐ realität nimmt, verliert er die methodologischen Kriterien für die Sinn-Abgrenzung des Rechts von anderen verwandten sozial-nor‐ mativen Phänomenen.
640 Op.cit. S. 33. 641 Op.cit. S. 34. 642 Op.cit. S. 38–39.
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Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov
Beim Übergang zur kritischen Reflektion der Position von S. Maksymov ist auf eine gewisse „Zersplitterung“ seiner philoso‐ phisch-methodologischen Vorannahmen hinzuweisen. So koexis‐ tieren unerwarteterweise die im Wesentlichen postmetaphysischen Behauptungen über die Dynamik der Existenz des Rechts, d. h. die Betonung der Unmöglichkeit seiner «primären Verdinglichung» und die ursprüngliche Verwurzelung des Rechts im gemeinsamen Sein der Menschen, mit expliziter Metaphysik. Dies ist sowohl die Aufspaltung des einheitlichen Rechtsphänomens in die Dimensio‐ nen des Seins (rechtliches Leben) und des Sollens (Idee von Recht) als auch der rein Hegelsche Übergang von der abstrakten Idee von Recht durch das Gesetz zur Konkretheit des rechtlichen Lebens, wenn die treibende Kraft solchen Überganges die der Rechtsrealität innewohnenden Widersprüche sind. Das Ergebnis solcher Aufspaltung ist die widersprüchliche Ant‐ wort auf die wichtigste Frage nach der Quelle des Seins des Rechts, seiner ontologischen Grundlage. So übersieht S. Maksymov bei der Behauptung (im Geiste Hegels), dass das Sein des Rechts als seine Entfaltung von der abstrakten Idee von Recht vermittels des Geset‐ zes in das konkrete rechtliche Leben stattfindet, dass solche Ent‐ faltung nur „auf dem Papier“ stattfindet. In Wirklichkeit dient als Grund dafür, die Realität auf ihren rechtlichen Modus „umzustel‐ len“, ausschließlich die konkrete Situation: Vertrag, Verkehrsunfall, Verbrechen usw. Eben diese Voraussetzungen, in welchen weder Moral noch Religion eine klare und eindeutige Deutung der Situa‐ tion geben können, sind die «Wiege» des Rechts. Und der ukraini‐ sche Rechtsphilosoph selbst stimmt zu, wie wir bereits gesehen ha‐ ben, dass Recht im menschlichen Sein verwurzelt ist. Daraus folgt, dass S. Maksymov Dinge zu verbinden sucht, die im Wesentlichen unvereinbar sind – die Hegelsche Metaphysik (die für Recht als Übergang von der abstrakten Idee zu den konkreten Beziehungen plädiert) und den Existentialismus (der darauf besteht, dass die Quelle des Rechts das Sein des Menschen in einer bestimmten Si‐ tuation ist). Ebenfalls charakteristisch für die Auffassung von S. Maksymov ist die Aufspaltung des Phänomens des Rechts zwischen dem mensch‐ lichen Sein und dem Bewusstsein. So ist der Hinweis auf die Ver‐ wurzelung des Rechts im menschlichen Sein im Konzept des ukrai‐ nischen Rechtephilosophen benachbart mit den zahlreichen Ver‐
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
weisen darauf, dass Recht eine Sinn-Realität ist, deren Quelle das intersubjektive Bewusstsein ist. Die negative Folge daraus ist eine widersprüchliche Antwort auf die wichtigste Rechtsfrage – nach der Sinn-Quelle des Rechts. So ist der rechtliche Sinn im phänomeno‐ logischen Paradigma ein Produkt der konstitutiven Aktivität des Bewusstseins. Im Rechtsexistentialismus hingegen wurzelt der Sinn eines Ereignisses als des rechtlichen in einer konkreten Situation, während die Reflexion des Bewusstseins aus diesem Anlass nur ein «zweiter Schritt», die einfache Feststellung der «rechtlichen Natur der Dinge» ist. Somit ist es unmöglich, aus den Aussagen von S. Maksymov den Schluss zu ziehen, ob der rechtliche Sinn irgendwel‐ chen Ereignisses das ausschließliche Produkt des Bewusstseins ist oder durch jene besondere Situation (Ereignis, Geschehen) erzeugt wird, in der das entsprechende Phänomen stattfindet. Mit anderen Worten, der Hinweis des ukrainischen Philosophen auf solche an‐ fängliche Existenzart des Rechts wie „Sein-Sollen“ gibt keine klare Vorstellung davon, wie Recht ursprünglich existiert: Als intersub‐ jektive Verpflichtung, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten («metaphysische» Antwort, die zur Vermischung des Rechts mit den anderen apriorischen normativen Systemen führt) oder als „erzäh‐ lend strukturierter sozialer Prozess“, der in der menschlichen Exis‐ tenz verwurzelt ist, im Zuge dessen die Besinnung auf das gemein‐ same Sein der Menschen stattfindet («postmetaphysische Antwort» im Sinne des dynamischen Rechtsverständnisses)? Es scheint, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, dass die fruchtbarste Richtung das Beharren des ukrainischen Rechts‐ philosophen auf der Realität des Rechts ist. Wie bereits erwähnt, ist laut S. Maksymov dasjenige real, womit gerechnet werden muss. Versuchen wir, diese Behauptung genauer zu analysieren. Was be‐ deutet denn „es muss mit etwas gerechnet werden“? In der phy‐ sischen Realität muss z. B. mit dem Gravitationsgesetz gerechnet werden, und diejenigen, die versuchen, es zu ignorieren, werden unweigerlich scheitern. In der chemischen Realität muss mit den Gesetzen des Ablaufs chemischer Reaktionen, der Wechselwirkung chemischer Elemente usw. gerechnet werden. Wie sieht es in der rechtlichen Realität aus? Einerseits muss im damit gerechnet wer‐ den, dass jede gegen eine andere Person gerichtete Tat unweiger‐ lich eine „Gegenreaktion“ erzeugt: die Gegentat. Dies kann die Aus‐ händigung von Waren gegen Geld, das akustische Signal bei Ver‐
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Paragraph 3. Die Konzeption der Rechtsrealität von S. Maksymov
kehrsordnungswidrigkeiten, die notwendige Abwehr beim Angriff auf Leben und Gesundheit usw. sein. Genau so erfolgt die rechtliche Interaktion im weitesten Sinne des Wortes, wenn jeder Akteur die rechtlichen Folgen seiner Tat berücksichtigen muss. Wie leicht zu erkennen ist, bedeutet „muss“ hier dasselbe wie „Sollen“. Einfach‐ heitshalber zugunsten der weiteren Darlegung nennen wir dieses „Sollen“ «ontologisch». Andererseits gibt es im metaphysischen Rechtsverständnis das Sollen, welches notwendigerweise die bewusste Komponente bein‐ haltet, als subjektive Anerkennung der Verpflichtung, in bestimmter Weise zu handeln. Mit anderen Worten, „muss gerechnet werden“ bedeutet in diesem Fall, sich einem bestimmten „kategorischen Im‐ perativ“ zu fügen, welcher unabhängig von realen ontologischen Bedingungen wirksam ist. Dies ist ein gewisses intellektuell wahr‐ genommenes Bedürfnis, die Forderungen der Norm bedingungslos zu erfüllen. Solches Sollen kann als «deontologisch» bezeichnet wer‐ den. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Sollens be‐ steht darin, dass im Falle des «ontologischen» Sollens die Person nur unter Berücksichtigung jener oder anderer rechtlichen Folgen ihrer Tat handelt, während beim „deontologischen“ Sollen der Mensch verpflichtet ist, sich der bestimmten Norm bedingungslos zu fügen, die in der Vernunft, im Willen des Staates usw. verwurzelt ist. Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich im ersten Fall um das „exis‐ tentielle Subjekt“, welches Wahlfreiheit besitzend für die möglichen Folgen seiner Taten verantwortlich ist. Im zweiten Fall treffen wir auf das klassische „rationale Subjekt“, welches kraft der „Vernunft“ per definitionem keine solche Freiheit besitzt, da es a priori den be‐ stimmten Vorschriften gefügt ist. Daraus lässt sich schließen, dass eine der Folgen des dynamischen Rechtsverständnisses das Über‐ denken der Kategorie des Sollens sein wird, und zwar seine „On‐ tologisierung“. Solche Auffassung, die „ontologisches Sollen“ zwi‐ schen der Tat und ihren Rechtsfolgen lokalisiert, bringt die tempo‐ rale Dimension des Rechts ins Spiel, die rechtliche Zeit. Es ist zu vermuten, dass solche Schritte für das weitere ganzheitliche und un‐ widersprüchliche Verständnis der Rechtsrealität fruchtbar werden können.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow Eine der interessantesten und ernsthaftesten Konzeptionen des dy‐ namischen Rechtsverständnisses ist die dialogische Rechtsontolo‐ gie des russischen Rechtsphilosophen I. Tschestnow. Der Grund für diese Einschätzung waren die originellen und tiefgründigen Ansich‐ ten des Autors in Bezug auf die Ontologie und Methodologie des Rechts. Aus philosophisch-methodologischer Sicht ist der Ansatz von I. Tschestnow eine Synthese aus Dialogismus (M. Bachtin, W. Bi‐ bler, E. Levinas, B. Waldenfels usw.) 643 und Postmoderne (J. Bau‐ drillard, J. Deleuze, J. Derrida, M. Foucault usw.). Für den russi‐ schen Rechtsphilosophen ist Dialog die Interaktion der Menschen, in deren Verlauf der Standpunkt des Anderen sowohl als konkreter Mensch als auch Träger eines sozialen Status – des unpersönlichen pauschalisierten Anderen – akzeptiert wird. 644 Solcher Dialog kann auch im Zuge des Konflikts stattfinden, wenn der Andere zwar als Gegner wahrgenommen, aber dennoch als formal gleicher, würdi‐ ger Opponent bewertet wird und der Dialog selbst potentiell Mög‐ lichkeiten zur Versöhnung enthält. 645 Um jedoch unter solchen – dynamischen und wechselhaften – Voraussetzungen zu arbeiten, er‐ weist sich der klassische methodologische Apparat der Rechtswis‐ senschaft, der auf den Umgang mit dem statischen Seienden abge‐ stimmt ist, als ungeeignet. Deshalb ist die Hinwendung von I. Tsche‐ stnow zur Philosophie der Postmoderne und dem Poststrukturalis‐ mus, welche das Koordinatensystem zur Verfügung stellen, in dem das dialogische Rechtsverständnis möglich wird, keinesfalls zufällig. 643 Честнов И.Л. Диалогическая концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 160. [Tschestnow I.L. Dialogical Concept of law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Collective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013]. 644 Op.cit. S. 160. 645 Ibid.
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Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow
Dies ist vor allem das Denken vermittels Simulakren, Rhizomatik (Dezentrierung und Destrukturierung) des Gegenstandfeldes der Forschung usw. 646 Die angegebenen philosophisch-methodologischen Vorausset‐ zungen geben I. Tschestnow die Möglichkeit, eine qualitativ neue Ebene in der Rechtsbesinnung zu erreichen. Recht ist also seiner Auffassung nach Einheit und Differenz, d. h. Dialog des Einzigarti‐ gen (der konkreten, tatsächlichen Interaktion – des Rechtsverhält‐ nisses, in dem subjektives Recht existiert) und des Typischen, sich Wiederholenden (der objektiven Rechtsnorm). 647 Es wäre logisch anzunehmen, dass in solchem Dialog das Sein des Rechts aus dem statischen Sein des konkreten Seienden (Idee, Gesetz, Gerichtsent‐ scheidung etc.) in das virtuelle, entgehende Sein der Simulakren übergeht. 648 Somit ist für I. Tschestnow, wie auch für andere Ver‐ treter des dynamischen Rechtsverständnisses, die negative Haltung gegenüber der Verdinglichung des Rechts charakteristisch, d. h. das Streben nach der Entdinglichung der Rechtsrealität, vermittels der Bekundung der soziokulturellen Bedingtheit von den Konzepten der klassischen Rechtstheorie, 649 sowie die Betonung auf die be‐ wegliche, veränderliche Natur des Seins des Rechts, welches sich im 646 Честнов И.Л. Постклассическое правопонимание. – Краснодар: Краснодарский университет МВД России, 2010. – S. 30. [Tschestnow I.L. Post‐ classical Understanding of Law. – Krasnodar: Krasnodar University of MIA of Russian Federation, 2010]. 647 Честнов И.Л. Диалогическая антропология права как постклассический тип правопонимания: к формированию концепции//Российский ежегодник теории права. – 2008. – No 1. – S. 81. [Tschestnow I.L. Dialogical Anthropology of Law as Postclassical Type of Understanding of Law: to the Conceptual Framing//Russian Yearbook of Legal Theory. – No 1.–2008]. 648 Честнов И.Л. Постклассическое правопонимание. – Краснодар: Краснодарский университет МВД России, 2010. – S. 30 [Tschestnow I.L. Post‐ classical Understanding of Law. – Krasnodar: Krasnodar University of MIA of Russian Federation, 2010]. 649 Честнов И.Л. Диалогическая концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 172. [Tschestnow I.L. Dialogical Concept of law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Collective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Zuge seiner Reproduktion in der Praxis gesellschaftlicher Beziehun‐ gen verwirklicht. 650 Beim Übergang zur detaillierteren Beschreibung der Ansichten des russischen Rechtsphilosophen ist anzumerken, dass I. Tschest‐ now immer den sozialen Charakter des Rechts akzentuiert. Nach seiner Position ist Recht so eng in die Welt des Sozialen „verwoben“, dass es ohne Beeinträchtigung seiner ontologischen Vollständigkeit nicht in „reiner Form“ daraus hervorzuholen ist. Laut I. Tschest‐ now existiert Recht wie Moral nicht „an sich“: es gibt keine „rei‐ nen“ Rechtsnormen, Rechtsbeziehungen oder andere Rechtsphäno‐ mene – sie alle umfassen psychische Prozesse des Menschen, der Kultur, etwa von Wirtschaft und Politik (implizit, mittelbar – alle Bereiche). 651 Hier lässt sich ein weiteres charakteristisches Merkmal des dynamischen Rechtsverständnisses nachverfolgen – ein Hin‐ weis darauf, dass es keine „immanenten“ Rechtsphänomene gibt, weil jedes von ihnen in wirtschaftlicher, politischer oder sonstiger Hinsicht immer gleichermaßen relevant sein kann. 652 Demgemäß, weil sich die Ausgliederung des Rechts als einer be‐ sonderen „Substanz“ als unmöglich erweist, wählt I. Tschestnow den anderen Weg. Er stellt Sein des Rechts nicht als vorhandene Gegebenheit des isolierten Seienden vor, sondern als den ständig andauernden und sich selbst reproduzierenden Dialog, dessen «Sei‐ ten» die sogenannten «Antinomien der Sozialität» sind: Materiel‐ les–Ideales, Sein–Sollen, Persönlichkeit–Struktur, Gemeinsames–‐ Besonderes usw. Eigentlich bedeutet Dialogismus eben, dass sol‐ che Antinomien in der Beziehung der ständigen gegenseitigen Be‐ dingtheit, Ergänzung und des gegenseitigen Übergangs stehen. Es ist zu unterstreichen, dass es sich nicht um eine Art „intellektuelles Modellieren“ handelt: Solcher Dialog findet ursprünglich nicht im menschlichen Bewusstsein statt, sondern in ihrer Interaktion. 653 Die rechtliche Relevanz solcher Prozesse muss dennoch irgend‐ wie ermittelt werden. In den Versuchen, den rechtlichen Bestandteil 650 Op.cit. S. 161. 651 Op.cit. S. 168. 652 Hier ist die Ähnlichkeit der Ansichten von I. Tschestnow mit den zuvor zitier‐ ten Behauptungen von A. Polyakow darüber, dass „Recht als solches nicht exis‐ tiert“, sowie S. Maksymov über die „Abwesenheit eines Sachreferenten beim Recht“ offensichtlich. 653 Op.cit. S. 160.
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Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow
des Dialogs zu spezifizieren, weist der russische Rechtsphilosoph darauf hin, dass Recht ein Dialog als die gegenseitige Bedingtheit ge‐ gensätzlicher Momente ist, welche sich in der Interaktion der kon‐ kreten Menschen äußert, die ihre individuellen Erwartungen reali‐ sieren – subjektive Rechte und Pflichten. 654 Individuelle Erwartun‐ gen (eigentlich die zeitliche Projektion der Möglichkeiten des eige‐ nen Seins-mit-Anderen) finden jedoch in praktisch jeder mensch‐ lichen Interaktion statt. Deswegen ist zu präzisieren, wie genau im Zuge sozialer Praktiken Recht geschaffen und reproduziert wird. Auch I. Tschestnow ist sich dieser Notwendigkeit bewusst. Er be‐ merkt, dass Recht oder Rechtsrealität Normen, Rechtsbewusstsein und Rechtsordnung umfasst, in welcher sowohl Normen als auch Rechtsbewusstsein realisiert werden. 655 Dabei ist es wichtig, nicht nur die Mehrdimensionalität des Rechts festzuhalten, sondern auch zu definieren, wie diese Elemente sich gegenseitig bedingen, um so die Reproduktion der Rechtsrealität durchzuführen. Dem Mecha‐ nismus der Rechtsreproduktion liegen grundlegende Antinomien zu Grunde: Handeln und Struktur sowie Materielles und Ideales. In diesem Sinne ist jedes Rechtsinstitut eine widersprüchliche Ein‐ heit fester Struktur in Form einer relativ klar fixierten Gestalt und einem in der Vergangenheit stets wiederholten Massenverhalten so‐ wie konkreten individuellen Vorstellungen davon, welche in einzel‐ nen Aktionen durchgeführt werden. 656 Somit ist, wie ersichtlich, das Rechtsinstitut eine Art «Montage‐ punkt», der alle Erscheinungsformen des Rechtlichen zusammen‐ führt. Wie I. Tschestnow zeigt, ist ein Rechtsinstitut seine in der je‐ weiligen Rechtsform festgehaltene Zuständigkeit und vielfach wie‐ derholte rechtlich bedeutsame menschliche Handlung, wodurch die entsprechenden Rechte und Pflichten realisiert werden, die den In‐ halt des Rechtsstatus des Instituts bilden. 657 Diese Rechte und Pflich‐ ten ereignen sich tatsächlich im Lauf der Interaktion. Daraus lässt 654 Op.cit. S. 161. 655 Честнов И.Л. Постклассическое правопонимание. – Краснодар: Краснодарский университет МВД России, 2010. – S. 79. [Tschestnow I.L. Post‐ classical Understanding of Law. – Krasnodar: Krasnodar University of MIA of Russian Federation, 2010]. 656 Op.cit. S. 106. 657 Честнов И.Л. Диалогическая концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Мак-
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
sich schließen, dass der rechtliche (und kein anderer) Status des In‐ stituts durch den Dialog der genannten fundamentalen Antinomien als Fokus ihrer vier Elemente konstituiert wird: des Materiellen (tat‐ sächliche Interaktionen der Menschen), des Idealen (Abbild dieser Beziehungen im Bewusstsein), des Persönlichen (individuelles Han‐ deln) und des Strukturellen (Auskristallisation von Verhaltensmus‐ tern in der sozialen Praxis). Gleichzeitig muss klargestellt werden, dass der dialogische Charakter der oben genannten Komponenten sozialer Antinomien bedeutet, dass das Rechtsinstitut als Methode der „Montage des Rechtlichen“ keine mechanische Summe (von Antinomien) ist, sondern die Prozessualität der Dynamik ihrer In‐ teraktion. Demzufolge haben wir in Bezug auf die dialogische Rechtson‐ tologie von I. Tschestnow keine klassische (substantielle) Ontolo‐ gie, sondern eine simulakrale Ontologie, wenn Recht eine wandel‐ bare und mobile Rechtsgestalt darstellt, die als gegenseitige Abbil‐ dung der menschlichen Vorstellungen von Recht und ihres Sozial‐ verhaltens existiert. Zur Erklärung dieser Behauptung ist zu unter‐ streichen, dass, indem ein Simulakrum keine klassische Kopie (eine Kopie des Originals), sondern eine «Kopie einer Kopie», ein «Ab‐ bild eines Abbildes» (J. Baudrillard) darstellt, Recht als Simulakrum nicht in der gebührenden primären Realität (Idee von Recht, Gesetz usw.) verwurzelt sein kann, deren unvollkommene Kopie „reales“ Recht als Seiendes wäre. Insofern die Rechtsgestalt im Bewusstsein die Muster menschlichen Verhaltens in der rechtlichen Sphäre bil‐ det, seinerseits aber selbst im inhaltlichen Aspekt durch die vor‐ handenen gesellschaftlichen Verhältnisse sozialhistorisch bedingt ist, können wir nicht eine gewisse «chronologische» Rechtsquelle feststellen, aus der «danach» vorhandenes Recht abgeleitet wird. Dementsprechend ist die Behauptung von I. Tschestnow, dass Recht (aus der Sicht der Postmoderne) das „virtuell entgehende Sein der
симов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 161. [Tschestnow I.L. Dialogical Concept of law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Collective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013].
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Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow
Simulakren“ 658 ist. Dies bedeutet nicht die „Phantommäßigkeit“ des Rechts oder seine „Ungültigkeit“, sondern die Unmöglichkeit, Recht an gewisses „primäres“ Seiende zu „binden“ und ist ein Hinweis auf seine Existenz als das gegenseitige Abbild der sozialen Praxis und des zeichen-symbolischen Inhalts des Bewusstseins der Teilnehmer dieser Praxis. Laut der Position des russischen Rechtsphilosophen ist Recht also Text (in der poststrukturalistischen Deutung dieses Begriffs), der vom Menschen geschaffen und durch die Handlungen und menta‐ len Vorstellungen der Menschen reproduziert wird. Recht ist also keine statische Struktur, welche sich entweder auf das unpersön‐ liche Individuum (methodologischer Individualismus der Theorie des Naturrechts), den Willen des Gesetzgebers (Rechtspositivismus) oder die Grundnorm (Rechtsnormativismus) reduzieren lässt, son‐ dern ist der Prozess der Reproduktion der Rechtsrealität. 659 Offen‐ kundig entspricht solch ontologische Definition des Rechts (als Pro‐ zess seiner Reproduktion) voll und ganz dem dynamischen Rechts‐ verständnis. Mit dieser Antwort stoßen wir jedoch unweigerlich auf eine neue Frage: Wenn Recht im Zuge menschlicher Interaktion reprodu‐ ziert wird, bedeutet dies, dass Recht in seinem Inhalt absolut will‐ kürlich sein kann? Gibt es Grenzen für derartiges (sogenanntes „sozial-dynamisches“) Rechtschaffen? Die Gefahr des Relativismus versteht auch der Autor der dialogischen Konzeption des Rechts. Daher hält er es für notwendig, in seinen Werken zu konkretisie‐ ren, wie genau die Ausarbeitung von Recht in der sozialen Praxis stattfindet. Laut I. Tschestnow sollte zur Erfüllung dieser Aufgabe die anthropologische Dimension aktualisiert werden. Der sozial‐ anthropologische, dialogische Typ Rechtsverständnis geht also sei‐ ner Ansicht nach von der Mehrdimensionalität und Vielfältigkeit des Rechts aus, die den Menschen als wesentliches Element ein‐
658 Честнов И.Л. Постклассическое правопонимание. – Краснодар: Краснодарский университет МВД России, 2010. – S. 30. [Tschestnow I.L. Post‐ classical Understanding of Law. – Krasnodar: Krasnodar University of MIA of Russian Federation, 2010]. 659 Честнов И.Л. Постклассическая теория права. – СПб.: Издательский дом «Алеф-пресс», 2012. – S. 13. [Tschestnow I.L. Postclassical Theory of Law. – SPb.: Alef-Press, 2012].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
schließt. Das ist eben der Mensch, der Recht erschafft, konstruiert (wenn auch nicht willkürlich), ändert und durch eigene Handlun‐ gen und mentale Vorstellungen reproduziert. Weil wie bereits er‐ wähnt Recht oder Rechtsrealität Normen, Rechtsbewusstsein und Rechtsordnung umfasst ist das letzte Element des Prozesses der Ver‐ wirklichung des Rechts für I. Tschestnow die Rechtsordnung, und als die notwendigen Schritte auf dem Weg zu ihr treten Rechtsbe‐ wusstsein und Rechtsnorm auf. Was ist der Unterschied zwischen diesen Ansichten und dem Mechanismus der rechtlichen Regulie‐ rung der klassischen Rechtstheorie? Im Gegensatz zum klassischen Rechtsverständnis, für welches eine Norm immer ein Sollen ist, das der Verwirklichung in der sei‐ enden Wirklichkeit unterliegt, verortet der St. Petersburger Rechts‐ philosoph die Norm „jenseits“ dieser Dichotomie. So schreibt er, dass die Norm eine Regel ist, deren Sein ideal ist. Diese Regel hat jedoch regelmäßig wiederkehrende gesellschaftliche Beziehungen zum Inhalt. Ohne das Abzubildende kann es kein Abbild geben, deswegen kann es die Norm ohne soziale Beziehungen nicht ge‐ ben. Aber gleichzeitig kann die Norm nicht auf Beziehungen redu‐ ziert werden – dies sind ihrer Natur nach unterschiedliche Reali‐ täten. Gleichzeitig setzt ein solcher Unterschied ihre Einheit vor‐ aus, die Unmöglichkeit der Existenz des einen ohne das andere; die Wiederholbarkeit der gesellschaftlichen Beziehungen ist eben ihre Normativität. 660 Neben der Wiederholbarkeit ist für den nor‐ mativ-rechtlichen Status der Norm auch ihre gesellschaftliche Be‐ stimmung konstitutiv. Aus der Sicht des russischen Rechtsphilo‐ sophen ist Recht diejenigen in den Rechtsbeziehungen und ein‐ fachen Rechtsformen existierenden (realisierenden) gesellschaftli‐ chen Normen, welche objektiv zur Selbsterhaltung, zum Überleben (idealerweise zum Wohlstand) der Gesellschaft beitragen. 661 660 Op.cit. S. 194. 661 Честнов И.Л. Диалогическая концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 162 [Tschestnow I.L. Dialogical Concept of law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Collective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philosophy of Law Issues”, 2013].
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Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow
Demzufolge stellt Norm für I. Tschestnow nicht ein gewisses Sollen dar, das aus sicherer Distanz die seiende Realität reguliert, sondern die soziale Gesetzmäßigkeit, die Wiederholbarkeit sozialer Praxis, welche gerade durch ihre Stabilität die Züge der Normati‐ vität erhält. Innerhalb dieser Definition der Norm wird die tradi‐ tionelle Vorstellung überwunden, laut welcher die Norm das Sol‐ len und dasjenigen Rechtsverhältnis das Seiende ist, welches bei der Realisierung der Rechtsnorm entsteht. Nach Auffassung des Autors der dialogischen Rechtsontologie entsteht die Rechtsnorm nicht nach dem Willen der Machthaber, sondern aus sich stets wiederho‐ lenden gesellschaftlichen Beziehungen (Interaktionen der konkre‐ ten Personen), welche als rechtlich bedeutend qualifiziert und in der entsprechenden Zeichenform festgehalten werden (Brauch, norma‐ tiver Rechtsakt etc.). Die Rechtsnorm wird durch die ihr voraus‐ gehenden tatsächlichen Beziehungen konstruiert. Die Rechtsnorm selbst „lebt“ und besitzt gesellschaftliche Wirkung nur dann, wenn sie in den Rechtsbeziehungen reproduziert wird. 662 Somit ist festzuhalten, dass sich jeglicher Verdacht im Relativis‐ mus gegenüber der dialogischen Rechtsontologie als unbegründet erweist. Als Begrenzung des Rechtsschaffens wird klassisches Sollen (Gesetze der Vernunft, Grundnorm usw.) durch die Praxis ersetzt, als jene „selektive Evolution“ (L. Spiridonow), welche die Normen, die den öffentlichen Bedürfnissen und Interessen nicht entspre‐ chen, „verwirft“ und nur diejenigen belässt, die von der entspre‐ chenden Gemeinschaft wahrgenommen und in den Gesellschafts‐ verhältnissen verkörpert werden können. Die Konstruierbarkeit des Rechts durch Menschen unter Berücksichtigung der Beschränkun‐ gen des soziohistorischen und kulturellen Kontexts und ihre stän‐ dige Reproduzierbarkeit durch Praktiken (Interaktionen und psy‐ chische, mentale Prozesse zur Besinnung der Handlungen) konkre‐ ter Menschen sind laut I. Tschestnow der Weg des neuen, post-klas‐ sischen Rechtsverständnisses, der den modernen Realitäten gerecht wird. 663 Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow ist also, wie man sehen kann, eine eigenständige, tiefe und originelle Sicht auf
662 Op.cit. S. 177. 663 Op.cit. S. 166.
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die Natur des Rechts. Zu den Vorteilen dieser Konzeption ge‐ hört zweifellos das Streben, das dichotome (positive vs. natürli‐ che) Rechtsdenken der klassischen Rechtstheorie zu überwinden, die Abkehr von der Idee von Recht als dem statischen, verding‐ lichten Sollen (Idee, Norm) und das Überdenken des Rechts als den in sozialen Beziehungen reproduzierten dynamischen Dialog. Somit wird das Menschenmaß des Rechts ebenso wie die sozialgeschicht‐ liche Fülle von Rechtsnormen betont. Die besondere Aufmerksam‐ keit verdient die Hinwendung von I. Tschestnow zu den semanti‐ schen Figuren der Postmoderne (Simulakrum, Rhizom, Textuali‐ tät etc.), als Grundlage für die adäquatere Beschreibung des Rechts sowie die grundsätzlich neue Interpretation der Normativität als der beständigen Reproduktion von Beziehungsmustern in der Pra‐ xis. Gleichzeitig enthalten die Konstruktionen des St. Petersburger Rechtsphilosophen viele Anlässe zur Kritik. Vor allem muss auf den methodologischen Aspekt der Frage eingegangen werden. Der Au‐ tor der dialogischen Konzeption des Rechts selbst erklärt den Dia‐ logismus und die Postmoderne (Poststrukturalismus) zu den me‐ thodologischen Grundlagen seiner Theorie. Gleichzeitig weist eine gründliche Analyse der Texte von I. Tschestnow darauf hin, dass das Hegelsche Denken in ihnen nicht weniger relevant (wenn nicht sogar völlig dominant) ist. So ist die ursprüngliche methodologi‐ sche Voraussetzung für die Forschung die Deutung des Dialogs als gegenseitige Bedingtheit, Ergänzung und gegenseitige Momente der Sozialität. 664 Wie I. Tschestnow zeigt, lösen sich diese gegen‐ sätzlichen Momente im Recht auf (werden nach Hegel aufgeho‐ ben). 665 Die Implikationen des Hegelianismus sind auch in der wei‐ teren zentralen Behauptung enthalten, dass die Wiederholbarkeit der Norm in gesellschaftlichen Beziehungen konstitutiv für ihren Rechtsstatus ist. Somit bedingt also tatsächlich das quantitative Kri‐ terium (Wiederholbarkeit) die qualitativen (rechtlichen) Merkmale der Norm. Natürlich ist an der Hinwendung zu Hegel an sich nichts Schlech‐ tes. Gleichzeitig stellt die Deutung des Dialogs als Interaktion (ein‐
664 Op.cit. S. 160. 665 Op.cit. S. 161.
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Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow
schließlich der konfliktären) der Gegensätze, welche im Recht als dem Übergang der Quantität der Muster sozialer Interaktionen in ihre rechtliche Qualität aufgehoben werden, das ganze Pathos der nichtklassischen Rechtsbesinnung in Frage. Denn allbekannt spie‐ geln die Hegelschen Gesetze der Einheit und des Kampfes der Ge‐ gensätze und des Übergangs von der Quantität zur Qualität die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der absoluten und rationalen Idee von Recht wider. Doch die Idee selbst – die Idee von Recht – wird von Hegel dogmatisch postuliert. Dementsprechend, indem I. Tschestnow die Gesetze der Dialektik auf den Boden des dialo‐ gischen Rechtsbegriffs überträgt, ist er zur dogmatischen Postulie‐ rung des rechtlichen Status bestimmter Phänomene gezwungen, an‐ statt mit Hilfe des nicht-klassischen philosophischen Apparats ih‐ ren Eintritt in die rechtliche Sphäre zu begründen. Solch methodologischer Eklektizismus führt zu zwei negativen Hauptfolgen, die bedingt als «taktisch» und «strategisch» bezeich‐ net werden können. Im «taktischen» Aspekt gibt die versteckte Rückkehr zu Hegel den Anlass zum Vorwurf gegenüber I. Tsche‐ stnow, dass seine Konzeption keine grundlegend neuen Thesen ent‐ hält. So wurde die These, dass es für den rechtlichen Status be‐ stimmter Phänomene konstitutiv ist, die Bedürfnisse sowohl einzel‐ ner Mitglieder der Gesellschaft als auch der gesamten Gesellschaft zu befriedigen, bereits in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts von dem «höhen Tier» der sowjetischen und post-sowjetischen klas‐ sischen Rechtswissenschaft, dem ukrainischen Theoretiker P. Rabi‐ nowitsch aufgestellt, der die sogenannte „bedürfnisbasierte Theo‐ rie“ des Rechts begründet hat. 666 Dabei war und bleibt die metho‐ 666 Bekanntlich spricht P. Rabinowitsch über das sogenannte „allgemeinsoziale Recht“, unter dem er bestimmte Möglichkeiten von Teilnehmern der gesell‐ schaftlichen Beziehungen versteht, welche zur Befriedigung ihrer biologisch und sozial begründeten – unter bestimmten historischen Bedingungen – Be‐ dürfnisse notwendig sind. Sie werden objektiv durch den erreichten gesell‐ schaftlichen Entwicklungsstand bestimmt und müssen für alle Subjekte glei‐ cher Art bereitgestellt und mit den Bedürfnissen anderer Subjekte und der Ge‐ sellschaft insgesamt ausbalanciert werden, sowie die durch solche Möglichkei‐ ten bedingten Prinzipien und gesellschaftlichen Normen, durch deren Reali‐ sierung die Verpflichtung anderer Teilnehmer des öffentlichen Lebens gewähr‐ leistet wird. Siehe: Рабинович П.М. Фiлософiя права. – Львiв: Галицький друкар, 2014 – S. 30. [Rabinowitsch P.M. Philosophy of Law. – Lviv: Halitskiy Drukar, 2014].
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
dologische Grundlage der philosophisch-rechtlichen Ansichten von P. Rabinowitsch eben die Philosophie Hegels. Aus «taktischer» Sicht gibt somit der oben erwähnte methodologische Eklektizismus von I. Tschestnow seinen Gegnern den Anlass, ihm vorzuwerfen, dass die Hinwendung zu philosophischen Konstruktionen der Postmo‐ derne überflüssig ist. 667 Beim Übergang zur «strategischen» Kritikebene ist anzumerken, dass I. Tschestnow bei der Verwurzelung des Rechts in der tatsächli‐ chen Ordnung der menschlichen Beziehungen, wenn in dieser Ord‐ nung immanente Normen im Zuge tatsächlicher sozialer Interak‐ tionen reproduziert werden, den eigentlichen Gegenstand der For‐ schung zu verlieren riskiert: das Recht, welches durch jene «allge‐ mein-soziale Normativität» ersetzt wird. Mit anderen Worten be‐ antwortet I. Tschestnow mit der Hervorhebung von Rechtsnormen, Rechtsbewusstsein und Rechtsordnung als Elemente der Rechtsrea‐ lität dennoch nicht die Frage: Was bestimmt überhaupt den rechtli‐ chen Status von Bewusstsein, Ordnung, Norm und wie genau? Die Versuche des russischen Rechtsphilosophen, diese Frage zu beantworten, können nicht als befriedigend bezeichnet wer‐ den. Durch die Behauptung, dass „reine“ Rechtsnormen, Rechts‐ beziehungen und andere Rechtsphänomene nicht existieren, da sie alle menschlichen psychischen Prozesse, Kultur, Wirtschaft, Poli‐ tik usw. einschließen, 668 vermischt I. Tschestnow offensichtlich den Sinn- und den ontologischen Aspekt des Phänomens des Rechts. So bestreitet niemand, dass Recht nicht «außerhalb» der mensch‐ lichen Psyche oder seiner kulturhistorischen Bedingungen existiert. Gleichzeitig sind diese Phänomene nicht konstitutiv für den Sinn des Rechts, sondern stellen nur die ontologische Umgebung, „in“ welcher Recht existiert, dar. Der St. Petersburger Rechtsphilosoph macht in Bezug auf Recht den gleichen Fehler wie die Materialis‐ ten bezüglich des Bewusstseins, als letztere dieses auf die biologi‐ schen Funktionen des Organismus reduziert haben. Streng genom‐ men lässt sich der rechtliche Sinn des Phänomens als solchem weder mental oder kulturell noch historisch bestimmen, da jedes kulturelle, 667 Natürlich ist der Ansatz von I. Tschestnow prinzipiell neu und originell. Der „latente Hegelianismus“ macht seine Position jedoch anfällig für Kritik von dieser Seite. 668 Op.cit. S. 168.
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Paragraph 4. Die dialogische Rechtsontologie von I. Tschestnow
psychologische, historische Korrelat des Rechts in seinem Wesentli‐ chen ein abgeleitetes Phänomen ist. Ebenso rettet die Lage nicht I. Tschestnows Verweis darauf, dass jede Rechtsbeziehung gleichzeitig eine wirtschaftliche, politische usw. ist. Natürlich behauptet er zu Recht, dass jede soziale Bezie‐ hung neben den rechtlichen noch andere Dimensionen hat – mo‐ ralische, politische, wirtschaftliche usw. Und natürlich ist die dog‐ matische Verabsolutierung des rechtlichen Aspekts reine Willkür der Juristen. Nicht weniger offensichtlich ist jedoch die Tatsache, dass die entsprechende Beziehung unter bestimmten Umständen nur auf der Grundlage des Rechts zu reflektieren ist. So können wir z. B. beim Geldbörsendiebstahl auf wirtschaftliche (Verlust des Beschädigten materieller Güter), moralische («unmoralisches Ver‐ halten des Diebes») und sogar auf physische («Bewegen eines fes‐ ten Körpers in die Tasche des Diebes») Schichten des Geschehe‐ nen hinweisen. Aber keiner der gezeigten Aspekte wird uns eine Antwort zum ganzheitlichen Sinn des Geschehenen geben: Was ist eigentlich passiert und wie ist weiter vorzugehen? Denn die Wirt‐ schaft hilft nur bei der Feststellung von Sachschäden. Die Phy‐ sik wird ausschließlich auf die Bewegungsgesetze fester Körper im Raum hinweisen. Moral wird in diesem Fall gar antinomisch sein, da ein Dieb sich immer durch das Zusammentreffen von «beson‐ deren Lebensumständen» rechtfertigen und «um Vergebung bit‐ ten» kann. Und nur Recht ist in diesem Fall in der Lage, das Er‐ eignis im Ganzen zu erfassen: eine klare und eindeutige Antwort zu geben, welche Folgen die begangene Tat notwendig nach sich zieht. Die Dialektik, die sich definitionsgemäß vom Abstrakten (Idee) zum Konkreten (Wirklichkeit) bewegt, hat hier also keinen guten Dienst geleistet. Es scheint, wenn I. Tschestnow sich statt eines dia‐ lektischen Übergangs von der abstrakten Postulierung gesellschaftli‐ cher Normativität zu dem konkreten der Rechtsordnung nach der Prozessualität des Dialogs zwischen dem Besonderen und dem All‐ gemeinen (wie er es ursprünglich beabsichtigte) bewegen würde, er am Ende eine adäquatere Beschreibung erhalten würde, wie sich Recht tatsächlich verwirklicht. Noch J. Deleuze hat darauf hinge‐ wiesen, dass es in der Philosophie der Postmoderne anstelle der ab‐ strakten und allgemeinen Idee Platons, die sich in die Gegenstände der Empirie einlebt, um Singularitäten geht, welche seriell existie‐
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
ren, als Art Sinn-Kerne, die im Zuge der menschlichen Tätigkeit reproduziert werden. 669 Es scheint, dass der tatsächliche oder vermeintliche Rechtsver‐ stoß als eine solche Singularität, die ursprünglich Recht als eine Art Besinnung auf das Geschehen zum Leben erweckt, auftritt. Und dies ist die weitere Einschränkung des dialogischen Rechtsver‐ ständnisses: Denn ein Dialog mit gegenseitiger Anerkennung von Standpunkten etc. kann im Zivilprozess noch vorgestellt werden, aber kaum im strafrechtlichen. Wir können also vermuten, dass die Singularität des Geschehenen als Besonderes, das seiner Bewer‐ tung vom Standpunkt des Allgemeinen (Rechtsordnung) bedarf, der „Trigger“ ist, der den Dialogmechanismus „anfährt“. Was sind daneben die Kriterien für eine derartige – rechtliche und keine andere – Singularität? Diese Frage wird von I. Tschest‐ now nicht gestellt. Ebenso bleiben die Fragen danach, wann eigent‐ lich vom rechtlichen Dialog gesprochen werden kann, ohne expli‐ zite Stellung. Denn darauf hinweisend, dass der Kern des rechtli‐ chen Dialogs das Rechtsinstitut ist, das als seine Zuständigkeit in der entsprechenden Form des Rechts und den rechtlich bedeuten‐ den Handlungen von Menschen, die die entsprechenden Rechte und Pflichten realisieren, die den Inhalt des Rechtsstatus des In‐ stituts ausmachen, befestigt ist, präzisiert der russische Rechtsphi‐ losoph nicht, in welchen Fällen genau zu berücksichtigen ist, dass der Mensch seine Rechte realisiert und wann er „nur handelt“. Bei‐ spielsweise zu behaupten, dass der Mann, wenn er der Frau Blu‐ men schenkt, „seine zivilrechtliche Handlungsfähigkeit realisiert“, ist eindeutig absurd, da die „Sinn-Singularität“ des hier Geschehe‐ nen offensichtlich ganz anders ist. Gleichzeitig scheint es, dass sich I. Tschestnow durch das Stellen solcher Fragen (nach der ontologi‐ schen Quelle des rechtlichen Dialogs) nicht mehr den Bedürfnissen, der gesellschaftlichen Wiederholbarkeit und allen anderen ähnli‐ chen Begründungen des Rechts im Geiste der klassischen Rechts‐ soziologie zuwenden müsste. Somit kann festgestellt werden, dass der St. Petersburger Rechtsphilosoph, der die originelle und eigen‐ artige – dialogische – Rechtsontologie geschaffen hat, sich als nicht
669 Делез Ж. Логика смысла. – М.: Раритет, Екатеринбург: «Деловая книга», 1998.-480 s. [Deleuze J. Logique du Sens].
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Paragraph 5. Die Konzeption von W. Tschetwernin
ganz konsequent erwiesen hat, da seine dialogischen und postmo‐ dernen Gedankenzüge verdeckt die Rückkehr zum Hegelianismus und zur Monoidee von Recht implizieren.
Paragraph 5. Die libertär-institutionelle Konzeption des Rechts von W. Tschetwernin Auch die libertär-institutionelle Rechtskonzeption von W. Tschet‐ wernin, welche ebenfalls dem dynamischen Rechtsverständnis zu‐ geschrieben werden kann, ist sehr tief und eigentümlich. Die phi‐ losophisch-methodologische Grundlage dieser Theorie ist, wie der Name schon sagt, einerseits die institutionelle Auffassung von Recht (N. McCormick, O. Weinberger, P. Morton, Z. Bankowski u. a.) und anderseits die libertäre Konzeption des Rechts von W. Nersesyants. Als Ergebnis ihrer spezifischen Synthese formuliert W. Tschetwer‐ nin sein Rechtsverständnis als einen Komplex von Instituten, der soziale Interaktionen dem Rechtsprinzip unterordnet – dem Verbot aggressiver Gewalt. 670 Dementsprechend sind die Kategorien des sozialen Instituts und der sozialen Interaktion für den russischen Rechtephilosophen grundlegend. Unter dem sozialen Institut versteht W. Tschetwernin eine bestän‐ dige Ordnung der sozialen Kommunikation (ein System von Nor‐ men, formellen und informellen Regeln), die ein bestimmtes Prin‐ zip ausdrückt und eine bestimmte Funktion erfüllt. 671 Daraus kön‐ nen wir schließen, dass in der libertär-institutionellen Theorie das Institut keine statische Gesamtheit gesellschaftlicher Beziehungen ist, die dogmatisch aus ihrem Massiv hervorgehoben worden sind, sondern eine besondere, dynamische Art der Organisation sozialer 670 Четвернин В.А. Либертарно-институциональная концепция права//Неклассическая философия права: вопросы и ответы. Коллективная монография. Максимов С.И., Пермяков Ю.Е., Поляков А.В., Стовба А.В., Честнов И.Л., Четвернин В.А. (под ред. А.В. Стовбы) – Х.: Библиотека международного журнала «Проблемы философии права», 2013. – S. 202–203. [Tschetwernin W.A. Libertarian-Institutional Concept of law//Non-classic Philosophy of Law: Questions and Answers. Col‐ lective monograph. – Kharkiv: Library of International Journal “The Philoso‐ phy of Law Issues”, 2013]. 671 Ibid.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
Interaktionen. Solche Institutionen werden dem «Substrat» aufer‐ legt, als welches Verbindungen und Interaktionen auftreten, fami‐ liäre und verwandtschaftliche, ethnische, siedlungsbezogene, wirt‐ schaftliche, geistige und öffentlich-herrschaftliche. 672 Dementspre‐ chend ist anzunehmen, dass nach der Position von W. Tschetwernin es eben der besonderen Art der Organisation (durch das Prinzip des Verbots aggressiver Gewalt) zu verdanken ist, dass die erwähnten Beziehungen (familiäre, wirtschaftliche, herrschaftliche) die spezifi‐ sche – rechtliche – Dimension erhalten. Diese Art der Erforschung des Rechts wird als institutionell bezeichnet, weil in deren Zuge Recht als soziales Institut oder als Komplex von Instituten reflek‐ tiert wird. 673 Der libertäre Bestandteil verkörpert sich seinerseits in den Kon‐ struktionen des russischen Rechtsphilosophen auf der Ebene des Prinzips des Rechts. Wie W. Tschetwernin selbst anmerkt wird das Prinzip, auf dem rechtliche Institutionen basieren, unterschiedlich formuliert: als formale Gleichheit (Gleichheit in Freiheit), Selbst‐ verfügbarkeit, Eigentum, Verbot aggressiver Gewalt usw. Aber in allen Varianten wird darunter im Wesentlichen das Gleiche ver‐ standen. 674 Mit anderen Worten, wenn wir anerkennen, dass alle Menschen gleich sind, dann sagt das Axiom der Selbstverfügbarkeit: Jeder Mensch gehört sich selbst, und derjenige, der über den ande‐ ren ohne seine Zustimmung verfügt, begeht aggressive Gewalt. Wo Menschen (die sozial bedeutende Mehrheit) das Axiom der Selbst‐ verfügbarkeit akzeptieren, sind soziale Institutionen auf das Verbot aggressiver Gewalt eingestellt. Dies sind Institutionen (und Kultu‐ ren) rechtlicher Art. In diesen Kulturen ist die aggressive Gewalt gegen jeden Menschen rechtswidrig, und defensive Gewalt, die dem Angriff angemessen ist, ist rechtmäßig. 675 Letzten Endes wird für Menschen, die im libertären Paradigma denken und handeln, die richtige (rechtliche) Ordnung die Ordnung sein, welche auf der gegenseitigen Anerkennung der Subjektivität (Freiheit, Selbstver‐ fügbarkeit, Unabhängigkeit) sozialer Akteure und auf dem Verbot
672 673 674 675
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Ibid. Op.cit.S. 202. Op.cit. S. 203. Op.cit. S. 204.
Paragraph 5. Die Konzeption von W. Tschetwernin
aggressiver Gewalt basiert. 676 Solch ein libertäres Verständnis des Rechtlichen steht dem potestären Verständnis entgegen, das auf der unwiderruflichen Übertragung von Machtbefugnissen über Men‐ schen an eine bestimmte höhere Macht (Staat, Kirche, Volk usw.) gegründet ist. 677 Der zweite Bestandteil des Rechtsprinzips, das organisierten so‐ zialen Beziehungen den Rechtsstatus verleiht, ist die Gewährleis‐ tung des freien Austauschs. In diesem Aspekt erscheint Recht als die Institution, die freie soziale Interaktionen (Vertragsfreiheit) ge‐ währleistet. Eine solche Institution ist die Gesamtheit formeller und informeller Normen. 678 Es ist anzumerken, dass wir hier auf eine zweifache Verwendung des Begriffs «Institution» von W. Tschetwer‐ nin stoßen: 1) das Normensystem und 2) die Ordnung der sozialen Kommunikation. Wir haben bereits bemerkt, dass die Institution als Ordnung der sozialen Kommunikation die spezifische Form der Organisation gesellschaftlicher Beziehungen durch die Implikation von Rechtsprinzipien (Verbot aggressiver Gewalt und Austausch‐ freiheit) darstellt. Gleichzeitig ist solche Implikation nicht „auto‐ matisch“ möglich, sondern für ihre Verwirklichung werden gewisse „Vermittler“ wie Normen, Verfahren, Institutionen usw. benötigt. Somit ist anzunehmen, dass im Rahmen der Institution zwischen 1) ihrem Sinn, welcher in der Verkörperung der beiden oben genann‐ ten Prinzipien (als Organisationsformen) gesellschaftlicher Bezie‐ hungen besteht und 2) ihrem Inhalt unterschieden werden kann, welcher aus der Gesamtheit jener konkreten Mittel (Normen, Ver‐ fahren usw.) besteht, durch welche die obigen Sinne in die gesell‐ schaftlichen Beziehungen «implantiert» werden. Hier sollte betont werden, dass W. Tschetwernin das Phänomen der Norm auf seine eigene Art versteht. Im Gegensatz zum klassi‐ schen Rechtsverständnis, das die Norm als statische Gesamtheit der Vorstellungen über Sollen betrachtet, welche in Form des natürli‐ chen oder positiven Regelsatzes ausgedrückt ist, teilt der russische Rechtsphilosoph die soziologische Vorstellung über die Norm (und darin ist seine Konzeption mit den oben angeführten Ansichten von I. Tschestnow verwandt). Aus soziologischer Sicht existiert also die 676 Op.cit. S. 197. 677 Op.cit. S. 196. 678 Op.cit. S. 203.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
soziale Norm dort, dann und deswegen, insofern sie sich dort, dann und deswegen in drei Hypostasen äußert. Dies ist erstens die beob‐ achtete soziale Praxis – typisch, wiederholt. Zweitens ist es das nor‐ mative Bewusstsein der Menschen, die einen bestimmten Kommu‐ nikationskreis bilden, in dem nämlich die genannte Praxis beobach‐ tet wird. Und drittens ist es der autoritative und normative Text, die normative Beurteilung als Maßstab für die Vorstellungen über Sol‐ len. 679 Damit verschwindet, wie auch in anderen zum dynamischen Rechtsverständnis gehörenden Konzeptionen, in der libertär-insti‐ tutionellen Rechtstheorie die klassische Dichotomie von Sein und Sollen. Denn Recht erweist sich nicht als träges Sollen, distanziert von der bestehenden Realität, welche es ordnet, sondern als immer schon in ihr „aufgelöst“. Gleichzeitig sei erwähnt, dass W. Tschetwernin jenen Text keines‐ wegs mit dem Inhalt des normativen Rechtsakts gleichsetzt. Wie der russische Rechtsphilosoph zeigt, setzt das Vorhandensein der gesell‐ schaftlichen Norm einen autoritativen, zumindest mündlich, inter‐ subjektiv übertragenen Text voraus, mit welchem einzelne Akteure ihre Vorstellungen über den Inhalt dieser Norm vergleichen können (also faktisch den rechtlichen Diskurs, O.S.). 680 Ein solch „breites“ Verständnis des Textes ist auch für das dynamische Rechtsverständ‐ nis im Ganzen charakteristisch, insbesondere für die Auffassungen von I. Tschestnow (der den poststrukturalistischen Text als das Sys‐ tem aufeinander verweisender Bezeichnungen deutet) sowie von A. Polyakow (für welchen der Text jedes Zeichensystem ist, bis hin zum menschlichen Verhalten als solchem). Die oben erwähnte Hervorhebung der Sinn- und Inhaltsaspekte des Rechts spiegelt sich in der von W. Tschetwernin vorgeschlage‐ nen Struktur des Rechts als soziale Institution. So drückt sich die Sinn-Ebene des Rechts (Verbot aggressiver Gewalt und die Tausch‐ freiheit) in der Funktion des Rechts als gesellschaftliche Institution aus zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Es ist zu beach‐ ten, dass bei der Ausübung dieser Funktion die Sinn-Elemente des Rechts einen Verfahrenscharakter besitzen: Wie W. Tschetwernin zeigt, ermöglicht Recht die maximale Befriedigung der Bedürfnisse
679 Op.cit. S. 201. 680 Ibid.
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Paragraph 5. Die Konzeption von W. Tschetwernin
derjenigen, die beim Verbot aggressiver Gewalt am meisten wett‐ bewerbsfähig sind, und behindert die Befriedigung der Bedürfnisse der am wenigsten wettbewerbsfähigen Subjekte. 681 Seinerseits äußert sich der materielle Aspekt des Rechts als In‐ stitution vor allem in jener Gesamtheit der Normen (im oben an‐ geführten Sinne dieses Begriffs), wodurch Recht in gesellschaftli‐ chen Beziehungen reproduziert wird. Und hier ist anzumerken, dass im Gegensatz zum klassischen «Mechanismus der Verwirklichung des Rechts» im dynamischen Rechtsverständnis nicht von der «Ver‐ wirklichung», sondern von der «Reproduktion» des Rechts gespro‐ chen werden sollte, insofern letzteres kein bestimmtes Sollen ist, das bloß zu verwirklichen, sondern immer schon in den Beziehungen «aufgelöst» ist, die es ordnet. Auch die Konzeption von W. Tschet‐ wernin ist diesbezüglich keine Ausnahme. Der russische Rechtsphi‐ losoph betont in der Struktur des Rechts als soziale Institution sol‐ che Elemente wie das Prinzip von Recht, Verträge, «positive Nor‐ men» (einer Art «Friedensrecht», d. h. Normen, die den «normalen» Verlauf sozialer Interaktionen regeln) und den rechtlichen Mecha‐ nismus des Zwangs (einer Art «Kriegsrecht»: Normen und Regeln für den Fall von Verstößen und Streitigkeiten, Konflikten usw.). 682 Daraus kann geschlossen werden, dass Recht seine Funktion (Be‐ friedigung menschlicher Bedürfnisse) im Zuge seiner Selbstrepro‐ duktion als gesellschaftliche Institution durch den oben beschriebe‐ nen Mechanismus erfüllt. Mit anderen Worten: Bei der „richtigen“ Befriedigung ihrer Bedürfnisse (re)produzieren Menschen gleich‐ zeitig das Recht, welches seinerseits die ontologische Sinn-Bedin‐ gung für die Möglichkeit weiterer Bedürfnisbefriedigung ist. Der Prozess des Rechtsschaffens selbst erscheint daher nicht in Form einer gewissen „sakralen“ Tätigkeit der besonderen „Kaste“ der In‐ dividuen, sondern erweist sich als untrennbar mit der alltäglichen Lebenspraxis verbunden – in vielfältigen Weisen der menschlichen Koexistenz miteinander. Somit kann man schließen, dass im Rahmen der libertär-institu‐ tionellen Theorie Recht als eine besondere Form der Organisation sozialer Interaktionen (Gesamtheit von Institutionen) erscheint,
681 Op.cit. S. 207. 682 Op.cit. S. 208.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
deren Sinn-Spezifik im Verbot der aggressiven Gewalt und Gewähr‐ leistung freien Austauschs besteht. Die konkrete, inhaltliche Fül‐ lung dieser Institutionen werden diejenigen sozialen Phänomene (Normen, Institute, Verfahren etc.) sein, durch welche die erwähn‐ ten Sinne in gesellschaftlichen Beziehungen „reproduziert“ werden. Es scheint, dass ein solches Rechtsverständnis eine Reihe von un‐ bestrittenen Vorteilen hat und prinzipiell neu ist. Die Deutung des Rechts als gesellschaftliche Institution ermöglicht so, die klassische Antinomie vom natürlichen und positiven Recht zu überwinden. Dies zieht seinerseits die Überwindung der metaphysischen Dicho‐ tomie von Sein und Sollen nach sich, welche die Realität in zwei parallele Dimensionen aufspaltet und somit die Rechtsphilosophen zur Suche nach Wegen der Vereinigung gezwungen hat. Es ist auch anzumerken, dass die Implikation des Rechts in der sozialen Inter‐ aktion die Revision des klassischen Mechanismus der Rechtsregu‐ lierung (Rechtsrealisierung) und seine Ersetzung durch die Vorstel‐ lung von der Existenz des Rechts als Prozess seiner Reproduktion erfordert. Insofern solche Reproduktion die Beteiligung der Men‐ schen und ihre gegenseitige Anerkennung voraussetzt, kann vom „Menschenmaß“ des Rechts gesprochen werden, welches aus dem System „äußerer“ menschenbezogener Normen zum unabdingba‐ ren Bestandteil seines Seins-mit-Anderen wird. Das positive Merk‐ mal der Konzeption W. Tschetwernins ist auch die im Recht als Institution zusammengefügten Sinn- und Verfahrenskomponenten, welche auf der Sinn-Ebene Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Unrecht geben und auf inhaltlicher Ebene den Mechanismus seiner Reproduktion verkörpern. Gleichzeitig enthält die libertär-institutionelle Rechtstheorie bei aller Überzeugungskraft auch fragliche Punkte, wie etwa zunächst die spezifische, rechtliche Identifizierung des Prinzips des Verbots der aggressiven Gewalt. Denn die negative Haltung gegenüber der aggressiven Gewalt wird von fast jedem normativen System gebil‐ det – den meisten Religionen, der in den meisten Gesellschaften vorherrschenden Moral usw. Die Hervorhebung des erwähnten Ver‐ bots als das identifizierende rechtliche Prinzip setzt deswegen Recht der Gefahr aus, zwischen anderen Normensystemen aufgelöst zu werden. Natürlich betont W. Tschetwernin besonders, dass er eigentlich nicht die Frage nach dem «Verhältnis zwischen Recht und ande‐
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Paragraph 5. Die Konzeption von W. Tschetwernin
ren sozialen Regulatoren» stellt und das Problem des Verhältnisses zwischen Moral und Recht rein terminologischen Charakters ist. 683 In diesem Fall geht jedoch der eigentliche Gegenstandsbereich der Forschung verloren, die Sphäre des Rechtlichen, wo das Subjekt der Besinnung lokalisiert ist – das Recht. Darüber hinaus setzt selbst die Abgrenzung der rechtlichen und potestären Institute die einst‐ weilige Ausgliederung eines bestimmten Komplexes von Institutionen voraus, ihre Trennung von denjenigen Institutionen, welche nicht in den Forschungsbereich einbezogen sind. Im Wesentlichen sind das Rechtliche und das Potestäre zwei alternative Ordnungen zur Be‐ friedigung sozialer Bedürfnisse. Deswegen kann vermutet werden, dass zu den Institutionen, für die sich W. Tschetwernin interessiert, vor allem solche gezählt werden, welche mit der Verteilung sozial bedeutsamer Güter und ihrem Austausch sowie mit der Kontrolle der erwähnten Prozesse verbunden sind. Was ruft jedoch eben diese und keine andere einstweilige Definition des Gegenstandsbereichs der Forschung hervor? Mangels expliziter Antwort auf diese Frage ist der Schluss zu ziehen, dass solche Definition dogmatisch vorge‐ nommen wurde und ihrerseits einer Begründung bedarf. Es können auch am Verständnis von Recht als einer stabilen Ordnung sozialer Kommunikation, die auf dem Verbot aggressiver Gewalt und der Austauschfreiheit aufgebaut ist, Zweifel geäußert werden. Denn eine stabile Ordnung der sozialen Kommunikation kann – und tut es tatsächlich in Wirklichkeit – neben den recht‐ lichen auch verschiedenste Elemente umfassen. Solche Elemente können sogar offensichtlich rechtswidrig sein, wie z. B. Erpressung oder Korruption. Somit kann in einer Situation, in welcher der Großteil der zumindest etwas bedeutenden sozialen Kommunika‐ tionen und des Austauschs durch rechtswidrige Praktiken vermit‐ telt wird, ihre Stabilität nicht als Kriterium für die Anerkennung ihres rechtlichen Charakters dienen. Die Sache wird auch nicht dadurch geändert, dass der autorita‐ tive, normative Text von W. Tschetwernin in die soziale Norm ein‐ geschlossen wird. Insofern solch eine Norm «den autoritativen, in‐ tersubjektiv, zumindest mündlich übertragenen Text darstellt, mit welchem einzelne Akteure ihre Vorstellungen über den Inhalt die‐
683 Op.cit. S. 219.
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
ser Norm vergleichen können», kann sie einen eindeutig rechtswid‐ rigen Charakter annehmen (z. B. ein Text, der statt der offiziellen Zahlung der Geldbuße ein Bestechungsgeld an den Polizeibeam‐ ten zu zahlen vorschreibt). Aufgrund dieses Umstandes erscheint auch der Hinweis darauf, dass Rechtsinstitutionen die Bedürfnisbe‐ friedigung nach dem Prinzip des freien Wettbewerbs ermöglichen, als zweifelhaft. 684 Denn es ist offensichtlich, dass der wuchtige und komplexe „offizielle“, „rechtliche“ Mechanismus zur Befriedigung von Bedürfnissen oft dem Wettbewerb mit der einfachen, informel‐ len und schnellen korrupten Art Lösung ähnlicher Probleme nicht standhalten kann. Ein vergleichbarer Einwand lässt sich bezüglich der Definition der Spezifik der Rechtsbeziehungen als deren Justiziabilität erhe‐ ben. W. Tschetwernin versteht unter Justiziabilität das Prinzip der Beziehung zwischen den Rechtssubjekten als die Eigenschaft der eben rechtlichen Kommunikation und ferner, dass es neben den «positiven Normen» und den Regeln, welche den Zwang, die Un‐ terdrückung des abweichenden Verhaltens (aggressiver Gewalt) re‐ gulieren, noch Regeln gibt, nach denen definiert wird, ob es ab‐ weichendes Verhalten gab. Welche Norm und welche Rechte wur‐ den verletzt? Gibt es solche Norm oder solche Rechte? Was genau folgt aus der Norm, über die gestritten wird usw. 685 Das im vorigen Abschnitt betonte „breite Verständnis der Norm“ von W. Tschet‐ wernin lässt in den Umfang des Phänomens der Justiziabilität auch die Suche nach Antworten auf die erwähnten Fragen im Zuge der rechts(widrigen) Praxis einschließen, insofern diese das Kriterium der Beständigkeit haben (z. B. „Regeln der Verbrecherwelt“ oder Korruptionsschemata). Wenn wir uns vom „weiten Verständnis“ der Norm zum „engen“, dem rechtsförmlichen bewegen, dann wird das Kriterium der Rechtskommunikation ausschließlich die Möglich‐ keit sein, sich an staatliche Machtinstitutionen zu wenden, und das Phänomen des Rechtlichen wird auf das Phänomen des Juristischen reduziert. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass die Hinwendung zu den von W. Tschetwernin erwähnten Regeln („ob es da abweichen‐ des Verhalten gegeben hat“ etc.) als Mittel zur „Korrektur“ von „de‐
684 Op.cit. S. 207. 685 Op.cit. S. 211–212.
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Schlussfolgerungen
fekten“ Beziehungen seinerseits die Überprüfung der Regeleinhal‐ tung durch die Prüfer selbst (z. B. der Rechtmäßigkeit gerichtlicher Entscheidungen) voraussetzt; und in diesem Fall werden wir in eine endlose Regression der Normen gelangen. Alle angeführten Anmerkungen sind selbstverständlich diskuta‐ bel und können in der anschließenden Debatte bestätigt oder wider‐ legt werden. Zugleich ist zu vermuten, dass eine Art „Destillation“ des rechtlichen Seins, das sich von der Existenz anderer soziokultu‐ reller Phänomene unterscheidet, nur im Zuge der Hinwendung zur rechtlichen Zeit als dem Horizont der Verständlichkeit des recht‐ lichen Seins erreicht werden kann. In dem Maße, in dem die spe‐ zifische Zeitlichkeit des Rechts ausgeklammert wird und dadurch den latenten Hintergrund der Forschung darstellt, verlieren wir die Fähigkeit, die rechtlichen Phänomene hervorzuheben und aus der allgemeinen Masse sozialer Erscheinungen auszugliedern. In einer solchen Explikation der rechtlichen Zeit als Horizont des rechtli‐ chen Seins wird unsere weitere Arbeit bestehen.
Schlussfolgerungen Die Untersuchung der oben dargelegten Ansichten lässt uns den Schluss ziehen, dass sich derzeit im postsowjetischen Raum ein neuer Typ von Rechtsverständnis entwickelt hat, der in keinen der bisher bekannten Typen hineinpasst (Positivismus, Naturrecht etc.) und als „dynamisch“ bezeichnet werden kann. Dieser Typ des Rechtsverständnisses ist nicht von einer Art wissenschaftlicher «Schule», weil alle Autoren, deren Werke den Anlass geben, sie zur dynamischen Tendenz zu zählen, eigenständige und originelle For‐ scher sind, in deren Beziehung sich keine Hierarchie finden lässt. Zu solchem Gebilde sind die Kriterien des „unsichtbaren Kollegiums“ anwendbar, welche I. Tschestnow in seinem Artikel zur post-klassi‐ schen kommunikativen Konzeption des Rechts formuliert hat (De‐ zentralisierung, Flexibilität, Vereinigung auf der Grundlage gemein‐ samer weltanschaulich-methodologischer Annahmen). 686 Gleich‐ zeitig ermöglicht unserer Ansicht nach die Analyse philosophisch686 Честнов И.Л. Постклассическая коммуникативная концепция права как «незримая коллегия»//Правоведение. – No 5.–2013. – S. 112–123
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
rechtlicher Konzeptionen, die zum dynamischen Rechtsverständ‐ nis gehören, einige ihrer Gemeinsamkeiten hervorzuheben, die für diesen Typ des Rechtsverständnisses im Ganzen charakteristisch sind. 687 Erstens ist das die Ablehnung der Deutung von Recht als sta‐ tisches, mit absolutem Sein ausgestatteten Sollen (Ideen, Normen etc.) und die Rechtsbesinnung als singuläres, diskretes, dynami‐ sches Phänomen (Dialog, Kommunikation, Sein etc.), das im Zuge menschlicher Aktivitäten reproduziert wird. Die Folge dieser Auf‐ fassung ist die ablehnende Haltung gegenüber der Verdinglichung des Rechts. Deshalb kann für das dynamische Rechtsverständnis als Gemeinsamkeit die Behauptung angesehen werden, dass „es Recht als solches nicht gibt“, in dem Sinne, dass das Wort keinen konstan‐ ten empirischen Referenten hat. Zweitens, aufgrund der dynamischen Besinnung auf die Natur des Rechts überwinden die Vertreter des erwähnten Rechtsver‐ ständnisses die klassische rechtliche Dichotomie von Positivismus und Naturrecht. Möglich wird dies durch die Ablehnung der Deu‐ tung des Rechts als absolutes Sollen (Ideen, Normen etc.) und den Übergang zum Verständnis des Rechts als dynamisches und mobiles Gebilde (Sein, Kommunikation, Diskurs etc.). [Tschestnow I.L. Postclassical Communicative Concept of Law as „Invisible Collegium“//Legal Science. – No 5.–2013]. 687 Es ist anzumerken, dass dynamisches Rechtsverständnis zweifellos nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern die Entwicklung der Tradition der phä‐ nomenologischen Rechtsphilosophie im weiten Sinne des Wortes darstellt. So fanden die oben angeführten Ideen der Rechtsphänomenologie über Recht als Realität im Sinne einer Abkehr von der Monosubjektivität und einem Über‐ gang zum Dialog und Trialog, des Rechtsereignisses als eine Art „Anstoß“ zur Aktualisierung des rechtlichen Modus der Reflektion des Geschehens ihre Fortsetzung in den Werken von A. Polyakow, I. Tschestnow, S. Maksymov so‐ wie dem Autor dieser Arbeit. Ebenso erweisen sich existentielle Ideen – über die Verwurzelung des Rechts in dem gemeinsamen Sein der Menschen, das Primat der konkreten Situation über die abstrakten Normen, über die Ver‐ bindung zwischen Sinn des menschlichen Seins und Recht, dem Streben, die Dichotomie von Positivismus vs. Naturrecht zu überwinden – als schöpferisch wahrgenommen und entwickelt in den Werken von J. Permyakow und W. Tschetwernin, sowie den oben genannten Rechtswissenschaftlern. Diese Ar‐ beit stellt auch den Versuch dar, insbesondere die Hypothesen von A. Reinach und G. Husserl über die zeitliche Lücke zwischen der Tat und ihren Rechtsfol‐ gen als Horizont des rechtlichen Seins zu entwickeln.
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Schlussfolgerungen
Drittens ist dies die Betrachtung des Rechts als das soziale Ereig‐ nis, die Suche nach den ontologischen Quellen des Rechts in äuße‐ ren Phänomenen ihm gegenüber (vor allem in der Gesellschaft). Im Gegensatz zur klassischen Auffassung von Recht als Sollen, das die seiende Realität aus sicherer Distanz reguliert, erweist sich Recht vom Standpunkt des dynamischen Rechtsverständnisses aus als Prozess seiner Reproduktion immer schon in der Realität verwurzelt, wel‐ che das Recht „berufen ist, zu ordnen“. Somit ist also das Denken des Rechts außerhalb des metaphysischen Gegensatzes von Sein und Sollen charakteristisch für das dynamische Rechtsverständnis. Viertens, sofern Recht als Prozess seines Ablaufs nicht von sich aus, sondern nur durch Menschen verwirklicht werden kann, ist das weitere Merkmal des dynamischen Rechtsverständnisses die Beto‐ nung des „Menschenmaßes“ des Rechts, der Tatsache, dass es kein Recht «außerhalb» der menschlichen Beziehungen gibt. Ihrerseits ist die Rechtssubjektivität der Menschen nicht in den „naturgegebe‐ nen Menschenrechten“ und nicht in der Macht des Souveräns, son‐ dern in ihrer gegenseitigen Anerkennung als Rechtssubjekte ver‐ wurzelt ist. Recht ist somit kein gegenüber dem Menschen „äuße‐ res“ Ereignis, sondern ein im gemeinsamen Sein der Menschen ver‐ wurzeltes Phänomen. Demzufolge ist der Übergang vom Monosub‐ jekt der klassischen Rechtswissenschaft zur Polysubjektivität für das dynamische Rechtsverständnis charakteristisch. Fünftens ist die methodische Besonderheit der dynamischen Deutung des Rechts das Streben, die Gesetzmäßigkeiten rechtlicher Prozesse zu beschreiben. Im Gegensatz zur klassischen begriffli‐ chen Jurisprudenz, welche in Bezug auf die untersuchten Ereignisse die präskriptive Position einnahm, zeichnet sich das dynamische Rechtsverständnis somit durch die Orientierung auf die Deskripti‐ vität aus, das Streben, eine Art «ontologische Sinn-Metapher» zu konstruieren, welche den Prozess der Rechtsverwirklichung mög‐ lichst adäquat zum Ausdruck bringen würde. Solche „Metaphern“ sind Kommunikation, Dialog, Ereignismäßigkeit, Synergie usw. Auf den angemerkten Übergang von der Präskriptivität zur Deskriptivi‐ tät ist auch das weite Verständnis der Rechtsnorm als soziale Ge‐ setzmäßigkeit zurückzuführen, auf die Betonung des abgeleiteten, sekundären Charakters der klassischen, «positiven» Rechtsnorm. Gleichzeitig haben Vertreter des dynamischen Rechtsverständ‐ nisses, so auch wir eine Reihe von Fragen, die für die ganzheitliche
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Kapitel 3. Das dynamische Rechtsverständnis
dynamische Rechtsbesinnung entscheidend sind, erst einmal ohne explizite Antwort belassen. Erstens, obwohl sie auf der Prozessualität und Mobilität des Rechtsphänomens bestehen, lassen die Vertreter des dynamischen Rechtsverständnisses die Frage nach der Quelle der «Rechtsdyna‐ mik» unbeachtet. Mit anderen Worten, die richtige Behauptung, dass Recht von Natur aus dynamisch ist, zwingt unweigerlich zur Frage, wodurch eigentlich „Recht in Bewegung gesetzt“ wird. Diese Frage nach dem „Uranstoß“ des Seins des Rechts (Kommunika‐ tion, Dialog, Austausch) lässt sich nicht auf die Problematik des „rechtlichen Konflikts“ der klassischen Rechtswissenschaft reduzie‐ ren, denn das dynamische Rechtsverständnis legt in erster Linie den Schwerpunkt darauf, dass Recht als Bestandteil des gesellschaftli‐ chen Lebens lange vor dem Konflikt existiert und sich im Zuge der sozialen Praxis reproduziert. Zweitens erhöht die Betonung der sozialen Natur des Rechts die Gefahr der „Auflösung“ des Rechts unter anderen sozionormativen Erscheinungen. Die Position der Vertreter des dynamischen Rechts‐ verständnisses, wonach Recht untrennbar mit Wirtschaft, Politik sowie einer Reihe anderer gesellschaftlicher Beziehungen verfloch‐ ten ist und nur künstlich hervorgehoben werden kann, wirft die Frage auf, ob solche Behauptungen nicht «das Ende der Rechts‐ lehre» bedeuten, denn die logische Schlussfolgerung solcher These ist mit dem Verlust des Forschungsgegenstandes – des Rechts – ri‐ sikobehaftet. Somit sollte bei Beibehaltung der gewählten Einstel‐ lung hinsichtlich der Unmöglichkeit des ontologischen Rechtsver‐ ständnisses außerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen die philosophisch-methodologische Frage nach den möglichen Wegen zur «Bereinigung» des Rechts gestellt werden. Dies kann vermittels der Explikation der prozessualen Sinngeschichte zur Isolierung des Rechts aus dem dichten Geflecht anderer Beziehungen erreicht wer‐ den, zumindest mit dem Ziel, es als ein in seinem Wesentlichen ein‐ zigartiges Phänomen adäquat zu reflektieren, das nicht auf Macht-, Wirtschafts-, Moral- und andere Prozesse reduzierbar ist. Es scheint, dass die Aktualisierung des zeitlichen Horizonts des Rechts als möglicher Weg zur Lösung der oben genannten Probleme dienen kann, welche die erwähnte «Destillation» der Rechtsonto‐ logie durchzuführen ermöglicht, Sein des Rechts zum Gegenstand thematischer Forschung macht und es aus dem Komplex der ande‐
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Schlussfolgerungen
ren sozialen Phänomene heraushebt. Dies wird seinerseits dazu bei‐ tragen, die Frage nach dem Ursprung des Seins des Rechts als des‐ jenigen „rechtlichen Uranstoßes“, welcher Rechtskommunikation, Diskurs, Dialog, Austausch usw. „anstößt“, adäquat zu stellen. Es kann angenommen werden, dass als solche Quelle das besondere – rechtliche – Ereignis betrachtet werden sollte, welches uns durch die Tatsache seines Ereignens antreibt, sich dem rechtlichen Modus der Besinnung auf unser Sein-mit-Anderen zuzuwenden und diese vom moralischen, politischen oder wirtschaftlichen zum rechtli‐ chen „umzuschalten“. Diese beiden Fragen verschmelzen zu einer einzigen – nach dem Sinn des Seins des Rechts als „dem, ‚woraus‘ wir etwas als Recht verstehen“. Die Entwicklung der angeführten Fragen wird Gegenstand der weiteren Forschung sein.
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Teil IV Die temporale Ontologie des Rechts
Kapitel 1. Das Rechtsereignis („Die Sache“)
Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!« Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat! Goethe, Faust
Paragraph 1. Die Tat als der Anfang des Rechtsereignisses (der Sache) Die Frage danach „wo der Anfang des Rechts liegt“ ist für die Rechtsphilosophie von grundlegender Bedeutung. Die häufigsten Antworten darauf waren ja bekanntlich nur die, welche im obi‐ gen Auszug aus „Faust“ genannt werden: Der Inhalt des normati‐ ven Textes („das Wort“), die objektive oder subjektive Idee („der Sinn“), der herrische Wille oder die Gesetzmäßigkeiten des Univer‐ sums („die Kraft“) traten zu verschiedenen Zeiten als der (von Goe‐ the) gesuchte „Anfang“ des Rechts hervor. Aber schon die Vertre‐ ter des existentiell-phänomenologischen Rechtsverständnisses ha‐ ben mehrfach betont, dass Recht kein „Ding an sich“ ist und es somit sinnlos ist, nach seiner substantiellen Grundlage zu fragen. Um sich zu ereignen und sich zu verwirklichen, bedarf Recht immer irgend‐ eines Geschehens, eines Anlasses, eines Ereignisses, das ihm gegen‐ über «äußerlich» ist. Es kann ein sozialer Akt (A. Reinach), eine normative Tatsache (N. Alexejew), ein außergewöhnliches Ereignis (G. Husserl) oder eine konkrete Situation (G. Cohn) sein. Es scheint,
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Kapitel 1. Das Rechtsereignis („Die Sache“)
dass diese Position im Ganzen der Wirklichkeit entspricht. Tatsäch‐ lich ist jedes „Ding an sich“ weder „Recht“ noch „Unrecht“. So ein „unrechtliches“ Ding wie Hausschuhe oder Küchengeschirr kann jederzeit durch das entsprechende Ereignis: Straftat, Zivilstreit etc. rechtlich relevant werden. Ebenso können solche „Rechtsdinge“ wie Gesetz oder Gerichtsentscheidung immer dann als „außerrechtlich“ (deklaratives Gesetz, politisch motiviertes Urteil) auftreten, wenn sich ihre Rechtsrelevanz als rein formal erweist. Somit können wir den Vertretern des dynamischen Rechtsver‐ ständnisses (S. Maksymov, A. Polyakow) zustimmen, welche be‐ haupten, dass das Wort „Recht“ keinen starr fixierten und empirisch erkennbaren Referenten hat. Jedes «Ding» kann gelegentlich eine rechtliche Seinsart bekommen und diese genauso verlieren, weshalb die Suche nach dem Recht als solchem auf der Ebene des Seienden perspektivlos ist. Vermutlich sollten diese Untersuchungen im Zuge der Deutung jenes Geschehens, Ereignisses, jener Handlung, Tat‐ sache, kurzum jener „Sache“ fortgesetzt werden, welche dem daran beteiligten Seienden einen rechtlichen Charakter verleiht. Für die metaphysische Rechtswissenschaft sind solche Phänomene der Akt des Rechtsschaffens (Positivismus) oder die Tatsache des Vorhan‐ denseins des natürlichen Gesetzes der Vernunft, der Natur, der Welt, des Kosmos (Naturrecht). Aber ist es möglich, etwas Rechtliches „in der Sache selbst“ (Ereignis, Akt, Tatsache, Situation) zu finden, deren rechtliche Natur nicht vom Willen des Gesetzgebers oder von den „Naturgesetzen“ abhängen würde? Diese Frage ist noch nicht beantwortet. Jedoch ist die Suche danach notwendig, wenn wir die Seinswurzeln des Rechtsphänomens finden wollen, indem wir es „jenseits“ des transzendentalen oder transzendenten Sollens – der positiven oder natürlichen Rechtsnorm – verwurzeln. Traditionell wurde angenommen, dass die Aktualisierung des Rechts durch den Konflikt verursacht wird, den Streit, welcher mit Hilfe von Rechts‐ institutionen beigelegt werden muss. 688 Mit solcher Auffassung, die das ganze Recht auf ein „Recht des Krieges“ reduziert, lässt es sich 688 Siehe z. B.: Алексеев С.С. Право на пороге нового тысячелетия: некоторые тенденции мирового правового развития – надежда и драма современной эпохи. – М.: Статут, 2000. – S. 24–29. [Alexeev S.S. Law at the Beginning of New Age: Some Tendencies of World Legal Development – the Hope and Drama of Contemporary Epoque. – M.: Statute, 2000].
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Paragraph 1. Die Tat als der Anfang des Rechtsereignisses (der Sache)
jedoch nicht erklären, wie ein „Recht des Friedens“ existiert: jene „kleinen“ Rechtsbeziehungen, die jeder von uns täglich immer wie‐ der eingeht (beim Kauf einer Zeitung, dem Überqueren der Straße, dem Erhalt des Arbeitslohns usw.). Deswegen, wie der russische Philosoph W. Bibikhin zeigt, gibt es wichtige Gründe, Recht vor dem Konflikt zu verorten. Es ist das wesentliche bzw. Hauptmerk‐ mal jedes stabilen Lebens des Menschen und anderer Lebewesen. Der Staat und seine Jurisprudenz können Recht nur als Tatsache aufschlüsseln, sie können es aber nicht begründen. Dies ist eine phi‐ losophische Aufgabe. 689 Diese Aufgabe ist jedoch keineswegs einfach. Denn, worauf be‐ reits die erwähnten Vertreter des dynamischen Rechtsverständnis‐ ses (I. Tschestnow, A. Polyakow, W. Tschetwernin, S. Maksymov) hinwiesen, es ist sehr schwierig, die «Destillation» des rechtlichen Bestandteils aus der sozialen Beziehung durchzuführen, da jede Be‐ ziehung nicht nur in rechtlicher, sondern auch in wirtschaftlicher, politischer und vielen anderen Hinsichten relevant ist. Deswegen versuchen wir, vom Rechtsereignis als dieser besonderen „Wende zu den Sachen“ zu sprechen, wenn Recht Merkmale der „Totalität“ (E. Levinas) annimmt, indem es alle anderen Perspektiven zunichte‐ macht und das an solchem Ereignis beteiligte Seiende „rechtlich zu werden zwingt“. Wie der deutsche Heidegger-Forscher G. Seubold anmerkt: „Indem das Ereignis das Sein, und d. h. eine bestimmte «Weise» («Art») des Seins ereignet, entzieht es eine andere Möglich‐ keit des Seins, nicht nur eine andere, sondern viele andere Möglich‐ keiten des Seins.“ 690 Es sollte darauf hingewiesen werden, dass der Terminus „Recht‐ sereignis“ nicht dogmatisch zu verstehen ist, als seine Übereinstim‐ mung mit den Normen des natürlichen oder positiven Rechts. Die‐ ser Ausdruck bedeutet ursprünglich nur, dass das Ereignende selbst in anderer (moralischer, ökonomischer, religiöser usw.) Hinsicht unmöglich ganzheitlich zu deuten ist: So hat beispielsweise Dieb‐ 689 Бибихин В.В. Введение в философию права. – М.: Ин-т философии РАН, 2005. – S. 3. [Bibikhin V.V. The Introduction into Philosophy of Law. – Moscow: Institute of Philosophy RAS, 2005]. 690 Seubold G. Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun//Thomae D. Heidegger. Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. – StuttgartWeimar: J.B. Metzler, 2003. – S. 304.
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stahl natürlich seine eigenen moralischen, religiösen, wirtschaftli‐ chen und anderen Aspekte. Jedoch ist sowohl Wirtschaft (bei der Feststellung der Tatsache des Verlustes bzw. Erwerbs von materiel‐ len Gütern) als auch Religion (die über die Frage nach dem Leben jenseits des Diebes entscheidet) oder Moral (die immer bereit ist, uns in Antinomie zu stürzen: den Dieb entschuldigen oder verurtei‐ len) in der Lage, jenen oder einen anderen Aspekt des Geschehens bloß zu konstatieren: Sie geben aber keine Kriterien an, welche es ermöglichen, es ganzheitlich zu deuten. Somit kann der oben er‐ wähnte Eklektizismus politischer, ökonomischer, moralischer und sonstiger Faktoren, der nominell in jeglicher gesellschaftlichen Be‐ ziehung vorhanden ist und die Forscher verwirrt, im Zuge der ganz‐ heitlichen Rechtsbesinnung als jenes Ereignis („Sache“) überwunden werden, deren Anfang in der rechtlichen Tat liegt. Diese These konkretisierend lässt sich vermuten, dass die Sphäre des Rechts durch die bestimmte Art von Tat thematisiert wird, wenn rechtliches Sein sich dominant alles Seiende unterordnet, welches auf die eine oder andere Weise mit dieser Tat zusammenhängt – in die Sache einbezogen ist. So wandelt Mord Menschen umge‐ hend zu «Kriminellen», «Zeugen», «Opfern» um, Dinge – zu «Be‐ weisen», «Verbrechensinstrumenten», Texte – zu «Rechtsnormen» usw. Gleichzeitig gilt auch das Umgekehrte. Tat kann ebenso als etwas reflektiert werden, was die „Rückumwandlung“ des recht‐ lich relevanten Seienden vollzieht. In einer Reihe von Fällen wird der Verbrecher durch die Selbstanzeige zum «gewöhnlichen Men‐ schen». Durch den Akt zur Einstellung des Strafverfahrens «bekom‐ men» materielle Beweise ihre «direkten Zwecke» wieder «zurück»: Transportmittel, Kleidung usw. Die Weigerung des Präsidenten, das Gesetz zu unterzeichnen, macht es zu einem «gewöhnlichen» Text. Es fällt dabei auf, dass der rechtliche Charakter des Seienden nicht durch eine beliebige Tat «aufgehoben» wird, sondern nur durch eine solche, die in gewisser Weise der Tätigkeit oder Untätigkeit «ange‐ messen» ist, welche für das Seiende als der «Anstoß» zur Erlangung seines rechtlichen Charakters gedient hat. So kann beispielsweise der Grund für die Einstellung des Strafverfahrens in einer Reihe von Fällen die Entschädigung für den dem Schuldigen zugefügten Schaden sein, der Grund für die Beendigung einer Verpflichtung deren Erfüllung durch den Schuldner usw. Doch in dem Falle, wenn sich die „sekundäre“ Tat aus irgendeinem Grund als „unangemes‐
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Paragraph 1. Die Tat als der Anfang des Rechtsereignisses (der Sache)
sen“ zur „primären“ Tat erweist, tritt sie selbst als der „wiederholte Anstoß“ für den rechtlichen Charakter des Geschehens auf, wie es z. B. bei der Grenzüberschreitung der Notwehr stattfindet. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die angegebene „Äquivalenz“ der primären und sekundären Taten auf beliebige Weise festgestellt wer‐ den kann: durch das Gesetz, den Brauch, den Präzedenzfall, die Vereinbarung der Parteien (einschließlich der konkludenten). Be‐ deutung für die Umwandlung des Seienden vom „rechtlichen“ zum gewöhnlichen hat alleine die Tatsache solcher Übereinstimmung. Es ist notwendig, hinzuzufügen, dass, wenn die ontologische Grundlage für das „Schwinden“ des rechtlichen Charakters des Seienden die erwähnte Angemessenheit der Taten ist, dann ihre „Gleichzeitlichkeit“ als temporale Grundlage dafür dient. In der klassischen Jurisprudenz ist diese Erscheinung als „Verjährungs‐ frist“ bekannt: des Anspruchs, der Urteilsvollstreckung oder des Ge‐ richtsurteils usw. Im Falle dass für die Tat längere Zeit keine für sie adäquaten Konsequenzen „getroffen“ werden können, „löst“ sie sich quasi „auf “, „zerfällt“ ihre rechtliche Relevanz. Dementspre‐ chend kann vermutet werden, dass die rechtliche Relevanz des Sei‐ enden – der Menschen, Dinge, Texte – in einer Art „Zeitschleife“ lokalisiert ist, die aus „primären“ und „sekundären“ Taten gebildet wird. Gleichzeitig bringt das „Zuziehen“ dieser Schleife, wenn sich die „sekundäre“ Tat als äquivalent zur „primären“ erweist, letzt‐ endlich das „Schwinden“ des rechtlichen Charakters des in diese Schleife „einbezogenen“ Seienden mit sich. Und umgekehrt, wenn die erwähnte Schleife sich nicht „zuziehen“ kann, kann der recht‐ liche Charakter des entsprechenden Seienden im Laufe einer be‐ stimmten Zeit (Verjährungsfrist) deutlich akzentuiert werden (z. B. bei Versuchen, die Person zur Verantwortlichkeit heranzuziehen), aber danach – wenn dies zu nichts führt – schwinden. Somit ist zu vermuten, dass die primäre Tat im Grunde imma‐ nent auch die sekundäre Tat „enthält“. Diese These ist so zu ver‐ stehen, dass die Beschaffenheit der sekundären Tat, die Zeitschleife durch das „Auslöschen“ der primären Tat „zuzuziehen“, nur kraft einer gewissen „inneren Verwandtschaft“ zwischen diesen beiden Taten möglich ist. Schließlich kann die sekundäre Tat, obwohl sie der primären entspricht, auch nicht herbeikommen. Deshalb erweist es sich als unmöglich, einen kausalen Zusammenhang zwischen ih‐ nen herzustellen. Die Sphäre des Rechts ist, wie mehrmals betont
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Kapitel 1. Das Rechtsereignis („Die Sache“)
wurde, keineswegs das Feld eines rigiden Determinismus. In ähn‐ licher Weise ist die formal-logische Verbindung der primären und sekundären Taten, welche nur im Urteilsakt stattfindet, selbst nicht imstande, sie ontologisch zu verbinden. Die erwähnte Annahme be‐ deutet somit, dass die primäre Tat, die die sekundäre immanent ent‐ hält, eine Art „Anfang“ des Rechtsereignisses ist. Tat „geht“ nicht nur aus der Vergangenheit in die Zukunft als chronologischer „An‐ satz“ des Ereignisses, sondern kommt wie ein „Anfang“ ähnlich dem griechischen „’αρχή“ aus der Zukunft, geht durch die Gegenwart und in die Vergangenheit. Die Verbindung zwischen der primären und sekundären Tat erweist sich als auf dieser besonderen zeitlichen Natur des Rechtsereignisses gegründet, wenn die primäre Tat die sekundäre «anzieht», welche – als ihre immanente Möglichkeit – gleichzeitig mit ihr aus der Zukunft kommend entsteht. Um termi‐ nologische Verwechslung zu vermeiden, nennen wir die primäre Tat als den Anfang des Rechtsereignisses die „Rechtstat“ und die sekun‐ däre Tat die «Rechtsfolgen». Sowohl «Rechtstat» als auch «Rechtsfolgen» bedeuten in diesem Fall keine dem bestimmten Subjekt prädikative Zugehörigkeit des «rechtlichen Charakters», der Tat oder Folgen, welche dadurch von den «rechtswidrigen» unterschieden werden können. Der „rechtli‐ che Charakter“ sowohl der Tat als auch der Folgen bedeutet nichts anderes als ihre rechtliche Relevanz, nämlich ihre Fähigkeit, dem Rechtsereignis – der „Sache“ – „den Anfang und das Ende zu set‐ zen“. Worin diese Fähigkeit (als sein „Seinskönnen“) besteht, wird im Weiteren untersucht. Hier ist jedoch zu unterstreichen, dass sich der strittige Charakter des Rechtsereignisses als der „Sache“ darin ausprägt, dass in ihr der Streit zwischen den gleichberechtigten, der Tat inhärenten gleichursprünglichen Möglichkeiten stattfindet, die Rechtsfolgen herbeizuführen oder ihnen das Herbeikommen zu verweigern. Da die Rechtstat ihrerseits nicht irgendeine einzige klar definierte Konsequenz hervorruft, sondern eine Vielfalt aus der Zu‐ kunft kommender, kann ihr „Streit“ miteinander, welche der Folgen «eintreffen soll», lediglich durch die Gegenwart gelöst werden, in welcher nur eine der möglichen Folgen auftritt, die somit die Sache entweder beendet, fortführt, oder eine neue anfängt.
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Paragraph 2. Das «Wer» der Rechtstat
Paragraph 2. Das «Wer» der Rechtstat Das Rechtsereignis beginnt und endet also mit der Tat, der Tätig‐ keit oder Untätigkeit des Menschen. Selbstverständlich ist dies keine beliebige Tat. Es wird möglich, ihre Besonderheit durch Hinwen‐ dung zu demjenigen, der sie begeht, und zu jemandem, bezüglich wem sie begangen wird, zu offenbaren. Die Rechtstat richtet sich vor allem immer an den „Anderen“ in seinem Sein. Der „Andere“ ist jedoch nicht nur das „sich in der Nähe befindende Subjekt“. Wie der französische Rechtsphilosoph P. Ricoeur zeigt, ist der „Andere“ im Recht ein „Jeder“. 691 Im Gegensatz zur Moral, wo jede Tat und die daraus hervorgehenden Folgen an die Unersetzlichkeit und Ein‐ zigartigkeit sowohl von «Ich» als auch von «Anderen» gebunden sind (Freunde, Verwandte usw. – welche nicht „Jemand“, aber im‐ mer„Du“ sind), kann im Recht an dieser Stelle stets jeder belie‐ biger stehen – ein „Jeder“. Hierzu M. Heidegger: „Zu den Seins‐ möglichkeiten des Miteinanderseins in der Welt gehört unstrittig die Vertretbarkeit des einen Daseins durch ein anderes. In der All‐ täglichkeit des Besorgens wird von solcher Vertretbarkeit vielfältig und ständig Gebrauch gemacht.“ 692 Auch die Sphäre des Rechts ist keine Ausnahme, in der wir nicht als einzigartiges und unersetz‐ liches „Ich“, sondern als gegenseitig austauschbarer „Jeder“ (P. Ri‐ coeur) anwesend sind, welcher dabei nicht «überhaupt» existiert, sondern immer schon «als» jemand bestimmtes (W. Maihofer). Dabei ist zu erwähnen, dass eine rechtlich relevante Tat auch in Bezug auf den angehörigen „Du“ begangen werden kann, wie z. B. Schenken, Geldverleihen und schließlich Körperverletzung oder Mord. Ob diese Tat jedoch Rechtsfolgen nach sich zieht – die der Tat angemessene Reaktion – ist noch ungewiss. Schließlich kann ein Freund die Rückzahlung einer Schuld immer unter Hinweis auf bestimmte Umstände verweigern. In diesem Fall müssen wir ihm entweder „verzeihen“ und die „Ich-Du“-Beziehung bewahren (und dann ereignet sich kein Recht) oder gegensteuern, um das Ereignis damit in den Rechtsbereich zu bringen und den Freund vom „Du“ zum „beliebigen Jeden“ und freundschaftliche Beziehungen zu ihm 691 Рiкер П. Право i справедливiсть. – К.: Дух i лiтера, 2002. – S. 15–16. [Ri‐ coeur P. El Droit et la Justice]. 692 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 239.
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Kapitel 1. Das Rechtsereignis („Die Sache“)
zu rechtlichen zu verwandeln. Ebenso gerät auch die Körperverlet‐ zung gegenüber einem Angehörigen gar nicht immer in die Sphäre des Rechts, wenn z. B. die Ehefrau trotz ehelicher Schläge „die Sache nicht ins Rollen bringt“. Weil sie gegenüber dem Ehemann Gefühle behält, bleibt er für sie das „Du“ und das Geschehen außerhalb der Rechtssphäre. Wenn jener aufgrund des Verübten hingegen für sie «einer von vielen», ein „Jeder“ geworden ist, nimmt das Ereignis rechtlichen Charakter an. Keinesfalls zufällig werden jene Strafsa‐ chen, in denen sich nahestehende Personen als Konfliktparteien er‐ weisen, oft zum Bereich der Privatklage gezählt. Beim Mord ist die Sache komplizierter. Denn in diesem Fall wird dem Anderen die Möglichkeit genommen, durch die Gegentat zu „reagieren“. Und hier kommt die Tatsache in unser Blickfeld, dass die Rechtstat und deren Rechtsfolgen, die zwischen den austausch‐ baren „Jeder“ stattfinden, niemals nur zwei Mitglieder vorausset‐ zen, sondern auch einen „Dritten“, der immer bereit ist, an die Stelle des „Jeden“ zu treten. Dabei ist der „Dritte“ nicht (wie in der klas‐ sischen Rechtstheorie) nur ein „Schiedsrichter“, der sich immer au‐ ßerhalb der Situation befindet und sein eigenes autoritatives Urteil abgibt. Laut dem deutschen Philosophen B. Waldenfels, begegnet der „Andere“ mir immer als der „Dritte“. Er befindet sich in der sozialen Vermittlung, indem er sich als Bruder, Ehefrau, Nachbar, Kollege, Mitbürger, Peer, Europäer oder als Nachbar mir gegenüber zeigt, der mich berührt. 693 Der „Dritte“ als der obligatorische Be‐ standteil der Rechtsbeziehung erweist sich immer schon (aufgrund der angezeigten Möglichkeit, an die Stelle von „Jedem“ zu treten) als „berührt“ und durch jene rechtlich relevante Tat „in Frage gestellt“, welche das Rechtsereignis „auslöst“. Und wie insbesondere der fran‐ zösische Philosoph E. Levinas zeigt: „In der Welt, in der ich lebe, gibt es neben dem Erstbesten immer einen Dritten, und er ist auch mein Anderer, mein Nächster. Ich muss also wissen, wer von ihnen vorne ist, ob er nicht der Verfolger des Anderen ist?“ 694
693 В альденфельс Б. Топографiя Чужого. Студiї до феноменологiї Чужого. К.: 2002. – S. 100. [Waldenfels B. Topographie des Fremden]. 694 Левинас Э. Философия, справедливость и любовь // Левинас Э. Тотальность и бесконечное. – М.: Modern, 2013 – S. 356. [Levinas E. Philoso‐ phie, Justice et Amour].
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Paragraph 2. Das «Wer» der Rechtstat
Ein „Dritter“ bedeutet in diesem Fall also nicht einfach ein „Fremder“, der mir gegenüber indifferent ist und willkürlich an die jeweiligen Umstände gebunden ist. Konstitutiv für den „Dritten“ ist die Möglichkeit der Substitutionalität, seine Fähigkeit, an meiner Stelle oder die des Anderen zu treten. Wie B. Waldenfels bemerkt, bezieht sich der Dritte auf den Standpunkt, den ich über dich oder mich einnehme, wenn ich uns als jemanden betrachte (Kursivierung von B. Waldenfels). Diesem Jemand wird eine bestimmte Rolle, Funktion, Arbeit zugeschrieben. Der Dritte verkörpert dasjenige Mitglied, das uns in Kooperation oder Konkurrenz auf bestimmte Ziele lenkt, unser Verhalten allgemeinen Regeln unterordnet und so eine soziale Bindung zwischen uns herstellt. 695 Wie E. Levinas betont, hat der Andere Bezug auf einen, selbst wenn der Dritte einen anstiftet und man dementsprechend mit der Notwendigkeit einer gerechten Entscheidung und vielleicht einer Gewaltentscheidung konfrontiert ist. Der Dritte ist hier nicht zufällig. In gewisser Weise sind alle anderen im Antlitz des Anderen anwesend. Wenn wir nur zu zweit auf der Welt wären, gäbe es keine Probleme: Der Andere wäre immer vor mir. 696 Wie aus dem Gesagten ersichtlich wird, ist der Andere, genom‐ men als „Jeder“, an dessen Stelle auch der „Dritte“ geraten kann, nicht nur eine andere Bezeichnung für das „Subjekt der Rechts‐ beziehungen“. Diese Figur ersetzt im Rechtsereignis tatsächlich die klassische Rechtsnorm und legt den Maßstab für unser Verhalten fest, und zwar nicht allein und nicht so sehr durch die autoritativen Vorschriften, sondern durch die Tatsache und die Art seines Seins. Dieses Maß charakterisieren wir nach A. Polyakow auf drei Weisen: als Grenze, Richtung und Modalität unserer Taten. 697 Diese Behauptung konkretisierend ist zu erwähnen, dass die Tat, um rechtlich (d. h. rechtlich relevant) zu sein, direkt oder mittelbar an den Anderen als Jeden gerichtet sein muss. Andernfalls wird sie
695 Вальденфельс Б. Топографiя Чужого. Студiї до феноменологiї Чужого. К.: 2002. – S. 106. [Waldenfels B. Topographie des Fremden]. 696 Левинас Э. Избранное: тотальность и бесконечное. – М., СПб.: Университетская книга, 2000. – S. 358. [Levinas E. Totalite et Infini]. 697 Поляков. А.В. Нуждается ли теория права в идеях М. Хайдеггера?//Правоведение. – 2013. – No 4. – S. 10. [Polyakow A.W. Does Theory of Law Need the Ideas of M. Heidegger?//Legal Science. – 2013. – No 4].
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keine rechtliche Bedeutung haben. Aber der Andere ist auch derje‐ nige, der meinem Handeln Grenzen setzt: Denn es ist offensichtlich, dass ich alles tun könnte, wenn ich der einzige Mensch auf Erden wäre. Konstitutiv für den rechtlichen Charakter der auf den Ande‐ ren gerichteten Tat ist, wie mehrmals betont wurde, die Figur des Dritten als jener, der jederzeit an dessen Stelle treten kann. Also wenn es, nach der oben angeführten Aussage von E. Levinas, nur zwei Menschen auf der Welt gäbe, würde Recht nicht existieren, denn niemand könnte an die Stelle des einen oder anderen treten, und diese beiden wären dazu verurteilt, im Modus des einzigartigen Ich und Du zusammenzuleben, die kein Recht bräuchten. Am interessantesten ist jedoch die Frage nach den Handlungsmo‐ dalitäten: Wie genau soll man sich gegenüber dem Anderen verhal‐ ten? Zunächst ist anzumerken, dass wir in unserem MiteinanderSein nicht „an sich“ koexistieren, sondern „als“ jemand und „bei“ einer bestimmten Sache. Wie E. Levinas schreibt: „In der Welt ist Sozialität die Kommunikation oder Gemeinschaft. Streiten bedeu‐ tet, die Abwesenheit von Gemeinsamkeiten zu konstatieren. Der Kontakt entsteht durch die Beteiligung an etwas Gemeinsamem. Menschen stehen sich nicht nur gegenüber, sie sind miteinander um etwas herum versammelt. Der Nächste ist der Beteiligte. Ich, als der Beziehungsbegriff, verliere darin keineswegs mein Selbst. Alle konkreten Beziehungen zwischen Menschen in der Welt entlehnen ihren Charakter aus dem Begriff des Dritten. Das ist die Gemein‐ schaft.“ 698 Gleichzeitig äußern wir uns „um etwas herum“, „bei“ der Sache existierend auf bestimmte Weise und in diesem Akt geben wir eine bestimmte Modalität an, wie man sich uns gegenüber verhalten soll. Mit anderen Worten, jeder von uns setzt in seinem MiteinanderSein einen bestimmten Rahmen für die Beziehung zu sich selbst, je nachdem, wer und wie wir in der entsprechenden Beziehung sind. Als Autofahrer setze ich somit das gewisse Verhaltensmaß für an‐ dere Verkehrsteilnehmer fest: Fußgänger müssen die Straße acht‐ sam überqueren, andere Autofahrer müssen ihre Autos vorsichtig fahren usw. Wenn ich aus dem Auto aussteige und das Universitäts‐ 698 Левинас Э. От существования к существующему // Левинас Э. Тотальность и бесконечное. М., 2013. – S. 23. [Levinas E. De L’Existence a L’Existant].
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Paragraph 2. Das «Wer» der Rechtstat
gebäude betrete, „verlange“ ich als Lektor von Studenten, Kollegen usw. schon durch die Tatsache meiner Anwesenheit eine bestimmte Haltung mir gegenüber. Das Angeführte gilt auch für mein Verhalten gegenüber den An‐ deren, welche, indem sie sich zu mir als jemandem äußern, die Mo‐ dalitäten meines Handelns ihnen gegenüber festsetzten: „andere“ Fahrer, Lektoren usw. Dabei werden natürlich die konkreten Gren‐ zen und Rechtsfolgen der möglichen Tat durch die entsprechenden kulturellen, historischen und eine Reihe weiterer Situationen vorge‐ geben. Sie alle sind jedoch in der allgemeinen Grenze verkörpert, in welcher der Andere „wie er vor mir ist“ erscheint. Mit anderen Wor‐ ten, wenn ich in Bezug auf den Anderen etwas tue, „muss“ ich mich so verhalten, dass mein Handeln die Möglichkeiten seines Seins als Jener nicht verletzen, was und wie er vor mir ist. Das Sollen bedeutet hier keinen „kategorischen Imperativ“, sondern dient als Hinweis darauf, dass, wenn ich, weil ich in meinem Sein-mit-Anderen kor‐ relativ mit deren Seinsarten verbunden bin, ihre Möglichkeiten, sich bei der entsprechenden Sache zu äußern, verletze, meinerseits auch meine Möglichkeiten, mich „als“ jemand zu äußern, zerstöre. Wenn ich z. B. Studenten Witze erzähle, anstatt die Vorlesung zu halten, hindere ich sie nicht nur daran, als Studenten zu sein, sondern ver‐ nichte damit auch meine Seinsart-als-Lektor. Ein weiterer Faktor, der die Modalität der Beziehung zum Ande‐ ren bestimmt, ist der Dritte. Wie mehrmals betont wurde, existieren wir im Rechtsverhältnis zum Anderen als Jeder, insofern der Dritte immer an unsere Stelle treten kann. Dementsprechend, wenn wir die Modalität unseres Handelns als „einen spezifischen Umfang von Rechten und Pflichten“ in Bezug aufeinander bestimmen, müssen wir davon ausgehen, dass sowohl an unsere Stelle als auch an die Stelle des Anderen jeder geraten kann – der Dritte. Deshalb sollten wir, wenn wir in Bezug auf den Anderen handeln und eine Haltung uns gegenüber selbst erwarten, in der Sphäre des Rechts ohne Ver‐ weis auf die individuellen Merkmale handeln und die Handlungen anderer bewerten: Welche Pflichte hätten wir gegenüber Jedem in einer ähnlichen Situation und was könnten wir von ihm verlangen? Natürlich haben Grenzen, Richtungen oder Modalität, worum es sich hier handelt, keinen inhaltlich-absoluten Charakter. Je nach historischer Situation können die Rechtsfolgen z. B. bei Mord so‐ wohl die Todesstrafe oder Freiheitsstrafe als auch die Ausweisung
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Kapitel 1. Das Rechtsereignis („Die Sache“)
oder die Zahlung von Wergeld sein. Und wir können nicht im ab‐ soluten Verhältnis sagen, dass die Todesstrafe die verhältnismäßige Strafe ist und die Zahlung einer Entschädigung nicht. Wir versu‐ chen jedoch auch nicht, gewisse ewige und absolut inhaltliche Re‐ geln darzulegen – dies ist das Prärogativ des klassischen Natur‐ rechts. Wir sind nur an der Ermittlung einer bestimmten tempo‐ ral-ontologischen Prozessualität interessiert, welche es uns ermög‐ lichen würde, die dynamische Sinn-Invariante des Geschehens zu beschreiben. Somit lässt sich die Spezifik der Rechtstat primär durch die Ana‐ lyse herausarbeiten, wer in Bezug auf wen handelt. Eine rechtlich relevante Tat richtet sich immer an den Anderen als Jeden, an des‐ sen Stelle der Dritte sein kann. Gibt es währenddessen immanente Charakteristiken der „Tat selbst“, die es ermöglichen würden, sie als rechtlich zu betrachten, d. h. die Möglichkeiten dafür beinhalten würden, der Anfang eines Rechtsereignisses zu werden?
Paragraph 3. Das «Wie» der Rechtstat Wie bereits erwähnt, bedeutet „Sache“ etymologisch einen Rechts‐ streit oder Rechtsprozess. Bei der Analyse von Thesen der Phi‐ losophie von M. Heidegger haben wir bereits gesehen, dass Sein selbst insofern umstritten ist, als es der Wechsel von Erschlossenheit und Verborgenheit ist, welcher das Maß für das Ereignende fest‐ legt. M. Heidegger nennt dieses Phänomen nämlich „Sache“, wel‐ che als „Strittigkeit des Seins“ einen eigenen Denkgegenstand bildet. Dementsprechend ist zu vermuten, dass die immanente rechtliche Relevanz der Tat gerade in ihrer „Strittigkeit“ liegt, darin, dass der Charakter der Tat im Rechtsereignis nicht ständig vor Augen ist, sondern abwechselnd ans Licht kommt und sich verbirgt. Juristisch gesehen kann die „Strittigkeit“ der Tat in der Unklarheit bestehen, ob sie rechtmäßig oder rechtswidrig ist, welche Rechtsfolgen sie nach sich zieht, ob es sie überhaupt gegeben hat, wer sie begangen hat usw. Auf den ersten Blick ist für die „Sache“ als Ausdruck der rechtli‐ chen Relevanz des sich Ereignenden die erste Frage entscheidend – nach dem rechtmäßigen bzw. rechtswidrigen Charakter der Tat, die der Sache den Anfang gemacht hat. Dabei ist jedoch zu bedenken,
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Paragraph 3. Das «Wie» der Rechtstat
dass die Stellung dieser Frage vorweg die rechtliche Relevanz der Tat – ihre Fähigkeit, in rechtlicher Hinsicht reflektiert zu werden – voraussetzt. Somit wollen wir nicht einfach unter Bezugnahme auf die Normen des positiven Rechts („Gesetz“) oder Thesen des Na‐ turrechts („Gerechtigkeit“) deduktiv ein Urteil über die Rechtmä‐ ßigkeit oder Rechtswidrigkeit der uns interessierenden Tat abgeben. Wir fragen tiefer: Was an der Tat selbst – sowohl an der „rechtmä‐ ßigen“ als auch der „rechtswidrigen“ – ermöglicht es, sie aus der Position des Rechts heraus zu verstehen? Vermutlich muss eine Tat, um rechtlich bedeutsam zu sein, einige immanente Charakteristiken aufweisen, die sie zu einer solchen ma‐ chen. In diesem Fall sieht die Hypothese des russischen Rechtsphi‐ losophen I. Newwaschay fruchtbar aus, nach der es notwendig ist, den systembildenden Faktor in Bezug auf das System des Seins von Rechtsformen hervorzuheben; d. h. ohne diesen Faktor werden von Menschen begangene Taten nicht als rechtlich thematisiert. Als sol‐ ches kann der Begriff des Schadens genommen werden. Rechtsbe‐ ziehungen entstehen dort, wo während des Umgangs der Menschen miteinander eine Person der anderen Schaden zufügen kann. 699 Traditionell wurden in der Rechtswissenschaft unter Schaden diejenigen negativen Folgen für Leben, Eigentum, Gesundheit und andere materielle oder immaterielle Güter (z. B. Ehre und Würde) verstanden, welche durch das rechtswidrige Verhalten des Täters gegenüber dem Opfer entstanden sind. Somit war nicht nur der Ver‐ lust von Gütern, sondern auch ein Gesetzesverstoß das notwendige Kriterium für die Einordnung der Tatsache der Schadenszufügung zur Sphäre des Rechts. Wie die Geschichte des Rechts zeigt, ist es jedoch möglich, einer anderen Person rechtlich relevanten Scha‐ den zuzufügen, ohne dabei positive Normen zu verletzen. Beispiels‐ weise, wie der französische Philosoph M. Foucault bemerkte, hat der Rechtskonflikt in der altgermanischen Gesellschaft seinen Ursprung nicht in der Rechtsverletzung, sondern in der Schadenszufügung. 700 699 Невважай И.Д. Социально-философские основания концепции правовой жизни//Философская и правовая мысль: Альманах. Вып.4. – Саратов-Сп-б.: «Научная книга», 2002. – S. 42. [Newwaschay I.D. SocialPhilosophical Foundations of Legal Life Concept//Philosophical and Legal Thought. – Saratov: Scientific Book, 2002]. 700 Фуко М. Истина и правовые установления// Интеллектуалы и власть – М.: Праксис, 2005. – S. 80. [Foucault M. Droit et Verite].
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Es ist kein Zufall, dass die Rechtsbücher des frühen Mittelalters (Lex Salica, Russkaja Prawda, die Gragas) weniger ein Verbot ir‐ gendwelcher Taten enthielten, sondern vielmehr als eine Art „Preis‐ liste“ des materiellen Äquivalents („Wergeld“) zum entstandenen Schaden dienten. Dementsprechend ist die „klassische“ Rechtsver‐ letzung im Sinne eines Verstoßes gegen die offizielle Norm eine his‐ torisch ziemlich späte Entwicklung und in ontologischer Hinsicht das sekundäre Ereignis, das aus dem älteren und ursprünglichen abgeleitet wird, nämlich der Schadenszufügung. Dabei gehört das Phänomen des Schadens an sich nicht aus‐ schließlich in die Sphäre des Rechts. Denn es kann durch Natur‐ katastrophe, Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen, Nieder‐ lage des Lieblingsfußballvereins usw. verursacht werden, wodurch es einen wirtschaftlichen, moralischen oder sportlichen Charakter erlangt. In all diesen Fällen verliert der Geschädigte etwas im ma‐ teriellen (Vermögen, Eigentum) oder seelisch-physischen (Unver‐ sehrtheit) Bezug wie bei einer Rechtsverletzung. Dementsprechend sollte, um die rechtliche Spezifik des Schadens herauszusondern (und damit die zugrundeliegenden Merkmale der rechtlichen Re‐ levanz der Tat zu definieren), dieses Phänomen nicht nur auf Ebene des Verlustes des Seienden (ontisch), sondern auch auf der existenti‐ ell-ontologischen Ebene reflektiert werden, d. h. auf der Seinsebene jener Menschen, die Schaden zufügen und ihn erleiden. Ursprünglich ist davon auszugehen, dass die rechtliche Spezi‐ fik des Schadens durch den schuldhaften Charakter der ihn ver‐ ursachten Tat existentiell-ontologisch bedingt ist. Gleichzeitig ist Schuld nicht im „klassischen“ Sinne zu verstehen, als die psychi‐ sche Einstellung des Menschen zu der von ihm begangenen Tat. Denn Recht kennt auch Verantwortlichkeitsfälle ohne solche Art der Schuld, beispielsweise als Folge des Schadens, welcher durch eine erhöhte Gefahrenquelle verursacht wurde. Ursprünglicher als die psychische Einstellung der Person zum Begangenen bedeutet Schuld: Quelle, Anfang, Grund, Anlass, Vorwand. 701 Ebenso be‐ zeichnet Schuld sowohl im Lateinischen (causa) als auch im Deut‐ 701 Даль В. Толковый словарь живого великорусского языка: В 4 т. – М.: Гос. изд-во иностр. и нац. словарей, 1955. – Т. 1: А – З. – S. 204. [Dal’ V. Dictionary of Russian Language. – Moscow: State Ed. of international and national Dictionaries, 1955].
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schen die Fähigkeit der Person, jene kausale Reihe anzufangen, die zum Eintreten des Schadens führt (führen kann). So Heideg‐ ger: „. . . vulgäre Bedeutungen von Schuldigsein als «Schulden haben bei. . . » und «schuld haben an. . . » können zusammengehen und ein Verhalten bestimmen, das wir nennen «sich schuldig machen», das heißt durch das Schuldhaben an einem Schuldenhaben ein Recht verletzen und sich strafbar machen . . . .Das geschieht nicht durch die Rechtsverletzung als solche, sondern dadurch, dass ich Schuld habe daran, dass der Andere in seiner Existenz gefährdet, irregeleitet oder gar gebrochen wird. Dieses Schuldigwerden an Anderen ist möglich ohne Verletzung des «öffentlichen» Gesetzes.“ 702 Da in der obigen Aussage der Existenz – dem Sein des Ande‐ ren – Schaden zugefügt wird, ist es laut Heidegger möglich, das Recht zu verletzen, ohne gegen die Vorschriften des positiven Ge‐ setzes zu verstoßen, welches den „Menschen als Seiendes“ schützt. Hier wird die Seinsverfassung des Menschen verletzt, Dasein, das als Sein-mit-Anderen genommen wird. Wie der deutsche Rechtsphilo‐ soph W. Heinemann bemerkt: „Beachtlich ist an dieser Stelle schon, dass Heidegger ausdrücklich darauf hinweist, dass durch ein Ver‐ halten, das ein Recht verletzt, zugleich – wenn auch nicht durch die Rechtsverletzung «als solche» – ein Anderer in seiner Existenz ge‐ fährdet, irregeleitet oder gar gebrochen werden kann.“ 703 Damit hat die Tat, die rechtlich relevant ist, immer „zweiseitigen Charakter“. Wie W. Heinemann betont, wird im Unterschied zur «traditionel‐ len» Rechtsverletzung, die nur für die Opfer den Schaden verursacht hat, in diesem Falle der Rechtsverletzung „nicht nur die Existenz des «Geschädigten», sondern auch die Existenz des «Schädigers» in ihrer Eigentlichkeit tangiert.“ 704 Daher sollte Schaden als grundle‐ gendes Merkmal der Rechtstat ursprünglich nicht ontisch-materiell (als Nachteil für das Seiende), sondern existentiell-ontologisch ver‐ standen werden, wenn der Schaden der Existenz, als Schaden an der Möglichkeit des Seins-mit-Anderen, zugefügt wird.
702 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 282. 703 Heinemann W. Die Relevanz der Philosophie Martin Heideggers für das Rechtsdenken. – Freiburg im Breisgau: Hohen Rechtswissenschaftlichen Fa‐ kultät der Albert-Ludwigs Universität, 1970. – S. 183. 704 Op.cit. S. 185.
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Zur Erläuterung des Gesagten ist anzumerken, dass bei W. Maihofer wir „uns“ selbst, mit Anderen koexistierend, als jemand „zeigen“: mit der Ehefrau als Ehemann, mit dem Arzt als Patient, mit dem Kunden als Auftragnehmer etc. Es ist jedoch möglich, „sich nicht als jemand zu zeigen“ (d. h. das eigene Wesen wahrhaft zu manifestieren), sondern nur als solcher zu scheinen. So z. B. scheint ein Arzt, der nicht heilt, nur ein Arzt zu sein und ein Bauun‐ ternehmer, der nachlässig baut, scheint nur ein Bauunternehmer zu sein. „Ein wahrer Arzt heilt richtig, ein wahrer Auftragnehmer ist ehrlich.“ Derjenige, der nur jemand zu sein scheint, aber das nicht im Wesentlichen ist, verhält sich insofern rechtswidrig, als sein Verhalten den Anderen in seinem Sein als „Kranker“, „Kunde“ usw. gefährdet, irreleitet oder bricht. Dabei leitet sich solche Seinsart als „Rechtsverletzer“ immer schon aus jener konkret-situativen rechtmäßigen Seinsart ab, deren Verletzung die Absage daran ist, im eigenen Wesen zu erscheinen. Eigentlich erweist sich die „existentielle Rechtswidrigkeit“ auf der Ebene des Daseins als Sein-mit-Anderen in Form der „Ab-sage“, „sich zu zeigen“, d. h. im eigenen Wesen zu erscheinen. Denn sowohl Mitsein als auch Alssein stellen keineswegs eine Art des „Ich“-Seins dar, sondern setzen immer das ursprüngliche „Wir“ voraus: Es gibt keinen Verkäufer ohne den Käufer, keinen Fahrgast ohne den Fah‐ rer, keinen Richter ohne den Angeklagten und genauso umgekehrt. Wir haben bereits gezeigt, dass der Andere für uns der ursprüngli‐ che Maßstab ist, der die Grenzen, die Richtung und die Modalitäten unseres Handelns in Bezug auf ihn festlegt. Wenn einer aus einem solchen «Bündel» heraus nicht erscheint, «wie er ist», sondern nur «als solcher scheint», fügt er somit unweigerlich dem Alssein des korrelativ mit ihm verbundenen Anderen Schaden zu und verwirrt ihn, d. h. beraubt ihn des Maßes im Sein-mit-Anderen. Somit er‐ weist sich der Schaden als Merkmal der rechtlichen Relevanz der Tat auf der existentiellen Ebene ursprünglich als Verletzung der ge‐ genseitigen Erschlossenheit in unserem Sein-mit-Anderen. Indem wir das Phänomen des „Sich-nicht-Zeigens“ als die exis‐ tentielle Grundlage des „Schadens“ spezifizieren, können wir drei seiner Modi ausgrenzen: „Ab-sage“, „Scheinbarkeit“ und „Be-stell“ (als Analogie zum Heideggerschen Ge-stell). „Absage“ ist also die vollständige Selbstverborgenheit desjenigen, der eine Tat begeht, welche auf den Anderen als Jeden gerichtet ist, an dessen Stelle
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Paragraph 3. Das «Wie» der Rechtstat
auch der Dritte sein kann. Gegenseitige Erschlossenheit im Dasein des Alsseins fehlt hier gänzlich. Der Täter ignoriert die Seinsart des zukünftigen Opfers sowie das festgelegte Maß an Handlungen; er ist vollkommen auf das Erreichen des ihn interessierenden Ergeb‐ nisses gerichtet. Dafür verbirgt der Täter nicht nur sich als empi‐ rische Person, sondern vor allem sein Alssein. Gleichzeitig sollte man, wie bereits erwähnt, nicht von der Verborgenheit des Seinsals-Verbrechers des Rechtsverletzers sprechen, da die Seinsart des «Verbrechers» als „jene, die den Anderen in seiner Existenz gebro‐ chen hat“, an sich schon eine Art «Ableitung» oder «Derivat» ist, das die entsprechende ursprüngliche – rechtmäßige – Seinsart verbirgt. Als Beispiel für „Absage“ kann Diebstahl oder Mord dienen. „Scheinbarkeit“ ist das scheinbare „Sein-als-jemand“. Sie findet statt, wenn die gegenseitige Erschlossenheit der Menschen in ih‐ rem Miteinandersein nicht ganz verschlossen ist, wie bei „Ab-sage“, sondern nur teilweise. Bei „Scheinbarkeit“ zeigt sich der Mensch in seinem Alssein als jemand, der er im Wesentlichen nicht ist. Er „ist“ nur jemandes „Schein“. Solcher „Schein“ kann das Ergebnis so‐ wohl einer absichtlichen „Scheinschaffung“ als auch eines Fehlers, eines Irrtums – „angeblicher Erschlossenheit“ sein. In strafrechtli‐ cher Hinsicht ist das Beispiel für Scheinbarkeit ein Betrüger, in zivil‐ rechtlicher Hinsicht ein nachlässiger Kontrahent. Auf der Ebene der Ehe- und Familienbeziehungen können Eltern erwähnt werden, die sich nicht um die Kinder kümmern, oder ein Vormund, der seine Rechte missbraucht. Als der dritte Modus des „Sich-nicht-Zeigen“ wurde „Be-stell“ genannt. Es kann am umfassendsten im Kontrast zur „Ab-sage“ verstanden werden: Beim „Be-stell“ stellt sich der Mensch „ab-ge‐ grenzt“ in seinem Sein „als jemand“, d. h. so vollständig und all‐ verschlingend, dass damit kein Raum für das entsprechende SichZeigen des Anderen als Verkörperung des Maßes seines Handelns bleibt. So ist z. B. ein Ermittler bei der Untersuchung einer Sache so in diese verwickelt, sodass dem Alssein als Angeklagter, Anwalt usw. „abgesagt“ wird. Sie werden vom Ermittler nicht als Maß, das die Grenze, Richtung und Modalität seines Handelns festlegt, gedacht, sondern nur als lästiges Hindernis auf seinem Weg. Dabei wird ver‐ gessen, dass der Ermittler, Staatsanwalt oder Richter vollkommen als solche nur in der Korrelation mit dem Sein des Angeklagten oder der Person im Untersuchungsverfahren, des Anwalts usw. sein kön‐
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nen. In dem gegebenen Beispiel findet die «Hypermanifestation» des Einen aus den Anderen statt, und zwar so, dass währenddessen den Anderen „abgesagt wird», sich zu zeigen, sie dürfen nur «entspre‐ chend» auf die Erscheinung des Alsseins als Ermittler reagieren. Das zivilrechtliche Beispiel für solche „Absage“ ist das Verhalten eines nachlässigen Eigentümers, der das Servitut ignoriert. Somit ist das Phänomen des Zufügens eines rechtlich relevanten Schadens ursprünglich in der Verfassung des menschlichen Seins (Dasein) als des gegenseitig erschlossenen Alsseins lokalisiert. Um diese These zu präzisieren, ist mit Heidegger daran zu erinnern, dass laut Heidegger: „Der formale Begriff des Schuldigseins im Sinne des Schuldiggewordenseins am Anderen lässt sich also bestimmen: Grundsein für einen Mangel im Dasein eines Anderen, so zwar, dass dieses Grundsein selbst sich aus seinem Wofür als «mangelhaft» be‐ stimmt. Diese Mangelhaftigkeit ist das Ungenügen gegenüber einer Forderung, die an das existierende Mitsein mit Anderen ergeht. Es bleibe dahingestellt, wie solche Forderungen entspringen, und in welcher Weise auf Grund dieses Ursprungs ihr Forderungs- und Gesetzescharakter begriffen werden muss.“ 705 In der obigen Aussage macht eine Anzahl von Punkten auf sich aufmerksam. Erstens setzt, wie man sehen kann, der deutsche Phi‐ losoph Rechtsverletzung tatsächlich mit dem Ungenügen gegenüber einer gewissen Forderung gleich. Zweitens richtet sich diese Forde‐ rung nicht an das „Ich“, sondern an das „Wir“ – das existierende Sein-mit-Anderen. Drittens führt das Ungenügen gegenüber der Forderung zum Mangel im Dasein des Anderen. Viertens, Ungenü‐ gen gegenüber der Forderung ist die Art des Mangelzufügens dem Dasein des Anderen. Betrachten wir diese Thesen genauer. Ungenügen gegenüber der Forderung wird also mit der Rechts‐ verletzung gleichgesetzt (was nicht gleich dem Gesetzesverstoß ist). Aber was für eine Forderung ist das? Es ist zu vermuten, dass diese Forderung wir selbst in unserem Miteinandersein sind, wenn wir, konkret koexistierend, das Maß des gegenseitigen Verhaltens als Grenze, Richtung und Modalität möglicher Handlungen festlegen. Denn in der zweiten der angeführten Thesen tritt als der „Adressat“ der Forderung nicht das „Ich“, d. h. das Individuum auf, sondern das
705 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 282.
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existierende Sein-mit-Anderen, das “Wir“. Hierzu W. Heinemann: „Das Dasein ist für Heidegger so wesentlich vom Existential des «Mitseins» geprägt, das damit ontologisch jeder «Aufbau» der So‐ zialität des Menschen aus der Begegnung von einzelnen Subjekten überholt erscheint.“ 706 D. h., die erwähnte Forderung ist das «Be‐ sagen» als unser gegenseitiges Sich-Zeigen im Miteinandersein als „Jede“, an deren Stelle der Dritte sein kann. Wie der deutsche Philo‐ soph B. Waldenfels zeigt, verkörpert sich der Andere als eine Art des Fremden im Anspruch, auf welchen wir antworten, wenn wir etwas antworten. Dieser Anspruch ist auf zweierlei Weise zu verstehen. Im Anspruch, den ich als Aufforderung wahrnehme, werden Ansprü‐ che und Anforderungen gestellt, von welchen noch nicht bekannt ist, ob sie rechtmäßig sind oder nicht. 707 Dementsprechend wird die Art des Gehorsams gegenüber der oben erwähnten „Forderung” als Anspruch, welche in der Figur des Anderen verkörpert ist, das Verhalten sein, das jener besonderen Art des Alsseins entspricht, in der sich uns der Andere zeigt. Kraft dessen gibt die „Forderung“ als das Ereignis der gegenseiti‐ gen Manifestation der Menschen in ihrem Miteinander-Sein keine inhaltlichen Vorschriften, sondern besagt von jedem darin, was und wie er ist und gibt somit eine bestimmte Art des Koexistierens als im Sein-mit-Anderen vor. Die Besonderheit dieser Art besteht darin, dass ihre einzige «positiv» definierte Eigenschaft als „Bewahrung der Erschlossenheit“ bezeichnet werden kann. D. h., es ist nicht so wichtig, was wir tun – Besagen kann es nicht vorschreiben. Wich‐ tig ist nur, wie wir uns zueinander verhalten, d. h. so, damit in sol‐ cher Koexistenz als Auftreten gegenüber Anderen die Wahrhaftig‐ keit des „Sich-Zeigens“ bewahrt bleibt und nicht zur zuvor erwähn‐ ten «Scheinbarkeit» wird. 708 706 Heinemann W. Die Relevanz der Philosophie Martin Heideggers für das Rechtsdenken. – Freiburg im Breisgau: Hohe Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs Universität, 1970. – S. 272. 707 Вальденфельс Б. Топографiя Чужого. Студiї до феноменологiї Чужого. К., 2002. – S. 102. [Waldenfels B. Topographie des Fremden]. 708 Somit ist häufig nicht das materielle Ergebnis („realer“ Schaden als solches) für den rechtmäßigen bzw. rechtswidrigen Charakter der entsprechenden Tat konstitutiv, sondern die Verhaltensart. So kann die Nichtrückzahlung der Geldeinlage von der Bank viel mehr Verluste verursachen als Diebstahl oder Raub, dies wird aber nicht als Straftat angesehen.
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Folglich, wenn wir uns dem dritten der in M. Heideggers Aussage angemerkten Punkte zuwenden, können wir schließen, dass das Er‐ gebnis der Rechtsverletzung als Ungenügen gegenüber der Forde‐ rung ein Mangel im Dasein des Anderen ist, seine gewisse exis‐ tentielle Unvollständigkeit und Mangelhaftigkeit. Wenn sich diese Beeinträchtigung, wie bereits erwähnt, auf der ontischen Ebene als Verlust materieller oder geistiger Güter äußert, dann wird auf der existentiellen Ebene Schaden der gegenseitigen Erschlossenheit zuge‐ fügt. Diese Verletzung der Erschlossenheit als Mangel im „Da“ des Daseins besteht in dem, was als „die Verwischung des Unterschie‐ des zwischen dem Möglichen und Unmöglichen“ bezeichnet werden kann. Für das „Sein-als-Käufer“ ist es also „unmöglich“, die Ware nicht zu bezahlen. Ohne zu zahlen, wird der Käufer zum Dieb und Schuldner. Dementsprechend ist es für den Verkäufer in seinem Alssein „unmöglich“, kein Geld für die Ware zu erhalten – in die‐ sem Fall wird er zum Spender, Opfer, Gläubiger usw. Mit anderen Worten, durch „Ungenügen gegenüber der Forderung“ wird gerade die gegenseitige Erschlossenheit in Frage gestellt, wenn nicht mehr zu verstehen ist „wer was ist“, d. h. die gewisse «gegenseitig abge‐ stimmte» Existenz wird unmöglich. 709 Also, die Rechtsverletzung fügt den Menschen auf existentieller Ebene Schaden zu in Form von Unvollständigkeit als „Mangel“ in ihrer gegenseitigen Erschlossenheit. Wie aus dem oben angeführten Zitat folgt, spricht M. Heidegger auf drei Arten von diesem Mangel: „gefährdet“, „irregeleitet“, „gebrochen.“ Da der deutsche Philosoph nicht konkretisiert hat, was genau gemeint ist, müssen wir es ge‐ nauer analysieren. Jedenfalls haben wir zuvor unter Verweis auf A. Polyakow angemerkt, dass der Andere das Maß für das Sein mit ihm für uns festlegt, indem er die Richtung, Grenze und Modali‐ tät unserer Handlungen bestimmt. Wir sind auch zum Schluss ge‐ 709 Laut A. Polyakow ist Recht da abwesend, wo es kein gegenseitig referierendes Verhalten gibt: Поляков А.В. Прощание с классикой, или как возможна коммуникативная теория права//Российский ежегодник теории права. – 2008. – No 1. – S. 17, 21. [Polyakow A.W. Good-bye to Classics of How the Communicative Theory of Law Possible Is?//Russian Yearbook of Legal Theory. – 2008. – No 1]. Hier ist es angebracht, hinzuzufügen, dass jedes ge‐ genseitig abgestimmte Verhalten nämlich erst auf Grundlage der primären ge‐ genseitigen Erschlossenheit in den entsprechenden Arten des Alsseins möglich wird.
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kommen, dass der existentielle Mangel, welcher dem Dasein durch die rechtswidrige Tat zugefügt wird, in der Verwischung des Unter‐ schiedes zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen besteht. Entsprechend dem Gesagten ist zu vermuten, dass der erwähnte Unterschied zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen eben in den Phänomenen der Grenze, Richtung und Modalität unseres Handelns lokalisiert ist. Da durch die Rechtsverletzung der „Mangel“ der gegenseitigen Erschlossenheit der Menschen zugefügt wird, kann als „gebrochen“ derjenige bezeichnet werden, für den die Anderen durch die Rechts‐ verletzung „verschlossen“ werden. Diese Verschlossenheit ist die Folge der „Gebrochenheit“ des Menschen durch die Verletzung der Verhaltensgrenze ihm gegenüber, wodurch er als Opfer vom Seinmit-Anderen „ausgesetzt“ wird. Mangel äußert sich hier darin, dass das Opfer von Anderen «entfremdet» ist. Die Grundgestalt dieser Entfremdung ist «Gleichgültigkeit». Wir können das Maß für das Verhalten anderer uns gegenüber nur insoweit festlegen, als wir in der entsprechenden Art des Alsseins die Grenzen des möglichen Verhaltens gegenüber uns selbst feststellen können. In dem Maße, in dem die erwähnten Grenzen (und die entsprechende Art des Alsseins) durch die Rechtsverletzung „gebrochen“ werden, sind An‐ dere dem Opfer „gleichgültig“, so wie er selbst ihnen „gleichgül‐ tig“ ist. Er ist nicht „jemand“, sondern nur ein „Opfer“. Der Hori‐ zont des Seins-mit-Anderen ist ihm verschlossen: Als Opfer kann er sowohl „im Wesentlichen“ nichts anderes sein als auch sind ihm alle „fremd“. Alle Möglichkeiten des Seins-mit-Anderen erschließen sich in diesem Fall nicht aus dem ursprünglichen Mit- und Als‐ sein, sondern aus dem Sein-als-Opfer. Da es sich hier aber nicht um die ursprüngliche (Horizont als Auffächerung der Möglichkei‐ ten), sondern abgeleitete, bezüglich der Erschlossenheit defekte Art des Alsseins handelt, so sind die sich aus ihr erschließenden Mög‐ lichkeiten «beeinträchtigt», weil sie uneigentlich sind. Daher sollte „Gebrochenheit“ als jener Mangel in der existentiellen Verfassung (Dasein) des Menschen verstanden werden, welcher durch die Tat verursacht wird, die die Grenze seines Seins-mit-Anderen verletzt («gebrochen») hat, infolgedessen der Verlust der Fähigkeit zu exis‐ tieren entsteht, d. h. sich ursprünglich (wahrhaft) im Sein-mit-An‐ deren zu manifestieren, eigene Grenzen in verschiedenen Arten des Alsseins überschreitend. Die höchste Variante der «Gebrochenheit»
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ist der Tod des Opfers, wenn es zum «Objekt» wird und nicht mehr als Grenze unseres Handelns dienen kann. Im Übergang zum Phänomen der „Irreleitung“, sollten wir uns daran erinnern, dass wir nach M. Heidegger in unserem Sein-mit‐ -Anderen ursprünglich auf sie gerichtet sind. 710 Im Alssein verhal‐ ten wir uns immer auf eine bestimmte Weise auf die Anderen gerich‐ tet. Mit anderen Worten, unser Mitsein ist durch eine Art „existenti‐ elle Intentionalität“ gekennzeichnet (in Analogie zur Intentionalität des Bewusstseins bei E. Husserl). 711 Da ihm eine solche „Intentio‐ nalität“ des Mitseins immanent ist, bedeutet dies gleichzeitig, dass dem Dasein als Sein-zu-den-Anderen ursprünglich der Horizont jener vielfältigen Arten erschlossen ist, womit sich Dasein als Mit‐ sein jedes Mal auf die Anderen gerichtet verhält. Es wurde bereits früher darauf hingewiesen, dass das grundlegende Merkmal jeder rechtmäßigen Existenzart die „Bewahrung der Erschlossenheit“ ge‐ nannt werden kann. „Irregeleitet werden“ bedeutet somit dasselbe wie die «Richtung verlieren», d. h. die Erschlossenheit jener Arten zu verlieren, in welchen sich Dasein als Mitsein und Alssein jedes Mal verwirklicht. Dementsprechend bedeutet „Irreleiten“, der Er‐ schlossenheit des Daseins solch einen Mangel zuzufügen, dass der Unterschied zwischen „möglichen“ und „unmöglichen“ Arten des Existierens mit Anderen verwischt wird. 712 Der Irregeleitete kann nicht mehr verstehen, wo er „rechtmäßig“ handelt und wo nicht. So will sich das Opfer des Verbrechens rächen, was auf dem Schaden gegenüber der Erschlossenheit des Mitseins als solcher beruht. Natürlich ist die vollständige Reflektion des Phänomens der Ra‐ che Gegenstand einer eigenständigen Forschung. Gleichzeitig ist bei der Erläuterung der gemachten Behauptung anzumerken, dass der‐ jenige, der Rache nimmt, aus eigenem Interesse, seinen persönli‐ chen Beweggründen handelt, welche zumeist nur ihm bekannt und nur für ihn von Wert sind. Gleichzeitig sehen diese anderen, mit welchen er sich im Mitsein befindet, diese „inneren Beweggründe“ nicht, sondern nur das „äußere Ergebnis“. Somit, indem er aus Ra‐ 710 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. –S. 108, 114 ff. 711 Intentionalität heißt hier, dass das Bewusstsein als ständig auf etwas „gerich‐ tet“ charakterisiert wird. 712 Siehe dazu die oben angeführte „Verwischung“ des Unterschieds zwischen dem Möglichen und Unmöglichen als Mangel im „Da“ des Daseins.
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che rechtswidrige Taten begeht, „verwischt“ er für andere jenen Un‐ terschied möglicher bzw. unmöglicher Umgangsarten mit anderen, welcher für ihn persönlich bereits durch das erlebte Unrecht „ver‐ wischt“ ist (die existentiell-ontologische Grundlage dafür ist der oben erwähnte Mangel der Erschlossenheit). Die dritte Art des durch die Rechtsverletzung hervorgerufenen Mangels im Dasein als Erschlossenheit des Miteinanderseins wurde als „Gefährdung“ bezeichnet. Solcher Mangel hat laut M. Heidegger den Charakter der „Bedrohung“. Dasein ist in diesem Fall in sei‐ nem Alssein mit Anderen quasi „in Frage gestellt“. „In Frage stellen“ heißt hier: die Möglichkeit für die Schadenszufügung der Existenz des Menschen in seinem Sein mit anderen Menschen sichtbar ma‐ chen. Und hier begegnen wir einem äußerst interessanten Phäno‐ men. Wenn es zuvor vor allem um das „Recht des Krieges“ ging, wobei die Tat als Folge der Schadenszufügung und des daraus resul‐ tierenden Rechtsstreites oder Konfliktes als rechtlich thematisiert wurde, so sehen wir hier, dass die rechtliche Relevanz der Tat sich ohne die tatsächliche Schadenszufügung als möglich erweist, wenn bloß die Möglichkeit besteht, ihn zuzufügen. Mit anderen Worten, bei der Reflektion der „Gefährdung“ kommen wir zu dem Schluss, dass dieses Phänomen hauptsächlich auf der Ebene des „Rechts des Friedens“ stattfindet, d. h. des «normalen» Verlaufs menschlicher Beziehungen. Zur Erläuterung des Gesagten sollte daran erinnert werden, dass in der zuvor angeführten Hypothese von I. Newwaschay die Tat dann rechtlich ist, wenn sie zum Schaden führen kann. Aber findet dies etwa nicht in dieser „Zeitschleife“ zwischen der Tat und ihren rechtlichen Folgen statt, welche wir zuvor erwähnt haben? Denn wir sind offensichtlich in der Zeitspanne, welche das Darlehen von der Rückzahlung dessen, Warenausgabe von der Überweisung, die Arbeit von ihrer Entlohnung trennt, „gefährdet“: ob das Geld zu‐ rückgezahlt, die Ware geliefert, die Arbeit bezahlt wird? Mit anderen Worten: Ereignet sich in diesem Fall Recht? Denn davon hängt es ab, ob wir uns in unserem Miteinandersein als „Gläubiger“, „Käu‐ fer“, „Auftragnehmer“ oder „Opfer“ erweisen? Dabei sollte „Gefähr‐ dung“ nicht ausschließlich im „friedlichen“ Aspekt verstanden wer‐ den. Die Tat, die uns in unserem Sein-mit-Anderen als mit Jedem, an deren Stelle der Dritte sein kann, „gefährdet“, kann sowohl ein versuchter Mord, ein Verkauf von Waren ohne Quittung als auch
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ein Verhör ohne Anwalt und vieles mehr sein. Allen diesen Bei‐ spielen gemeinsam ist die „fragende Haltung in der Möglichkeit des Nichtseins“, wenn wir in unserem Sein-mit-Anderen in der entspre‐ chenden Art des Alsseins „in Frage gestellt“ werden. Somit erweisen sich die Zweifel der Vertreter des dynamischen Rechtsverständnisses, ob die „Destillation von Recht“ prinzipiell möglich ist, d. h. die Ausgliederung aus dem Synkretismus des sozia‐ len Verhältnisses seiner rechtlichen Komponente, als gelöst. Recht ist in jeder gesellschaftlichen Beziehung in der «Zeitschleife» lo‐ kalisiert, welche die Tat von ihren Rechtsfolgen trennt. Und im gleichen Moment, wenn die angemessenen Rechtsfolgen rechtzei‐ tig eintreten, verschwindet der rechtliche Charakter des Ereignen‐ den und räumt Platz für die wirtschaftlichen, politischen oder an‐ deren Komponenten ein. Und umgekehrt: In jeder «wirtschaftli‐ chen», «politischen» und sonstigen Beziehung rückt «das Hängen‐ bleiben», d. h. die Verzögerung, die Abwesenheit der rechtzeitigen Rechtsfolgen der begangenen Tat eben die rechtliche Komponente des Geschehens in den Vordergrund. So wird in im Wesentlichen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bank und dem Kunden (Kredit, Einlage), die darauf abzielen, einen Gewinn für die Parteien zu erzielen, aufgrund des Rückzahlungsverzugs beim Kredit oder der Weigerung, die Einlage auszuzahlen, die rechtliche Komponente deutlich akzentuiert. Dementsprechend ist zu vermuten, dass die Möglichkeit für die Akzentuierung des rechtlichen Charakters des Geschehens ursprünglich in dem zeitlichen Maß zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen wurzelt. Die vollständigere Entwicklung dieser Hypothese, die für die temporale Ontologie des Rechts von zentraler Bedeutung ist, wird im Weiteren vorgenommen. Denn die Frage, wie genau das Ungenügen gegenüber der Forderung dem Dasein einen Schaden (Mangel) zufügt, bleibt unbeantwortet. Dies ist der vierte der oben erwähnten Punkte in M. Heideggers Aussage. Die Art, dem Dasein als existierendem Mitsein und Alssein Scha‐ den, den „Mangel“ zuzufügen, ist der Unfug gegenüber der Forde‐ rung. Ein gemeinsamer (und kaum zufälliger) Wortstamm sowohl von „zufügen“ als auch von „Unfug“ macht auf sich aufmerksam – „Fug“. Dementsprechend entsteht ein „Mangel“, d. h. die Verschlos‐ senheit des Daseins durch die Nichteinhaltung einer bestimmten Ordnung oder eines „Ritus“, welches durch Forderung „vor-gege‐ ben“ wird. Dadurch wird die Erschlossenheit verletzt. Dementspre‐
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chend, im Falle der Einhaltung des Ritus, dadurch man sich ihm fügt, wird sie bewahrt. Wie wir bereits gesagt haben, sind wir selbst diese Forderung in unserem Miteinandersein, wenn wir, konkret ko‐ existierend, somit füreinander das Maß des Verhaltens als Grenze, Richtung und Modalität möglicher Taten festlegen. Somit wird unter „Fug“ eben die erwähnte Modalität verstan‐ den – die Koexistenzart, welche für die Bewahrung der gegensei‐ tigen Erschlossenheit der „Jeder“ grundlegend ist. Obwohl solche Erschlossenheit dem Dasein als Mitsein „natürlich“ innewohnt, gibt es sie beim Existieren im Mitsein und Alssein jedoch nicht „automa‐ tisch“, und sie bedarf einer Bewahrung. Dabei ist der konkrete Fug als die Art der Bewahrung der gegenseitigen Erschlossenheit der Menschen jedes Mal durch die sich gegenseitig entsprechenden Ar‐ ten des Alsseins vorgegeben (bedingt), die sich im „Be-sagen“ als der Manifestation des eigenen Wesentlichen zeigen. Folglich verschließt die Selbst-Verborgenheit in einem der drei oben genannten Modi („Ab-sage“, „Schein“, „Be-stell“) den „Fug“ als die Art, auf welche die Bewahrung der Erschlossenheit im Miteinandersein möglich ist, und macht diese unmöglich. Die rechtliche Relevanz der Tat als des Anfangs des Rechtsereig‐ nisses besteht somit darin, dass diese Tat die Möglichkeit der Scha‐ denszufügung immanent beinhaltet und auf den Anderen als Jeden gerichtet ist, wobei an der Stelle des Jeden auch der Dritte sein kann. In diesem Fall handelt es sich nicht unbedingt um eine „bedachte“, „bewusste“ Tat. Meistens wählen wir unseren „Platz“ im Rechtser‐ eignis nicht aus. Ein ahnungsloser Fußgänger, der am Straßenrand steht, kann im Handumdrehen von einem Fahrer überfahren wer‐ den, welcher die Kontrolle verliert oder bei welchem die Bremsen versagen. Eben die Tat als solche – Tätigkeit oder Untätigkeit – ist unsere „Eintrittskarte“ in die Sache. Wie W. Bibikhin zeigt: „Das Subjekt beim Handeln ist streng genommen ein Freitischler. Nicht ich bereite das Handeln vor und handle, sondern das Handeln als Anfangsereignis lässt mich sein.“ 713 Solches Handeln (Tat), welches mich in ein Rechtsereignis verwickelt, kann sowohl meines als auch 713 Бибихин В.В. Ранний Хайдеггер (материалы к семинару). – М.: Институт философии, теологии и истории Святого Фомы, 2009. – S. 413. [Bibikhin V.V. Early Heidegger (materials to the workshop). – Moscow: Insti‐ tute of Philosophy, Theology and History of Holy Thomas, 2009].
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Kapitel 1. Das Rechtsereignis („Die Sache“)
das des Anderen sein, und wir sind hier als „Jeder“ genommen und gegenseitig austauschbar. Es ist eben diese Tat, welche nach der tref‐ fenden Aussage von W. Bibikhin weniger vom Menschen selbst be‐ gangen wird, sondern vielmehr den Menschen zum ersten Mal zum Teilnehmer dessenmacht, worin lediglich er sich eben als Mensch verwirklichen kann – dem Teilnehmer am Ereignis, 714 welches uns zum ersten Mal in die Sphäre des Rechts einführt und schließlich ins Rechtsereignis verwickelt – in die Sache.
714 Op.cit. S. 12.
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Kapitel 2. Das Rechtssein (der Zug) als Treibkraft des Rechtsereignisses (der Sache) Die Justiz, wie es im Gesetz heißt, wird von der Schuld selbst angezogen. F. Kafka, Der Prozess
Das Rechtsereignis erweist sich also ursprünglich als die beson‐ dere „Wende zu den Sachen“, wenn im Zuge der Begehung der Rechtstat alles Seiende, welches mit dieser zusammenhängt – Men‐ schen, Dinge, Texte – für bestimmte Zeit zum (rechtlich relevanten) Rechtsseienden wird. Das Sein des Rechtsseienden bezeichnen wir terminologisch als Sein des Rechts. Dabei erlangt Seiendes die recht‐ liche Seinsart nicht „für immer“, sondern nur für die Zeit zwischen der Rechtstat und den ihr angemessenen Rechtsfolgen. Mit ande‐ ren Worten, die temporale Grundlage für die rechtliche Seinsart des Seienden ist die Zeitlücke zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen. Wie bereits erwähnt, hat die Verbindung zwischen der Tat und den Rechtsfolgen keinen kausalen oder formal-logischen, sondern zeit‐ lich-ontologischen Charakter. Sie äußert sich als eine Art „Anzie‐ hung“, wenn die begangene Tat ihre Rechtsfolgen quasi „anzieht“ und zugleich Seiendes ins Rechtsereignis einbezieht: Menschen, Dinge, Texte usw. Diese Anziehung, die dem Seienden die rechtliche Seinsart vorgibt, nennen wir Rechtssein, was anders ebenso als Zug bezeichnet werden kann. Das Rechtssein (Zug) ist nicht das Sein des Rechtsseienden bzw. Rechts), sondern sogenanntes „reines“ Sein, gedacht ohne Anhalt auf Seiendes. Im Gegenteil, nur durch solchen Zug, d. h. Anziehung zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen, kann jedes konkrete Seiende rechtlich werden. Mit anderen Worten, das Rechtssein, das sich in der Zeitspanne zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen verwirklicht, ist der temporal-ontologische Horizont des Seins des Rechts – des Seins des rechtlichen Seienden. Somit tritt an die Stelle der deontologischen Differenz des Rechts zwischen Sein und Sollen, welche den Grundstein der Rechtsmetaphy‐ sik bildet, die ontologische Differenz des Rechts (zwischen dem Sein
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Kapitel 2. Das Rechtssein als Treibkraft des Rechtsereignisses
des Rechts und dem rechtlichen Seienden), welche in der postonto‐ logischen rechtlichen Differenz gegründet ist (zwischen dem Sein des Rechts und dem reinen Rechtssein oder „Zug“). Die ontologische und postontologische Differenz des Rechts sind jene Koordinaten der Rechtsbesinnung, welche es ermöglichen, die uns interessierende Frage zu beantworten, wie es überhaupt möglich ist, dass Recht „ist“. Die Anführungszeichen sollen hier die Tatsache bezeichnen, dass wir mit „ist“ nicht das metaphysische – absolute und ewige – Sein-Sollen des Rechts meinen, sondern die dynamische Prozessua‐ lität für das Entstehen und Verschwinden von Recht. Wir nennen jenes Rechtsereignis („Sache“), welches ontologisch die ganzheitli‐ che Einheit von Rechtssein („Zug“) und Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) darstellt.
Paragraph 1. „Die Spur“ als der Anlass für den Zug Anzunehmen ist, dass Rechtssein als Zug nicht aus dem Nichts ent‐ steht, sondern durch die Begehung einer Rechtstat verursacht wird. Dementsprechend ist zu durchdenken, was genau in der Tat selbst die Fähigkeit hat, den erwähnten Zug zu „verursachen“ und damit das Ereignis „in rechtlichen Gang zu setzen“. Zuvor wurde schon gesagt, dass der rechtliche Charakter der Tat darauf zurückzuführen ist, dass sie „die Möglichkeit des Schadens enthält“. Dementspre‐ chend sollte diese Möglichkeit so gedeutet werden, dass sich ihre Verbindung mit dem Rechtssein (Zug) als notwendig erweist. Es ist zu vermuten, dass jede Tat – rechtlich relevante Tätigkeit oder Untätigkeit –Art von „Spuren“ auf jenem Seienden hinter‐ lässt, welches auf die eine oder andere Art mit ihr verbunden ist. Auf der ontischen Ebene kann dies der Verlust oder Erwerb von materiellen Gütern, Änderung der Rechtsstellung (des Status) der Person und schließlich „Spuren“ an Sachen oder am Tatort sein – Fingerabdrücke, Stoffstücke, Speichelreste, vergessene oder verlo‐ rene Gegenstände usw. Die Spur weist immer auf jene tatsächliche oder mögliche existentielle Unvollständigkeit hin, welche die Folge der Rechtstat ist. Eigentlich äußert sich der Schaden selbst, welcher durch die Tat zugefügt wird oder werden kann, auf der ontischen Ebene als ihre „Spur“, welche im Sein des entsprechenden Seienden hinterlassen wird. Dabei muss die „Spur“ aber nicht rein negativ
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Paragraph 1. „Die Spur“ als der Anlass für den Zug
verstanden werden: Denn die „Spur“ der Rechtstat kann auch durch ein Abkommen erworbenes Eigentum sein; wenn wir das Geld zah‐ len, in einem Augenblick zeitlich im Sein-als-Käufer „hängenblei‐ ben“ und schließlich das Gekaufte erhalten. Mit anderen Worten, so wie die Rechtstat nicht notwendigerweise tatsächlich den Schaden zufügt, sondern die Möglichkeit solchen Schadens enthält, so kann auch die „Spur“ der Rechtstat bloß die Möglichkeit des Schadens „darstellen“. Insofern die Rechtstat nie vom isolierten „Einzelnen“ begangen wird, sondern im existierenden Sein-mit-Anderen als Jeden, wenn auch der Dritte an der Stelle des Jeden sein kann, hat die „Spur“ die‐ ser Tat immer einen „zweiseitigen Charakter“. Mit anderen Worten kann die „Spur“ als die Möglichkeit der Schadenszufügung im Sein sowohl desjenigen, auf den sie gerichtet ist, als auch desjenigen, der sie begangen hat, „hinterlassen“ werden. Früher haben wir bereits auf W. Heinemann verwiesen, laut welchem im Falle der Rechts‐ verletzung der Schaden nicht nur der Existenz des Opfers, sondern auch der des Schädlings zugefügt wird. Denn auch derjenige, der die Straftat begangen hat, erweist sich in seinem Sein-mit-Anderen als „verschlossen“. 715 An dieser Stelle sei noch hinzugefügt, dass das Wort „Mangel“, 716 das M. Heidegger auch in dem zuvor analysier‐ ten Spruch von Anaximander verwendet, nicht nur „Makel“, son‐ dern auch „Not“, „Defizit“ und „Unvollständigkeit“ bedeutet. Eine rechtlich relevante Tat kann nicht nur existentielle, sondern auch ontische „Unvollständigkeit“ des Handelnden oder desjenigen, auf den sie gerichtet ist, nach sich ziehen. Nachdem ich die Ware über‐ tragen habe, bin ich „unvollständig“, „habe einen Mangel“, bis ich die Zahlung dafür erhalten habe. Ebenso hat das Opfer der Straf‐ tat „Mangel“ an dem, was es dadurch verloren hat: Leben, Gesund‐ heit, Eigentum usw. Eigentlich ist solche durch die Tat verursachte „Not“ eben das, was das Rechtsereignis „auslöst“ („die Sache in Gang setzt“), wenn die begangene Unvollständigkeit ihre Rechtsfol‐ gen „anzieht“, welche die Situation durch die „Vervollständigung“ des entsprechenden Teilnehmers errichten würden.
715 Ein markantes Beispiel dafür ist Rodion Raskolnikow in „Verbrechen und Strafe“ von F. Dostojewski. 716 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001 – S. 282.
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Kapitel 2. Das Rechtssein als Treibkraft des Rechtsereignisses
Eine rechtlich relevante Tat setzt also, wie zu sehen ist, immer ein gewisses „existentielles Vakuum“ voraus, d. h. kann existenti‐ elle Unvollständigkeit verursachen, sowohl bei demjenigen, an den sie gerichtet ist, als auch bei demjenigen, der sie begeht. Insofern die „Füllung“ dieses Vakuums in jedem konkreten Fall nicht ge‐ währleistet werden kann, enthält die Rechtstat immanent die Scha‐ densmöglichkeit. Diese Schadensmöglichkeit (bzw. die Wirklichkeit seines Zufügens) ist nämlich das, was im Sein des Rechts – dem Sein des rechtlichen Seienden – als „Spur“ der Tat eingeprägt ist. Im Falle, wenn Recht geschehen ist und die Tat die ihr angemes‐ senen Rechtsfolgen nach sich gezogen hat, verliert diese „Spur“ ihre rechtliche Bedeutung, ebenso wie dies einer benutzten Eintrittskarte nach dem Theaterbesuch passiert. Im Gegenteil, wenn das Rechtser‐ eignis „hängen bleibt“ und den strittigen Charakter der „Sache“ ans Licht bringt, „ruft“ die erwähnte „Spur“ als Unvollständigkeit (der Abdruck des Begangenen) nach seiner Vervollständigung, indem sie als „Streitgegenstand“, „Beweis“ oder „Gegenstand einer Straftat“ daran „hängende“ Rechtsfolgen heranzieht.
Paragraph 2. Die Vervollständigung als die Grundgestalt des Rechtsseins (des Zuges) Wie man schlussfolgern kann, „löst“ die rechtlich relevante Tat das Rechtssein vermittels der „Spur“ „aus“, welche sie sowohl im Sein des Handelnden als auch desjenigen, an den diese Tätigkeit oder Untätigkeit gerichtet ist, hinterlässt. Diese Spur ist paradoxer Na‐ tur. Allein durch die Tatsache ihrer Anwesenheit kann sie nicht nur auf etwas Abwesendes, Vergangenes hinweisen, sondern auch auf etwas, was noch nicht herbeigekommen ist. Wie bereits erwähnt, hinterlässt die Rechtsverletzung ihre ontische Spur in Form des tat‐ sächlichen Verlustes – der Gesundheit, des Eigentums usw., welcher infolge der entsprechenden Tat erlitten wird. Aber auch eine recht‐ mäßige Tat (welche die Möglichkeit des Schadens immanent ent‐ hält) hinterlässt eine bestimmte Spur: den Schuldschein, laut wel‐ chem dem Gläubiger in der Zukunft etwas zusteht, ein unterzeich‐ neter Tausch oder eine Quittung, die den Kauf der Ware bestätigt – all dies sind jene ontischen Spuren möglicher Schäden, die durch die rechtlich relevante Tat verursacht werden könnten (und vielleicht
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Paragraph 2. Die Vervollständigung als die Grundgestalt des Rechtsseins
noch werden). Die paradoxe Natur der rechtlichen Spur liegt also darin, dass sie die Spur von etwas sein kann, was noch nicht ge‐ schehen ist (und vielleicht auch nicht geschehen wird), welche aber eben durch ihre „Leere“ das Füllen durch den Eintritt der Rechts‐ folgen der begangenen Tat „erfordert“. Einfach ausgedrückt ist die Spur in jedem Fall ein Abdruck des tatsächlich Geschehenen: Dieser Abdruck kann aber sowohl auf den wirklichen, durch die Tat verur‐ sachten Schaden hinweisen, als auch auf das, was durch die Tat erst noch geschehen kann. Jedem Rechtsanspruch oder jeder Rechtspflicht liegt dementspre‐ chend, wie wir sehen, eine Spur als tatsächliche oder mögliche „Un‐ vollständigkeit“ zugrunde, die durch die rechtlich relevante Tat ver‐ ursacht wird. 717 Unvollständigkeit bedeutet in diesem Fall sowohl ontische Unvollständigkeit (Verlust von materiellen oder anderen Gütern) als auch existentielle Unvollständigkeit – den Mangel in der Erschlossenheit des Miteinanderseins. Gleichzeitig ist die temporale Voraussetzung für die Möglichkeit jeglicher Unvollständigkeit, die es ermöglicht, sie als solche zu deuten, die zeitliche Lücke, die die Differenz zwischen „vorher“ und „nachher“ enthält. Mit anderen Worten, dadurch, dass der mögliche oder tatsächliche Schaden, der durch die Rechtstat zugefügt wird, in Form einer Spur verdinglicht wird, verkörpert diese Spur, welche darauf hinweist, was gesche‐ hen ist oder geschehen könnte, selbst jene „Unvollständigkeit“ als Differenz zwischen dem „vorher“, was „vor“ der Tat war, und dem, was „nachher“ ist (sein kann). Die Spur, welche durch die Tatsache ihrer Anwesenheit den Mangel verkörpert, weist auf einen gewissen „primären“, „ursprünglichen“ Zustand hin, in welchem die Unvoll‐ ständigkeit des „Noch“ oder des „Schon“ nicht mehr existiert. Gleichzeitig sollte verdeutlicht werden, dass unter „dem Pri‐ mären“ oder „der Ursprünglichkeit“ in diesem Fall nicht der chro‐ nologische Beginn gemeint ist, sondern der früher erwähnte An‐ fang. Insofern auch die Zukunft eine Spur hinterlassen kann, ist zu bedenken, dass die Rechtstat als Anfang des Rechtsereignisses nicht nur „in“ die Zukunft geht, sondern gleichzeitig (als Rechtsfolgen des Begangenen) aus dieser „ankommt“. Somit, wenn die Tat den 717 Damit ist zumindest die Richtung einer Antwort auf die von A. Reinach ge‐ stellte Frage nach dem Ursprung der rechtlichen (und nicht irgendeiner ande‐ ren) Natur der Forderung oder Pflicht gefunden worden.
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wirklichen Schaden zugefügt hat, wird der erwähnte Unterschied als Feststellung der Differenz zwischen dem Zustand „vor“ der Tat und „danach“, d. h. nach der Tat aktualisiert – zwischen der Ver‐ gangenheit der Tat und der Gegenwart ihres Ergebnisses. Doch für den Fall, dass der Schaden nur möglich ist, wird dieses „Nachher“ in die Zukunft verschoben, die nur durch die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts charakterisiert ist, während das „Vorher“ der Tat in der Gegenwart bleibt. Verleiht der Gläubiger beispielsweise Geld, so erleidet er in der Gegenwart keinen Schaden, d. h. zum Zeitpunkt der Geldübergabe an den Schuldner: Denn der Schaden kann doch erst bei Zahlungsverzug des Schuldners aus der Zukunft kommen. Und gleichzeitig setzt die Geldübergabe an einen Betrüger, der nur scheinbar ein Schuldner ist und die Schulden nicht zurückzahlen wird, keine zukünftigen Handlungen voraus, sondern nur den tat‐ sächlichen Schaden, den das Opfer bereits im gegenwärtigen Mo‐ ment der Geldübergabe erleidet. Bemerkenswert an den obigen Beispielen ist, dass sowohl im ers‐ ten als auch im zweiten Fall der Zug zwischen der Tat und den Rechtsfolgen den Charakter der Vervollständigung hat. So entsteht einerseits Rechtssein durch die Rechtstat vermittels der „Spur“, wel‐ che diese Tat im Sein der mit ihr verbundenen Seienden hinter‐ lässt. Andererseits wird das Sein dieses Seienden erst durch den Zug zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen rechtlich, welcher seine Seinsart ändert. Des Weiteren „verhilft“ rechtliches Seiende quasi dem Rechtssein, sich zu verwirklichen, indem es die der Tat angemessenen Rechtsfolgen heranzieht. Mit anderen Worten, je‐ des rechtliche Seiende als „Person“, „Sache“ oder „Text“ ist „darauf gerichtet“, den tatsächlichen oder möglichen Schaden (existentielle Unvollständigkeit) zu vervollständigen, dessen „Spur“ das Recht‐ sereignis „ausgelöst“ hat. Sowohl die Tatsache des Schadens (der existentiellen Unvollständigkeit) als auch die Möglichkeit solchen Schadens aus der Vergangenheit oder Zukunft „ziehen“ vermittels des Rechtsseienden ihre Rechtsfolgen „an“, welche die angegebene Unvollständigkeit „vervollständigen“ und damit das Rechtsereignis „ausschöpfen“ würden. Wenn die Tat, die Schaden zugefügt hat, un‐ umkehrbar ist (etwa Mord), so zwingt der sich in Richtung Zukunft entfaltende Zug den Täter, die zugefügte Unvollständigkeit vermit‐ tels seines Seins (Todesstrafe, Prügelstrafe) oder Zeit (Verbannung, Inhaftierung usw.) zu „vervollständigen“.
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Paragraph 2. Die Vervollständigung als die Grundgestalt des Rechtsseins
Somit lässt sich feststellen, dass Rechtssein als Zug auf der exis‐ tentiellen Ebene durch jene mögliche oder tatsächliche Unvollstän‐ digkeit des existierenden Daseins des Alsseins als Miteinanderseins verursacht wird, welche, als Spur dargestellt, das Ergebnis der recht‐ lich relevanten Tat ist und seine Vervollständigung „erfordert“. In dem Maße, in dem solche Tat als Anfang des Rechtsereignisses dient, welches vielfältiges Seiende einbezieht und ihm die rechtli‐ che Seinsart verleiht, erhält dieser Zug (Rechtssein) nicht mehr nur einfach eine existentielle, sondern auch eine ontologische Verwur‐ zelung. Gleichzeitig sollte betont werden, dass Recht nur dann ge‐ schieht und Rechtsereignis nur dann „erschöpft“ ist, wenn die se‐ kundäre Tat (Rechtsfolgen) der primären entspricht, sie quasi „ver‐ vollständigt“. Anderenfalls wird eine neue (dritte) Tat erforderlich, welche den „unangemessenen Rest“ der vorherigen Tat erschöp‐ fen würde (etwa die Heranziehung der Person zur Verantwortlich‐ keit für die Überschreitung der Grenzen der notwendigen Verteidi‐ gung). Zudem sollte hinzugefügt werden, dass aufgrund der oben beschriebenen Spezifik der Rechtstat auch die Begehung der „Ge‐ gentat“ an den „Dritten“ „übertragen“ werden kann. 718 Beispiels‐ weise im Fall eines Mordes, wenn das Opfer selbst keine Gegen‐ tat mehr begehen kann, „tritt“ an seine Stelle der Dritte, der die entsprechenden Handlungen vornimmt und dadurch im Zuge des „Rechtsereignisses“ Recht spricht. Somit ist ersichtlich, dass die zuvor erwähnte Verbindung zwi‐ schen der Tat und ihren Rechtsfolgen ursprünglich temporal-onto‐ logischen Charakter hat. Auf der ontologischen Ebene wird diese Verbindung durch jene tatsächliche oder mögliche existentielle Un‐ vollständigkeit („Schaden“, „Verschlossenheit“) verursacht, welche das Ergebnis der begangenen Tat ist und vermittels des rechtlichen Seienden die Rechtsfolgen heranzieht, seine Vervollständigung er‐ fordert. Im temporalen Aspekt entdecken wir, dass jeder Schaden als konstitutives Merkmal der rechtlich relevanten Tat als solcher nur aus der zeitlichen Lücke reflektiert werden kann, welche die Differenz zwischen der existentiellen Vollständigkeit (Erschlossen‐ heit), die „vor“ der Tat existiert hat, und der möglichen oder tat‐ sächlichen Unvollständigkeit (Verschlossenheit) „danach“, darstellt. 718 Wiederum aufgrund der Vereinbarung der Parteien, des Gesetzes, der Sitte, der Logik der Situation.
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Kapitel 2. Das Rechtssein als Treibkraft des Rechtsereignisses
Dabei ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die erwähnte Dif‐ ferenz und Unvollständigkeit keine logisch begründete Diskrepanz zwischen einem gewissen „richtigen“ Zustand und der bestehenden Sachlage ist. Insofern wir selbst an die Stelle des metaphysischen Sollens – der naturrechtlichen oder der positiv gesetzten Norm – in der temporalen Rechtsontologie als Jeder treten, welche in unserem Alssein-mit-Anderen das Maß (Grenze, Richtung und Modalität) des Verhaltens zueinander sind, ist diese Unvollständigkeit existen‐ tiell-ontologisch. Mit anderen Worten, die Anziehung, die zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen besteht, wurzelt nicht in der me‐ taphysischen Normativität des Sollens, sondern in der Verfassung unseres Seins – dem Dasein, genommen unter dem Gesichtswinkel des Alsseins-mit-Anderen, wenn an der Stelle von jedem von uns ein „Dritter“ sein kann. Insofern diese Anziehung, wie bereits er‐ wähnt, durch die zeitliche Lücke und existentielle Unvollständigkeit bedingt ist, stellt sie den temporal-ontologischen Zug dar – reines Rechtssein. Es ist zu bedenken, dass Rechtssein strikt vom Sein des Rechts – Sein des rechtlichen Seienden – zu unterscheiden ist. Das letztere entsteht nicht willkürlich, sondern nur im Zusammenhang mit dem ersten, wenn Rechtssein, das sich als Zug verwirklicht, allem Sei‐ enden die rechtliche Seinsart verleiht, welches in solche Verwirkli‐ chung einbezogen ist. Mit anderen Worten, der Zug zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen, welcher im Laufe des Rechtsereignis‐ ses stattfindet, zieht jedes mit dieser Tat verbundene Seiende in sich hinein und wendet das Sein dieses Seienden von „physisch“, „wirtschaftlich“ bzw. „politisch“ in das Sein des Rechts – Sein des rechtlichen Seienden. Damit ist die bereits angeführte Behauptung von G. Seubold, dass, wenn das Ereignis sich ereignet, andere Seins‐ möglichkeiten abgeschnitten werden, mit konkretem Inhalt gefüllt. Dank der temporalen Rechtsontologie wird es möglich, den rechtli‐ chen Charakter des Ereignisses nicht dogmatisch zu postulieren und nicht formal oder logisch zu definieren, sondern sich ausgehend von der eigentlichen Natur des Ereignisses darauf zu besinnen – aus dem Zug zwischen der begangenen Tat und ihren Rechtsfolgen.
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Paragraph 3. Die Temporalität als Horizont des Rechtsseins
Paragraph 3. Die Temporalität als Horizont des Rechtsseins Im Gegensatz zum metaphysischen Sein-Sollen des Rechts, welches „außerhalb der Zeit“ in der absoluten Dimension des Sollens an‐ wesend ist, verwirklicht sich Rechtssein als Zug aus der Zeit als dem Horizont des Rechtsseins. Aber wie genau geschieht dies? Wie genau zieht der Zug die Rechtsfolgen der begangenen Tat an? Es ist zu vermuten, dass die Suche nach Antworten auf diese Fragen in der Zeitebene liegt. Die Zeit des Rechtsereignisses wurde zuvor formal als Zeitlücke zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen be‐ zeichnet. Wenn die Tat als Anfang des Rechtsereignisses gleichzei‐ tig schon Rechtsfolgen enthält, welche aus der Zukunft ankommen, dann kann die erwähnte Lücke keine einfache zeitliche Pause sein, die mit einer Reihe gleichartiger „Jetzts“ gefüllt ist, keine Kette, die sich aus der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt. Wie wir bereits gesehen haben, kann im Rechtsereignis die Zukunft in gewissem Sinne der Vergangenheit und der Gegenwart vorausgehen und als die der Tat immanenten Rechtsfolgen „ankommen“. Deswegen, um sich auf den Charakter des Rechtsseins vollständig zu besinnen, ist es notwendig, zunächst einige Besonderheiten der Zeit des Recht‐ sereignisses aufzudecken. Die gewöhnliche Zeitanalyse unterteilt sie in eine aufeinander‐ folgende Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eben auf diesem Verständnis von Zeit gründet z. B. A. Polyakow, der in einer Polemik mit einem anderen Vertreter des dynamischen Rechtsverständnis‐ ses, I. Tschestnow, anmerkt, dass „das Phänomen des Rechts gerade darin besteht, dass es (Recht) nicht in der Vergangenheit existiert (in der Vergangenheit kann nur das sein, was irgendwann Recht war), aber es existiert auch nicht in der Zukunft (in der Zukunft kann nur das sein, was irgendwann zum Recht wird). Recht ist die Realität der Gegenwart, es ist das, was zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt.“ 719 Diesem Postulat des russischen Rechtswis‐ senschaftlers kann man jedoch nicht ganz zustimmen. So behaup‐ 719 Поляков А.В. Право: между прошлым и будущим//Правоведение. – No 3.–2013. – S. 9. [Polyakow A.W. Law: Between the Past and Future//Legal Science. – No 3.–2013].
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Kapitel 2. Das Rechtssein als Treibkraft des Rechtsereignisses
tet A. Polyakow zu Recht, dass Recht temporal-ontologisch nur aus der Lücke zwischen Zukunft (wenn es noch kein Recht gibt und nicht bekannt ist, ob es das geben wird) und Vergangenheit (wenn es kein Recht mehr gibt) zu verstehen ist. Aber „wann“ ist Recht in der Gegenwart? Denn sobald wir Recht im Zeithorizont als der linearen Abfolge der vereinzelten „Jetzts“ denken und auf Recht zu zeigen versuchen, wird die „Gegenwart“ des Rechts sofort zur „Ver‐ gangenheit“, indem sie genau in dem Moment „veraltet“, als wir auf sie zeigen. Philosophisch ausgedrückt erscheinen wir in diesem Fall als Geiseln jener Zeitlücke, welche das transzendentale und das em‐ pirische Bewusstsein voneinander trennt. Darüber hinaus kommen wir, Recht als dynamisches Phänomen betrachtend, zwangsläufig zum Schluss, dass im Gegensatz zum „Recht als Ding“ (Gerichts‐ entscheidung, normativer Akt), Recht als nicht-substantielles Ge‐ bilde (Sein, Dialog, Kommunikation) in keiner zeitlichen Dimen‐ sion lokalisiert werden kann, da seine dynamische Natur selbst eine Zeitlücke voraussetzt. Dies kann die Zeitlücke zwischen den Aus‐ gangspunkten der Kommunikation oder des Dialogs (sozusagen die Pause zwischen „Fragen“ und „Antworten“), die Lücke zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen usw. sein. Die fundamentale These der temporalen Rechtsontologie liegt also darin, dass nicht nur die Ge‐ genwart, sondern sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft für das Rechtssein konstitutiv sind, da eben diese zeitlichen Dimen‐ sionen jene Grenzen sind, welche Rechtssein umreißen und somit ermöglichen, es vom Nichtsein zu unterscheiden. Im Lichte des Gesagten können wir also schlussfolgern, dass die traditionelle Deutung der Zeit uns keine Möglichkeit gibt, Rechts‐ sein und Sein des Rechts zu „fassen“. Es scheint in diesem Zusam‐ menhang fruchtbar zu sein, sich dem Zeitverständnis von M. Hei‐ degger zuzuwenden. Bekanntlich legt der deutsche Philosoph, sich auf die Zeit besinnend, den besonderen Akzent darauf, dass sie ur‐ sprünglich keinen linearen, sondern ekstatischen Charakter hat. 720 Auch die Zeit des Ereignisses ist für M. Heidegger keine lineare Reihenfolge von Momenten, „in“ welchen das Seiende existiert: Er betont ausdrücklich:„Mit dem Wort «Zeit» meinen wir aber nicht
720 Heidegger M. Die Grundprobleme der Phänomenologie. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1989. – S. 377.
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mehr das Nacheinander der Jetztfolge.“ 721 Wie A. Tschernyakow be‐ tont, liegt zwischen diesen ereignisreichen „Jetzts“ eine ereignislose, gleichgültige, gesichtslose Lücke. Die Zeit ist vermittels des „Jetzts“ begrenzt, aber jedes „Jetzt“ ist als solches durch diese ereignislose Lücke konstituiert. Aufgrund dieses Intervalls ist „Jetzt“ als das vor‐ herige und das folgende gezählt worden, und nur insofern es gezählt worden ist, ist «Jetzt».“ 722 Mit anderen Worten, die Zeit aus dieser Sicht ist nicht kontinuierlich, wenn jedes „Jetzt“ ruckelfrei in das nächste übergeht, sondern diskret, wenn es eine Pause gibt, einen Abstand zwischen den einzelnen „Jetzt“. Deswegen verliert die tra‐ ditionelle Herangehensweise an die Zeit, die ihre Diskretion nicht berücksichtigt, den Moment des Übergangs (den Augenblick, wie Heidegger ihn nannte) von einer Dimension zur anderen und ist gezwungen, das ganzheitliche Phänomen der Zeit in die Vergangen‐ heit (die «immer nicht mehr existiert»), die Zukunft (die «immer noch nicht existiert») und die Gegenwart (die, sobald man versucht darauf zu zeigen, sofort entgleitet, «indem sie zur Vergangenheit wird») aufzuspalten, und ist daher nicht in der Lage, die Zeit als Ganzes zu fassen. Demgegenüber hat die Zeit des Ereignisses als ganzheitliches Phänomen bei Heidegger den ekstatischen Charakter, wenn die drei Dimensionen der Zeit sich nicht nacheinander ablösen, sondern, da‐ durch dass sie gegenseitig ausgerichtet sind, zugleich zeitigen. Wie Heidegger schreibt: „Ankommen als noch nicht Gegenwart, reicht und erbringt zugleich nicht mehr Gegenwart, das Gewesen, und umgekehrt reicht dieses, das Gewesen sich der Zukunft zu. Der Wechselbezug beider reicht und erbringt zugleich Gegenwart. «Zu‐ gleich» sagen wir und sprechen damit dem Sich-einander-Reichen von Zukunft, Gewesen und Gegenwart, d. h. ihrer eigenen Einheit einen Zeitcharakter zu.“ 723 Die angeführte, auf den ersten Blick allzu komplizierte Deutung der Zeit, erweist sich unerwartet als adäquat für das Rechtsereignis 721 Heidegger M. Zeit und Sein / Martin Heidegger. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 18. 722 Черняков А.Г. Онтология времени. – СПб.: Высшая религиозная школа, 2001. – S. 91. [Tschernjakow A.G. The Ontology of Time. – SPb.: The Hig‐ hest Religious School, 2001]. 723 Heidegger M. Zeit und Sein. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 18.
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Kapitel 2. Das Rechtssein als Treibkraft des Rechtsereignisses
als die Stätte des Rechtsseins. Wie wir uns erinnern, ist die Tat der Anfang des Rechtsereignisses. Aber die Tat im Rechtsereignis ist nicht „das, was war und vergangen ist“. Denn sie ist ständig „an‐ wesend“, inwieweit die aus der Zukunft ankommenden Rechtsfolgen im angemessenen Verhältnis zur Tatsächlichkeit des Begangenen stehen. Aber die Folgen sind nicht „etwas, das noch nicht ist“: Wie mehrfach betont wurde, ist der gesamte Horizont („Auffächerung“) möglicher Rechtsfolgen schon in der Tat als Anfang des Rechtsereig‐ nisses enthalten. Eigentlich ist das, dass die Tat eben bestimmte (und nicht irgendwelche) Rechtsfolgen auslöst, ursprünglich dadurch be‐ dingt, dass sie bereits immanent in der Tat enthalten sind. Die aus der Zukunft ankommenden und auf die Vergangenheit gerichteten Rechtsfolgen begründen ihrerseits im Falle ihrer „Überflüssigkeit“ oder „Unvollständigkeit“ gegenüber der primären Tat das Erfor‐ dernis weiterer Rechtsfolgen, d. h. sie werden von der «Zukunft» zur «Vergangenheit» (die ihrerseits wiederum in die Zukunft hin‐ gestreckt wird). Und in diesem Fall geht die «Zukunft» der «Ver‐ gangenheit» voraus. Die Gegenwart ist der Kern des Rechtsereignis‐ ses; eigentlich geschieht Recht in ihr: Die Tat trifft rechtzeitig „ihre“ Folgen und „wählt“ aus ihnen diejenige, die dem Wesentlichen des Ereignenden am besten entspricht: nicht nur der Tat, sondern selbst dem Ereignis als Ganzes. Somit stellt die Zeit des Rechtsereignisses ursprünglich keine li‐ nearen Abschnitte dar, „in“ welchen rechtliches Seiende lokalisiert ist, sondern die ganzheitliche Einheit von Richtungen, in welchen Rechtssein als Zug sich verwirklicht – reine Dynamik des Rechts, ge‐ dacht ohne Beimischung des Seienden. Rechtssein als Zug verwirk‐ licht sich nicht „irgendwie“, sondern immer in einer bestimmten Richtung. Im Gegensatz zur Rechtsmetaphysik, in der das vorhan‐ dene Sein des rechtlichen Seienden nur die zeitliche Richtung (aus der Vergangenheit in die Zukunft) hatte oder, als Sein-Sollen dieser ganz ermangelte, ist Rechtssein in der temporalen Rechtsontologie im zeitlichen Bezug verschieden-gerichtet. So kann der zugefügte Schaden als die Differenz zwischen dem, was war (der Vergangenheit) und dem vorhandenen Zustand (der Gegenwart) verstanden werden. Somit werden die Rechtsfolgen in diesem Fall nicht unmittelbar aus der Gegenwart angezogen. Denn Schaden ist jene ontologische Unvollständigkeit, welche, wie die Not, einen Zug erzeugt und durch die Zuwendung zur Vergangen‐
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heit und den Vergleich mit der Gegenwart offenbart wird. Anders gesagt, der durch die Tat verborgen erzeugte Zug „zieht sich“ impli‐ zit von der Gegenwart in die Vergangenheit „zurück“, und von dort erweist er sich als deutlich zukunftsstrebend und zieht Rechtsfolgen an, welche auf die Wiederherstellung jener ursprünglichen Vollstän‐ digkeit abzielen, jene ursprüngliche Fülle wiederherzustellen, wel‐ che, in der Vergangenheit existierend, durch die Tat verletzt wurde. Somit gibt die Tatsächlichkeit des Begangenen (des Schadens) als die „noch nicht vergangene Vergangenheit“ dem Ereignenden die Richtung vor und zieht seine Rechtsfolgen aus der Zukunft an. Der temporale Aspekt des Ereignenden endet jedoch nicht da‐ mit. Denn das klare, explizite Hineinprojizieren jener Vielfalt mög‐ licher Folgen in die Zukunft, welche die begangene Tat bereits ver‐ ursacht hat, setzt ihrerseits eine implizite, versteckte Übereinstim‐ mung (Angemessenheit) von nur einer dieser Folgen mit dem Ge‐ schehen, welche eben auch eintreten „sollte“, damit das Geschehen ausgeschöpft wird und Recht geschieht. Welche Rechtsfolge sich da‐ bei als angemessen erweist, kann sich jedoch erst in der Gegenwart zeigen, wenn die Tat rechtzeitig ihre Folgen „trifft“. So können alter‐ native Folgen als Folge des Mordes z. B. die Todesstrafe, Freiheitss‐ trafe (auf Zeit oder lebenslang) usw. sein; aber welche davon dem Ereignenden äquivalent ist, kann nur in der Gegenwart offenbart werden. Darüber hinaus, wenn zum Zeitpunkt der Heranziehung der Person zur Verantwortlichkeit die Verjährungsfrist für die be‐ gangene Straftat abgelaufen ist, kann sie auch von der Haftung (oder vom Verbüßen der Strafe) befreit werden. Welche konkrete Rechts‐ folge sich dem Ereignenden als angemessen erweisen wird, bleibt somit vorerst verborgen und wird zuletzt nicht in der Vergangen‐ heit der Tat und nicht in der Zukunft der „Sanktion“, sondern in der Gegenwart offenbart. Die Gegenwart des Rechtsereignisses kann in diesem Fall als Er‐ eignis des Rechts bezeichnet werden. Der Titel „Gegenwart“ ist hier auf zweierlei Weise zu verstehen: temporal-ontologisch. Die „Ge‐ genwart“ bezeichnet also einerseits die Zeit des Rechtsereignisses, wenn die Tat tatsächlich die aus der Zukunft angezogenen Rechts‐ folgen trifft und Rechtssein dadurch entrückt, d. h. sich zugunsten wirtschaftlicher, politischer, moralischerr und andere Aspekte des Ereignenden „absagt“. Andererseits wird eine solche „Zerstreuung“ des Rechtsseins („Zuges“) in jenem Fall ontologisch möglich, wenn
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diese Tat genau seine „wirklichen“ Folgen getroffen hat, welche in der Lage sind, «die Situation zu korrigieren», indem sie den tat‐ sächlichen oder möglichen Schaden – die Unvollständigkeit des in seinem Sein existierenden Seienden – ausgleichen. Zugleich tritt der Andere als Maßstab unseres Handelns, wie be‐ reits betont wurde, an die Stelle der naturrechtlichen oder positi‐ ven Norm des Sollens, welche die rechtmäßigen Folgen vorschreibt. Auf der Ebene der juristischen Praxis verkörpert sich diese Behaup‐ tung darin, dass die Versöhnung der Parteien und der Ersatz des zugefügten Schadens in den allermeisten Fällen die „Einstellung des Prozesses“ in einer oder anderer Form nach sich zieht. Wenn zu‐ gleich die Tat nicht „ihre“, sondern irgendwelche „anderen“ Folgen trifft, welche nicht in der Lage sind, „das Geschehene auszuschöp‐ fen“, geschieht auch kein wirkliches Rechtsereignis, ein Ereignis des Rechts. Ähnlich verhält es sich auch in dem Fall, wenn die Tat ihre Folgen nicht rechtzeitig trifft: Auch in diesem Fall „zerstreut sich“ Rechtssein, es schwindet. Wenn die Tat jedoch nur die Möglichkeit des Schadens enthält, welche auch nicht herbeikommen kann, wird letztere in der zeitli‐ chen Lücke zwischen Gegenwart und Zukunft lokalisiert. Alles, was uns in unserem Miteinandersein „gefährdet“, ist temporal in die‐ ser Lücke enthalten, ob es sich um einen versuchten Mord, einen Warenverkauf ohne Quittung oder einen Darlehensvertrag handelt. Auf der ontologischen Ebene ist die Schadensmöglichkeit damit verbunden, dass der Eintritt der Rechtsfolgen sowohl für den Han‐ delnden als auch für jenen, auf den die Tat gerichtet ist, in diesem Fall nur einen wahrscheinlichen Charakter hat. Der klaren Ausrich‐ tung der primären Tat auf die Zukunft entspricht somit die latente Auffächerung möglicher Rechtsfolgen, die, durch die begangene Tat vorgegeben, aus der Zukunft in die Gegenwart gerichtet sind. So wird im zuvor angeführten Beispiel beim Darlehensvertrag die be‐ gangene Tat (die Geldübergabe) ursprünglich mit der Zukunft ver‐ bunden, indem sie ihre Rechtsfolgen (Rückzahlung der Schuld) in die Gegenwart „anzieht“. Wenn sich hingegen der Schuldner als Be‐ trüger erweist, der ursprünglich nicht die Absicht hatte, die Schuld zurückzuzahlen, so kann die Geldübergabe vom Opfer ausschließ‐ lich als tatsächlicher Schaden gedeutet werden, welcher ihm in die‐ sem Moment zugefügt wird und als die konkrete Differenz in der finanziellen Situation in der Vergangenheit (vor dem Verlust des
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Paragraph 3. Die Temporalität als Horizont des Rechtsseins
entsprechenden Betrags) und in der Gegenwart (zum Zeitpunkt des Verlusts) wahrgenommen wird. Im letzteren Fall ist die Zukunft für Opfer und Täter ausschließlich der Horizont möglicher Rechtsfol‐ gen, welche auf den Schadensausgleich gerichtet sind. Hieraus wird deutlich, dass sich der erwähnte Zug, reines Rechts‐ sein, unterschiedlich, in Abhängigkeit von der zeitlichen Richtung entfaltet, welche durch die Spezifik der das Rechtsereignis auslösen‐ den Tat vorgegeben ist. So offenbart sich Rechtssein, im Falle der tatsächlichen Schadenszufügung, im „Rückwärtsgang“ der Konsti‐ tuierung des rechtlichen Schadens, nachdem es zum Zeitpunkt der Tatbegehung verborgen entsteht. Und damit zieht es aus der Ver‐ gangenheit die aus der Zukunft ankommenden Rechtsfolgen heran; welche von ihnen sich jedoch als verhältnismäßig zur Tat heraus‐ stellen wird, bleibt vorerst verborgen und wird als solches erst in der Gegenwart des realen Rechtsereignisses explizit offenbart. Doch in der möglichen Schadenssituation stellt der Zug das explizite Hin‐ einwerfen möglicher Rechtsfolgen aus der Gegenwart in die Zu‐ kunft dar, während die aus der Zukunft in die Gegenwart herbei‐ kommende Vielfalt von Rechtsfolgen sich im Laufe einer „rückwär‐ tigen Extrapolation“ durchaus „auflösen“ kann (und in diesem Fall kein Recht geschieht) oder sich in der einen „realen“ Folge konkre‐ tisieren kann, welche entweder das Ereignende erschöpft oder im Falle ihrer Unangemessenheit zur Tat einen neuen Durchgang des Rechtsereignisses erzeugt. So wird also der strittige Charakter des Rechtsereignisses als „Sa‐ che“ im Wechsel von Erschlossenheit und Verborgenheit des Rechts‐ seins als des Zuges offenbart, welcher in jedem Einzelfall stattfin‐ det. Dabei ist zu bedenken, dass all diese „Schritte“ des Rechts‐ seins („Zuges“) keine „konsequente Routenänderung“ darstellen, sondern gleichzeitig existierende temporale Richtungen, in welchen sich Rechtssein verwirklicht. Mit anderen Worten sieht es nicht so aus, als ob Rechtssein z. B. „anfangs“ aus der Gegenwart in die Ver‐ gangenheit wandelt und „danach“ aus der Vergangenheit in die Zu‐ kunft usw. In der ekstatischen zeitlichen Dimension erschließen sich alle oben beschriebenen möglichen Richtungen des «Laufs der Sache» gleichzeitig in genau dem Augenblick, in dem jene Tat be‐ gangen wird, welche wie bereits gesagt nicht nur der chronologische „Beginn“, sondern der temporal-ontologische „Anfang“ des Recht‐ sereignisses ist. Je nach Spezifik der Tat (welche den tatsächlichen
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Kapitel 2. Das Rechtssein als Treibkraft des Rechtsereignisses
Schaden zugefügt hat oder nur die Möglichkeit dessen enthält) er‐ schließt sich eben die erste oder zweite aus der oben beschriebenen Gesamtheit der Richtungen. Jede chronologische Folge von „da‐ mals“, „in“, „danach“ und „jetzt“, in welcher das rechtliche Seiende existiert, kann als sinnhafte Ganzheit (und nicht als Gesamtheit ver‐ einzelter Zeitintervalle) eben nur dank der „pünktlichen“ Tat und der durch diese erschlossene Ganzheit der temporalen Richtungen stattfinden. Denn gerade in diesem „Augenblick“, als die Tat be‐ gangen worden ist, entstehen synchron die genannten temporalen Richtungen, eben nur in welchen die tatsächliche, chronologische Erstreckung des Miteinanderseins des existierenden Seienden (uns selbst), das vorhandene Sein des rechtlichen Seienden (Beweismit‐ tel, Streitgegenstand, Tatinstrument etc.), sowie das „Sein der Spra‐ che“ der Rechtstexte möglich ist. Mit anderen Worten, die Zeit des Rechtsereignisses als die Lücke zwischen der Tat und ihren Rechts‐ folgen ist die Einheit ihrer chronologischen (die erstreckte Zeit des Seins des rechtlichen Seienden) und ihrer temporalen (die ekstati‐ sche Zeit des Rechtsseins) Dimensionen, wobei die zweite die Vor‐ aussetzung für die Möglichkeit der ersten ist.
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Kapitel 3. Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis Ohne Menschen bliebe das Sein stumm; es wäre hier, aber es wäre nicht wahr. Alexander Koschew
Wie wir sehen, verwirklicht sich Rechtssein als Zug nicht „von selbst“, sondern nur vermittels des Seienden: durch uns selbst, als Jeder Andere genommen, an deren Stelle auch ein Dritter sein kann, sowie durch Beweise, Rechtstexte usw. Somit ist eine der funda‐ mentalen Thesen des dynamischen Rechtsverständnisses, zu der sich auch die temporale Rechtsontologie gesellt, die, dass Recht ursprünglich nicht in der abstrakten Dimension des Sollens (Nor‐ men, Regeln, Prinzipien) existiert, sondern sich im Zuge menschli‐ cher Beziehungen ereignet. Jedoch ist Recht in solchen Beziehungen nicht „permanent“ anwesend. Denn wenn ich die Straße überquere, mit einer Frau im Café sitze oder einem Freund an seinem Geburts‐ tag ein Geschenk mache, kann Recht auf solche Beziehungen nur künstlich ausgebreitet werden, ohne mit dem Ereignenden etwas Gemeinsames zu haben. Mit anderen Worten, in den gegebenen Beispielen ist Recht nicht wichtiger als Physik, Ästhetik, Biologie, Geometrie, Psychologie usw. Gleichzeitig kann, wie sooft angemerkt, das Ereignende durch die besondere „Wende zu den Sachen“ in den „rechtlichen Gang“ gebracht werden, wenn all dessen andere Aspekte in den Hinter‐ grund treten. Unter dem „Gang der Sache“ wird Rechtssein, der Zug verstanden, welcher aufgrund der existentiellen Unvollständigkeit der Teilnehmer des Rechtsereignisses, die vermittels der „Spuren“ im einbezogenen Seienden eingeprägt ist, die Rechtsfolgen des Be‐ gangenen heranzieht, die zur Erstattung des tatsächlichen oder des möglichen Schadens verhilft. Doch wie genau existiert Seiendes im Rechtsereignis? Auf welche Weise trägt es zur Verwirklichung des Rechtsseins bei, indem es dazu verhilft, die durch die Tat erzeug‐ ten Rechtsfolgen anzuziehen? Bisher haben wir auf diese Fragen keine Antwort gegeben und somit die ontologische Komponente
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Kapitel 3. Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis
des Rechtsereignisses nicht vollständig offenbart. Denn wenn die Zeit des Rechtsereignisse die Einheit seiner chronologischen (er‐ streckende Zeit des rechtlichen Seienden) und temporalen (eksta‐ tische Zeit des Rechtsseins) Dimensionen ist, dann setzt dieser Um‐ stand die Besinnung nicht nur auf das Rechtssein, sondern auch des Seins des Rechts – des Seins des rechtlichen Seienden, voraus. Sein des Rechts und Rechtssein bilden in ihrer Gesamtheit die ganz‐ heitliche ontologische Struktur des Rechtsereignisses. Dementspre‐ chend werden wir im Weiteren versuchen, die Frage zu beantwor‐ ten, wie das Rechtsseiende im Rechtsereignis existiert und auf wel‐ che Weise das Sein des Rechtsseienden dem Rechtssein dabei hilft, sich zu verwirklichen, indem es die Rechtsfolgen der begangenen Tat heranzieht. Unter solchem Seienden sollte man vor allem uns selbst als jenes „existierende Seiende, welches in seinem Miteinan‐ dersein gebrochen, irregeleitet oder gefährdet werden kann“ hervor‐ heben. Ins Rechtsereignis ist auch mannigfaltiges Seiendes mit ein‐ bezogen, welches zur Sicherung der Spuren des Ereignenden (Be‐ weise, Streit- oder Verbrechensgegenstände usw.) fähig ist, und au‐ ßerdem Gesetzestexte, die die Geschwindigkeit des Ereignisses kor‐ rigieren können, indem sie es „beschleunigen“ oder „verlangsamen“.
Paragraph 1. Das Schicksal als das Grundgebilde des Seins der Menschen im Rechtsereignis Selbstverständlich kann sich der Zug als Rechtssein nicht an sich verwirklichen und «automatisch» Rechtsfolgen an die begangene Tat heranziehen. Damit sich Rechtssein verwirklichen kann, be‐ darf es des Rechtsseienden – vor allem unserer selbst – der Men‐ schen, welche im Verlauf ihrer gemeinsamen Existenz das Ereig‐ nende deuten können, durch die Offenbarung des Ereignenden, was in Verbindung damit geschehen kann und was in diesem Fall zu tun ist. Wir haben, M. Heidegger folgend, bereits festgestellt: „Um den Menschen als Menschenwesen, nicht als Lebewesen zu denken, müs‐ sen wir allem zuvor darauf achten, daß der Mensch jenes Wesen ist, das west, indem es in das zeigt, was ist, in welchem Zeigen das Sei‐ ende als solches erscheint. Das, was ist, erschöpft sich aber nicht im je gerade Wirklichen und Faktischen. Zu dem, was ist, d. h. zu dem, was des Seins her bestimmt bleibt, gehört ebenso, wenn nicht vor‐
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Paragraph 1. Das Schicksal als das Grundgebilde des Seins der Menschen
wiegender das, was sein kann, was sein muss, was gewesen ist. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das ist, insofern es in das »Sein« zeigt und deshalb selber nur sein kann, insofern der Mensch sich überall schon zum Seienden verhalt”. 724Somit sind das Wesen des Rechts und das Wesen des Menschen untrennbar miteinander verbunden. Denn so wie Recht nicht ohne den Menschen wesen kann, welcher auf das zeigend, was ist, Rechtsfolgen an das Begangene heranzieht, so kann der Mensch als solcher nur im Zuge des erwähnten Zeigens wesen, vermittels welchem allein sich eben Recht selbst verwirkli‐ chen kann. Zugleich verwirklicht der Mensch das Recht nicht ständig, son‐ dern nur von Zeit zu Zeit, wenn er in das eine oder andere Rechtser‐ eignis einbezogen ist. Die Einbeziehung des Menschen ins Rechtser‐ eignis garantiert jedoch nicht, dass Recht verwirklicht wird – denn, wie des Öfteren angemerkt, enthält das Rechtsereignis gleichur‐ sprünglich sowohl die Möglichkeit für das Ereignis des Rechts als auch dafür, dass Recht sich nicht ereignet – und dann wird es kein Recht geben. Um dementsprechend detailliert zu zeigen, wie genau sich Rechtssein als Zug zwischen der begangenen Tat und ihren Rechtsfolgen verwirklicht, sollten wir überlegen, wie der Mensch ins Rechtsereignis einbezogen werden kann; und dabei so, dass er darin nicht nur „formal vorhanden“ ist, sondern „west“, d. h. sich als jenes Seiende verwirklicht, dessen Wesen im Zeigen auf das, was ist, liegt, und sich somit Recht ereignen lässt. Aus Sicht der temporalen Rechtsontologie werden Menschen ins Rechtsereignis durch eine eigene oder fremde Tat einbezogen, wel‐ che die Möglichkeit des Schadens immanent trägt oder tatsächlich solchen zufügt und sich gegen den Anderen richtet, an dessen Stelle auch der Dritte sein kann. Somit wird das kontinuierliche „Immerschon-im-Recht-Sein-des Menschen“ der klassischen Metaphysik zur konkreten situativen, singulär-einmaligen Einbezogenheit des Menschen ins Rechtsereignis, wenn seine rechtliche Seinsart sich nicht als kontinuierlich, sondern diskret erweist. Vor dem Übergang zur Reflektion des Phänomens der Einbe‐ zogenheit ins Rechtsereignis ist anzumerken, dass die Frage der menschlichen Einbezogenheit ins Recht im klassischen Rechtsver‐ 724 Heidegger M. Was heisst Denken? – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 2002. – S. 153.
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Kapitel 3. Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis
ständnis nicht gestellt wird, aufgrund der fundamentalen Annahme, welche als dogmatische Verabsolutierung des rechtlichen Bestand‐ teils menschlichen Verhaltens bezeichnet werden kann. Mit anderen Worten, indem die Rechtsmetaphysik die rechtliche Komponente des menschlichen Verhaltens willkürlich «ausbeult», vermischt sie das, was Menschen tun können oder wollen (oder tatsächlich tun), mit dem Besitz des Rechts oder der Erfüllung der Pflicht. Der Besitz der tatsächlichen Möglichkeit ist jedoch keineswegs mit dem Besitz des entsprechenden Rechts gleichzusetzen. Wenn beispielsweise der Mensch auf zwei Beinen geht, würde dies bedeuten, dass er „ein ent‐ sprechendes Recht oder eine entsprechende Pflicht ausübt“ – oder dass er einfach nur „geht“? Oder wie I. Newwaschay noch radikaler fragt: Wenn der Mensch männlichen Geschlechts ist, hat er deshalb das Recht, ein Mann zu sein (Kursivierung O.S.)? 725 Der Begriff des Rechts wird laut dem russischen Rechtswissenschaftler oft unrecht‐ mäßig verwendet. Die Menschen verwechseln ihre Wünsche oder Interessen mit dem Besitz von Recht. Wenn ein Mensch hungrig ist, bedeutet dies nicht automatisch, dass er das Recht hat, zu essen. 726 Wie I. Newwaschay unterstreicht, könne man von Recht nur spre‐ chen, wenn Anspruch auf das besteht, was man nicht ist, aber sein kann und will, oder beansprucht, das zu bewahren, was man hat, da die Möglichkeit besteht, den bestehenden Status, Eigentum usw. wegen eines Anderen zu verlieren. 727 Damit wird deutlich, dass es nur im Horizont der Temporalität möglich ist, das Phänomen der menschlichen Einbezogenheit in Recht, aus dem sich ontologisch der gesamte tatsächliche Besitz von Rechten und das Tragen von Pflichten ableitet, adäquat zu verste‐ hen. Rechte und Pflichten ersetzen die tatsächlichen Möglichkeiten des menschlichen Verhaltens nur dort, wo die zeitliche Lücke zwi‐ schen dem, was ein Mensch ist, und dem, was er sein will und (oder) werden kann, besteht, und diese Wünsche möglicherweise „wegen“
725 Невважай И.Д. Нормогенез в процессе коммуникации//Проблемы методологии и философии права. – Самара: Самар. гуманит. акад., 2015. – S. 49. [Newwaschay I.D. Normogenesis in the Process of Communi‐ cation//Issues of Methodology and Philosophy of Law. – Samara: Samara Hu‐ manitarian Academy, 2015]. 726 Ibid. 727 Ibid.
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der anderen Menschen nicht erfüllt werden. Genauso tritt das Phä‐ nomen der „Rechtsverpflichtung“ in unser Blickfeld auch dort, wo der Mensch bereits „als“ jemand existiert, diese Seinsweise (und / oder die damit verbundenen tatsächlichen Möglichkeiten) jedoch aufgrund der schuldhaften Tat des Anderen beendet werden kann. Dementsprechend lässt sich schlussfolgern, dass sowohl der Be‐ sitz des „rechtlichen Charakters“ im Ganzen als auch Rechte und Pflichten im Besonderen dem Menschen nicht durch die Anord‐ nung des Gesetzgebers, durch Naturgesetze oder die Vernunft und auch nicht durch die tatsächlich etablierte Ordnung sozialer Bezie‐ hungen stets „innerlich immanent“ sind. Es wäre vielmehr richtig zu behaupten, dass gewisse tatsächliche menschliche Beschaffenhei‐ ten gelegentlich einen Rechtscharakter erlangen (zu Rechten und Pflichten werden), weil sie durch bestimmte Handlungen anderer Personen geleugnet oder in Frage gestellt werden. Und da gerade die Tat, wie bereits gesagt wurde, der Anfang des Rechtsereignisses ist, kann jeder Besitz von Rechten und Pflichten ausschließlich „in‐ nerhalb“ des Rechtsereignisses erfolgen. Somit ist die Beschaffen‐ heit des Menschen, rechtlich relevantes Seiendes zu sein, darunter auch Rechte und Pflichten zu haben, ursprünglich nicht durch seine Beschaffenheiten als Seiendes bedingt, sondern durch die Spezifik seines Seins, die durch seine Einbezogenheit ins Rechtsereignis de‐ terminiert wird. Bevor wir zur detaillierten Explikation des ontologischen Mecha‐ nismus der menschlichen Einbezogenheit ins Rechtsereignis überge‐ hen, ist anzumerken, dass wir mit anderen Menschen „als Jemand“ koexistierend ihnen als Maß (Grenze, Richtung und Modalität) be‐ züglich ihrer Taten uns gegenüber dienen, während sie in gleicher Weise das Maß für unser Verhalten vorgeben. 728 Dabei ist bemer‐ kenswert, dass ein und derselbe Mensch okkasionell den anderen Menschen verschiedene Maße für deren Taten vorgeben kann. Ein und derselbe Mensch, indem er etwa als Richter im Gerichtssaal, als ein von der Arbeit heimfahrender Fahrer und als ein das Geschäft betretender Kunde ist, zeigt sich jedes Mal anders, nimmt eine neue Gestalt an und schreibt den Anderen das angemessene Verhalten vor. 728 Поляков. А.В. Нуждается ли теория права в идеях М. Хайдеггера?//Правоведение. – 2013. – No 4. – S. 10. [Polyakow A.W. Does Theory of Law Need the Ideas of M. Heidegger?//Legal Science. – 2013. – No 4].
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Deshalb ist anzunehmen, dass die Beschaffenheit des Menschen, in seinem Miteinandersein mit einem jeweils Anderen als Jedem, das Maß für dessen Verhalten zu sein, dem Menschen immanent nicht ist, sondern davon abhängt, was geschieht, genauer gesagt vom Er‐ eignenden, worin der Mensch im entsprechenden Moment einbezo‐ gen ist. Um diese Annahme zu konkretisieren, sollte man sich auf die Art beziehen, auf welche der Mensch ins Rechtsereignis einbezogen wird. Wie M. Heidegger dazu betont: „Im umweltlich Besorgten be‐ gegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie betrei‐ ben.” 729 Unter dem „Betreiben“ soll nicht nur „tatsächlich etwas tun“ verstanden werden, sondern die „Zusammenbindung“ der Möglich‐ keiten unseres Miteinanderseins auf eine bestimmte Art: die Art des Alsseins. Unter „der bestimmten Art“ ist nicht nur die metaphysische Persona als „Maske“ des Subjekts gemeint, welche es je nach situativer sozialer Rolle aufsetzt. Die Art ist die Weise, wie wir miteinander ko‐ existieren, und enthält ein Maß, das jede tatsächliche Grenze, Richtung und Modalität unserer Taten vorgibt. Deshalb hat das erwähnte „Be‐ treiben“, verstanden als „Verbundenheit auf bestimmte Art“, keinen „individuellen“ Charakter, sondern verweist uns in den Modi ihrer Ausführung direkt oder indirekt auf die Anderen in ihren Seinsar‐ ten je „als Jemand“. Denn jede tatsächliche Art des Seins-mit-An‐ deren wird durch eine bestimmte „Tat“ bedingt, d. h. das Betreiben eines «was», während Verbundenheit ein Indikator für die «Einbe‐ zogenheit» in diese Sache ist. So schreibt W. Maihofer : „der Stra‐ ßenbahnschaffner, dem ich meine Fahrkarte reiche, der begegnende Radfahrer, dem ich ausweiche, der Lebensmittelhändler, bei dem ich einkaufe, bleibt mir in solchem Miteinanderumgehen zunächst «per‐ sönlich» unerschlossen. Die «Seite», die sich mir am Begegnenden erschließt, sein «Gesicht», das er mir zeigt, ist das des Schaffners, mit dem ich als Fahrgast zu «schaffen» habe, des Verkehrsteilneh‐ mers, der, wie ich am Verkehre teilnehmend, «als solcher» mir in bestimmter Weise «angeht»; ebenso wie der Verkäufer, mit dem ich in «meiner Eigenschaft» als Käufer zu tun habe. Mein eigenes Ange‐ wiesensein auf das praktische Verhalten des Andern bringt mich mit ihm in «Berührung», lässt mich an ihm «Interesse» nehmen und dadurch, auf dem Boden einer gemeinsamen «Begegnung» (wenn
729 Heidegger M. Sein und Zeit. – Tübingen: Max Niemeyer, 2001. – S. 126.
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auch nur für einen Augenblick und in einer ganz bestimmten Weise) in Kommunikation mit ihm eintreten. Dabei aber ist der «Andere» mir im alltäglichen Miteinander ebenso nur in Bezug auf dieses An‐ gewiesensein «freigegeben», wie auch ich ihm nur «erschlossen» bin als das, was ich in der konkreten Situation jetzt und hier für ihn «bedeute».” 730 Da wir also in ein „Unternehmen“ oder eine „Sache“ einbezogen sind: Straßenbahnfahren, Verkehr, Lebensmitteleinkauf oder Ge‐ richtsprozess, sind wir immer schon auf bestimmte Art mit Anderen „verbunden“. Sowohl „Art“ als auch „Verbundenheit“ sind im oben beschriebenen „einschränkend-kommunikativen“ Sinne zu verste‐ hen, wobei jede tatsächliche „Einschränkung“ oder „Kommunika‐ tion“ auf der Grundlage der gegenseitigen Erschlossenheit im Mit‐ einandersein möglich ist, und zwar der gemeinsamen Einbezogen‐ heit ins Ereignis als die Sache. Die Sache zeigt sich als uns auf be‐ stimmte Art verbundene, d. h. sie betreibende, zusammenfügende: Sie ist so, dass ein einzelnes Individuum mit ihr nicht „zurecht‐ kommt“. Hierzu M. Heidegger:“Das altdeutsche Wort thing und dinc ist mit seiner Bedeutung von Versammlung, nämlich zur Ver‐ handlung einer Angelegenheit, wie kein anderes dazu geeignet, das römische Wort res, das Angehende sachgemäß zu übersetzen.“ 731 So bedeutet dieses Wort die Versammlung, um die «Sache» zu bespre‐ chen, dass «das Ding» ist, um welches es geht, etwa der «Streitfall». „Das römische Wort Res nennt das, was den Menschen in irgend‐ einer Weise angeht.“ 732 Das, worum geht es, ist Res. Res publica bedeutet nicht «der Staat», aber das, das jeden angeht und so zur Sache der gesellschaftlichen Besprechung wird. Die Sache erscheint uns also zunächst nicht im formal-juristi‐ schen Sinne – als Streit oder Konflikt, sondern als die gemeinsame Einbezogenheit der Menschen in jenes Ereignis, welches die exis‐ tentiell-ontologische Voraussetzung jedes „Rechtsstreits“ darstellt. In Sorge über die Sache kann man die Anderen nicht umgehen, die Sache zeigt auf sie durch ihr eigenes Wesen. Die Sache bezieht uns ein, indem sie unserem gemeinsamen Sein die Art verleiht, wel‐ 730 Maihofer W. Recht und Sein. Prolegomena zu einer Rechtsontologie / Werner Maihofer. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1954. – S. 117–118. 731 Heidegger M. Vorträge und Aufsätze. – Stuttgart: Klett-Gotta, 2009. – S. 168. 732 Op.cit. S. 167.
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che dem Ereignenden am besten entspricht: Beispielsweise zieht uns eine Krankheit zu den Arten des Patienten und des Arztes, des Apo‐ thekers und des Kranken. Die Sache ist für diejenigen, die ihre Art darin nicht erhalten haben, nicht erschlossen und sie sind gezwun‐ gen, «die Unbefugten» zu bleiben. Das Verhaltensmaß, welches wir den Anderen im gemeinsamen Sein mit ihnen vorgeben, erweist sich also nicht als ursprünglich durch die naturrechtliche oder positive Norm bedingt, sondern durch das Ereignende selbst, worin wir okkasionell einbezogen wor‐ den sind. Dabei finden wir im Zuge der Einbeziehung ins Ereignis jene „Art“, welche korrelativ mit der Art all jener Anderen verbun‐ den ist, die ebenfalls in dieses Ereignis einbezogen worden sind. In den obigen Beispielen ist Recht jedoch immer noch verborgen und kommt erst bei einer bestimmten „Kehre“ ans Licht. Wie bereits betont wird unter einer solchen „Kehre“ die Tat verstanden, welche sich an jeden Anderen richtet, an dessen Stelle ein Dritter sein kann, und welche die Möglichkeit des Schadens in sich trägt oder diesen tatsächlich verursacht. Solche „Kehre“, die explizit so etwas wie Recht in unser Blick‐ feld einführt, ist aber nur dadurch möglich, dass Recht uns sowohl nach seinem Wesen offen, zugänglich oder – um Heideggers Spra‐ che zu verwenden – erschlossen sein kann als auch wir unserem Wesen nach für Recht offen sein können. Wie M. Heidegger in sei‐ nen berühmten «rechtsphilosophischen Anspruch» sagt, „nur so‐ fern der Mensch, in die Wahrheit des Seins ek-sistierend, diesem ge‐ hört, kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen. Zuweisen heißt griechisch νέµειν. Der νοµος ist nicht nur Gesetz, sondern ursprünglicher die in der Schickung des Seins geborgene Zuweisung. Nur diese vermag es, den Menschen in das Sein zu ver‐ fügen. Nur solche Fügung vermag zu tragen und zu binden. Anders bleibt alles Gesetz nur das Gemächte menschlicher Vernunft. We‐ sentlicher als alle Aufstellung von Regeln ist, dass der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet. Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren. Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des Seins.“ 733 733 Heidegger M. Wegmarken. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1976. – S. 360–361.
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Wie auf der Grundlage des obigen Zitats anzunehmen ist, besteht der rechtliche Charakter der erwähnten „Kehre“ darin, dass dem Menschen „Gesetz und Regel“ als „Zuweisung des Seins“ nur inso‐ weit zugeteilt wird, als er zum Sein gehört und in seiner (des Seins) Wahrheit existiert. Aber gehört der Mensch nicht zum Sein schon dadurch, dass er etwas Seiendes ist? Dabei ist zu berücksichtigen, dass das deutsche Wort „gehören“, welches von M. Heidegger ver‐ wendet wird, ebenfalls „Gehorsam“ bedeutet. Hier wird also nicht davon gesprochen, dass der Mensch als Seiendes „formal“ zum Sein gehört, sondern von seinem „Gehorsam gegenüber dem Sein“, wel‐ ches sich als Voraussetzung „derjenigen Weisungen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen“, erweist. Dabei sollte „Gehorsam gegenüber dem Sein“ nicht als eine Art blindes Folgen eines gewissen „mystischen Seinswillens“ verstanden werden. Denn M. Heidegger nennt die Art des „Gehören-Gehor‐ sams“ gegenüber dem Sein das „Ek-sistieren“ in der Wahrheit des Seins. Durch den Bindestrich wird der Moment betont, dass „Ek‐ sistieren“ in diesem Fall nicht als vorhandenes Sein zu verstehen ist, sondern als das Selbsttranszendieren, das Überschreiten der eigenen Grenzen – „Ek-stase.“ Solches Überschreiten der Grenzen geschieht in der Wahrheit des Seins. Wie wir uns erinnern, setzt der späte Heidegger die Wahrheit des Seins und die Zeit gleich. 734 Insofern die Wahrheit des Seins ihrem Wesentlichen nach temporaler Natur ist, ist sie nicht wie die Wahrheit der Metaphysik in einer gewissen transzendentalen Dimension vorhanden, sondern ereignet und ver‐ wirklicht sich ständig. Mit anderen Worten, die Wahrheit des Seins existiert nicht „in sich“ vorhanden, sondern verwirklicht sich als Ereignis. Ohne den Menschen kann sich das Ereignis jedoch nicht verwirklichen. Es „braucht“ den Menschen. „Das Ereignis ereignet den Menschen in den Brauch für es selbst.“ 735 Ohne den Menschen kann Ereignis nicht „sein“, d. h. sich ereignen. Ohne den Menschen gäbe es keine Geschichte und kein Seinsverständnis. „Mensch und Ereignis hängen nach Heidegger so eng zusammen, dass es schon 734 Heidegger M. Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein“//Heidegger M. Zur Sache des Denkens. – Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2007. – S. 36. 735 Heidegger M. Der Weg zur Sprache//Heidegger M. Unterwegs zur Sprache. – Stuttgart: Klett-Gotta, 2007 – S. 261.
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ein fundamental falscher Ansatz ist sie zunächst als Getrennte zu denken, um sie dann zusammenzudenken.“ 736 Da also über jegli‐ che „Gesetze und Regeln“ im gemeinsamen Sein der Menschen ver‐ fügt wird, ist es nicht der Ausgang zur metaphysischen Realität des Sein-Sollens des isolierten Subjekts, sondern nur das „Existieren“ im Sein-mit-Anderen im Ereignis, das dem Menschen ermöglicht, dem Sein zu gehören und die entsprechende Weisung zugeteilt zu bekommen. Der Modus, durch welche die Zuweisung der Menschen sich durch die Weisungen des Seins ereignet, nennt M. Heidegger «νέµειν», „die in der Schickung des Seins geborgene Zuweisung, die vermag den Menschen in das Sein zu verfügen. Nur solche Fügung vermag zu tragen und zu binden. Anders bleibt alles Gesetz nur das Gemächte menschlicher Vernunft.“ In diesem Fragment fallen beständige räumliche Konnotationen auf. Deutlich kommt dies bei «Zuweisung» als „νόµος“ zum Vorschein. In seinem Werk „Der Nomos der Erde“ verweist C. Schmitt auf den ursprüngli‐ chen Charakter des Zusammenhangs von Nomos und Erde und betont: „Nomos ist das den Grund und Boden der Erde in einer bestimmten Ordnung einteilende und verortende Maß und die damit gegebene Gestalt der politischen, sozialen und religiösen Ordnung. Maß, Ordnung und Gestalt bilden hier eine raumhaft konkrete Einheit.“ 737 Somit erweist sich Nomos, welcher das Maß der Abgrenzung des Raums enthält, als uns nahe stehend, als Ver‐ körperung des Verhaltensmaßes in unserem gemeinsamen Sein. Es scheint, dass es nicht zu kühn wäre anzunehmen, dass die angegebene Beschaffenheit der Menschen – auf bestimmte Art zu koexistieren und dadurch das Maß des Verhaltens füreinander vorzugeben, ontologisch gerade durch Nomos bedingt ist, welcher konkrete „Plätze“ im Ereignis für die Einbezogenen abgrenzt. So E. Wolf: „νέµειν ist nicht «rächen», sondern verteilen, durch Teilung herstellen, beimessen; sein ursprünglichster Sinn ist: etwas einem
736 Seubold G. Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun//Thomae D. Heidegger. Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. – StuttgartWeimar: J.B. Metzler, 2003. – S. 304. 737 Schmitt C. Der Nomos der Erde. – Berlin: Duncker und Humblot, 1997. – S. 40.
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andern zubiegen. Nemesis biegt das Verkrümmte, Verfehlte, Un‐ gleiche zurecht.“ 738 Das Besondere an der Zuteilung der „Zuweisung“ an den Men‐ schen lässt sich genauer feststellen, wenn wir uns daran erinnern, dass „Geschick“ auch „Schicksal“ bedeutet. Unter diesem Wort wird hier nichts „Mystisch-Jenseitiges“ verstanden. Denn Schicksal be‐ deutet etymologisch Geschick, Los oder Anteil, d. h. „Teil“ in ei‐ nem gewissen Ganzen. Der „Besitz“ des Menschen eines solchen Teils ist kein statisches „Eigentumsrecht“ darauf, sondern ist als sein „Teil-nehmen“ am Geschehen die Grundgestalt der Anwesen‐ heit im Ereignis: der Erwerb dieses „Anteils“ durch das Eintreten ins Ereignis vermittels der Tat (nicht notwendigerweise der eige‐ nen) sowie die Beschaffenheit, es zu bewahren, zu ändern oder zu verlieren. Gleichzeitig weist „Schicksal“ als „Be-teiligung“ am Ereig‐ nis auf die Notwendigkeit hin, sich seinen „objektiven Gesetzen“ zu fügen, d. h. dem Wesentlichen von dem, was geschieht. Durch die Einbezogenheit ins Rechtsereignis vermittels der rechtsrelevanten Tat (derer Spezifik bereits früher offenbart wurde), erwerben wir also „Schicksal“ als jenen Anteil, d. h. den Platz im Ereignis, der uns nach der Art, auf welche wir darin geraten sind, „zusteht“. Es wurde bereits zuvor angemerkt, dass die Verbindung zwischen Recht und Schicksal noch in der Antike ein Thema philosophischer Besinnung war. Wie in vielen anderen indogermanischen Sprachen (z. B. im Ukrainischen oder Russischen – „dolya“ bzw. „udel“) bedeuten im Altgriechischen die Wörter, die das Schicksal bezeichnen (µοῖρα, αἶσα), etymologisch einen Teil von etwas, den Anteil, das Los. Wie W. Goran zeigt, haben sowohl „µοῖρα“ als auch „αἶσα“ die Bedeutung von „Anteil“ als „Teil von etwas“. Das Wort „µόρος“, von dem sich „µοῖρα“ ableitet, bedeutet „Teil des Landes“ oder „das Landmaß.“ 739 Das Wort „µοῖρα“ bezeichnet eben die Teilung, die mit dem Losen verbunden ist. 740 Laut J. Huizinga hat auch der Name der Göttin
738 Wolf E. Griechisches Rechtsdenken. – Frankfurt am Main: Vittorio Kloster‐ mann, 1947. – S. 57. 739 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 123. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990]. 740 Op.cit. S. 125.
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Dike, abgeleitet von „δικεῖν“ – „Losen“, ähnliche Etymologie. 741 Und umgekehrt: Die Vorstellungen, welche vermittels der Gestalt des Loses symbolisiert wurden, wurden ursprünglich mit den Begriffen „Teil“, „Portion“ oder „Anteil“ assoziiert. Diese Konzepte setzten die Beschränkungen der Ansprüche dessen, dem ein bestimmter Anteil zusteht, durch das voraus, was nicht über die Grenzen dieses Anteils hinausgeht. 742 Somit ist es möglich, das Phänomen des Schicksals als die Grund‐ gestalt für die Anwesenheit des Menschen im Rechtsereignis bes‐ ser zu verstehen, wenn man die antiken griechischen Vorstellun‐ gen über das Los betrachtet. Wie aus dem Obigen ersichtlich ist, bestimmt das Los, was genau, welcher Teil vom Ganzen demjeni‐ gen zusteht, der lost. Aber wozu überhaupt losen? Offensichtlich fand dieses Losen in jenen Fällen statt, in denen die dadurch be‐ stimmten Teile oder Anteile ungleich waren. Laut W. Goran wird das Los nämlich dann verwendet, wenn etwas nicht gleichmäßig aufgeteilt werden kann. Deshalb hat jeder sein eigenes, einzigar‐ tiges, mit diesen Worten bezeichnetes Lebensgeschick. Dabei liegt die „Kraft“, die bestimmt, dass eben dieses Los der eine und jenes der andere bekommt, außerhalb menschlicher Kontrolle. 743 Somit bedeutet das Los, wodurch Schicksal und Recht in etymologischer Nähe liegen, nicht nur einen Teil der materiellen Güter, die den an der Losung Teilnehmenden zusteht, sondern auch einen bestimm‐ ten „Lebensanteil“ oder das „Geschick“, d. h. Schicksal. Wie wir uns erinnern, wählen im „Er-Mythos“, der in Platons „Staat“ dargelegt ist, die Seelen in der anderen Welt ihr Los – ihr Schicksal oder ihr Geschick im zukünftigen Leben. 744 Gleichzeitig wurde laut Platon die Wahl des einen oder anderen Loses nicht nur durch den Willen des Wählenden bedingt, sondern auch durch die Natur der Seele 741 Х ейзинга Й. Homo Ludens. В тени завтрашнего дня. – М.: ООО «Издательство АСТ», 2004. – S. 136. [Huizinga J. Homo Ludens]. 742 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 128. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990]. 743 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 126. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990]. 744 Платон. Диалоги. – Х.: Фолио, 1999. – S. 378. [Plato. Dialogues. – Kharkiv: Folio, 1999].
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Paragraph 1. Das Schicksal als das Grundgebilde des Seins der Menschen
des Wählenden 745 sowie durch die Gewohnheiten des vergangenen Lebens. 746 Wenn wir die mystisch-religiöse Deutung des Beschrie‐ benen beiseitelassen, wird deutlich, dass beim Phänomen des Lo‐ ses die Betonung darauf liegt, dass es gleichermaßen sowohl vom Willen des Menschen abhängig ist als auch von „äußeren“ Faktoren, welche die eine oder andere Wahl vorbestimmen. Und hier ist die Parallele zur zuvor beschriebenen Art des Ein‐ tritts ins Rechtsereignis durch die Tat, nicht unbedingt das Produkt einer rationalen Wahl des Menschen, offensichtlich. Aufgrund der Einbezogenheit ins Rechtsereignis durch unsere eigene oder fremde Tat existieren wir in der Wahrheit des Seins, gehören gehorsam zum Sein und finden unser Schicksal als einen Anteil am Ereignis. Dabei ist ein solcher Anteil, solches Geschick nicht den Anteilen anderer Teilnehmer gleich. Denn es ist offensichtlich, dass zwischen Richter und Angeklagtem, Angeklagtem und Opfer, Verkäufer und Käufer nicht mal eine formale Gleichheit existiert. Jeder von ihnen hat sein eigenes Schicksal, seinen eigenen Anteil am Ereignis. Wie W. Goran zeigt, setzt die Transformation der Gestalt des Loses in ein Schick‐ salssymbol eine inhaltliche Akzentverschiebung der durch die Ge‐ stalt des Loses symbolisierten Vorstellungen voraus, weg von den Prinzipien der Gleichheit der Teilhaber an der Teilung bis hin zur Tatsache der Ungleichheit der von ihnen erhaltenen Anteile, hin zur Notwendigkeit, diese Ungleichheit wenn nicht zu rechtfertigen, dann zumindest zu erklären. 747 Dementsprechend können wir schlussfolgern, dass der Begriff „Schicksal“, der als „Los“, „Anteil“ und „Geschick“ verstanden wird, nicht nur Vorstellungen über die Teilung von Gütern enthält, son‐ dern auch über besondere Seinsarten im Ereignis, die Einbezogen‐ heit in dieses, wenn solche Arten, die aufgrund der Definition ein‐ ander nicht gleich sind, sowohl von den Taten der Menschen selbst als auch von den objektiven Charakteristiken des Geschehens vor‐ gegeben werden. Das „Schicksal“ selbst wird in dieser Perspektive von einer mystisch-jenseitigen Kraft zum Rechtsphänomen. Laut 745 Op.cit. S. 379. 746 Op.cit. S. 378. 747 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 126. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990].
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Kapitel 3. Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis
W. Goran korreliert der Begriff des Schicksals auch mit dem Thema der Vergeltung, der Bestrafung für die Verletzung der Gerechtigkeit und allgemein der Bestrafung für übermäßige Erscheinungen des individualistischen Eigenwillens, welche mit der Verletzung sozialer Normen verbunden sind, welche in den traditionellen Forderun‐ gen bezüglich des Sollens festgelegt sind. 748 Mit anderen Worten, der reale Inhalt des Mythologems des Schicksals ist die Einstellung des Menschen zu jenem gesellschaftlichen Ganzen, welches sein Ge‐ schick bestimmt. 749 Das Schicksal bezeichnet jedoch keine „statische Position“, die der Mensch im Ereignis einnimmt, sondern sein „dynamisches Ge‐ schick“: Denn wenn die („eigene“ oder „fremde“) Tat die Art des Eintritts ins Ereignis ist, so zieht sie dementsprechend auch be‐ stimmte Folgen nach sich. Wie W. Bibikhin scharf bemerkt, wur‐ zelt Recht in dem intimen Gefühl, dass einige unserer Handlungen gut, zuverlässig und glücklich sowie andere im Gegenteil misslun‐ gen und zweifelhaft sind. Wir spüren, dass es so etwas wie Schicksal gibt, ein Geschick, das uns zugefallen ist, das uns das eine zu tun befiehlt und das andere verbietet. 750 Es ist zu unterstreichen, dass die erwähnten Folgen nicht als zufälliges, willkürliches Ergebnis des Begangenen gedacht werden, sondern als das jeweilige gesetzmä‐ ßige Ergebnis des einen oder anderen „Loses“, d. h. des Schicksals. Dies ist quasi die „faire Vergeltung“ für den Menschen gemäß sei‐ nem Anteil, für das, „was“ er im Ereignis ist. W. Goran zeigt, dass indem die Ausdrücke „αίσιµα“ und „µοίρῃ“, abgeleitet von „αἶσα“ und „µοῖρα“, d. h. von den wichtigsten homerischen Wörtern, be‐ reits zur Bezeichnung des Schicksals im Sinne von „gerecht“, „rich‐ tigerweise“ und „nach der Wahrheit“ verwendet werden, dies an‐ schaulich die Verbindung zwischen dem Konzept des „Schicksals“ und der Idee der Gerechtigkeit bestätigt. Dabei werden zwei Gründe für das Schicksal als das mit dem Menschen geschehene, unterschie‐
748 Op.cit. S. 183. 749 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 326. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990]. 750 Бибихин В.В. Введение в философию права. – М.: Ин-т философии РАН, 2005. – S. 15. [Bibikhin V.V. The Introduction into Philosophy of Law. – Moscow: Institute of Philosophy RAS, 2005].
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den: die menschliche Tat, welche bestimmte Folgen nach sich zieht, und das Schicksal selbst. 751 Aus all dem gesagten lässt sich schließen, dass der Mensch erst dadurch zum rechtlichen Seienden wird, welchem Zuweisung zu‐ geteilt wird, indem er ein Schicksal als Platz im Sein erhält, d. h. in einem bestimmten Seinsbereich. Ein solcher Bereich ist eben jenes Ereignis, in welches das ek-sistierende Dasein in seinem „Alsseinmit-Anderen“ einbezogen ist (W. Maihofer). In gleicher Einbezo‐ genheit ist der Mensch im Sein als Ereignis „eingefügt“ und in es „eingebaut“. Laut des „rechtsphilosophischen Anspruchs“, ist aus‐ schließlich solche Fügung, d. h. Zuteilung eines Platzes im Ereignis, jenes ontologische Fundament, welches jedes ontische Sollen be‐ gründen kann, d. h. «bewahren und verpflichten». Jedes Gesetz, das solch ontologische Gründung verwirft, erweist sich nur als künstli‐ ches und erbloses „Gemächte der menschlichen Vernunft“. Die erwähnte Deutung wird eben durch jene Sätze bestätigt, mit welchen die analysierte Aussage von M. Heidegger endet. „Wesent‐ licher als alle Aufstellung von Regeln ist, dass der Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet. Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren. Den Halt für alles Verhal‐ ten verschenkt die Wahrheit des Seins.“ Wie man sehen kann, ist nach Ansicht des deutschen Philosophen jede Festlegung positiver Normen und Regeln nur in dem Fall sinnhaft, wenn die oben er‐ wähnte Zuteilung eines „Platzes“ für den Menschen in der Wahrheit des Seins, d. h. im Ereignis stattfindet. Es ist nämlich die Fähigkeit, im Ereignis haltbar zu sein, die dem Menschen die ursprüngliche Rechtserfahrung gibt – „die Erfahrung des Haltbaren“. Das halt‐ barste, „festeste“ Befolgen bestimmter Regeln, Prinzipien und Nor‐ men ist nur kraft dessen möglich, dass das Ereignis, das die Viel‐ falt bestimmter Plätze bildet, welche der Mensch darin einnehmen kann, immer vor der expliziten Festlegung der es regulierenden Re‐ geln und Normen stattfindet. Aber jeder „Halt“ als die Regel für jedes „Verhalten“, etwa das „Zusammen-halten“ des Menschen im Ereignis leitet sich ab vom Wesentlichen des letzteren – der Wahr‐
751 Горан В.П. Древнегреческая мифологема судьбы. – Новосибирск: «Наука», 1990. – S. 180. [Goran V.P. Mythology of Fate in Ancient Greece. – Novosibirsk: Nauka, 1990].
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heit dessen, was sich ereignet hat, oder genauer, dem Er-eignenden selbst, d. h. der Wahrheit des Seins. Daraus lässt sich schließen, dass, um den Menschen zu einem Wesen des Rechts zu verwandeln, d. h. ihn „zu tragen und zu bin‐ den“, nur unsere Einfügung ins Rechtsereignis, welche Menschen ihre Beschaffenheit verleiht, den Vorschriften des Rechts zu folgen vermag; nicht aus Furcht vor dem Gesetzt oder aus amorphen „For‐ derungen der Vernunft“, sondern aus ihrem Wesentlichen heraus als den Wesen, die in der Wahrheit des Seins existieren. Die Wahrheit des Seins wird hier nicht als „wahres Sein“ des Existentialismus ver‐ standen, zu dem der Mensch genauso wenig durchbrechen kann, sondern als das „Wesentliche des Ereignenden“, dem der ins Ereig‐ nis einbezogene Mensch nicht in der Lage ist, auszuweichen und aus diesem „herauszuspringen“. Die Beschaffenheit jedes Gesetzes, dem Menschen etwas vorzuschreiben, liegt ursprünglich nicht in der „Grundnorm“ oder dem „kategorischen Imperativ“, sondern im durch das Ereignis dem Menschen zugefügten Platz darin. Hierzu M. Heidegger: „Verstehen wir unter dem «Gesetz» die Versammlung dessen, was jegliches in seinem Eigenen anwesen, in sein Gehöriges gehören lässt, dann ist das Ereignis das schlichteste und sanfteste aller Gesetze, sanfter noch denn jenes, das Adalbert Stifter als das «sanfte Gesetz» erkannt hat. Das Ereignis ist freilich nicht Gesetz im Sinne einer Norm, die irgendwo über uns schwebt, ist keine Ver‐ ordnung, die einen Verlauf ordnet und regelt. Das Ereignis ist das Gesetz, insofern es die Sterblichen in das Ereignen zu ihrem Wesen versammelt und darin hält.“ 752 Somit wurzelt die Beschaffenheit des Menschen als des Seienden, das Maß für jeden Anderen, an dessen Stelle der Dritte sein kann, vorzugeben, im Wesentlichen jenes Ereignisses, in welches wir alle‐ mal in unserem existierenden Miteinandersein einbezogen werden. Mit anderen Worten gibt nur das Gehorsam-Gehören der Men‐ schen gegenüber dem Ereignis, welches sich allemal als das Finden des Schicksals verwirklicht (eines Platzes darin), ihnen die Möglich‐ keit, sich gegenseitig eine Verhaltensmaxime vorzugeben. Anders als der absolute kategorische Imperativ der klassischen Metaphysik lässt sich diese Maxime nur relativ beschreiben. „Handle so, dass 752 Heidegger M. Der Weg zur Sprache//Heidegger M. Unterwegs zur Sprache. – Stuttgart: Klett-Cotta, 2007 – S. 259.
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deine Handlungen dem Wesentlichen des Ereignenden und deinem Platz darin entsprechen“ – das ist die einzige Regel, die im Rahmen der temporalen Rechtsontologie formuliert werden kann. Dabei bedeutet „dem Wesentlichen des Ereignenden entspre‐ chen“ nicht einfach nur „mit dem Strom schwimmen“. Denn dem Wesentlichen des Ereignenden entsprechen kann man sowohl, in‐ dem man ihm zur Verwirklichung „verhilft“, als auch indem man es „bremst“, es an der Verwirklichung hindert. Wenn also beispiels‐ weise ein Mensch im Laufe von Massenrepressionen versucht, Leute zu retten, anstatt das Geschehe moralisch zu verurteilen, religiös zu „anathematisieren“ oder wissenschaftlich zu analysieren, bedeutet ebendies das erwähnte „Entsprechen“. Es findet insofern statt, als dass der ins Ereignis einbezogene Mensch, ausgehend von seinem Platz darin, das tut, was nach seiner Meinung dem Wesentlichen des Ereignenden maximal entspricht. Selbstverständlich kann die obige Formulierung des „temporal-ontologischen Imperativs“ den Menschen nicht vor falschen Handlungen schützen. Denn jeder kann sich bezüglich des Wesentlichen des Geschehens irren, die Re‐ pressionen mit einem Kampf gegen „Volksfeinde“ verwechseln und eine Denunziation verfassen oder im Gegenteil einen Terroristen für einen Revolutionär halten und ihn deswegen nicht ausliefern. Wie noch die Existentialisten wiederholt betont haben, wird Recht ausschließlich in der Tat verwirklicht, mit welcher untrennbar das Risiko der Wahl und der anschließenden Verantwortung dafür, dass sie sich auch als falsch erweisen kann, verbunden ist. Oft wird es erst nach vielen Jahren möglich, das Wesentliche des Geschehens zu erfassen, wenn die temporale Distanz es deutlich offenbart. Jedoch kann weder positives Recht noch irgendeine transzendentale Ma‐ xime des Naturrechts den Menschen gegen jenes Risiko absichern, welches für den ins Ereignis einbezogenen Menschen unvermeid‐ lich ist. Wie noch G. Cohn zeigte: „Weder Befehl des Staates, noch Zwang, noch die gerichtliche Entscheidung gehen dem Recht voraus und werden nicht mit dem Recht identifiziert: Recht verlangt per‐ sönliche Einbezogenheit ins Ereignis, Risiko und Verantwortung, welche für die diejenigen vorgesehen ist, die an diesem Prozess teil‐ nehmen“. 753 753 Cohn G. Existentialism and Legal Science. – New-York.: Occana publications inc., 1967. – S. 117.
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Wenn jedoch unser Sein im Rechtsereignis so „brüchig“ ist, dass wir ständig riskieren, „ins Unrecht abzurutschen“, wie können wir dann dem Rechtssein zur Verwirklichung „verhelfen“? Es ist anzu‐ nehmen, dass die angegebene Beschaffenheit des Menschen darin liegt, dass er im Rechtsereignis als der Sprechende anwesend ist. Wie Heidegger schreibt: „Das Ereignis verleiht den Sterblichen den Auf‐ enthalt in ihrem Wesen, daß sie vermögen, die Sprechenden zu sein.“ 754 Das „Sprechen“ bedeutet nicht einfach „irgendwelche Ge‐ räusche auszustoßen“ und ihnen willkürlich eine Bedeutung zuzu‐ schreiben. „Der Sprechende zu sein“ bedeutet für die Einbezogenen ins Rechtsereignis, Zugang zur „Gegenwart“ als dem Kern des Er‐ eignenden zu haben, dessen Herbeikommen das Ereignis als solches „entgleiten“ lässt, indem es „sich“ zugunsten des in es einbezogenen Seienden „absagt“. Mit anderen Worten, wir können im Ereignis nur insofern „die Sprechenden“ sein, als wir als Einbezogene dem Ereignenden „gehorsam gehören“, also es „hören“ und dadurch über das Ereignis und über uns selbst als die darin Einbezogenen etwas sinnhaftes sagen können. Auch so für M. Heidegger: „Die gesuchte Einheit des Sprachwesens heiße der Aufriß [. . . ] Riß ist dasselbe Wort wie ritzen. Wir kennen den «Riß» häufig nur noch in der ab‐ gewerteten Form, z. B. als Riß in der Wand. Einen Acker auf- und umreißen, heißt aber heute noch in der Mundart: Furchen ziehen. Sie schließen den Acker auf, daß er Samen und Wachstum berge. Der Auf-Riß ist das Ganze der Züge derjenigen Zeichnung, die das Aufgeschlossene, Freie der Sprache durchfügt. Der Aufriß ist die Zeichnung des Sprachwesens, das Gefüge eines Zeigens, darein die Sprechenden und ihr Sprechen, das Gesprochene und sein Unge‐ sprochenes aus dem Zugesprochenen verfugt sind.“ 755 Das Gesagte ruft eindringliche Analogien zwischen der Sprache und „Nomos“ hervor, welche oben von uns in Anlehnung an E. Wolf und C. Schmitt als die Art, das Schicksal aus der Verhüllung herauszubringen, beschrieben wurde. Diese Analogie gibt den An‐ lass anzunehmen, dass sich das Rechtsereignis als solches nur durch den Menschen als den Sprechenden vollziehen kann. Durch das Sprechen „markiert“ der Mensch die ursprüngliche Verschlossen‐ 754 Heidegger M. Der Weg zur Sprache//Heidegger M. Unterwegs zur Sprache. – Stuttgart: Klett-Cotta, 2007 – S. 259. 755 Op.cit. S. 251–252.
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heit des Ereignisses (symbolisiert durch die Gestalt der Erde) so, dass im Zuge solcher Markierung das Schicksal der Sprechenden ans Licht gebracht wird – ihr Platz („Geschick“) im Ereignis, so‐ wie das Wesentliche des Ereignisses im Ganzen. Selbstverständlich stellt das Wesentliche des Ereignisses nicht einfach die Summe der Plätze seiner Teilnehmer dar. Im Gegenteil, das „Geschick“ selbst, das Schicksal des Menschen, wird durch das Ereignis vorgegeben. Gleichzeitig hängt laut M. Heidegger das Wesen des Ereignisses di‐ rekt vom Sprechen, d. h. vom Sagen ab. Aber zu «sagen» bedeutet laut ihm „zeigen, erscheinen-, sehen- und hören-lassen.“ 756 Somit also, indem wir als die ins Rechtsereignis Einbezogenen existieren, verhelfen wir dem Recht insofern zur Verwirklichung, als wir im Sprechen das Ereignende „sagen“ – vor allem das, was getan wurde und welche Rechtsfolgen diesem angemessen sind. „Das Wesende der Sprache ist die Sage als die Zeige. Deren Zeigen gründet nicht in irgendwelchen Zeichen, sondern alle Zeichen entstammen einem Zeigen, in dessen Bereich und für dessen Absichten sie Zeichen sein können.“ 757 Eigentlich können Dritte unseren Platz, ohne dem Wesentlichen des Ereignenden zu schaden, nur deshalb einnehmen, weil sie in der Lage sind, etwas „statt“, „für“, „gegen“ oder „über“ uns als Anwalt, Staatsanwalt, Richter oder Geschworene zu sagen. Zugleich können wir als Dritte den Platz des Anderen als Jeder insofern einnehmen, als wir etwas darüber sagen können, was geschieht und wie. Diese unsere Möglichkeit als der Sprechenden wurzelt im Wesentlichen der Sprache als „der Sage“. Es ist jedoch nicht so, dass der Sinn dem Ereignenden im Ge‐ spräch willkürlich zugeschrieben wird. Denn jener „Bereich des Zei‐ gens“ (in unserem Fall die Sphäre des Rechts), auf dessen Grund‐ lage allerlei „Zeichen“ stattfinden können, wird nicht von Menschen geschaffen, die ihm nur vermittels des Sagens zur Verwirklichung „verhelfen“ können. Er wurde als „Geschick des Seins“ durch die „Kehre des Seins“ selbst geschaffen, über welche der Mensch keine Macht hat. Er kann, nach der Zuteilung des angemessenen Platzes, dem Ereignenden nur folgen, indem er im Zuge des Sprechens als 756 Heidegger M. Der Weg zur Sprache//Heidegger M. Unterwegs zur Sprache. – Stuttgart: Klett-Cotta, 2007. – S. 252. 757 Op.cit. S. 254.
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Kapitel 3. Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis
des Sagens ihm zur Ereignung verhilft oder dies im Gegenteil ver‐ hindert und dabei sich selbst in seinem Sein mit anderen Menschen verwirklicht. So können wir zwar nicht aus dem Ereignis „heraus‐ springen“, seinem Nomos entfliehen, der uns ursprünglich einen Platz im Geschehenen zuteilt; dennoch bleiben wir darin frei und sind in der Lage zu wählen, entsprechend dem was sich ereignet zu handeln: ihm zur Verwirklichung zu verhelfen oder umgekehrt, das Ereignis zu «bremsen». Dabei sollte diese Variante nicht lediglich mit der bewussten Wahl des rechtmäßigen oder rechtswidrigen Verhaltens gleichge‐ setzt werden. Eine solche Wahl ist nur dann möglich, wenn wir schon vorher das Ereignis als rechtlich relevant erschlossen haben. Erweisen wir uns als „taub“ gegenüber dem Ereignenden, dann ver‐ wirklicht sich Recht dahingehend nicht, da wir etwa versuchen wür‐ den, dem Täter moralisch zu „verzeihen“, anstatt zu versuchen, die Rechtsfolgen für das Begangene heranzuziehen. Insofern wir gegen das Wesentliche des Ereignenden handeln, verwirklichen sich we‐ der Recht noch wir uns selbst. Denn so wie das Ereignis sich nicht von selbst ereignet, sondern nur durch uns, so können wir uns in unserem Schicksal nicht selbst verwirklichen, sondern nur einbe‐ zogen ins Ereignis. Hinter dem Rechtsereignis gibt es nichts mehr, woraus es abgeleitet, begründet oder erklärt werden könnte. Wie M. Heidegger hierzu schreibt: „Was das Ereignen durch die Sage ergibt, ist nie die Wirkung einer Ursache, nicht die Folge eines Grundes. [. . . ] Das Ereignende ist das Ereignis selbst – und nichts außerdem. Das Ereignis, im Zeigen der Sage erblickt, läßt sich weder als ein Vorkommnis noch als ein Geschehen vorstellen, sondern nur im Zeigen der Sage als das Gewährende erfahren. Es gibt nichts anders, worauf das Ereignis noch zurückführt, woraus es gar erklärt werden könnte. Das Ereignen ist kein Ergebnis (Resultat) aus anderem, aber die Er-gebnis, deren reichendes Geben erst dergleichen wie ein «Es gibt» gewährt, dessen auch noch «das Sein» bedarf, um als Anwesen in sein Eigenes zu gelangen.“ 758 Somit kann der Mensch Rechtsseiendes sein aufgrund seiner Be‐ schaffenheit, im Sein mit Anderen diesen das Verhaltensmaß als Grenze, Richtung und Modalität ihrer Handlungen vorzugeben. 758 Heidegger M. Der Weg zur Sprache//Heidegger M. Unterwegs zur Sprache. – Stuttgart: Klett-Cotta, 2007. – S. 258.
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Paragraph 2. Das Sein der Dinge im Rechtsereignis
Zugleich besitzt der Mensch diese Möglichkeit als Rechtsseiendes wiederum nicht „immanent“ als seine Eigenschaft, sondern jene ist temporal-ontologisch durch die Einbezogenheit des Menschen ins Rechtsereignis bedingt. Der Mensch als existierendes Seiendes, wel‐ ches durch eigene oder fremde Tat in ein Rechtsereignis einbezogen ist, nimmt darin seinen Platz als „Geschick“ d. h. Schicksal ein, und gibt kraft dessen das Maß für jene Anderen vor, welche mit ihm in das Rechtsereignis einbezogen worden sind. Kraft seines „gehorsa‐ men Gehörens“ zur Wahrheit des Seins als dem Ereignis vermag er als sprechendes Wesen ihm zu verhelfen, sich als solches zu ereig‐ nen, indem er im Laufe des Sprechens als des Sagens das Maß des Geschehens ans Licht bringt: welche Rechtsfolge der Tat für sie am adäquatesten ist.
Paragraph 2. Das Sein der Dinge im Rechtsereignis Zugleich kann sich der Mensch im Rechtsereignis „ohne Schicksal“ befinden, indem er nicht als existierendes Dasein des Miteinander‐ seins anwesend ist, sondern im Modus des vorhanden gegebenen Seienden. So kann sich ein Mensch als zufälliger Augenzeuge erwei‐ sen, d. h. ein Zeuge des Ereignenden, als ein Spezialist oder Experte, dessen Spezialwissen dazu beiträgt, die „Spuren“ des Ereigneten zu entschlüsseln oder zu fixieren, oder auch als eine Leiche, welche einfach den vorhandenen Gegenstand darstellt. Es ist zu vermu‐ ten, dass menschliche Wesen, aus dieser Perspektive betrachtet, dem Seienden ähnlich sind, welches traditionell als „Beweisquelle“ oder „Gegenstand des Streits, des Verbrechens“ usw. genannt wurde. Wie bereits erwähnt, hinterlässt jede rechtlich relevante Tat ihre „Spu‐ ren“ auf dem ins Rechtsereignis einbezogenen Seienden. Dement‐ sprechend kann das, was die Rechtswissenschaft ontisch „Beweis‐ quellen“ und „Gegenstand des Rechtsverhältnisses“ usw. nennt, aus der Sicht der temporalen Rechtsontologie als „rechtliche Dinge“ be‐ zeichnet werden. Dabei wird der Unterschied darin bestehen, dass, wenn die genannten Rechtsphänomene durch ein gesetzlich vorge‐ schriebenes Verfahren im Rahmen eines Zivil- oder Strafprozesses zu solchen werden, sich ein Ding als rechtlich unabhängig von den Normen der Gesetzgebung und den Rechtsinstitutionen erweist. Entscheidend dafür, dass ein Ding seinen rechtlichen Charakter be‐
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Kapitel 3. Das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) im Rechtsereignis
kommt, ist seine Beschaffenheit, „Spuren“ des Ereigneten zu be‐ wahren. Gleichzeitig wird, wie des Öfteren betont, das Ding nicht „für immer“ rechtlich, sondern nur für die Zeit, welche die Tat von ihren Rechtsfolgen trennt, nach welcher seine „Rückverwandlung“ geschieht. Dementsprechend sollte im Weiteren die temporal-onto‐ logische Prozessualität dessen beschrieben werden, was mit dem ins Rechtsereignis einbezogenen „Ding“ geschieht. Ins Rechtsereignis können ganz unterschiedliche Dinge einbe‐ zogen werden – Tiere, Autos, Werkzeuge, Dokumente, Erdteile, Kleidung usw. Aber die Einbezogenheit der Dinge ins Rechtser‐ eignis an sich bringt ihren rechtlichen Charakter noch nicht ex‐ plizit zum Vorschein. Eine zerknitterte Eintrittskarte nach dem Fußballspiel, ein zerrissener Scheck nach dem Bezahlen, ein nach dem Einchecken weggeworfener Hotelgutschein haben schließlich keine Ähnlichkeit mit den „Rechtsdokumenten“, welche diese Ge‐ genstände nominell sind. Gleichzeitig kann sich eine schmutzige Tasse, die einen Fingerabdruck oder Flüssigkeitsspuren aufweist, oder eine alte, blutverschmierte Jacke als jenes rechtliche Seiende erweisen, welches „die Sache in Gang setzt“ und zur Verwirklichung des Rechtsseins verhelfen kann. Dementsprechend ist davon aus‐ zugehen, dass Seiendes gerade dann rechtlich relevant „ans Licht kommt“, wenn „nicht alles recht ist“. Ansonsten wird der rechtli‐ che Charakter des Seienden nicht betont und durch seine alltägli‐ chen Eigenschaften ersetzt, wenn das Rechtsereignis selbst als sol‐ ches verborgen wird, indem es sich zugunsten wirtschaftlicher, po‐ litischer, sozialer, sportlicher oder anderer Bedeutung des Ereignen‐ den absagt. Somit bekommt Seiendes nicht einfach okkasionell die rechtliche Seinsart und verliert sie danach wieder. Denn das Sein des Rechts (Sein des Rechtsseienden) bleibt sogar im Rechtsereignis oft verborgen – etwa beim Geschäftsvorfall, wie es aus den obigen Bei‐ spielen folgt (Fußballspiel, Warenzahlung etc.). Bemerkenswert ist, dass die beschriebenen Metamorphosen mit dem Sein des Rechtss‐ eienden im Zeithorizont stattfinden, wenn das Sein des Rechts nach Eintritt der Rechtsfolgen verborgen wird und vor diesem Moment zum Vorschein kommen kann. Dementsprechend müssen wir uns wieder der Zeit des Rechtsereignisses als dem Seinshorizont des ins Rechtsereignis einbezogenen Seienden zuwenden, um zu verstehen, was im Rechtsereignis mit dem Rechtsseienden als „Ding“ eigent‐ lich geschieht.
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Paragraph 2. Das Sein der Dinge im Rechtsereignis
Bisher wurde schon mehrmals darauf hingewiesen, dass die ei‐ gentliche Zeit des Rechtsereignisses der Zeitriss zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen ist. Dieser Riss stellt die Einheit der chro‐ nologischen (erstreckende Zeit des Seins des Rechtsseienden) und der temporalen Dimension (ekstatische Zeit des Seins des Rechtss‐ eienden) dar. Da ein rechtliches Ding aufgrund seiner Beschaffen‐ heit, „Spuren“ des Ereignenden zu bewahren, zu solchem werden kann, rückt die chronologische Zeit in unser Blickfeld, als jener Abstand, welcher die „Spur“ von ihrer (Ur-)Quelle trennt: der Tat, die bereits stattgefunden hat oder aus der Zukunft herbeikommen kann (soll). Rechtliches Ding ist somit nicht einfach hier und jetzt vorhanden: Als rechtliches Ding kann es auch einen Hinweis auf etwas Abwesendes, noch nicht Herbeigekommenes enthalten, und es ist nicht bekannt, ob es kommen wird. Wie bereits betont, ist die Rechtssphäre kein Feld eines reinen Determinismus, sondern ein Umfeld der Wahrscheinlichkeiten. Jedes Rechtsereignis enthält glei‐ chursprünglich sowohl die Möglichkeit des Ereignisses des Rechts als auch die umgekehrte, wenn Recht sich nicht ereignet. Denn Rechtssein als Zug hat nicht die Eigenschaften des absoluten SeinSollens der metaphysischen Jurisprudenz, dadurch dass es sich al‐ lemal als „fragend in der Möglichkeit des Nichtseins gehalten“ er‐ weist, d. h. riskiert, sich nicht zu verwirklichen. In dem Maße, in dem solche Möglichkeit des Nichtseins des Rechts ans Licht kommt und Rechtssein sich als verborgen erweist, tritt Rechtsseiendes in den Vordergrund – Juristen, Gerichte, Ge‐ setze – und auch das Ding. Paradoxerweise offenbart ein ins Recht‐ sereignis einbezogene Ding seinen rechtlichen Charakter gerade dann akzentuiert, wenn Rechtssein sich verbirgt, „sich abschwächt“ und riskiert, nicht zu herbeizukommen, aber sich gleichzeitig dabei zugunsten des Rechtsseienden „absagt“. Mit anderen Worten, wenn der chronologische Riss zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen so weit wächst, dass die Möglichkeit des Ereignisses bzw. der Ver‐ wirklichung des Rechts sich selbst als zweifelhaft erweist, ist Seien‐ des in seinem Sein als rechtliches dazu bestimmt, diese Lücke zu füllen, „den Zug zu verstärken“ und die Rechtsfolgen des Began‐ genen anzuziehen zu helfen. Wenn uns also ein Qualitätsprodukt verkauft wurde, betrachten wir den Scheck nicht als ein Rechtsdo‐ kument. Für den Fall, dass das Produkt unbrauchbar ist und der Verkäufer sich weigert, es zu ersetzen oder das Geld zurückzuge‐
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ben, wird dieser Scheck vom „einfachen Stück Papier“ plötzlich zur „Beweisquelle“. In gleicher Weise, wenn eine Schuld überfällig ist, verwandelt sich die Quittung von der „reinen Formalität“ in die Spur des Ereigneten, etwas, das zur Entschädigung und Verwirkli‐ chung des Rechts verhelfen kann. Bei Abwesenheit der „Spur“ kann sich Recht auch nicht ereignen, wenn es sehr schwierig ist, Rechts‐ folgen für den Ersatz des verursachten Schadens anzuziehen. Das, was über „rechtliche Dinge“ gesagt wurde, gilt in vollem Umfang für jene Menschen, die nur indirekt „in die Sache einbezogen“ sind, als Zeugen, Experten, Spezialisten usw. Die „zauberhafte Verwand‐ lung“ des Nachbarn in einen Zeugen oder eine Zeugin findet genau dann statt, wenn das Ereignende Schaden oder dessen Möglichkeit enthält: Die Randale einer betrunkenen Bande, ein Familienstreit oder eine Wohnungsdurchsuchung lassen sofort die Frage hinsicht‐ lich des Fixierens der Spuren des Ereigneten aufkommen, für den Fall, dass Schaden zugefügt wird und / oder Rechtsfolgen „hängen bleiben“ und darin ihr eigenes Eintreten länger als angemessen auf‐ schieben. Somit ist die Möglichkeit des „Dinges“, im oben genannten Sinne betrachtet, rechtlich zu werden, d. h. die rechtlich relevante Seinsart zu bekommen, in jenem chronologischen Zeitabstand lokalisiert, welcher die Tat von ihren Rechtsfolgen trennt. Erweist sich dieser Abstand als dem Ereignenden angemessen und lässt er keinen Zwei‐ fel am Eintritt der Folgen des Begangenen, so bleibt sowohl das Sein des Rechts als auch rechtliches Sein (Sein des rechtlichen Seienden) größtenteils verborgen. Wenn aber die zeitliche Pause zwischen den primären und abgeleiteten Taten sich hinzuziehen droht, so dass rechtliches Sein als Zug immer mehr im Schatten bleibt, kommt das Sein des Rechts zu Hilfe, wenn rechtliches Seiende die entspre‐ chende Lücke „füllt“. Gleichzeitig hat die Beschaffenheit des rechtli‐ chen Seienden, das die Spuren des Ereigneten trägt, das „rechtliche Vakuum“ zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen zu füllen, auch ihre Grenzen. Denn wenn trotz des betonten rechtlichen Charakters des Seienden Recht sich nicht verwirklicht, und sich der Abstand zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen ins Unendliche ausbreitet, dann verschwinden sowohl das Sein des Rechts als auch rechtliches Sein; sie lösen sich auf. Eben in diesem Umstand liegt der tempo‐ ral-ontologische Sinn solcher prozessualen Institutionen wie „An‐ spruchsverjährung“, „Verjährung der strafrechtlichen Verantwort‐
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lichkeit“ usw. In solchen Fällen ist die zeitliche Lücke zwischen dem, was passiert ist, und dem, was getan werden muss, bereits so groß, dass sie es sinnlos macht, bestimmte Rechtsfolgen anzuwenden. Na‐ türlich kann sich eine solche durch Gesetz, Brauch oder Vereinba‐ rung der Parteien festgelegte Frist je nach den Besonderheiten des konkreten rechtlichen Systems unterscheiden. Gleichzeitig erweist sich die allgemeine Gesetzmäßigkeit, wenn die Möglichkeit des Er‐ eignisses des Rechts von jener Zeit abhängt, welcher zwischen der Tat und den Rechtsfolgen vergeht, als unverändert. Somit verhelfen die „rechtlichen Dinge“ dem rechtlichen Sein zur Verwirklichung neben dem anderen Seienden, welches ins Ereig‐ nis einbezogen ist – den Menschen, genommen als existierendes Dasein des Miteinanderseins, den Gesetzestexten usw. Die Spezi‐ fik des Seins des rechtlichen Dinges besteht darin, dass es Spuren des Ereignenden in sich bewahren kann, und dabei hilft, festzustel‐ len, ob eine rechtlich relevante Tat stattgefunden hat, ob sie den tatsächlichen Schaden verursacht hat , und somit die Rechtsfolgen an das Ereignende anzieht. Seine rechtliche Seinsart bekommt das Ding im Zeithorizont des Rechtsereignisses als des zeitlichen Ris‐ ses zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen, wenn nach dem Ein‐ tritt der letzteren der rechtliche Charakter des Seienden verloren geht. Sein des Rechts als Sein der rechtlichen Dinge stellt somit die Abwechslung von Verborgenheit und Offenheit dar. Es offenbart sich im Laufe der Absage vom rechtlichen Sein zugunsten des Seins des Rechts – des Seins des rechtlichen Seienden, wenn die Rechts‐ folgen der Tat „hängenbleiben“, und verbirgt sich nach deren Ein‐ tritt.
Paragraph 3. Der Rechtstext als das Mittel zur Regelung der Geschwindigkeit (Laufzeit) des Rechtsereignisses Die Abhängigkeit der Möglichkeit der Verwirklichung des Rechts von dem Zeitabstand, welcher die begangene Tat von ihren Rechts‐ folgen trennt, wurde auch von der klassischen Jurisprudenz offen‐ sichtlich oder latent anerkannt. Neben den von uns bereits erwähn‐ ten Institutionen der „Verjährung“ kann auch der Umstand ange‐ merkt werden, dass das Bedürfnis der detaillierten juristischen Re‐
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glementierung des menschlichen Handelns und seiner Folgen sich in der Regel dann ergibt, wenn diese Folgen zeitlich von der Tat selbst entfernt sind. Somit ist ein Abkommen, das im Moment seines Abschlusses durchgesetzt wird, in der Regel im minimalen Maße formalisiert. Gleichzeitig sind langfristige Verpflichtungen wie Bankdepot, Liefervertrag oder Darlehen meist mit vielen For‐ malitäten verbunden. Ebenso erfordern Strafverfahren in Fällen, in denen der Täter bekannt bzw. sich als solcher bekannt hat (wodurch er tatsächlich der Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Folgen zugestimmt hat), ein Minimum an Dokumenten und juristischen Prozeduren. Doch für den Fall, dass die Feststellung des Zusam‐ menhangs zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen Zeit braucht, wird der Fall mit Papieren umhüllt, die verschiedene Verfahrens‐ handlungen fixieren. Somit tritt der von uns mehrmals erwähnte Zeitabstand zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen von völlig unerwarteter Seite in die Sphäre unserer Untersuchung – als Anwendungsfeld dessen, was üblicherweise als „Rechtsnormen“ bezeichnet wird. Hier handelt es sich nicht nur um „die Wirkung des Gesetzes in der Zeit“. In die‐ sem Fall ist „die Anwendung“ nicht eng zu verstehen, sondern nur als Versuch, den erwähnten zeitlichen Abstand durch Normen zu regeln, welche entweder „die Wirkung des Gesetzes in der Zeit re‐ gulieren“ oder „die Verfahrensfristen festlegen“. In ähnlicher Weise sollten im weiteren Sinne dieser Erklärung auch „Rechtsnormen“ verstanden werden, nämlich als solche, die nicht nur schriftliche Regeln umgreifen, die von der zuständigen Behörde aufgestellt und durch Zwang gesichert werden, sondern auch Präzedenzfälle, Bräu‐ che und Verträge – kurz gesagt, alle „Quellen des Rechts“. Somit ist anzunehmen, dass im Rahmen der Analyse jenes Sei‐ enden, welches durch die Einbezogenheit ins Rechtsereignis die rechtliche Seinsart bekommt, neben dem Sein von „Menschen“ und „Dingen“ auch das Sein von Rechtstexten hervorgehoben werden muss. Es sollte beachtet werden, dass das Adjektiv „rechtlich“ keine Bezeichnung dafür ist, dass die erwähnten Texte den entsprechen‐ den Thesen des Natur- oder Positivrechts entsprechen, sondern nur ihre Relevanz in rechtlicher Hinsicht kennzeichnet. Die Be‐ sonderheit dieser Texte als des rechtlichen Seienden ist im Unter‐ schied zu den zuvor erwähnten „Dokumenten“ (welchen die Seins‐ art der rechtlichen Dinge innewohnt), dass sie keine „Spuren“ des
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Ereignenden in sich tragen, sondern „angewandt“ werden; sie regeln nämlich die Zeit des Ablaufs des Rechtsereignisses. Zum ersten Mal wurde diese Hypothese am Ende des letzten Jahr‐ hunderts vom berühmten ukrainischen Rechtswissenschaftler P. Ra‐ binowitsch aufgestellt, der darauf hinwies, dass Gesetze und andere normativ-rechtliche Akte weit verbreitet angewendet werden, um die Geschwindigkeit der Ausübung verschiedener Arten von Tätig‐ keiten und somit die Zeitdauer sozialer Prozesse zu beeinflussen. 759 Unter den Richtungen (Arten) des rechtlichen Einflusses auf die zeitlichen Werte der Taten erwähnt P. Rabinowitsch die Fixierung der Zeit (des Momentes) vom Beginn der entsprechenden Tätigkeit (Reglementierung der Rechtzeitigkeit) aus, die Festlegung der zeit‐ lichen Grenzen für juristisch bedeutsame Tätigkeiten (Reglemen‐ tierung von Dauer und Fristen) etc. 760 Bei der Entwicklung die‐ ser Aussage sollte daran erinnert werden, dass die klassische Struk‐ tur der juristischen Norm die Hypothese (die Bedingungen für das Funktionieren der Norm), die Disposition (das Verhalten einer Per‐ son) und die Sanktion (die rechtlichen Folgen solches Verhaltens) umfasst. Somit ist die Norm, genommen als Rechtstext also die Be‐ schreibung davon, welche Rechtsfolgen unter bestimmten Voraus‐ setzungen die Begehung der Tat nach sich ziehen kann (muss). Zugleich liegt wie schon mehrmals erwähnt ein sehr weiter Weg von der Tat bis zur Folge. Die Begehung dieser oder jener Tat zieht nicht immer den Eintritt der Folgen nach sich, welche in der ent‐ sprechenden Norm vorgesehen sind. Dabei spielt der zeitliche Ab‐ stand zwischen der Tat und den Folgen oft eine Schlüsselrolle für die Möglichkeit des Ereignisses des Rechts in jedem konkreten Fall. Ist z. B. die Zeit zwischen der begangenen Straftat und der Urteilsver‐ kündung zu kurz, dann ist dies dadurch riskant, indem die Sache oberflächlich untersucht wird und das Urteil sich als dem Ereig‐ neten nicht angemessen erweist. Ebenso macht ein zu langer Ab‐ stand zwischen der Straftat und dem Urteil oft die Strafe selbst be‐ 759 Рабiнович П.М. Час у правi (темпоральнi властивостi дiльностi як об’єкт правового регулювання)//Вiсник Академiї правових наук України. – No 3 (18). – 1999. – S. 3. [Rabinowitsch P.M. Time in Law (Tem‐ poral Specificity of Activity as Object of Legal Regulation)//Magazine of Legal Science Academy of Ukraine. – No 3 (18). – 1999]. 760 Op.cit. S. 5.
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deutungslos, wenn das Ereignende bereits vergessen ist und sich erschöpft hat. In diesem Fall ist das Verfahrensrecht, das die Ver‐ jährungsfristen für die Anklageerhebung, die Bedingungen der vorgerichtlichen Untersuchung usw. festlegt, das Mittel zur Regelung des zeitlichen Ablaufs des Rechtsereignisses oder mit anderen Wor‐ ten der Geschwindigkeit des rechtlichen Seins. Ebenso regeln die Normen des Zivil- oder Verwaltungsverfahrens, welche die Verjäh‐ rungsfristen und die Fristen für die Prüfung von Zivil- oder Verwal‐ tungssachen festlegen, wie schnell die begangene Tat die gesetzlich vorgesehenen Folgen nach sich ziehen kann. Die Geschwindigkeit des rechtlichen Seins wird jedoch nicht nur durch die Normen des Verfahrensrechts im Rahmen des Ge‐ richtsprozesses oder der Untersuchung im Strafverfahren geregelt. Es ist anzumerken, dass sowohl im Bereich des öffentlichen als auch des privaten Rechts jede juristische Regelung durch die Norm im Wesentlichen auf die Beschreibung jener Prozedur („jenes Fu‐ ges“) reduziert wird, worunter erst gewisse Handlungen zum be‐ stimmten Ergebnis (der Rechtsfolgen) führen können oder müs‐ sen. Je nachdem wie kompliziert oder, umgekehrt, einfach die ent‐ sprechende Prozedur ist, „beschleunigt“ oder „verlangsamt“ sich das entsprechende Rechtsereignis. Um beispielsweise ein Immobi‐ lienobjekt vorschriftsmäßig zu bauen, kann der Gesetzgeber eine sehr komplizierte Prozedur einführen, wobei somit die Möglichkeit der Fertigstellung des Baus und der Eintragung des Eigentums in die ferne Zukunft verschoben und dadurch selbst die Möglichkeit des Eintretens dieser Folgen problematisch wird, oder die Proze‐ dur so weit wie möglich vereinfachen und damit dem Rechtsereig‐ nis zusätzlichen Impuls verleihen. Ebenso kann jede rechtliche Pro‐ zedur – Heirat, Vereinbarungsabwicklung, das Ablegen von Prü‐ fungen für einen bestimmten Posten – künstlich verlangsamt oder beschleunigt werden. Dabei kann solches Verfahren nicht nur ge‐ setzlich, sondern auch durch Präzedenzfälle, Vereinbarungen oder Bräuche geregelt werden. Daraus können wir schließen, dass der Rechtstext eine eigenstän‐ dige Art des rechtlichen Seienden ist, dessen Spezifik darin besteht, dass es die „Geschwindigkeit“ des rechtlichen Seins, den Zuges zwi‐ schen der Tat und ihren Rechtsfolgen regelt. Diese Regelung hat keinen absoluten, sondern relativen Charakter insofern als das ins Rechtsereignis einbezogene Seiende ihr „entkommen“ kann, indem
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es rechtliches Sein irgendwie „beschleunigt“ und die gewünschten Folgen in kürzerer Zeit als von der Norm vorgeschrieben nach sich zieht. Jedoch hebt das oben Gesagte an sich nicht die rechtliche Relevanz des Textes auf, welche seine Möglichkeit einschließt, sich sowohl als „rechtmäßig“ zu erweisen, d. h. den dem Wesen des Er‐ eignenden entsprechenden zeitlichen Abstand festzulegen, als auch „rechtswidrig“, sodass der Abstand eindeutig nicht dem Ereignis entspricht. Somit ist ersichtlich, dass die Kriterien für den „rechtmäßigen“ oder „rechtswidrigen“ Charakter des Rechtstextes im Wesentlichen temporal-ontologischen Charakter haben. So bedeutet die im Text enthaltene Angemessenheit der Rechtsfolgen im Wesentlichen ihre Beschaffenheit, den verursachten Schaden zu „berichtigen“, indem sie die tatsächliche oder mögliche Unvollständigkeit auffüllt, welche das Ergebnis des Begangenen war. Dementsprechend erweist sich die Festlegung unangemessener Folgen durch den Rechtstext – eine zu harte oder zu milde Strafe oder die fehlerhafte Definition der Tat als angeblich schadenzufügend – als ontologisch dem Ereignenden nicht adäquat. Die ontisch ähnliche Inadäquanz ist uns unter dem Namen „ungerechtes Gesetz“ bekannt. Zugleich ist die Festlegung eines solchen zeitlichen Abstandes zwischen der Tat und den Rechtsfolgen, welcher zur Unmöglichkeit des rechtzeitigen Ereignisses des Rechts führt – eindeutig undurch‐ führbare oder unnötig lange Fristen, zeitaufwändige umständliche Prozeduren zur Durchführung von im Wesentlichen einfachen Vor‐ gängen, auch insofern „rechtswidrig“, als der Lauf des rechtlichen Seins künstlich gebremst wird. Die „Rechtswidrigkeit“ solcher Texte hat in diesem Fall einen temporalen Charakter. Tatsächlich ist die Rechtzeitigkeit auch aus der Sicht der Rechtstheorie eine der we‐ sentlichen immanenten Eigenschaften jeder gesetzlich geregelten Tätigkeit. In einigen Fällen ist sie juristisch notwendig und dann erlaubt die Unzeit der Tätigkeit, sie als rechtswidrig zu qualifizieren. In anderen Fällen gilt sie als Voraussetzung für den Eintritt oder Nichteintritt der entsprechenden juristischen Folgen. In diesem Fall zieht die Unzeit die sogenannte Sanktion der Nichtigkeit nach sich: Rechte und Pflichten von Personen ändern sich nicht. 761
761 Op.cit. S. 7.
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Gleichzeitig scheinen die oben angeführten Aussagen ein seltsa‐ mes Paradoxon zu enthalten. Denn gemäß dem Gesagten scheint die Situation sich so zu verhalten, dass Seiendes – Rechtstexte – in gewisser Weise rechtliches Sein „regulieren“, indem sie die Ge‐ schwindigkeit seines Laufs festlegen. Aber früher haben wir doch konsequent die Position vertreten, nach welcher jedes Seiende als rechtliches durch Rechtssein bedingt ist. Ist dies nicht eine ver‐ steckte Rückkehr zur normativen Jurisprudenz, die somit all das erklärte Pathos der temporal-ontologischen Rechtsbesinnung zer‐ stört? Teilweise ist die Richtung der Antwort auf solchen Einwand be‐ reits in dem oben erwähnten Artikel von P. Rabinowitsch gege‐ ben, der begründet die Tatsache betonte, dass Recht (positives, O.S.) nicht die Zeit als solche regelt, sondern zeitliche (temporale) Pa‐ rameter der Tätigkeit: ihre Dauer, Geschwindigkeit usw. 762 Somit regelt rechtliches Seiende – Text – die Zeit nicht direkt, sondern nur mittelbar: durch die Regelung der Tätigkeit, durch welche sich rechtliches Sein verwirklicht. Deshalb, wenn wir die Antwort in der Ebene der temporalen Rechtsontologie fortsetzen, dann sollten wir uns wieder dem Horizont des rechtlichen Seins zuwenden – der Zeit zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen. Wie mehrmals gesagt bekommt jedes Seiende rechtlichen Charakter, indem es in den er‐ wähnten Zeitabstand eintritt, und verliert ihn sofort, wenn es diesen verlässt. Diese Gesetzmäßigkeit gilt auch für Rechtstexte. Rechtliche Relevanz ist keineswegs die immanente Eigenschaft irgendwelcher Texte. Denn ein Gesetz, eine Vereinbarung oder ein Brauch können gleichermaßen politische, wirtschaftliche, moralische und ethische Texte sein. Daher wird die rechtliche Seinsart des gegebenen Sei‐ enden allein durch seine konkrete Einbezogenheit ins Rechtsereig‐ nis bestimmt, dessen Teilnehmer im Zuge der Verwirklichung des Rechts Rechtstexte anwenden. Ansonsten sind Gesetze, Präzedenz‐ fälle und alles andere leere Deklarationen, wenn ihre rechtliche Re‐ levanz sich als rein nominell erweist. Mit anderen Worten, wenn sich von der Norm vorgesehene Rechtsfolgen der Tat oder der zeit‐ liche Abstand zwischen ihnen als dem Wesentlichen des Ereignisses deutlich unangemessen erweisen, dann verlässt das Ereignis „na‐
762 Op.cit. S. 3.
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türlicherweise“ die juristische Sphäre, bleibt aber dennoch rechtlich relevant. So führt beispielsweise ein zu kompliziertes Verfahren zum Kauf und Verkauf von Währungen zwangsläufig zum Übergang die‐ ser Operationen in den „Schatten“, ihrer Durchführung außerhalb der gesetzlich festgelegten Ordnung. Dieser Übergang bedeutet je‐ doch nicht die rechtliche Irrelevanz des Ereignenden, da wir es im‐ mer noch mit Taten zu tun haben, die auf Jeden als den Anderen gerichtet sind und welche die Möglichkeit des Schadens tragen. Daraus lässt sich schließen, dass sich das Sein der Texte als Rechtstexte als genauso diskret erweist, wie das Sein von anderem rechtlichen Seienden. Mit anderen Worten, dem Mythos von der ständigen Wirkung der juristischen Norm wird der Nimbus ab‐ genommen, sobald wir beginnen, jene nicht als ewiges Sein-Sol‐ len zu denken, welches in der idealen Dimension des Sollens lo‐ kalisiert ist, sondern dort, wo die Norm tatsächlich als rechtsrele‐ vanter Text existiert – im Zeitabstand zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen. Ein Text existiert nur dann als Rechtstext, wenn er die Laufgeschwindigkeit des rechtlichen Seins regelt. Und er regelt sie nicht unmittelbar, sondern nur, indem er die Aufgabe jenen Teil‐ nehmern am Rechtsereignis „erschwert“ oder „erleichtert“, durch deren Taten es sich verwirklicht. Damit erweist sich das erwähnte Paradoxon insofern als nur scheinbar, als der Rechtstext nicht un‐ mittelbar, sondern durch Seiendes – wir selbst im Miteinandersein – die Geschwindigkeit des rechtlichen Seins beeinflusst. Folglich ist die rechtliche Seinsart dem Text nicht „immanent“, sondern lei‐ tet sich aus seiner Einbezogenheit ins Rechtsereignis ab. Der Text bekommt eine rechtliche Seinsart, wird in das Ereignis einbezo‐ gen und verliert sie ebenso zum Ende des letzteren; er wird zum „politischen“, „wirtschaftlichen“, „historischen“ oder einem beliebi‐ gen anderen Text. Die rechtliche Eigenschaft des Textes als des ins Rechtsereignis Einbezogenen liegt ursprünglich in seiner Fähigkeit, die Geschwindigkeit des rechtlichen Seins als der Zeit zwischen der begangenen Tat und ihren Rechtsfolgen zu regeln. Diese Regelung geschieht, indem das Maß des Verhaltens jenem Seienden vorge‐ schrieben wird, durch welches sich das Rechtssein als Zug zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen tatsächlich verwirklicht, d. h. durch uns selbst. Gleichzeitig tragen diese Vorschriften keinen absoluten, sondern nur relativen Charakter und können „in der Praxis“ auch „umgangen“ werden. Es ist zu betonen, dass solche „Umgehung“ als
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Abweichung von den normativen Vorschriften an sich noch nicht rechtswidrig ist, sondern erst dann zur Rechtswidrigkeit wird, wenn die entsprechende Tat Schaden verursacht und zur Verletzung der gegenseitigen Erschlossenheit in unserem gemeinsamen Sein führt.
Schlussfolgerungen Die wichtigsten Bestimmungen der temporalen Rechtsontologie lassen sich also wie folgt zusammenfassen. Erstens „ist“ Recht ursprünglich nicht als Vorhandensein eines gewissen Seienden, sondern ereignet sich im Laufe des Rechtsereig‐ nisses. Das Rechtsereignis, verstanden aus dem Zeithorizont, dem Abstand zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen, enthält seiner‐ seits gleichursprünglich sowohl die Möglichkeit für das Ereignis des Rechts, wenn die Tat rechtzeitig auf die ihr angemessenen Rechtsfol‐ gen trifft, als auch die Möglichkeit für Recht, sich nicht zu ereignen, sich nicht „endgültig“ zu verwirklichen. Zweitens ist das Rechtsereignis, als „Sache“ genommen, im We‐ sentlichen „strittig“ und diskret, das Gegenteil des kontinuierlichen metaphysischen Sein-Sollens des Rechts. Insofern die rechtliche Re‐ levanz des Ereignisses nur dann offenbar ist, wenn Recht sich nicht verwirklichen kann, oder umgekehrt, sich verbirgt, wenn Recht sich ungehindert ereignet, ist das Rechtsereignis der Wechsel von Er‐ schlossenheit und Verborgenheit des Rechts. Drittens, im Gegensatz zum metaphysischen Sein-Sollen, das im‐ mer schon „ist“ und nur verletzt werden kann, existiert Recht als temporal-ontologisches Ereignis nicht „garantiert“. Es kann sich so‐ wohl in Form eines Rechtsereignisses verwirklichen als auch um‐ gekehrt sich nicht verwirklichen, und dann wird Recht nicht „ver‐ letzt“: Es wird sich überhaupt nicht ereignen. Deshalb versteht die temporale Rechtsontologie Recht als die diskrete Menge singulärer Rechtsereignisse und nicht als sein apriorisches Vorhandensein als natürliches oder positives Sollen, welches kontinuierlich die ganze seiende Realität durchdringt. Viertens besteht die temporal-ontologische Verfassung des Rechtsereignisses aus dem Rechtssein, dem Sein des Rechts und der Zeit des Rechtsereignisses. Das Sein des Rechts ist das Sein jenes Seienden (Menschen, Dinge, Texte), welches ins Rechtsereignis
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Schlussfolgerungen
einbezogen wird, dadurch rechtliche Seinsart bekommt und diese am Ende des Ereignisses verliert. Das Rechtssein ist seinerseits jener Zug zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen, welcher sie mit Hilfe des verschiedenen Rechtsseienden aneinander anzieht und das Ereignis des Rechts ermöglicht. Die Zeit des Rechtsereignisses als der Abstand zwischen der Tat und ihren Rechtsfolgen ist die Einheit ihrer chronologischen (sich erstreckende Zeit des Rechtsseienden) und ihrer temporalen (ekstatische Zeit des Rechtsseins) Dimensio‐ nen, wobei die zweite die Voraussetzung für die Möglichkeit der ersten ist. Fünftens, rechtliche Relevanz wird all dem sich Ereignenden ur‐ sprünglich von einer besonderen Art von Tat verliehen, welche ihre Rechtsfolgen immanent enthält. Die Voraussetzung für die rechtli‐ che Relevanz der Tat selbst ist ihre Ausrichtung auf den Anderen als Jeden, an dessen Stelle ein Dritter sein kann, sowie der schuld‐ hafte Charakter der in ihr enthaltenen Schadensmöglichkeit. Schuld ist in diesem Fall die Fähigkeit des Menschen, jene Kausalkette zu beginnen, welche zum Schadenseintritt führt (führen kann) – die Verletzung der Erschlossenheit unseres Miteinanderseins. Ebenso bedeutet der rechtliche Charakter der Folgen deren Fähigkeit, den verursachten Schaden zu beheben.
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Abschluss
Wie man sieht ist dieses Werk also ein Versuch, Recht im Zuge der Überwindung des metaphysischen Rechtsverständnisses neu zu denken. Nach Ansicht des Autors erweist sich jene Art des Rechts‐ verständnisses, die ein absolutes Sein-Sollen des Rechts postuliert, welches die Möglichkeit seines Nichtseins nicht duldet und nur verletzt werden kann, als unfähig hinsichtlich einer Erklärung des‐ sen, was tatsächlich geschieht, wenn normative Vorschriften mas‐ siv missachtet oder Rechtsfolgen festgelegt werden, welche dem Be‐ gangenen offensichtlich nicht entsprechen. Solche Situationen, wel‐ che z. B. in Nazi-Deutschland oder der stalinistischen UdSSR statt‐ gefunden haben, zeigen deutlich, dass Machtwillkür, formalisiert vermittels juristischer Technik, keineswegs die Verletzung irgend‐ welcher „ewigen“ Anforderungen des Naturrechts oder der „Men‐ schenrechte“ bedeutet, sondern das Nichtsein des Rechts als solches. Somit hat sich das von der Rechtsmetaphysik postulierte SeinSollen des Rechts sowohl unter dem Aspekt des Rechtspositivismus (Grundnorm) als auch des Naturrechts (Idee des Rechts), als jener „letzten Grundlage, hinter “ welcher es kein anderes Recht mehr gibt, bloß als eine rein dogmatische Annahme erwiesen. Deshalb kann die postmetaphysische Rechtsphilosophie, welche eine Phä‐ nomenologie des Rechts, eine existentielle Philosophie des Rechts und das dynamische Rechtsverständnis umfasst, als der Versuch charakterisiert werden, die tiefen ontologischen Grundlagen des Rechts wiederzufinden. Die Schlüsselthese der postmetaphysischen Rechtsbesinnung ist die Behauptung, dass die Quelle des rechtli‐ chen Charakters von Menschen, Dingen und Normen jenes Ereignis (sozialer Akt, normative Tatsache, konkrete Situation usw.) ist, das als etwas „Äußeres“ im Verhältnis zum rechtlichen Seienden ist und dadurch dessen rechtliche Seinsart bestimmt. Gleichzeitig hatten ähnliche Untersuchungen von Phänomenolo‐ gen und Existentialisten keinen Erfolg bei der Erklärung, wie genau Recht „außerhalb des Gesetzes“ existiert, d. h. was eigentlich Recht ist, wenn man versucht, es außerhalb der traditionellen Formen sei‐ nes Vorhandenseins zu verstehen – der Gesetze, Ideen, Bräuche usw.
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Abschluss
Deshalb existierte das objektive Bedürfnis, den erwähnten Sachver‐ halt zu überdenken und die Frage zu beantworten, wie Recht ur‐ sprünglich „jenseits“ des Sollens existiert. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, ist die vorliegende Konzeption der temporalen Rechtsontologie. Diese Konzeption geht davon aus, dass die ontologische These des postmetaphysischen Rechtsverständnisses vom äußeren Ereig‐ nis als Quelle der rechtlichen Seinsart des Seienden um die tempo‐ rale ergänzt werden sollte. Davon, dass Recht nur in dem Zeitab‐ stand existiert, der die rechtsrelevante Tat von ihren Rechtsfolgen trennt, und nach deren Eintritt wieder verschwindet. Somit tritt an die Stelle des absoluten Sein-Sollens des Rechts als alles durchdrin‐ gendem „Rechtsfeld“, das von der Rechtsmetaphysik ständig gene‐ riert wird, die Behauptung, dass Recht nicht „an sich“ existiert, son‐ dern sich allemal im Rahmen des konkret-einmaligen Ereignisses erneut reproduziert. Laut der temporalen Ontologie des Rechts ist somit das ursprüngliche Rechtsphänomen das Rechtsereignis und das Recht selbst existiert ursprünglich als diskrete Menge singulärer Rechtsereignisse. Dementsprechend stellt die temporale Rechtsontologie, wie er‐ sichtlich wurde, so etwas wie die „Relativitätstheorie des Rechts“ dar. Die „Relativität“ des Rechts bezeichnet in diesem Fall keine konkret-historische Relativierung des Rechts oder Vorstellungen von ihm und auch keinen Zweifel daran, ob man sich den Normen des Naturrechts oder des positiven Rechts fügen sollte. Dieses Pos‐ tulat ist ein Hinweis auf den relativen Charakter sowohl vom Rechts‐ sein als auch des Seins des Rechts in Abhängigkeit vom Wesentlichen des Ereignenden, im Unterschied zum von der Rechtsmetaphysik postulierten absoluten (permanenten und alles durchdringenden) Sein des Rechts. Mit anderen Worten, die temporale Rechtsontolo‐ gie geht in diesem Fall von der dem ganzen dynamischen Rechtsver‐ ständnis gemeinsamen Annahme aus, dass die Dynamik des Rechts die Bedingung ausdrückt, dass es nicht garantiert ist, sondern alle‐ mal sich auch nicht ereignen und verwirklichen kann – und es dann kein Recht geben wird. Die temporale Rechtsontologie strebt somit nicht danach, ein ewiges und unveränderliches Wesen des Rechts metaphysisch wie‐ derzufinden oder es soziologisch als Phänomen zu beschreiben. Die Aufgabe der temporalen Rechtsontologie, welche das Wesentliche
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Abschluss
dieser Untersuchung darstellt, ist die Ausgliederung jener besonde‐ ren dynamischen Konfiguration des Ereignisses, welche das Ereig‐ nis rechtlich relevant macht, und diese rechtliche Relevanz jedem ins Ereignis einbezogenen Seienden verleiht. Offensichtlich ist diese Auffassung der Weg für die Rechtsbesinnung, welcher uns zu jener verborgenen Quelle führen kann, woraus die Möglichkeiten sowohl des Rechts als auch des Unrechts entstammen und welche keine dia‐ lektische „Synthese der Gegensätze“ in der absoluten Idee darstellt, sondern der temporal-ontologische Anfang davon ist, dass so etwas wie Recht überhaupt existieren kann.
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