Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus. Eine überfällige Gegenüberstellung der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners (1892–1985) und der philosophischen Biologie Kurt Goldsteins (1878–1965) [1. ed.] 9783826077425

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Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus. Eine überfällige Gegenüberstellung der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners (1892–1985) und der philosophischen Biologie Kurt Goldsteins (1878–1965) [1. ed.]
 9783826077425

Table of contents :
Frontmatter
1 Vorwort / Einleitung: Plessner und Goldstein – Eine bloß verpasste oder eine gegenseitig verweigerte intellektuelle Auseinandersetzung?
2 Facetten der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Verkörperung des Menschen und seines Geistes: „embodied mind“, „l’animal que donc je suis“ und „our inner ape“
3 Ein Blick zurück auf die Philosophische Anthropologie:eine „überlebte“ Tradition?
4 Die „Vor-Stufen“ von Plessners Stufenordnung des Organischen in den frühen Schriften: (i) Erste Anläufe zu einer Hermeneutik der Natur und (ii) Grundlegungder (Natur-)Philosophie in einem konstruktivistischen Modell
5 Die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners: Einbettung des Menschen in den Bereich des Organischen – Selbstbewusstsein in den vorausgesetzten Grenzen des Lebens
6 Kurt Goldsteins Lehre vom Aufbau des Organismus: Ein – weitgehend – vergessener Beitrag zur philosophischen Anthropologie
7 Zusammenfassung und These: Goldsteins Aufbau des Organismus als „Scharnier“ der vertikalen und horizontalen Dimension von Plessners Philosophischer Anthropologie
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Hermann Ackermann Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus

Hermann Ackermann

Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus Eine überfällige Gegenüberstellung der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners (1892–1985) und der philosophischen Biologie Kurt Goldsteins (1878–1965)

Königshausen & Neumann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2023 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Bindung: docupoint GmbH, Magdeburg Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany ISBN 978-3-8260-7742-5 www.ebook.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Für Sybille

Dank Anstelle einer Liste an Danksagungen, die ja nie vollständig sein kann, seien hier die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Neurologischen Abteilung der Fachkliniken Hohenurach genannt, die im Rahmen der pflegerischen, therapeutischen und ärztlichen Betreuung „ihrer“ Patientinnen und Patienten Goldsteins Schrift Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten aus dem Jahre 1919 tagtäglich „ins Werk setzen“ und so dazu beigetragen haben, dass ich nun glaube, den Aufbau des Organismus (1934) besser zu verstehen als bei der ersten Lektüre gegen Ende meines Studiums.

Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort / Einleitung: Plessner und Goldstein – Eine bloß verpasste oder eine gegenseitig verweigerte intellektuelle Auseinandersetzung? .....................................................15 1.1 Zur Entstehung dieser Schrift: Anregungen und Hintergründe .........................................................15 1.2 Ausgangspunkt und Gliederung der Untersuchung ......................20 1.3 Textgestaltung, Zitierweise und Fußnoten ........................................25

2 Facetten der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Verkörperung des Menschen und seines Geistes: „embodied mind“, „l’animal que donc je suis“ und „our inner ape“ .....................27 2.1 Die Verkörperung des (menschlichen) Geistes – eine erste Annäherung: Die philosophische Diskussion um „embodied mind“ und „embedded cognition“ ...............................27 2.2 L’animal que donc je suis oder „Wir Menschen sind Tiere“, d.h. naturgebundene und ressourcenabhängige Organismen .........34 2.3 Die Verkörperung des (menschlichen) Geistes – Fortsetzung: Das zweideutige Verhältnis des Menschen zu non-humanen Primaten – Almost Chimpanzee oder Not a Chimp?.......................39 2.4 Zusammenfassung und Überleitung: Von der „Verkörperung des Geistes“ zur „organismischen Kontinuität“ des Menschen „mit und in der Natur“ ......................43

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3 Ein Blick zurück auf die Philosophische Anthropologie: eine „überlebte“ Tradition?......................................................................45

4 Die „Vor-Stufen“ von Plessners Stufenordnung des Organischen in den frühen Schriften: (i) Erste Anläufe zu einer Hermeneutik der Natur und (ii) Grundlegung der (Natur-)Philosophie in einem konstruktivistischen Modell ...................................................................53 4.1 Vorbemerkungen: Weshalb eine „archäologische“ Spurensuche im Fundhorizont der frühen Schriften Plessners? .......53 4.2 Das „unabweisbare Bedürfnis“ der Vernunft nach Einheit – und Sinn: Entwürfe einer Rehabilitierung der Naturphilosophie auf dem Weg zur Philosophischen Anthropologie...........................55 4.3 Grundlegung von Plessners „Philosophie als System“ in der Dissertations- (1916/1918) und Habilitationsschrift (1920): Anarchie des Beginns und Architektonik der Ausführung .............70 4.4 Rückblick auf die Vor-Stufen der Philosophischen Anthropologie der Stufen ......................................82

5 Die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners: Einbettung des Menschen in den Bereich des Organischen – Selbstbewusstsein in den voraus-gesetzten Grenzen des Lebens ........85 5.1 Aufgabe und Ziel der Stufen: „Neue Möglichkeiten des philosophischen Naturverständnisses“ auf der Grundlage einer „nicht empirisch restringierten Betrachtung der körperlichen Welt“........................................................................85 5.2 Naturphilosophie des Lebendigen am Leitfaden der „Grenze“: I. Der Übergang von unbelebten zu belebten Körpern – Innen/Außen-Doppelaspektivität und Positionalität der Lebewesen ..................................................................................100 5.3 Naturphilosophie des Lebendigen am Leitfaden der „Grenze“: II. Emergenz des Menschen aus der tierischen Organisationsform ..............................................117 5.4 Zusammenfassung – Plessner und Überleitung: Vom Konzept der exzentrischen Positionalität zur Aufgabe der Re-Positionierung in der philosophischen Biologie Goldsteins ............................................137

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6 Kurt Goldsteins Lehre vom Aufbau des Organismus: Ein – weitgehend – vergessener Beitrag zur philosophischen Anthropologie ............................................................142 6.1 Vorbemerkungen: Medizinhistorische Einordnung von Goldsteins wissenschaftlichem Werk .....................................142 6.2 Medizinische Prolegomena zu Goldsteins Lehre vom Aufbau des Organismus ..........................................................146 6.3 Exkurs 1 / Kasuistik Patient Schneider: Beispiel einer ganzheitlich „psychologisch-phänomenalen“ Analyse der „Folgezustände“ einer Hirnverletzung ......................155 6.4 Exkurs 2 / Kasuistik Patient Th.: Ursprünge und Entwicklung des Konzepts der abstrakt / kategorialen Einstellung ..................................................161 6.5 Der Aufbau des Organismus: „Vom [kranken] Menschen aus … das Verhalten der anderen Lebewesen … begreifen“ – Reflexmechanismen versus Hermeneutik des Verhaltens ..............169 6.5.1 Randnotizen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes ..............................................169 6.5.2 Vorbemerkungen zum Aufbau des Aufbaus des Organismus ...........................................................174 6.5.3 Das „Verhalten von Organismen verstehen“ – ausgehend von Beobachtungen bei Menschen mit Hirnverletzung: Methodische Vorüberlegungen (Einleitung) ...........................175 6.5.4 Kritik des Konzepts eines modularen Aufbaus der Hirnrinde: Vom Leistungsabbau nach kortikaler Läsion bei Menschen zu „einigen allgemeinen Gesetzen der Tätigkeit des Organismus“ (Kapitel 1) .....................................180 6.5.5 Kritik des Konzepts eines modularen Aufbaus des „Bewegungsapparates“ von Lebewesen: Leistungen eines Organismus versus Funktionen eines Mechanismus (Kapitel 2, 4–5) ...........................................................................187 6.5.5.1 6.5.5.2

Vorbemerkungen ............................................................187 Grenzen einer Lehre vom „Reflexaufbau“ des Verhaltens – erste Annäherung: Die grundlegende Variabilität Reiz-abhängiger Reaktionen .........................................187

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6.5.5.3

6.5.5.4

Auswirkungen einer Schädigung des Organismus („an verschiedenen Stellen des Nervensystems“): Beeinträchtigungen der Figur-Hintergrunddifferenzierung und der Gestaltung der Erregungsverteilung ...............190 Grenzen einer Lehre vom „Reflexaufbau“ des Verhaltens – weiterführende Erörterungen: Reflexe als Grenzfälle einer „sinnvollen“ Auseinandersetzung mit der Umwelt .........................192

6.5.6 Ein „vorläufiges Bild von der Funktion des Organismus“: Ökologie und Quasi-Homöostase des Verhaltens (Kapitel 3) .......................................................193 6.5.7 Weiterführende Überlegungen zur „Ganzheitstheorie des Organismus“: Quasi-Homöostase des Verhaltens und die Konstanten „individueller Wesenheit“ (Kapitel 6) ......195 6.5.7.1

6.5.7.2

6.5.7.3

Die ganzheitliche Gestaltung der Antworten eines Organismus auf einen Reiz als Aufgaben- und Situations-abhängiges Figur-Hintergrundgeschehen .....195 Das Phänomen der Angst und das „psycho-physische Problem“ im Rahmen des „Aufbaus der Organismen“ ..........................................200 Die „besondere Wesenheit eines Organismus“: Individualtypische und artspezifische Konstanten als Grundlage einer Quasi-Homöostase des Verhaltens .....205

6.5.8 Natur versus Geist und der Tier/Mensch-Vergleich: Anthropologische Konsequenzen der philosophischen Biologie (Kapitel 9) ......................................208 6.6 Ausblick: Auf dem Weg zu einer organismischen Grundlegung philosophischer Anthropologie in Human Nature in the Light of Psychopathology – von der Neurorehabilitation zur „organismic psychotherapy“ ....212 6.6.1 Vorbemerkungen zur Gliederung der Schrift Human Nature aus dem Jahre 1940 .........................................212 6.6.2 Persönlichkeitslehren und Charaktertypologien ....................213 6.6.3 Soziales Handeln: „Self-actualization“ im Spannungsfeld von „self-restriction“ und „encroachment“.......218

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6.7 Zusammenfassung – Goldstein: Eine ökologische „Idee“ des Organismus als Grundlage einer Hermeneutik des Verhaltens ..................................................221 6.7.1 Die erworbene Hirnverletzung als „Modellsystem“ philosophischer Biologie: Vom „Bewältigungsverhalten“ der Patienten zur Quasi-Homöostase der Organismen .........221 6.7.2 Kritik modularer Funktionsmodelle des Nervensystems: Vom „Baukastenprinzip“ zur ökologischen Hermeneutik des Verhaltens eines Organismus .............................................222 6.7.3 Kognitive Infrastruktur menschlichen Verhaltens: Die abstrakte / kategoriale Einstellung und das Prinzip des Möglichen – „the essential and the highest attribute of human nature“ .....224

7 Zusammenfassung und These: Goldsteins Aufbau des Organismus als „Scharnier“ der vertikalen und horizontalen Dimension von Plessners Philosophischer Anthropologie ............................................................227

Literatur ........................................................................................................230

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Vorwort / Einleitung: Plessner und Goldstein – Eine bloß verpasste oder eine gegenseitig verweigerte intellektuelle Auseinandersetzung?

1.1 Zur Entstehung dieser Schrift: Anregungen und Hintergründe Der Verfasser dieser Schrift hat an den Universitäten Tübingen und Heidelberg Medizin und Philosophie (Psychologie, Psychiatrie) studiert: Magister Artium 1981 und Approbation 1982 (Promotion Dr. med. 1984: Die Gesundheitslehre des Maimonides – Medizinische, ethische und religionsphilosophische Aspekte). Eine danach begonnene philosophische Doktorarbeit, die sich einem Thema aus dem Bereich der Philosophischen Anthropologie widmen wollte, kam aber „unter die Räder“ zunehmender klinischer und wissenschaftlicher Verpflichtungen an einer Neurologischen Universitätsklinik. Mitte der 2010er Jahre entstand dann aber die „Idee“, den Faden des viele Jahre zuvor begonnenen philosophischen Vorhabens wieder aufzunehmen. Doch nach einer inzwischen auf mehr als zwei Jahrzehnte angewachsenen „Karenzzeit“ war sozusagen die „Anschlussfähigkeit“ des ehemaligen Projekts nicht mehr gegeben. Dennoch, die Beschäftigung mit der Philosophischen Anthropologie war wieder in die Gänge gekommen und sollte „wenigstens“ zu einer Publikation führen. Im Jahr 2014 hatte der Verfasser zusammen mit einem Linguisten und einem Biologen, die im Bereich der akustischen Kommunikation wissenschaftlich tätig sind, eine umfangreiche Arbeit mit dem Titel: Brain mechanisms of acoustic communication in humans and nonhuman primates – An evolutionary perspective veröffentlicht. Vor dem Hintergrund der vorausgegangenen umfangreichen Lektüre von Arbeiten aus dem Bereich vergleichender Verhaltens- und Hirnforschung war wieder das Interesse an Philosophischer Anthropologie erwacht, da diese Tradition, vor allem mit den Namen Max Scheler (1874-1928), Helmuth Plessner und Arnold Gehlen (1904-1976) verknüpft, auch, vielleicht zuvörderst, dadurch gekennzeichnet ist, die Frage nach dem Verhältnis von Tier, genauer, non-humaner Lebewesen, und Mensch in den Blick zu rücken (vgl. Wunsch 2014, 278ff.). Plessners Schrift Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928, 21966, 31975, wieder veröffentlicht als Band IV der Gesammelten Schriften, GS), sein Opus magnum, bot sich als Ausgangspunkt an, wenn über eine „review“ empirisch-wissenschaftlicher Daten hinaus ein naturphilosophischer Zugang zum Tier/Mensch-Vergleich gesucht wird, auch wenn Gehlen zufolge diese Perspektive nur zu metaphysischen „Groß-Informationen“ von im Wesentlichen „doch nur

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dichterischer Evidenz“ führen kann, und er stattdessen eine „empirische Philosophie“ propagiert hat (Gehlen 1961, 141). Aber wenn das Genom von uns Menschen und dasjenige der Schimpansen eine Übereinstimmung von bis zu 99% der DNA-Sequenz aufweist, können wir dann daraus schließen, dass unsere Spezies, um auf einen Buchtitel zurückzugreifen, als Almost Chimpanzee (Cohen 2010) zu gelten hat, oder zeigt dieser Tatbestand nicht bloß, dass schon geringe Unterschiede auf der genetischen Ebene eine außerordentliche, ja, qualitativ differenzierte phänomenale Vielfalt des Verhaltens nach sich ziehen können – und wir Menschen uns doch als Not a Chimp (Taylor 2009), um den Titel einer anderen Veröffentlichung heranzuziehen, verstehen dürfen. In Anbetracht einer, das bleibe hier einfach so dahingestellt, Ambiguität empirisch-wissenschaftlicher Daten faszinierte an Plessner der Versuch, aus einer (hermeneutischen) Naturphilosophie des Organischen heraus den Unterschied von Tier und Mensch begreifen zu wollen, vielleicht auch mit dem Ergebnis, unsere „Sonderstellung“ mit begründeten Einschränkungen versehen zu müssen. Ein zweites Motiv des wieder erwachten Interesses an Philosophischer Anthropologie, insbesondere an Plessner, entstand aus der Begegnung mit der zeitgenössischen Diskussion um das Konzept einer „embodiment of mind“, zumal die einschlägigen Beiträge in erheblichem Umfang auch auf neuro- und kognitionspsychologische Daten und Modelle zurückgreifen (vgl. Fingerhut et al. 22017). Nun hat Hans Redeker seiner Darstellung des Denkweges von Helmuth Plessner, die, obwohl erst 1993 veröffentlicht, doch schon in den 1960er Jahren begonnen und noch von Plessner selbst autorisiert worden war, den Untertitel gegeben: Die verkörperte Philosophie. Ein wesentliches Momentum von Plessners Werk liegt wohl in der „These, daß der Geist immer schon in Verkörperungen auftritt“ (Orth 1995, 70f.), eine Thematik, die sich ausgehend von der frühen Abhandlung zur Einheit der Sinne (1923, wiederabgedruckt in GS III), die die Verkörperung in Gestalt einer Ästhesiologie des Geistes untersucht, so der Untertitel, über das Opus magnum bis in die anthropologischen Schriften der Nachkriegszeit hinein erstreckt. Beispielsweise hat Plessner in dem Aufsatz Die Frage nach der Conditio humana aus dem Jahre 1961 den Gegenstand der Erörterung an die „elementarste, gegen alle Deutungen invariante Daseinsweise“ des Menschen geknüpft, eine Daseinsweise, „die wir mit Verkörperung bezeichnen“ (GS VIII, 209). Und schon der Aufsatz Immer noch Philosophische Anthropologie? aus dem Jahre 1963 lenkt die Thematik der Verkörperung über den Leib von Homo sapiens hinaus (!) auf die Frage: „Wer aber sagt uns, daß seine [d.h. unsere, HA] Lebensgestalt die einzig mögliche für ein endliches Wesen ist, das über Einsicht und schöpferische Kraft verfügt“ (GS VIII, 246)? Mit der Thematik der Verkörperung stellt sich eine bemerkenswerte Nähe zu rezenten Strömungen der „philosophy of mind“ her.

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Und gegen diesen Hintergrund kann dann die Plessner’sche Naturphilosophie, die im Rahmen der in die 1990er Jahre zurückreichenden Debatte um eine „embodiment of mind“ (Varela et al. 1991/2016) bzw. „Philosophie der Verkörperung“ (Fingerhut et al. 22017) bisher keine Erwähnung fand, auf ihre – um diesen Begriff nochmals zu verwenden – „Anschlussfähigkeit“ hin überprüft werden. Die Diskussion um die Verkörperung des Menschen hat in jüngster Vergangenheit im Rahmen von Überlegungen zu einer ökologischen Ethik eine gewisse Zuspitzung erfahren. Beispielsweise betrachtet Corine Pelluchon in ihrem Manifeste animaliste (2017/2020) „unseren Bedarf von Nahrung, Wasser, Luft und Raum“ als auch „Aspekte der Verletzlichkeit wie Ermüdung, Schmerz und Sterblichkeit“ (ebd., 19), „unsere Stellung als gezeugte Lebewesen“ (ebd., 47), kurz, unsere Animalitas, als ein wesentliches Merkmal der Conditio humana, das uns mit nicht-menschlichen Kreaturen verbindet und zu einer Revision des weitverbreiteten Konzepts von Freiheit „als Loslösung von der Natur“ nötigen sollte (ebd.). In Plessners Theorie der Lebendigkeit kommt diesem Gesichtspunkt grundlegende Bedeutung zu. Jeder Organismus, auch der Mensch, ist Teil von „Lebenskreisen“, über die er in seine Umwelt eingebettet ist. „Als Ganzer ist der Organismus daher nur die Hälfte seines Lebens. Er ist das absolut Bedürftige geworden, das nach Ergänzung verlangt, ohne die er zugrunde geht“ (GS IV, 255, vgl. 299). Sicherlich: „Ein Versuch heute direkt an Plessners Lebensphilosophie anzuschließen, würde ihre Rückbindung an das Lebensparadigma des beginnenden 20. Jahrhunderts überspringen“ (Mitscherlich 2007, 24), sein Werk dadurch möglicherweise verfehlen. Vor dem Hintergrund dieser angemahnten Vorsicht soll deshalb das Denken Plessners zunächst in der Philosophischen Anthropologie als einer „besonderen Richtung der deutschsprachigen Philosophie“ (Fischer 2008, 2) verortet werden. Wie kam nun Kurt Goldstein ins Spiel – eine, wie sich zeigen sollte, bemerkenswerte Ergänzung der Gedanken Plessners? Der Verfasser war das Jahr 1986 über als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in einer Abteilung für Neuropsychologie tätig. Die Schwerpunkte der klinischen und wissenschaftlichen Ausbildung lagen in den Bereichen der Neurophonetik und Neurolinguistik, d.h. der Untersuchung von Sprech- und Sprachstörungen bei erworbener Hirnschädigung. In diesem Rahmen kam auch das Werk Kurt Goldsteins in das Blickfeld, insbesondere natürlich seine Untersuchungen an Aphasie-Patienten, aber auch sein Hauptwerk mit dem Titel: Der Aufbau des Organismus – Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, veröffentlicht 1934 in den Niederlanden, eine Zwischenstation auf dem Weg der Emigration in die USA. Die Ähnlichkeit der Titel fällt sofort ins Auge und lässt vermuten, was zu zeigen sein wird, dass auch

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eine inhaltliche Nähe gegeben sein könnte. Bemerkenswerterweise nehmen die beiden Autoren in ihren Schriften jedoch keine nennenswerte Notiz voneinander – zumindest nicht von ihren jeweiligen „Ideen“ zum Aufbau bzw. zur Stufenordnung der Organismen. In der ersten Auflage der Stufen (1928) wird das neuropsychologische Werk Goldsteins ein Mal en passant erwähnt: „die Arbeiten der jüngeren Generation (Goldstein, Gelb, Grünbaum, Pick u.a.)“ (GS IV, 354). Das ausführliche Vorwort zur zweiten Auflage aus dem Jahre 1966 – immerhin 17 Seiten umfassend – nimmt mit keinem Wort Bezug auf den Aufbau, obwohl der Name Goldstein dem Autor noch oder wieder präsent gewesen sein muss, denn der Nachtrag zur zweiten Auflage erwähnt erneut das neuropsychologische Œuvre, aber jetzt in einem anderen Zusammenhang als das vorausgegangene Zitat. Nun hatte Goldstein erst kurz vor dem Erscheinen der ersten Auflage der Stufen begonnen, Arbeiten zu veröffentlichen, die über einen engeren fachwissenschaftlichen Rahmen hinausreichten, genauer, zwei Beiträge zum Verhältnis von Biologie bzw. Physiologie und Psychoanalyse aus dem Jahre 1927 (Meiers 1968, 284). Aber – wie schon ewähnt – taucht Goldsteins vier Dekaden zuvor publizierte Schrift auch nicht im umfangreichen Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen (1966) auf, obwohl doch erwartet werden kann, dass der Titel des Aufbaus das Interesse des Verfassers einer Stufenlehre des Organischen hätte erregen müssen. Die Schrift war Ende 1934 in den Niederlanden veröffentlicht worden, das Land, in dem Plessner seit dem 8. Januar desselben Jahres lebte und arbeitete (Dietze 32018, 99f.; vgl. Plessner 1957). Mit Schreiben vom 6. November 1934 hat Goldsteins Verleger Martinus Nijhoff ein Exemplar der ersten Auflage des Aufbaus an den Herausgeber der Zeitschrift The Journal of Nervous and Mental Disease, New York, geschickt mit der Bitte um eine Rezension der Publikation (das Schreiben fand sich eingelegt in einem Exemplar der ersten Auflage, handschriftlich von Goldstein dem New Yorker Psychiater und Psychoanalytiker Dr. Smith Ely Jelliffe gewidmet, im Besitz des Verfassers der vorliegenden Arbeit). Kaum vorstellbar, dass dieses Werk nicht auch in den Niederlanden annonciert und am Physiologischen Institut der Universität Groningen, wo Plessner eine „wissenschaftliche Unterkunft“ gefunden hatte, wenigstens zur Kenntnis genommen wurde. Darüber hinaus gelangte der Aufbau, aus welchen Gründen auch immer, dann nach dem Zweiten Weltkrieg auch nicht in das Blickfeld anderer Autoren aus dem Umkreis der Philosophischen Anthropologie. In dem monumentalen Werk von Joachim Fischer mit dem Titel: Philosophische Anthropologie – Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts aus dem Jahre 2008 findet sich der Aufbau jedenfalls nicht im Literaturverzeichnis aufgelistet. Nun hat Goldstein selber erst in den 1950er Jahren sein Werk „a kind of philosophical anthropology“ genannt (Goldstein 1959/1971, 12) – vielleicht zu spät, um innerhalb

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dieser Denkrichtung rezipiert zu werden, zumal der Autor als Emigrant in den USA lebte und die Philosophische Anthropologie als „eine besondere Richtung in der deutschsprachigen Philosophie“ gelten darf (Fischer 2008, 2). Andererseits nimmt auch der Aufbau aus dem Jahre 1934 keine Notiz von den sechs Jahre zuvor erschienenen Stufen, obwohl Goldstein auch explizit das Modell einer Stufenordnung der belebten Natur diskutiert. Noch bemerkenswerter: Sowohl Plessner als auch Goldstein haben einen Beitrag zu einer Festschrift für Frederik J.J. Buytendijk (1887–1974) verfasst, im Jahre 1957 erschienen: Rencontre / Encounter / Begegnung – Contributions à une psychologie humaine dédiées au professeur F.J.J. Buytendijk. Goldsteins Aufsatz trägt den Titel: Das Lächeln des Kindes und das Problem des Verstehens des anderen Ich. Kein Wort über Plessners Abhandlung Die Deutung des mimischen Ausdrucks: Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), zusammen mit Buytendijk verfasst (!), oder Plessners 1950 erschienene Studie Das Lächeln (beide wiederabgedruckt in GS VII). Wie bei Plessner Goldstein wird auch bei Goldstein Plessner nur en passant im Rahmen einer Aufzählung von Autoren erwähnt: „Heidegger, Binswanger, Guardini, Plessner u.a.“ – zumindest ein illustres Umfeld (Goldstein 1957, 104). Wenigstens lässt sich eine indirekte Beziehung zwischen Plessner und Goldstein ausmachen, die erst recht auf gemeinsame Bezugspunkte neugierig machen sollte. Im schon erwähnten Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen (1966) schreibt Plessner: „Bei … Merleau-Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen mit meinen Formulierungen“ (GS IV, 34). Umgekehrt zählen Goldstein und sein langjähriger Mitarbeiter Adhémar Gelb (1887–1936) in der Phénoménologie de la Perception (1945/1966), das Hauptwerk von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961), zu den meistzitierten Autoren – kaum weniger häufig referiert als die „Größen“ der Philosophiegeschichte. Die vorliegende Schrift will nun die beiden „Ideen“ eines Organismus, so wie sie sich in den Stufen und im Aufbau finden, nahe dem Text entlang vorstellen und dann zueinander in Beziehung setzen. Mit anderen Worten: Dem überfälligen „Gespräch“ zwischen Plessner und Goldstein soll jetzt Raum gegeben werden. Eine persönliche Begegnung beider Autoren hatte sich zwar Anfang der 1960er Jahre bei einem Empfang deutschsprachiger Emigranten in New York, USA, ereignet, jedoch ohne literarische Spuren zu hinterlassen (Dietze 32018, 512). Erstmals hat dann wohl Thomas Ebke in seinem 2012 veröffentlichten Buch Lebendiges Wissen des Lebens: Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie eine – allerdings kurze – Gegenüberstellung der Philosophischen Anthropologie Plessners und der philosophischen Biologie Goldsteins vorgenommen, insbesondere ausgerichtet an epistemologischen und methodischen Fragen zur Erkenntnis des „Wesens“

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eines Organismus (ebd., 347ff.) Als eine, wie sich hoffentlich zeigen wird, wichtige Erweiterung der bisherigen Literatur werden in beiden Fällen, Plessner und Goldstein, auch die dem jeweiligen Opus magnum vorausgegangenen frühen Werke dargestellt, um die „Wurzeln“ der beiden Konzepte eines Organismus aufzuspüren, die ursprünglichen Intuitionen, die sich dann in den Hauptwerken weiter entfaltet haben und deren Verständnis erleichtern sollten. Im Falle von Plessner handelt es sich, erstens, um die (erweiterte) Dissertations- und die Habilitationsschrift, die sozusagen in der Gegenüberstellung von Phänomenologie und Transzendentalphilosophie eine „Methodenlehre“ wissenschaftlicher bzw. philosophischer Untersuchungen entfalten wollen, und, zweitens, um die hermeneutisch-naturphilosophische Erörterung der Sinnlichkeit des menschlichen Körpers in der schon erwähnten Arbeit Die Einheit der Sinne (1923, wiederabgedruckt in GS III). Nebenbei: Ästhesiologie stellt eben Verkörperung des Geistes im Bereich der Sinnlichkeit dar. Bei Goldstein geht es um zwei umfangreiche Handbuchartikel aus den Jahren 1927 und 1931, in denen erstmals eingehender die methodischen und wissenschaftstheoretischen Rahmenbedingungen der über die vorausgegangenen zwei Jahrzehnte hinweg akkumulierten Erfahrungen am kranken Menschen, Untertitel des Hauptwerkes, reflektiert werden.

1.2 Ausgangspunkt und Gliederung der Untersuchung Plessners Stufen dürfen als ein Klassiker im Raum der Philosophie des vergangenen Jahrhunderts gelten, zumindest hat diese Schrift Eingang in die Reihe Klassiker Auslegen gefunden. Darüber hinaus kann dieses Werk als Höhepunkt der Tradition der Philosophischen Anthropologie gelten: Schelers vorausgegangene kleine Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928/81975) war „bloß“ Programm und die angekündigte Ausarbeitung ist offensichtlich nicht in Angriff genommen worden. Das nachfolgende Hauptwerk Gehlens Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940, vierte, verbesserte Auflage 1950, wiederabgedruckt als Teilbände 3.1 und 3.2 der Gesamtausgabe, GA), wird vom Autor selbst als „empirische Philosophie“ deklariert, die sich, so ausdrücklich vermerkt, auf das damals gängige Schrifttum zur Entwicklungspsychologie stützt, somit dasselbe Verfallsdatum aufweist (GA 3.1, 152, GA 3.2, 760f.). Die schon angesprochene Dissertation von Olivia Mitscherlich mit dem Titel: Natur und Geschichte – Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie (2007) rekonstruiert in drei „Deduktionsschritten“ die in den Stufen vorgelegte „naturphilosophische Erkenntnis des Lebendigen als Ganzem“.

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Ziel ist, das Plessner’sche Opus magnum als Versuch der philosophischen Orientierung in einer Epoche zu verstehen, die sich durch „Begeisterung für das Lebensparadigma“ ausgezeichnet hat, eine Befindlichkeit, die uns eher fremd geworden ist (ebd., 24). Deshalb wird ausdrücklich auf „eine unmittelbare Inanspruchnahme Plessners für die zeitgenössische Diskussion verzichtet“. Eben da will die vorliegende Untersuchung einsetzen mit der Frage nach dem (möglichen) Beitrag der Stufen zu der zeitgenössischen Diskussion um eine „Verkörperung“ des menschlichen Geistes (Varela et al. 1991/2016) bzw. nach der Natur des Menschen als eines „verletzlichen Organismus“ (Pelluchon 2017/2020) und einer tierischen Lebensform (Gabriel 2021). Goldstein gilt als einer der wichtigsten Vertreter biologisch-psychologischer Ganzheitslehren aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts (Harrington 1996/2002). Sein, ja, philosophisches Hauptwerk, der Aufbau, wurde bislang nicht textnah und umfassend nachgezeichnet und in den Zusammenhang mit den relevanten vorausgegangenen und nachfolgenden Schriften gestellt. Zwei Dissertationen aus dem deutschsprachigen Raum gehen zwar auch auf seine „Theorie des Organismus“ ein, die Untersuchung von Uta Noppeney (2000) legt aber den Schwerpunkt auf das Konzept der abstrakten Haltung als eines vorwiegend klinisch-neuropsychologischen Konzepts, und die Arbeit von Katja Bruns (2011) spürt den Verbindungen zur Theologie Paul Tillichs (1886–1965) nach, der mit Goldstein befreundet war, eine Verbindung, die noch in Deutschland entstanden ist und sich in den USA fortgesetzt hat. Es soll herausgearbeitet werden, dass der in der öffentlichen Diskussion oft nur als Klischee imponierende „Begriff“ der Ganzheit bei Goldstein eine präzise Bedeutung bekommt: Die einzelnen, d.h. isolierten Funktionen bzw. Reaktionen eines Lebewesens – als Paradigma gilt in der Regel der Reflexmechanismus – müssen, erstens, als Facetten des Gesamtverhaltens eines Organismus eingeordnet werden, das, zweitens, seinen Sinn – seine Konfiguration – in der „self-preservation“ und „self-actualization“ der jeweiligen Lebensform im Rahmen seiner vorhandenen Ressourcen vor dem Hintergrund der Anforderungen eines Umfeldes erhält. Diese sozusagen ökologische Hermeneutik des Verhaltens verdankt sich den „Erfahrungen am kranken Menschen“, stellt nach wie vor die Grundlage der Praxis neurologischer Rehabilitation dar, wird aber von Goldstein erweitert zur Conditio humana. Mit anderen Worten, sozusagen nun die These zum Verhältnis der Stufen und des Aufbaus: Die exzentrische Positionalität des Menschen, das grundlegende philosophisch-anthropologische Konzept Plessners, zeigt sich auf der Ebene des alltäglichen Lebens – im Werk Goldsteins – als fortwährende Aufgabe einer Re-Positionierung im Sinn der Aufrechterhaltung geordneten Verhal-

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tens, d.h. einer quasi-homöostatischen Balance zwischen den Ressourcen des Organismus und den Anforderungen des Umfeldes. Vor diesem Hintergrund sei abschließend die Gliederung der Abhandlung kurz vorgestellt (ohne Quellenangaben mit einzubeziehen): Kapitel 2. Anknüpfungspunkt: Das Verhältnis Tier / Mensch und Organismus / Person als philosophische Herausforderung In der gegenwärtigen Philosophie kommt der Bestimmung des menschlichen Körpers als eines tierischen Organismus – sei es eher verdeckt oder offensichtlicht – von mehreren Ausgangspunkten her erhebliche Bedeutung zu. (i) Der vielversprechende Denkansatz einer „Verkörperung des Geistes“ („embodiment of mind“) stützt sich insbesondere auf die Annahme, dass „geschickte Bewegungen und eingeübte Tätigkeiten“ („sensorimotor skills“) anschaulich inhärente Intelligenz unseres menschlichen Bewegungsapparates zur Darstellung bringen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber – am Beispiel des „reptilian brain“ dann angedeutet – in diesen Leistungen ein phylogenetisches Erbe, „eingeschrieben“ in unseren mit anderen tierischen Lebensformen geteilten Organismus. (ii) Von uns Menschen wird vehement eingefordert, dass wir uns als Tiere begreifen lernen – als Voraussetzung eines ökologischen Wandels: „eingebettet“ oder „verstrickt“ in eine „organismische Kontinuität“ mit der Natur, dadurch wie alle Kreaturen abhängig von natürlichen Ressourcen und gesundheitsbedrohenden Gefahren wie Krankheiten und Unfällen, aber auch altersbedingten Einschränkungen ausgesetzt. (iii) Verhaltensbiologische Befunde deuten darauf hin, dass unser phylogenetisches Erbe auch kognitive Leistungen und Sozialverhalten formatiert, mithin – zumindest in gewissen Grenzen – Our Inner Ape unser Verhalten inszeniert und nun die Primatologie zu erklären hat, „why we are who we are“. Das Konzept einer Verkörperung des Geistes erfährt in dieser Perspektive eine Radikalisierung, muss nun im Modus eines Genitivus objectivus gelesen werden. Kapitel 3. Rückgriff: Die Naturphilosophie Plessners im Rahmen der Tradition der Philosophischen Anthropologie Durch weitere Akkumulation empirisch-wissenschaftlicher Daten lassen sich die angerissenen Fragen nach dem Verhältnis Tier / Mensch und Organismus / Person wohl nicht angehen – um das anspruchsvollere Verb „lösen“ zu vermeiden. Um auf das schon erwähnte Beispiel zurückzukommen: Wenn das Genom von uns Menschen und der Schimpansen eine Übereinstimmung von bis zu 99% der DNA-Sequenz aufweist, dann könnten wir einerseits aus diesen Daten schließen, dass unsere Spezies als Almost Chimpanzee einzuordnen ist, aber „by the same token“ dürften wir andererseits behaupten, dass schon geringe Diskrepanzen auf der genetischen Ebene au-

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ßerordentliche Unterschiede im Bereich des Verhaltens nach sich ziehen – und wir Menschen eben doch als Not a Chimp gelten dürfen. Weshalb nun Plessner als Anknüpfungspunkt? Plessners Stufen betten den Menschen ein in eine umfassende Naturgeschichte des Lebendigen, die einerseits unserer „Animalität“ Rechnung trägt, andererseits an demselben (!) Leitfaden entlang „das spezifisch Menschliche zeigt und begründet“. Und eine Aussage zum „spezifisch Menschlichen“ kann wohl auch dadurch (zusätzliches) argumentatives Gewicht erhalten, dass sie sich als in eine umfassende Naturphilosophie eingetieft ausweisen lässt. Nebenbei: „Geschichte“ soll hier im Sinne von „Narrativ“ verstanden werden, nicht als die Evolution der Arten in ihrem zeitlichen Ablauf. Plessners Philosophie des Organischen knüpft am „Lebensparadigma“ seiner Zeit an, ein Hintergrund, der uns fremd geworden ist und kann deshalb „nicht unmittelbar in die zeitgenössische philosophische Diskussion eingeführt werden“. Deshalb soll Kapitel 3 zunächst das Werk Plessners in der Tradition der philosophischen bzw. Philosophischen Anthropologie verorten. Kapitel 4. Die Vor-Stufen der Stufen Plessners: Die frühen erkenntniskritischen und hermeneutisch-naturphilosophischen Schriften Auch philosophisch gebildete Leser haben die Stufen als ein äußerst sperriges Werk empfunden: „es ist auf ungeschickte Weise schwer geschrieben … benutzt insbesondere dort, wo der Leser dringend exakte Begriffe braucht, Metaphern, Bilder und präpositional überfrachtete Termini“. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, dürfte der Blick zurück auf die Vor-Stufen hilfreich sein. Darüber hinaus wurde in der Sekundärliteratur darauf hingewiesen, dass Plessners Werk eine „Philosophie als System“ darstellt und deshalb die den Stufen zeitlich vorausliegenden Schriften mit in die Betrachtung des Opus magnum einbezogen werden müssen. Vor diesem Hintergrund sucht Kapitel 4 im Fundhorizont der Vor-Stufen, um einen archäologischen Begriff heranzuziehen, nach den Wurzeln der Stufen, nach den Intuitionen, die dem Opus magnum zugrunde liegen und die als Leitlinien der Lektüre dienen könnten: (i) der Begriff der Grenze als Ausgangspunkt der Bestimmung „lebendiger Körper“ und (ii) die Verankerung einer Hermeneutik der Natur in „sondergebietsübergreifenden“ Signaturen. Kapitel 5. Die Stufen des Organischen und der Mensch: Exzentrische Positionalität als Eskalationsstufe tierischer Lebensformen Plessner stützt sich auf eine „nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt“, um den Menschen in einer Stufenordnung des Organischen zu verorten. Der Grundgedanke scheint zu sein, dass so wie uns Menschen z.B. mimisches Ausdrucksverhalten eines Gegenüber unmittelbar-anschaulich zugänglich ist, uns als Lebewesen, die wir auch sind, in

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vergleichbarer Weise ebenso Lebendiges anschaulich präsent werden kann, nämlich als Körper einer Doppelaspektivität von Innen / Außen in einer distinkten Positionalität gegenüber dem jeweiligen Milieu. Und diese „Strukturgesetzlichkeit“ eines lebendigen Dings lässt sich, erstens, entfalten in eine Stufenordnung von „Leibumweltrelationen“, die sich, zweitens, an einer Fülle empirischer, botanischer und zoologischer Befunde zu bewähren hat. Vor diesem Hintergrund kann dann der Mensch als Eskalation eines tierischen Organismus eingeordnet werden, nicht primär (!) durch irgendwelche Monopole ausgezeichnet, sondern als „Zuspitzung“ einer zentralistisch-geschlossenen Organisationsform des Lebens, die dann zu Beginn des Schlusskapitels als „exzentrische Positionalität“ bestimmt wird. Mit anderen Worten: Eben die Naturgeschichte, in die wir Menschen vollumfänglich eingebettet sind, unterläuft sich selber in und durch unsere – emergente – kognitive Infrastruktur. Kapitel 6. Die Aufgabe einer Re-Positionierung exzentrischer Positionalität in Goldsteins Aufbau des Organismus Ausgangspunkt der Lehre vom „Aufbau des Organismus“ sind „Erfahrungen am kranken Menschen“: Wenn nach einer erworbenen Hirnverletzung sich bleibende Behinderungen ausbilden, dann muss eine neue Balance bzw. Kohärenz im Verhältnis von Organismus und Umwelt gefunden werden durch, in zeitgemäßer Terminologie, „coping“-Strategien und / oder „niche re-construction“. Das Konzept einer Stufenordnung natürlicher Phänomene, auch der organischen Welt, wird nun von Goldstein nicht rundweg abgelehnt, lasse sich aber derzeit – von der Datenlage her – nicht wirklich sinnvoll ausarbeiten. An die Stelle einer, in seinen eigenen Worten, Rangordnung der Lebewesen nach „höher“ und „niederer“ tritt eine Ökologie des Verhaltens aller Organismen in Gestalt von „self-preservation“ und „self-actualization“ unter den Herausforderungen der jeweiligen Umwelt. Diese Lehre vom „Aufbau des Organismus“, genauer, eines jeden Organismus, vermag eine Lücke auszufüllen, die sich bei Plessner zwischen Naturgeschichte (vertikale Dimension der Philosophischen Anthropologie) und Kultur (horizontale Ebene) auftut: die Struktur bzw. Dynamik alltäglichen Verhaltens des Menschen. Der Darstellung des Aufbaus geht voraus eine Diskussion zweier umfangreicher Handbuchartikel aus den Jahren 1927 und 1931, sozusagen die Vor-Stufen des Opus magnum, auf die textnahe Auslegung des Hauptwerks folgt dann ein Ausblick auf die mehrere Jahre später veröffentlichte Schrift Human Nature in the Light of Psychopathology (1940/31951), die sozusagen den Blick in Richtung einer philosophischen Anthropologie – und einer „organismic psychotherapy“ – erweitert. Als Ergänzung zur Darstellung des Aufbaus werden in zwei umfangreichen Exkursen die medizinischen Hintergründe dieser Schrift er-

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läutert – schließlich geht die Abhandlung von „Erfahrungen am kranken Menschen“ aus: Exkurs_1 / Kasuistik Patient Schneider: Beispiel einer ganzheitlich „psychologisch-phänomenalen“ Analyse der „Folgezustände“ einer Hirnverletzung Exkurs_2 / Kasuistik Patient Th.: Ursprünge und Entwicklung des Konzepts der abstrakt / kategorialen Einstellung

1.3 Textgestaltung, Zitierweise und Fußnoten Da die ursprüngliche Absicht einer philosophischen Doktorarbeit sich nicht wie geplant verwirklichen ließ, wurde der Text nun nicht strikt auf die Begründung einer These zum Verhältnis der Plessner’schen und Goldstein’schen „Idee“ eines Organismus beschränkt, sozusagen eine eng umgrenzte philosophiegeschichtliche „Leerstelle“ auszufüllen versucht, sondern die Thematik in einen etwas breiteren Rahmen gestellt, vor allem in Gestalt der Kapitel 2 und 3. Die Folge ist ein vielleicht hybrider Aufbau der Arbeit. Auf einen Abriss von Leben und Werk der beiden Autoren wird verzichtet, das Internet stellt weiterführende Informationen bereit. Biographisches Material findet aber dann Berücksichtigung, wenn es Form oder Inhalt relevanter Werke zu erhellen vermag, z.B. den Charakter des Aufbaus als einer, ja, Kompilation vorausgegangener Schriften. Fußnoten beinhalten, aus Platzgründen, meist nur knapp kommentierte Hinweise auf illustrative oder weiterführende Literatur. Wie in der naturwissenschaftlichen Literatur üblich, sind Quellenverweise in den Text eingefügt: (Autoren/Autorinnen + Jahreszahl, Seiten), auch wenn die Referenzen kürzere Phrasen beinhalten sollten. Wird sozusagen in Sichtweite auf dieselbe Schrift aus dem Bereich der Sekundärliteratur erneut Bezug genommen, dann beschränkt sich die Referenz auf (ebd., Seite) oder (ebd.). Die Lektüre wird auf diese Weise, so die Hoffnung, lesefreundlicher gestaltet, da kein fortwährendes Oszillieren zwischen Text und Fußnoten erforderlich ist. Außerdem erlaubt dieses Vorgehen detailliertere und umfangreichere Zitate und Bezugnahmen – als eine Hilfe für Leser, die gegebenenfalls die Originalliteratur konsultieren wollen. Kursivdruck im Rahmen eines Zitats entspricht, wenn nicht anders vermerkt, der Schreibweise im Original. Bei der ersten Erwähnung eines Autors (Ausnahme: zeitgenössische Werke) werden die Lebensdaten in Klammern hinzugefügt, um eine zeitliche Einordnung ihrer Schriften zu ermöglichen. Aus demselben Grund findet sich bei Übersetzungen immer auch das Erscheinungsjahr

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der Erstausgabe angegeben, Beispiel: Merleau-Ponty 1945/1966, oder die Erstauflage im Falle des Verweises auf eine spätere Ausgabe, z.B. Anders 1956/51980. Titel von Büchern oder Aufsätzen sind kursiv gesetzt, es sei denn, der Titel einer Abhandlung wird explizit referiert. Um das Inhaltsverzeichnis übersichtlich zu gestalten, kommen nur zwei Ebenen der Gliederung zur Berücksichtigung, abgesehen von Abschnitt 6.5. Dieser Teil der Abhandlung widmet sich dem umfangreichen Opus magnum Goldsteins, eine weitere Unterteilung dürfte an dieser Stelle die Orientierung des Lesers erleichtern. Plessners Werke werden durchgehend nach der 10 Bände umfassenden Reihe Gesammelte Schriften zitiert, erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main (GS + Bandangabe (lateinische Ziffern), Seite(n)). Die häufiger zitierten Schriften Goldsteins finden sich als Akronyme abgekürzt: Aufbau des Organismus (AO) und Human Nature (HN). Ansonsten kommen im Text bei mehrfacher Bezugnahme Abkürzungen des Titels einer Schrift zum Tragen, z.B. im Falle Plessners die Untersuchungen oder die Krisis-Schrift. Die Werke Gehlens werden nach der Gesamtausgabe (GA) zitiert, die vom Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, herausgebracht wird.

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Facetten der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Verkörperung des Menschen und seines Geistes: „embodied mind“, „l’animal que donc je suis“ und „our inner ape“

2.1 Die Verkörperung des (menschlichen) Geistes – eine erste Annäherung: Die philosophische Diskussion um „embodied mind“ und „embedded cognition“ Unter der Bezeichnung „embodied mind“ (Varela et al. 1991/2016) bzw. „embedded cognition“ (Barsalou 2008), im deutschen Schrifttum auch – z.B. in Gestalt eines Buchtitels – als Philosophie der Verkörperung (Fingerhut et al. 22017) bezeichnet, werden neuere Entwicklungen der Philosophie im Grenzgebiet zu den Kognitions- und Lebenswissenschaften zusammengefasst, die sich im Verlauf der vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte entfaltet haben (unter den multiplen englischen Bezeichnungen dieses Denkansatzes soll der erstgenannte Terminus bevorzugt verwendet werden). Einige Autoren aus dem Umkreis dieser Bewegung versuchen, an die Tradition phänomenologischer Arbeiten anzuknüpfen (vgl. Fingerhut et al. 22017, 25ff.). Beispielsweise bezieht sich die seminale Abhandlung The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, verfasst von Francisco J. Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch (1991/2016), eine Gruppe von Wissenschaftlern, die zusammen Expertise im Bereich der phänomenologischen Philosophie, der Neurophysiologie und der Wahrnehmungs- bzw. Sprachpsychologie vorzuweisen haben, mehrfach auf das Werk von Merleau-Ponty als eines wichtigen Vorläufers der zeitgenössischen Literatur zur „embodiment of mind“, ja, es wird sogar behauptet: „We like to consider our journey in this book as a modern continuation of a program of research founded over a generation ago by the French philosopher, Maurice Merleau-Ponty“ (ebd., LXI, vgl. XXIV, 3f, 15, 19f; siehe auch Fingerhut et al. 22017, 30f.). Während aus dem deutschen Sprachraum immerhin die Umweltlehre Jakob (Johann) von Uexkülls (1864–1944) Gehör findet, wurde und wird die Tradition der Philosophischen Anthropologie bislang nicht nur nicht systematisch rezipiert, sondern nicht einmal erwähnt – auch nicht Plessner als ihr wohl wichtigster Exponent. Schaut man sich aber die Verweise auf Merleau-Ponty in The Embodied Mind an, dann könnte in diesen Zusammenhängen auch Plessner zitiert werden. Beispielsweise heißt es im genannten Buch: „We hold with Merleau-Ponty that Western scientific culture requires that we see our bodies both as physical structures and as lived, experiential structures – in short, as both ‚outer‘ and ‚inner‘,

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biological and phenomenological. These two sides of embodiment are obviously not opposed. Instead, we continuously circulate back and forth between them“ (Varela et al. 1991/2016, LXI). Diese Passage lässt sich auch auf Plessners Konzept einer Leib/Körper-Differenz beziehen (vgl. Krüger 1999, 35ff, 2001, 84ff.). Das Konzept von „embodiment of mind“ will sich insbesondere einer weitverbreiteten Computer-Metaphorik des Geistes widersetzen („the guiding metaphor of cognitivism is the digital computer“; Varela et al. 1991/2016, 7). Eine Abhandlung von Warren S. McCulloch (1898-1969) und Walter Pitts (1923-1969) mit dem Titel: A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity aus dem Jahre 1943 (wiederabgedruckt in McCulloch 1965/2016) hat wesentlich zu den konzeptuellen Grundlagen des angesprochenen „cognitivism“ beigetragen. In den Worten von Varela, der die Tradition der „embodiment of mind“ mit auf den Weg gebracht hat: „Two major leaps were taken in this article [McCulloch & Pitts, 1943, HA]: first, the proposal that logic is the proper discipline with which to understand the brain and mental activity, and second, the claim that the brain is a device that embodies logical principles in its component elements or neurons“ (1991/2016, 38f.). Die „Intelligenz“ des Menschen „verkörpert sich“ – diesem Konzept zufolge – in den computationalen Leistungen der neuronalen Netzwerke des Gehirns. Der „Rest“ des Körpers bleibt außerhalb des Blickfelds, sein Beitrag zu kognitiven Funktionen beschränkt sich darauf, „interfaces“ oder „input/output“-Module als Verbindungen des Zentralen Nervensystems zur Umgebung einzurichten. Im Gegensatz zur Computer-Metaphorik des Geistes bzw. der Kognition nehmen die einzelnen Spielarten einer „Verkörperung des Geistes“ vielmehr an, „dass sowohl die kognitiven als auch die geistigen Zustände und Prozesse von Lebewesen – insbesondere auch von uns Menschen – intrinsisch verkörpert und als solche wesentlich in eine Umwelt eingebettet sind“ (Fingerhut et al. 22017, 9). Etwas anschaulicher formuliert: Intelligenz „versteckt sich nicht im Innenraum des Bewusstseins und des Denkens“, sondern stellt sich – zumindest auch – dar als die intrinsische, d.h. gelebte und anschauliche (!) Intelligenz „unserer geschickten Bewegungen und eingeübten Tätigkeiten und sie liegt in unserer Welt bereit“ (ebd.). Die auf der Computer-Metapher basierenden Forschungsrichtungen haben deshalb als „fehlgeleitete Wissenschaftsprogramme“ zu gelten (ebd., 63). Als Index intrinsischer Intelligenz wird in diesem Zusammenhang insbesondere die schon erwähnte anschaulich gegebene „Geschicktheit“ von Bewegungsvollzügen herangezogen. Nebenbei: Mehrere Dekaden zuvor – im Jahre 1927 – hatte schon Arnold Gehlen in einem Beitrag mit dem Titel: Reflexionen über Gewohnheit zu einer Festschrift für Hans Driesch sich vom „Geistcharakter“ eingeschliffener Handlungen fasziniert gezeigt: Durch Übung „entstehen die erstaunlichen

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Leistungen der Jongleure und Akrobaten, die so ihren Verstand gewissermaßen in ihre Glieder herabüben“, eine verblüffende Nähe zur Philosophie der Verkörperung des Geistes (GA I, 100; vgl. Fischer 2008, 154). Durch (senso-)motorisches Lernen angeeignete „geschickte Bewegungen und eingeübte Tätigkeiten“ („skill acquisition“) – eines der grundlegenden Paradigmata der Verkörperung des Geistes – werden von Seiten der Neuropsychologie dem sogenannten impliziten oder prozeduralen Gedächtnis zugeordnet, assoziiert mit einem inzwischen relativ gut charakterisierten distinkten Netzwerk zerebraler Strukturen (vgl. z.B. Daum & Ackermann 1997). Im Gegensatz zum deklarativen Erinnerungsvermögen, auf das wir uns meist beziehen, wenn wir den Begriff des Gedächtnisses im Alltag verwenden, z.B. Ereignisse eines vergangenen Urlaubs berichten und sie dadurch sozusagen verbal „deklarieren“, lassen sich motorische Fertigkeiten („motor skills“ und – hier nicht eigens berücksichtigt“ – „perceptual skills“) erst und nur im Vollzug der entsprechenden Bewegungsfolgen (oder, im Falle von „perceptual skills“, sensorischen Diskriminations- und Identifikationsleistungen) „erinnern“, der Versuch einer sprachlichen Reproduktion würde nicht weit führen, zumindest nicht belegen können, dass die entsprechenden Fertigkeiten vorliegen. Dem angesprochenen deklarativen Gedächtnis, das Erinnerungsvermögen im landläufigen Sinne, wird deshalb ein prozedurales System der Datenspeicherung gegenübergestellt, auch als implizites Gedächtnis abgegrenzt. Nun können mit einiger Plausibilität zumindest „motor skills“ als Verkörperung von Intelligenz verstanden werden: In einer flüssig aufs Parkett gezauberten Tanzfigur lässt sich durchaus eine Veranschaulichung (!) intelligenter Bewegungssteuerung erblicken. Ausdrücklich will aber das Konzept von „embodied mind“ oder „emactivism“ über den Bereich der Sensomotorik hinausgreifen, und dieses Modell beinhaltet, „dass erstens auch ‚komplexe‘ kognitive Fähigkeiten, geistige und mentale Leistungen, intrinsisch verkörpert und wesentlich in eine Umwelt eingebettet sind und dass dies zweitens auch für bewusste Erfahrungen und Erlebnisse gilt“ (Fingerhut et al. 22017, 11).1 1

Erwähnt werden soll – wenigstens im Vorübergehen – ein weiterer Aspekt von „embodiment“, der sich auch am Leib aus „Fleisch und Blut“ vollzieht, aber ebenfalls über den Bereich der „sensorimotor skills“ hinausgreift: die sozial- und kulturwissenschaftliche Dimension des menschlichen Körpers als öffentliche Inszenierung und als Identitäts- bzw. Statussymbol (vgl. Kamper & Wulf 1982, ein Sammelband mit einer Vielzahl an Arbeiten zu Körperkonzepten und -bildern, die dann in einschlägigen „Körperherstellungen“ (Seitter 2012, 8, Anm. 2) enden können). Insbesondere hat sich Pierre Bourdieu (1930-2002), ein „Klassiker der Soziologie“, dieser Thematik gewidmet: „Bourdieu unternimmt in seinem Konzept des Habitus den Versuch, die Einschreibung sozialer Ordnung in den Körper des Menschen zu fassen“ (Jäger 2005, 100). Und hier schließt sich der Kreis von der Verkörperung des Geistes zur Inkorporation des Sozialen in einer eher unerwarteten Perspektive: Die

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Die angesprochenen Funktionen sind – aus heutiger Sicht trivialerweise – im Gehirn intrinsisch verkörpert. Aber inwiefern kann bei komplexen kognitiven Fähigkeiten und, allgemeiner, bei bewussten Erfahrungen überhaupt von Verkörperung gesprochen werden – vergleichbar der anschaulich beobachtbaren „gelebten Intelligenz unserer geschickten Bewegungen und eingeübten Tätigkeiten“ z.B. der Arme und Hände? (ebd., 9) Nun lassen sich durch Training, beispielsweise von Denksportaufgaben, auch Übungseffekte erzielen, und es scheint zu einer Ausbildung von „cognitive skills“ zu kommen, die hinsichtlich ihrer neuralen Korrelate – in gewissen Grenzen – tatsächlich mit motorischen Fertigkeiten zu vergleichen sind (vgl. z.B. Ackermann & Baysal 2014). Im Gegensatz zur „Geschicktheit“ von Bewegungen und der „Eingeübtheit“ von Tätigkeiten – per se körperbezogene Aspekte unseres Verhaltens – stellt sich die Inkorporation der Intelligenz komplexerer kognitiver Fähigkeiten aber weniger an unserem Organismus selber als vielmehr in einer „intelligenten“, ökologischen Einbettung unseres Handelns dar: „Der Geist selbst muss als etwas in den Körper und in die Umwelt Ausgedehntes verstanden werden“ (Fingerhut et al. 22017, 9). Ein sehr eindrückliches Beispiel von „Einbettung“ in eine Umwelt aus der Literatur zur Philosophie der Verkörperung findet sich in dem Artikel Der Geist – ausgedehnt oder gestützt? von Kim Sterelny (abgedruckt in Fingerhut et al. 22017). Theatertruppen der Elisabethanischen Epoche hatten oft ein sehr umfangreiches Repertoire an Stücken zu meistern. Um nun den „memory load“ der Schauspielerinnen in Grenzen zu halten, „waren sowohl die Skripte als auch die Bühnen so eingerichtet, dass sie den Raum der Möglichkeiten einschränkten und Hinweise auf die richtigen Handlungen zum richtigen Zeitpunkt beinhalteten“ (ebd., 282f.). Aber „auch wenn das ein überzeugendes Beispiel für die Unterstützung einer kognitiven Fähigkeit durch die Umwelt ist, fällt es doch zunächst schwer, es in das Modell des ausgedehnten Geistes zu pressen“ (ebd.). Im Jargon der heutigen Soziobiologie könnte diese Anpassung einer Umgebung sozusagen an die Bedürfnisse eines Akteurs als „niche construction“ bezeichnet werden (Odling-Smee et al. 2003; Kendal et al. 2011). Während jedoch beim Erwerb motorischer Fertigkeiten per se der Körper involviert ist, es geht ja – als Zielgröße – um Veränderungen im Bereich der (Senso-) Motorik, scheint sich im Falle kognitiver Leistungen Intelligenz nicht anschaulich am Leib eines Akteurs aufzeigen zu lassen, allenfalls in der Domäne des „Körperlichen“ – verstanden als das reale und nicht nur habituelle Verfasstheit unseres Verhaltens („habits“) scheint tatsächlich durch dieselben zerebralen Netzwerke vermittelt zu werden wie unsere sensomotorischen Fertigkeiten („skills“) in Gestalt „geschickter Bewegungen und eingeübter Tätigkeiten“, auf den Punkt gebracht im Titel eines Aufsatzes: The striatum: Where skills and habits meet (Graybiel & Grafton 2015).

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imaginierte Umfeld eines Akteurs. Es könnte eingewendet werden, dass bei der Bearbeitung mentaler Aufgaben, insbesondere wenn es sich um neue und noch nicht vertraute Anforderungen handelt, subtile Formen der Verkörperung ins Spiel kommen wie beispielsweise „mental imagery“, d.h. die Veranschaulichung einer Aufgabe vor dem „inneren Auge“ eines Probanden, oder „inner speech“, d.h. ein nicht-lautierendes „Sprechen in Gedanken“, Verfahren, die im Rahmen von Problemlöseaufgaben – unserer Introspektion zufolge – durchaus zu beobachten sind. Aber durch Übung erworbene „cognitive skills“ verringern eben die Abhängigkeit der entsprechenden mentalen Funktionen von attentiven Ressourcen, es kommt zu einem Übergang von einem „controlled“ zu einem „automatic mode of processing“, gekennzeichnet beispielsweise durch Rückgang sichtbarer Anstrengung und Mühe wie Grimassieren oder Gestikulieren, d.h. die Tiefe an Inkorporation nimmt eher ab. Diesen Überlegungen könnte entgegnet werden, dass – wie schon erwähnt – Verkörperung nicht auf „intelligente“ Veränderungen der Sensomotorik des leiblichen Körpers zu begrenzen sei, sondern sich – breiter – auf die Einbettung eines Organismus in die Umwelt bezieht und sich sozusagen in einer Modifikation oder Fazilitation von Interaktionen äußert, etwa in Gestalt einer Abnahme von Reaktionsgeschwindigkeiten oder der Fehlerhäufigkeit ansonsten unveränderter Bewegungsabläufe, auch Zeichen einer „Geübtheit“ von Tätigkeiten, die sich jedoch nicht anschaulich-motorisch niederschlagen müssen. Aber eben unter diesen Bedingungen scheint die „Intelligenz“ des Verhaltens nicht in einer Modifikation von Wechselwirkungen zu liegen, die als intrinsische Verkörperung beschrieben werden könnten, sondern in ausgefeilteren kognitiven Modellen der Umwelt, die z.B. eine Implementierung effizienterer Strategien sozialer oder physischer Manipulation erlauben und die zu einer zunehmenden Unabhängigkeit von – subtilen Formen – intrinsischer Verkörperung wie „mental imagery“ oder „inner speech“ führen, ersetzt durch Ressourcen sparende mentale Modelle (zu diesem Konzept vgl. Johnson-Laird 1993/1996). Um diese Überlegungen auf einen kurzen Nenner zu bringen: Die kritischen (!) Unterschiede von geschickten und weniger geschickten Bewegungen bzw. die kritischen (!) Voraussetzungen der „Nischenkonstruktion“ liegen wohl eher im Bereich des Gehirns als des Körpers (im Falle der „motor skills“) bzw. resultieren zuvörderst aus innovativen Ideen der Gestaltung eines Umfeldes wie im Falle des Elisabethanischen Theaters. Anders herum formuliert: Die Literatur zur Philosophie der Verkörperung setzt – möglicherweise – an bei einer zu schlichten Konzeption der Funktionsweise des Gehirns, bei einer zu einfach gestrickten Computer-Metaphorik. Beispielsweise gehen Fingerhut und Mitarbeiter (22017) im einleitenden Beitrag zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband auf den humanoiden Roboter Asimo ein, als einer der „(buchstäb-

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lich) fortschrittlichsten“ seiner Art bezeichnet, der dank eines „komplexen zentralen Kontrollsystems“ verhältnismäßig elegant gehen kann, auch zu rennen und auf einem Bein zu hüpfen vermag: „Empfängt er einen sensorischen Input über die Beschaffenheit des Bodens, berechnet er, wie hoch er seine Füße heben und wie weit er seine Knie beugen muss“ (ebd., 12f.). Jedes Detail unterliegt der aktiven Regulation. Problem dieses Kontrollmechanismus: Die angesprochenen – aus unserer Sicht – banalen alltäglichen Tätigkeiten verbrauchen im Fall Asimo Unmengen an Energie. Als eine Schlussfolgerung halten die Autoren – korrekt – fest, dass Lebewesen ihre Bewegungen anders koordinieren. Ein alternativer Kontrollmechanismus – im Vergleich zu Asimo – liegt im Falle des sogenannten Passive Dynamic Walker vor. „Bei der einfachsten Version eines solchen handelt es sich um ein Spielzeug, das sich z.B. aus Draht anfertigen lässt“, die Details können hier außer Acht bleiben, entscheidend ist, „dass die nun entstandene Figur von selbst einen Fuß vor den anderen setzt, sobald sie auf einen leicht abfallenden Boden gestellt wird“, ein simpler Mechanismus, der eben als „passive Dynamik“ bezeichnet wird (ebd., 13f.). Nun, leider können wir Menschen nicht immer bergab gehen. Der energie- und zeitsparende „Trick“ des zentralen Nervensystems liegt aber nicht – zumindest nicht allein – darin, die Kontrolle der Lokomotion an Beine oder Umwelt zu delegieren oder auszulagern, sondern hoch-automatisierte (Teil-)Funktionen phylogenetisch älterer Strukturen wie des Hirnstamms und des Rückenmarks zu rekrutieren und zu integrieren. Unter diesen Bedingungen muss das Großhirn nicht aktiv jedes Bewegungselement steuern, z.B. Amplitude und Geschwindigkeit „berechnen“ und zum richtigen Zeitpunkt „starten“, sondern kann sich auf wenige kritische Signale beschränken. Erst wenn z.B. Perturbationen auftreten, wird ein umfangreicheres Engagement notwendig. Um ein inzwischen überholtes, aber in diesem Zusammenhang immer noch instruktives „Bild“ heranzuziehen: Phylogenetisch ältere Hirnstrukturen, die wir mit anderen Arten zu teilen scheinen („our reptilian brain“; Lieberman 22002) und die u.a. rhythmische Bewegungsmuster generieren, tragen die Hauptlast der Koordination des Bewegungsablaufes beim Gehen, und die aktive Intervention übergeordneter jüngerer Zentren ist beschränkt auf pivotale Momente der Lokomotion. Das zentrale Nervensystem stützt sich also auf ein hierarchisches Gefüge von Kontrollsignalen und automatisierten rhythmischen Abläufen anstelle einer durchgehend aktiven Steuerung wie im Falle von Asimo. Und diese Regulationsvorgänge integrieren auch biomechanische Mechanismen wie Prozesse passiver Dynamik. Kurz zusammengefasst: Das Großhirn als oberstes – im Falle von Asimo sozusagen einziges – Kontrollzentrum lagert energie- und zeitsparend so viele Teilfunktionen wie irgend möglich aus, aber eben nicht – primär oder exklusiv – an die Peripherie des Körpers oder

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die Umwelt, sondern an untergeordnete Strukturen des zentralen Nervensystems selbst, die wir – wenn auch modifiziert – mit anderen Säugetieren oder sogar Reptilien teilen dürfen (Prinzip der „Hierarchisierung“ zentralnervöser Funktionen). Ein erheblicher Teil der Regulation z.B. lokomotorischer Abläufe geht dann zu Lasten phylogenetisch tradierter Mechanismen. Mit diesen knappen Überlegungen kann und soll nicht eine Kritik der Philosophie der Verkörperung skizziert werden. Der „Pointe“ dieser Tradition kann nur zugestimmt werden, der Idee nämlich, „dass der intelligente Zugriff auf die Welt überhaupt – sei es durch Verhalten, Wahrnehmung oder begriffliches Denken – in viel höherem Maße auf körperlichen Fähigkeiten und der Beschaffenheit des Körpers und der Umwelt beruht, als zumeist angenommen wird“ (Fingerhut et al. 22017, 12). Aber eine Erklärung der diskutierten Phänomene verlangt eher – oder zumindest auch – nach einer Elaboration der involvierten zerebralen Kontrollmechanismen, die auf effiziente Art und Weise die Beschaffenheit des Körpers und der Umwelt mit einbeziehen, als nach einer „intrinsischen“ Intelligenz von Bewegungsapparat und Handlungs- bzw. Wahrnehmungsumfeld. Mit anderen Worten: Die Phänomene, von denen die Philosophie der Verkörperung so fasziniert ist, insbesondere die anschaulich (!) intrinsische Intelligenz hoch-überlernter flüssiger Bewegungsabläufe, dürften in einem signifikanten Umfang in der vor-menschlichen Intelligenz unseres Organismus als eines entwicklungsbiologischen / -psychologischen Erbes gründen, das wir in Rechnung stellen müssen, wenn wir diese Leistungen unserer Spezies verstehen wollen. In den Worten von Hans-Peter Krüger (1999): Es „könnte unter Menschen noch viel Tierisches vorkommen, oder neutraler formuliert: viel von dem auftreten, was Lebewesen überhaupt auszeichnet, ohne speziell als vernünftig gelten zu müssen“ (ebd., 40). Diese Einordnung trifft sich mit der angedeuteten neuropsychologischen / -physiologischen Analyse zumindest derjenigen Phänomene einer „Verkörperung des Geistes“, die sich auf den Bereich der Sensosmotorik beziehen. Diese Gedanken tragen wohl wenig bei zum Verständnis anderer Domänen der Philosophie der Verkörperung wie die Gestaltung alltäglicher oder beruflicher Milieus („cognitive skills“), z.B. die „niche construction“ der Schauspielerinnen des Elisabethanischen Theaters. Worauf hier nur hingewiesen werden soll, ist, dass die Philosophie der „embodiment of mind“ – noch – eine verkürzte und, ja, blasse Vorstellung vom menschlichen Körper im Blick hat. Die intrinsische Intelligenz des Bewegungsapparates gründet eben nicht nur in der inhärenten Biomechanik von Rumpf und Gliedmaßen, dargestellt an den Beispielen von Asimo und des Passive Dynamic Walker, sondern verweist auf einen phylogenetisch formierten tierischen Organismus, z.B. in Gestalt eines „reptilian brain“. Und eben der menschliche Körper als tieri-

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scher Organismus hat in der zeitgenössischen Philosophie eine erstaunliche Aufwertung erfahren.

2.2 L’animal que donc je suis oder „Wir Menschen sind Tiere“, d.h. naturgebundene und ressourcenabhängige Organismen Gegen Ende der ersten Auflage seines epochalen Werkes On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, erstmals erschienen im Jahre 1859, hat Charles Darwin (1809-1882) – in vorsichtigem Ton – den häufig zitierten Satz formuliert: „Light will be thrown on the origin of man and his history (Darwin 1859/1981, 488). Es handelt sich offensichtlich um ein rhetorisches Ausweichmanöver, denn es genügen doch die Schlussformeln der klassischen Logik um festzustellen, dass der Autor mit seiner Schrift auch die Konturen des Ursprungs unserer Spezies „ausgeleuchtet“ zu haben glaubt: „I can see no limit to this power [i.e., natural selection, HA], in slowly and beautifully adapting each [sic !, HA] form to the most complex relations of life“ (ebd., 469). Ein Dutzend Jahre später, in The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871/1981), wird dann unumwunden festgestellt, dass eine Reihe von vergleichend-anatomischen und -physiologischen Befunden auf eine Naturgeschichte des Menschen in Gestalt eines „descent of man from some lower form“ (Überschrift Kapitel 1) verweisen: „how it has come to pass that man and all other vertebrate animals have been constructed on the same general model, why they pass through the same early stages of development, and why they retain certain rudiments in common“ (ebd., 32), und „to take any other view, is to admit that our own structure and that of all the animals around us, is a mere snare laid to entrap our judgment“ (ebd.). Über diese auf unsere „bodily structure“ (ebd., 34) bezogenen Befunde hinaus führt Darwin in den zwei nachfolgenden Kapiteln einen Vergleich der „mental powers of man and the lower animals“ durch, von elementaren emotionalen Regungen bis hin zu ästhetischen und religiösen Empfindungen. In der Zusammenschau der referierten Beobachtungen stelle sich dann heraus, so Darwin, dass die Unterschiede zwischen den Menschen und „higher animals“ hinsichtlich ihrer emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten, obzwar „immense“, doch nur gradueller Natur seien (ebd, 105). Die phylogenetische Einbettung unserer Spezies in einen Verbund aller Lebewesen dieser Welt hat sich längst zu einem, wenn nicht dem wichtigsten Konzept der Biologie entwickelt: „There is not a single Why? question in biology that can be answered adequately without a consideration of evolution“ (Mayr 2001, S. XIII).

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Implizit wirft schon Darwins Grundlegung einer umfassenden Evolutionslehre, die unsere Spezies von denselben vitalen Kräften geformt sieht wie alle anderen Lebewesen, und insofern eine Sonderstellung des Menschen in einem strikten Sinne ausschließt, die Frage nach einer Berücksichtigung der „Interessen“ von Tieren im moralisch / sittlichen bzw. rechtlichen Raum auf, auch wenn sich die Freiheit der in freier Wildbahn lebenden Tiere mit darin äußert, dass sie andere Kreaturen fressen dürfen / müssen, während wir Menschen Kannibalismus ablehnen. Weshalb ziehen wir aber dann beim Kannibalismus eine Grenze zwischen uns und anderen Lebewesen? Vereinzelt hatten sich schon vor dem Durchbruch der Evolutionslehre Autoren dieser Thematik zugewendet, erwähnt sei die Apologie de Raimond Sebond aus dem zweiten Buch der Essais von Michel de Montaigne (1533–1592), die des Menschen „Anmaßung“ zurückweist, er sei mehr wert als die Tiere, „seine Mitbrüder und Gefährten“ (1969, 205ff.; vgl. Singer 1975/22016 oder Borgards et al. 2015). Aber es war Jeremy Bentham (1748– 1832), der am Ende einer Fußnote („Interests of the inferior animals improperly neglected in legislation“) in seiner Schrift An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1780/1789; Ergänzung zu Absatz IV von Kapitel 17), die Frage nach den „interests of the inferior animals“ sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt hat: An Stelle von „Can they reason?“ oder „Can they talk?“, für Michel de Montaigne noch die Anknüpfungspunkte des Tier/Mensch-Vergleichs, sei als entscheidendes Kriterium einer Anerkennung – gewisser – Interessen nonhumaner Kreaturen die Frage zu stellen: „Can they suffer?“ – „they“, d.h. die Tiere (Bentham 1823, 236). Ein „reframing“ der Problematik von unüberbietbarer Prägnanz, das dazu nötigt, den Umgang mit dem „Tierreich“ zu überdenken. Mit der Einsicht, dass alle Lebewesen in einer phylogenetischen Kontinuität stehen, gewinnt die Annahme Benthams einer Empfindungs- bzw. Leidensfähigkeit – zumindest einiger oder vieler taxonomischer Gruppen – nicht-menschlicher Tiere zusätzliches Gewicht. Und Darwin selbst hat in The Descent of Man ausdrücklich festgehalten, dass „the lower animals, like man, manifestly feel pleasure and pain, happiness and misery“ (ebd., 39). Dieser entwicklungsbiologische Gesichtspunkt fand dann Eingang in einen grundlegenden Text von Richard D. Ryder aus dem Jahre 1970, der Form nach ein Flyer, der das Konzept „speciesism“ in die Diskussionen um eine Tierethik bzw. Tiertheorie einführte, aufgegriffen dann von Peter Singer in seiner Schrift Animal Liberation (1975/22016, 303, Anm. 4; zur Unterscheidung von Tierethik, Tierphilosophie und Tiertheorie, eine Differenzierung, die hier aber nicht strikt beachtet werden muss, vgl. Borgards et al. 2015, 7f.). Mit dem Begriff „speciesism“ wird in diesem Zusammenhang eine distinkte Form von Diskriminierung bezeichnet, die Menschen – al-

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lein schon aufgrund ihrer biologischen Artzugehörigkeit – eine moralische Sonderstellung im Vergleich zu anderen Lebewesen zuschreibt, ein Sachverhalt, der am Beispiel von Tierversuchen und Fleischgenuss ohne weiteren Kommentar unmittelbar einleuchtet (eine an Prägnanz kaum zu überbietende Kritik der Tierversuche findet sich in Horkheimer 1987/42014, 277ff.). Ryder schreibt: „If we believe it is wrong to inflict suffering upon innocent human animals then it is only logical, phylogenically-speaking, to extend our concern about elementary rights to the nonhuman animals as well“ (Ryder 1970/2010, 2), wenn, so kann ergänzt werden, die Frage „Can they suffer?“ bejaht werden muss. Mit anderen Worten: Es wäre eine willkürliche Einschränkung des Anwendungsbereichs des moralischen Prinzips der Gleichheit, wenn wir Menschen die Interessen nicht-menschlicher, aber empfindungsfähiger Kreaturen, wie die Vermeidung von Schmerz und Leid, die „als solche schlecht“ sind, nicht berücksichtigen würden (ausführlichere Darstellung des Argumentes in Singer 1975/22016, Vorwort und Kapitel 1, insbesondere 8, 31ff., 44). Das öffentliche Interesse an Tierschutz / Tierwohl hat seit den 1970er Jahren erhebliches Momentum gewonnen. Es findet sich inzwischen kaum noch eine Milchtüte im Angebot der Supermärkte, die nicht ausdrücklich das Bemühen der Hersteller um z.B. „nachhaltige Viehzucht“ vermerkt, wenn auch bislang meist nicht in Verbindung mit einer Anerkennung „moralischer Pflichten gegenüber Tieren“ (Korsgaard 2021). Aber die – „phylogenically-speaking“ – animalische Natur des Menschen scheint uns noch nicht in allen ihren lebensweltlichen und handlungsleitenden Implikationen gewärtig zu sein. Die Sorge um Tierschutz und das Bemühen um Tierrechte gründen meist in einem – sozusagen mit Empathie gesättigten – Blick auf nicht-menschliche Lebewesen, haben aber oft noch nicht den Blick zurück zur Animalität des wertenden und urteilenden Subjekts vollzogen. Zur Verdeutlichung sei auf eine ihn verstörende Erfahrung verwiesen, die Jacques Derrida (1930–2004) in L’animal que donc je suis (2006/22016) berichtet: „Ich frage mich oft, nur mal eben um zu sehen, wer ich bin (qui je suis) – und wer ich in dem Moment bin, da ich, nackt und schweigend überrascht vom Blick eines Tiers (animal), zum Beispiel den Augen einer Katze, leidlich Mühe habe, ja, leidlich Mühe (du mal), eine gewisse Verlegenheit zu überwinden“ (ebd., 20; eine ähnliche Umwendung der Blickrichtung des Menschen auf das Tier findet sich schon in den Essais von Michel de Montaigne). Die angesprochene schambesetzte Verlegenheit in diesem Zustand „öffentlicher“ Nacktheit scheint zunächst auf Kleidung – Bekleidet-sein – als einer Eigentümlichkeit des Menschen zu verweisen, offensichtlich eine Anspielung, ohne dass aber ein expliziter Verweis hergestellt würde, auf die biblische Sündenfallgeschichte. Aber diese besondere Erfahrung der Scham, eigentlich eine Scham über die empfundene Scham, dürfte – weiter

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ausgreifend – auch darin gründen, dass im Blick der Katze unsere eigene Tierheit, die Animalitas des Gegenstandes des Blicks, bloßgestellt und somit die Sicherheit des Menschen hinsichtlich seiner „humanité“ erschüttert wird (vgl. Einleitung von Marie-Louise Mallet zu dieser Abhandlung; ebd, 13). In Anlehnung an den dritten Teil von L’animal que donc je suis könnte der Zusammenhang so gedacht werden: Wenn ein Mensch sich seiner „humanité“ gewahr wird im Blick des anderen Menschen, „im ‚Sich-angeblickt-sehen‘“, dann mag das (stumme) „Angeblickt-werden“ durch ein Tier eben die eigene Animalitas zu offenbaren (ebd., 192). Über private Selbstvergewisserung unseres eigenen Wesens als Mensch hinaus wird Re-Animalisierung inzwischen als eine Voraussetzung ökologischen Wandels herausgestellt. Das folgende Zitat ist einem Aufsatz von Markus Gabriel entnommen, erschienen in der Online-Version der Neuen Zürcher Zeitung vom 08.09.2021, mit dem Titel: Wir Menschen sind Tiere. „Inzwischen hat uns das Zivilisationsmodell der Moderne, das darin besteht, die Ressourcenprobleme des Überlebens unserer Spezies durch Naturwissenschaft und Technik unter Kontrolle zu bringen, an den Rand der Selbstausrottung gebracht. … Es ist illusorisch, die komplexe Krisenlage der Spätmoderne, in der wir uns befinden, durch mehr vom Gleichen bewältigen zu wollen. Stattdessen bedürfen wir einer Neuorientierung unseres Menschen- und Naturbildes. Ein möglicher Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass wir Menschen Tiere sind.“ Als einen „möglichen Ausgangspunkt“ dieser „Neuorientierung“ wird expressis verbis auf Überlegungen von Corine Pelluchon in ihrem Manifeste animaliste (2017/2020) verwiesen. Pelluchon betrachtet „unseren Bedarf von Nahrung, Wasser, Luft und Raum“ als auch „Aspekte der Verletzlichkeit wie Ermüdung, Schmerz und Sterblichkeit“ (2017/2020, 19), eben „unsere Stellung als gezeugte Lebewesen“ (ebd., 47), kurz, unsere Animalitas, als ein oder das wesentliche Merkmal der Conditio humana (ebd., 19), das uns mit anderen nicht-menschlichen Kreaturen verbindet und zu einer Revision des weit verbreiteten Konzepts von Freiheit „als Loslösung von der Natur“ nötigt (ebd., 47, 58).2 Darüber hinaus ist unsere Existenz als „Wesen aus Fleisch und Blut“ schon grundsätzlich, auch im Zustand der sogenannten Gesundheit, durch – eine sehr schöne Formulierung – „Stofflichkeit und Schwere geprägt“ (Pelluchon 2017/2020, 51), wir können uns eben nicht wie die Vögel gleichsam mühelos – und ohne Hilfsmittel – in die Lüfte erheben. Die „organismische Kontinuität von uns mit und in der Natur“ (Krüger 1999, 95) 2

Nicht nur „Krankheiten und Gebrechen“ – im landläufigen Sinne – können uns Menschen an „l’animal que donc nous sommes“ erinnern. Simone de Beauvoir macht auf einen weiteren Aspekt der Animalitas unserer Spezies aufmerksam, beschränkt ihn aber auf das „andere Geschlecht“: „dans la maternité la femme demeurait rivée à son corps, comme l’animal“ (1949/21976, 117).

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findet sich über die Erfahrung unserer Verletzlichkeit hinaus „von jedem Erfolg der pharmakologischen, substitutiven und reproduktiven Technologien der Bio- und Medizinwissenschaften bestätigt, ob uns dies gefällt oder nicht gefällt“. Bei Corine Pelluchon zeigt sich nun das Thema des verletzlichen menschlichen Körpers nicht nur verortet im Rahmen der philosophischen Debatte um Tierrechte, die – wie schon erwähnt – seit den 1970er Jahren erhebliche Stoßkraft im öffentlichen Raum gewonnen hat (Singer 1975/22016), sondern – umfassender – eingebunden in das Bemühen um eine „Selbstkritik der Aufklärung“, d.h. eine Revision ihrer Grundlagen, um „im aktuellen ökologischen, technologischen und geopolitischen Kontext … ihr Werk der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation“ fortführen zu können (Pelluchon 2021, 12, vgl. ebd., 178). Revidiert werden müsse u.a. der – enggeführte – Anthropozentrismus und Humanismus der „alten“ Aufklärung, so wie sie sich im 17. und 18. Jahrhundert ausgebildet hat: Freiheit wird in diesem Rahmen insbesondere als „Loslösung von der Natur“ verstanden (ebd., 18). Deshalb sei oft – als Ausnahmen hätten sicherlich Michel de Montaigne und Jeremy Bentham zu gelten – eine „radikale Trennung“ menschlicher und nicht-menschlicher Lebewesen vorgestellt worden, einhergehend mit Vergessen, Verschleierung, Ablehnung, Verachtung, ja Hass auf unsere Körperlichkeit (ebd., 51, 226, 229, 291).3 Aber erst Akzeptanz der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit, d.h. des „animalischen Teils“ unserer Natur, ermöglicht Mitleid für und Respekt vor anderen Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen, und erzeugt auch die Motivation zu ökologisch gebotener Selbstbeschränkung (Pelluchon 2021, 64, vgl. 238). Vor diesem Hintergrund lässt sich die angemahnte Revision tradierter Topoi der Philosophie der Aufklärung genauer fassen: Die „individualistische Grundlage der Menschenrechte“ ist durch eine „leibliche, relationale Konzeption des Subjekts“ zu ersetzen (ebd., 117, vgl. 102): ein menschlicher (und nicht-menschlicher) Organismus lebt nicht schlechthin, sondern „lebt von“, „lebt mit“, „lebt für“ etc. etc. (ebd., 57ff., 64). Aufklärung bzw. Rationalismus müssen einer „Philosophie der Körperlichkeit“ weichen (ebd, 28), einer „Selbsterkenntnis als körperliches Wesen“ (ebd, 142). Neben der angesprochenen „Animalisierung“ des Menschen, es sei an den Titel des Buches von Derrida erinnert, ist nun in der philosophischen Literatur zur Tierrechtstheorie sozusagen in gegenläufiger Richtung auch eine Art Humanisierung non-humaner Lebewesen zu beobachten: 3

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… hinzuzufügen wäre – im Anschluß an Günther Anders – Scham. „Wenn das Freiheit beanspruchende ‚Ich‘ feststellt, … daß es als ‚freies Ich‘ überhaupt nicht da wäre, wäre es nicht zugleich, ja zuvor, einem kreatürlichen, also bedingten und unfreien, Menschen, einer ‚Mitgift‘ verhaftet – diese seine Hilflosigkeit … ist seine Scham“ (Anders 1956/51980, 70).

Alle Geschöpfe, die Schmerz und Leid zu empfinden vermögen, sind diesem Denkansatz zufolge als „Zweck an sich selbst“ zu betrachten, und es kommt ihnen dadurch ein moralischer Status zu, der bislang – in der Regel – auf unsere Spezies beschränkt geblieben war (Korsgaard 2021, 11ff.).

2.3 Die Verkörperung des (menschlichen) Geistes – Fortsetzung: Das zweideutige Verhältnis des Menschen zu non-humanen Primaten – Almost Chimpanzee oder Not a Chimp? Ein wichtiges Agens movens der Entwicklung hin zur Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, auch ihrer Vorläufer, liegt darin, dass – so eine Anmerkung Plessners – der Bezug zu Gott, Geist bzw. Vernunft oder einem „sinnvollen Kosmos“, d.h. eines „bedeutungsvollen Gesamtbildes der Natur und der Gesellschaft“, lange Zeit Ausgangspunkt des Nachdenkens über den Menschen (GS VIII, 35, 117, 161, 282), obsolet geworden ist. Vielleicht muss nun Halt in der Verbindung zum Tier als einer in die Natur eingefügten und nicht ihre Lebensgrundlagen zerstörenden Kreatur gesucht werden. Aber auch andersherum mag diese geistesgeschichtliche Konstellation zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Interesse an Philosophischer Anthropologie geweckt haben: Der Mensch, „nun völlig von Gott verlassen“, sieht sich der Gefahr gegenüber, „in der Tierheit zu versinken“, und stellt sich vor diesem Hintergrund erneut die Frage nach Wesen und Ziel seines Lebens (GS VIII, 35). Und in dieser Perspektive – die Abgrenzung vom Tier – mag sich dann umso heller die Sonderstellung unserer Spezies abzeichnen. „Daß zwischen Tier und Mensch ein Wesensunterschied besteht und nicht bloß ein gradueller Unterschied, dass daher ein allmählicher Übergang zwischen Tier und Mensch prinzipiell ausgeschlossen ist, wird heute weithin bezweifelt“ (Seifert 1974, 101). Aber: Wenn wir die menschliche Person „dann dort ins Auge fassen, wo sie sich in ihrem ganzen unerschöpflichen Reichtum in Gemeinschaft, Moral, Kultur und Religion entfaltet, dann sehen wir unleugbar den Wesensunterschied, ja den Abgrund, der den Menschen vom Tier trennt“ (ebd., 113). Bemerkenswerterweise hat sich aber einer der Philosophen, die sich am eingehendsten um eine philosophische Deutung der materiellen und ideellen Kulturgüter des Menschen bemüht haben, Ernst Cassirer (1874–1945), in seinem letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Buch mit dem Titel: An Essay on Man – An Introduction to a Philosophy of Human Culture, erschienen 1944, um eine anthropologische Verankerung der „symbolischen Formen“ von Sprache, Religion / Mythos, Wissenschaft und Kunst bemüht – im Menschen als eines Animal symbolicum. Um nun an die Rede vom „Abgrund,

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der den Menschen vom Tier trennt“, anzuknüpfen: Wie tief muss eine Senke sein, damit sie – wie in obigem Zitat angesprochen – als Abgrund gelten darf? Reicht es schon aus, dass das (unbewaffnete) Auge, um im erwähnten Bild zu bleiben, den Boden nicht zu erfassen vermag. Im Verlauf der vergangenen Dekaden wurden durch ethologisch / verhaltensbiologische, neuroanatomisch / neurophysiologische und schließlich auch molekulargenetische Untersuchungen zwar die Bollwerke, die exklusiv menschliche Spielräume gegenüber non-humanen Primaten absichern sollen, nicht geschleift, aber die Festungsanlagen weisen nun doch Breschen auf, vor allem wenn – in phylogenetischer Perspektive – die Vielfalt vor- und frühmenschlicher Formen, die bis zu einem (postulierten) „last common ancestor“ von Homo sapiens und den noch lebenden Menschenaffen zurückreichen, in Betracht gezogen werden (eine sehr anschauliche Darstellung, obwohl schon etwas älteren Datums, findet sich in Johanson & Edgar 1996). Eine phylogenetische Abstammungslehre schließt per se natürlich nicht „Monopole des Menschseins“ aus, man denke an die Diskussion um sprachrelevante genetische Mutationen im Verlauf der phylogenetischen Entwicklung der Gattung Homo (vgl. Fitch 2010 oder Ackermann et al. 2014), aber komparativ-verhaltensbiologische Befunde in Verbindung mit molekulargenetischen Daten aus den vergangenen Dekaden rütteln doch an der „Unleugbarkeit des Wesensunterschieds, ja des Abgrunds, der den Menschen vom Tier trennt“ und an der Behauptung, „ein allmählicher Übergang zwischen Tier und Mensch“ müsse als „prinzipiell ausgeschlossen“ gelten (Seifert 1974, 101, 113). Exemplarisch seien drei Kontakt- oder Übergangszonen vorgestellt: (i) Jane Goodall (1986, 536ff.) hat im Jahre 1960 bei wild lebenden Schimpansen erstmals Werkzeuggebrauch beobachtet – ohne vorhergehende Instruktion durch unsereins oder der Möglichkeit einer Imitation menschlichen Verhaltens: Ein adultes männliches Tier („David Greybeard“) steckte einen Grashalm in das Loch eines Termitenbaus und zog ihn dann, voller Insekten, die sich festgebissen hatten, wieder heraus, um sie zu verzehren. Seither wurde eine Vielzahl an Fällen der Nutzung von – gelegentlich auch modifizierten – Gegenständen beschrieben, die insbesondere zum Nahrungserwerb verwendet werden, nicht nur bei Menschenaffen, sondern auch bei anderen Spezies bis hin zu Krähen. Bemerkenswerterweise konnte auch die Entstehung von sozial tradierten „Bräuchen“ eines „Werkzeuggebrauchs“ dokumentiert werden, ein bekanntes Beispiel stellt das „sweet-potato washing“ japanischer „Schneeaffen“ (Macaca fuscata) dar, von einem distinkten Individuum sozusagen entdeckt und dann von anderen Mitgliedern der Population aufgegriffen und weitergegeben (Matsuzawa 2015).

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(ii) Besonders eindrücklich und, ja, unangenehm rücken Untersuchungen zum Sozialverhalten die Menschenaffen in unsere Nähe, insbesondere ihre Fähigkeiten – und ihre Bereitschaft – zur „tactical deception“ von Artgenossinnen, auch als „Machiavellian Intelligence“ (Whiten & Byrne 1997) bezeichnet. Im Zusammenhang seiner Überlegungen zu den menschlichen Leidenschaften in der Abhandlung Der kategorische Konjunktiv: Ein Versuch über die Leidenschaft aus dem Jahre 1968 geht Plessner auch auf die von Kant erwähnten „Triebkräfte“ Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht ein, die ihn, den Menschen antreiben, „sich einen Rang unter seinen Mitmenschen zu verschaffen“ (GS VIII, 343f.). Im Rahmen der Suche nach den Gründen dieser Motive dürfe, so Plessner, die „animalische Komponente“ nicht außer Acht bleiben. Die Verankerung in der „menschlichen Animalität“ kann vor dem Hintergrund rezenter verhaltensbiologischer Befunde insbesondere darin gesehen werden, dass Primaten dem „ranking“ innerhalb einer Gruppe außerordentliche Beachtung schenken, in anthropomorpher Terminologie, geradezu von „Statusdenken“ besetzt sind. Auf der anderen Seite zeigen Schimpansen – beispielsweise im Rahmen der Jagd auf Altweltaffen – eine erstaunlich ausgefeilte Koordination des Verhaltens innerhalb einer Gruppe von „Jägern“ – „based on individual recognition, temporary memory of actions in the recent past, attribution of value to those actions, and social enforcement of those values“ (Boesch & Boesch-Achermann 2000, 190). (iii) Im Bereich kommunikativer Leistungen scheint es aber auf den ersten Blick tatsächlich einen qualitativen „Sprung“ zwischen Tier und Mensch zu geben, insofern als alle Versuche, Menschenaffen Silben oder Wörter natürlicher menschlicher Sprachen beizubringen, völlig gescheitert sind (vgl. Ackermann et al. 2014). Allerdings vermögen unsere Cousins ca. 150 Konzepte zu bilden und sich auch in diesem Rahmen – mit uns Menschen – zu verständigen, aber eben nicht über den vokalen Kanal, sondern unter Verwendung von „icons“ oder Gebärdensprachen. Dieses Unvermögen zur Imitation von verbalen Lauten scheint aber eine verhältnismäßig elementare und nicht-kognitive Facette der Kommunikation zu betreffen, nämlich den Umfang der Fähigkeit zur motorischen Kontrolle des Vokaltrakts, insbesondere des Kehlkopfes. Denkbar wäre, dass verfeinerte Möglichkeiten der Bewegungsplanung und -steuerung im Bereich des Vokaltrakts dann über eine Weiterentwicklung der Lautbildung eine Eskalation der erst rudimentären kognitiven Fähigkeiten non-humaner Primaten ermöglichten (vgl. Ackermann et al. 2014). Wir Menschen glauben üblicherweise, aufgrund der Fähigkeit des „Sprechens und Denkens uns von der übrigen Natur abzuheben“ und eine „so-

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ziokulturelle Zweitnatur“ erwerben zu können: „Aber alle diese Merkmale kommen, so belehren uns die jüngeren Verhaltenswissenschaften, zumindest graduell allen Säugern und … allen Primaten zu“ (Krüger 1999, 18f.). Vor diesem Hintergrund liegt es tatsächlich nahe, in unsere Spezies einen „inner ape“ hinein zu projizieren. Und anstelle der Philosophen sehen sich dann die Primatologen der Aufgabe gegenüber zu erläutern, „why we are who we are“ (De Waal 2005). Der Vollständigkeit halber sei angefügt, dass der Buchtitel: Our Inner Ape – A Leading Primatologist Explains Why We Are Who We Are doch insofern aus zoologischer Sicht korrekt ist, als Homo sapiens den afrikanischen Menschenaffen (Englisch: „apes“) zuzurechnen ist. Schließlich weist ein Buch desselben Autors mit dem Titel: Chimpanzee Politics – Power and Sex among Apes auf die verdeckte Gegenwart eines „inner ape“ auch auf eine Domäne hin, in deren Rahmen gerne hohe und höchste Werte des Menschseins reklamiert werden (De Waal 2007). Vor diesem Hintergrund hätte eine „Anthropologie politischen Handelns“ auch Beobachtungen und Befunde „politischer Praxis“ non-humaner Primaten in Rechnung zu stellen (vgl. Hitzler 1995, 286, Anm. 1) – trotz der „scheinbar größten Naturferne der moralisch-politischen Dimension“ menschlichen Handelns (GS VIII, 376). Wenn Handeln (Verhalten) dann politisch genannt werden darf, wenn „es seinem Entwurf nach darauf abzielt, Zustimmung von einem Zweiten zu erlangen, dazu, seinen Willen auch gegen das Widerstreben eines Dritten durchzusetzen“ („triadische Situation“; Hitzler 1995, 291), dann scheint eben diese Struktur von Interaktionen zumindest schon bei Schimpansen (Pan troglodytes) zum Vorschein zu kommen. Wenn unsere Vettern bereits ein ausgeklügeltes machtpolitisches Taktieren und das ruchlose Täuschen anderer Gruppenmitglieder über die eigenen Motive und Intentionen beherrschen, dann muss ein weit zurückreichendes und tief verankertes phylogenetisches Erbe der angesprochenen Verhaltensweisen angenommen werden. Vor diesem Hintergrund hat Plessner in einem Rundfunkvortrag Anfang der 1970er Jahre die Frage gestellt: „Wie eng ist die Bindung des Menschen an seine biologischen Bedingungen?“ (Kamper 1995, 281, wörtlich zitiert nach einer Vortragsreihe Plessners im Österreichischen Rundfunk 1970/71; vgl. GS VIII, 358f.). Und wie steht es, um die Frage fortzuspinnen, dann um die „biologischen Bedingungen einer Nicht-Natur des Menschen“, d.h. seiner Geschichte (ebd).

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2.4 Zusammenfassung und Überleitung: Von der „Verkörperung des Geistes“ zur „organismischen Kontinuität“ des Menschen „mit und in der Natur“ Der zeitgenössische Denkansatz eines „embodied mind“ hat an körperbezogenen Phänomenen bislang vor allem die anschauliche „intrinsische Intelligenz“ von „geschickten Bewegungen und eingeübten Tätigkeiten“ der Menschen („sensorimotor skills“) in den Blick gerückt. Bemerkenswerterweise taucht, wie am Beispiel des „reptilian brain“ angedeutet, hinter diesen Fertigkeiten ein phylogenetisch formierter tierischer Organismus auf. Mit anderen Worten: Die eingeschriebene inhärente Intelligenz unseres Bewegungsapparates dürfte zumindest teilweise phylogenetisches Erbe darstellen. Dieses unser phylogenetisches Erbe stellt unsereins in eine „organismische Kontinuität“ mit der Natur (Krüger 1999, 95), eine Kontinuität, die uns Menschen wie alle Kreaturen abhängig macht von natürlichen Ressourcen, ein wichtiger Gesichtspunkt im Rahmen einer ökologischen Ethik, und führt zu Erfahrungen körperlicher Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Und erst recht hat die seit Ende 2019 / Anfang 2020 uns auf den Leib gerückte Pandemie unmissverständlich klar gemacht, dass wir tatsächlich tief in die Welt des Organischen verstrickt sind: „nicht jedes Virus steckt nur in der Software“ (ebd.) – ein rückblickend schon fast prophetisches Wort aus dem Jahre 1999 (ebd., 18). Die Verkörperung des Geistes erfährt durch die Wendung hin zum tierischen Organismus eine Zuspitzung: der Körper unterstützt nicht nur dank einer gewissen inhärenten Intelligenz, z.B. des Bewegungsapparates, den Erwerb sensomotorischer Fertigkeiten, sondern bringt auch ein phylogenetisches Erbe mit ins Spiel, das den Bereich der kognitiven Leistungen und des Sozialverhaltens zu formatieren vermag, Abhängigkeiten, derer wir uns oft kaum bewusst sein dürften. Sehr plakativ gefasst: Our Inner Ape muss als ein Akteur menschlichen Handelns berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund der angesprochenen Überlegungen wird zu Recht die Thematik Tier / Mensch und Organismus / Person als ein Desiderat der philosophischen „Selbstbesinnung“ eingestuft (Wunsch 2014, 278ff.; Krüger 2017, 245f.). Weshalb nun Plessner als Anknüpfungspunkt? Plessner bettet den Menschen ein in eine umfassende Naturphilosophie des Lebendigen, die einerseits unserer „Tiernatur“ (GS VIII, 406) bzw. „Animalität“ (GS VIII, 150, 344) Rechnung trägt, um zwei Begriffe aus seinen anthropologischen Schriften heranzuziehen, aber auch andererseits an diesem Leitfaden (!) entlang „das spezifisch Menschliche zeigt und begründet“ (Dejung 2003, 518). Und sein Opus magnum aus dem Jahre 1928 fokussiert die „Frage nach den wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der personalen Lebenssphäre von Menschen und den Lebenssphären

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anderer Lebewesen“ (Krüger 2017, V) im Rahmen einer originären Naturphilosophie des Organischen. Aber weshalb der Rückgriff auf eine Naturphilosophie des Organischen – ein aus Sicht der empirischen Lebenswissenschaften heute fast schon verwegen anmutendes Unternehmen, noch überboten durch den Anspruch, auf diesem Wege eine „Neuschöpfung der Philosophie“ einzuleiten (GS IV, 68). Aber kann die Frage nach dem Verhältnis unserer Spezies zu non-humanen Lebensformen, insbesondere zu anderen Primaten, allein durch Verweis auf empirisch-wissenschaftliche Daten beantwortet werden? Es sei an die schon erwähnte Ambiguität der Bewertung des Sachverhalts erinnert, dass das Genom von uns Menschen und der Schimpansen eine Übereinstimmung von bis zu 99% aufweist. Nun ist fast ein Jahrhundert seit der Veröffentlichung der Stufen vergangen, eine Zeitspanne, in der die Grundlagen der molekulargenetischen und -biologischen „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“ (GS IV, 246) sichtbar wurden und sich eine „kognitive Revolution“ im Bereich der Lebenswissenschaften ereignete. Plessners Philosophie des Organischen knüpft am „Lebensparadigma“ seiner Zeit an, ein Hintergrund, der uns fremd geworden ist und kann deshalb „nicht unmittelbar in die zeitgenössische philosophische Diskussion eingeführt werden“ (vgl. Mitscherlich 2007, 24). Deshalb soll in einem nächsten Schritt das Umfeld der Stufen skizziert werden, die Tradition der philosophischen bzw. Philosophischen Anthropologie.

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Ein Blick zurück auf die Philosophische Anthropologie: eine „überlebte“ Tradition?

„Philosophische Anthropologie ist Selbstbesinnung, ein immer erneuter Versuch des Menschen, sich selbst zu fassen“ (Groethuysen 1969, 3). Und dieses Bemühen, „sich selbst zu fassen“, hat sich nicht nur im Rahmen der abendländischen Philosophie entfaltet, zurückreichend bis zu ihren Anfängen in der griechischen Antike, sondern findet seinen Niederschlag darüber hinaus ebenso in europäischen und außer-europäischen mythologisch-religiösen Quellen („vorphilosophische Anthropologie“), unter anderem schon – einer Überlieferung der Inka zufolge – durch Abgrenzung „von Affen als unvollkommener Entwürfe des Menschen“ (Landmann 51982, 11f.; vgl. dazu GS VIII, 33). Im Gegensatz zum Nachdenken des Menschen über sich selbst – ein wohl ubiquitäres Phänomen unserer Spezies – taucht der Terminus „Anthropologie“ als Bezeichnung einer literarischen Gattung oder akademischen Disziplin erst zu Beginn der Neuzeit auf, findet breiteren Raum dann im 18. Jahrhundert (Marquard 1995, 142–155). Oft wenig beachtet werden im Rahmen dieser Entwicklung – sozusagen die „Schmuddelkinder“ der philosophischen Anthropologie, deshalb hier wenigstens erwähnt – die „an der Leitwissenschaft der Mechanik“ ausgerichteten “materialistischen Menschenbilder“ jener Epoche, zu nennen insbesondere Julien Offray de La Mettrie, Claude Adrien Helvétius, Jean Baptiste (Jean-Baptiste-René) Robinet, Charles Bonnet (Holz 2003, 48ff.). Von der philosophischen Anthropologie als vernünftiger (!) Selbstbesinnung des Menschen, die um Fragen nach der Bestimmung unseres Ortes im Gefüge des Kosmos, unseren Aufgaben in einer Gemeinschaft und den Bedingungen geglückten Lebens kreist, hat Fischer (2008, 482ff., 2014, 108, Anm. 55) die Philosophische Anthropologie, mit initialem Großbuchstaben des Adjektivs, abgegrenzt als eine „besondere Richtung der deutschsprachigen Philosophie“ (2008, 2). Auch bei Plessner findet sich schon eine entsprechende graphematische Markierung in dem Aufsatz Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie aus dem Jahre 1937 (GS VIII, 33ff.). Kurz und bündig auf den Punkt gebracht, es handelt sich dabei – so die geläufige Einordnung – um eine Tradition philosophischer Literatur, die ausgehend von Arbeiten Schelers und Plessners „in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts von Deutschland ihren Ausgang nahm, hier eine nur kurze Blüte erlebte, dann noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg starke Beach-

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tung fand und nun – nach fast jahrzehntelanger Missachtung – eine gewisse Renaissance [in den 1990er Jahren, HA] erfährt“ (Lessing 1998, 13).4 Was nun die „fast jahrzehntelange Missachtung“ anbelangt, so hatte Plessner in seiner zweitletzten Veröffentlichung unter den in die Gesammelten Schriften aufgenommenen Arbeiten (Titel: Zur Anthropologie der Sprache, 1975) mit offensichtlich resignativem Unterton feststellen müssen, dass es „um die Philosophische Anthropologie … still geworden“ sei (GS VIII, 403). Im Vergleich zu der eben vorgestellten Epochenabgrenzung hat die schon angesprochene Abhandlung Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie die Grenzen des Terrains etwas ausgedehnt, Kant wird als der „wichtigste Vorläufer dieser Tradition“ eingestuft, eine erste Anthropologie „im philosophischen Sinne“ sei dann von den Linkshegelianern entwickelt worden, die jedoch in „Selbstzersetzung“ geendet habe (GS VIII, 34).5 Plessners Aufsatz Die Frage nach der Conditio humana (1961) zählt schließlich Henri Bergson (1859-1941) und Wilhelm Dilthey (1833-1911) zu den „unmittelbaren Vorgängern der philosophischen Anthropologie“ (GS VIII, 149, im Original Adjektiv mit initialem Kleinbuchstaben). Aber auch unter Berücksichtigung der Vorläufer und einer „gewissen Renaissance“ gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bleibt die Philosophische Anthropologie auf wenige „Wellen“ beschränkt innerhalb einer „Lebenszeit“ von etwa oder kaum 200 Jahren, weitere „Wiedergeburten“ allerdings nicht ausgeschlossen. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich in den 1970er Jahren Strömungen einer „neuen philosophischen Anthropologie“ auszubilden begannen, vielleicht Vorläufer der genannten Renaissance Ende des 20. Jahrhunderts, im Anschluss an die Negative Dialektik der Frankfurter Schule, die strukturalistische Ethnologie und / oder die Psychoanalyse (Holz 2003, 11f.). Der Tier/Mensch-Vergleich darf als ein wesentliches Kennzeichen der Philosophischen – in Abgrenzung zur philosophischen – Anthropologie 4

Zumindest einige der Schriften Ernst Cassirers (1874–1945) werden von manchen Autoren auch dem Denkansatz der Philosophischen Anthropologie zugeordnet, insbesondere der unveröffentlichte vierte Band der Philosophie der symbolischen Formen und der 1944 erschienene Essay on Man: An Introduction to a Philosophy of Human Culture (vgl. Delitz 2011, 427f., insbesondere Anm. 2). Nebenbei erwähnt: Auch An Essay on Man, die letzte zu seinen Lebzeiten erschienene Buchveröffentlichung Cassirers, nimmt umfänglich Bezug auf die Primatenforschung.

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In dem Aufsatz Homo absconditus aus dem Jahre 1969 macht Plessner auf folgende Bemerkung Hegels aus einem seiner Briefe aufmerksam: Eine Philosophie, die in „mit Sinnlichkeit affizierter Vernunft“ gründe, ziele nicht mehr ab auf die Erkenntnis Gottes, sondern auf das, „was man heißt den Menschen“ (GS VIII, 353f.). Plessner: Der Linkshegelianismus habe diese „Interessenverlagerung nach der Seite des Menschen“ hin vollzogen.

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gelten (Fischer 2008, 138, 181; Wunsch 2014, 278ff.). Ihre Bedeutung konnte diese Perspektive des Denkens damals – auch / zuvörderst – durch neue Befunde der vergleichenden Verhaltensforschung gewinnen, zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, so der Titel des Buches ab der zweiten Auflage, die Wolfgang Köhler (1887–1967) in den 1910er Jahren an der Anthropoidenstation der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa durchführte (21921/31973; biographische Notizen zu Köhler z.B. Bergius 1980). Ab den frühen 1920er Jahre hat dann auch Robert M. Yerkes (1876-1956) systematische Verhaltensbeobachtungen bei Schimpansen begonnen, zunächst auf Kuba, dann fortgesetzt in den USA. Ein wesentlicher Beweggrund der Hinwendung zu diesem – innovativen – Forschungsfeld war, zumindest für Yerkes, die aus derartigen Studien zu erwartenden Einsichten in menschliches Verhalten und Mentalität (vgl. Yerkes 1925, vii). Nicht von ungefähr war es der von einem „gewaltigen Sachhunger“ erfüllte Scheler, voller Sehnsucht nach „unverbildetem Faktenwissen“ (Lützeler 1978, 124), der wohl als Erster die Bedeutung derartiger Befunde für die Philosophie erkannt hat und diese Beobachtungen über seine wirkungsmächtige programmatische Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928/81975), wahrscheinlich auch schon durch vorausgegangene Vorlesungen und Vorträge, in das Gesichtsfeld der Philosophie rücken sollte (zur etwas verwickelten Entstehungsgeschichte der Scheler’schen Abhandlung vgl. Vorrede zur ersten Auflage und Fischer 2008, 61ff., 476f.). Diese Überlegungen aufgreifend und weiterspinnend hat dann beispielsweise Erich Rothacker (1881-1965) an den Beginn der systematischen Darstellung einer „Wesenslehre des Menschen“ die Frage gerückt: „Wie unterscheiden sich Mensch und Tier?“ (1964/51982, 7) Nun nimmt auch eine althergebrachte Bestimmung des Menschen als eines „federlosen zweibeinigen Wesens“ ausdrücklich Bezug auf andere Kreaturen. Aber mit dem Aufschwung der Bio- und Neurowissenschaften im Verlauf der vergangenen Dekaden wuchs der Perspektive eines Tier/Mensch-Vergleichs zunehmend mehr Gewicht zu als noch in der Antike, die sich mit dem bloßen Auge darbietenden morphologischen Merkmalen wie Haut und Fortbewegung als Grundlage zoologisch-komparativer Beobachtungen begnügen musste. Auch Plessner und Gehlen haben in ihren philosophisch-anthropologischen Hauptwerken auf die Untersuchungen Köhlers, aber auch weiterer Autoren aus dem Umkreis der Lebenswissenschaften zurückgegriffen, beispielsweise Plessner in den Stufen auf Wilhelm Roux (GS IV, 256), Begründer der „Entwicklungsmechanik des Embryos“ (vgl. Mocek 1974), auf von Uexküll (GS IV, 314), der u.a. den Begriff der Umwelt in die Zoologie einführte, aber darüber hinausgreifend auch erheblichen Einfluß auf die Philosophie nehmen sollte, oder Hans André (GS IV, 291), der schon 1924 eine Schrift mit dem

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Titel: Der Wesensunterschied von Pflanze, Tier und Mensch: Eine moderne Darstellung der Lebensstufen im Geiste Thomas von Aquins veröffentlicht hatte und im Vorwort festhält, dass die Abhandlung angeregt wurde „durch eine Vorlesung Herrn Dr. Pleßners an der Universität Köln, welcher das Problem [der Lebensformen, HA] unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt entwickelte“.6 In Anbetracht der grundlegenden Bezugnahme der Philosophischen Anthropologie auf komparativ-verhaltensbiologische bzw. tierpsychologische Befunde ist dieser Denkansatz, im Gegensatz zu seinen Vorläufern, „innig verwoben“ mit der Entwicklung der Geschichte der (empirischen) Wissenschaften vom Menschen um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts (GS VIII, 34). Aber eine Blickwendung hin zu non-humanen Lebewesen – Theodor W. Adorno (1903-1969) spricht in seiner Negativen Dialektik (2003/92020) von einem „hämischen Seitenblick aufs Tier“ – kann diesem Autor zufolge zu keinen relevanten philosophischen Einsichten führen: „Die These arrivierter Anthropologie, der Mensch sei offen … ist leer; sie gaukelt ihre eigene Unbestimmtheit, ihr Faillissement, als Bestimmtes und Positives vor“ (ebd., 130). Und dieser Aussage folgt die Feststellung: „Daß nicht sich sagen läßt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie sondern ein Veto gegen jegliche“ (ebd., Komma vor „sondern“ fehlt im Original; Zuspitzung dieser Kritik in Horkheimer 1987/42014, 277ff.). Inzwischen ist der noch von Adorno als „hämisch“ bezeichnete „Seitenblick aufs Tier“ zu einem festen Bestandteil des Feuilletons geworden – und bei weitem nicht mehr von Häme geprägt. Vielmehr wird eher anerkennend und bewundernd berichtet, dass diese oder jene Tierart „auch schon“ Werkzeuge einsetze, „auch schon“ komplexe soziale Ordnungsgefüge aufweise, „auch schon“ zu symbolischem Denken fähig sei etc. etc. Häme scheint immer noch im Spiel zu sein, aber jetzt in umgekehrter Richtung: Die – angemaßte – Sonderstellung des Menschen außer- oder oberhalb der Natur, die oft mit dafür verantwortlich gemacht wird, dass er seine eigenen Lebensgrundlagen als auch die anderer Kreaturen zerstört, habe – glücklicherweise – weiter an Glanz eingebüßt. Vor diesem Hintergrund kann dann Demut eingefordert werden in Gestalt einer Rückkehr zum angestammten Platz im Bereich des Lebendigen. Als eine weitere, aber eher grobschlächtige Dimension der Kritik wurden dem Tier/Mensch-Vergleich politisch-ökonomische Motive unterlegt: „Die menschliche Natur wird als 6

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Bei der angesprochenen Lehrveranstaltung könnte es sich um die Vorlesung „Elemente der Erkenntnislehre“ aus dem WS 1922/23 gehandelt haben (vgl. Pietrowicz 1992, 158f.). In der Vorrede zu dem erwähnten Büchlein stellt Hans André rückblickend fest, dass damals Plessner „drei Korrelationsstufen von Lebensform und Lebenssphäre“ in Gestalt „sinngesetzlicher Entsprechungsformen“ von Medium / Umwelt / „Dingwelt“ und Pflanze / Tier / Mensch unterschieden habe.

Argument gegen die Möglichkeit der Vervollkommnung oder nur Besserung der Menschheit herangezogen“ (Krasnodebski 1995, 219; vergleichbare Argumente finden sich in Kramme 1989, 9, 13, 18). Die Bezugnahme auf „das Tier“ – dieser „Kollektiv-Singular“ (Weingarten 2005, 24), obwohl eigentlich nicht mehr angemessen angesichts der Mannigfaltigkeit artspezifischer Unterschiede im Tierreich (vgl. Gutmann & Weingarten 2005), soll der Flüssigkeit des Lesens halber beibehalten werden – erfolgte zumindest bei Scheler und Gehlen im Gestus der Abgrenzung, offensichtlich bei Scheler, aber auch im Falle Gehlens, obwohl der letztgenannte Autor immer wieder mit dem Vorwurf des Biologismus konfrontiert wurde. Als „Mängelwesen“ verfügt der Mensch – Gehlen zufolge – im Gegensatz zu non-humanen Lebensformen eben nicht „von Natur aus“, d.h. von seiner biologischen Ausstattung her, über die instinktvermittelte Verhaltenssicherung anderer Lebewesen, muss vielmehr auf dem Weg institutioneller Kontrolle sozusagen wieder zu einem Tier – allerdings höherer Ordnung – werden (Hagemann-White 1973, Kap. 1; zum Vorwurf des Biologismus gegenüber Gehlen vgl. die erhellenden Anmerkungen in Claessens 21970, 42). Der Tier/Mensch-Vergleich hat jedoch in jüngerer Vergangenheit – wie schon dargestellt – eine bemerkenswerte Wendung von der kontrastiven Abgrenzung hin zu einer grenzüberschreitenden Annäherung – oder inklusiven Bezugnahme – vollführt, überaus prägnant artikuliert im Titel des schon erwähnten Buches von Derrida: L’animal que donc je suis (2006/22016) und zugespitzt in der Aussage von Gabriel: „Wir Menschen sind Tiere“. Aufgrund unserer Körperlichkeit geraten wir Menschen als „l’animal que donc nous sommes“ aber nicht nur in eine vitale Schicksalsgemeinschaft mit anderen Tieren, aus der heraus sich dann distinkte Ansprüche dieser Lebewesen an eine ökologische Ethik ergeben, sondern es scheint sich auch eine „Sonderstellung“ unsereins gegenüber non-humanen Lebewesen – durch Rückgriff auf distinkte mentale „Monopole“ – nicht mehr „klar und deutlich“ abgrenzen zu lassen (eine ausführliche Diskussion des Konzepts einer Sonderstellung des Menschen findet sich in Gutmann 2001). Die Verwandtschaft unserer Spezies mit anderen tierischen Lebewesen, zuvörderst Menschenaffen, beschränkt sich nicht nur auf eine Kontinuität morphologischer, metabolischer und physiologischer „traits“, sondern auch mentaler – allerdings unter Ausschluss sprachgebundener – Ressourcen, z.B. prozedurales Gedächtnis oder visuell-räumlicher Organisationsleistungen, als auch emotional / motivationaler Antriebskräfte des Verhaltens. Mit anderen Worten: An die Stelle eines inneren Homunculus – ein Menschlein en miniature – tritt als Akteur unseres Verhaltens Our Inner Ape (De Waal 2005). Bezeichnenderweise lautet der Untertitel jener Abhandlung: A Leading Primatologist Explains Why We Are Who We Are. Die Primatologie,

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nicht mehr die Philosophie oder die (Human-)Psychologie, scheint nun die Leitwissenschaft vernünftiger „Selbstbesinnung“ darzustellen. Ein anderes Beispiel: Wenn das Sozialverhalten zumindest von Schimpansen auffällige Parallelen zur politischen Sphäre unserer Spezies aufweist, angedeutet z.B. in dem Buchtitel: Chimpanzee Politics – Power and Sex among Apes (De Waal 2007), dann wäre Politik nicht nur als ein anthropologisches, sondern schon als anthropoides Existenzial einzuordnen, also ein Merkmal, das auch alle „Angelegenheiten“ unserer Cousins durchzieht (zum Begriff des anthropologischen Existenzials vgl. Seitter 2012, 8). Mit anderen Worten: Über seine körperliche Vulnerabilität und Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen hinaus weist „l’animal que donc nous sommes“ eine (partielle) tierische Verfasstheit auch unseres Geistes („mind“) auf, etwas weniger anstößig formuliert: eine phylogenetische Kontinuität unserer kognitiven und emotional / motivationalen Leistungen. Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, dass sich inzwischen die Frage stellt, ob die Thematik Tier / Mensch nicht irgendwann überholt sein wird oder grundlegend revidiert werden muss: „Die neuen biomedizinischen Technologien lassen fraglich werden, was an uns Lebewesen Natur ist“ (Krüger 1999, 18). Um die Aussage noch etwas zuzuspitzen: Es wird zukünftig auch zu bedenken sein, ob – in der Perspektive zu erwartender Entwicklungen im Bereich der biomedizinischen Forschung, aber auch der künstlichen Intelligenz und der Robotertechnologie – an uns Menschen überhaupt noch eine Natur im Sinne eines residualen unverfügbaren phylogenetischen Erbes verbleibt (zum Begriff der Verfügbarkeit in diesem Kontext vgl. Barkhaus & Fleig 2002, 10f.). Möglicherweise hat dann eine Besinnung zu Wesen und Aufgaben des Menschen weniger an unsere entwicklungsgeschichtliche Herkunft anzuknüpfen, die – ob nun als Kontinuum oder Hiatus gedacht – unserer physischen oder mentalen Entfaltung Grenzen und Schranken setzt, z.B. hinsichtlich eines Lebens im Weltraum (Wenner 2002, 84ff.), sondern an den zukünftigen Möglichkeiten von „artificial intelligence“ und „robotics“, die den Horizont menschlicher Verhaltensoptionen ausdehnen könnten, indem sie uns zu Cyborgs erweitern: „Anstelle der Grenze zum Tier scheint der Übergang zur Maschine das Problem der gegenwärtigen Anthropologie zu sein“ (Kamper 1997, 86). Allerdings, und das ist in diesem Zusammenhang ein überaus bemerkenswerter Gedanke, könnte eben die Mensch/Maschine-Perspektive, die bisher der Philosophischen Anthropologie erst ansatzweise gewärtig war und nun in den Blick gerät, doch wieder den – inklusiven – Tier/Mensch-Vergleich herausfordern, um eben vor diesem Hintergrund den „Eigensinn“ und die „Lebendigkeit“ des menschlichen Körpers“ gegenüber Maschinen verstehen zu lernen (Barkhaus 2002, 46). Und eben die zeitgenössischen Überlegungen zu einer ökologischen Ethik und zur „Verkörperung des Geistes“

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nötigen uns heute, an die Tradition des Tier/Mensch-Vergleichs anzuknüpfen. Ob und inwieweit sich in diesem Rahmen ein Rückgriff auf die Philosophische Anthropologie „lohnt“, bleibt herauszuarbeiten. An Unkenrufen fehlt es nicht: Von ihren inhaltlich-sachlichen Fragestellungen bzw. Erträgen her ruft die Philosophische Anthropologie inzwischen, so eine kritisch-zusammenfassende Bewertung, ein „Gefühl des Überlebtseins“ hervor, einhergehend mit einer „Uninteressiertheit an ihren Ergebnissen“ (Schulz 1972/72001, 457). Das „Gefühl des Überlebtseins“ mag auch damit zusammenhängen, dass die Autoren der Philosophischen Anthropologie sich mit Daten und Modellen auseinandersetzen, die aus der Zeit vor der Entdeckung des genetischen Codes und vor der kognitiven Revolution in den Verhaltenswissenschaften stammen. Es wurde schon erwähnt, dass die Tradition der Philosophischen Anthropologie sich sozusagen in drei „Wellen“ entwickelt hat, zunächst in den 1920er Jahren „eine nur kurze Blüte erlebte“, „dann noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg starke Beachtung fand und nun nach fast jahrzehntelanger Missachtung eine gewisse Renaissance erfährt“ (Lessing 1998, 13). Aber sowohl die „Wiedergeburt“ als auch die vorausgegangenen „Wellen“ haben einen doch wesentlichen Aspekt des Plessner’schen Werkes vernachlässigt. Vom Umfang her gesehen steht im Mittelpunkt der einschlägigen Sekundärliteratur der anthropologische Grundbegriff der Stufen, d.h. die „exzentrische Positionalität“ unserer Spezies, ein Konzept, das erst im Schlusskapitel unter dem Titel: Die Sphäre des Menschen eingeführt wird. Nun müssen sich letztlich, in Konsequenz der Philosophischen Anthropologie Plessners, alle „Wirklichkeitsbezüge“ und „Selbst-Verständnisse“ des Menschen von seiner exzentrischen Positionalität her verstehen lassen (Orth 1995, 68) – bis hin zur Weltraumfahrt (!), in gewisser Weise Exzentrizität par excellence (Fischer 2016, 355ff.). Soll aber exzentrische Positionalität, die grundlegende philosophisch-anthropologische Kategorie der Plessner’schen Stufenlehre, nicht „nur als die neue Übersetzung einer alten Wahrheit“ dienen, „etwa, daß der Mensch Distanz zu sich habe“ (vgl. Dux 1970, 294f.), oder in etwas verfremdetem Gewand die „idealistische Grundproblematik“ des Menschen als eines Wesens, „das zu sich Ich sagen kann“, reiterieren (Schulz 1972/72001, 434f.), dann hat der Blick sich auch – oder sogar in erster Linie – auf die naturphilosophische Grundlegung bzw. Einbettung dieses Konzepts zu richten: Die „Grundintention“ von Plessners philosophischer Anthropologie zielt – auch oder zuvörderst – ab „auf eine philosophische Rehabilitierung der Natur“ (Habermas 2 1991, 137) und darf als „kritisch fundierte Naturphilosophie“ gelten (Cassirer 1995, 59; vgl. Delitz 2011, 430). Mit anderen Worten: Für Plessner ist „Anthropologie nur als Naturphilosophie zu haben“ (Schürmann 2014, 17). Bezug nehmend auf eine Unterscheidung, die Plessner in den Stufen

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einführt (GS IV, 70), soll hier die vertikale Dimension von Plessners Philosophischer Anthropologie im Fokus stehen: „Vertikal“ heißt die Richtung, die sich aus der „naturgewachsenen Stellung“ des Menschen „als Organismus unter Organismen“ ergibt, die horizontale Perspektive rückt demgegenüber die „Beziehungen des Menschen zur Welt“ in den Blick (vgl. Pietrowicz 1994, 45). Diese Feststellungen zum systematischen Gefüge des Plessner’schen Werkes wirken auf den ersten Blick eher banal, beinhalten aber doch eine gewisse Zumutung. Im Rückblick auf ein Symposium an der Universität Groningen zu Ehren von Plessners 90. Geburtstag (6./7. Mai 1983) schreibt Hans Heinz Holz (2003, 159ff.): „Nur vorsichtig [sic!, HA] klang die Frage an, ob zur Klärung des Wesens der Exzentrizität nicht auf den fundamentalen Sachverhalt der Positionalität zurückgegangen werden müsse, die ihren Charakter jeweils dem Verhältnis des ‚Innen‘ und ‚Außen‘ zum materialen Apriori der Grenze verdankt.“ Die angesprochene Zaghaftigkeit wird verständlich, wenn man die Frage weiter zuspitzt: Hängt nicht die Geltung aller am Begriff der exzentrischen Positionalität anknüpfenden Überlegungen zur Situation des Menschen in Gesellschaft und Geschichte, z.B. das oft und gerne zitierte „Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen“ (GS V, 175ff.), an der Plausibilität eines naturphilosophischen Ordnungsgefüges von Pflanzen und Tieren? Eine naturphilosophische Rückbindung unseres sozialen Verhaltens und politischen Handelns an die Welt der Tiere und – erst recht eine Zumutung – der Pflanzen mag im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften als fremd oder gar peinlich erlebt und deshalb ausgeblendet werden. Aber hängt nicht die argumentative Kraft der am Begriff der exzentrischen Positionalität anknüpfenden „anthropologischen Grundgesetze“ – in ihrer Verbindung mit Macht und menschliche Natur: Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931, wiederabgedruckt GS V) als dem zweiten Hauptwerk Plessners (Schürmann 2014, 28) – auch an der Plausibilität der naturphilosophischen Stufenlehre, d.h. an der Tragfähigkeit der begrifflichen Abgrenzung – erstens – der Lebewesen von anorganischen Dingen und – zweitens – der Lebensform non-humaner Tiere von der des Menschen. Ohne naturphilosophische Grundlegung läuft der Begriff der exzentrischen Positionalität Gefahr, sich zu einer Etikette zu verflüchtigen, zu einer anthropologischen Bestimmung, die auch dem Bereich der „folk psychology“, der Belletristik oder – bestenfalls – der philosophischen Tradition entnommen sein könnte (GS IV, 68).7 7

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Die der „Sphäre des Menschen“ vorausgehenden Abschnitte der Stufen, die der Bestimmung der „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“, d.h. der pflanzlichen und tierischen Formen, und der „Sphäre des Tieres“ dienen, immerhin zwei der insgesamt sieben Kapitel des Buches, lagen bislang im Windschatten der Rezeption, als Ausnahmen dürfen insbesondere die Dissertation von Olivia Mitscherlich

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Die „Vor-Stufen“ von Plessners Stufenordnung des Organischen in den frühen Schriften: (i) Erste Anläufe zu einer Hermeneutik der Natur und (ii) Grundlegung der (Natur-)Philosophie in einem konstruktivistischen Modell

4.1 Vorbemerkungen: Weshalb eine „archäologische“ Spurensuche im Fundhorizont der frühen Schriften Plessners? Hans Redeker (1993) hat darauf hingewiesen, dass Plessners Werk eine „Philosophie als System“ darstellt (ebd., 11). Um die Architektur des Gesamtwerks zu entdecken, „die implizit darin versteckt ist, jedoch explizit niemals von ihm selbst als solche entwickelt wurde“, müssen die den Stufen vorausgegangenen Veröffentlichungen mit in Betracht gezogen werden (ebd., 16). Den Worten Redekers kommt insofern Gewicht zu, als seine Abhandlung von Plessner selbst noch gelesen und sozusagen autorisiert werden konnte (obwohl erst 1993 veröffentlicht, hatte er mit dem Manuskript schon in den 1960er Jahren begonnen; ebd., 8). Und er hatte nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Groningen Plessner als Assistent „gedient“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund dürfte sich ein „Verständnis des Denkweges von Helmuth Plessner“ nur gewinnen lassen „unter der Voraussetzung des Zusammenlesens“ seiner „anthropologisch-philosophischen und geschichtlich-politischen Schriften“ (Friedrich 1995, 46). Den hohen Stellenwert „geschichtlich-politischer“ Fragestellungen von Beginn an belegt schon ein Blick in das Literaturverzeichnis (Ziegler 1957, 398ff.; Giammusso 1995) und die Liste der Lehrveranstaltungen (vgl. Pietrowicz 1992, 158). Nun legt die vorliegende Arbeit ihren Fokus auf Plessners Naturphilosophie: Es geht um die Einbettung des Menschen in das Reich der übrigen Lebewesen. Deshalb wird es vertretbar sein, nur diejenigen frühen Abhandlungen in Betracht zu ziehen, die in einer direkten Beziehung zu den Stufen stehen und die konzeptuelle Entwicklung und den argumentativen Aufbau der Schrift zu erhellen vermögen. Mit anderen Worten: Es soll nach den Wurzeln lediglich der Plessner’schen Naturphilosophie im „Fundhorizont“ der frühen Werke, die dem Opus magnum zeitlich vorausliegen, gesucht werden, um dadurch sozusagen die „Vor-Stufen“ der Stufen herauszuarbeiten. Die „Grabungen“ sollen deshalb nicht – wie (2005/2007), eine Abhandlung von Stascha Rohmer (2016) und die von Krüger herausgegebene „Auslegung“ gelten (2017), die fortlaufend die angesprochenen Passagen kommentieren.

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schon angesprochen – aufs Geradewohl erfolgen oder auf das gesamte Schrifttum ausgedehnt werden. Über die Auseinandersetzung v.a. mit Husserls Phänomenologie und dann Kants Transzendentalphilosophie in der (erweiterten) Dissertations(Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang, 1916/1918; wiederabgedruckt GS I) und dann in der Habilitationsschrift (Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft, 1920; wiederabgedruckt in GS II) werden wichtige systematisch-methodische und begrifflich-logische Grundlagen der Stufen erarbeitet, insbesondere – um vorauszugreifen – das dann im Opus magnum verfolgte Konzept der quasi-experimentellen Überprüfung eines (voraus-)gesetzten Prinzips des Organischen („These der Doppelaspektivität“; GS IV, 127ff.) durch die Darstellung, besser, das Aufspüren eines architektonischen Zusammenhangs der anschaulich vorfindlichen Phänomene von Lebendigkeit am Leitfaden der Grenzverläufe Innen / Außen und Organismus / Umwelt.8 Mit den Abhandlungen Die wissenschaftliche Idee: Ein Entwurf über ihre Form (1913, wiederabgedruckt in GS I) und Die Einheit der Sinne: Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923, GS III) liegen zwei Schriften vor, in denen über einen „naturwissenschaftlich restringierten Naturbegriff“ (Lessing 1995, 114) hinaus nach dem Sinn von Natur gefragt wird, d.h. nach der Ordnung des Kosmos im Ganzen (Die wissenschaftliche Idee) oder – im Falle der Einheit – eines distinkten Bereichs körperlicher, genauer, psychophysischer Leistungen, nämlich das Feld der Sinnesmodalitäten. Diese zwei Abhandlungen können die Zielsetzung von Plessners Unternehmen einer hermeneutischen Naturphilosophie eben von ihren ersten Entwürfen her verdeutlichen. Die mit Buytendijk zusammen verfasste Abhandlung Die Deutung des mimischen Ausdrucks: Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925, wiederabgedruckt in GS VII, 67129) stellt demgegenüber keine eigentliche „Vor-Stufe“ dar, sondern kann als eine Ergänzung der Stufen gelesen werden (siehe unten).

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Elke Völmicke führt in ihrer 1994 veröffentlichten Dissertationsschrift aus, dass „die 1928 in den ‚Stufen des Organischen‘ vorgelegte Konzeption einer ‚Philosophischen Anthropologie‘ ihren Halt in der systematischen Exposition der kritizistischen Grundgedanken [der philosophischen Frühschriften, HA] hat und nicht wie von den meisten Interpreten angenommen in der Lebensphilosophie Diltheys oder der Phänomenologie Husserls“ (ebd., 105). Präziser gefasst: Halt soll geben „die Idee einer revidierten Transzendentalphilosophie“ (ebd., 41) in Gestalt – etwas verkürzt formuliert – einer Zuspitzung der transzendentalen Geltungsreflexion, ausgehend von und angelehnt an die Marburger Schule, in der Frage nach der Selbstbegründung der Vernunft als einer Einheit.

4.2 Das „unabweisbare Bedürfnis“ der Vernunft nach Einheit – und Sinn: Entwürfe einer Rehabilitierung der Naturphilosophie auf dem Weg zur Philosophischen Anthropologie 4.2.1 Die „Materialisiertheit des Logos“: Das Erstlingswerk Die wissenschaftliche Idee: Ein Entwurf über ihre Form (1913) – nicht nur eine literarische „Jugendsünde“ Im Alter von 21 Jahren hat Plessner eine erste Schrift zur Philosophie unter dem Titel: Die wissenschaftliche Idee: Ein Entwurf über ihre Form (1913) veröffentlicht, immerhin bei einem renommierten Heidelberger Verlag, vom Inhalt her als – einziges – Exponat einer „vorkritischen“ (Breun 1987, 7) oder „idealistisch-metaphysischen“ Phase seiner Entwicklung (Pietrowicz 1992, 241) eingestuft. Die von Plessner später selbst als „Theologie des wissenschaftlichen Fortschritts“ (GS X, 307) bezeichneten Grundgedanken dieses Werkes sind deshalb hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen. Bemerkenswerterweise, und darauf soll hier aufmerksam gemacht werden, kommen jedoch schon im Erstlingswerk methodische und inhaltliche Motive des Hauptwerkes zum Tragen, insbesondere die „Nutzbarmachung verschiedenster philosophischer und wissenschaftlicher Ansätze und Methoden“ (Pietrowicz 1992, 117), hier z.B. die denk- bzw. gestaltpsychologischen Konzepte einer „determinierenden Tendenz“ und der „latenten Einstellung“. Auch der – neukantianische – Gedanke eines „grundlosen“ (GS I, 16f.) Beginnens in den Wissenschaften taucht auf, ein Vorgehen, das aber eben nicht in der Beliebigkeit endet, „weil sich zeigt, daß ihre Ergebnisse aus einer ihnen innewohnenden Kraft sondergebietsübergreifenden Geltungsanspruch erhalten; von der Zufälligkeit des Gefundenseins befreien sie sich selbst“ (GS I, 19). Der damals – tagsüber – an einer experimentell-zoologischen Dissertation arbeitende Autor war, wie er viel später in einem Selbstdarstellung betitelten biographischen Essay festhält, „gepackt“ worden von einem, in seinen eigenen Worten, „seltsamen Phänomen“, nämlich der „Tatsache der wissenschaftlichen Entwicklung als sozialer Prozeß, der sich aus den verschiedensten Ansätzen und Irrtümern über die Köpfe hinweg realisiert“, und dem er sich dann – nächtens – in Gestalt der Ausarbeitung dieser ersten philosophischen Veröffentlichung widmen sollte (GS X, 306f.). Auch noch in der Abgrenzung von Hegels idealistischem Programm wird seine Faszination durch dessen Denken spürbar: „So wurde ich auf eine im Grunde theologische Frage gebracht … nicht im Sinne Hegels als Selbstentfaltung Gottes im Medium des Logos, sondern im Sinne moderner Forschung als offener Prozeß rastlosen Strebens, das kein Ende findet“ (GS

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X, 307f.). Nicht ganz überzeugend wirkt diese auf den ersten Blick brüske Absetzbewegung dadurch, dass in der Wissenschaftlichen Idee an einem Dreh- und Angelpunkt der Argumentation dann doch der Logos ins Spiel kommt: Sinn muss immer an einen nicht-bedeutungshaften Träger gebunden sein, „um sein wahres selbständiges Wesen als reiner Logos“ kundtun zu können (GS I, 111). Und mehr oder weniger unterschwellig scheint die frühe idealistisch-metaphysische Tönung des Plessner’schen Denkens auch noch nachfolgende Untersuchungen zumindest der 1920er Jahre zu prägen, z.B. hält die spätere Einheit strikt den Gedanken eines „Primats des Geistes“ durch (Lessing & Mutzenbecher 1994, 221).9 Das Vorwort der Wissenschaftlichen Idee lässt schon ein robustes Selbstbewusstsein des Autors erkennen: Er bezeichnet seine Schrift als „ein ganz neuartiges Gebilde“, gekennzeichnet durch ein „Continuum von Schlüssen … dessen Tektonik kraft innerer Sicherheit das Notwendige ihres Gehaltes wie ihrer Form selbst erkennen läßt“ (GS I, 9). Und das Ziel des Unternehmens liegt darin, „durch die Lösung eines einzelnen Problems, der Idee aller Wissenschaften, gleichzeitig das Gesamtproblem zu beantworten: das ‚unabweisbare Bedürfnis‘ der Vernunft nach Einheit“ (GS I, 12). Auf dem Boden einer „phänomenologischen, selbstbesinnlichen Analyse“ wird zunächst ausgeführt, dass innere Abstraktion (Ideation) „Einheit und Einsichtigkeit für irgendein Sachliches“ (Ideat) schaffe, sich entfaltend in einem pyramidenartigen Stufenbau von Ideaten zunehmender Allgemeinheit. Im Hintergrund mag die Linné’sche Systematik der Lebewesen als Modell gedient haben. Diese Bewegung findet ihren Abschluss „in der Gestalt des letzten Ideates“. Die Wissenschaft wächst so in Gott, d.h. das „höchste Eine Ganze“ (GS I, 102) hinein, „dieser als die umfassendste Form ist ihr Ziel und läßt damit jenes ganze Werden als einen Prozeß seiner selbst erkennen“ (GS I, 74). Im Zusammenhang mit der (augenscheinlichen) Spannung zwischen der „Tatsache des Werdens“ der Wissenschaften und einem aus der Vorstellung des Ideat-Zusammenhangs abgeleiteten Gottesbegriffs als eines „vollendet bewegungslosen werdensfreien Ganzen“ [kursive Schreibweise ergänzt, HA] wird der Begriff einer „Vergeistigung der Natur“ eingeführt (GS I, 109, 115f.). Dieser Passus verdient, hier wörtlich wiedergegeben zu werden: „Die Gesamtheit des Natürlichen … wird durch den Ideationsgang der Wissenschaft allmählich vergeistigt, in das Ganze hineingehoben … Die Wissenschaft stellt zuerst Regeln, Begriffe und Wertbeziehungen niederer und höherer Allgemein9

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Rohmer weist in einer Buchveröffentlichung mit dem Untertitel: Zum Begriff der Grenze bei Hegel und Plessner nach, dass „profunde Gemeinsamkeiten zwischen Hegels dialektischer Auffassung der Wirklichekeit und Plessners Philosophie des Organischen bestehen“ (2016, 11).

heit, dann endlich Gesetze und umfassende Werte auf, und so wird allmählich dieses für sich bestehende Reich des Daseins seiner Einkleidung befreit und dem Logos zurückgegeben.“ Die Möglichkeit einer „Vergeistigung der Natur“ dadurch, dass die Wissenschaften sozusagen Werte und Gesetze aus ihr herauslesen, muss in einer ursprünglichen „Materialisiertheit des Logos“ als Natur gründen. Im Falle kultureller Artefakte, die eben auch zur „Gesamtheit des Natürlichen“ gehören, führt schon der Vorgang ihrer Herstellung notwendigerweise zu Sinnhaftigkeit: „Der gedachte Gedanke … legt sich gleichsam auf die Naturdinge darauf und gibt ihnen spezifische Form; die Gesamtheit dieser materialisierten Formen … stellt die Kultur dar … “ (GS I, 113). Wenn nun die angesprochenen „Wertbeziehungen“ auf den Bereich menschlicher Artefakte begrenzt blieben und die „Vergeistigung“ der „unberührten“ Natur sich in empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnis erschöpfte, dann würden sich Plessners Erörterungen, abgesehen von ihrer theologischen Einkleidung, in damals zeitgenössischen Bahnen bewegen und den Gegensatz idiographischer und nomothetischer Verfahren widerspiegeln. Aber die „Materialisiertheit des Logos“ reicht eben über den Bereich der Kultur hinaus auch in die von uns (noch) nicht umgestalteten Sphären und Domänen der Welt hinein: „Über diese … enge Ansicht der Natur als Trägerin von Kultur … werden wir aber sofort hinausgetrieben in ein umfassenderes Begreifen dieses Reiches. Es wäre niemals von diesem Standort aus zu verstehen, warum das Gebiet eine so ungeheure Mannigfaltigkeit der Formen und Wesen birgt. … Die Tatsache des Belebten und seine Gliederung, des Anorganischen in seiner unübersehbaren Detailliertheit weist gebieterisch der Natur eine zweite selbständige Bedeutung zu“ (GS I, 114). Und diese „zweite selbstständige Bedeutung“ der Natur zeigt sich in der „naiv“ vorgefundenen Gliederung – nicht nur kultureller, sondern auch – natürlicher (!) Gegenstände als „sinnhafter Gebilde“, die wir „in einer rein bildhaften Sphäre“ zu „verstehen und einzuteilen vermögen“, dadurch „daß sie Verwandtschaft untereinander besitzen“ und dadurch klassifiziert (verallgemeinert) werden können (GS I, 17f.). Mit anderen Worten: Die naiv anschauliche, den Dingen und Ereignissen ablauschbare „Verkettung von Sinnhaftem und Sinnfreiem“, ihre Bedeutung und ihre „Getöntheit“, lösen im Betrachter bzw. Hörer ein „Anklingen“ oder „Mitschwingen“ aus (GS I, 111). Schon von Anbeginn kommt bei Plessner sozusagen ein „anti-mechanistischer Affekt“ zum Tragen, der in einem Wissen, das „bloß“ auf einen „Zuwachs an Macht und Einsicht“ abzielt, die Gefahr einer „Entzauberung der Dinge“ sieht, einschließlich des Verlusts der „Unnahbarkeit menschlicher Dinge“ – so formuliert es ein viele Jahre später veröffentlichter Festschriftbeitrag mit dem Titel: Über Menschenverachtung aus dem Jahre 1953 (GS VIII, 114). Und dieser bedeutungstragende, sinnhafte Charakter nicht nur kultureller („geistiger“) Güter, sondern auch

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der sozusagen unberührten, noch nicht durch uns Menschen erschlossenen und umgestalteten Natur muss eben in einer „Materialisiertheit des Logos“ gründen, die auch non-humane Lebewesen und anorganische Stoffe miteinbezieht. Der Gedanke einer Naturphilosophie, die über die empirischen Wissenschaften hinaus sich auch auf non-humane Sphären erstreckt, wird dann in den anthropologischen Schriften aufgegriffen und weiter gesponnen mit dem Ziel, „der hermeneutischen Lebensphilosophie ein naturphilosophisches Fundament zu geben“ (Arlt 1996, 83). Aber mit einem Rekurs auf „rein bildhafte“ und „naiv vorgefundene“ Verwandtschaftsbeziehungen in der Natur kann die Abgrenzung von fragwürdigen, ja, unsinnigen Signaturenlehren schwierig werden, die nicht nur vormodern-archaisches Denken durchdrungen haben, sondern auch noch im Verlauf der Neuzeit Gehör fanden und finden. Um unverfängliche Beispiele aus der weiter zurückliegenden Vergangenheit aufzugreifen, die heutzutage keine Empfindlichkeiten verletzen dürften: „Der Weg des Verstehens [der Natur, HA] führt … über die Entdeckung von Ähnlichkeiten. … Die rote Farbe einer Pflanze ähnelt dem Rot des Blutes, muss also etwas mit Blut zu tun haben“ (Göttert 2019, 289). In dieser Perspektive sollte dann z.B. die Walnuss, da sie von ihrer Gestalt her dem Gehirn gleicht, eben für dieses Organ „von Nutzen“ sein (ebd, 343). In anderen Worten: Hermeneutik der Natur bedarf eines kritischen Rahmens, der sinnvolle und unsinnige Analogien zu unterscheiden erlaubt.

4.2.2 Vom Sinn der Mannigfaltigkeit der Sinne: Domäne-übergreifende Konformitäten / Konkordanzen im Bereich der Sinnesmodalitäten, des Verhaltens und der Kultursphären – Die Einheit der Sinne: Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) 4.2.2.1 Vorbemerkungen: Entstehungs- und wirkungsgeschichtliche Einordnung der Schrift Im Vorwort zur ersten Auflage der Stufen aus dem Jahre 1928 schreibt Plessner, dieses Werk habe sich „aus konsequenter Weiterverfolgung“ einer in der Einheit entwickelten Theorie der Sinnesmodalitäten als je spezifischer Verhältnisformen von Leib und Psyche ergeben (GS IV, 9f.). Darüber hinaus wird im Opus magnum vielfach auf die vorausgegangene Abhandlung verwiesen. Vor diesem Hintergrund mag die Einheit, eine „nahezu unbeachtet“ und „fast unbekannt“ gebliebene Schrift, sozusagen als ers-

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te dezidiert philosophisch-anthropologische Veröffentlichung des Autors gelten, zumindest als „erster Schritt in dieser Richtung“ (GS IV, 9).10 Dass dieser Versuch einer Ästhesiologie des Geistes rezeptionsgeschichtlich ins Abseits geriet, könnte u.a. dadurch bedingt sein, so Lessing (1998), der einen umfassenden Kommentar zu dieser Abhandlung vorgelegt hat, dass sie in die Eklipse der fünf Jahre später erschienenen Stufen geriet (ebd., 13f., 33, 38ff.). Aufschlussreicher als die inkriminierten Zeitumstände ist doch der Blick auf den Inhalt, der damals und heute außerhalb des philosophischen „mainstream“ zu liegen kommt, man denke an die umfangreiche Diskussion sinnesphysiologischer und psychophysischer Modelle (GS III, 25f.) oder die recht ausführliche Diskussion wahrnehmungspsychologischer Befunde wie der „Voluminosität des Schalls“ oder des „Lagewerts der Töne“ (GS III, 231ff.; vgl. Lessing 1998, 56). Darüber hinaus weist die Einheit auch stilistische und systematische Schwächen auf: „Insgesamt präsentiert sich die Ästhesiologie des Geistes oder die Kritik der Sinne als ein merkwürdiges und auf den ersten Blick irritierendes Theoriegebilde“ (Arlt 1996, 26). Und weiter, schon die Grenzen der Psychopathologie streifend: „Einer verwirrenden Vielfalt von Denkmotiven ist eine Form … aufgeprägt, die Züge der Zwanghaftigkeit trägt“, außerdem werde das Verhältnis von phänomenologisch aufweisenden und kritizistisch konstruktiven „Methodenelementen“ nicht näher bestimmt (ebd.). Trotz der schon erwähnten Gemengelage „scheinbar heterogener Motive, Intentionen und Problemkreise“ und eines „kaum entwirrbaren Knäuels verschiedenartiger Fragestellungen, philosophischer Absichten und Ansätze“ (Lessing 1998, 54) – als Hinweis gedeutet, dass dem Werk eine „integrative Konzeption fehlt“ (Kämpf 2001, 39) – lässt sich doch eine präzis umrissene Ausgangsfragestellung der Untersuchung formulieren: „das Problem der Wesensgesetze oder Struktureigenschaften der Empfindungen“ (Arlt 1996, 27). Genauer: Es geht darum, „hinter“ der Mannigfaltigkeit menschlicher Sinnesorgane einen Sinn zu entdecken, d.h. es soll eine Sinnstiftung physischer / somatischer Vorgänge und körperlicher Organe versucht werden! Um es zu wiederholen: „Die Frage nach dem Sinn der sinnlichen Mannigfaltigkeit“ hat als Dreh- und Angelpunkt der Einheit zu gelten (Lessing 1998, 9, 72f.) – und auf diese Facette der Schrift sollen sich die folgenden Überlegungen beschränken. 10

Die erste eingehendere Auseinandersetzung mit der Einheit aus der jüngeren Vergangenheit dürfte eine Dissertation von Manuel Schneider aus dem Jahre 1989 sein (vgl. Lessing 1998, 41). Etwas zugespitzt formuliert: Auf Grundlage der einschlägigen Passagen der Einheit und der Anthropologie der Sinne soll Richard Hönigswalds (1875-1947) Gestaltlehre um eine Ästhesiologie des Sehens, Hörens und Tastens erweitert werden: „Dabei kommt es zwangsläufig zu einer Modifizierung und Umformulierung der von Plessner entwickelten Ästhesiologie“ (ebd., 254).

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4.2.2.2 Der material-apriorisch gegenständliche Bezug der Sinnesmodalitäten des Menschen zur Welt (Hören, Sehen, Tasten, Riechen etc.) Die Einführung in die Einheit beginnt mit der Feststellung einer grundsätzlichen Schranke der naturwissenschaftlichen Erkenntnis – trotz ihres „Siegeszugs“ im Verlauf der vorausgegangenen Dekaden und bei aller Anerkennung, die Plessner den aus ihnen hervorgegangenen technischen Errungenschaften zollt. Die in ihrer Anwendung so erfolgreiche mathematisch-quantifizierende mechanistische Betrachtungsweise der Natur vermag dennoch „nicht eine Spur“ die Erscheinungsweise bzw. das qualitative Aussehen der Welt zu erklären, d.h. „als Farbenwelt im Auge, als Tonwelt im Ohr, als Tastwelt an der Oberfläche seines Leibes und seiner Gliedmaßen“ (GS III, 22ff.). Und wenn wir alle unsere sinnesphysiologischen und psychophysischen Daten und Modelle gegen das Erlebnis „voller Wahrnehmung“ halten, dann bleibt ein Residuum übrig, nämlich „die Weise, in der sich der Inhalt als Objekt darstellt … die Sinnesqualität, dasjenige, worin sich Wahrnehmungen und Empfindungen ohne Rücksicht auf graduelle Differenzen, auf dynamische Abweichungen voneinander unterscheiden“ (GS III, 28).11 Vor diesem – hier nur knapp skizzierten – Hintergrund können „Sinnesmodale“ als „material apriorische Formen des Weltverhältnisses“ gelten (Holz 1995, 126). Im weiteren Verlauf erfährt die Aufgabe einer Bestimmung material-apriorischer Sinnesqualitäten dann eine merkwürdige Ausrichtung: Es „fehlt bisher jede Möglichkeit einer Theorie der Qualitäten oder Modalitäten, nach denen sich die Sinne unterscheiden“ (GS III, 29). In anderen Worten: Weshalb verfügen wir Menschen über mehrere und gerade diese Sinne (GS III, 197)? Plessners Fragestellung muss im wörtlichen Sinne genommen und die Plausibilität seiner Schrift an der Antwort auf diese Frage gemessen werden: „Warum sieht die Welt optisch, akustisch, taktil aus und warum hat der Mensch Auge, Ohr, druckempfindliche Hautstellen, Wärmepunkte und Kältepunkte, die Organe des Riechens und Schmeckens?“ (GS III, 29). Schließlich verfügen wir über keine spezifischen Rezeptoren für Radioaktivität oder Elektrizität, ja, der weitaus umfangreichste „Teil des Seins“ ist uns sinnlich nicht erschlossen. Und nun die Frage, auf die Plessners Einheit als eine Ästhesiologie des Geistes zulaufen wird: Liegt eine höhere Einheit oder eine Vollkommenheit in dieser letztlich doch „dürftigen Sinnesorganisation“ der Menschen (GS III, 29)? 11

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Der Status von Sinnesqualitäten oder – im heutigen Jargon – Qualia wird in den Neuro- und Kognitionswissenschaften nach wie vor kontrovers diskutiert, ihre „Irreduzibilität“ einerseits vehement bestritten, es sei auf den Titel eines einschlägigen Buchkapitels hingewiesen: The Churchlands’ War on Qualia (Crooks 2008), andererseits ebenso vehement befürwortet (z.B. Varela et al. 1991/2016).

4.2.2.3 Der Sinn der Mannigfaltigkeit der menschlichen Sinne: „Innere Konformität“ bzw. „Akkordanz“ von Haltungstypus, Wahrnehmungsmodalität und Sinnstiftung Im ersten und zweiten Teil der Einheit geht Plessner ausführlich auf mehrere klassische erkenntnistheoretische Positionen der philosophischen Tradition ein, nachgezeichnet in Lessings Kommentar (1998) unter den Überschriften Kritische Gänge I: Rationalismus und Sensualismus oder die Idee der Anpassung und Kritische Gänge II: Intuitionismus und Kritizismus oder die Idee der Anschauung (119–165). Als Ertrag dieser „Gänge“ durch die Geschichte insbesondere der neuzeitlichen Epistemologie kann – „gleichsam ex negativo“ – festgehalten werden, dass sie keinen Ansatzpunkt zur Lösung der „Frage nach der Gegenständlichkeit der Sinne“ und des Sinns der Mannigfaltigkeit der Sinnesmodalitäten bieten (GS III, 120ff.). Erforderlich ist, so Plessner, ein neuer Blick auf diese Problematik, den er im Rückgang auf die Methoden der Geistes- und Geschichtswissenschaften gewinnen will. Im Gegensatz zu der damals vorherrschenden experimentell-psychologischen Forschung, auf die Psychophysik wurde schon mehrfach hingewiesen, habe Dilthey das Desiderat einer geisteswissenschaftlichen Psychologie erkannt. „Der Geisteswissenschaftler sucht durch Sinnbezüge nach Maßgabe der Werte seine Objektwelt zu verstehen“ (GS III, 142). Und dieses Paradigma soll nun herangezogen werden, um die Frage nach dem Sinn der menschlichen Sinnesorganisation zu klären, d.h. es wird – Ende des ersten Kapitels von Teil 3 – die „Zuständigkeit der Naturphilosophie für unser Thema“ eingefordert (GS III, 152). Die entscheidende Passage soll im Wortlaut etwas ausführlicher wiedergegeben werden: „Denn neben der Art … Phänomene antreffend zu erblicken, wahrzunehmen, ihrer innezuwerden, sie zu empfinden, ihr Wesen zu erschauen, gibt es eine ganz andere Weise der Verbundenheit mit fremden Inhalten: das Verständnis. Ich lebe mit Menschen und Tieren zusammen, ich weiß und behandle sie als Wesen, die Gefühle, Gedanken, Willensregungen wie ich haben. Ich verstehe sie, auch ohne daß wir uns durch Sprache der Zeichen und Laute untereinander verständigen. Psychisches gibt sich kund, teilt sich mit und wird verstanden in Ausdrucksbewegungen von der elementarsten bis raffiniertesten Art“ (GS III, 152). Die „Wesen und Arten“ des angesprochenen naturphilosophischen Zugangs zur Welt werden im zweiten Kapitel von Teil 3 der Einheit untersucht. Als Resultat dieser Überlegungen wird eine Tabelle von rigoros-symmetrischem Aufbau vorgestellt, bestehend aus mehreren hintereinander angeordneten dreistufigen Kolumnen, die auf der horizontalen Ebene vielfältige Akkordanz- und Analogiebeziehungen herstellen (GS III, 189) und dann im vierten Teil eine Erweiterung erfahren werden (GS III, 220). In diesen Schemata kommt anschaulich die von Arlt (1996, 26) inkriminierte „Zwang-

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haftigkeit“ der Einheit zum Vorschein. Aber eben diese Akkordanzen und Analogien, Domäne-übergreifende Signaturen oder Strukturgesetzlichkeiten, machen den philosophischen Gehalt der Schrift aus, ohne diese Systematik bliebe die Einheit eine Zusammenstellung von überaus kenntnisreichen, elegant geschriebenen und klug komponierten Essays, wäre aber der selbst gestellten Aufgabe, den Sinn der Mannigfaltigkeit der Sinne herauszufinden, nicht gewachsen. Außerdem können wohl, im Licht der Wissenschaftskultur der 1920er Jahre betrachtet, diese heute „zwanghaft“ anmutenden Korrelationen z.B. von morphologischen (Haltung) und psychophysiologischen (Sinnesmodalitäten) Merkmalen als durchaus „zeitgemäß“ gelten, es sei an Ernst Kretschmers (1988–1964) Abhandlung Körperbau und Charakter: Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten (1921/261977) erinnert (vgl. GS VIII, 48, 62, 124). Das zweite Kapitel von Teil 3 beginnt mit einem Überblick zu den drei Ebenen der „Sphäre des Sinnes“ als – so wenige Seiten zuvor gekennzeichnet (GS III, 150) – des Bereichs, „in dem es überhaupt möglich ist zu sagen, daß etwas wertvoll oder wertlos ist“. Dabei muss zurückgegriffen werden auf die Ordnung der Anschauungen, die entwickelt wurde im zweiten Teil der Einheit. In strenger Akkordanz zum dreistufigen Aufbau der Anschauung als der präsentativen Form des Bewusstseins (GS III, 79) differenziert sich die re-präsentative Dimension (Auffassung / Deutung) in „schematisch darstellbare, syntagmatisch präzisierbare, thematisch prägnante“ Sinngehalte bzw. Modi des Sinnverstehens (GS III, 153ff.). „Darstellbare Gehalte der antreffenden Anschauung werden schematisch begriffen. Dies ist die Funktion der Wissenschaft. Präzisierbare Gehalte der innewerdenden Anschauung werden syntagmatisch bedeutet. Dies ist die Funktion von Sprache und Schrift. Prägnante Gehalte der erfüllenden Anschauung werden thematisch gedeutet. Dies ist die Funktion der Kunst“ (GS III, 154).

Konkordanz von Anschauung, Auffassung / Sinnstiftung, Haltung / Verhalten, Kultursphären Anschauung

Auffassung / Deutung

Haltung

Darstellbarkeit Präzisierbarkeit Prägnanz

Schema / Konstruktion Gliederung / Syntagma Thema

Handlung Wissenschaft Kundgabe Sprache / Schrift Ausdruck / Proportion Kunst

Destillat der Tabellen Seite 189 und 220

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Kultur

Mit diesen terminologischen Festlegungen ist das Terrain für die nachfolgende Analyse dieser drei Ebenen von Sinnverstehen abgesteckt, die jeweils in einer Domäne der Kultur „elementar und einfach“ zum Ausdruck kommen sollen: Der reine schematische Sinn lässt sich der Mathematik, das syntagmatische Analogon der Laut- bzw. Gebärdensprache sowie den verschiedenen Schriftstilen, die thematische Deutung der Musik zuordnen (GS III, 155). Im Vorgriff auf die nachfolgenden Überlegungen sei hier lediglich herausgestellt, dass reine Geometrie und reine Musik idealiter zwei Prozeduren der Sinnstiftungen verkörpern, die in den geschichtswissenschaftlichen Disziplinen an historischen Materialien zur Anwendung kommen: schematische (Re-)Konstruktion von Handlungen und thematisches Verstehen von Ausdrucksverhalten.12 Mit dem vierten Teil der Einheit wird, nach einer kurzen Rekapitulation der vorausgegangenen Überlegungen zum „einheitlichen Stufenbau des Sinnes“ (GS III, 204ff.), ein weiterer tragender Pfeiler eingeführt, der dasselbe Gefüge an Ebenen aufweist wie Anschauung (präsentatives Bewusstsein) und Auffassung (re-präsentatives Bewusstsein bzw. Sinnstiftung): Es „zeigt also der einheitliche Stufenbau des Sinnes einen entsprechenden Stufenbau der Ordnungsfunktionen“ (GS III, 206). Und der thematischen Sinngebung, in der Musik sich rein darstellend, entspricht als Ordnungsfunktion (i) die „Formung durch Proportion“, (ii) dem Schema ein kompositiv-konstruktives Verfahren, schließlich (iii) dem Syntagma das Prinzip der Gliederung (GS III, 207f.). „Was ist mit dieser Reihe gewonnen?“ Auf einen kurzen Nenner gebracht: Die Überlegungen können nun „das Gebiet des Bewußtseins verlassen“ und die Sphäre von „Haltung und Bewegung“, d.h. des Verhaltens in den Blick nehmen (GS III, 209ff.). In statisch-tonischen Konfigurationen der Körperhaltung, das Englische „posture“ formuliert diesen Aspekt der Motorik in einer prägnanteren Art und Weise, als Beispiele seien die demütige oder eine gebieterische Gestalt genannt, und in dynamisch-phasischen „Gemütsbewegungen“ wie Lachen und Weinen („natürliche Symbolik des Leibes“) kommt die „seelische Gesamtverfassung“ thematisch zur Geltung (GS III, 210f., 212ff.). Demgegenüber werden zielgerichtete und zweckmäßige Handlungen des Menschen, charakterisiert durch „einsichtige Vorwegnahme des Endeffektes“, mit dem kompositiv-konstruktiven Sinnverstehen verknüpft. Dem syntagmatischen Sprachverständnis soll auf der motorischen Seite die „Zeichengebung“ ent12

Eine ausführliche Darstellung der „Artverschiedenheit“ von „reiner Handlung“ und „reinem Ausdruck“ als den „zwei Grundrichtungen des Verhaltens“ findet sich in der 1925 veröffentlichten, gemeinsam mit Buytendijk verfassten Schrift Die Deutung des mimischen Ausdrucks: Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (wiederabgedruckt in GS VII, 67–129, vgl. ebd., 89ff., 94).

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sprechen, von konventionalisierten Gesten / Gebärden wie dem Handschlag bis hin zu den Symbolinventaren an Lautkategorien und Schriftzeichen natürlicher Sprachen reichend (GS III, 211, 214ff.). Ausgangspunkt der Erörterungen zu den „Wesen und Arten des Verstehens“ im dritten Teil der Einheit waren wissenschaftstheoretische Fragestellungen, die sich aus der „Erschütterung des naturalistischen Weltbildes durch das historische Bewußtsein“ und die „Entdeckung der kulturellen Bewußtseinssphäre“ ergeben haben. Die nachfolgenden Überlegungen haben schlussendlich zu einer „Reihe der Haltung“ geführt: Handlung, Kundgabe durch Zeichen, Ausdruck. Eine vergleichbare Blickwendung vom Sinnverstehen hin zum menschlichen Verhalten taucht Jahre später in Plessners Aufsatz Mit anderen Augen (1953) auf, ursprünglich als Beitrag zu einer Festschrift für Georg Misch gedacht, die dann aber nicht zustande kam. Und eben diese Abhandlung, die sich mit den „Unterschieden des Verstehens und des Erklärens“ im Rahmen eines natur- versus geisteswissenschaftlichen Zugangs zur Welt befasst, kann den Sinn der „Reihe der Haltung“ in der Tabelle GS III, 220 erhellen. Plessner weist zu Beginn jenes Aufsatzes darauf hin, dass nicht nur die Tätigkeit des Naturforschers, sondern auch die Arbeit des Geisteswissenschaftlers einen „Umgang mit Objekten“ erforderlich mache: „Texte, Kunstwerke, Monumente aller Art, Abbildungen“, Gegenstände, die sinnlich-anschaulich gegeben sind und gelegentlich auch physikalisch-chemischen Analysen unterzogen werden, z.B. in Gestalt der Datierung von Dokumenten mittels röntgenologischer Techniken, die eine erhebliche Rolle bei der Deutung dieser Artefakte spielen können (GS VIII, 91, vgl. GS III, 148). Vor diesem Hintergrund sei, so Plessner, zu befürchten, dass „der oberflächliche Interpret die Ausgangslage der geisteswissenschaftlichen Erfahrung mit der Ausgangslage der naturwissenschaftlichen Erfahrung identifiziere“. Um diese Fallstricke zu vermeiden, könnte oder sollte ein anderer Ausgangspunkt der Analyse „geisteswissenschaftlicher Erfahrung“, d.h. der Deutung und des Verstehens kultureller Artefakte, herangezogen werden: keine Objekte, „sondern Menschen und menschliche Verhältnisse“ (GS VIII, 92). „Auch hier stiftet die normale sinnliche Wahrnehmung den unerläßlichen Kontakt zur Orientierung im Milieu, zum Sehen der Gesichter, der Gesten und Bewegungen, zum Hören der Sprache, zur Kontrolle des Verhaltens der Personen“ – geht aber in spezifischer Art und Weise darüber hinaus. In Anbetracht dieser – hier nur kurz angedeuteten – Überlegungen können – retrospektiv – die in der Einheit entwickelten Konkordanzen als eine Lehre des Verstehens der „Reihe der Haltung“ gelesen werden. Die Motorik anderer Menschen liegt uns, ebenso wie kulturelle Artefakte, vor Augen, im Gegensatz zu den Stufen des präsentativen und re-präsentativen Bewusstseins, auf die aber dann Bezug zu nehmen ist, um Handlungen und Ausdrucks-

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spiel zu verstehen. Mit anderen Worten: Die angesprochene zweite Tabelle der Einheit leitet vom Verhalten („Haltung“) nach links über mehrere Zwischenglieder zur analog gesetzten, entsprechenden „Funktion der Auffassung“ eines Sinngehaltes, stellt somit einen Leitfaden, einen Algorithmus der Hermeneutik von Handlungen einerseits und Gebärden andererseits dar, den beiden Grundformen der Weltzugewandtheit des Leibes (vgl. Holz 1995, 124). Und eben diese Vorgehensweise scheint dann der Deutung des mimischen Ausdrucks zugrunde gelegt zu werden in der gleichnamigen, von Plessner und Buytendijk gemeinsam verfassten Abhandlung aus dem Jahre 1925: Die Untersuchung „setzt am Phänomen ein, wie es im vorproblematischen Leben da ist, und geht Schritt für Schritt in innerer Strukturerhellung, in immanenter Beschreibung der zum ‚Sinn‘, zu den Bedingungen der Erscheinungen gehörenden Züge vor“ (GS VII, 76). Vor diesem Hintergrund liefert die Rubrik der Sinnstiftungen die entsprechenden Muster der Interpretation jeweils in Reinform: Geometrie / Schema versus Musik / Thema. Kurz: Verhalten erhält Sinn und Bedeutung dadurch, dass es auf ein Schema oder ein Thema bezogen wird. In dieser Perspektive leuchtet die Analogie von Handlung und kompositiv-kontruktivem Verfahren, im Bereich der (Euklid’schen) Geometrie rein gegeben, durchaus ein. Um einen Bewegungsablauf als eine distinkte Handlung zu verstehen, muss eine Zielsetzung (voraus-)gesetzt, d.h. Zweckmäßigkeit sozusagen unterstellt werden. Und dieser Vorgang ist – idealiter – nicht nur der Verweis auf einen antizipierten Zweck, sondern ausgehend von einem Aktionsplot („wer, was, wo und wann“ etc.) die schematische Konstruktion eines mentalen Modells, das Werte und Präferenzen eines Handelnden, biographische Daten, eventuelle agonistische / antagonistische „Mitspieler“, Ressourcen des Milieus etc. zu einem Narrativ verbindet. Und wenn sich die Erklärung beschränkt auf die Angabe einer Zwecksetzung, dann werden die anderen genannten Aspekte als unausgesprochene Präsuppositionen mitgeführt. Ist hingegen eine posturale, gestische oder mimische Gestalt als Ausdruck zu verstehen, dann werden diese Konfigurationen des Körpers auf eine Befindlichkeit oder eine Gestimmheit bezogen, d.h. das Verhalten eines Menschen wird unter das Thema (!) einer Gestimmtheit oder Befindlichkeit gebracht, so wie ein Musikstück oder – weiter gefasst – ein Kunstwerk überhaupt bzw. ein Naturschauspiel unmittelbar einen ästhetischen Wert „ausdrückt“, d.h. sich direkt als schön oder häßlich, ansprechend oder abstoßend, bewegend-rührend oder nichtssagend etc. darstellt, nicht erst im Rahmen eines konstruierten schematischen Narrativs. Es kann vor diesem Hintergrund zusammenfassend konzediert werden, dass das kompositiv-konstruierende und das thematische Prinzip zwei „Schneisen in das Dickicht von Sinnverstehen“ schlagen:

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(i) eine Richtschnur, die das Verhalten eines Menschen als narrative Episode der Biographie elaboriert, d.h. hinausläuft auf die Konstruktion eines mentalen Handlungsmodells, das Ziele, Zwecksetzungen, Motive, Lebensereignisse etc. zueinander in Beziehung setzt, schematisch insofern, als es um die Ausarbeitung eines Plots geht, und (ii) eine weitere Leitlinie, die mimische, vokale und gestische Entäußerungen thematisch einordnet, d.h. unter ein Thema fasst, z.B. eine distinkte Gestimmtheit oder Befindlichkeit. Mit einiger Phantasie können schematisches und thematisches Sinnverstehen paradigmatisch reiner Geometrie oder reiner Musik zugeordnet werden. Fragwürdig ist und bleibt darüber hinaus allerdings die Einordnung des Syntagmas bzw. der inneren Sprachform und – auf der Verhaltensseite – die „Kundgabe durch Zeichen“ (Tabelle GS III, 220). Plessners Systematik von Anschauung / Auffassung (Tabelle GS III, 189) und seine „Tafel der Konkordanz von Bewußtsein und Haltung“ (Tabelle GS III, 220) ordnen „Sprache und Schrift“ im Sinne einer „Kundgabe durch Zeichen“ („Syntagma“) eine „Mittelstellung“ zwischen Handlung und Ausdruck zu. Es wird aber nicht klar, wie diese Mittelstellung des Näheren zu bestimmen ist: Wird in der Kundgabe von Zeichen sowohl eine Handlung vollzogen als auch ein Ausdruck dargestellt? Sprache, genauer, Sprechen, kann sich sowohl als zielgerichtetes Handeln entfalten, zu „speech acts“ gerinnen, als auch in Gestalt „affektiver Tönung“ (Prosodie) emotional / motivationalem Ausdruck dienen. Oder handelt es sich bei der „Kundgabe“ um ein drittes und unabhängiges Phänomen, das dann aber von Handlung und Ausdruck abgegrenzt werden müsste, oder um irgendein Homogenisat der beiden anderen „Haltungen“? Ohne eindeutige Differenzierung von Schema, Syntagma und Thema bleibt die „Mittelstellung der Sprache im System der geistigen Intentionalität“ aber fragwürdig – und damit auch die Systematik der Konformitäten und Akkordanzen überhaupt, Dreh- und Angelpunkt der Einheit. Ein weiteres Problem: Während reine Geometrie und reine Musik – gerade noch – jeweils als mit einer distinkten Sinnesmodalität verknüpft vorgestellt werden können, visuelles bzw. auditives System, ist eine derartige exklusive Beziehung im Falle der Sprache, die auf Gebärden, Lautinventare, Schrifttypen und Punktemuster (Blindenschrift) zurückgreifen kann, nicht gegeben. Vielmehr stellt Sprache als ein zentrales computationales System, das über Regeln verfügt, die auf ein finites Inventar an Symbolen angewendet werden, insofern die Einheit einer Mannigfaltigkeit von Sinnesmodalitäten dar, als sie über zumindest drei Eingangskanäle verfügt, d.h. auf visuelle, auditive und haptisch-taktile Informationen zugreifen kann. Aber das ist nicht die von Plessner gesuchte Einheit der

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Sinnesmodalitäten. Schlussendlich bilden die angesprochenen Tabellen nur die Unterscheidung von Gesicht und Gehör ab, können deshalb nur eine unvollständige Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Mannigfaltigkeit unserer menschlichen Sinnesorganisation vermitteln. Das zweite und das dritte Kapitel von Teil 4 der Einheit stellen eine Ästhesiologie des Gehörs respektive des Gesichts vor, zwei eloquente Abhandlungen mit feinsinnigen Beobachtungen aus dem Grenzgebiet von Kulturphilosophie, Ästhetik und Wahrnehmungspsychologie. An einem Beispiel aus dem Bereich des „Gesichts“ seien Ton und Tenor der ästhesiologischen Erörterungen verdeutlicht. Plessner stellt fest, dass der Tanz auf eine ausgezeichnete, obschon nicht exklusive Beziehung von Musik und Bewegung bzw. Haltung hinweise (GS III, 222, 224f.). Demgegenüber komme Bildern oder Gebäuden allenfalls eine „latente Dynamik“ zu, von Plessner sehr schön ausgeleuchtet, die eben keine vergleichbare Nähe zur Motorik herzustellen vermag (GS III, 222f.). Bemerkenswerterweise hat aber die Architektin seines eigenen Hauses in Göttingen, Lucy Hillebrand, dem Umkreis der Bauhaustradition verpflichtet, Gebäude entworfen, „indem sie ihre Räume virtuell durchtanzte“ (Delitz 2014, 133f.).

4.2.2.4 Die Einheit in der Mannigfaltigkeit der Sinnesmodalitäten: Verhältnisse von Geist und Leib Nachdem mit der Ästhesiologie von Gehör und Gesicht als auch der – im Vergleich dazu – sehr gedrängten Behandlung des „Kreises der zuständlichen Modalitäten“ („Organgefühle“; GS III, 285) der Nachweis einer Mannigfaltigkeit selbstständiger Sinneskreise geführt worden ist, tritt die Ausgangsfrage der Einheit zu Beginn von Teil 5 wieder in das Blickfeld: „Nun handelt es sich darum, das Einheitsprinzip zu nennen, das in dieser Mannigfaltigkeit sich bewährt. Dieses Einheitsprinzip ist das Verhältnis von Leib und Geist“ (ebd., 286ff.). In seinem Kommentar zur Einheit spricht Lessing (1998) von einem „neuen, ebenso revolutionären wie naheliegenden Forschungsansatz“, der auf eine „Theorie des Geistes“ als Einheit aller möglichen Sinngebungen“ zulaufe, in der jeder Sinnesmodalität sozusagen ein ihr angestammter Platz zugeordnet werden kann (ebd, 164f.), eben eine hermeneutisch-naturphilosophische Betrachtung eines körperlich-physiologischen Funktionskreises wie der Sinnesmodalitäten. Mit dieser Feststellung ist aber erst und lediglich die Programmatik der Abhandlung umrissen. Im Verlauf der Entfaltung dieses Konzepts einer Einheit der Mannigfaltigkeit von Sinnesmodalitäten brechen doch eine Reihe von Unstimmigkeiten auf. Weshalb kann z.B. der „Kreis der zuständlichen Modalitäten“ als eine Facette des Verhältnisses von Geist und Leib eingeordnet

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werden, wenn sie – expressis verbis – keinen Sinn stiften? Da die Ausführungen von Teil 5 der Einheit weitestgehend den Retraktionen der Anthropologie der Sinne (1970) zum Opfer gefallen sind, die den „haltbaren Kern“ der erstgenannten Abhandlung herausdestillieren sollten, um „den ‚Geist‘ auf die Erde zurückzuholen“, muss nicht im Einzelnen der Gedankengang nachgezeichnet werden. Aber eine Schwierigkeit, die den Plessner’schen Plan einer allgemeinen Hermeneutik der Sinnlichkeit doch ins Mark treffen könnte, soll noch angesprochen werden. Ein Leitmotiv der letzten Abschnitte der Schrift liegt in der immer wieder herausgestellten exklusiven Zuordnung von Gesicht und Geometrie sowie Gehör und Musik – in ihrer Reinform jeweils – zu den Haltungstypen Handlung und Ausdruck als den sozusagen Grundformen einer Sinnstiftung von Verhalten. Als ein ganz wesentlicher – vielleicht sogar der wichtigste – Aspekt von Ausdruck darf wohl die Mimik gelten. Das Mienenspiel ist aber eindeutig der visuellen Sphäre zuzurechnen und kann kaum auf reine Musik als ihre Form einer Sinngebung bezogen werden. Mit anderen Worten: Mimik ist in Plessners Systematik nicht eindeutig zuordenbar, durchkreuzt das Gefüge von Sinnesmodalitäten (Gehör versus Gesicht) und kulturellen Sinnstiftungen (Thema – Ausdruck versus Schema – Handlung). Nichtsdestotrotz könnte das Verstehen mimischer „Gemütsbewegungen“ auf eine thematische Sinnstiftung angewiesen sein. Aber dennoch wäre die strikte und exklusive Zuordnung von Haltungstyp, Sinnesmodalität und Form der Sinngehalte durchbrochen, eine grundlegende, ja, vielleicht die wichtigste Voraussetzung der in Teil 5 entwickelten Einheit der Sinne in der Mannigfaltigkeit ihrer Modalitäten. Eine Unstimmigkeit in der Kohärenz des Gefüges – wie im Falle der Mimik angedeutet – gefährdet dann doch das gesamte Unternehmen, abgesehen davon, dass die Einordnung des „Kreises der zuständlichen Modalitäten“ in die Systematik und die Abgrenzung von Sprache / Schrift gegenüber Schema und Thema nicht so recht gelingen will.

4.2.3 Zusammenfassung: Hermeneutische Naturphilosophie am Beispiel der Sinnesorganisation des Menschen – keine bloße Vorarbeit, sondern ein Schritt hin zu den Stufen Schon in der ersten Monographie Plessners, der Wissenschaftlichen Idee (1913), taucht das Thema der Naturphilosophie auf: Der 21jährige Autor weist darauf hin, dass nicht nur kulturelle Güter, sondern auch natürliche Gegenstände als „sinnhafte Gebilde“ gelten dürfen bzw. müssen, die wir „zu verstehen und einzuteilen vermögen“, da sie auf einer noch „rein bildhaften“ Ebene „Verwandtschaft untereinander besitzen“ (GS I, 17f.). Und

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eben diese Suche nach Sinn- und Bedeutungshaftigkeit – auch in Gestalt von Verwandtschaftsbeziehungen – scheint ein tief verwurzeltes Bedürfnis in uns Menschen darzustellen. Plessners Interesse an Naturphilosophie richtet sich dann in der Einheit – 10 Jahre nach der Jugendschrift – auf die Frage nach dem Sinn der – und gerade dieser – distinkten Mannigfaltigkeit von Sinnesmodalitäten des menschlichen Organismus. Die Vielheit der Sinne – wenigstens der zwei Modalitäten Gehör und Gesicht – findet ihren Sinn in einem strikt symmetrischen Gefüge der Zuordnungen (Akkordanzen / Konkordanzen / Konformitäten) von Haltungstypen (Handlung versus Ausdruck), Formen der Sinnstiftung (Schema versus Thema) und Kultursphären (reine Geometrie / Wissenschaft versus reine Musik / Kunst). Mit anderen Worten: Der Sinn der Mannigfaltigkeit gerade dieser unserer Sinne erschließt sich aus der Domäne-übergreifenden Strukturgesetzlichkeit von Sinnesmodalitäten, Haltungstypen und Kultursphären. Auf der Grundlage dieser Erörterungen lassen sich dann zwei Algorithmen des Verstehens menschlichen Verhaltens herausarbeiten: Handlungen werden nach Maßgabe eines Schemas elaboriert, Ausdrucksweisen einem Thema untergeordnet. Das kompositiv-konstruktive Verfahren des Schemas hat seinen Ursprung in der visuellen Sphäre (reine Geometrie), die thematische Subsumption in der auditiven Domäne (reine Musik), zwei Sinnesbereiche, die ihrem material-apriorischen modalen Gehalt nach streng zu trennen sind. Schlussendlich sieht die Einheit die Einheit der Mannigfaltigkeit der Sinne darin, dass sie Facetten der Verkörperung des Geistes repräsentieren und so die Einheit der Person zur Darstellung bringen. Wie schon erwähnt, fallen aber erhebliche Unstimmigkeiten hinsichtlich der dritten, d.h. mittleren Ebene dieser „Stufenordnung der Sinngehalte“ auf (GS III, 10): Eine plausible Einordnung von Sprache / Schrift in dieses Gefüge gelingt nicht so recht. Auch lässt sich der „Kreis der zuständlichen Modalitäten“, die eben keinen Sinn stiften, nicht bruchlos in das Verhältnis von Geist und Leib einfügen. Nicht von ungefähr werden ein halbes Jahrhundert später in der Anthropologie der Sinne (1970) erhebliche Revisionen und Retraktionen der Ästhesiologie des Geistes vorgenommen.

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4.3 Grundlegung von Plessners „Philosophie als System“ in der Dissertations- (1916/1918) und Habilitationsschrift (1920): Anarchie des Beginns und Architektonik der Ausführung13 4.3.1 Vorbemerkungen: Plessners Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie und Kants Transzendentalphilosophie in den frühen philosophischen Werken Schon die Wissenschaftliche Idee aus dem Jahre 1913 hatte Anleihen bei Edmund Husserls (1859–1938) Logischen Untersuchungen (1900, 1901) gemacht und insbesondere das Konzept der kategorialen Anschauung („Ideation“) aufgegriffen (vgl. dazu etwa Breun 1987, 22). Im Vorwort zur Krisis-Schrift (1918) wird dann ausdrücklich festgehalten, dass er, Plessner, in der eingangs genannten Abhandlung „den Standpunkt der Phänomenologie … (bis in seine metaphysische Konsequenz) öffentlich … vertreten“ habe (GS I, 146). Wie viele andere Menschen seiner Generation war auch er zunächst fasziniert von der „Rehabilitierung der natürlichen Weltansicht“ durch diesen Denkansatz, in Verbindung mit einem „Vertrauen zum ursprünglichen Erleben in allen Bereichen“ (GS X, 309f.). Und Plessner war schließlich im Jahre 1914 an die Universität Göttingen gewechselt, um dort bei Husserl eine Doktorarbeit anzufertigen, ein Unternehmen, das aber nicht zum Abschluss gebracht wurde (GS X, 308ff.). In den Vordergrund trat stattdessen eine intensive Beschäftigung mit Kant, die dann zunächst zur Krisis als (erweiterter) Dissertationsschrift führen sollte – und in diesem Rahmen zu einer Kritik der Phänomenologie. Immerhin vier Abhandlungen, drei dieser Schriften wurden noch vor den Stufen veröffentlicht, ein weiterer Aufsatz aus den 1970er Jahren stellt das Destillat eines der früheren Werke dar, widmen sich schwerpunktmäßig einer Interpretation von Kants Transzendentalphilosophie: (i) die 1918 in Buchform erschienene Abhandlung (wiederabgedruckt in GS I) Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang, eine erweiterte Fassung der 1916 abgeschlossenen Dissertationsschrift Vom Anfang als Prinzip der Bildung transzendentaler Wahrheit (Begriff der kritischen Reflexion), (ii) die Habilitationsschrift Untersuchungen zu einer Kritik der philoso13

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Es wird in dieser Überschrift Bezug genommen auf die Einleitung zu Hans Redekers Abhandlung über Plessner (1993) und auf Franz Kröners Die Anarchie der philosophischen Systeme (1929).

phischen Urteilskraft aus dem Jahre 1920, als Typoskript erhalten und erst 1980 im zweiten Band der Gesammelten Schriften publiziert, (iii) eine überarbeitete Fassung des dritten Abschnitts der Habilitationsschrift, angehängt der 1923 veröffentlichten Einheit der Sinne, Titel: Kants System unter dem Gesichtspunkt einer Erkenntnistheorie der Philosophie (wiederabgedruckt in GS II, 323–435), (iv) schließlich eine Zusammenfassung dieses Anhangs unter der Bezeichnung: Kants Kunstsystem der enzyklopädischen Propädeutik (1976), basierend auf einem Rundfunkvortrag, eine der letzten Veröffentlichungen Plessners (wiederabgedruckt in GS II, 437–454). Zusammenfassend darf festgehalten werden, dass Kant „für Plessners Denken eine aus persönlicher Konfrontation“ – in Gestalt von Dissertation und Habilitation – „gewonnene eigene und fundamentale Bedeutung“ erlangt hat (Redeker 1993, 40), eine Bedeutung, ohne die sich das „Philosophische an der Philosophischen Anthropologie“ Plessners nicht begreifen lässt (Krüger 2001, 250).14

4.3.2 Die Krisis-Schrift (erweiterte Fassung der Dissertation): Von der Anschauung zur Konstruktion als Grundlage von Erkenntnis Als Ausgangspunkt der Krisis-Schrift skizziert Plessner eine grundlegende Spannung, die „erkennendes Verhalten“ auszeichnet: Einerseits muss, damit wir überhaupt von Erkennen sprechen können, der Gegenstand „seine transzendente Eigenart … ungetrübt zur Geltung bringen“, sonst läge doch – um auf das Vokabular der Psychopathologie zuzugreifen – eine illusionä14

In seiner Dissertation aus dem Jahre 1987 hat Richard Breun Plessners Philosophische Anthropologie als „Form kritischer Philosophie“ dargestellt – auf der Grundlage sozusagen eines Punkt-zu-Punkt Vergleichs der Stufen mit den Kritiken Kants. Plessner geht, so eine Schlussfolgerung der Arbeit, „mit Kant (weil dessen Kritizismus als Vorlage und Prinzipierungsbeispiel dient) über Kant hinaus (weil die Kritik der Philosophie explizit durchgeführt wird“ (Breun 1987, 66). Redeker (1993) notiert, dass über Plessners „ganzes Werk“ hinweg, einschließlich der frühen Schriften, sich jedoch „kaum eine spürbare Verbindung mit dem Neokantianismus seiner Studienjahre“ finde (ebd., 39). In ihrer Doktorarbeit konnte Elke Völmicke aber zeigen, „daß die Plessnersche Philosophie in ihren Anfängen von 1918 sowie in ihrer Weiterbildung zur ‚Philosophischen Anthropologie‘ von 1928 entscheidend geprägt ist durch die Theorien des Marburger Neukantianismus“ (1994, 159, vgl. 9f., 81).

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re Verzerrung, schlimmstenfalls eine Halluzination vor, andererseits muss sich der Gegenstand auch einem „Bildungsgesetz der Erzeugung“ von Seiten des Subjekts verdanken, das den Gegenstand in einen „Zusammenhang möglicher Urteile“ bringt, sonst könnte „höchstens von einem Wahrnehmen und Empfinden geredet werden“ (GS I, 151). Die an diese Feststellung anknüpfende Untersuchung weist – im Gang ihrer Entfaltung – eine streng erkenntniskritische Ausrichtung auf, „ohne Bezug auf die Fachdisziplin Biologie oder Anthropologie“ (Holz 2003, 73). Die ersten beiden Kapitel widmen sich einer Auseinandersetzung mit dem „analytischen Prinzip subjektiver Reflexion“, ein Titel, der sich auf Husserls Phänomenologie bezieht, genauer, auf ihre Gestalt nach der in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) vollzogenen sogenannten transzendentalen Wende (Pietrowicz 1992, 120ff.). Den aufgezeigten Unzulänglichkeiten dieses Zugangs setzt Plessner zu Beginn des dritten Teils seine Auffassung entgegen: Nur „Kraft einer Konstruktion“ (!) kann sich Erkenntnis einstellen (GS I, 208). Ein wichtiger – vielleicht sogar der wichtigste – Gesichtspunkt zum Verständnis der Kritik Plessners am „analytischen Prinzip subjektiver Reflexion“ liegt wohl darin, dass er die Phänomenologie Husserls als eine Variante bzw. sogar einen Präzedenzfall positivistischen Denkens betrachtet, das zwar nicht äußere Wirklichkeit, sondern Gehalte des Bewusstseins in den Blick rückt, aber dennoch die Aufdeckung der Strukturen vorgegebener Tatsachen – wenn auch in diesem Falle innerer Gegebenheiten – auf dem Wege einer zergliedernden Elaboration als die fundamentale Ebene des Sich-Vergewisserns der Evidenz von Urteilen betrachtet (GS I, 147). Mit anderen Worten: „Die immer von neuem betonte Überlegenheit des Immanenzstandpunktes des in sich selbst verharrenden Bewußtseins über die gewöhnliche Ansicht des Glaubens an die dingliche Realität der Welt ist nur scheinbar, weil beide Standpunkte mit ungleichartigem Maße gemessen sind. Bewahrte man die natürliche Weltansicht in derselben Weise vor einer ihr fremden Beziehung auf das System des Bewusstseins, wie man es entsprechend gegenüber dem Standpunkt des Bewußtseins für unbedingt angebracht hält, ihn nicht dem System der Wirklichkeit unterzuordnen … so wäre die Folge davon ein in sich unangreifbarer Realismus, wie es bisher einseitig genug der Conscientialismus war“ (GS I, 157). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung muss nicht auf die Details der Auseinandersetzung eingegangen werden, es sei nur nebenbei erwähnt, dass im Rahmen dieser epistemologischen Erörterungen erstmals ein Gedanke zur Sprache kommt, der dann in der Habilitationsschrift als ein Merkmal der „Grenze“ Bedeutung gewinnen wird: „Setzung in der Funktion der Verknüpfung“ (GS I, 176). Den Weg aus der aufgezeigten Krise des Erkennens sieht Plessner in einer „transzendentalen Methode“, d.h. einer „Erkenntnis, welche die Befug-

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nis zur Kritik bei sich selbst führt“ oder „an sich selbst die Gewißheit ihrer Richtigkeit“ gewinnen kann. In dieser Perspektive kommt es dann (Kapitel 3–5) zur „Darstellung des Anfangs als eines Bildungsprinzips transzendentaler Wahrheit“ (Überschrift Schlusskapitel). Als Ausblick auf die Habilitationsschrift, in der diese transzendentalphilosophische Grundlegung von Philosophie erweitert und vertieft wird, mag das folgende Zitat aus den ersten Abschnitten des Schlusskapitels dienen: „Eine Philosophie, welche der Schwierigkeit des Anfangens dadurch Rechnung trägt, daß sie ihren eigenen Sinn als Inbegriff zukünftiger Leistungen hypothetisch voraussetzt, ist kritisch …“ (GS I, 246). Alle anderen Systeme hätten dann als dogmatisch zu gelten. In diesem Zusammenhang wird nun eine scharfe Grenze zwischen Philosophie und allen anderen Wissenschaften gezogen: „Daß die Philosophie vor dem kritischen Gewissen nicht, wie eine jede Wissenschaft, die Freiheit hat, ihre Ausgangspunkte unter der Vorausanwendung ihres eigenen Begriffs zu bestimmen, begreift sie nur unter der Voraussetzung dieses Begriffs. Um aber zu vermeiden, ihren ersten Satz im Widerspruche aufzulösen, muß sie dem Grundbegriff den Charakter der Vorläufigkeit geben und ihn im Gegensatz zu einer abgeschlossenen Definition halten, welche sich durch ihre Leistung rechtfertigen soll“ (GS I, 246). Der entscheidende Unterschied liegt mithin in der kritischen versus dogmatischen Voraussetzung eines Ausgangspunktes. Eine schon in der Wissenschaftlichen Idee – vor einem anderen Hintergrund – formulierte Einsicht vermag diese Überlegungen zu verdeutlichen: „von der Folge aus können wir den Grund in keiner Weise eindeutig fassen“ (GS I, 86), demgegenüber vermag der Wissenschaftler „aber dadurch, daß er die Gründe setzt, eindeutig zu den Folgen kommen“ (GS I, 87, vgl. GS VII, 103). Dieser Gedanke wird in der Signalanalyse unter den Begriff des „Inversen Problems“ gefasst. Ist beispielsweise eine Quelle elektrischer Aktivität, modelliert als eine Konstellation von Dipolen, im Gehirn bekannt, dann kann unzweideutig das daraus resultierende elektrische Feld im Bereich der Schädeloberfläche bestimmt werden, aber nicht umgekehrt aus einer vorgegebenen Verteilung elektrischer Aktivität die zugrunde liegende Quelle rekonstruiert werden. Die strenge Abgrenzung einer nicht-dogmatischen Grundlegung von Wissen – durch die „Kraft einer Konstruktion“ – von der Phänomenologie als eines „analytischen Prinzips subjektiver Reflexion“ darf aber natürlich nicht zu der Annahme verleiten, dass „moderne Forschung als offener Prozeß rastlosen Strebens“ (GS X, 308) auf phänomenologisch-deskriptive Untersuchungen verzichten könne. Zumindest kommt ihnen eine propädeutische oder heuristische Rolle zu (GS III, 157f.). Plessner hat in seiner Selbstdarstellung sich sehr kritisch der Krisis-Schrift gegenüber geäußert: „Auch mit dieser Arbeit hatte ich mir etwas vorgenommen, für das ich zu jung war, ein ehrgeiziges Projekt, das die

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ganze kritische Transzendentalphilosophie – nicht die spekulative der auf Kant folgenden Epoche – als ein Ganzes in den Blick bringen sollte“ (GS X, 311). Dennoch scheint die Krisis-Schrift den philosophischen Rahmen des Denkens Plessners abzustecken, „innerhalb dessen sich seine anthropologischen Arbeiten halten“ werden (Holz 2003, 71ff.). Ausgehend von der Behauptung, dass Erkennen „ein Etwas in Verhältnisse [zu, HA] bringen und dieses Etwas als Inbegriff von Funktionen darzustellen“ habe (GS I, 168), hält Plessner insbesondere fest, dass diese Leistung mit der „Setzung eines Apriori“ (Holz 2003, 72) beginnen müsse, das dann die Konstitutionsbedingungen dieser Verhältnisse und Funktionen formuliert, eben der schon erwähnte konstruktivistische Denkansatz (ebd., 73).

4.3.3 Die Untersuchungen (Habilitationsschrift): Von den Grenzsetzungen in Entschluss und Begriff zur Haltung menschlicher Würde Im Mittelpunkt der Erörterungen soll der Begriff der Grenze stehen, der im letzten Paragraphen des ersten Abschnitts eingeführt – im Zusammenhang mit Erörterungen zum menschlichen Willen – und im zweiten Teil dann erweitert wird, ausgehend von begrifflich-semantischen Überlegungen. Kurz: Sowohl im Entschluss als auch durch den Begriff wird eine Grenze gesetzt, erfolgt eine Ein- und Ausgrenzung, durch die gleichzeitig aber eine eigentümliche Verbindung (Synthesis) eben dieser abgegrenzten „Bereiche“ geschaffen wird. Als Ausgangspunkt des Gedankengangs, der zur Einführung des Begriffs der Grenze führt, kann Paragraph 4 des ersten Abschnitts der Untersuchungen dienen. Die vorausgegangenen Passagen sollten zeigen, vergleichbar der Dissertation, dass eine Vergegenwärtigung und Zergliederung von „Bewußtseinsgegebenheiten“ keine unbedingt notwendigen Urteile begründen kann. Im weiteren Verlauf erfolgt nun die Abgrenzung zweier Begriffspaare: einerseits Kontemplation / Analyse versus Bestimmung / Synthese und andererseits empirisch / Erklärung versus apriorisch / Verständnis bzw. Begründung. Der erstgenannte Gegensatz, Analyse (Kontemplation) versus Synthese (Bestimmung) „als die zwei möglichen Arten, eine Mannigfaltigkeit zu denken“ (GS II, 62ff.), soll näher betrachtet werden. Der kontemplative Zugang, der schon im Rahmen der Überlegungen von Paragraph 3 thematisiert worden war, sei zunächst noch einmal kurz umrissen: Diese Einstellung „kann nur Kenntnis von etwas geben, das so ist, nicht warum es so ist“, und sie geht analytisch vor, d.h. zergliedert, „was ursprünglich verworren in der Vorstellung gegeben ist und gliedert nach Kriterien, welche Merkmale, d.i. Eigenschaften des Gegebenen sind“ (GS II, 63, vgl. 68). Demgegenüber werden im Rahmen

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der Synthesis nicht vorgegebene Merkmale zu repräsentieren versucht, sondern Unterschiede überhaupt erst nach einem Verfahren vorgegeben oder „Verschiedenes zusammengesetzt nach einem Prinzip“, d.h. „einer frei entworfenen Regel“ folgend. Und – auf Paragraph 1 zurückweisend – ein derartiges praktisch-bestimmendes Verfahren „durch eine frei entworfene Regel“ charakterisiert Vernunft (GS II, 70). Als Präzedenzfall wird – naheliegend – die analytische Geometrie genannt (GS II, 68). Dadurch erlaubt Synthesis die Erkenntnis von Unterschieden aus Gründen, muss somit dem Rang nach über der Kontemplation stehen, bewegt doch der Trieb, „zu den letzten Gründen und Prinzipien vorzudringen, elementar die menschliche Natur“ (ebd., 64). Diese Überlegungen werden im weiteren Verlauf mit dem Begriff der Praxis verknüpft. Beispielhaft sei folgende Aussage herangezogen: „Aller Vernunftgebrauch ist wesentlich bestimmend, mithin praktisch“ (GS II, 71, vgl. 63). Mit der Praxis rückt das Handeln der Menschen in den Blick, d.h. Absichten, die in Zwecksetzungen münden und so den Willen bestimmen. Zwecksetzungen können entweder ohne Gewalt oder aber „nur mit Anwendung von Gewalt erreicht werden“. Vorstellungen, die als Zwecksetzungen den Willen bestimmen, aber – um im Jargon Plessners zu bleiben – nicht mit dem Einsatz von Gewalt einhergehen wollen oder dürfen, können lediglich neue Vorstellungen generieren, jedoch nicht sozusagen „die den Vorstellungen entsprechenden Gegenstände in voller objektiver Realität hervorbringen“, das kann „nur mit Anwendung von Gewalt erreicht werden“ (ebd., 75). Und vor diesem Hintergrund – gegen Ende des ersten Paragraphen – kann Plessner dann festlegen: „Was überhaupt in meiner Gewalt ist, kann durch Freiheit seinen Zweck erreichen; dies heiße ich meinen Willen“ („Freiheit“ wird in den Untersuchungen zuerst thematisiert GS II, 34). Da nun das vernünftige Subjekt, das Unterscheidungen nach Regeln erzeugt, nicht näher seiner Natur nach bestimmt werden kann, ist es auch nicht möglich, den „Mechanismus der Freiheit“ aufzuklären, d.h die Frage zu beantworten, „wie es gelingt, daß es zum Wollen kommt“ (GS II, 77). „Verstehen kann ich nur immer im Rahmen des Willens, d.i. soweit ein Wille bestimmt oder nicht bestimmt ist, nie aber den Rahmen des Willens selbst, nämlich das Bestimmen im Aktus der Freiheit“. An dieser Stelle findet auch der Begriff der Spontaneität seinen Platz als „Inbegriff eines von selbst Erfolgens, das also darin eine selbst unbedingte, wenn auch von da an bedingende Ursache bildet, … die elementare Bedingung, mit deren Hilfe ein Verstehen allein möglich ist, aber selbst zu verstehen ist diese Bedingung (des Verstehens) nicht“ (GS II, 77f.). Der diesem Begriff des Verstehens zugrundeliegende Gedanke könnte so formuliert werden: Im Verstehen werden Bewegungsfolgen eines Menschen zuallererst überhaupt als eine Handlung, d.h. als Selbstbestimmung eines Willens „wahrgenommen“. Stünde das Verhalten eines Men-

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schen in einem Zusammenhang mit hirnpathologischen Veränderungen, z.B. einem Tumor, oder würde es hervorgerufen durch Stimulation distinkter Hirnstrukturen über implantierte Elektroden, dann könnte nicht mehr von einer Handlung gesprochen werden. Mit anderen Worten: In diesen Fällen wäre ich nicht mehr in der Lage anzunehmen, eine Bewegung „stammte von mir oder wäre von mir als mein Werk hervorgebracht“, somit mir zuzurechnen (GS II, 79). Demgegenüber wird das Begreifen oder Erklären von Handlungen deutlich enger gefasst: „Das meiste sogar, das wir im Leben verstehen, können wir doch nicht begreifen oder erklären“. Und diese Diskrepanz zwischen Verstehen und Erklären wird an einem klinisch-psychiatrischen Beispiel verdeutlicht: „… wir verstehen sehr wohl die Gedankengänge und Handlungen selbst eines Psychopathen“, können z.B. die Absichten und Zielsetzungen nachzeichnen, „ohne uns damit die Initiative zu seinem Denken und Handeln bereits erklären zu können“, z.B. im Rahmen ihrer entwicklungspsychologischen Genese. Der angesprochene Rückgang auf Spontaneität erklärt nicht eine in Frage stehende Handlung, versteht sie aber insofern, als sie überhaupt erst als eine auf Zwecke ausgerichtete und von Motiven geleitete Handlung eingeordnet und dem betreffenden Menschen zugerechnet wird. Und an dieser Stelle kommt erstmals systematisch, d.h. als Baustein der Architektonik der Untersuchungen, der Begriff der „Grenze des Willens“ ins Spiel (GS II, 77ff.). Um den Grundgedanken Plessners an dieser Stelle der ersten Einführung dieses Begriffs, sozusagen ein Differential im Aufbau des Textes, mit seinen eigenen Worten zusammenzufassen: „Spontaneität in der Bestimmung des Willens“ zum Handeln stellt – auf der Ebene der Erscheinungen, d.h. des beobachtbaren Verhaltens und seiner Folgen – einen „selbst ganz und gar unbedingten Anfang eines Anschaulichen“ dar, insofern liegt ein „Differential der Realität“ oder „Differential der Anschauung“ vor, d.h. ein Übergang zu einem anschaulich bestimmten Etwas, besser, das „Auftauchen“ eines Entschlusses, der nur als Grenze, als „Grenze des Willens“ zu verstehen ist, „eine selbst unbedingte, wenn auch von da an bedingende Ursache“ des Verhaltens (GS II, 78). Wieder aufgenommen wird der Faden in Paragraph 7 – im Rahmen praktisch-philosophischer Erwägungen: „Der reine Gebrauch des Differentialbegriffs erschöpft sich in bloßen Verhältnissetzungen, weil er als das Mittel zu Grenzübergängen gedacht ist, bei denen es darauf ankommt, die eine Seite in die andere hineinwachsen zu lassen, so daß die Kontinuität zwischen beiden durch den Begriff der Grenze nicht aufgehoben, sondern (in der Idee der reinen Berührung) gesichert ist“ (GS II, 86). Da hier von Kontinuität die Rede ist, kann der unbedingte Anfang in der Selbstbestimmung des Willens doch nicht absolut voraussetzungslos sein, sozusagen aus dem Nichts heraus auftauchen. Vielmehr scheint hier in Verbindung mit der Selbstbestimmung des Willens der Übergang von ei-

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nem fluiden oder opaken, d.h. noch schwankenden und sich nicht durchsichtigen Verlangen bzw. Wünschen zu einem durch distinkte Zwecke oder Ziele ausgezeichneten Entschluss avisiert zu sein. Im und durch den Entschluss bestimmen sich dann „Wunschvorstellungen“ als Zwecke, d.h. als ein- oder ausgegrenzte Ziele und treten so in ein – asymmetrisches – Verhältnis zueinander. Und in diesem Sinne stiftet „jeder Grenzübergang … Einheit im Moment des Übergehens von einem zum anderen durch Kontinuität“, eine Einheit „im Innern der Sache“ (GS II, 93). Eine derartige Verbindung zweier (oder x) Größen zu einem Ganzen, das aber nicht eine dritte (oder x+t-te) wiederum separate Entität bildet, sondern „lediglich“ eine „funktionelle Einheit“ darstellt, „heißt Synthesis“. Mit anderen Worten: Zwei sich gegenseitig begrenzende Größen, deren Grenze sozusagen durch „Aufhebung des Zwischenraums“ zu einer bloßen Verhältnisbestimmung mutiert, konfundieren zu einer Synthesis im Sinne einer „funktionellen Einheit“. Dieser Gedanke soll bildhaft verdeutlicht werden. Wenn ein großes Stück Brachland vermessen und in eine Vielzahl an abgegrenzten Flurstücken unterteilt wird, dann stellen sich kartographisch distinkte räumlich-topologische Objekte dar, die untereinander in definierten räumlichen Beziehungen stehen und hinsichtlich ihrer Eigenschaften wie Fläche / Umfang oder Nachbarschaftsbeziehungen miteinander verglichen werden können. In geologisch-geographischer Perspektive handelt es sich aber nicht um eine Aneinanderreihung separater Raum-Gegenstände, es liegt vielmehr eine Kontinuität an Erdoberfläche vor, und die Grenzen sind Markierungen – oder in Plessners Worten: Differentiale – innerhalb dieser Kontinuität, die wiederum eine „funktionelle Einheit“ in Gestalt eines Geflechts an Besitzverhältnissen stiften können. Als Eigentümer eines dieser Flurstücke stehe ich zu dem entsprechenden Streifen Land sozusagen in einem Binnenverhältnis und seine Grenze markiert die Grenzen eines Innenraums, „bis hierher und nicht weiter“, alle anderen Flurstücke wären zusammen dann die Außenwelt jenseits des so abgegrenzten Eigenraums. Etwas zugespitzt formuliert: Die Markierung einer Grenze in einem Kontinuum setzt zwei Bereiche in das Verhältnis von Binnensphäre und Außenwelt. Im Falle eines Entschlusses kommt es zur Abgrenzung einer zu eigen gemachten Zwecksetzung und der dadurch ausgegrenzten alternativen Ziele. Zusammenfassend wird mithin hier im Rahmen der Untersuchungen der Begriff der Grenze in einem ersten Anlauf dazu herangezogen, das Phänomen des menschlichen Willens oder Wollens näher zu erläutern. Zuvor war der Gedanke einer Grenzsetzung schon in der Krisis-Schrift aufgetaucht, am Beispiel der epistemologischen Beziehung von Erkenntnissubjekt und -objekt, als eine synthetische „Selbigkeit“ durch „Setzung in der Funktion der Verknüpfung“ (vgl. GS I, 176). Um den Gedankengang zu rekapitulieren:

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(i) Unter Rückgriff auf „Grenze“ lässt sich die mit der Selbstbestimmung des Willens verbundene Freiheit oder Spontaneität als Differential der subjektiven Realität bestimmen, als Verhältnis des Übergangs von „Nochnicht des Willens mit dem bestimmten Willen“ (ebd., 78, 95). (ii) Der Übergang vom „Nochnicht des Willens“ zu einem „bestimmten Willen“ vollzieht sich im Entschluss, hier verdeutlicht als Übergang von Wunschvorstellungen oder Tagträumen zu einer distinkten Zwecksetzung. (iii) Und dieser Übergang baut ein bestimmtes Verhältnis zweier Bereiche auf, die „funktionelle Einheit“ oder „Synthesis“ des Ein- und Ausgegrenzten, die, obwohl unterschieden, doch in einer „Kontinuität“ stehen. Und diese „funktionelle Einheit“ läßt sich – vorausgreifend, an dieser Stelle von Plessner aber (noch) nicht so charakterisiert – als ein Innen/Außen-Verhältnis deuten.15 Bemerkenswerterweise kommt Plessner hier im Rahmen der Einführung des Begriffs der Grenze erstmals in seinem Werk überhaupt auf eine Stufenordnung von Pflanze, Tier und Mensch, obschon nicht so bezeichnet, zu sprechen. Im Gegensatz zu den Pflanzen ist „das Tier, auch in den einfachsten Stufen der Organisation, als ein sich zu Handlungen bestimmter Organismus … zu verstehen“ (GS II, 77). Der zweite Abschnitt der Untersuchungen beleuchtet des Näheren die Logik dieses Konzepts der Grenze als einer Synthesis zweier Größen zur „funktionellen Einheit“, aber nun nicht mehr im Zusammenhang mit dem „Phänomen“ des Entschlusses, sondern im Rahmen einer semiotischen Fragestellung. Der erste Satz steckt den Ausgangspunkt der folgenden Erörterungen ab: „Worte meinen oder bezeichnen, entweder indem sie als Namen benennen oder als Begriffe bedeuten“ (GS II, 103). Die nähere Analyse der Unterschiede dieser zwei Formen einer Bezeichnung bringt wieder die Figur der Grenze ins Spiel. Es sollen hier Andeutungen genügen. Das erstgenannte Verhältnis ordnet in Gestalt einer „Assoziation“ (GS II, 111) zwei vor-gegebene, d.h. schon außerhalb dieser Beziehung abgegrenzte „fertige Bestände“ einander zu, das vorbestehende Objekt da draußen in der Welt und das „Lautbild“ eines Wortes aus dem Vokabular einer natürlichen Sprache (GS II, 104f.). „Bedeutungen dagegen sind möglich, wenn im Wort das Objekt bezeichnet wird, d.i. das Wort enthält das Subjekt der Bezeich15

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Nebenbei: Der Begriff des Übergangs weist in diesen Ausführungen Plessners eine gewisse Ambiguität auf: einerseits Übergang vom „Nochnicht des Willens“ zu einem „bestimmten Willen“, andererseits Übergang des Ein- zum Ausgegrenzten et vice versa.

nung und tritt nicht primär als gegebene Größe (der Sprache), sondern als Geben im Meinen (als Element des Denkens) des Objekts auf, so daß kein Verhältnis der Korrespondenz zwischen Gegebenem zu finden ist“ (GS II, 105). Und nun unmissverständlich auf den Nenner gebracht: „Verhältnisse der Verbindung, in der nur eine Größe gegeben ist, so daß keine Zuordnung zwischen Größen … stattfinden kann, sind allein als Begrenzungen dieser Größe denkbar“. Diese beiden Relationen können den Schenkeln eines semiotischen Dreiecks zugeordnet werden – (i) Symbol / Ding versus (ii) Symbol / Begriff – und gewinnen dadurch an begrifflicher Schärfe (vgl. Ogden & Richards 1927/22013). Einzelheiten außen vor, kann das zweite Verhältnis als Beziehung eines Symbols, hier eines Wortes als Lautbild betrachtet, zu einem Begriff verstanden werden in Gestalt eines Konzepts, „erweckt“ oder „hervorgerufen“ durch Grenzziehung in einem mentalen Raum semantischer Merkmale, durch Markierung auf einer mentalen Landkarte (ebd., 11). Denselben Gedanken zum semantischen Unterschied von Name / Benennung und Begriff / Bedeutung – unter Verwendung des Begriffs der Grenze – findet sich auch in der Einheit (1923): „Denke ich die Bedeutung eines Wortes als Begriff, so gebe ich die bestimmte Auffassung eines Objekts, das ist, ich begrenze [sic!, HA] im Wort das Objekt. Bedeutung ist eine begrenzende Bezeichnung“. Infolgedessen gilt: „Nur als Bedeutung ist ein Wort Element zu Synthesen …“ (GS III, 170). Zusammenfassend konvergieren die beiden Zugänge zum Begriff der Grenze somit auf einen gemeinsamen Nenner: im Entschluss als auch im Begriff wird in einem Raum an möglichen Zwecksetzungen bzw. möglichen semantischen Merkmalen durch Grenzverläufe in Gestalt der Festlegung distinkter Zwecke oder distinkter Konzepte eine Unterscheidung gesetzt („bis hierher und nicht weiter“), die sich dann im Weiteren jeweils als Verhältnis (des Übergangs) zweier Entitäten eines Kontinuums darstellt, ganz allgemein formuliert: das Verhältnis von Ein- und Ausgeschlossen, Eigenem und Fremdem, Binnensphäre und Außenwelt.16 Der dritte Abschnitt der Untersuchungen, mit den ersten beiden Partien nur lose verknüpft (GS II, 30), versucht nun, so die Formulierung in der Alternativen Einleitung, „das Selbstbestimmungssystem der Philosophie, 16

Der Begriff der Grenze steht – als „allgemeine Ordnungsrelation“ verstanden – im Mittelpunkt der Dissertation von Gregor Schmieg aus dem Jahre 2017 (ebd., Kapitel 6.2, v.a. 149ff.) und soll – sehr verkürzt formuliert – als Ausgangspunkt der Entwicklung einer Ontologie des Organischen dienen (ebd., 278). Allerdings bleibt unklar, inwieweit sich von diesem Ausgangspunkt her der quasi-dialektische Gedankengang der Stufen verstehen lassen soll. Wie kann eine Ordnungsrelation zum Agens movens der Deduktion einer „Theorie der organischen Wesensmerkmale“ werden?

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den Kritizismus Kants, in seinen konstruktiven Grundlagen zu zeichnen“ (ebd.). Der Schlüssel zum Verständnis dieses „Selbstbestimmungssystems“ liege darin, so Plessner, das Prinzip, das dieser Philosophie zugrunde liegt, ernst zu nehmen, nämlich, „es der exakten Naturwissenschaft gleichzutun, indem man sie nachahmt“ (GS II, 21). Aber das Programm einer Philosophie am Leitfaden empirischer Wissenschaften sieht sich Schwierigkeiten gegenüber: sowohl das Anfangs- als auch das Feldproblem stellen sich völlig anders dar (Breun 1987, 13, 67). (i) Das als Anfang oder Beginn der Philosophie gesetzte Prinzip besteht in der „Übertragung der Selbstbestimmung des sittlich handelnden Subjekts auf die Erkenntnisleistung des Subjekts … ein konstitutiver Baustein der Kant-Interpretation Plessners“. (ii) Aber: Im Gegensatz zum Vorbild der empirischen Wissenschaften kann Philosophie nicht auf ein Gebiet der Versinnlichung, d.h. nicht auf ein Zufälliges außer ihr verwiesen werden, an dem sie zur Anschauung gebracht oder evaluiert werden könnte – durch Beobachtung oder Experiment. Es gibt für diese Disziplin keinen „Bewährungsboden“, nur ein „Symbol des Bodens“ in Gestalt der Würde des Menschen als einer Proportion seiner Vermögen, an der sie sich zu bewähren hat (Breun 1987, 19, 74ff.). Vor diesem Hintergrund fehlender „Versinnlichung“ kann die Würde der Menschen als endlicher vernünftiger Wesen nicht – zumindest nicht erschöpfend – „in Kennzeichen ihres empirischen Daseins“ oder „in psychologischen Erfahrungsbegriffen“ erfasst werden, darf sich nicht auf Tatsachen oder Tatbestände irgendwelcher Art beziehen (GS II, 270f., vgl. 251). Vielmehr stellt sich diese, ja, Eigenschaft oder, besser, habituelle Verfasstheit dar als eine harmonische Architektonik des „Ganzen aller Vermögen“, d.h. Verstand, Vernunft, Wille, Geschmack etc., etc. (GS II, 273), „die auf Fähigkeit zu sittlichem verständigem Handeln und zum Abwägen zwischen den eigenen Gaben und Talenten, sowie auf Mäßigung und sorgfältige Abgestimmtheit im Gebrauch der Kräfte in Verfolgung aller Ziele schließen läßt“ (GS II, 271). Auf diese Form einer Überprüfung vorausgesetzter Prinzipien können sich die empirischen Wissenschaften natürlich nicht stützen. Und auch Plessner belässt es in den Stufen nicht bei einem „Symbol des Bodens“ in Gestalt menschlicher Würde, sondern erprobt oder überprüft sein vorausgesetztes „Prinzip“, besser, seine Anschauung eines lebendigen Körpers an einer Fülle botanischen und zoologischen Materials.

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4.3.4 Zusammenfassung: Plessners konstruktivistischer Denkansatz einer „Philosophie als System“ – selbstbestimmter Anfang und Architektonik der Durchführung Auch wenn Plessner selbst der Krisis-Schrift eine gewisse Unreife attestiert (GS X, 311), darf doch festgestellt werden, dass schon mit dieser Abhandlung der Rahmen abgesteckt wird, „innerhalb dessen sich seine anthropologischen Arbeiten halten“ sollten (Holz 2003, 71ff.) – insbesondere auch die Überwindung einer frühen Begeisterung für die Phänomenologie Husserls und dann die Hinwendung zur Transzendentalphilosophie Kants, fortgeführt und erweitert in den Untersuchungen. Den aufgezeigten Unzulänglichkeiten eines phänomenologischen Weges zu objektiver Erkenntnis setzt Plessner schon zu Beginn des dritten Teils der (erweiterten) Dissertationsschrift seine eigene Auffassung entgegen: Nur „Kraft einer Konstruktion“ kann Erkenntnis entstehen (GS I, 208). Was dann an Phänomenologie in den nachfolgenden Schriften der Einheit und der Stufen erhalten bleibt, sozusagen zu einer „quasi-phänomenologischen Dimension“ (in Anlehnung an die Begriffe „quasi-transzendental“ und „quasi-dialektisch“ formuliert; vgl. Krüger 2001, v.a. 88f., 2005, 900ff.) der Philosophischen Anthropologie gerinnt, ist die – noch näher zu spezifizierende – Orientierung an der „vorwissenschaftlichen Erfahrung“ und am Sinn biologischer Begriffe „wie Pflanze, Tier und Mensch in der Alltagswelt“ (GS VIII, 391; vgl. Orth 1995, 68). Nur „Kraft einer Konstruktion“ kann Erkenntnis entstehen – so Plessner, wie eben erwähnt, in der Krisis-Schrift (GS I, 208). In dem Aufsatz Ein Newton des Grashalms? aus der Festschrift für Josef König aus dem Jahre 1964 fasst er die Rolle der „Grenze“ als eines oder als des entscheidenden konstruktivistischen Agens movens seiner Naturphilosophie des Lebendigen prägnant zusammen: Er habe den Versuch unternommen, „vom Phänomen der Begrenzung eines Körpers ausgehend am Leitfaden des Begriffs der Grenze die spezifischen Kennzeichen organischer Stufenfolgen logisch zu entwickeln“ (GS VIII, 260). Offensichtlich soll „Grenze“ als das Konstruktionsprinzip der Naturphilosophie der Stufen dienen. Dieses Konzept wird – nachdem es in der Krisis-Schrift wenigstens kurz in einem epistemologischen Zusammenhang erwähnt worden war (GS I, 164) – von den Untersuchungen über zwei Zugänge entwickelt, zunächst im ersten Abschnitt ausgehend von einer, ja, phänomenologischen Analyse des menschlichen Wollens, das über eine distinkte Zwecksetzung zum Entschluss kondensiert, dann im zweiten Abschnitt aus einer semiotischen Fragestellung heraus entfaltet. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang: „Grenze“ als Setzung schafft das Verhältnis innerer Einheit zweier unterschiedener Entitäten oder – in anderen Worten – eine polare Gegensätzlichkeit (GS

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I, 152f.), „getrennt und unterschieden und doch dieselben (GS I, 176). In nuce deutet sich hier schon „Grenze“ – aufgrund ihres Setzungscharakters – als ein Innen/Außen-Verhältnis an, das dann in den Stufen zur Charakterisierung der Doppelaspektivität des Organischen herangezogen wird. Schließlich kommt – wenn auch nur angedeutet – in den frühen erkenntniskritischen Schriften ebenfalls das Konzept der Architektonik zur Sprache, das in „genialer Weise“ die Aufgaben der Philosophie einerseits und der Einzelwissenschaften andererseits voneinander abzugrenzen und miteinander zu verknüpfen erlaube: Es wird „die Verantwortung hinsichtlich materialer Richtigkeit und des konkreten Inhalts der Erkenntnis den Wissenschaften zugeschoben“, die Philosophie hat demgegenüber “„vernünftiges Erkennen als Idee“ von Wissenschaft zu begründen (GS I, 250). Beim Übergang von der ersten zur zweiten „Einführung“ des Konzepts der Grenze in den Untersuchungen kommt zum ersten Mal überhaupt im Werk Plessners die Rede auf die Unterscheidung von Pflanze, Tier und Mensch, vielleicht – das ist nun eine ungebundene Spekulation – tauchte an dieser Stelle erstmals die Ahnung auf, dass „Grenze“, eine wohl in Anlehnung an Fichtes „Tathandlung“ konzipierte Figur, als Leitlinie einer Naturgeschichte dienen könnte, die dann in den Stufen menschliches Selbstbewusstsein „eintieft“ in die organische Welt.

4.4 Rückblick auf die Vor-Stufen der Philosophischen Anthropologie der Stufen (1) In den frühen erkenntniskritischen Abhandlungen, insbesondere (erweiterter) Dissertations- (Krisis) und Habilitationsschrift (Untersuchungen), formuliert Plessner auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie und Kants Kritizismus eine konstruktivistische „Idee“ von „Philosophie als System“, prägnant zusammengefasst von Franz Kröner (1889–1958) in seinem Buch über Die Anarchie der philosophischen Systeme aus dem Jahre 1929: Plessner habe Kants Denken als eine Form von Philosophie charakterisiert, die „zunächst frei konstruktiv einsetzt, ein System von synthetischen Grundsätzen entwirft, um an der ‚Erfahrung‘ oder an der Wirklichkeit erprobt zu werden“ (zitiert nach Plessners Selbstdarstellung, GS X, 311f.; vgl Kröner 1929, 251f.). Allerdings muss festgehalten werden, dass jener Autor sich auf den erwähnten Anhang der Einheit der Sinne (1923), d.h. den dritten Abschnitt der Habilitationsschrift bezogen haben könnte (Pietrowicz 1992, 127, Anm. 35). Ob und inwieweit diese Deutung Kants Anliegen gerecht wird, mag dahingestellt bleiben. Auf alle Fälle hat Plessner in seiner Selbstdarstellung Kröners

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Würdigung – Plessner bezieht sie auf die Krisis-Schrift – mit einem gewissen stolzen Unterton referiert und autorisiert. Dieser konstruktivistische „Plan“ muss konsequenterweise dann auch für die Stufen gelten als – so der Anspruch – Fundament einer „Neuschöpfung der Philosophie“ (vgl. GS IV, 68f.). (2) Schon im Jugendwerk der Wissenschaftlichen Idee (1913) kommt ausgehend von einer wissenssoziologischen Fragestellung eine naturphilosophische Perspektive ins Spiel: der Gedanke einer „Materialisiertheit des Logos“, die in Gestalt von „sondergebietsübergreifenden“ (GS I, 19) Signaturen auch auf den Bereich der nicht kulturell überformten „Dinge“ ausgreift. Als ein erster Schritt hin zu einer hermeneutischen Naturphilosophie stellt eine Dekade später die Einheit der Sinne (1923) die Frage nach dem Sinn eines leiblich-körperlichen Sachverhalts, der Vielfalt unserer menschlichen Sinnesorganisation (Gesicht, Gehör, Zustandsinne). Die Bedeutung dieser morphologisch-physiologischen Differenzierung von Sinnlichkeit liegt in ihrer Domäne-übergreifenden Konformität / Akkordanz mit der Gliederung von Haltungstypen (Verhaltensweisen) und Kultursphären – Index der Einheit der Person bzw. des Geistes in dieser Mannigfaltigkeit. (3) Diese Gedanken aufgreifend sollten die frühen Schriften als Vor-Stufen der Stufen betrachtet und als Leitlinien der Darstellung des Opus magnum dienen. Es wird angenommen, dass (i) das Konzept der Grenze ein vorausgesetztes „frei konstruktives“ Prinzip darstellt, aus dem sich ein apriorisch / kategoriales „Modell“ anschaulicher Lebendigkeit entwickeln lässt, das dann (ii) dahingehend zu überprüfen ist, ob es als „sondergebietsübergreifende“ (GS I, 19) Signatur an den Phänomenen des Lebendigen, vom Stoffwechsel bis zur Intelligenz, nachgezeichnet werden kann. In diesem Sinne könnten dann die Stufen als eine kritisch(!)-hermeneutische Naturphilosophie gelten, die nicht in Gefahr gerät, naiv der Welt des Organischen Analogien einfachhin „abzulauschen“ – oder, um ein Beispiel Plessners heranzuziehen, hinter dem heiteren oder düsteren Charakter einer Landschaft eine sich offenbarende „Naturseele“ zu verspüren (GS VII, 118). Mitscherlich (2007) hat die Naturphilosophie der Stufen über alle ihre Verästelungen hinweg als eine in sich stimmige und abgeschlossene Systematik dreier „Deduktionsschritte“ darzustellen versucht – erweitert durch einige wenige Modifikationen (z.B. Mitscherlich 2007, 153f, 170f.). Der Rückblick auf die frühen Schriften Plessners kann und soll nicht einen alternativen Zugang der Interpretation eröffnen, vermag aber das Verhältnis der apriorischen, d.h. vorausgesetzten Elemente und der empirischen Daten in Plessners Opus magnum zu verdeutlichen (siehe unten). Die in einem erstaunlichen Umfang referierte botanische und zoologische Literatur – bis

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hin zu Originalarbeiten – bildet sozusagen das „Material“, an dem sich das konstruktivistische Modell der Plessner’schen Naturphilosophie eines anschaulich Grenzen setzenden Körpers, seine „Setzung“ bzw. „Hypothese“ (Lindemann 2017, 163), zu bewähren hat. Vor diesem Hintergrund wäre Plessners Idee des Organismus nicht von vornherein restringiert und limitiert durch etwaige nicht mehr zeitgemäße Vorstellungen der Biologie der 1920er Jahre.17 (4) Die schon erwähnte, mehr als 60 Seiten umfassende, zusammen mit Buytendijk veröffentlichte Abhandlung Die Deutung des mimischen Ausdrucks: Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs aus dem Jahre 1925 wird hier nicht eigens als eine der Vor-Stufen der Stufen in Betracht gezogen (GS VII, 67-129; eine kurze Würdigung dieses selten zur Kenntnis genommenen Aufsatzes findet sich in Becker 2017, 149f.). Weite Teile dieser Schrift nehmen Auseinandersetzungen mit damals zeitgenössischen Ausdruckstheorien ein, z.B. eine Kritik der Vorstellungen von Ludwig Klages (1872–1956), es soll bei dem gebräuchlichsten der fünf Vornamen bleiben (GS VII, 100ff.), oder Schelers „Theorie der Wahrnehmbarkeit des Fremdseelischen“ (GS VII, 117ff.). Darüber hinaus finden sich aber schon eine Reihe grundlegender Gedanken der Stufen formuliert, oft – auf den ersten Blick – eingängiger als dann im Opus magnum, z.B. die Transition von der tierischen zur menschlichen Organisationsform (GS VII, 114ff.). Eher als eine Vor-Stufe handelt es sich – im Rückblick – um vorweggenommene Passagen des Hauptwerkes, auf die dann über Querverweise im Verlauf des nachfolgenden Textes Bezug genommen werden soll.

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Allerdings ergibt sich dann die Aufgabe einer Fortschreibung der Stufen unter Bezugnahme auf eine zeitgemäße, d.h. evolutionsbiologisch, molekulargenetisch und kognitionspsychologisch fundierte Lebenswissenschaft. So weist Lindemann (2017) am Beispiel des Verhaltens von Vogelgruppen darauf hin, in Übereinstimmung mit Andeutungen von Plessner selbst, dass bei non-humanen Lebewesen eine Vorstufe personaler Mitwelt im Sinne von „Mitverhältnissen leiblichen Selbstseins“ angenommen werden muss (ebd., 169ff.). Ob sich dann noch am Leitfaden „dreier Modi der Positionalität“ (vgl. Mitscherlich 2007, 151) eine uni-dimensionale Stufenordnung, orientiert am Bild einer Sprossenleiter, konstruieren lässt, bleibe dahingestellt. Vermutlich sind dann modifizierte Domäne-übergreifende Strukturgesetzlichkeiten des Organischen zu erwarten. Die vorliegende Arbeit wird zwar immer wieder, aber natürlich nicht erschöpfend auf rezente biologische Konzepte verweisen.

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Die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners: Einbettung des Menschen in den Bereich des Organischen – Selbstbewusstsein in den vorausgesetzten Grenzen des Lebens

5.1 Aufgabe und Ziel der Stufen: „Neue Möglichkeiten des philosophischen Naturverständnisses“ auf der Grundlage einer „nicht empirisch restringierten Betrachtung der körperlichen Welt“ 5.1.1 Vorbemerkungen: Über die Schwierigkeiten einer Lektüre dieses Werkes Immer wieder findet sich in der Sekundärliteratur die Feststellung, dass die Schriften Plessners einen ausgeprägt sperrigen Charakter aufweisen (z.B. Lessing 1998, 26f.). Und Plessner selbst konzediert in seiner Selbstdarstellung die „Umständlichkeit und Konstruktion“ zumindest der Einheit (GS X, 322). Ein derartiger Eindruck drängt sich erst recht bei den Stufen auf. Als Beispiel seien hier die eindrücklichen Klagen eines philosophisch gebildeten Lesers wiedergegeben: Diese Abhandlung ist „auf ungeschickte Weise schwer geschrieben, überlastet den Leser mit einer Unmenge von Referaten der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur und benutzt insbesondere dort, wo der Leser dringend exakte Begriffe braucht, Metaphern, Bilder und präpositional überfrachtete Termini, die uns zwar ahnen lassen, daß der Autor ganz entscheidende und wertvolle Gedanken entwickelt, uns aber doch immer wieder das Gefühl geben, daß wir über die bloße Ahnung des Gedankens nicht hinauskommen“ (Grünewald 1993, 271). Aber das Projekt der Stufen, alle grundlegenden Phänomene des Organischen, vom zellulären Metabolismus bis hin zu den mentalen Leistungen der höheren Wirbeltiere, in das „Korsett“ einer Stufenordnung zu zwängen, die sich auf das anschauliche Muster einer Doppelaspektivität von Innen / Außen des lebendigen Körpers in seiner Positionalität gegenüber dem jeweiligen Umfeld stützt, muss wohl mit einer gewissen verbalen Brachialgewalt einhergehen und z.B. auf Metaphern und „präpositional überfrachtete Termini“ zurückgreifen. Darüber hinaus weist der Text aber gewisse stilistische Eigenarten auf, die – Erfahrungen am eigenen Leibe zufolge – beim Lesen zu rascher Ermüdung führen, sogar hie und da Verärgerung hervorrufen können. Als Beispiele seien die in einer bestimmten Weise weitschweifigen Ausführungen zum Verhältnis von Teil und Ganzem, die auch noch in doppelter Ausführung dargeboten werden (Abschnitt 8, Kapitel 4

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und Abschnitt 1, Kapitel 5), und zur Doppelaspektivität von Körper-Haben und Körper-Sein (Abschnitt 1, Kapitel 6) erwähnt, sozusagen Schleifen aneinander gereihter Wiederholungen ein und desselben Gedankens in jeweils etwas sprachlich modifiziertem Gewand. Zur Verdeutlichung sei ein Passus zitiert, der – des besseren Überblicks halber – nicht Phrasen, sondern „lediglich“ Begriffe reiteriert: „So ist sie [die Sphäre des Bewußtseins, HA] die raumhaft innere Grenze, ist sie die zeithafte Pause zwischen dem von außen Kommenden und dem nach außen Gehenden, der Hiatus, die Leere, die binnenhafte Kluft, durch die hindurch auf den Reiz die Reaktion erfolgt“ (GS IV, 312). Neben sprachlichen Eigenarten erschwert ein weiteres Moment die Lektüre der Stufen. Mit der Einheit verbindet das Opus magnum die gemeinsame Zielsetzung, „der hermeneutischen Lebensphilosophie ein naturphilosophisches Fundament zu geben“ (Arlt 1996, 83), um so die Grundlagen der avisierten allgemeinen Hermeneutik zu schaffen (ebd., 84f.; vgl. Lessing 1995, 114f.). Diese Aufgaben- und Fragestellungen verdanken sich einer jahrelangen „Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophiegeschichte“ (Pietrowicz 1992, 295), die sich von der ersten Veröffentlichung überhaupt bis in das Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen aus dem Jahre 1966 hinein erstreckt und sich dann als eine „Verschachtelung von geisteswissenschaftlichen, phänomenologischen, kritischen und biologischen (einzelwissenschaftlichen) Elementen“ äußert (ebd., 298). Neben diese Vielschichtigkeit der aufgegriffenen und angesprochenen Konzepte treten – auf den ersten Blick – methodische Schwächen: Der „ehemalige Biologiestudent Plessner“ hat sich über die Grundlagen seines philosophischen Schaffens zu keinem Zeitpunkt explizit und methodisch klar geäußert (Völmicke 1994, 10f., 33). Oder mit anderen Worten: Der Zusammenhang zwischen seiner „Idee“ von Philosophie, die sich einer „Kritik des Kritizismus“ in der Dissertations- und Habilitationsschrift verdankt, und seiner philosophischen Anthropologie ist „nicht expliziert“ worden (Breun 1987, 1f.). Vor diesem Hintergrund wäre den Stufen eine Art methodischer Synkretismus vorzuwerfen, ein Problem, das von der Plessner-Forschung kaum je „als ein eigenständiges Thema behandelt worden“ sei (Völmicke 1994, 25). Diese Anwürfe fehlender methodischer Stringenz und Kohärenz können aber so wohl nicht mehr aufrechterhalten werden: Krüger (z.B. 2005) hat gezeigt, dass die Stufen auf einer „theoretisch originären Integration“ von vier philosophischen Methoden fußen in Gestalt eines quasi-transzendentalen Verfahrens, das Phänomenologie und Hermeneutik quasi-dialektisch zu verschränken erlaubt, also einen phänomenologisch-anschauenden und einen hermeneutisch-verstehenden Zugang zum Lebendigen miteinander verbindet (vgl. Krüger 2017, 8). Wie zu zeigen sein wird, konvergieren in Plessners methodologischen Erörterungen zu Beginn der Stufen ein phä-

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nomenologischer und hermeneutischer Zugang zu einem „naiv-voraussetzungslosen Standpunkt“. Aus dieser Betrachtung gehen dann diejenigen anschaulichen Befunde hervor, auf die sich die Deduktion der Daseinsweisen (!) des Lebendigen stützt (Kapitel 3 und 4). Unter Rückgriff auf empirisch-wissenschaftliche Daten, Lehrbuchwissen der 1920er Jahre, werden dann die einzelnen Organisationsweisen (!) lebendiger Formen entwickelt (Kapitel 5 und 6). Neben die angesprochene umfangreiche „Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophiegeschichte“ (Kapitel 1 und 2 der Stufen) treten – die Lektüre ebenfalls erschwerend – Exkurse zu inzwischen angestaubten lebenswissenschaftlichen Modellvorstellungen wie die Kontroverse um Präformation und Epigenesis im Bereich der Entwicklungsbiologie (GS IV, 199ff.) oder der Streit um Mechanismus und Vitalismus (GS IV, 221ff.). Um nun den Zugang zu den verschachtelten und vielschichtigen Stufen zu erleichtern, soll abschließend der Fokus der nachfolgenden Erörterungen eingegrenzt werden. Der Mensch als „Gegenstand“ der Philosophischen Anthropologie lässt sich – eine Unterscheidung gegen Ende des ersten Kapitels – entlang zweier Achsen in den Blick nehmen: „horizontal, d.h. in der Richtung, welche durch die von ihm gesuchte Beziehung des Menschen zur Welt in seinen Taten und Leiden festgelegt ist, und vertikal, d.h. in der Richtung, die sich aus seiner naturgewachsenen Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen ergibt“ (GS IV, 70f.). In vertikaler Perspektive, Fokus der vorliegenden Untersuchung, muss exzentrische Positionalität als Eskalationsstufe pflanzlicher und tierischer Organisationsweisen verstanden werden. Als pivotale Transienten der Stufen, die hier im Mittelpunkt stehen sollen, haben der Übergang von unbelebten zu belebten Körpern (Kapitel 3) und von non-humanen (Pflanze, Tier) zu humanen Lebensformen zu gelten (Kapitel 5 und 6). Die Sphäre des Menschen (Kapitel 7), die horizontale Perspektive der Philosophischen Anthropologie Plessners, wird dann abschließend noch in den Blick gerückt. Wie auch schon die Einheit beinhalten die Stufen ebenfalls ein ausführliches ideengeschichtliches Präludium (Kapitel 1 und 2), auf das aber nur gelegentlich zurückgegriffen wird, wenn sich dadurch die Entfaltung der nachfolgenden Stufenordnung verdeutlichen lässt.

5.1.2 Ausgangspunkt der Stufen: Die „Heidelberger Konstellation“ und das Bemühen um ein Verstehen des „lebendigen Daseins“ Nach zwei Semestern Medizinstudium an der Universität Freiburg im Breisgau wendete sich Plessner in Heidelberg dem Fach der Zoologie zu. In

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Anlehnung an den von Fischer (2014) geprägten Begriff „Kölner Konstellation“, Titel eines Buchbeitrages, könnte bei Plessner auch von einer lebensgeschichtlich prägenden „Heidelberger Konstellation“ gesprochen werden, gekennzeichnet durch die Konfrontation mit „tiefgehenden Spannungen“ zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie, verkörpert durch akademische Lehrer aus beiden Disziplinen, unter denen der Student wohl weniger zu leiden hatte, als dass er in ihnen eine Herausforderung sah, und die ihn dazu bewegten, so das Vorwort zur ersten Auflage der Stufen aus dem Jahre 1928, „auf neue Möglichkeiten philosophischen Naturverständnisses zu sinnen“ (GS IV, 9). Als ein Beispiel der „tiefgehenden Spannungen“ sei erwähnt, dass die an der dortigen Universität „maßgeblichen Neukantianer“ sich unter Naturphilosophie, so Plessner in seiner Selbstdarstellung, „eine Art Wiederbelebung romantischer Kurpfuscherei vorstellten“ (GS X, 305). Gegen diesen Hintergrund scheint insbesondere die „Kombination von Biologie und Philosophie“ im Werk von Hans Driesch (1867–1941), der ab 1909 in Heidelberg als Privatdozent für Naturphilosophie tätig war, den jungen Studenten „fasziniert“ zu haben.18 Ergänzt werden müsste, dass neben Philosophie im engeren Sinne – 18

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Nicht nur in seiner Selbstdarstellung, auch in dem 1922 erschienenen Aufsatz Vitalismus und ärztliches Denken bezeichnet Plessner Driesch als „meinen Lehrer“ (GS IX, 8). Und Drieschs Schrift Die Logik als Aufgabe (1913) habe ihn, Plessner, zu seinem eigenen philosophischen Erstlingswerk über die Wissenschaftliche Idee ermuntert, das – im selben Jahr veröffentlicht – innerhalb von wenigen Monaten fertig gestellt worden sein muss (GS X, 306, vgl. GS I, 13). Im Fahrwasser von Driesch, der 1919 einen Ruf an die Universität Köln erhalten hatte (Driesch 1951, 160), wechselte auch Plessner an jene Hochschule und konnte sich dort im Jahr 1920 habilitieren. In seinem Gutachten mit Datum vom 8. Mai 1920 schreibt Driesch: „Dr. Plessner ist mir persönlich seit 1911 bekannt; er war einer meiner begabtesten und rührigsten Schüler“ (Fischer 2008, 31). Plessner hatte sein Opus magnum noch im Jahr der Veröffentlichung seinem Lehrer geschickt (GS VIII, 260). In der Selbstdarstellung berichtet er dann, dass Driesch die Stufen als Hylozoismus missverstanden habe, als moderne Variante der Annahme eines belebten Urstoffes, und „sich in seinem Vitalismus durch meinen Begriff der Positionalität angegriffen sah“ (GS X, 325). Vor diesem Hintergrund wird wohl verständlich, dass Driesch die Stufen weitgehend ignoriert hat. Die ebenfalls 1928 erschienene vierte Auflage seiner Philosophie des Organischen erwähnt zwar Plessners Schrift, aber lediglich in Gestalt einer kurzen Ergänzung zu einer Anmerkung: „Vgl. auch Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928“ (Driesch 41928, 124, Anm. 1; es wird wohl Bezug genommen auf den vierten Abschnitt des dritten Kapitels, GS IV, 138ff.). Obwohl Driesch bis in sein letztes Lebensjahr hinein immer noch und immer wieder naturphilosophische und theoretisch-biologische Fragestellungen aufgegriffen hat, die auch im Mittelpunkt der Stufen stehen, z.B. die „Kennzeichnung des lebendigen Organismus als solchen“ in dem Buchbeitrag Das Wesen des Organismus (Driesch 1931, 385, 403, vgl. Driesch 1935 und 21944), finden die entsprechenden Gedanken Plessners keine (schriftliche) Beachtung.

die universitäre Disziplin gleichen Namens – Plessner z.B. über die Einladungen zum „sonntäglichen jour fixe“ im Hause Max Webers auch mit historischen und soziologischen Fragestellungen vertraut wurde, Begegnungen, die die angesprochenen Auseinandersetzungen noch vertieft haben dürften (GS X, 305; vgl. Dietze 32018, 30ff.). Aus dieser „Heidelberger Konstellation“ heraus müssen sich einem sowohl den Natur- als auch den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften gegenüber aufgeschlossenen Studenten notwendigerweise Fragen nach dem Zusammenhang dieser zwei Sphären gestellt haben. Bereits auf den ersten Seiten der Jugendschrift zur Wissenschaftlichen Idee (1913) taucht die angesprochene Thematik auf (GS I, 16f.), um dann zu Beginn der Stufen in einer anthropologischen Wendung wieder aufgegriffen zu werden: „Entweder ist der Mensch mit allen seinen Eigenschaften, körperlich und geistig, das letzte Glied der organischen Entwicklung auf der Erde. Dann ist sein Bewußtsein … und damit seine Kultur ein Naturprodukt … Oder seine eigene Naturgeschichte … ist wie die ganze Natur eine Konstruktion des Menschen nach Maßgabe der apriorischen Grundformen seines Geistes“ (GS IV, 39f.). Und in diesem Zusammenhang findet sich auch schon die grundlegende „Intuition“ vorgestellt, die den Rahmen der nachfolgenden Philosophischen Anthropologie vorgeben wird: Im Rückgriff auf die „natürliche, vorproblematische Anschauung“ des menschlichen Lebens lassen sich beide Aspekte, unsere „geistig-sittliche“ und unsere „natürliche Existenz“, in eine gemeinsame Perspektive oder „Erfahrungsstellung“ bringen, von einem gemeinsamen Blickpunkt aus betrachten (GS IV, 48f., 58f., 62; als Beispiel wird das „mimische Ausdrucksverständnis“ herangezogen, ebd, 64f.). Etwas flapsig auf den Punkt gebracht: Die „natürliche, vorproblematische Anschauung“ erlaubt sozusagen eine „friedliche Koexistenz“ der Vorstellungen des Menschen als eines Natur- und eines Kulturwesens, im Falle der Mimik von (körperlichem) Bewegungsablauf und (seelischem) Motiv. Unter diesen Bedingungen erscheint der Mensch – und hier taucht dann zum ersten Mal dieser grundlegende Begriff der Plessner’schen Philosophischen Anthropologie auf – im „Doppelaspekt“ sowohl „geistigen Tuns“ als auch „leiblichen Daseins“ (GS IV, 40, 71). Es geht dabei weniger um die konzeptuelle „Einheit und Homogenität“ zweier Bestimmungen des Humanum, um „Aufhebung oder Vermittlung“ zweier Attribute (GS IV, 71), sondern um die Wahrung der „Einheit und Homogenität einer Erfahrungsrichtung“, die beide Bestimmungen im Blickfeld hält – in friedlicher Koexistenz. Eine oft zitierte Passage aus dem ersten Kapitel der Stufen formuliert dann die „Etappen“ auf dem Weg einer Darstellung der „Verbundenheit von Natur und Geist und der Stellung des Menschen“: „Der Zweck heißt: Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte. Die Etappen auf

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diesem Wege sind: Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte“ (GS IV, 68f.).19 Die etwas umständliche Formulierung „des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte“ wird dahingehend näher bestimmt, dass eine Theorie der Geisteswissenschaften schlussendlich einer naturphilosophischen Grundlegung bedarf, „d.h. einer nicht empirisch restringierten Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zurückwirkt“ (GS IV, 63f.). Oder: „Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen“. Philosophische Anthropologie als Fundament einer (allgemeinen) Hermeneutik betrachtet den Menschen zunächst „in naiver und unmittelbarer Einstellung“ als eine „psychophysisch indifferente oder neutrale“ bzw. „personale“ bzw. „konkrete Lebenseinheit“, die sowohl den Körper als Gegenstand der Naturwissenschaften, einschließlich Psychophysiologie, als auch das „Subjekt seines Bewußtseins“ als Träger kultureller Objektivationen umgreift (GS IV, 70f.). Wie schon erwähnt lässt sich dieser „Gegenstand“ der Philosophischen Anthropologie – eine Unterscheidung gegen Ende des ersten Kapitels – des Näheren entlang zweier Achsen in den Blick nehmen: „horizontal, d.h. in der Richtung, welche durch die von ihm gesuchte Beziehung des Menschen zur Welt in seinen Taten und Leiden festgelegt ist, und vertikal, d.h. in der Richtung, die sich aus seiner naturgewachsenen Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen ergibt“. Mit anderen Worten: Der Mensch imponiert einerseits als „Kulturschaffender“, der in Wissenschaft und Kunst seinen Ideen Gestalt gibt und Ausdruck verleiht, stellt andererseits aber auch im Raum von Biologie und Medizin ein Lebewesen unter anderen dar, charakterisiert durch empirisch-wissenschaftlich greifbare vital-physiologische Leistungen bis hin zu kognitiven Funktionen. Die der horizontalen gegenübergestellte vertikale Dimension der Betrachtung, „die sich aus [unserer, HA] naturgewachsenen Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen ergibt“, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Und die avi19

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In der Abhandlung Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie aus dem Jahre 1937 (GS VIII, 33-51) wird der Anspruch an dieses „Fach“ doch etwas niedriger gehängt: sie als „das Herzstück der Philosophie oder gar ihr Fundament“ zu betrachten, wäre „voreilig“ (ebd., 36). Und zwei Jahrzehnte später heisst es in Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (1956; GS VIII, 117–135) nur noch: Es geht um die Aufgabe, die Resultate der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen „zu einem Ganzen zu verarbeiten“ (ebd., 118, 123), eben unter dem Gesichtspunkt des „Menschseins als solchem“.

sierte „Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte“ (GS IV, 68f.) lässt sich nun bestimmen als die vertikale Dimension der Philosophischen Anthropologie. Ausgangspunkt der Überlegungen in dieser vertikalen Richtung ist folgende Aufgabe: „Erst ist einmal Klarheit darüber zu gewinnen, was als lebendig bezeichnet werden darf, bevor weitere Schritte zur Theorie der Lebenserfahrung in ihrer höchsten menschlichen Schicht unternommen werden“ (GS IV, 76). Mit der Einengung der Fragestellung auf die vertikale Dimension von Philosophischer Anthropologie darf sozusagen die oben angesprochene allgemeine Hermeneutik, die sich auch mit der Exegese von Texten befassen müsste oder der Interpretation historischer Ereignisse, ausgeblendet und die Perspektive einer hermeneutischen Naturphilosophie fokussiert werden, d.h. es geht im Wesentlichen um das Verstehen von „Naturgegenständen“. Schlussendlich darf aber vom Anspruch Plessners her nicht – wie in der Einheit – Natur auf leiblich-körperliche Phänomene des Menschen wie die Organisation von Sinnesorganen oder die Variationen der Körperhaltung beschränkt werden, sondern es müssen eben auch non-humane Organismen, ja, Pflanzen, in den Blick rücken.

5.1.3 Möglichkeiten / Grenzen und Fallstricke des Verstehens der (nichtmenschlichen) Natur Schon mit der Wissenschaftlichen Idee (1913) hatte Plessner den Weg zu einem „philosophischen Naturverständnis“ eingeschlagen, auch wenn diese ersten Gehversuche noch einen ungelenken Eindruck machen. Zur Erinnerung: Das Erstlingswerk betrachtete – im Rahmen eines objektiv-idealistischen Entwurfs der Entwicklung von Wissenschaft – auch nicht-menschliche Natur, nicht nur die Sphäre kultureller Artefakte und leiblicher Ausdrucksphänomene, unter dem Gesichtspunkt einer „Materialisiertheit des Logos“ oder als „Inkognito“ des Geistes. Diese Abhandlung hatte einen als Phänomenologie bezeichneten „naiv-voraussetzungslosen Standpunkt“ reklamiert, einhergehend mit einer „Wendung zum Objekt“ hin (GS I, 15ff.). Ihren literarischen Niederschlag hat die nachfolgende kritische Auseinandersetzung mit – und dann die Absetzung von – der Phänomenologie in der Dissertations- und Habilitationsschrift gefunden. Unter Verweis auf die 1918 veröffentlichte Version der Doktorarbeit wird dann auch im Vorwort zur ersten Auflage der Stufen (1928) die „Verwendung der Phänomenologie als grundlagensichernder Forschungshaltung“ in wenigen Worten zurückgewiesen, denn – so heißt es jetzt – phänomenologische Arbeit bedarf „einer bestimmten methodischen Führung, die weder

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aus der Empirie noch aus einer Metaphysik stammen kann“ (GS IV, 11). Andernfalls, so an einer späteren Stelle, lässt man sich „von den Objekten ins Schlepptau nehmen“ und regrediert auf die Stufe eines Kindes, das dem Lehrer alles nachplappert (GS IV, 50). Diese methodische Führung scheint nun im ersten Kapitel der Stufen an die Hermeneutik delegiert zu werden. Als Ausgangspunkt – oder „Quelle“ – der im Anschluss entwickelten Lehre vom Menschen hat nun die „Philosophie und Geschichtsschreibung“ Wilhelm Diltheys zu gelten – in Gestalt der programmatischen Formulierung ihrer Prinzipien durch seinen Schüler und Schwiegersohn Georg Misch, v.a. in der Abhandlung Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften (1924/1926/1947; vgl GS IV, 11f.). Dieser Gedanke wird dann im ersten Kapitel unter der Überschrift: Ziel und Gegenstand der Untersuchung etwas ausführlicher entfaltet. Die Methodik der mathematischen Naturwissenschaften, an die Kant mit seiner Vernunftkritik anknüpft, kann den „systematischen und historischen Kulturwissenschaften“ nicht als Vorlage dienen (vgl. GS IV, 51). Unter Rückgriff auf Gedanken Diltheys in der Lesart von Misch hält Plessner fest, dass die Gegenstände der Geisteswissenschaften aufgrund ihres „Ausdruckscharakters“ das „Verstehen“ als den ihnen angemessenen Zugang des Erfassens einfordern (GS IV, 56f.). Daraus folgt nun nicht, dass die Standards der Exaktheit von Fragestellung und Allgemeingültigkeit der Resultate prinzipiell außerhalb der Reichweite philologisch-historischer Methoden liegen würden, allerdings sind die genannten Vorgaben innerhalb der Geisteswissenschaften schwerer zu erfüllen, da diese Disziplinen „langwierigere und unsichere“ Untersuchungsverfahren voraussetzen. Unter anderem müssen die historischen Forschungsgebiete „geistig-seelische Abhängigkeiten“ berücksichtigen, die sich in Texten oder Monumenten Ausdruck verschafft haben, z.B. motivationale Faktoren wie die politischen Zielsetzungen der beteiligten Personen, die nicht – zumindest nicht in ihren wesentlichen Dimensionen – über Sinnesorgane, sondern nur in einer Art „Resonanzphänomen“ zu erfassen sind, sozusagen als „Echo“, das sie in „geistig-seelischen Personen“ hervorrufen. Dennoch muss ein Historiker natürlich kein Wiedergänger Cäsars sein, um die Hintergründe und Folgen seines militärischen und politischen Wirkens „verstehen“ zu können, es dürften „Fingerspitzengefühl, Phantasie und Einfühlungsfähigkeit“ genügen (GS IV, 52). Um einen entscheidenden Passus wiederzugeben: „Die geistige Welt (in welchem Namen die objektiven Korrelate der Texte und Denkmäler einmal zusammengefaßt sein mögen) unterscheidet sich von der physischen Welt hinsichtlich ihrer Erfahrbarkeit schon durch die zu erfüllenden Vorbedingungen auf seiten des Erkennenden. Dinge der Natur brauchen Sinnesorgane, um zu erscheinen. Geistiges Leben braucht dazu Resonanz und wird nur in Resonanzphänomenen faßbar“ (GS IV, 51). Und eben aufgrund dieser Rück-

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bindung von Verstehen an menschliches Leben, ja, unseren Organismus, muss eine Hermeneutik als „universelle Wissenschaft vom Ausdruck“ sich ein anthropologisches Fundament geben: „Hierher gehören die Fragen der Wesensstruktur der Persönlichkeit und der Personalität überhaupt, ihrer Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksgrenzen, der Bedeutung des Leibes für Art und Reichweite des Ausdrucks“ (GS IV, 58, 60f.). In der 25 Jahre nach den Stufen veröffentlichten Abhandlung Mit anderen Augen (1953), ursprünglich als Beitrag zu einer geplanten Festschrift für Georg Misch verfasst, hat Plessner diesen Sachverhalt unmittelbarer Sinnhaftigkeit unter Bezugnahme auf Ent- bzw. Verfremdungseffekte auch als „Durchsichtigkeit“ bezeichnet und, bemerkenswerterweise, die Einheit als ersten Versuch einer Theorie der „Transparenz“ eingestuft (GS VIII, 88f.). Die angesprochene Durchsichtigkeit kultureller Artefakte ist an Voraussetzungen gebunden, kann natürlich nicht an den sinnarmen oder gar sinnentleerten „Erfahrungsbegriffen“ oder – in zeitgenössischem Jargon – Konstrukten bzw. Modellen der Wissenschaft anknüpfen: „Deshalb greift an dieser Stelle die phänomenologische Deskription ein, die zur ursprünglichen Anschauung hinführt und in ihr verweilt (wobei sie sich allerdings von jeder Ontologisierung des Erschauten freizuhalten hat)“ (GS IV, 60f.). Verglichen mit der Dissertations- und Habilitationsschrift kommt der Phänomenologie Husserls im Rahmen der methodischen Grundlegung der Stufen nun doch ein grundlegender und unverzichtbarer Stellenwert zu, der sich aus ihrer Verschränkung mit den Aufgaben einer Lehre des Verstehens ergibt. Aus diesen Gründen war das Programm einer hermeneutischen Naturphilosophie – so Plessner – „zu Diltheys Zeiten“ noch nicht umsetzbar: „Die Lage der Wissenschaften zeichnete sich durch eine absolute Herrschaft empiristischer Denkweise aus“ (GS IV, 66). „Erst durch Husserls Konzeption einer vorerfahrungsmäßigen, strukturanalytischen Beschreibung, die schlechthin universal auf Gegenstände des ‚Meinens‘ überhaupt anwendbar ist, war das Instrument zur Durchführung des Diltheyprogramms gefunden“ (GS IV, 66, 68). Ohne phänomenologisch-deskriptive Daten hätte Hermeneutik zumindest im Bereich der natürlichen Welt keinen „Gegenstand“, kein Widerlager, an dem sie einsetzen könnte. In der Perspektive dieser Ausführungen wird phänomenologischer Deskription in den Stufen doch – immerhin – ein „grundsätzlicher propädeutischer Wert“ zuerkannt (vgl. GS IV, 66ff.).20 20

Phänomenologische Deskription wird entlang der Stufen in unterschiedlichen Wendungen umschrieben: „natürliche, vorproblematische Anschauung“ (GS IV, 40, 48), „gewöhnliche Anschauung“, „natürlicher Realismus der naiven Einstellung“ bzw. „naive Anschauung“ (GS IV, 93, 95), „echte Erscheinung als der in ihrem originären Selbst gegenwärtigen Sache“ (GS IV, 100), volle, methodisch noch nicht res-

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Die zunächst bei kulturellen Artefakten reklamierte unmittelbar „durchsichtige“ Bedeutungs- oder Sinnhaftigkeit lässt sich – überzeugender und stimmiger als im Bereich der Dokumente und Monumente – am „mimischen Ausdrucksverständnis“ darstellen. Vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs „liegt der Fall so, daß sich die körperlichen Bewegungen des anderen Menschen, einerlei ob ich sie nun faktisch verstehe oder nicht verstehe, von vornherein als deutbar, als sinnhaft wahrnehme. Mir steht nicht ein bloßer Körper gegenüber, an dem ich bestimmte Bewegungen ablese, sondern ein lebendiger Leib. … in den Bewegungen des Leibes manifestiert sich die an und für sich schon sinnhafte Situation … Der Träger des Leibes wird dabei weder als Körper noch als Seele, sondern als gegen diesen gedanklichen Unterschied indifferent erfaßt“ (GS IV, 64). Und in der Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) war schon eine „untrennbare Einheit von erscheinender Leibgestalt und Sinngehalt“ festgehalten worden (GS VII, 93). Wie schon erwähnt: Nur unmittelbar anschauliche Gegebenheiten, nicht die „sinnentleerten“ wissenschaftlichen Konstrukte und Modellvorstellungen, können „durchsichtig“, d.h. sinnhaft zur Darstellung kommen. Andererseits wird ein anschaulich gegebenes „Phänomen“ erst durch die Resonanz, die es in einem Beobachter hervorruft, als sinnhaft und bedeutsam erlebt – und beschreibbar. Menschliche Ausdrucksphänomene sind einerseits transparent auf innere Befindlichkeiten oder Absichten hin, andererseits kommen die Befindlichkeiten und Absichten immer nur im sichtbaren Phänomen zum Ausdruck. Aber zumindest im Bereich von Habitus, Gestik und Mimik sowie verwandter Phänomene wie des stimmlichen Ausdrucks „innerer“ Zustände oder Regungen (emotive Prosodie) verflüchtigt sich dann der Unterschied von phänomenologischer Beschreibung und hermeneutischem Verstehen: Die adäquate Beschreibung des Gesichtsausdrucks eines Gegenübers – in unmittelbarer Anschaulichkeit – wird eben Zorn oder Trauer notieren, d.h. den schon verstandenen Gesichtsausdruck. Deutung ist nicht als eine unabhängige Stufe des Wahrnehmungsgeschehens von der Folie der Beschreibung ablösbar. In anderen Worten: Würde diese Trennung vorgenommen, dann wäre ein Rückfall der Beschreibung auf die Ebene empirisch restringierter Betrachtung die Folge. Phänomenologisch-anschauender und hermeneutisch-verstehender Zugang zum Lebendigen sind unauflösbar miteinander verwoben, ob nun quasi-dialektisch verschränkt, bleibe dahingestellt (vgl. Krüger 2017, 8). An dieser Stelle stößt der Gedankengang Plessners auf ein Dilemma: Wenn eine adäquate, d.h. ausreichend feine Beschreibung von menschlichem Verhalten oder Artefakten, aber auch der tringierte Anschauung (GS IV, 157), „lebendige Evidenz unvoreingenommener Anschauung“ (GS IV, 241).

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körperlichen Welt im Rahmen der intendierten hermeneutischen Naturphilosophie, selbst schon durchsichtig wird auf Sinn und Bedeutung hin, dann gerät Plessner in Widerspruch zu seiner eigenen Kritik der Phänomenologie, die er in der Dissertations- und Habilitationsschrift entfaltet und in den Stufen wieder aufgegriffen hat. Entsteht aber Deutung im Wesentlichen aus dem Resonanzboden des Subjekts heraus, und diese Alternative findet sich im Text auch angedeutet, dann sind der Beliebigkeit der Interpretation keine Grenzen mehr gesetzt, erinnert sei an E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Im Bereich menschlichen Ausdrucksverhaltens ist der Sachverhalt einer sinnhaften Durchsichtigkeit prima facie nachvollziehbar, die Dilthey’sche Trias von Erleben – Ausdruck – Verstehen ohne Weiteres einsichtig (GS VIII, 98). Aber wie weit trägt dieser Gedanke in Bezug auf non-humane Organismen? Und diese Lebensformen müssen im Rahmen einer Naturphilosophie auch berücksichtigt werden, in den Stufen immerhin in drei von sieben Kapiteln. Die Frage nach den Grenzen dieses Paradigmas bricht insbesondere auf im Bereich der Tierpsychologie, eine Forschungsrichtung, mit der Plessner aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Buytendijk bestens vertraut war. In den Stufen greift Plessner (Kapitel 2, Abschnitte 6 und 7) methodologische Einwände auf, mit denen sich tierpsychologische Forschung konfrontiert sieht. Zunächst referiert Plessner die Einstellung der „Gelehrten“, die eine „streng wissenschaftliche Methode“ vertreten, als Beispiel wird Jakob (Johann) von Uexküll (1864–1944) genannt. „Warum sollen wir, so argumentierten die Biologen, eine psychologische Fragestellung gegenüber Lebewesen zulassen, die nicht nur ihrer Organisation und Lebensweise nach grundverschieden vom Menschen sind, sondern mit denen auch eine Verständigung durch Laute, Zeichen und selbst durch Ausdrucksbewegungen unmöglich, wenigstens ganz fragwürdig erscheint? Berechtigen uns die Erfahrungen im Zusammenleben mit höheren Wirbeltieren, wie sie Jäger und Tierhalter machen, von den bewährten Prinzipien kausaler Erforschung abzuweichen und zu einer verstehenden Deutung überzugehen? Darf uns der scheue Blick des Rehs, die bittende Haltung des Hundes, das zornige Gebrüll des Löwen bei aller zwingenden Anschaulichkeit mehr als eine Metapher sein?“ (GS IV, 106f.). In einem Büchlein mit Erinnerungen aus seinem Leben unter dem Titel: Der unsterbliche Geist in der Natur (1938) hat von Uexküll ein „schönes“ Beispiel derartiger Anthropomorphismen angeführt: „Bei allen wirbellosen Tieren können wir den Schmerz völlig ausschließen. Wenn ein Regenwurm mitten durchschnitten wird, so krümmt er sich, wie die meisten Menschen glauben, vor Schmerz. Sonderbarerweise krümmt sich aber nur das Hinterende, während das Vorderende unbekümmert weiter kriecht. Verbindet man die beiden Wundflächen mit einem Faden, so kriecht auch die hintere Hälf-

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te ruhig voran. Es war nur das Fehlen des vom Vorderende ausgehenden Zuges, das das Krümmen des Hinterendes veranlaßt hatte, und nicht der Schmerz“ (ebd., 22). Diese noch „läßliche Sünde“ eines, ja, hermeneutischen Zugangs zur Natur weist zumindest darauf hin, dass der „lebendigen Evidenz unvoreingenommener Anschauung“ (GS IV, 241) auch einer auf propädeutische Aufgaben zurechtgestutzten Phänomenologie nicht unbedingt gefolgt werden sollte, schließlich dreht sich die Sonne dem „unverbildeten“ Augenschein nach um die Erde. Auch wenn wir – so Plessner in vorsichtig tastenden Formulierungen – bei „manchen der höheren Tiere“ von ihrem Verhalten her den Eindruck haben, „als ob“ mit uns Menschen vergleichbare Affekte, Antriebe und Vorstellungen vorzuliegen scheinen, sollte es vielleicht doch bei einem „als ob“ bleiben. „Psychologie … ist nur da möglich, wo Psychisches direkt faßbar wird“, schlussendlich eben nur in der Introspektion eines jeden Menschen. Allerdings wird „Tierpsychologie“ von Plessner nicht rundweg zurückgewiesen. Die Frage, wie einem Tier zumute ist, „in welcher Qualität es erlebt“, darf gestellt werden, aber es ist hinzuzufügen: „Diese Fragen sind aufs strengste daraufhin zu prüfen, ob sie sich noch im Rahmen der Beantwortbarkeit halten“ (GS IV, 113, vgl. 97, 106f.). In diesem Zusammenhang wird dann, Ende des 7. Abschnitts des zweiten Kapitels der Stufen, unmissverständlich der „Ausdrucksdeutung und Einfühlung“ bei non-humanen Lebewesen eine Grenze gezogen, beschränkt auf „die höheren, dem Menschen morphologisch am Nächsten stehenden Tiere“ (GS IV, 114). Um ein Beispiel zu geben: Die Reihe der Säugetiere weist ein – mehr oder weniger – gemeinsames Netzwerk an zentralnervösen Strukturen als Substrat emotionaler / motivationaler Leistungen auf (Panksepp & Biven 2012, z.B. Abb. 2.1). Die schon erwähnte Frage von Bentham „Can they suffer?“ müsste also im Falle der Mammalia, aber eben nicht der Regenwürmer, bejaht werden. Nebenbei bemerkt, eine weitere Dimension fraglichen Ausdrucksverstehens, die schon jetzt mehr Interesse hervorrufen und auch „umkämpft“ sein dürfte, tritt dann im Bereich der humanoiden oder androiden Automaten bzw. Roboter in Erscheinung. Um nun schlussendlich die Ausgangsfrage aufzugreifen, die sich eine Naturphilosophie – so Plessner – zu stellen hat: „Erst ist einmal Klarheit darüber zu gewinnen, was als lebendig bezeichnet werden darf“ (GS IV, 76). Als Menschen ist uns das emotional / motivationale Ausdrucksverhalten anderer Menschen unmittelbar „verständlich“ – auch wenn wir uns irren können und klug daran tun, dem unmittelbaren Eindruck nicht immer unhinterfragt zu folgen. Komparativ-verhaltensbiologische als auch entwicklungspsychologische Befunde weisen darauf hin, dass es sich hier – nicht in allen Schattierungen, aber zumindest im Kern – um angeborene Leistungen, um ein phylogenetisches Erbe handelt. Neben der Möglichkeit, uns zu täuschen, stehen wir auch in der Gefahr, in die Fallstri-

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cke eines unkritischen Anthropomorphismus zu geraten, der Menschliches in non-humane Kreaturen hineinverlegt. Dennoch versucht offensichtlich Plessner, sozusagen in der Perspektive und am Modell des menschlichen Ausdrucksverstehens die Frage nach den Kennzeichen von Lebendigkeit zu beantworten. „In derselben Unmittelbarkeit und Lebenshöhe, die der Mensch existentiell zu sich hat, zu seinen Mitmenschen, zu seiner Zeit, in der er sich ausspricht und von sich weiß, weiß er auch von der Natur. Sie ist darum nicht Erlebnis, sondern durchaus volle Wirklichkeit, die dem Menschen zum Erlebnis wird und ihn als Fundament und Rahmen seiner Existenz von der Geburt bis zum Tode trägt“ (GS IV, 65). So wie unsereins das Ausdrucksverhalten anderer Menschen „durchsichtig“ ist, so kann uns Menschen als Lebewesen, die wir sind, die Lebendigkeit anderer Kreaturen anschaulich präsent und verständlich werden – sozusagen als „Resonanzphänomen“ und Echo unseres tief in das Organische hinabreichenden und somit „naturgebundenen“ Leibes (GS IV, 39), der uns in Gestalt von „natürlicher Genese und Nekrose „mit tierischem Leben verbindet (GS VIII, 388), uns, kurz, eine „Tiernatur“ verleiht (GS VIII, 406). An dieser Stelle kommt offensichtlich die Bindung Plessners an das „Lebensparadigma“ (Mitscherlich 2007, 24) des frühen 20. Jahrhunderts zum Tragen. Nicht von ungefähr beginnen die Stufen mit dem Satz: „Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort. … die gegenwärtige im Begriff des Lebens“ (GS IV, 37). Die heute doch etwas befremdliche Vorstellung, dass der Mensch als Lebewesen aus Fleisch und Blut sowie Haut und Haaren auf lebendige Körper leibhaft zu resonieren vermag, sozusagen mitschwingt, muss zunächst einmal so hingenommen werden. Vor diesem Hintergrund erhellt, dass Plessner die grundlegende Einsicht von Diltheys Philosophie in der Aufgabe erblickt, auf den Spuren Goethes „den Menschen genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen“ (GS IV, 61). Um sich lebendige Natur veranschaulichen zu können, braucht es ein Erkenntnissubjekt, das eben „aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes“ zusammengesetzt ist. Und die anschauliche Lebendigkeit von Lebewesen liegt noch allen Zuschreibungen anthropomorpher psychologischer Befunde voraus, die wir erst aus der Introspektion als menschliche Wesen kennen und die deshalb zunächst nur der menschlichen Stufe von Lebendigkeit attestiert werden können. Mit anderen Worten: Als „leibhaften“ Lebewesen könnten in uns Menschen auch Echo- und Resonanzphänomene gegenüber non-humanen Organismen auftreten, die uns Lebendigkeit anschaulich werden lassen und dann zu der „quasi-transzendentalen Frage“ führen nach den Bedingungen der Möglichkeit eben dieser anschaulichen Lebendigkeit von Lebewesen.

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5.1.4 Kritisches Korrektiv: Eine Architektonik des Wissens als Rahmenbedingung eines phänomenologisch-hermeneutischen Zugangs zur Natur Wie kann nun den Stolperfallen und Fallstricken eines sozusagen „überblähten“ Verstehens, das nicht nur – zunächst durchaus nachvollziehbar – Regenwürmern ein unmittelbar-anschauliches Schmerzverhalten attestiert, sondern sich in eine Welt zurückversetzt erlebt, „als die Natur noch sprach“ (Göttert 2019), und z.B. im Rascheln der Blätter von Bäumen Naturgeister zu vernehmen glaubte. Anthropomorphes „mimisches Ausdrucksverständnis“, d.h. Verstehen nach Maßgabe unserer Introspektion als Menschen, reicht allenfalls – auch in der Sicht Plessners, er „positioniert“ sich hier unmissverständlich – bis zu „unseren lieben Haussäugern“ (Krüger 1999, 42), und kann sicherlich nicht eine hermeneutische Naturphilosophie, die alle Organismen zu umfassen trachtet, begründen. Eine kritische „Begrenzung“ des dennoch unumgänglichen phänomenologisch-hermeneutischen Zugangs zur Natur findet sich in den Stufen – offensichtlich – durch konstruktivistische Rahmenbedingungen geleistet, die schon in der Dissertations- und Habilitationsschrift eingeführt wurden. In der Krisis und dann in den Untersuchungen hat Plessner sich – vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit dem Werk Husserls und Kants – „dem Anfangs- oder Prinzipienproblem sowie … dem Feldproblem“ der Philosophie, insofern sie System sein will oder zu sein hat, gestellt (Breun 1987, 67). Eine – wie schon erwähnt – sehr wohlwollende Rezension von Franz Kröner in seinem Buch Die Anarchie der philosophischen Systeme (1929) bringt die Erörterungen dieser frühen Abhandlungen, von Plessner selbst autorisiert (!), auf den Punkt: Kants Transzendentalphilosophie sei ein Denkansatz, „der zunächst frei konstruktiv einsetzt, ein System von synthetischen Grundsätzen entwirft, um an der ‚Erfahrung‘ oder an der Wirklichkeit erprobt zu werden“ (GS X, 312; vgl. Kröner 1929, 251f.). Der Gedanke eines frei vorausgesetzten Prinzips, eines Modells, das sich aber bewähren muss in der Überprüfung der daraus ableitbaren Hypothesen, scheint in den Stufen aufgegriffen worden zu sein. Als selbst-bestimmte Grundlage wird der Begriff der Grenze eingeführt, dient zur Bestimmung der Innen/Außen-Doppelaspektivität eines Organismus und damit verschränkt seiner Positionalität, seines Verhältnisses zur Umwelt. Unmissverständlich hat Plessner die Bedeutung dieses Konzepts für sein Opus magnum in dem Aufsatz Ein Newton des Grashalms? aus dem Jahre 1964 formuliert: Er habe den Versuch unternommen, „vom Phänomen der Begrenzung eines Körpers ausgehend am Leitfaden des Begriffs der Grenze die spezifischen Kennzeichen organischer Stufenfolgen logisch zu entwickeln“ (GS VIII, 260). Ein kurz nach den Stufen veröffentlichter Aufsatz mit dem Titel Das Problem der

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Natur in der gegenwärtigen Philosophie (1930) formuliert die Aufgabe so: „die Natur als das System der den Menschen in seinen spezifischen Leistungen ermöglichenden Bedingungen [zu, HA] erweisen“ (GS IX, 72, vgl. GS VIII, 390). Und eben dieses in den Untersuchungen eingeführte Konzept der Grenze wird zum Ausgangspunkt der „Deduktion“ apriorischer Merkmale der Lebewesen und zum Leitfaden der Entfaltung einer Architektonik der Stufenordnung des Organischen erhoben.21 Sein kritisches Korrektiv findet das vorausgesetzte Prinzip nun darin, dass es sich zu bewähren hat. Und hier können die frühen naturphilosophischen Schriften ins Spiel gebracht werden: Es muss sich ein „sondergebietsübergreifender Geltungsanspruch“ (GS I, 19), hier besser, stufenübergreifend, nachweisen lassen – in der Anwendung auf botanische und zoologische Sachverhalte. Das ist der Grund für den verblüffenden, manche Autoren auch irritierenden Sachverhalt, dass hier in einem philosophischen Werk auf Details aus dem Bereich pflanzen- und tierphysiologischer Daten und Modelle zurückgegriffen wird. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun zwei Stränge des Gedankenganges nach den einleitenden ersten beiden Kapiteln trennen: (i) die „logische Entwicklung“ der „spezifischen Kennzeichen organischer Stufenfolgen“ am Leitfaden des Begriffs der Grenze (Kapitel 3 und 4, Abschnitt 1 der Kapitel 5-7) und (ii) die „Erprobung“ des erläuterten „sondergebietsübergreifenden Geltungsanspruchs“ (restliche Abschnitte Kapitel 5–6).

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Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Erinnerung von Monika Plessner, die auch auf die herausragende Bedeutung dieses Begriffes im Denken ihres Ehemannes verweist: „An diesem Abend fragte ich ihn zum ersten Mal nach seiner philosophischen Anthropologie. Was ich zuerst lesen solle. ‚Wohl doch die ‹Stufen des Organischen›‘, meinte er. Er sei da nämlich vielleicht auf ein paar neue Gedanken gekommen.“ Und dann wird „die Bedeutung der Grenze zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt“ als die grundlegende Bestimmung des „Gedankenganges seines Hauptwerkes“ erwähnt (1995, 24).

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5.2 Naturphilosophie des Lebendigen am Leitfaden der „Grenze“: I. Der Übergang von unbelebten zu belebten Körpern – Innen/Außen-Doppelaspektivität und Positionalität der Lebewesen 5.2.1 Vorbemerkungen: Schwerpunkt und Gliederung der weiteren Untersuchung Um noch einmal zurückzublicken: Erwähnt erstmals von der Krisis-Schrift im Rahmen einer Erörterung der epistemologischen Beziehung von Erkenntnissubjekt und -objekt (GS I, 176), wird der Begriff der Grenze systematisch eingeführt in den Untersuchungen. Und dieses Konzept weist in nuce schon eine polar-dialektische Spannung von Innen und Außen auf, verdeutlicht an der räumlich-geographischen Metapher von Binnensphäre diesseits und zugeordnetem Umfeld jenseits der Grenze – ein-gegrenzt versus aus-gegrenzt. Die auf dieser Grundlage dann „entwickelten“ Wesensmerkmale des Lebendigen oder Organischen sind zwar – um vorauszugreifen – der Anschauung entnommen, müssen sich aber, um als apriorische und nicht nur indikatorische Merkmale gelten zu können, „deduzieren“ lassen, sich einfügen in eine Architektonik von Grenzverläufen. Im Vorwort zur zweiten Auflage wird das Unternehmen so skizziert: (i) Ziel der Abhandlung ist eine „apriorische Theorie der organischen Wesensmerkmale“, die sich nicht in einer bloßen „induktiven“ Aufzählung erschöpft, sondern den „Versuch einer strengen Begründung“ beinhaltet, (ii) der Weg zu diesem Ziel liegt in der Elaboration der „Bedingungen“, welche „in der Anschauung eines vorkommenden Gebildes erfüllt sein müssen, damit es als belebt angesprochen“, d.h. verstanden werden kann, und (iii) als Ausgangspunkt (Aspekt) dieser „regressiven Methode“ dient eine Hypothese: Lebendige Körper zeichnen sich – als ihrer Minimalbedingung – durch eine spezifische Begrenzung aus, die „Selbständigkeit“ gewährleistet (GS IV, 29f.). Auch dieser grundlegende Sachverhalt eines eigenartigen Grenzverlaufs physischer Körper als Lebewesen muss sich anschaulich aufweisen lassen, hat sich aber – so wäre zu ergänzen – zu bewähren als Leitlinie einer Systematik der lebendigen Formen (GS IV, 30). Es soll nun herausgearbeitet werden, ob und wie die in Kapitel 3 vorgestellte Theorie des Lebendigen, vulgo, der Lebewesen, in ihrer „Anwendung“ auf biologische Sachverhalte den Menschen als Eskalation einer Naturgeschichte verstehen lässt, nicht primär (!) durch irgendwelche Monopole ausgezeichnet, sondern als „Zuspitzung“ einer zentralistisch-geschlossenen, d.h. tierischen Organisationsform des Lebens. Aus dieser Zielsetzung heraus treten einige Abschnitte in den Vordergrund (Kapitel 3, 5–6), andere rücken eher in den

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Schatten (Kapitel 1, 2, 4, 7). Als Orientierungshilfen auf dem Weg durch den – wie schon erwähnt – sperrigen und verschachtelten Inhalt der Stufen dienen, erstens, das konstruktivistische Modell der Philosophie (und Wissenschaften) der frühen erkenntniskritischen Schriften und, zweitens, der Gedanke – der Einheit entlehnt – einer Domäne- bzw. Stufen-übergreifenden Strukturgesetzlichkeit als Aufgabe einer hermeneutischen Naturphilosophie. Mit anderen Worten: Das vorausgesetzte Modell eines Lebewesens im Sinne eines anschaulichen „grenzrealisierenden Körpers“ hat sich als Domäne-übergreifende Signatur zu bewähren, die Pflanzen, Tiere und Menschen in eine kohärente naturphilosophische Ordnung einzufügen und in diesem Sinn zu verstehen erlaubt.22

5.2.2 Die „Wesensstruktur“ von Dinghaftigkeit: Anschauliche Polarität von „Tiefenkern“ und „Mantel an Eigenschaften“ Gegen Ende des zweiten Kapitels der Stufen wird die grundlegende Zielsetzung der mehrere Jahre zuvor veröffentlichten Einheit knapp und treffend zusammengefasst: „Elementen, die der psychophysischen Vitalschicht des Menschen angehören, und die man unter dem Einfluß der Naturwissenschaft als körperliche bzw. seelische Eigenschaften angesehen hatte, war dadurch ein neuer Wert gegeben worden“. Die Stufen nehmen eine vergleichbare, aber umfassendere Perspektive der Betrachtung der Natur ein. Über die angesprochenen „körperlichen bzw. seelischen Eigenschaften“ des Menschen hinaus soll – wie zu zeigen sein wird – eine „Kategorienlehre der Biologie und ihrer Phänomene“ (GS V, 227) entwickelt werden, die „(material) apriorische Gesetze des Zusammenhangs zwischen Lebewesen und Welt“ formuliert, sozusagen eine „Umdeutung der Kantischen Verstandeskategorien zu Lebenskategorien“ (Pietrowicz 1992, 318f.). Im Gegensatz zur Einheit, die den Gegenstand ihrer Untersuchung „in der geisteswissenschaftlichen Erfahrung“ sozusagen schon „fertig“ vorfindet, beispielsweise Gemälde in Augenschein nehmen oder Partituren zu Gehör 22

Krüger (2017) hat einen fortlaufenden Kommentar der Stufen, sozusagen Zeile für Zeile, herausgegeben. Eine umfassendere Bezugnahme auf diese Schrift würde zu weit führen, schlussendlich in einem Kommentar des Kommentars enden. Explizite Verweise beschränken sich – abgesehen von der Einführung (H.-P. Krüger) – auf die Kapitel 8-9 (T. Ebke), 10 (R. Becker) und 11 (G. Lindemann), die den auch hier im Mittelpunkt stehenden Passagen des Plessner’schen Opus magnum gewidmet sind und dann auch im Literaturverzeichnis separat aufgeführt werden. Die umfangreiche Sekundärliteratur zu den Stufen wird ebenfalls nur in diesem Rahmen berücksichtigt.

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bringen kann, müssen die Stufen ihr Objekt der Betrachtung, lebende Dinge, erst noch bestimmen, um ihre Aufgabe, eine Naturphilosophie des Lebendigen, lösen zu können (GS IV, 124). In einer naiv-alltäglichen Einstellung, einer „natürlichen, vorproblematischen Anschauung“ nehmen wir Menschen es ohne Erstaunen hin, wenn jemand in einem Atemzug äußert, dass er Kreuzschmerzen habe („leibliches Dasein“), aber dennoch heute Abend ins Kino gehen werde (selbstbestimmte Handlung), also den Gesprächspartnern im Doppelaspekt einer „friedlichen Koexistenz“ von „leiblichem Dasein“ und „sittlicher Person“ bzw. Natur- und Kulturwesen erscheint (vgl. GS IV, 40, 71). Die Ausführungen zum Cartesianismus in Kapitel 2 der Stufen, verstanden als eine ideengeschichtliche Strömung, nicht im Sinne einer Exegese der Schriften Descartes’ (vgl. GS IV, 87), führen den Doppelaspekt des Innen / Außen ein, da – etwas platt zusammengefasst – die Kultur des Kulturwesens Mensch als eine Leistung der schöpferischen Innerlichkeit, des Ich, verstanden werden muss (GS IV, 100f, 103). In dieser Tradition bin aber zunächst – oder streng genommen – nur ich mir im Doppelaspekt einer Innen- und einer Außenwelt gegeben. „Noch ist unausgemacht“, so Plessner, an welchen sinnlich-anschaulichen Indizes ich – über mich hinaus – andere „Naturdinge“ als Lebewesen, charakterisiert durch Doppelaspektivität, überhaupt identifizieren kann (GS IV, 125). Diese Fragen bedürfen der Klärung, denn ohne „Naturdinge“, die sich als Einheit im Doppelaspekt ausweisen, gibt es „eben keine konkrete Philosophie der Natur“ (GS IV, 126). Als Ausgangspunkt dieser Aufgabe einer Bestimmung des Gegenstandes der Untersuchung überhaupt dient das „in seinem vollen Dingcharakter wahrgenommene Ding“ (GS IV, 128). Zunächst weisen alle Dinge, ob belebt oder unbelebt, insofern sie sich räumlich ausdehnen, ein Innen und ein Außen auf: ein Innerhalb / Diesseits und ein Außerhalb / Jenseits ihrer topographischen Begrenzung. Diese divergenten Aspekte eines Inneren und Äußeren als räumlicher Dimensionen zwei- oder dreidimensionaler Gebilde können – so Plessner – ineinander überführt werden, er ruft an dieser Stelle das Beispiel eines umgestülpten Handschuhs in Erinnerung, eine Manipulation, so müsste einschränkend ergänzt werden, die nur bei gewissen Hohlkörpern vorgenommen werden kann. Der weitere Gedankengang hängt aber nicht ab von einer „umstülpbaren“ Innen/Außen-Beziehung. Entscheidend ist die jedem Ding per se – ob belebt oder unbelebt – zukommende räumliche Begrenzung im Sinne einer Kontur oder einer Oberfläche gegenüber seinem Umfeld, die je nach Standpunkt des Betrachters Innen und Außen zu vertauschen erlaubt: Das Innere wird zum Äußeren und vice versa, wenn ich sozusagen die Seiten wechsle. In Abgrenzung von den angesprochenen räumlichen Innen- / Außengrenzen, wird nun danach gefragt, ob und wie an körperlichen Dingen

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divergente, aber nicht ineinander überführbare Konfigurationen „in den Bahnen der sinnlichen Wahrnehmung“ zur Erscheinung kommen können. In der Einstellung des „unverbildeten“, somit naiven Realismus des alltäglichen Lebens weist jedes vor den Augen liegende Ding, ob belebt oder unbelebt, diese Einsicht steht am Anfang der im dritten Kapitel entwickelten „These“ der Stufen, in der Anschauung neben einer Oberfläche und einem dadurch begrenzten Inhalt einen charakteristischen „Tiefenkern“ auf, eine „substantielle Kernigkeit“ und „zentrale Kompaktheit seines Wesens“, die sich in der Erscheinung (der Wahrnehmung) „offenbart und zugleich verhüllt“ (GS IV, 85). „Jedes in seinem vollen Dingcharakter wahrgenommene Ding erscheint … als kernhaft geordnete Einheit von Eigenschaften“ (GS IV, 128; der Unterschied von „zentraler Kompaktheit“ und „‚Mantel‘ der Erscheinung“ wird auch schon erwähnt im Rahmen einer Erörterung des Cartesianismus, vgl. GS IV, 85). Dieser Kern eines Dings der Erscheinung ist – natürlich – nicht ein räumlich definierter Schwer- oder Mittelpunkt, auch nicht eine bloße „Denknotwendigkeit“ aus dem Gedanken heraus, dass die Eigenschaften eines lebenden oder auch unbelebten Dinges doch irgendwie an ein Substrat gebunden, d.h. an etwas „aufgehängt“ sein müssen, das sich nicht selber wieder als Eigenschaft bestimmen lässt (eindrückliches Beispiel in von Uexküll 1957, 50). Vielmehr verdankt sich der Gedanke eines „Kerns“ einem „eigentümlichen Anschauungszwang“ (GS IV, 94), obwohl diese „substantielle Kernigkeit“ nicht in sinnlichen Qualitäten wie Gestalt, Farbe etc., ja, zur Anschauung kommt. Die sinnliche Seite eines Dinges der Wahrnehmung ist eben nur jeweils eine Seite dieses Dinges: „Was von dem Dinge reell erscheint und als Baum, Tintenfaß sinnlich belegt werden kann, ist selbst nur eine von unendlich möglichen Seiten (Aspekten) dieses Dinges“ (GS IV, 129). Reell ist ein bestimmtes Ding ausschließlich als „Abschattung“ präsent: In jeder Perspektive werden einige Eigenschaften verdeckt sein, ich kann sie aber jeweils in den Blick rücken, indem ich um den Körper herumgehe. Diese mit dem Phänomen der Abschattung notwendig verknüpfte – relativ triviale – Transgredienz eines sinnlich gegebenen Dinges nennt Plessner seine „Seitenhaftigkeit“. Und dieses „Merkmal“ gründet in einer weiteren – und weniger trivialen – Form von Transgredienz, die nicht um das Ding herum gelagert ist, sondern in das Ding hinein reicht („Tiefenhaftigkeit“ oder, GS IV, 219, „Kernhaftigkeit“) und den Zusammenhalt der „Abschattungen“ sozusagen gewährleistet. Beide „dingkonstituierenden Momente“, gehören „wesenhaft“ zusammen und sind strikt, um auf die eingangs angesprochene Fragestellung zurückzukommen, von den geometrisch-räumlichen Eigenschaften der Kontur und des Mittelpunktes eines Dings zu trennen, auch im Falle der Lebewesen, die in dieser Perspektive eben als belebte Körper anzusprechen sind (GS IV, 130f, 138). Der so skizzierte Gegensatz von ei-

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nerseits geometrisch-räumlich bzw. topographisch beschreibbarer Kontur, zentriert um einen Mittelpunkt, andererseits die Polarität von Kern versus Eigenschaften „in“ der anschaulich gegebenen Einheit des Dings, verknüpft mit zwei Koordinaten einer Transgredienz der reell ausschließlich gegebenen Abschattung, muss auch das grundlegende Gefüge von Lebewesen darstellen. Anders formuliert: Die Struktur von Organismen sollte sich als Elaboration dieser Konstellation ausweisen lassen. Fazit: Im Vokabular von Sinnesmodalitäten – auf einer sozusagen impressionistischen Ebene – beschreibbar ist nur die reelle Abschattung eines wahrgenommenen Körpers, darüber hinaus kommt jedoch anschaulich (!) „erzwungen“ (!) „ein geschlossenes, kernhaft solides Gebilde“ (GS IV, 137) als Ding zur Darstellung, dessen Dinghaftigkeit zu einer „gedanklichen Sonderung“ des Verhältnisses Kerngehalt / Eigenschaft von der sinnlich-materialen Wirklichkeit nötigt (z.B. GS IV, 132). Irgendwie muss Anschauung – auch wenn hier keine übersinnliche Wahrnehmung reklamiert werden soll – über die im Rahmen der üblichen Sinnesmodalitäten bereitgestellten Qualitäten hinausreichen. Ein Hinweis auf die den Sinnen verborgene Seite der Anschauung findet sich in dem folgenden Satz: Die sinnlich, d.h. „reell präsente Seite impliziert nur das ganze Ding und erscheint ihm eingelagert, obwohl weder für das ganze Ding noch für die Art und Weise des Eingelagertseins ein sinnlicher Beleg beizubringen ist“ (GS IV, 129f.). Plessner kann das Konzept eines impliziten Gedächtnisses noch nicht zur Verfügung gestanden haben, aber der Gedanke, dass „das ganze Ding“ implizite in jedem einzelnen Aspekt präsent ist, weist voraus in diese Richtung. Im aktuellen instanzialen Vorgang der Wahrnehmung eines Gegenstandes, der jeweils nur einen Aspekt als „Abschattung“ sinnlich zur Erscheinung bringen kann, ist auch die Erinnerung an viele weitere im Laufe der Zeit erlebte ähnliche oder unterschiedliche Aspekte des Umgangs mit eben dieser Art von Gegenständen gegenwärtig, lagert sich ein, um Plessners Wendung aufzugreifen, und führt deshalb sozusagen zwanghaft, d.h. unwillkürlich und spontan, dazu, dass wir beispielsweise einen Baum vor dem Fenster sehen (!) und „nicht bloß eine Summe von Farbendaten, zusammengehalten von einer Gestalt“ (GS IV, 128). In diesem „Überschuss“ der Anschaulichkeit eines Phänomens, „in dieser Transgredienz des Erscheinungsgehalts besteht die sinnlich nicht belegbare Weise der Zugehörigkeit des reellen Phänomens zum ganzen Dinge“. Mit anderen Worten: „Nur weil dieser Transgredienzcharakter das reelle Phänomen mitbestimmt, ist dieses mehr als ein bloßer Aspekt auf das Ding, ist es ein Aspekt, eine Seite des Dinges“ (GS IV, 130, vgl. 155, 177). Um eine Analogie aufzugreifen: So wie in der flüssig ausgeführten Tanzfigur eine erworbene und als implizites Gedächtnis abgespeicherte motorische Fertigkeit anschaulich zur Erinnerung kommt, sich bildlich-visuell

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darstellt, so veranschaulicht sich in der Erscheinung des Dinges – im Gegensatz zu einem Ensemble von ausgebreiteten Qualitäten – der vorausgegangene vielfältige Umgang mit den Aspekten sinnlicher Wahrnehmung im Verlauf der Zeit. Die anschauliche Gegebenheit von Dingen – in ihrer Dinghaftigkeit – könnte, in heutiger Terminologie, als eine erworbene perzeptuelle Fertigkeit der Organisation von Sinnesdaten bezeichnet werden. Diese Vorstellung klingt auch im Text Plessners an, wenn er schreibt, bei dem angesprochenen Kern-Eigenschaftsverhältnis „handle es sich um Deutung auf Grund gemachter Erfahrung, um eine bestimmte Erwartung auf Grund allmählich gestifteter Assoziationen, um den Niederschlag intellektueller, ja sogar urteilsmäßiger Bewußtseinsprozesse“. Vor diesem Hintergrund habe Substanz als ein „spät erworbener Begriff, der eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Dingen voraussetze“, zu gelten (GS IV, 134f.). An einer späteren Stelle der Stufen, im Rahmen von Erörterungen zur Sphäre des Tieres, kommt Plessner zurück auf den anschaulichen Kern von Dinghaftigkeit: „Zu den Daten der Sinne muß irgendein nicht selbst mehr sinnlicher und doch anschaulicher Rückhalt, Widerhalt, Hintergrund hinzukommen“ (GS IV, 321). Und er stellt nun ausdrücklich, im Einklang mit dem diskutierten Modell eines impliziten oder prozeduralen Gedächtnissystems, einen Bezug zum Verhalten her. „Was als Struktur der Haltbarkeit am Dinggebilde auftritt, ist in Wahrheit sein Bezug zur Motorik des Lebewesens, welches das Ding wahrnimmt“ (GS IV, 322f.). Anschaulichkeit beinhaltet, um eine schöne Metapher Plessners aus diesem Zusammenhang heranzuziehen, auch die „Griffigkeit der Dinge“ des jeweiligen Umfeldes. In anderen Worten: Mit dem anschaulich wahrgenommenen Gegenstand verknüpfen sich nicht nur perzeptuelle Antizipationen, sondern auch, in der Terminologie der Ecological Psychology, „motor affordances“ (z.B. Gibson 1986).

5.2.3 Organismen als lebendige, d.h. „grenzrealisierende Körper“: Positionalität und Innen/Außen-Doppelaspektivität Mit der Entwicklung einer nicht-räumlichen Innen/Außen-Beziehung des Körperdings, die sich als Polarität von Kern und Mantel an Eigenschaften darstellt, ist, so Plessner, eine erste Aufgabe gelöst: die Konvergenz zweier divergenter Aspekte – eben Kern und Mantel – als gegenständliche Einheit (!) in der Dinghaftigkeit zu veranschaulichen (GS IV, 136). Dieses Resultat „wird an Wert gewinnen“, wenn es gelänge, „Gegenstände ausfindig zu machen“, die sich nicht nur als Einheit divergenter Aspekte konstituieren, sondern – es geht ja immer noch darum, das Objekt der Analyse überhaupt

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erst zu identifizieren – eben diese Einheit als anschauliche Eigenschaft (!) darzustellen (GS IV, 136f.). Körper, die diese Bedingung erfüllen, nämlich, die Doppelaspektivität „eines nie erscheinenden, d.h. nie Außen werdenden Innen und eines nie Kerngehalt werdenden Außen“ als anschauliches Merkmal (!) zu veranschaulichen, heißen lebendig. Der Dreh- und Angelpunkt der anschaulichen „Genese“ von Lebendigkeit liegt in einer Verschiebung der Außengrenze des Körpers – hier taucht das räumliche Innen / Außen wieder auf – in sein Inneres hinein (kurz eingeführt in Abschnitt 5 des dritten Kapitels, um die Aufgabenstellung zu erläutern, später dann ausführlicher entfaltet).23 Die räumliche Grenze – Kontur, Rand, Oberfläche – ist, in den Worten Plessners, „nur das virtuelle Zwischen dem Körper und den anstoßenden Medien“, gehört somit „weder dem Körper noch den anstoßenden Medien allein an, sondern beiden, insofern das Zu-Ende-Sein des Einen der Anfang des Andern ist“ (GS IV, 154). Mit anderen Worten etwas zugespitzter formuliert: Obwohl eine ausmessbare Größe, ist die Kontur eines bloßen Dinges lediglich der Kontrast eines von der Umgebung abgehobenen Körpers. Ohne Kontrast zum Umfeld oder Hintergrund würde die Begrenzung ins Unsichtbare sich verlieren. Alternativ kann, und das soll den lebendigen Körper auszeichnen, die Grenze dem Ding selber reell (!) angehören, als Eigenschaft unter Eigenschaften: „sein Anfangen bzw. Aufhören ist unabhängig von außer ihm Seienden, obwohl die sinnliche Feststellung nicht in der Lage ist, diese Unabhängigkeit an sinnlichen Merkmalen direkt aufzuzeigen“ (GS IV, 154f.). Als bloßes Ding wird ein Körper lediglich im und durch Kontrast konturiert, als lebendiges Ding grenzt es sich ab oder, in den Worten Plessners, vollzieht seine Grenze, gewinnt die ihm eigene „Selbständigkeit“, das „In ihm selber Sein und Aus ihm selber Sein eines lebendigen Dinges“. Im Gegensatz zur äußeren Kontur eines Körperdinges gehört die Grenze eines Lebewesens ihm selber an, es ist „grenzrealisierender Körper“ (GS IV, 180) oder „ein körperliches Ding, welches seine Grenze realisiert“ (GS IV, 190). Dieser Sachverhalt wird in Abschnitt 2 des dritten Kapitels weiter entfaltet. „... der Körper ist die Grenze seiner selbst und 23

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In den Stufen finden sich, insbesondere Abschnitt 4 des dritten Kapitels, ausführliche Überlegungen zur Gestaltpsychologie als eines Versuchs, das „Phänomen des belebten Dinges“ zu verstehen. Plessner nimmt eindeutig Stellung: „Zur Kennzeichnung der spezifisch organischen Einheitsform reicht der Begriff Gestalt nicht aus“ (GS IV, 155f., 157). Diese inzwischen etwas aus der Zeit gefallene Debatte muss hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Ausführlicher wird der Gedanke der Einheit eines Organismus – im Gegensatz zu bloßer Gestalt – dann entfaltet in Verbindung mit dem Konzept des Organs über die Dialektik des polaren Begriffspaares Teil / Ganzes (Abschnitt 8, Kapitel 4, und Abschnitt 1, Kapitel 5).

des Anderen und insofern sowohl ihm als dem Anderen entgegen“ (GS IV, 181). Bemerkenswerterweise folgt an dieser Stelle die Bemerkung: „Der Terminus ‚sich‘ wird hier noch vermieden, da er später eine besondere Bedeutung zu übernehmen hat“ (GS IV, 181, 190). Eine ähnliche Einschränkung findet sich in Bezug auf ein anderes Hilfsverb: „Besser vermeidet man allerdings an dieser Stelle das Wort ‚haben‘, um es für einen besonderen Fall auszusparen“ (GS IV, 182). Offensichtlich sollen „sich“ und „haben“ reserviert bleiben für nachfolgende Eskalationsstufen von „Lebendigkeit“. Der „grenzrealisierende“ Körper sondert sich nicht nur von einem umgebenden Medium ab, sondern „schließt“ sich gleichzeitig der Umgebung gegenüber auf, wird dadurch mit ihr „in Verbindung“ gesetzt“, ist „über ihm hinaus“ (GS IV, 181). Umgekehrt muss – in gegensinniger Blickrichtung – der Körper, will er nicht in das umgebende Medium hinein zerfließen, sich in und zu sich sammeln, sich im wörtlichen Sinne er-innern, das Reflexivpronomen lässt sich hier nicht vermeiden. Dieses distinkte Verhältnis des belebten Körpers zu seiner Grenze soll am Phänomen der Haut veranschaulicht werden. Plessner selbst verwendet – allerdings eher beiläufig zu Beginn des vierten Kapitels – das Adjektiv „hauthaft“ (GS IV, 177) und spricht von einer „unsichtbaren Haut“, die die wirkliche Oberfläche umschließt (GS IV, 178; erste Bezugnahme auf dieses Organ, allerdings in anderem Kontext, GS IV, 96). Einige Seiten später wird dieses Bild nochmals aufgegriffen: „Stellt man sich die Grenze wie eine Haut vor, so liegt diese Haut um ihn, dem die Haut noch als ein Teil seiner körperlichen Existenz angehört“ (GS IV, 215). In unserer natürlichen und theoretisch-unverbildeten Einstellung gehört die Haut dem Körper an, ist selbst, soweit dürften die Inhalte des Biologie-Unterrichts in den „common sense“ eingesickert sein, ein Organ, hält einerseits den Leib zusammen, die einzelnen „Innereien“ an ihrem angestammten Platz, erlaubt aber dennoch „Zerrbarkeit, Dehnbarkeit, Biegbarkeit“ (GS IV, 178), andererseits bettet die Haut den Organismus in ein Umfeld ein, von der Schweißsekretion, wenn es heiß ist, bis hin zum Ausdruck von Befindlichkeiten. Um kurz zu rekapitulieren: Jedes Körperding weist ein Spannungsverhältnis zwischen einem inneren (!) substantialen Kern und einem ihn umgebenden Mantel nach außen (!) gerichteter Eigenschaften auf. Diese polare – unumkehrbare – Relation muss einerseits auch in einem Lebewesen erhalten bleiben, das weiterhin Körperding ist und bleibt, aber im Übergang zum belebten Ding doch andererseits eine Veränderung, besser, Erweiterung oder Eskalation erfährt. Dadurch dass nun dem Lebewesen die Grenze nicht mehr als bloße Oberfläche äußerlich ist, sondern eine Verbindung zum umgebenden Milieu stiftet, hat sich – dazu korrelativ – der belebte Körper zu gestalten bzw. einzustellen, so wie sich an der Haut die Anspannung oder Relaxation des Körpers widerspiegelt – in Abhängigkeit davon,

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ob eine aktiv-übergreifende oder passiv-gewährende Beziehung zum Umfeld besteht. In phänomenal-naiver Einstellung scheint tatsächlich die Haut den Körper unter diesen Bedingungen „in Form“ zu bringen und zu halten, auch wenn diese Einschätzung nicht oder nicht mehr dem Stand anatomisch-physiologischen Wissens entspricht. Vor diesem Hintergrund kann gesagt werden, dass der Körper eines Lebewesens „positioniert“, d.h. in eine Verbindung nach außen und eine Einstellung nach innen gebracht – oder gesetzt – wird. „In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität“ (GS IV, 184). Plessner führt den kritischen Begriff des Setzens ohne Bezugnahme auf den von ihm selber ins Spiel gebrachten Begriff des „‚hauthaften‘ Verhältnisses“ ein, vielmehr weist er darauf hin, dass die Phrasen „Über ihm Hinaus“ und „Ihm Entgegen“ dieselbe Bedeutung haben wie „außerhalb seiner gesetzt“ und „in ihm gesetzt“ (GS IV, 183). „Der Ausdruck setzen“, der allerdings durch die philosophische Tradition des Idealismus vorbelastet sei, „drängt sich an dieser Stelle geradezu auf.“ Aus dieser Synonymie heraus kann Plessner die Feststellung treffen: „Der bei den nicht lebendig erscheinenden Dingen lediglich als Richtpunkt, als X der Prädikate gegebene Kern erhält bei den lebendigen den Charakter des Gesetztseins“ (GS IV, 185). Das grundlegende Merkmal der Positionalität alles Lebendigen, das – als konstitutives Element – aus der „hauthaften“ Begrenzung lebendiger Körper anschaulich entwickelt werden kann, ist vor diesem Hintergrund wörtlich zu nehmen: „Ein Lebewesen erscheint gegen seine Umwelt gestellt“, d.h. eben positioniert oder gesetzt (GS IV, 186). Und wie schon dem substanzialen Kern aller belebten und unbelebten Körperdinge kommt auch der Positionalität aller lebendigen Dinge der Charakter einer phänomenalen Eigenschaft zu (GS IV, 184f.). Positionalität als anschaulich gegebene Eigenschaft (!) lässt sich ebenfalls am Beispiel der Haut veranschaulichen: Erröten verschränkt sowohl Expression von Befindlichkeit als auch Kommunikation mit dem Milieu des Lebewesens. Und wichtig im Zusammenhang des eben eingeführten Beispiels: Erröten ist eben nicht nur Veränderung an der Oberfläche des Körpers, sondern Stellungnahme zu einem Vorgang oder einer Aussage, die als unangenehm bewertet werden. In diesem Sinne bezieht der Organismus im „Über sich hinaus“ immer auch Position in einem z.B. sozialen Umfeld. Positionalität als Gesetztsein beinhaltet des Näheren, dass ein lebendiges Ding „nicht nur eine Stelle im Raum“ ausfüllt, vielmehr einen Ort hat, genauer, „es behauptet von ihm aus einen Ort, seinen ‚natürlichen Ort‘“ (GS IV, 186). Die Bilder unterschiedlicher Szenen einer Ortsveränderung können diesen Sachverhalt veranschaulichen. Auch ein Kieselstein im Bachbett wird – notgedrungen – seine Position in Abhängigkeit von der Strömung des Wassers wechseln (müssen),

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insofern seinen Platz verändern, aber dieser Wechsel der „Position“ geschieht nicht wie bei Tieren in Gestalt selbst-tätiger Fortbewegung von Ort zu Ort. Der sozusagen tierische Körper ist gekennzeichnet durch die Möglichkeit spontaner Mobilität. Aber wie sind dann die Pflanzen einzuordnen, die ihre Position nicht verändern können? Auch der Ort einer Pflanze ist – ähnlich dem Kieselstein im Bachbett – dem Zufall geschuldet, in der Regel nicht der Strömung des Wassers, sondern der des Windes, der z.B. die „Nasenzwicker“ eines Ahornbaumes irgendwo hinträgt. Aber die Pflanze setzt sich fest an dem Ort, an den es sie verschlagen hat, d.h. verwurzelt sich. Und in der Abgrenzung von der Pflanze wird dann die Positionierung des Tieres verständlich. Um im Bild des Setzens zu bleiben: Die Pflanze wird nur einmal gesetzt, schlägt dann Wurzeln, behauptet dann ihre so gesetzte Position gegenüber dem Umfeld, das Tier setzt sich immer wieder erneut fest, schlägt aber sozusagen nur transiente Wurzeln, beispielsweise von Nachtlager zu Nachtlager, von Jagdrevier zu Jagdrevier. Bildhaft ausgeleuchtet wird die positionale Bezugnahme tierischer und menschlicher Organismen auf ein Milieu auch am Beispiel der Bewegungsabläufe eines „lebendigen Körpers“ in der – schon erwähnten – Abhandlung Die Deutung des mimischen Ausdrucks aus dem Jahre 1925, zusammen mit Buytendijk veröffentlicht: Zur „Einheitsgestalt“ von Verhaltensweisen wie Greifen, Suchen, Drohen, Fliehen (GS VII, 79f.) gehört notwendigerweise mit „die Richtung auf die Gegenwelt einer gestalteten Umgebung“ (ebd., 80), d.h. diese motorischen Phänomene stellen nicht nur Bewegungen im engeren Sinn dar, Sequenzen von Exkursionen der Glieder eines Körpers, sondern vergegenwärtigen sich anschaulich als „Leibumweltrelationen“ (ebd., 81). An einem Beispiel illustriert: „Daß der Hund an mir emporspringt, ist objektiv konstatierbar; daß er mich freudig begrüßt, ist mir in seinem Gebaren als Richtungsform deutlich“ (ebd., 82). In diesem Fall ist er mir nicht ein „bloß sich Bewegendes, sondern ein sich Verhaltendes“. In der und durch die Positionierung ist ein Organismus „wesenhaft zum Übergehen bestimmt“ (GS IV, 188). Um im Bild zu bleiben: die Verbindung zum äußeren Milieu und der innere Zusammenhalt wandeln und entfalten sich. Im Rückblick zeigt sich nun, dass das positionale „Gesetztsein“ von Anfang an durch eine inhärente Dynamik ausgezeichnet war, die Plessner im Bild des Anhebens zunächst verdeutlicht hatte. „Setzen als Niedersetzen hat ein Aufgestandensein, ein Angehobensein zur Voraussetzung“ (GS IV, 183). Insofern wird Doppelaspektivität eigentlich nicht in eine ihr äußere Form der Zeit hinein auseinandergelegt, sondern stellt sich von Anfang als eine Bewegung, eine Entwicklung dar: Die Grenze des belebten Körpers, so Plessner, ist „Übergehen“ von der einen der beiden verbundenen Größen zur anderen (GS IV, 182). Dieses Übergehen vom „Aufgestandensein, Angehobensein“ zum „Setzen als Niedersetzen“ et vice versa

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(GS IV, 183) kann vielleicht auch, muss aber nicht als Wechsel der Körperhaltung oder gar als Ortsveränderung imponieren. Die nachfolgenden Ausführungen zu „Prozeßcharakter und Typenhaftigkeit des lebendigen Seins“ (GS IV, 187ff.) zielen beispielsweise ab auf Veränderungen im Verlauf des Lebenszyklus, die dann schlussendlich einmünden in Überlegungen zu „Altern und Tod“ (Abschnitt 5). Eine wichtige Konsequenz von Positionalität im Sinne des nach außen über sich Hinausgehens lebendiger Körper, d.h. der Positionierung gegenüber den anderen und – zunächst – fremden Dingen ist die Gestaltung eines Positionsfeldes, von Plessner eigentlich nur en passant angesprochen (GS IV, 252, 264). An diesem Konzept kann aber ein wichtiger Aspekt des „Gedankengebäudes“ verdeutlicht werden. Es wurde schon erwähnt, dass elementares Ausdrucksverhalten wie Erröten nicht nur die äußere Widerspiegelung einer inneren Befindlichkeit des Organismus darstellt, sondern eine Stellungnahme gegenüber der Umwelt beinhaltet – die Bewertung einer Äußerung oder eines Vorganges als unangenehmes Ereignis. Allgemeiner gefasst: Durch die Positionierung des Organismus werden die gegenständlichen fremden Dinge vielfältig hinsichtlich ihrer Valenz konnotiert. Und umgekehrt beeinflusst die Valenz den Impakt eines Gegenstandes auf den Organismus. Zu beachten ist, dass diese Vorgänge sowohl der Willkürmotorik als auch dem Ausdrucksverhalten des Tieres noch vorausliegen und auch schon den Pflanzen zukommen müssen.

5.2.4 Ausblick: Daseinsweisen des Lebendigen – Anschauliche Wesensmerkmale (Formidee, Entwicklungsstufen, Organhaftigkeit) Im Rahmen der Versuche einer „Definition des Lebens“ müssen indikatorische und konstitutive Wesensmerkmale belebter Dinge voneinander abgegrenzt werden – ein „häufig übersehener Unterschied“ (GS IV, 166f.). Die bloßen Indizes zeigen lediglich den „Habitus“ von Lebendigkeit an. Darunter sind zu verstehen „rein anschauliche Kriterien“, anhand derer in natürlich-naiver Einstellung Dinge als belebt, d.h. als Pflanzen oder Tiere identifiziert werden. Mit anderen Worten: Es handelt sich lediglich um „anzeigende Wesensmerkmale des Lebens“, die lediglich die Vermutung eines „wirklich lebendigen“ Körpers erlauben (GS IV, 177). Wichtige „Proxies“ von Lebendigkeit in diesem Zusammenhang sind eine gewisse Plastizität der Form eines Gegenstandes und die „regelmäßige Unregelmäßigkeit“ von Bewegungsfolgen, insbesondere von Rhythmen, z.B. eine gewisse „spontane“ Variationsbreite der Periodizität repetitiver Vorgänge (GS IV, 178ff.). Diese Schwankungen werden dann – meist zu Recht – als Zeichen

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einer gewissen „Indeterminiertheit“, eben als „Ausdruck“ von Lebendigkeit betrachtet, im Gegensatz zur „beschämenden Perfektion“ (Anders 1956/51980, 8) maschinell hergestellter Produkte aufgrund einer – idealiter – strikten Kontrollierbarkeit technischer Verfahren. Erst „das ‚vollständige‘ Auftreten“ der konstitutiven Züge des Organischen verbürgt „das wirkliche Vorhandensein eines Lebendigen“ (GS IV, 166f.). Aber sowohl die indikatorischen als auch die konstitutiven Wesensmerkmale gründen – „ohne selbst sinnlichen Charakter zu haben“ – auf anschaulichen bzw. phänomenalen Gegebenheiten, und auch die Modale des Organischen stützen sich „nur auf echt intuitive Sachverhalte, nicht auf irgendwelche Begriffe“ (GS IV, 167). Wenn Plessner (siehe oben) die bloß indikatorischen Merkmale von Lebendigkeit als „rein anschauliche Kriterien“ in natürlich-naiver Einstellung bezeichnet, dann ist darunter zu verstehen, dass sie nicht eingebunden sind in eine „apriorische Theorie der organischen Wesensmerkmale“, die „an Stelle der bisherigen Aufzählung [von Eigenschaften des Lebendigen, HA], die rein induktiv vorging, wenigstens den Versuch einer strengen Begründung“ machen müsse (GS IV, 158). Das dritte Kapitel hatte die These eingeführt, dass „das Phänomen der Lebendigkeit nur auf dem besonderen Verhältnis eines Körpers zu seiner Grenze beruht“ (GS IV, 175), kurz und prägnant: lebendige Dinge sind „grenzrealisierende Körper“ (z.B. GS IV, 180, 190). Auf dieses Phänomen der spezifischen Begrenzung eines lebendigen Körpers soll nun die im Vorwort zur zweiten Auflage angesprochene „regressive Methode“ angewendet werden, die „zu einem Faktum seine inneren ermöglichenden Bedingungen finden“ will (GS IV, 30). Zum Ende des dritten Kapitels hin wird dieses Vorgehen einer „Deduktion“ von Kategorien oder Modalen des Organischen ausführlicher entfaltet und an einem Beispiel verdeutlicht: „Wesensnotwendig für das Leben heißt für es möglichkeitsbedingend sein. Wenn sich also herausstellt, daß ein physisches Ding das [als Lebendigkeit, HA] bezeichnete Verhältnis zu seiner Grenze nur dann hat, wenn es die Weise der Entwicklung, der Reizbarkeit, der Vermehrung annimmt, so ist damit der Modalcharakter von Entwicklung, Reizbarkeit, Vermehrung erwiesen“ (GS IV, 175f.). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Kategorien oder Modale des Organischen, in Plessners eigenen Worten, „selbst nicht ableitbare, nicht logisch zu begründende, ursprüngliche Weisen der Realisierung“ eines bestimmten Grenzverhältnisses darstellen. Die Darstellung mehrerer apriorischer, aber dennoch anschaulicher Daseinsweisen des Lebendigen muss hier nicht im Einzelnen verfolgt werden. Es genüge deshalb hier eine kurze und geraffte Darstellung, so dass im weiteren Verlauf bei Bedarf auf diese „Anschauungen“ zurückgegriffen werden kann (ausführliche Erörterung in Mitscherlich 2007). (i) Gestaltidee (Typus): Organismen sind „wesensnotwendig Gestalt von

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einem bestimmten Typus, Ausprägung einer konkret in individueller Gestalt anschaubaren Formidee“ (GS IV, 192). Dadurch eröffnet sich ein Spielraum an Variabilität individueller Morphologie: „Indem das Individuum unter seiner Gestaltidee bleibt, was es ist, kann sich seine Gestalt verändern“ (GS IV, 194, 205). (ii) Entwicklungsstufen (Jugend, Reife, Altern): Ein lebendiges Ding kann aufgrund seines positionalen Charakters nur sein, indem es wird, „der Prozeß ist die Weise seines Seins“, es stellt sich notwendigerweise als Abfolge, als „Entwicklungskurve“ dar (GS IV, 187, 202, 228). „In der Entwicklung sind dem Leben Jugend, Reife und Alter a priori“ (GS IV, 206). Und im Verlauf dieser Phasen „reift das Leben dem Tod entgegen“ (GS IV, 209). Diese beiden apriorischen Merkmale von Lebendigkeit resultieren aus dem dynamischen Charakter von Positionalität als eines Übergehens, das sich über eine Dialektik des Werdens (GS VI, 187ff.) zu einer Entwicklung, zu einer Abfolge von Altersstufen entfaltet. Neben die dynamischen muss jedoch auch eine „statische Realisierungsform“ lebendiger Körper treten, die sich als eine Dialektik von Teilen (Organe) und Ganzheit (Organismus) äußert (GS IV, 213). (iii) Organhafte Gliederung: „Erfüllt wird diese Wesensforderung in der Gegliedertheit des Körpers in Organe, deren Gesamtheit er ist und denen er allen, einzeln und insgesamt, auch wieder gegenüber ist“ (GS IV, 230).24 Wenn nun Doppelaspektivität als grundlegende Eigenschaft lebendiger Körper „nur intuiert (erschaut) werden kann“, dann können sich die möglichkeitsbedingenden Modale doch auch „nur“ anschaulich aufweisen lassen (vgl. GS IV, 167, 183). Und vor diesem Hintergrund darf der Filmindustrie erhebliches argumentatives Gewicht zugesprochen werden. Die „hochentwickelte Maschine in Menschengestalt“ mit Namen Tom aus dem Film Ich bin dein Mensch (2021) ist äußerlich-morphologisch von unsereins nicht zu unterscheiden und im Bereich des Verhaltens mehr oder we24

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Es wird aus dem Text der Stufen heraus nicht so recht klar, wie das Phänomen der Bewegung sich zu den „konstitutiven Wesensmerkmalen des Organischen“ verhält. Im Rahmen der Erörterung der „Typenhaftigkeit des lebendigen Seins“ heisst es: „Lebendigkeit kündigt sich in voller Deutlichkeit für die Anschauung erst in der Bewegung an“ (GS IV, 187). Und noch zugespitzter formuliert: „Leben ist Bewegung, kann ohne Bewegung nicht stattfinden“ (ebd., kursiv im Original). Andererseits gelten erst besonders gestaltete, z.B. unstetig / stetige oder zielgerichtete Abläufe als „lebendige Bewegungen“, stellen aber dennoch nur indikatorische Merkmale des Organischen dar (GS IV, 178f.).

niger nur auffällig durch überragende mentale Fähigkeiten einerseits und eingeschränkte Empathie-Möglichkeiten andererseits, er könnte wohl dem Syndrom des „high-functioning autism“ zugeordnet werden. Im Falle von Tom würde sich berechtigterweise die Frage stellen, ob er nicht zur Wahl des Abgeordnetenhauses, die Geschichte spielt in Berlin, zugelassen werden sollte. Aber hätten wir die Gelegenheit gehabt, der „Montage“ von Tom in einer Produktionshalle beizuwohnen, dann hätte die Bereitschaft, ihm Menschenrechte zuzusprechen, sicherlich erheblich gelitten. Oder um neben der Daseinsweise des Lebenszyklus auch die Kategorie des Organismus in den Blick zu rücken: Wenn Tom nach einem Verkehrsunfall hätte operiert werden müssen, z.B. eine Schädeleröffnung bei Verdacht auf eine Blutung, und es wären Kabel und Platinen anstelle von Hirngewebe zum Vorschein gekommen, dann dürften wir kaum geneigt sein, ihn als einen Menschen anzuerkennen. Die angesprochene Situation wurde viele Jahre zuvor schon in einer anderen Filmproduktion dargestellt Ein Erdenbewohner muss auf einem weit entfernten Asteroiden eine 50-jährige „Gefängnisstrafe“ antreten, verliebt sich dort in einen Roboter, „that looks and acts like a woman“, und weigert sich nach seiner Begnadigung, zur Erde zurückzukehren, da er „Alicia“ nicht mitnehmen könne (Pinker 1997, 59). Daraufhin weiß sich der Kommandant des Raumschiffes, der ihn abholen will, nicht anders zu helfen, als dass er „reluctantly pulls out a gun and shoots Alicia in the face, exposing a tangle of smoking wires“ (eine etwas martialische Neuauflage von E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann). Mit anderen Worten: Wir scheinen der Meinung zu sein, dass ein Körper aus „protoplasm-like stuff“ bestehen muss, um als Organismus gelten zu dürfen (vgl. Putnam 61987, 403). Diese Überlegungen sollten illustrieren, dass zumindest die beiden Kategorien des Lebenszyklus und des organhaft gegliederten Lebewesens robuste Intuitionen darstellen, die anschauliche Bedingungen formulieren, wann einem Körper der Status eines Lebewesens oder eines Menschen zuerkannt werden darf. Weshalb stützen wir uns dann im Alltag nicht einfach auf die doch ebenfalls anschaulichen konstitutiven Eigenschaften von Lebendigkeit? Wenn wir auf der Straße zufällig und unvorbereitet einem menschenähnlichen Roboter begegnen würden, dann wären wir auf indikatorische Merkmale angewiesen, weil wir in dieser Situation nicht über das erforderliche Wissen verfügen, auf das sich die konstitutiven Merkmale stützen, z.B. Informationen zum Entwicklungsverlauf oder zur Organhaftigkeit des Körpers o.ä. Das Modal des Lebenszyklus wirft allerdings dann Schwierigkeiten auf, wenn sich der Blick über die – mit bloßen Augen – anschauliche Welt hinaus weitet, Probleme, die Plessner an einigen Stellen der Stufen auch erwähnt, aber mehr oder weniger doch nur beiseite zu schieben vermag. Im Bereich der Mikroorganismen ist zumindest das Wesensmerkmal der Ent-

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wicklung fragwürdig. Kann bei Bakterien und Myzelen von Reifung und Alterung gesprochen werden? Diese Lebensformen machen doch einen erheblichen Teil der Biomasse unseres Planeten aus und dürften am Anfang der Evolution gestanden haben. Dürfen diese Organismen dann außen vor bleiben? Allerdings sind sie nicht anschaulich gegeben und fallen deshalb nicht unter die Fragestellung der Stufenordnung, die bei der natürlich-naiven Einstellung alltäglichen Lebens einsetzt. Aber ganz zufriedenstellend ist diese Antwort dann doch nicht. Gegen Ende der Stufen findet sich eine gewisse Einschränkung bzw. Spezifizierung des Gedankens einer notwendigerweise typologischen Ordnung des Lebendigen formuliert. „Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch … unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt“ (GS IV, 365).25 Schlussendlich sei „der Charakter des Menschen nur an die zentralistische Organisationsform“ als Grundlage von Exzentrizität gebunden, nicht aber an unsere vertraute leibhafte Gestalt. Zumindest bestimmte extra-terrestrische Lebensformen der Science-Fiction-Literatur, die wie die berühmten „Marsmännchen“ irgendwelche Antennen am Kopf tragen und anstelle von Ohren Parabolspiegel aufweisen, sich aber sonst recht „menschlich“ verhalten, könnten, sofern wir je auf sie stoßen sollten, unserer Spezies oder wenigstens der Gattung Homo zugerechnet werden. Grundlegende Bedenken gegenüber dem Gedanken einer typologischen Ordnung der Lebewesen durch Gestalt- oder Formideen, Begriffe, die Plessner in diesem Zusammenhang verwendet, entstehen vor dem Hintergrund der Evolutionsbiologie. Hinter der Gestaltidee steht doch die Vorstellung (relativ) invarianter Merkmale der einzelnen Spezies. Aber in einer phylogenetischen Perspektive lösen sich Speziesgrenzen in diesem Sinne auf (vgl. Mayr 2001). Auch hier bliebe der Rückzug auf die anschauliche Lebenswelt: Bisher hat kein Zweibeiner ein vierbeiniges Wesen zur Welt gebracht. Aber – wie schon erwähnt – kann dieses Argument nicht so recht zufriedenstellen.

25

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Aber das Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen formuliert, als ironische Spitze gegen Scheler gerichtet, eine Einschränkung dieser morphologischen Spielräume: Zumindest der Vogelkörper scheint keinen „Schauplatz“ des Geistes abgeben zu können (GS IV, 18).

5.2.5 Zusammenfassung und Überleitung: Die Strukturgesetzlichkeit der Organismen als Grundlage des Verstehens „realer“ biologischer Sachverhalte Jeder Körper, ob belebt oder unbelebt, stellt sich in seiner anschaulichen Dinghaftigkeit als eine Polarität von „innerem“ Kern und einem Mantel „äußerer“ Eigenschaften dar, die sich in der Wahrnehmung von Gegenständen unwillkürlich und unabweisbar aufdrängt oder, ja, einfach anschaulich präsent ist. In Abgrenzung von Dinghaftigkeit als solcher zeichnen sich lebendige oder organische Dinge neben ihrer räumlichen Kontur durch eine „innere Grenze“ aus, können als „grenzrealisierende Körper“ gelten, die immer in einer Doppelaspektivität von Innen / Außen erscheinen und sich über ihre Äußerungen in einem Umfeld positionieren. Als illustrative Metapher dieser inneren Demarkationslinie wurde die Haut herangezogen, einerseits ein Organ unter vielen eines Lebewesens, andererseits eine Oberfläche, mit der sich ein Organismus gegenüber seinem Umfeld positioniert: Im Erröten ist das Äußere (Änderung der Gesichtsfarbe) als Ausdruck eines Inneren (Gefühl der Scham) präsent, der „grenzrealisierende Körper“ positioniert sich dadurch in einer Umgebung zunächst fremder Gegenstände, die auf diesem Weg zum vertrauten Positionsfeld umgestaltet wird. Über die Einführung der inneren Grenze kommt es mithin zu einer Eskalation der Kern/Mantel-Polarität von Dinghaftigkeit zur Polarität von Innerlichkeit und Milieu. Die Positionierung des grenzrealisierenden Körpers stellt eine inhärente Bewegung dar, vollzieht sich als Prozess und Entwicklung, erlaubt so, die apriorischen essentiellen „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ zu „deduzieren“: Typus, Lebenszyklus, Organhaftigkeit. Der entscheidende Gedanke, der nun von den Daseinsweisen der Lebendigkeit zu den Organisationsweisen der Lebewesen führt, wird sehr prägnant im ersten Abschnitt des fünften Kapitels formuliert: „Am Widerspiel der aus dem Wesen der Grenze erwachsenden Eigenschaften eines Körpers entfalten sich alle fundamentalen Merkmale der Lebendigkeit“ (GS IV, 253). Das war Aufgabe der Kapitel 3 und 4. Und nun – als nächster Schritt (Kapitel 5 und 6) – sind die „Bedingungen für die Vereinbarkeit der Wesenszüge der Lebendigkeit mit den Wesenszügen der physischen Dinglichkeit“ herauszuarbeiten. In anderen Worten: Wie werden die Daseinsweisen des Organischen sozusagen in Fleisch und Blut, mit Haut und Haaren, als Blatt und Stengel realisiert bzw. organisiert? Aus dem Konzept eines lebendigen Körpers, das vorausgesetzte Modell der kritisch-hermeneutischen Naturphilosophie der Stufen, charakterisiert durch Doppelaspektivität und Positionalität, wird im weiteren Verlauf zunächst eine Dialektik des Organs entwickelt (Abschnitt 1 des fünften Kapitels, anknüpfend an Abschnitt 6 des vorausgegangenen Ka-

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pitels) als Grundlage einer naturphilosophischen Einordnung der „Vitalsphäre“ von Lebewesen (Abschnitte 2–4 von Kapitel 5). Mit anderen Worten: Die vegetativen Funktionen des Stoffwechsels, der Umweltein- und -anpassung und der Fortpflanzung lassen sich „verstehen“ als Grenzverläufe oder Grenzziehungen eines Organismus. Auf der nächsten und höheren Ebene des Tieres erscheint erneut Doppelaspektivität, aber nun als Doppelaspektivität des „im Körper Seins“ und des „Körper Habens“. Auf dieser Grundlage wird dann versucht (Kapitel 6, von Abschnitt 2 an), die Sphäre des Tieres zu „verstehen“. Die angesprochene „Strategie“ tritt sehr deutlich zu Beginn von Abschnitt 2 des fünften Kapitels zutage. Im Rahmen einer kurzen Rekapitulation des Konzepts eines „grenzrealisierenden Körpers“ wird festgehalten, dass diese Grenze „absolut“ die „Eigenzone des lebendigen Körpers“ der „Fremdzone des angrenzenden Mediums“ einander gegenübersetzt (GS IV, 258). Der angesprochene Kontakt („Verbindung“), der sich nicht in beziehungslosem Nebeneinander erschöpfen kann, Positionalität war ja als „Vollzug“ gedeutet worden, muss als lebendige Grenze durch kontinuierliche Interaktion sozusagen fortlaufend vollzogen werden. Vor diesem Hintergrund wird der biologische Sachverhalt, kanonisches Lehrbuchwissen, verständlich, dass ein Organismus nur Bestand hat im fortlaufenden Antagonismus von Aufbau / Assimilation (anaboler Stoffwechsel) und Abbau / Dissimilation (kataboler Stoffwechsel) (GS IV, 258ff.). Und die zweite Organisationsweise des lebendigen Daseins, Einpassung in versus Anpassung an die Umgebung, lässt sich dann als „Pendantfall“ eines derartigen Antagonismus nachzeichnen, d.h. verstehen (GS IV, 266f.). Ungewöhnlich für eine philosophische Schrift werden in den Stufen auch Details der damals zeitgenössischen botanischen und zoologischen Literatur zur Sprache gebracht. Die Bezugnahme auf lebenswissenschaftliche „Fakten“ stellt sich in den Fußnoten nur unzureichend dar: Kapitel 4 umfasst zunächst nur zwei eher allgemeine Referenzen auf biologische Fachliteratur, Tenor: Zu dieser Thematik haben sich auch X und Y geäußert; Kapitel 5 beinhaltet immerhin fünf Verweise, aber im Text werden ohne Quellenangaben etwa ein Dutzend weitere Autoren genannt bzw. spezifische Erklärungsansätze oder Untersuchungsbefunde aufgegriffen: ein entwicklungsbiologisches Konzept von Wilhelm Roux: „Kampf der Theile im Organismus“ (GS IV, 256), Ektropismus (ebd., 260), Angepaßtheit versus Anpassung (ebd., 263f.), „dynamische Invariable“ (ebd., 265), die Kontroverse um Darwinismus und Lamarckismus (ebd, 269f.), Jakob (Johann) von Uexküll: „absolute Angepaßtheit“ (ebd., 270), „zellulärer Instinkt“ (ebd., 273), „spezifische Sinnesenergien“ (ebd., 274), Morphologie der Protisten (ebd., 283), offene versus geschlossene Form (ebd., 284), Überlegungen von Karl Ernst von Baer (ebd., 285) und Hedwig Conrad (ebd., 288), Arbei-

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ten von Gottlieb Johann Friedrich Haberlandt zu den „Reaktionsweisen auf äußere Reize“ bei Pflanzen (ebd., 289; Plessner nimmt Bezug auf das Handbuch der Allgemeinen Physiologie: Eine systematische Darstellung der Grundlagen sowie der allgemeinen Ergebnisse und Probleme der Lehre vom tierischen und pflanzlichen Leben von A. von Tschermak aus dem Jahre 1924 (Band 1), die einschlägigen Untersuchungen von Haberlandt zu den „Sinnesorganen im Pflanzenreich“ bzw. den „Einrichtungen für Reizleitung“ finden sich zitiert auf S. 425), Studien von Anton Hendrik Blaauw zu den „phototropen Wachstumsreaktionen“ (GS IV, 289; der Name des Autors wird im Text fälschlicherweise als „Blauw“ wiedergegeben), Plessner bezieht sich offensichtlich auf das Buch Die Perzeption des Lichtes aus dem Jahre 1909, Experimente von Erich Becher zu den „rein automatischen Bewegungen“ der „fleischfressenden“ Pflanzen (GS IV, 290; eine Quellenangabe findet sich in der von Lessing aus dem Nachlass Plessners herausgegebenen Vorlesung Elemente der Metaphysik aus dem Wintersemester 1931/32; vgl. Lessing 2002, 167), auch von Uexkülls Konzept eines „Funktionskreises“ wird schon im fünften Kapitel erwähnt (GS IV, 295).

5.3 Naturphilosophie des Lebendigen am Leitfaden der „Grenze“: II. Emergenz des Menschen aus der tierischen Organisationsform 5.3.1 Physische Realisierung der lebendigen Körper: Organisationsweisen – Lebenskreise Unter dem Begriff „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ hatte der vorausgegangene Gedankengang (Kapitel 3 und 4) offensichtlich die äußere, d.h. anschaulich-morphologische Form lebendiger Dinge, vulgo, Lebewesen, in den Blick gerückt. Gegenstand der Betrachtung waren die Organismen, wie sie sich auf der Ebene der „folk biology“ darstellen, als Pflanzen mit Stengel und Blättern, Vierbeiner mit Schnauze und Schwanz, als flugfähige Zweibeiner mit Federkleid etc. Erörtert wurden – auf dieser Ebene – die Variabilität der Gestalt in den Grenzen eines Typus und der Gestaltwandel im Verlauf der „life history“ eines Lebewesens als quasi-transzendentale anschauliche Bedingungen der Möglichkeit „grenzrealisierender Körper“. Zu ergänzen sind die beiden genannten dynamischen durch eine dritte, eine statische Daseinsweise, den „Systemcharakter des lebendigen Einzeldinges“ in Gestalt seiner Gliederung in Organe. Auch dieser Sachverhalt ist zunächst – ein gewisses Stück weit – Bestandteil der „folk biology“, bei-

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spielsweise kommen die Organe Herz und Magen durch Pochen an der Brustwand oder als Hunger- bzw. Völlegefühl anschaulich zur Erscheinung. Dieser Gesichtspunkt wird im ersten Abschnitt des fünften Kapitels wieder aufgegriffen, entfaltet in einer Dialektik des Organs als Vermittlung von Teil und Ganzem, aus der heraus sich der Organismus in ein Milieu eingebettet findet, in Gestalt mehrerer „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“ (GS IV, 249), die sich wiederum in eine pflanzliche und eine tierische Lebensform differenzieren (GS IV, 282). Der Organismus stellt sich einerseits als Vielfalt dieser seiner Organe dar, ist das Ensemble der im Anatomielehrbuch versammelten „Dinge“ – treibt nicht auch noch zusätzlich als spiritualisierter Doppelgänger sein Unwesen (GS IV, 248, vgl. 251). Aber andererseits muss auch an einem organhaft gegliederten Körper anschaulich ein „Tiefenkern“ von Dinghaftigkeit zur Erscheinung kommen, der Organismus ist „zugleich die für sich bestehende Mitte, das zentrale Eine, der Kern, der von allem Mannigfaltigen umschlossen wird“. Mit anderen Worten: Die alle Dinge auszeichnende Kern/Mantel-Polarität muss natürlich auch an einem lebenden Organismus aufbrechen: „Einheit für sich“ als Subjekt des Habens (eines Körpers) versus „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ (des Körpers) als Objekt dieses Habens. Aber der „Organcharakter des Teiles“ nötigt zu einer Erweiterung dieser Figur: als Organ repräsentiert jedes Teil auch das Ganze des Organismus. Als herauslösbare Bauteile würden die Teile nicht mehr als Organe, sondern nur noch als Dinge einer gewissen Beschaffenheit imponieren. Als Illustration mag der Sachverhalt dienen, dass in gewissen Grenzen Paläontologen aus einem fossilierten Knochenfragment das ursprüngliche Skelett zu rekonstruieren vermögen, d.h. der Bauplan muss in jedem Segment „stecken“, findet sich aber nicht unabhängig von den vielen einzelnen Segmenten vor, sozusagen zusätzlich in einem anderen Medium realisiert. Natürlich kann das Fundstück auch auf seine physikalisch-chemische Beschaffenheit hin analysiert werden, z.B. seinen Kalksalzgehalt, aber dann ist es als „Gestein“ und nicht mehr als Skelettbestandteil im Fokus der Betrachtung. Obwohl bei unmittelbarer Betrachtung, z.B. beim Blick in das Anatomielehrbuch, das Organ als ein distinktes „Modul“ imponiert, vermittelt – so Plessner – das Organ „der wirklichen Aktualität nach“ – in actu – die Einheit von Teilen und Ganzem als „das reine Hindurch ihrer ungeteilten Einheit und Geschiedenheit“ (GS IV, 249).26 Die sprachlichen Wendungen, in denen die Figur einer polaren Gegensätzlichkeit von Teil und Ganzem bzw. Einheit und Vielheit zu fassen ver26

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Plessner bezieht sich hier auf das Driesch’sche Konzept eines „harmonisch äquipotentiellen Systems“ (vgl. Driesch 41928). Allerdings kommt diese Eigenschaft Organismen nur in den frühesten Phasen der Ontogenese zu.

sucht wird, müssen hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Um Ton und Tenor der Erörterung zu verdeutlichen, sei beispielhaft eine Aussage wiedergegeben: „Diese Einheit gegenüber seinen Organen stellt der Organismus aber nur dar, weil er in den Organen zur Einheit vermittelt wird“ (GS IV, 247). Entscheidend ist hier, und führt dann zu einer näheren Bestimmung des „reinen Hindurch“, dass der Gedankengang zu einem „Konflikt“ führt, wenn das Begriffspaar „Mittel – Zweck“ ins Spiel gebracht wird (GS IV, 247, 250ff.). Kurz und in etwas einfachere Worte gefasst: Einerseits sind die Organe Mittel des Organismus, um sich in seinem Umfeld am Leben zu erhalten, insofern kann der Körper als Selbstzweck bestimmt werden, aber dieser Zweck erfüllt sich des Näheren doch darin, die Organe unversehrt zu bewahren, von Amputationen, Organersatz etc. einmal abgesehen, insofern sind ebenso die Organe sich Selbstzweck: sie treten in die Einheit des Organismus, um sich selbst am Leben zu erhalten (Plessners Rekurs auf teleologische Terminologie wird diskutiert in Haucke 2000, 80ff., und Ebke 2017, 124f.).27 Die Lösung dieser Problematik, in einfachere Worte gefasst, liegt für Plessner offensichtlich darin, Organe als eine biologisch reale (!) Manifestation der Positionalität lebendiger Dinge – „grenzrealisierender Körper“ – zu betrachten, eben nicht nur als begrifflich-konzeptuelle Strukturen, sondern auch als „physischer Träger der Vermittlung“ (GS IV, 253). Wohl etwas augenzwinkernd, aber nicht völlig verkehrt, merkt Plessner in einer späteren Abhandlung an, dass er auch als Vertreter eines dialektischen Materialismus hätte bezeichnet werden können (GS VIII, 260).28 „In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen“ (GS IV, 253). Bei der Erörterung von Organisationsweisen des lebendigen Daseins richtet sich der Blick aber nun nicht mehr auf die anschaulichen Daseinsweisen des Lebendigen, so wie es sich als Gestalt dem unbewaffneten Auge darbietet, sondern auf die Interaktionen der Organismen mit ihrer Umwelt. „Offen sind die Organe gegenüber dem Positionsfeld. So entsteht der Kreis des Lebens, dessen eine Hälfte vom Organismus, dessen andere vom Positionsfeld gebildet wird“ 27

Dieser auf den ersten Blick vielleicht merkwürdig wirkende Gedanke, dass die Organe den Körper als Mittel ihrer Selbsterhaltung einsetzen, sozusagen die Umkehrung der „normalen“ Verhältnisse, verliert etwas seine Fremdheit, wenn daran erinnert wird, dass für Richard Dawkins die Gene den Organismus als Mittel ihrer Replikation benützen (The Selfish Gene 1976/2016).

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Unter den Plessner-Exegeten scheint nur Hans Heinz Holz diese Perspektive eingenommen zu haben: „Dass Plessners Philosophie als Naturontologie zu lesen sei, darauf hat – in der Plessner-Gemeinde beinahe solitär – Hans Heinz Holz bestanden“ (Schürmann 2014, 20).

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(ebd.). Der entscheidende Schritt der Argumentation liegt darin, die dialektische Bewegung von Teil / Ganzem und Einheit / Vielheit auf die Struktur der Positionalität des Lebewesens zu projizieren. Mit anderen Worten: Am Organismus als einem lebendigen Ding kommt nicht nur die Kern/ Mantel-Polarität der Dinghaftigkeit zur Geltung, sondern natürlich auch die Positionalität eines Lebewesens gegenüber seinem Umfeld. Und in einem gewissen Sinne mag die Einheit (der Vielheit) eines Körpers als ein „In ihm hinein“ im Sinne einer „subjekthaften“ Zentrierung („Subjekt des Habens“) und die Vielheit (der Einheit) als ein „Über ihm hinaus“ im Sinne sozusagen einer „Objektivierung“ des „grenzrealisierenden Körpers“ in Gestalt seiner Organe („Objekt des Habens“) gedeutet werden (vgl. GS IV, 265) – allerdings doch mit einem gewissen Biegen und Brechen. Mit anderen Worten: Die durch Organe vermittelte Positionalität der Organismen – ihre Einbindung in einen „Lebenskreis“ – vermittelt auch in actu die Einheit der organhaft gegliederten Mannigfaltigkeit eines Lebewesens. Und diese Struktur muss an den realen Funktionen, an den physischen Leistungen der Organe aufgezeigt werden. Mit nochmals anderen Worten: Die Einheit / Ganzheit des Organismus in der Mannigfaltigkeit seiner Teile aktualisiert (!) sich in einem stofflichen und energetischen Kreislauf der Organe mit ihrem Umfeld. Mit dem in Kapitel 5 eingeführten Konzept eines „Lebenskreises“ von Organismus und Positionsfeld ist die Grundlage geschaffen, drei reale „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“, so wie sie sich wohl in den Biologie-Lehrbüchern der 1920er Jahren gefunden haben, nachzuzeichnen und in die Stufenordnung des Organischen einzugliedern: (i) Assimilation / Dissimilation, d.h. anabole und katabole Stoffwechselvorgänge, (ii) Einpassung / Anpassung des Organismus in / an seine Umwelt, (iii) Fortpflanzung und Vererbung. Neben die Trias an Daseinsweisen des Lebendigen – Gestaltidee / Typus, Entwicklungsstufen des Lebenszyklus, organhafte Gliederung – tritt eine schon an der Kapitelgliederung ablesbare Dreiheit von Organisationsweisen. Im Rahmen dieser Ausführungen greifen die Überlegungen Plessners – notwendigerweise – immer wieder zurück auf damals zeitgenössische Konzepte der Lebenswissenschaften (GS IV, 260, 263f., 269f.). Beispielsweise versucht er die Vorstellung einer vorgängigen Eingepasstheit der Organismen in ihre Umwelt aufgrund eines Bauplans, der sich das Umfeld sozusagen anverwandelt hat („primäre Stilideen der Natur“, GS IV, 264; vgl. GS IV, 314f.), mit der Annahme ihrer aktiven (Lamarckismus) bzw. passiven Anpassung (Darwinismus) an die Veränderungen des Milieus zu verbinden, eine in den 1920er Jahren durchaus noch nachvollziehbare, aber heute doch obsolete Debatte. Die Erörterungen zu den drei angesprochenen „Lebenskreisen“ sollen in ihrem Ton und Tenor wiederum durch ein Beispiel verdeutlicht werden. „In dem inneren

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Antagonismus assimilativer und dissimilativer Prozesse öffnet er [der Organismus, HA] seine Grenzen zum Stoff- und Energieaustausch mit der umgebenden Natur, der er als physisches Ding eingegliedert ist. In dem gewissermaßen äußeren, ihn als Gestalt angehenden Kreislauf in Angepaßtheit und Anpassung verwirklicht er die Synthesis von Positionalität und physikalischer Dinghaftigkeit … Er verwirklicht diesen Kreislauf in dem Antagonismus gleichsinniger und gegensinniger Stellung zum Positionsfeld, als die widerspruchsvolle Einheit, welche in und mit dem Medium und gegen das Medium, gefährdet und geborgen, im Kampf mit ihm und im Ausgleich zu ihm existiert“ (GS IV, 275f.). Der dritte „Lebenskreis“ kann nicht so recht auf die Struktur der Positionalität bezogen werden (GS IV, 254, 276 werden auch nur Assimilation / Dissimilation und Angepaßtheit / Anpassung erwähnt). Es bleibt schlussendlich bei dem Hinweis, dass es eine „Kette von Individuen“ geben muss, da sich in jedem Einzelnen die Entwicklung des Lebens totläuft (GS IV, 278). Nicht von ungefähr weist das fünfte Kapitel über die Organisationsweisen des lebendigen Daseins die Unterüberschrift: Pflanze und Tier auf. Die beschriebenen Funktionskreise des Stoffwechsels, der Anpassung und der Fortpflanzung bilden sich cum grano salis bei allen pflanzlichen und tierischen Lebensformen, einschließlich des Menschen, aus. Um einen handlichen Oberbegriff einzuführen, sollen diese lebens- und wachstumsnotwendigen und -fördernden Verschränkungen von Organismus und Umwelt als Vitalsphäre oder Vegetativum bezeichnet werden, Bezug nehmend auf das spätlateinische Verb vegetare („leben“, „wachsen“).

5.3.2 Offene und geschlossene Positionalität: Pflanzliche und tierische Lebensformen Die Stufen des Organischen geben eine Ordnung von Positionalität vor, die sich in eine (i) offene (Plantae) und in eine (ii) geschlossene Form (Animalia), entweder (ii-a) dezentralistisch oder (ii-b) zentralistisch strukturiert, auffächert. Vor diesem Hintergrund ist dann in einem weiteren Schritt die „Sonderstellung“ des Menschen in Gestalt exzentrischer Positionalität zu bestimmen, genauer, die Organisationsform unserer Spezies muss sich aus dieser Abfolge sozusagen zwanglos, um das Attribut „logisch“ zu umgehen, entfalten. Eingeführt wird dieses Konzept in Abschnitt 1 des letzten Kapitels: „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld“ (GS IV, 364).

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Und wird dieses Konzept in der Stufenordnung des Organischen verankert, dann „begreift man“, dass „die tierische Natur auf dieser höchsten Positionsstufe erhalten bleiben muß“ (GS IV, 363). Bemerkenswerterweise taucht schon in Kapitel 5 der Begriff der Exzentrizität auf, zumindest erstmals als systematischer Baustein des Gedankengangs: „Der Organismus ist in Beziehung zum Positionsfeld exzentrischer Mittelpunkt“ (GS IV, 265, 270). Qualifiziert nun jeder Organismus als Mensch? Um vorzugreifen: Erst eine Positionalität, die die Naturgeschichte von Pflanze und Tier „durchlaufen“ hat, die Vegetativum und Animalität – nicht pejorativ zu verstehen – in sich fasst, kann als exzentrische Positionalität im Sinne einer Auszeichnung unserer Spezies gelten. Aber jeder Organismus nimmt in seiner Umgebung eine Position der exzentrischen Mitte ein, insofern als er die ihn umgebenden Gegenstände zu einem Positionsfeld ordnet, das ihn selber mit einschließt. Die Menge der ihn umgebenden Gegenstände wird von einem Organismus zu einem Milieu gestaltet, sie sind ihm in unterschiedlicher Weise vertraut und zugänglich, sprechen ihn an oder stoßen ihn ab. Insofern ist ein Organismus nicht nur (räumlich) mittendrin in seinem Umfeld, sondern auch als Bezugspunkt der Evaluation und Konnotation (exzentrisch) herausgehoben. Als exzentrische Mitte ist der Organismus, um ein Bild zu bemühen, Wortführer in einer Konversationsgruppe, der er selber zugehört. Die grundlegende Trennung von offener (Pflanzen) und geschlossener Organisation (Tiere) wird in den beiden letzten Abschnitten von Kapitel 5 (Überschrift: Die Organisationsweisen des lebendigen Daseins – Pflanze und Tier) eingeführt, Schwierigkeiten mit der Einordnung von Mikroorganismen Rechnung tragend, räumt Plessner ein, dass „der Zwang zur Entscheidung im Sinne der Pflanze oder des Tieres“ erst mit dem „Übergang zur Mehrzelligkeit“ auftritt („‚potentielle Unsterblichkeit‘ der Einzeller“; GS IV, 282f, vgl. GS IV, 277). Überlappungen sowohl zwischen Pflanze und Tier (GS IV, 288, 301) als auch – später – zwischen dezentralistischen und zentralistischen animalischen Organisationsweisen (GS IV, 308) werden von Plessner ausdrücklich anerkannt – und nicht nur als „outlier“ betrachtet, sondern als sozusagen reale „Zwischenformen“ eingeordnet. Beispielsweise heißt es gegen Ende des fünften Kapitels: „Die Bipolarität der organischen Welt verhindert nicht gleitende Übrgänge zwischen den Extremen“ (GS IV, 301). Entwickelt wird die Dualität von offener und geschlossener Positionalität nun aus dem „radikalen Konflikt zwischen dem Zwang zur Abgeschlossenheit als physischer Körper und dem Zwang zur Aufgeschlossenheit als Organismus“, ein Konflikt, der jeden lebendigen Körper auszeichnen soll (GS IV, 283). Ein Ausgleich dieser zwei gegenläufigen Herausforderungen, „Abgeschlossenheit als physischer Körper“ versus „Aufgeschlossenheit als Organismus“, ist in zwei Formen möglich:

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„Findet der Ausgleich in offener Form statt, so liegt eine Pflanze vor, findet er in geschlossener Form statt, so zeigt das lebendige Ding die Merkmale des Tieres“. Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass offene und geschlossene Positionalität als apriorische Konzepte verstanden werden müssen, „ideell in der Organisationsweise streng voneinander geschieden“, und eben deshalb (!,?) sollen oder müssen sogar auch Übergangsformen vorkommen (GS IV, 283f.). Aber lässt sich der Dinghaftigkeit, auf die das Argument hier offensichtlich zurückgreift, „physischer Körper“ im Gegensatz zum Organismus, wirklich ein „Zwang zur Abgeschlossenheit“ zusprechen? Doch nur in dem Sinne, dass Dinghaftigkeit einen „Tiefenkern“ aufweist, der die Solidität und Robustheit eines Dinges veranschaulicht. Diese Ressource geht aber schon (siehe oben) in die Dialektik des Organismus ein. Wie kann dann der unmittelbar – ohne Zwischenschritte – sich anschließende weiterführende Gedanke einer vollständigen Disjunktion offener und geschlossener Lebensformen aus einem mutmaßlichen Konflikt zwischen der Figur des Organismus und der Dinghaftigkeit des „physischen Körpers“ abgeleitet werden (zu den argumentativen „Selbstwidersprüchen“ in diesem Zusammenhang vgl. Mitscherlich 2007, 156f.)? Vielleicht ist zu ergänzen: Glücklicherweise glückt diese Deduktion nicht so recht. Plessner nennt es ein „Wesensgesetz des Lebens“, dass mehrzellige Kreaturen „in jedem Fall dem pflanzlichen oder dem tierischen Organisationstypus“ zuzurechnen sind (GS IV, 282). Aber inzwischen gibt es gute Gründe anzunehmen, dass neben der Sphäre der Tiere und der Pflanzen ein drittes und gleichberechtigtes Reich eukaryotischer Lebewesen angenommen werden muss, nämlich die Pilze (Fungi). Die zwingende Ableitung, besser vielleicht, der Aufweis der Sinnhaftigkeit, das Verstehen eines inzwischen überholten Konzepts würde das Unternehmen einer Stufenordnung des Organischen doch in Frage stellen. Aber die Unterscheidung offener und geschlossener Lebensformen verlangt wohl – wie der weitere Gedankengang zeigen wird – nicht den Rückgriff auf die „Abgeschlossenheit“ des „physischen Körpers“: In Analogie zum lebendigen Ding als eines „grenzrealisierenden Körpers“ unter den Körpern überhaupt lässt sich das Tier unter den Organismen überhaupt als diejenige Kreatur bestimmen, die ihren eigenen Körper als Mittel einsetzt, auch eine Art nach innen verlagerter Grenze. Im Gegensatz zur Pflanze weist das Tier einen mittelbaren Bezug zu seinem Umfeld auf, in der Regel, aber nicht notwendigerweise, einhergehend mit Mobilität, d.h. der Möglichkeit zur Ortsveränderung. An dieser Stelle formuliert Plessner einen so einfachen wie ingeniösen Gedanken: Das Mittel des mittelbaren Bezugs zur Umwelt kann – natürlich – kein Interponat sein, kein zwischen Körperoberfläche und Umwelt eingefügtes und so hinzutretendes Substrat, sozusagen ein Überzug, vielmehr bedient sich

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der Körper seiner selbst als eines Mittels. „Die Aufgabe, welche der Organismus zu bewältigen hat, läßt sich also dahin zusammenfassen, zwischen sich und den Lebenskreis eine vermittelnde Schicht zu bringen, die den Kontakt mit dem Medium übernimmt … Welche Bedingungen sind zu erfüllen … Voraussetzung ist, daß dem Organismus nichts außer seinem eigenen Körper hierfür zur Verfügung steht“ (GS IV, 292f.). Offensichtlich wird an dieser Stelle wieder auf das Motiv der inneren Grenze zurückgegriffen. Beim Übergang zum lebendigen Körper stand dem Ding nur seine eigene Oberfläche als Haut zur Verfügung, um als Mittel der Äußerung, der Kommunikation, zu dienen, nun hat der lebendige Körper nur bzw. immerhin seine eigenen Organe zur „Hand“ als Mittel des Umgangs, der Interaktion mit der gegenständlichen Welt. Morphologisches Korrelat dieses Vermögens des tierischen Körpers, sich selber als eines Instruments zu bedienen, ist die „Bildung eines Zentrums real im Organismus“ (GS IV, 295). Unschwer zu erahnen wird an dieser Stelle auf das Konzept des Nervensystems zurückgegriffen, verklausuliert dargestellt als ein „Repräsentationsorgan“, das alle anderen Organe „in ihm vertreten sein“ lässt. Da der tierische Organismus wie alle Lebewesen aus einer Vielzahl an Organen aufgebaut ist, eine apriorische Daseinsweise des Lebendigen, erfordert der Einsatz dieser Organe als ein Mittel der Interaktion mit dem umgebenden Milieu sozusagen eine einheitliche Kontrolle, eben durch eine „reale zentrale Einheit“, d.h. ein „Zentralorgan“ (GS IV, 294). Demgegenüber weist die Pflanze keine (morphologische) Zentriertheit auf, ihr Gefüge folgt einem „Baukastenprinzip“ (vgl. GS IV, 284f.). Illustriert werden mag dieser Gedanke an einem Schienennetz, das durch Aneinanderreihung einiger weniger „Bausteine“ wie Gleise, Tunnels, Brücken, Bahnhöfe etc. beliebig erweitert werden kann, sofern keine Ländergrenzen berührt werden. Mit der Ausbildung eines „Zentralorgans“ tritt wieder eine dialektisch vermittelte Doppelaspektivität von Innen / Außen zutage – aber nun nicht mehr auf der Ebene des lebendigen Dinges als solchem, sondern des Organismus, eines in Organe gegliederten lebendigen Körpers. (i) Der tierische Organismus trennt sich „physisch“ in eine „das Zentrum mit enthaltende und eine vom Zentrum gebundene Körperzone“. Es bleibe hier dahingestellt, wo und wie – ob überhaupt – diese Unterscheidung im Einzelnen dann anatomisch abzubilden wäre. (ii) Dadurch gerät dieses Lebewesen in ein doppeltes Verhältnis zu seinem Körper: das „der Körper selber Sein“ versus das als Akteur „im Körper Sein“, der ihn dadurch als Leib hat, d.h. zu kontrollieren und instrumentalisieren vermag. Voraussetzung einer Beherrschbarkeit des eigenen Körpers ist eine „durchfühlbare Tiefenordnung von Empfindungen“ (GS VII, 120),

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eine bemerkenswerte Umschreibung von Propriozeption, d.h. der Wahrnehmung von Muskelspannung, Gelenkstellung etc. (iii) Aber dieses doppelte Körper-Verhältnis muss andererseits auch „Eines“ sein, da die „Distanz“ zum eigenen Körper „nur auf Grund völligen Einsseins mit ihm allein möglich ist“, sonst wäre es keine Distanz zum eigenen (!) Körper (GS IV, 303f.). Und diese Vermittlung ereignet sich „im reinen Hier“ (GS IV, 304) bzw. im „nicht relativierbaren Hier-Jetzt“ (GS IV, 305; ausführlichere Darstellung von Plessners „genuin eigener Variante der terminologischen Differenz zwischen Körper und Leib“ in Ebke 2017, 131ff.). Hier tauchen die schon bekannten Figuren wieder auf, der „Tiefenkern“ von Dinghaftigkeit, nun auf der Ebene des tierischen Organismus als „Subjekt des Habens“ eines Körperleibes oder „das Selbst“ imponierend (ebd., 304), die Doppelaspektivität des lebendigen Körpers in Gestalt des „Doppelaspekts von Körper und Leib“ (ebd., 303), eine dialektische Vermittlung von Einheit und Vielheit, in diesem Falle einer Dualität (ebd., 303), und der Gedanke einer in actu, d.h. im Vollzug präsenten Einheit (ebd., 304). Auf der Ebene des erst vitalen und vegetativen Organismus ereignete sich die Vermittlung „im reinen Hindurch“ (GS IV, ), an einer Stelle ist nun auch in Verbindung mit dem Tier vom „vermittelnden Hindurch [sic!, HA] konkret lebendigen Vollzugs“ die Rede (GS IV, 305), aber der Tenor der Ausführungen liegt doch offensichtlich auf dem zeitlichen Aspekt der Vermittlung: „Positional bildet ein Tier als einzelnes Ding, als Individuum ein Hier-Jetzt“ (GS IV, 305, 306). Über diese temporale Spezifikation der Vermittlung in actu wird, ohne dass es explizit erwähnt würde, an einen grundlegenden Topos der Philosophischen Anthropologie angeknüpft, der sich auch schon bei Scheler und dann z.B. bei Rothacker findet: der „Hier-Jetzt-Charakter“ des Lebens eines Tieres (GS IV, 306; vgl. z.B. Rothacker 1964/51982, 7: „gefesselt an den Pflock des Augenblicks“). Wichtig ist zu sehen, dass die Struktur von Doppelaspektivität und Positionalität des lebendigen Körpers sowohl auf der Ebene der offenen als auch der geschlossenen Organisationsform zum Vorschein kommt: (i) Vermittlung der Einheit des Organismus und der Vielheit der Organe im offenen oder geschlossenen Modus des vegetativen / vitalen Lebenskreises, (ii) Vermittlung von (Gesamt-)Körper und Leib im Vollzug des Aktionskreises von Wahrnehmung und Bewegung, an die Stelle der vegetativ / vitalen Organisationsweisen treten nun die sensomotorischen Funktionskreise des Verhaltens.

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Der Körper einschließlich „Zentralorgan“ bzw. das „Körper selber Sein“ wird von Plessner auch als „Gesamtkörper“ bezeichnet, der von dem „Subjekt des Habens“ im Körper und dem von ihm kontrollierten und instrumentalisierten Körperleib abzugrenzen ist. Die Leistungen einer Instrumentalisierung des Leibes, ein Gesichtspunkt, der natürlich auch „social display“ einzuschließen vermag, kommen eindrücklich in folgender Formulierung zur Darstellung: Dass ein Tier „den Körper beherrschen kann, weil es von ihm abgehoben, er zu ihm distanziert sein Leib ist, macht den Positionalitätscharakter des Tieres aus“ (GS IV, 305f.). Nun ist wie alle lebendigen Körper auch die tierische Organisationsform vegetativ präsent, als sogenannte Vitalsphäre des Lebewesens, eingebettet über seinen Stoffwechsel in eine Umgebung, beispielsweise ein- und ausatmend einen Kreislauf des Gasaustausches unterhaltend. Und bei uns Menschen sind diese vegetativen Leistungen im Erleben präsent als Körperbewusstsein oder Befindlichkeiten. Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, das Vegetativum einfachhin als den vorausliegenden Gesamtkörper einzuordnen. Aber in Plessners Gedankengang ist der Gesamtkörper mit „Körper Haben“ und „Selbst des Habens“ zu einer Einheit vermittelt. Diese auf den ersten Blick spitzfindig wirkende Unterscheidung hat durchaus eine gewissen Relevanz im Rahmen der Lebenswissenschaften. Einige entwicklungsgeschichtlich alte Hirnstrukturen des Menschen, die auch bei sogenannten niederen Wirbeltieren nachzuweisen sind, werden gelegentlich als „Reptiliengehirn“ bezeichnet. Durch ihre Einbindung in oder Vermittlung mit anderen Komponenten unseres Zentralnervensystems sind sie aber eben kein Reptiliengehirn mehr. Vielmehr stellt sich der tierische Körper – wieder in der Perspektive der Doppelaspektivität – simultan dar als sozusagen unverfügbarer vegetativer, lebender und wachsender Körper und als verfügbarer Gegenstand unter anderen, d.h. fremden Gegenständen. Noch ein letzter Aspekt des Aufbaus des Tieres als einer geschlossenen Organisationsform, eingebettet in einen Aktionskreis mit der Umgebung: Das Selbst „im Körper“, das den Körper selbst als Leib hat, d.h. beherrscht, wird von Plessner in einer schönen Formulierung auch als Impulsivität bezeichnet, sozusagen der Tiefenkern der Dinghaftigkeit auf der Ebene der tierischen Lebewesen. Im Bereich der Sphäre des Tieres tritt nun eine weitere Differenzierung zutage: Die „gegen das Umfeld fremder Gegebenheit“ ausgerichtete geschlossene Positionalität „öffnet zwei divergente Wege für die tierische Organisation“: ein dezentralistisches und ein zentralistisches Repräsentationsorgan (GS IV, 308). Wiederum ist unschwer zu erahnen, dass sich hinter diesen Formulierungen eine verklausulierte Beschreibung von zwei Typen eines Bauplans des Nervensystems verbirgt, die dann im weiteren Verlauf auch explizit als Nervennetz einerseits und Gehirn andererseits angesprochen werden (GS IV, 311, 319). Der sich anschließende Gedanken-

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gang (Abschnitte 2–7 des sechsten Kapitels) stellt im Wesentlichen eine Erörterung wahrnehmungs- bzw. bewegungsphysiologischer und tier- bzw. humanpsychologischer, also empirisch-lebenswissenschaftlicher Befunde und Erklärungsansätze dar. Diese „review“ damals zeitgenössischer Daten und Modelle muss nicht im Einzelnen herausgearbeitet werden, es genügt, den Duktus der Ausführungen – so wie er sich über das Kapitel hinweg darbietet – im Groben nachzuzeichnen. Um in eigenen Worten ein geometrisches Bild heranzuziehen: Mit der offenen und mit den dezentralistisch bzw. zentralistisch geschlossenen Lebensformen sind Koordinaten gesetzt, durch die eine Trajektorie gezogen werden kann, die dann zu der spezifisch menschlichen Variante tierischer Positionalität führen sollte. Zu Beginn des Schlusskapitels findet sich dieser Gedanke ausdrücklich in Worte gefasst. Auf der Ebene der Animalitas ist der Gesamtkörper „noch nicht vollständig reflexiv geworden. Noch nicht, d.h. eine Steigerung ist denkbar, die das lebendige Körperding auf eine positional höhere Stufe hebt, über die Stufe des Tieres hinaus. Nach demselben Gesetz, das den Stufenunterschied zwischen Tier und Pflanze bestimmt“ (GS IV, 360f.). Und der entscheidende Schritt gegen Ende des sechsten Kapitels besteht darin, in Abgrenzung von tierpsychologisch-primatologischen Daten, die kognitive Infrastrukur unserer Spezies herauszuarbeiten und in Beziehung zu setzen mit der uns allen schon bekannten Sphäre des Menschen: Unsereins kann „Ich“ sagen und unsereins als Personen anerkennen. Die Dualität zentralnervöser Organisation hat, einerseits, ein Korrelat auf der Verhaltensebene in zwei entsprechenden Formen der Zuordnung von Reiz und Reaktion eines Organismus, einer eher starren Beziehung ohne Bewusstsein einerseits und einer variablen, da überlernten Relation andererseits, gekennzeichnet durch „Ausgestaltung“ des Bewusstseins (GS IV, 312f.).29 29

Die Darstellung der Reiz/Reaktions-Beziehungen bei dezentralistischer und zentralistischer tierischer Organisation (Abschnitte 2 und 3 des sechsten Kapitels) stützt sich ausdrücklich auf das von Uexküll’sche Modell eines Funktionskreises von „Merkwelt“ und „Wirkwelt“ (graphisch reproduziert GS IV, 315, Original z.B. in von Uexküll 21928, 105, Abb. 3; zum „Echo“ der von Uexküll’schen Umweltlehre in den Stufen vgl. Ebke 2017, 140ff.), ein Autor, der dann im Verlauf dieser beiden Abschnitte vielfach namentlich genannt wird. An neurowissenschaftlichen Sachverhalten werden ausführlicher dargestellt die topographische Repräsentation des Körpers und der Sinnesorgane im Zentralnervensystem (GS IV, 324f.) sowie der Beitrag der Bogengänge des Innenohrs (!) zur Kompensation von „Lageverschiebungen des eigenen Körpers und der Außendinge“ (GS IV, 326). Darüber hinaus finden sich eingehender diskutiert ein – von Plessner zurückgewiesenes – Konzept von Julius Pikler, das mehrere Domäne-übergreifende und jeweils miteinander „verwandte“ Charakteristika der einzelnen Sinnesmodalitäten postuliert (GS IV, 322), und Untersuchungen zur „Vorstellungswelt“ von Insekten und Vögeln, insbesondere Experimente von Hans Volkelt an Spinnen, die eine „komplexquali-

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In Plessners Worten: „Umgehung des Bewußtseins im ersten, Ausnützung des Bewußtseins im zweiten Fall“ (GS IV, 313). Darüber hinaus gehen beide Varianten eines Zentralorgans mit einer unterschiedlichen Formatierung des Wahrnehmungsfeldes einher, sehr plastisch beschrieben in folgendem Absatz: Die Welt des dezentralistischen-geschlossenen Lebewesens besteht aus einem „Feld purer Augenblicklichkeit, das mit Signalen erfüllt ist, die aufblitzen und wieder verschwinden, die außerdem in ihrer Wirksamkeit ganz von Trieb und Trieberfüllung, Hunger und Sättigung des Organismus abhägen“, Gegenstände von anschaulich-haltbarer Dinghaftigkeit, d.h. ein Umfeld von Dingen neben- und nacheinander (GS IV, 317), können erst bei zentralistisch organisierten Formen in Erscheinung treten, in Verbindung mit einer „Totalrepräsentation des eigenen Körpers“ (GS IV, 317) und einer entsprechend entwickelten Motorik, die insbesondere eine „Empfindung der Griffigkeit“ zu vermitteln erlaubt (GS IV, 320ff.). Mit anderen Worten: Die niederen Tiere registrieren nur „Signale, punktuell-momentale Inhalte“, die höheren Arten nehmen auch „Dinge“ wahr, aber nur Objekte im Sinne „beharrender und harrender Komplexe von einer gewissen ‚Umgänglichkeit‘“ (GS IV, 323). Diese Dinge sind noch nicht von der Art der Gegenstände unserer menschlichen Vorstellungswelt, eher handelt es sich um – wahrscheinlich – drei-dimensionale Konfigurationen, die in erster Linie über Verwendungs- und Gebrauchsmöglichkeiten informieren. „Was als Struktur der Haltbarkeit am Dinggebilde auftritt, ist in Wahrheit sein Bezug zur Motorik des Lebewesens, welches das Ding wahrnimmt“ (GS IV, 322f.). Im Verlauf des weiteren Gedankenganges dienen diese Abgrenzungen als Ausgangspunkt der „Herleitung“ der spezfisch menschlichen kognitiven Infrastruktur. Mit anderen Worten: Es findet sich eine notwendige Koexistenz von zentralistischer tierischer Organisationsform und spezifisch ausgestalteter „dinglicher Gliederung“ praktisch-motorischer Provenienz des Wahrnehmungsfeldes (GS IV, 319). Vor dem Hintergrund der Ecological Psychology könnte auch von „motor affordances“ gesprochen werden (Gibson 1986). Zunächst soll aber noch eine abschließende Bemerkung zur Differenzierung tative Struktur des tierischen Wahrnehmungsbewußtseins“ belegen sollen (GS IV, 333ff.), im Gegensatz zu der nur uns Menschen zugänglichen „Ordnungsform der Dinglichkeit“ (GS IV, 334, vgl. VII, 114ff.). Der weitere Verlauf des sechsten Kapitels stützt sich vorwiegend auf die von Wolfgang Köhler durchgeführten „Intelligenzprüfungen“ an Menschenaffen (GS IV, 336ff.), unter Berücksichtigung kritischer Einwände des Psychologen und Theologen Johannes Lindworsky (GS IV, 347), ergänzt z.B. durch Experimente von Herbert Spencer Jennings an einzelligen Wimpertierchen. In diesem Rahmen wird auch namentlich Goldstein erwähnt: „die Arbeiten der jüngeren Generation (Goldstein, Gelb, Grünbaum, Pick u.a.)“, schließlich finden sich mehrere Autoren, die schon im vorausgegangenen Kapitel zu Wort gekommen waren.

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einer dezentralistischen und zentralistischen Organisation tierischer Lebensformen eingefügt werden. „Einen der beiden Organisationswege muß das Leben gehen, weil die Realisierung der geschlossenen Form nicht mit einem Zentrum überhaupt, sondern nur mit physischen Zellen, Zellkomplexen ganz spezifischer Struktur und Funktion abschließt“ (GS IV, 308). Aber wie schon beim Übergang von den Pflanzen zu den Tieren wird auch an dieser Stelle eingeräumt: „die Wirklichkeit wird zwischen beiden Extremen die mannigfaltigsten Übergänge zeigen dürfen“. Vor diesem Hintergrund macht es jedoch keinen überzeugenden Sinn, zwei distinkte „ideelle“ Typen eines Repräsentationsorgans zu unterscheiden. Die Realisierung der geschlossenen Form fußt, in den Worten Plessners, auf „Zellkomplexen ganz spezifischer Struktur und Funktion“, und diese Zellkomplexe kommen irgendwo auf einem Kontinuum „zwischen beiden Extremen“ zu liegen. Mit anderen Worten: Im Bereich der „Sphäre des Tieres“ findet sich eine Mannigfaltigkeit unterschiedlich komplexer Nervensysteme, wobei abhängig von der gewählten Metrik die Anordnung variieren könnte, und es ist nicht zwingend zu begründen, dass die „beiden Extreme“ als „Formideen“ zu gelten haben.30

5.3.3 Exzentrische Positionalität des Menschen: Das „Ich“ in den vorausgesetzten Grenzen der Daseins- und Organisationsweisen des Lebens Die Darstellung der zentralistischen Organisationsform des Tieres mündet ein in umfangreiche tierpsychologische, zeitgemäßer formuliert, ver30

Ausgehend von der grundlegenden Differenz menschlichen Daseins als Unmittelbarkeit des Leibsein und Mittelbarkeit des Körperhabens stellt Krüger (1999) fest: „Entwicklungsfähig sind Verhaltensarten, die das Leibsein und das Körperhaben miteinander verschränken. In derartigen Verbindungen beider Aspekte kann die Instrumentalität des Körpers oder die Expressivität des Leibes dominieren“ (ebd., 144; die Terminologie hier ist etwas anders gelagert als in den Stufen). Die „Expressivität des Leibes“ kommt paradigmatisch in Mimik und Gestik zur Darstellung, die sich – sichtbar, aber doch subtil unterschieden – in Bewegungsabläufen niederschlagen (ebd., 145). Demgegenüber scheint bei Krüger „Expressivität“ im sprachlichen Medium sich einzuschränken auf „Handlungsausdrücke und Ausdruckshandlungen“, die sich „symbolisch von der situativen Aktualisierung der Körperleibbewegungen ablösen“. In dieser Perspektive verschwindet aber der – höchst bedeutsame – Aspekt der affektiven Tönung sprachlicher Äußerungen, z.B. der Sachverhalt, dass ein und dieselbe Lautstruktur unmittelbar freudig oder traurig stimmlich-vokal moduliert werden kann, ein Unterschied der sich vor allem durch Intonation und Lautstärke zur Geltung bringt (emotive oder affektive Prosodie; vgl. Ackermann et al. 2004).

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haltens- und kognitionsbiologische Erörterungen, die sich insbesondere auf Köhlers Intelligenzprüfungen an Menschenaffen stützen. Der entscheidende Gedanke in diesem Zusammenhang ist, dass erst Mitglieder unserer Spezies sich Dinge im Vollsinn (!) vergegenständlichen können, während non-humane Primaten lediglich „komplexqualitative“ Szenen – auch wenn vielleicht sehr komplexer Ausgestaltung – zu erfassen vermögen („Mangel echter Dinglichkeit“; GS IV, 315).31 Dieser Gesichtspunkt wird zu Beginn des Abschnitts Intelligenz des Kapitels über Die Sphäre des Tieres so zusammengefasst: „Köhler war durchaus im Recht, den Tieren seiner Versuche echte Einsicht zuzuschreiben. Sie erfassen die Schwierigkeit an der gegebenen Feldstruktur und bewältigen sie durch Auswahl der in ihr steckenden Möglichkeiten. Nur unterscheidet sich diese Art Einsicht von der beim Menschen vorkommenden Einsicht in den Sachverhalt. Sie bleibt beim Tier Gestalterfassung, Überblick über einen Komplex gegebener Elemente des Umfeldes“ (GS IV, 343). Um diesen Gedanken zu illustrieren: Wenn in einem komparativ-verhaltensbiologischen Experiment ein Mensch und ein Schimpanse einen distinkten Gegenstand des Umfeldes fokussieren müssen, um eine Aufgabe lösen zu können, dann ist unsere Cousine lediglich in der Lage, den angesprochenen „Gegenstand“ sozusagen als den prominenten Aspekt der vorliegenden Szene hervor- und herauszuheben, als Träger von „motor affordances“, die zu einer Belohnung führen können. Aber sie vermag nicht, ihn als eine Sache oder als Sachverhalt darzustellen, in zeitgemäßer Terminologie, zu konzeptualisieren, d.h. in einer „language of thought“ zu formulieren (vgl. z.B. Fodor 1975). Mit anderen Worten: Das bloße Objekt von „motor affordances“ wird dadurch Gegenstand, dass es als Ensemble semantischer Merkmale begrifflich bestimmt, in einem allozentrischen raum-zeitlichen Koordinatensystem eingeordnet und als Folge einer Ursache bzw. Resultat einer Handlung vorgestellt wird. Diese Feststellung impliziert aber nicht, dass wir Menschen ausschließlich in diesem Modus überlegen und planen, im vertrauten Alltag reicht wohl meistens „komplexqualitative“ Orientierung aus: „Oft ist menschliche Einsicht ja auch nichts anderes, so wenn man z.B. einen Knoten aufzulösen oder sonst irgendeine Unordnung zu beseitigen hat“ (GS IV, 343). Die Nähe zu der von Goldstein, ausgehend von seinen Erfahrungen „am kranken Menschen“, eingeführten Unterscheidung von abstrakt / kategorialer und konkreter 31

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Das Konzept der „Komplexqualitäten“ geht zurück auf die Schule des Leipziger Psychologen Felix Krueger, auf dessen „Ganzheitspsychologie“ – nebenbei bemerkt – auch Gehlen zu sprechen kommt (z.B. GA I, 35). Ob das Prädikat „komplexqualitativ“, so wie es hier in den Stufen unter Rückgriff auf die zoologische Literatur verwendet wird (vgl. GS VII, 116), mit der Begrifflichkeit jener Tradition übereinstimmt (vgl. Krueger 1926, 1-121), kann hier dahingestellt bleiben.

Haltung liegt auf der Hand. Um vorauszugreifen: Dank des Vermögens der abstrakten Einstellung vermögen wir Gegenständliches als Instanz einer Kategorie ein- oder einem Symbol zuzuordnen. Unter „Gegenständlichkeit“ ist – Plessner zufolge – aber nicht nur die Fähigkeit zu verstehen, Dinge nach ihrer Ähnlichkeit in Klassen zu sortieren. Beispielsweise vermögen auch non-humane Lebewesen, nicht nur Primaten, auch Chinchillas (Wollmäuse) oder sogar Japanwachteln, zumindest einige kategoriale Lautunterschiede natürlicher menschlicher Sprachen zu diskriminieren (Kluender et al. 1987; Überblick in Hauser 1996, 534ff.). Auch Plessner gesteht die Fähigkeit „sinnlicher Abstraktion … als Erfassen von Ähnlichkeiten“ den tierischen Organisationsformen zu (GS IV, 344). Ein wesentlicher Mangel tierischer Intelligenz im Vergleich zu unserer menschlichen kognitiven Infrastruktur ist hingegen der „fehlende Sinn fürs Negative“ (GS IV, 340, 342, 343). „Echte Einzelheit und echte Allgemeinheit haben jedoch die Fähigkeit zur Voraussetzung, das Negative als solches zu erfassen, das Fehlen von etwas, den Mangel, die Leere. Homogene Raum- und Zeitanschauung, Hohlraum und Hohlzeit mit Leerstellen, die Ausfüllung mit konstanten Elementen ‚verlangen‘, sind infolgedessen mit echter objektiver Dingwahrnehmung und echter ideativer Abstraktion wesenskoexistent“ (GS IV, 347, vgl. 342). Plessner insistiert in diesem Zusammenhang auf einer strikten Separation non-humaner Lebensformen und unserer Spezies: (i) Das Tier ist nicht zu „echter objektiver Dingwahrnehmung“ in der Lage, da „konkret anwesende“ Dinghaftigkeit eben ein Abwesendes voraussetzt, die anschauliche, aber sinnlich nicht aufweisbare Kern/Mantel-Polarität (GS IV, 341). (ii) Dem Tier bleibt „echte ideative Abstraktion“ unzugänglich, da diese Leistungen vorsprachlich-anschauliche Schemata voraussetzen, die jeweils „nichts als eine scharf begrenzte Leere, ein umrissenes Negativum“ darstellen sollen (GS IV, 344). Nun vermögen – vor dem Hintergrund rezenter verhaltensbiologischer Daten – sicherlich auch non-humane Lebensformen „rudimentary concepts, ideas, and thoughts … about things, events, and situations in the world“ zu bilden und dann nicht-vokal, d.h. in Gestalt von Gebärden oder „icons“, zu kommunizieren, aber die „Konstruktion“ mentaler Modelle z.B. der Bewegung von Objekten „without direct appeal to perception“ dürfte tatsächlich ihre mentale Leistungsfähigkeit übersteigen (Hurford 2007, 5, 41). Plessners hier verwendete Metaphern wie „scharf begrenzte Leere“ oder „umrissenes Negativum“ scheinen sich eben auf vorgestellte oder gedachte Sachverhalte „without direct appeal to perception“ zu beziehen. Und in der

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gemeinsam mit Buytendijk verfassten Schrift aus dem Jahre 1925 ist davon die Rede, dass uns – aber nicht den Tieren – in einem wahrgenommenen Gegenstand eben auch „Unanschauliches“ mitgegeben ist, z.B. die antizipierte Flugbahn eines geworfenen Balls, und ein „nicht aktueller Ungegebenheitsrest“ vorliegt (GS VII, 86, 114). In diesen Überlegungen kommt der Unterschied von Perzeption (Anschauung) und Apperzeption (Deutung) der klassischen neuropsychologischen Literatur zum Tragen. Eine höchst bemerkenswerte Nuancierung taucht dann auf im Rahmen einer Erörterung der menschlichen Erinnerungsleistungen. Gedächtnisbildung ereignet sich nicht als „lückenlose Aufbewahrung und Abformung der erlebten Geschehnisse an der Kette ihrer wirklichen Verknüpfung“, sondern als Aneignung des Vergangenen „auf Grund seiner Artikulation bzw. Dekomposition in Elemente“ (GS IV, 356f.), ein Vorgang, der über Permutationen eben dieser Elemente dann neue konzeptuelle Beziehungen herzustellen erlaubt.32 Um auf das schon erwähnte Zitat aus dem Abschnitt Intelligenz des sechsten Kapitels zurückzukommen: „Köhler war durchaus im Recht, den Tieren seiner Versuche echte Einsicht zuzuschreiben. Sie erfassen die Schwierigkeit an der gegebenen Feldstruktur und bewältigen sie durch Auswahl der in ihr steckenden Möglichkeiten“ (GS IV, 343). Aber es bleibt eben bei den „in ihr steckenden Möglichkeiten“ einer Situation. Unsere kognitive Infrastruktur – so mögen hier Plessners Andeutungen weitergesponnen werden – weist hingegen schon sozusagen auf der Mikroebene eine prinzipielle Plastizität auf, die in einer inhärenten konzeptuellen Reformatierung von Erinnerungen gründet. Mit anderen Worten: Der Sinn fürs Negative ist auch ein Sinn fürs Mögliche und öffnet den Weg zu alternativen „ways of worldmaking“ (Goodman 1978). Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Stufenordnung des Organischen taucht nun „exzentrische Positionalität“ erstmals zu Beginn des Schlusskapitels auf. „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen seine Umwelt“ (GS IV, 364). Wie schon erwähnt, wird an einer früheren Stelle des Gedankenganges die „exzentrische Mitte“ eingeführt als der sowohl eingebundene als auch herausgehobene Ort eines Organismus in seinem Milieu des Positionsfeldes. Vor diesem Hintergrund kann vielleicht der Zusammenhang so formuliert werden: Exzentrische Positionalität ist die spezifisch menschli32

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Diese Gedanken hat Plessner in seiner Vorlesung Elemente der Metaphysik aus dem Wintersemester 1931/32, herausgegeben von H.-U. Lessing, 2002, vertieft; vgl. Becker 2017, 160f.

che Gestalt einer exzentrischen Mitte. Zu Beginn der Sphäre des Menschen wird exzentrische Positionalität vornehmlich, in den Worten von Habermas, als „Selbstreflexionsfähigkeit“ bestimmt (zitiert in Junge 1995, 140f.). Beispielsweise notiert Plessner: Das Tier „erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, … aber es erlebt nicht – sich. … der Gesamtkörper ist noch nicht vollkommen reflexiv geworden“ (GS IV, 360, vgl. 306). Und drei Seiten später ist dann zu lesen: Das menschliche Lebewesen „hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ‚hinter sich‘ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit“ (GS IV, 363). Und gegen Ende des Abschnitts wird exzentrische Positionalität schließlich auf eine weitere traditionelle anthropologische Bestimmung bezogen: Ein Individuum heißt dann Person (!), wenn dieses Lebewesen in eine dreifache positionale Relation eingebunden ist: „das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist“ (GS IV, 365). Der Begriff der exzentrischen Positionalität als Organisationsform des Menschen „ist mehr als jeder andere in Umlauf gekommen, nicht selten freilich wohl nur ob seines anmutenden Tiefsinns“ (Dux 1970, 294). Und dann liegt der Gedanke nicht fern, dass sich hinter dieser „ob ihres anmutenden Tiefsinns“ schillernden Bezeichnung vielleicht „nur“ geläufiges folkloristisch-psychologisches Alltagswissen verstecken könnte wie z.B. die Annahme, dass der Mensch Distanz zu sich selbst habe oder eben sich zu sich verhalten müsse: Alter Wein in neuen Schläuchen. Walter Schulz hat in seinem Opus magnum Philosophie in der veränderten Welt diese Vermutung in einer philosophiehistorischen Perspektive präzisiert und darauf aufmerksam gemacht, dass Plessner in der Bestimmung exzentrischer Positionalität auf die „idealistische Grundproblematik“ zurückgeht: „Das Ich setzt sich selbst ständig als das sich Setzende voraus“ (1972/72001, 435). Die angesprochene „idealistische Grundproblematik“ kommt in den Stufen sehr prägnant, beispielsweise in folgender Formulierung, zur Sprache: Als Ich ist der Mensch „der ‚hinter sich‘ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit“ (GS IV, 363).33 Und erst recht kommt dieser Sachverhalt schon in den frühen erkennt33

Dieser Topos tritt dann nochmals und ausführlich bei der Erörterung des zweiten „anthropologischen Grundgesetzes“ in Erscheinung, wird von Plessner in den Stufen auch schon vor der Entfaltung der Ordnung des Organischen im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus als einer ideengeschichtlichen Strömung („nicht nach dem historischen Descartestext gesprochen“; GS IV, 87) exponiert (Abschnitt 3, Kapitel 2). Beispielsweise heißt es dort: „Unmittelbarkeit der Icherfassung ist ebenso nur als vermittelte wie Einunddieselbigkeit des Ichseins nur kraft seiner Spaltung möglich und wirklich“ (GS IV, 89).

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niskritischen Schriften zum Vorschein. Der erste und noch missglückte Anlauf Plessners zu einer Doktorarbeit hatte sich mit dem Ich-Begriff von Fichte befasst (GS X, 308f.). Und am Ende des ersten Abschnitts der Untersuchungen kommt er auch etwas ausführlicher auf den Verfasser der Wissenschaftslehre(n) zu sprechen (GS II, 97–102). Unschwer kann dort die Rede vom Entschluss als Differential bzw. Übergang im Setzen einer Grenze als eine Metapher der Tathandlung Fichtes verstanden werden: Fichte „sah als Wesen der von Kant begonnenen Reform der Philosophie … die Begründung der Theorie in der Praxis an, nach der sich die ontologischen Verhältnisse zwischen den Begriffen und zwischen Begriffen und Objekten in ebenso viele Tathandlungen der Freiheit verwandeln mussten“ (GS II, 97).34 Vor diesem Hintergrund könnte – etwas ins Unreine spekuliert – der Strang der Entwicklung des Plessner’schen Denkens hin zu den Stufen so nachgezeichnet werden: Ausgehend von einer noch idealistisch-dialektischen Konfiguration der Grenze in den frühen philosophischen Abhandlungen, die etwas verdeckt die „Tathandlung“ Fichtes mit sich führt, wird dann in den Stufen eine Naturgeschichte als Stufenordnung von „Grenzverläufen“ des Organischen konzipiert, durch Substitution eines Grenzen setzenden Ich durch das Grenzen setzende Leben (vgl. Beaufort 2000, 189) – in Gestalt der einem Menschen vorgegebenen „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ und der „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“. Das naturphilosophische Momentum der Stufen läge dann darin, dass die vorneweg entwickelte und somit vorausgesetzte Struktur des Lebendigen – Doppelaspektivität und Positionalität des „grenzrealisierenden“ Körpers (Kapitel 3 und 4) – an den grundlegenden Sachverhalten der Biologie bzw. Lebenswissenschaften (Kapitel 5 und 6) aufgezeigt und nachgezeichnet werden kann – als Domäne-übergreifende Strukturgesetzlichkeit. Wenn sich nun im ersten Abschnitt des Schlusskapitels exzentrische Positionalität als „Selbstreflexionsfähigkeit“ oder als ein idealistisches Konstrukt von „Ich“ bestimmt findet, wird uns dann nicht doch nur „alter Wein“ der „folk psychology“ oder der akademisch-philosophischen Tradition „in neuen Schläuchen“ kredenzt? Es muss hier nicht im Einzelnen nachverfolgt werden, inwieweit jene Bestimmung der exzentrischen Positionalität tradierte Vorstellungen zur „Sphäre des Menschen“ erweitert oder 34

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Jan Beaufort (2000) hat den Einfluss von Fichtes Wissenschaftslehre(n) auf den „Denkweg“ Plessners ausführlicher untersucht: Es kann „kaum Zweifel darüber geben, daß Plessner mit seinem Begriff der Grenze ausdrücklich und mit voller Absicht an die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre anknüpft“ (ebd., 181). In den Stufen weicht Plessner dann allerdings ab von der Linie Fichtes, nämlich in der Antwort auf die Frage: „Wer oder was aber setzt die Grenze? Begrenzt der lebendige Körper sich selbst, oder ist die Grenzsetzung Akt eines Ich?“ (ebd., 194).

revidiert, beispielsweise vermag das Konzept der Exzentrizität des Menschen neues Licht auf die Phänomene des Lachens und Weinens als Grenzphänomene des Verhaltens zu werfen (die Abhandlung dieses Titels aus dem Jahre 1941 findet sich abgedruckt in GS VII, 201ff.). Als die entscheidende und maßgebliche originäre Leistung der Stufen hat vielmehr zu gelten, dass die „Sphäre des Menschen“, so wie im Schlusskapitel dargestellt, aus einer Naturgeschichte des Organischen emergiert. Und das Opus magnum würde keinen – intellektuellen – Schaden nehmen, wenn sich hinter exzentrischer Positionalität im Wesentlichen die traditionellen Konzepte „Ich“ und „Person“ verstecken würden und die anthropologischen Grundgesetze auch aus anderen Quellen geschöpft werden könnten. In erster Linie sind die Stufen daran zu messen, ob und wie es gelingt, die vorgegebene horizontale Sphäre des Menschen, seine kulturellen Leistungen und sein politisch-historisches Wirken, Gegenstand der Geschichts- und Geisteswissenschaften, mit der vertikalen Dimension der Philosophischen Anthropologie zu verfugen. Kann exzentrische Positionalität als Schlussstein der Stufenfolge des Organischen auch als der tragfähige Eckstein der Sphäre des Menschen dienen? Vor diesem Hintergrund stellt die gegen Ende des sechsten Kapitels umrissene spezifisch menschliche kognitive Infrastruktur das entscheidende Bindeglied oder das Scharnier zwischen der zentrisch geschlossenen Organisationsform des Tieres und der exzentrischen Positionalität dar, die dann im nachfolgenden Kapitel eingeführt wird. Erst auf der Grundlage einer Vergegenständlichung „komplexqualitativer“ Szenen und Ereignisse als Sachverhalte und deren Dekomposition und Rekombination im Rahmen der Gedächtnisbildung ist die „vollkommene“ oder „totale Reflexion“ des tierischen Organismus, des „Gesamtkörpers“, möglich (z.B. GS IV, 360), die unsereins erlaubt, „Ich“ zu sagen und unsereins als Person anzuerkennen. Neben den vegetativen Lebenskreis, in den Pflanze und Tiere eingebunden sind, und den sensomotorischen Funktionskreis tierischer Lebensformen tritt nun als weitere „Leibumweltrelation“ (GS VII, 81) die Mitwelt der durch „voll reflexiven Rückbezug“ ausgezeichneten Personen (Abschnitt 2 des Schlusskapitels; zusammenfassende Darstellung der „reflexiven Deduktion der Mitwelt“ in Lindemann 2017, 169ff.). Die Struktur des lebendigen Körpers muss auf allen „Stufen des Organischen“ auftauchen, um eine Domäne-übergreifende Signatur zu gewährleisten und dadurch eine sinnvolle Naturgeschichte zu gestalten. Der Tiefenkern von Dinghaftigkeit taucht auf der Ebene der Animalitas als Selbst des „Körper selbst Habens“ und als Akteur des sensomotorischen Funktionskreises auf, als Spontaneität und Impulsivität des tierischen Lebewesens. „Im unmittelbaren Beginnen lebt das Tier wesenhaft impulsiv, spontan bewegt es seine Glieder, agiert es und reagiert es auf Reize“ (GS IV, 307). Erst in der vollen oder „totalen“ Reflexion des Gesamtkörpers „ver-

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gegenständlicht“ sich dann, so wörtlich, die Impulsivität des tierischen Organismus zum „Ich“. Die tierische Natur bleibt dem Menschen aber im Übergang zur Exzentrizität erhalten: „Man begreift, warum die tierische Natur auf dieser höchsten Positionsstufe erhalten bleiben muß. Die geschlossene Form der Organisation wird nur bis zum Äußersten durchgeführt“ (GS IV, 363). Und diese „Durchführung bis zum Äußersten“ kulminiert eben nicht in irgendwelchen exklusiv menschlichen Merkmalen, als klassisches „Monopol“ kann die Sprache gelten, sondern stellt sich dar als Eskalation kognitiv-mentaler Fähigkeiten in den Bereichen von Intelligenz und Gedächtnis bzw., im Vokabular der Stufen, als Eskalation der zentralistisch geschlossenen Organisationsform des Tieres durch eine weitere Grenzsetzung im Rahmen der vorausliegenden Grenzen des Lebendigen in Gestalt von Vegetativum und Animalitas. Im Blick zurück auf die Vor-Stufen könnte – wie schon erwähnt – vermutet werden, die „ursprüngliche Einsicht“ Plessners, die ihn zur Konzeption der Stufen veranlasste, habe darin gelegen, dass sich anhand des Konzepts der Grenze die idealistische Konzeption von Selbstbewusstsein, die ihn zur Zeit der frühen erkenntniskritischen Schriften in Anlehnung an Fichtes Wissenschaftslehre umtrieb, als Ergebnis einer Naturgeschichte verstehen lässt. Durch den voraus-gesetzten Begriff der Grenze als Prinzip – oder Leitfaden – einer Naturgeschichte wäre dann schon zu Beginn eine idealistische Figur – Setzung im Sinne einer Tat-Handlung – versteckt anwesend, die dann als Agens movens die Entwicklung der Stufenordnung vorantreiben kann, um schlussendlich exzentrische Positionalität aus sich hervorgehen zu lassen. Exzentrizität wird „der Natur nicht abgelauscht“, ist nicht einfach das Ergebnis einer in Stufen organisierten Naturgeschichte, sondern „die bereits eingegangene Verpflichtung, die den Stufendurchgang ermöglicht“ (Schürmann 2014, 96). Und in philosophiegeschichtlicher Perspektive kann dann der Eindruck entstehen, das Werk Plessners enthalte „mehr Hegel als er zu erkennen gibt, mehr Dialektik als er entfaltet“ (vgl. Holz 2003, 160). Diese Deutung wird nahegelegt durch die etwas lapidare Einführung von Exzentrizität im ersten Abschnitt des Schlusskapitels: „Die volle Reflexivität ist dem lebendigen Körper auf der tierischen Stufe verwehrt. … Hier ist also noch die Möglichkeit einer Realisierung offen. Die These lautet dahin, daß sie dem Menschen vorbehalten bleibt“ (GS IV 361). Woher wissen wir um die Möglichkeit einer weiteren Realisierung, die dem Menschen vorbehalten bleibt? Doch weil beim Gang durch die Stufen des Organischen dieses Wissen mitgeführt hat. Bildlich gefasst: Nach einer langen und mühsamen Reise durch die Ordnung des Lebendigen, Stufe für Stufe, wird der Mensch zuletzt gewahr, wieder am Ausgangspunkt der Reise angelangt zu sein, und er nimmt seinen Platz, der ja noch frei ist, erneut in Besitz. Wenn nun Plessner zugutegehalten werden darf,

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dass er – im Gegensatz zu anderen Denkern seiner Zeit, erwähnt wird Heidegger – den Rückfall in eine „subjekt-zentrierte“ Anthropologie vermieden habe (Holz 2003, 141f.), dann muss sich die Figur der Exzentrizität allein aus der lebendigen Natur entwickeln lassen. Mit anderen Worten: Die Figur des Grenzen setzenden Ich darf nicht inkognito die Bewegung hin zur exzentrischen Positionalität gelenkt haben, vielmehr muss sozusagen eine Dialektik des Grenzen setzenden Lebens selbst den Umschlag von der zentrischen zur exzentrischen Lebensform verantworten. Wieder in eine philosophiegeschichtliche Dimension gebracht: Es geht um eine naturphilosophische Transformation von Hegels Philosophie des Geistes in „Positionsformen lebendigen Daseins“ (Krüger 2000). Auch wenn vielleicht etwas augenzwinkernd formuliert, in Gestalt ironischer Überzeichnung, so steckt doch mehr als ein Gran Wahrheit in der Aussage Plessners, entnommen dem Aufsatz Ein Newton des Grashalms? (1964), dass er in gewisser Weise als „dialektischer Materialist“ bezeichnet werden könnte, „weil die Analyse des Grenzphänomens eine strenge Folge von Widersprüchen zeigt, deren Auflösung jeweils mit dem Erreichen eines neuen Niveaus der Organisation verbunden ist“ (ebd., 260). Aber wenn in Gestalt der Exzentrizität „die geschlossene Form der Organisation nur bis zum Äußersten durchgeführt“ worden ist (GS IV, 363), dann sollte vielleicht an dieser Stelle nicht von dialektischem Übergang gesprochen werden, sondern ein anderes Bild verwendet werden: die „bis zum Äußersten durchgeführte“ tierische Natur unterläuft sich selber. Aber dann muss konsequenterweise die „Verkörperung des Geistes“ im Modus des Genitivus objectivus gelesen werden, der (lebendige) Körper treibt den Geist aus sich hervor, z.B. dadurch, dass die Eskalation der Sphäre des Tieres, vulgo, die Entwicklung des Gehirns, in unserer Spezies zu einer kognitiven Infrastruktur führt, die eine Welt konzeptualisierter Gegenstände schafft, die im Nachdenken und Erinnern imaginative Spielräume eröffnet. Aber dann wird die Naturphilosophie der Stufen zu Evolutionsbiologie.

5.4

Zusammenfassung – Plessner und Überleitung: Vom Konzept der exzentrischen Positionalität zur Aufgabe der Re-Positionierung in der philosophischen Biologie Goldsteins

In dem eben schon erwähnten Aufsatz Ein Newton des Grashalms?, ein Beitrag zur Festschrift für Josef König aus dem Jahre 1964, stellt Plessner im Rückblick fest: „Vielleicht war es wirklich ein glücklicher Griff von mir, das Grenzphänomen zum Ansatzpunkt einer Betrachtung zu machen“ (GS VIII, 261): Er habe den Versuch unternommen, „vom Phäno-

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men der Begrenzung eines Körpers ausgehend am Leitfaden des Begriffs der Grenze die spezifischen Kennzeichen organischer Stufenfolgen logisch zu entwickeln“ (GS VIII, 260). Die Durchführung dieses Gedankens erfolgt in den Stufen, seine „fundamentale als auch (einzige) systematische Grundlegung der philosophischen Anthropologie“, die „zeit seines Lebens maßgeblich bleibt“ (Pietrowicz 1992, 297). Und entlang der Leitlinie der Grenze – in der vertikalen Dimension der Philosophischen Anthropologie – arbeiten die Stufen „exzentrische Positionalität“ als das wesentliche Charakteristikum des Menschen – im Vergleich zu anderen Lebewesen – heraus (vgl. z.B. Krüger 2017, Kapitel 11). Natürlich führt diese „logische Entwicklung“ der „spezifischen Kennzeichen organischer Stufenfolgen“ (GS VIII, 260) in den Kapiteln 5 und 6 des Opus magnum nicht zu neuen lebenswissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern zielt darauf ab, das in den Kapiteln 3 und 4 vorgestellte Gefüge von Doppelaspektivität und Positionalität lebender Körper an den vorgegebenen und vorfindlichen Merkmalen pflanzlicher und tierischer Organismen nachzuweisen bzw. nachzuzeichnen. In Anlehnung an obige Interpretation der Einheit kann dieses Vorhaben so formuliert werden: Es geht um den Nachweis einer Domäne-übergreifenden Strukturgesetzlichkeit nun nicht mehr nur im Bereich der menschlichen Sinne, sondern über alle organischen Formen hinweg.35 Mit anderen Worten: Das Lehrbuchwissen der Biologie von Zellstoffwechsel (Assimilation – Dissimilation) bis zu hin zu den mentalen Vermögen höherer Wirbeltiere (Intelligenz und Gedächtnis) wird in ein naturphilosophisches „Korsett“ zu stecken versucht. Dieser Begriff soll hier nicht pejorativ verstanden werden, sondern – positiv konnotiert – Verankerung oder Abstützung andeuten: Das ja auch anschauliche Phänomen, dass unsereins zu sich „Ich“ sagen kann und unsereins als Person anspricht, wird als exzentrische Positionalität in einer Naturgeschichte verankert und eben dadurch abgestützt, d.h einer naturalistischen Deutung entzogen. Mit anderen Worten: Naturgeschichte „bis zum Äußersten durchgeführt“ unterläuft sich selber. Nur etwa eine Dekade nach der Veröffentlichung des Opus magnum schreibt Plessner in seinem Aufsatz Deutsches Philosophieren in der Epoche der Weltkriege aus dem Jahre 1953 (erweiterte Fassung einer 1939 erstmals erschienenen Abhandlung), gegen Schelers „vielgelesene kleine Programmschrift“ zur Philosophischen Anthropologie gerichtet, dass die Frage „Was ist der Mensch?“ heute nicht mehr „im Hinblick auf einen Kosmos, d.h. eine als feststehend angenommene Ordnung des Seienden und der Seinsregio35

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Der Gedanke einer übergreifenden Strukturgesetzlichkeit aller Stufen des Lebendigen scheint eine grundlegende Intuition Plessners darzustellen, die er schon in seinen Vorlesungen Anfang der 1920er Jahre vorgetragen hat; vgl. oben Anmerkung 6.

nen, eine Stufenordnung antik-mittelalterlichen Gepräges überdies, gestellt werden darf“ (GS IX, 285f.). Eine Retraktion der Stufen? Aber Plessners Opus magnum stellt eben keine Stufenordnung im Sinne einer Sprossenleiter vor, zuunterst die Sprosse der anorganischen Materie, darüber abgesetzt die Sprosse der Pflanzen etc. Eher handelt es sich um eine abgestufte Pyramide. Alle Arten weisen die „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ – Typus, Entwicklung, Organisiertheit – und die „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“ – Stoffwechsel, Ein-/Anpassung und Fortpflanzung – auf, unterscheiden sich jedoch in der Positionierung gegenüber ihrer Umwelt. Es geht somit nicht um eine Stufenordnung schlechthin der Organismen, sondern, vorsichtiger formuliert, um eine abgestufte Systematik von Positionalität als offener, zentralistisch- / dezentralistisch-geschlossener oder schließlich exzentrischer „Leibumweltrelation“ (GS VII, 81). Ausgangspunkt der Stufen ist eine Naturphilosophie des Lebendigen als eines „grenzrealisierenden Körpers“, der durch Doppelaspektivität und Positionalität gekennzeichnet ist. Die quasi-transzendentale Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Konstellation führt zur Elaboration der genannten „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ und „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“. Der tierische Körper weist natürlich ebenfalls diese Organisationsweisen auf, sozusagen als seine Vitalsphäre oder sein Vegetativum, „schließt“ sich jedoch ab gegenüber seiner Umgebung und vermag in Gestalt eines sensomotorischen Aktions- bzw. Funktionskreises sich wahrnehmend / verhaltend seinem Milieu entgegen- und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ermöglicht wird diese Lebensform dadurch, dass der Organismus spontan / impulsiv seinen eigenen Körper als Leib instrumentell und darstellend zu beherrschen vermag. Das Tier ist nicht nur vegetativ / vital präsent, sondern der Organismus (Gesamtkörper) spaltet sich – aber dialektisch vermittelt – auf in ein Selbst, das im Körper verortet ihn beherrscht, und den Leib als das Objekt dieses Habens. Die „Sonderstellung“ des Menschen liegt nun nicht in einem distinkten Monopol, das zu den Vermögen unserer Cousins, der Menschenaffen, hinzutreten würde, das meistzitierte Beispiel in diesem Zusammenhang stellt wohl die Sprache dar, sondern ist eher zu verstehen als eine Eskalation von Positionalität, gekennzeichnet durch den Übergang einer Umwelt „komplexqualitativer“ Szenen zu einer Welt konzeptualisierter Gegenstände und ermöglicht dadurch, dass geschlossene Positionalität „bis zum Äußersten durchgeführt“ wird (GS IV, 363). Am eindrücklichsten findet man wohl diesen Gedanken in der gemeinsam mit Buytendijk verfassten Abhandlung über Die Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) formuliert: „Nur die menschliche Umwelt ist eine Dingwelt von eigenem Gewicht ... Ihr Gegenpol ist das sich erfassende Ich, das Gegenbild der Dingheit … Sich als Person [und] Erscheinungen als Dinge faßt nur der Mensch“ (GS VII, 114). Auf der

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Ebene der Mikrostruktur menschlicher Kognition geht dieser Übergang einher, ein bemerkenswerter Gedanke Plessners an dieser Stelle, mit einer prinzipiellen Instabilität mentaler Funktionen: Im Nachdenken stützen wir uns auf Gedächtnisinhalte, die grundsätzlich Ergebnis einer konzeptuellen Dekomposition und Re-Kombination darstellen und so die Grundlage von Imagination darstellen könnten.36 Die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen war in Deutschland durch ein „obsessives Interesse“ an der Physiognomik gekennzeichnet, d.h. der Frage, „ob und wieviel Mentalität sich am Menschenkörper ablesen lasse“ (Schmölders 2000, 9, 22016, 197). Und Gehlen hat beispielsweise im Jahre 1931 festgehalten: „Die eigentlich repräsentative Literatur dieser Jahre sind … ihre charakterologischen, psychiatrischen, physiognomischen Leistungen“ (GA 1, 136). Plessner hat dennoch die Physiognomik kaum eines Blickes gewürdigt (Schmölders 22016, 196). Demgegenüber finden jedoch „menschliche Ausdrucksbewegungen und expressive Verhaltensweisen“ in seinem Werk erhebliche Beachtung, allerdings sei „dem menschlichen Handeln kaum Aufmerksamkeit gewidmet“ worden (Glastra van Loon 1995, 50). Ein auf den ersten Blick verblüffender Anwurf, werden doch zumindest die zentralistisch organisierten tierischen Lebensformen, im Rückgriff auf von Uexkülls Konzept eines Funktionskreises (GS IV, 315), durch die Möglichkeit des „Handelns“ charakterisiert: „es merkt ihm Entgegenstehendes und reagiert aus dem Zentrum heraus, d.h. spontan, es handelt“ (GS IV, 306). Und in der Sphäre des Menschen kommt natürlich Handeln prominent zur Geltung: Neben einer vertikalen Dimension, d.h. unsere „naturgewachsene Stellung in der Welt als Organismus in der Reihe der Organismen“, Gegenstand der vorliegenden Abhandlung, weist Plessners Philosophische Anthropologie eine horizontale Perspektive auf, die „Beziehung des Menschen zur Welt in seinen Taten und Leiden“ (GS IV, 70). Aber zwischen den sensomotorischen Mechanismen eines Funktionskreises von Wahrnehmung und Verhalten einerseits, auch wenn durch Spontaneität gekennzeichnet, und den historischen und kulturellen Leistungen der Menschen, genauer, der Menschheit (Kollektivsingular), andererseits klafft doch eine Lücke: unser alltägliches Verhalten „unterhalb“ der Taten, die Eingang in die Geschichtsbücher finden, und diesseits der Kunstwerke, die dann in die Museen gelangen. Ausgeblendet bleibt doch unser alltägli36

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Es sei hier – illustrativ – auf eine neurobiologische Parallele hingewiesen, um die – potentielle – Bedeutung dieses auf den ersten Blick unscheinbaren und, ja, eher nachteiligen Sachverhalts der Instabilität kognitiver Prozesse zu verdeutlichen: Die Aufgabe distinkter Areale des Gehirns von Singvögeln scheint darin zu liegen, aktiv Variabilität in den Aufbau einer Melodie zu „injizieren“, um raschere Anpassungen an veränderte Bedingungen eines Habitats zu erlauben (z.B. Kojima et al. 2018).

ches Bemühen um die Sicherung des Lebensunterhaltes und die Entfaltung gesellschaftlicher Teilhaben – auch nach Einschränkungen unserer Ressourcen z.B. aufgrund einer Behinderung, die eine Re-Positionierung unseres Lebens erforderlich machen kann. Und eben diese Lücke wird durch Goldsteins Lehre vom Aufbau des Organismus ausgefüllt durch eine ökologische Verhaltenslehre der „self-preservation“ und „self-actualization“. Am ehesten findet alltägliches Handeln bei Plessner – im Rahmen der frühen Schriften – noch Berücksichtigung in der Abhandlung Grenzen der Gemeinschaft: Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), die aber eher als „pädagogischer Traktat“, zu gelten hat, so die Rezension von Ferdinand Tönnies (1855-1936; abgedruckt in Eßbach et al. 22016, 353ff.), eines „Gründungsvaters“ der Soziologie in Deutschland.37

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Im Rahmen einer Philosophischen Anthropologie, die mit einer Theorie des Organismus einsetzt, stellt sich unumgänglich die Frage nach der Einbettung von Sprache in die körperlich-geistige Verfasstheit des Menschen und nach dem Verhältnis dieses „Wesensmerkmals“ unserer Spezies mit den Kommunikationsformen non-humaner Lebewesen. „Aber dennoch ist die Sprache bei Plessner nie ein zentrales Thema“ (Hennigfeld 1982, 182). An einem mangelnden Interesse überhaupt kann die etwas stiefmütterliche Behandlung dieses Gegenstandes nicht liegen, das zeigt schon ein Blick auf die Titel seiner Vorlesungen an der Universität Köln (vgl. Pietrowicz 1992, 158f.). Seine einschlägige Belesenheit in diesem Bereich kommt aber v.a. in der Einheit der Sinne (1923) zum Ausdruck, die eine längere Passage mit Ausführungen zu einer Vielzahl an Fragestellungen aus dem Bereich der Sprachwissenschaften beinhaltet. Die Stufen erörtern das Phänomen Sprache erst gegen Ende des zweiten anthropologischen Grundgesetzes – gerade mal über etwa eineinhalb Druckseiten hinweg (GS IV, 417f.). Unter den „Wesensmerkmalen des Menschen“ steht, so Plessner, die Sprache zu Recht „mit an erster Stelle“. Aber: Sprache stellt lediglich eine – wenn auch ausgezeichnete – Facette von „Expressivität“ dar, genauer, des Ausdrucks-, Mitteilungs- und Gestaltungsbedürfnisses als eines Grundzugs von Exzentrizität (GS VI, 399, vgl. GS IV, 417). Dennoch findet sich die Frage nach den Ursprüngen, Möglichkeiten und Grenzen verbaler Kommunikation des Menschen mehrfach aufgegriffen in Artikeln, die nach den Stufen zwischen Mitte der 1930er und der 1970er Jahre veröffentlicht wurden.

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Kurt Goldsteins Lehre vom Aufbau des Organismus: Ein – weitgehend – vergessener Beitrag zur philosophischen Anthropologie

6.1 Vorbemerkungen: Medizinhistorische Einordnung von Goldsteins wissenschaftlichem Werk In ihrer Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren stellt Anne Harrington (1996/2002, 27f.) ausführlich Leben und Werk von vier Proponenten eines holistischen Denkens im Bereich der Lebenswissenschaften vor, die während der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts den Schwerpunkt ihres Wirkens entfalteten: „den Biologen Jakob von Uexküll (1864–1944), den klinischen Neurologen Constantin von Monakow (1853–1930), den Gestaltpsychologen Max Wertheimer (1880–1943) – und den Neuropsychiater Kurt Goldstein (1878–1965)“. Beiläufig sei ergänzt, dass die Bezeichnung Neuropsychiatrie tatsächlich auf eine Reihe vor allem früher Arbeiten Goldsteins zutrifft, z.B. seine Abhandlung Die Halluzination: Ihre Entstehung, ihre Ursachen und ihre Realität (Goldstein 1912; vgl. Meiers 1968, v.a. 274ff.), spätere Veröffentlichungen, in denen sich dann seine eigenständige Variante eines „ganzheitlichen Denkansatzes“ ausbilden sollte, wären heute dem Fachgebiet der Neuropsychologie zuzurechnen. Der Ausgangspunkt der genannten Autoren lag weniger in einem gemeinsamen naturphilosophischen Konzept als vielmehr in einem affektiven Moment, in einem Gefühl des Unbehagens, genauer, in der Abneigung gegenüber einer „Maschinen-Theorie“ der Organismen, auch des Menschen, wie sie sich ab der 1840er Jahre als ein Leitmotiv der Lebenswissenschaften herausgebildet hatte (vgl. Harrington 1996/2002, 38ff.). Beispielhaft sei der Titel eines Vortrags von Rudolf Virchow (1821–1902) aus dem Jahre 1858 erwähnt: Ueber die mechanische Auffassung des Lebens. In dieser Rede heißt es: „Ueberall nur mechanisches Geschehen in ununterbrochener Nothwendigkeit der Verursachung und Bewirkung“ (Virchow 2010, 26). Eine „Maschinen-Theorie“ des Lebendigen wurde nicht nur als „Entzauberung der Welt“ erlebt, ja, erlitten, sondern das zugrunde liegende mechanistische Erklärungsmodell von Natur auch verantwortlich gemacht für kulturelle und politische Fehlentwicklungen im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, kurz, für die Entstehung einer als sinnentleert empfundenen „Maschinen-Gesellschaft“, die sich einseitig oder zuvörderst an technologischen Zielsetzungen und ökonomischen Sachzwängen ausrichtet, mit Deutschland als der „Maschinen-Nation“ par excellence (Harrington 1996/2002, 12, 58, 73). Goldstein

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selber malt zu Beginn der Abhandlung Human Nature in the Light of Psychopathology (1940/31951; im Folgenden als Human Nature (HN) referiert) in den dunkelsten Farben die unheilvollen Folgen des mechanistischen, in seinen Worten, atomistischen, analytischen bzw. zergliedernden („dissecting“) Denkens für den einzelnen Menschen aus: „Along with the immense specialization of the sciences there occurred a marked disintegration of the life of the individual. Increasing rationalization and systematization produced a chaotic state which forced the human being into an existence that became more and more unsuited to his nature“ (HN, 3). Wenn in diesem Zusammenhang angemahnt wird, Wissenserwerb in den Dienst einer Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen zu stellen, dann muss der Gerechtigkeit halber ergänzt werden, dass der oben schon erwähnte Virchow, obwohl ganz dem mechanistischen Denken verpflichtet, als Sozialmediziner und -politiker eben auch diese Zielsetzungen verfolgte. Es mag überzogen sein, die Jahre 1840 bis 1914 als das „goldene Zeitalter der Medizin“ (Gerste 2021) zu bezeichnen, aber auch Antisepsis und Anästhesie, die doch wohl in einem Zusammenhang mit dem inkriminierten mechanistischen Denken stehen, haben einen Beitrag zur „Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen“ geleistet. Nun gehört Goldstein zweifellos zu den herausragenden Vertretern der Nervenheilkunde des 20. Jahrhunderts in Deutschland, insbesondere darf er – auch auf der internationalen Ebene – als einer der Begründer der Neuropsychologie gelten (Luria 1966). Die Liste seiner Veröffentlichungen umfasst mehr als 300 Einträge, darunter Arbeiten zur Anatomie des sich entwickelnden und des adulten menschlichen Zentralnervensystems, dann Untersuchungen zur Entstehung von Halluzinationen, zur Symptomatologie und Rehabilitation von Sprachstörungen und anderen Funktionseinbußen nach erworbener Hirnschädigung, zur Regulation von Muskeltonus und Gleichgewicht, zu den mentalen Folgen von operativen Eingriffen am Stirnhirn, zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten bei schizophrenen Patienten etc. etc. Darüber hinaus finden sich in seinem Werk ab Mitte der 1920er Jahre aber auch Reflexionen über die Beziehungen von Biologie und Psychoanalyse, dann Bemerkungen zur „ganzheitlichen Betrachtung in der Medizin“, zur Bedeutung von Psychotherapie und Psychosomatik im ärztlichen Handeln, zur Psychopathologie von Emotionen, insbesondere Angst, und zum Verstehen affektiv / motivationalen Ausdrucksverhaltens (Meiers 1968). Hervorzuheben sind in diesem Rahmen schließlich zwei Monographien, die ausgehend von Beobachtungen an Patienten mit erworbener Hirnschädigung, insbesondere Soldaten, die im Verlauf des Ersten Weltkrieges Schuss- oder Splitterverletzungen im Bereich des Kopfes erlitten hatten, die „Natur“ des Organismus im Allgemeinen bzw. des Menschen im Besonderen zu erhellen versuchen:

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Der Aufbau des Organismus – Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, erstmals 1934 erschienen (im Folgenden als Aufbau (AO) referiert), und die schon erwähnte Schrift Human Nature (1940/31951). Auch von Monakow war – in den Worten von Harrington – „klinischer Neurologe“, beschäftigte sich wie Goldstein mit der „Lokalisation der Hirnfunktion“ und dem „Abbau der Funktion durch kortikale Herde“, um auf zwei Buchtitel dieses Autors Bezug zu nehmen. Die Exklusivität Goldsteins in der Reihe der Wissenschaftler, die sich um die Jahrhundertwende auf „die Suche nach Ganzheit“ begeben hatten, liegt aber darin, dass sich seine Überlegungen zum Aufbau des Organismus insbesondere auf Erfahrungen mit neuropsychologischer Diagnostik, einschließlich innovativer experimentell-psychologischer Verfahren, und der Rehabilitation von Patienten mit erworbene Hirnschädigung stützen. „Through my own experience with patients with brain injuries I have come to see that not merely therapy but diagnosis as well demands a preliminary consideration of the patient’s personality and the changes in it as a result of disease. The readjustment required by those who have brain diseases … is possible only on the basis of a study of the afflicted individual as a whole“ – Gedanken aus dem Vorwort zu Human Nature, eine Schrift, der eine Vorlesungsreihe an der Harvard University 1938/39 zugrunde liegt (HN, vii). Über wissenschaftliche Veröffentlichungen hinaus hat Goldstein sich umfänglich im Bereich der ärztlichen Fortbildung betätigt, insbesondere als Referent auf Tagungen und Kongressen, war Gründungsmitglied von Fachzeitschriften, erwähnt seien Der Nervenarzt (Mitglied des Beirats 1928 (1. Jahrgang) bis 1932) und Psychologische Forschung, und er gehörte ab 1928 dem Vorstand der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) an (Laier 1996, 244, 248). Mit der Emigration im Jahre 1933 kamen diese weitgespannten Tätigkeiten zum Erliegen. Die letzten Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum erschienen 1934 (teilweise noch rezensiert im Jahrgang 1935 des Nervenarztes), abgesehen von einer „Nachuntersuchung des ‚seelenblinden‘ Patienten Schneider, mehr als 30 Jahre nach dem Auftreten der Störung“, sein wohl berühmtester „Fall“ (Goldstein 1956; vgl. Goldenberg 2003). Ob Goldstein „nur“ in Vergessenheit geriet, da er nicht mehr in Fachzeitschriften und auf Tagungen präsent sein konnte, oder ob man sein Werk „in Deutschland einfach verschwiegen hat“ (Kreft 2005, 235), bleibe dahingestellt.38 38

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Bemerkenswert ist in diesem Rahmen ein Beitrag von Mechthilde Kütemeyer zu einer Podiumsdiskussion anlässlich des 100. Geburtstages von Viktor von Weizsäcker: „Wir wurden aber – trotz Weizsäckers unumstrittener Verdienste – darauf gestoßen, daß jüdische Wissenschaftler und Zeitgenossen, wie z.B. der Neurologe Kurt Goldstein und der Psychoanalytiker Ernst Simmel, beide gesundheitspo-

Eine Ausnahme stellt der Bereich der klinischen Neuropsychologie dar: Über seinen Schüler Egon Weigl (1901–1979), der nach der Emigration 1933 ab 1961 wieder in Berlin (Ost) arbeiten konnte, erhielt sich eine gewisse Kontinuität der Tradition Goldstein’schen Denkens im Rahmen der deutschsprachigen Aphasiologie (Lehre von den Sprachstörungen nach erworbenen Hirnverletzungen oder bei Hirnerkrankungen). Mit beigetragen zum Vergessen Goldsteins – als eines Neurologen – hat sicherlich auch, dass sich der Schwerpunkt seiner Publikationen ab Ende der 1930er Jahre in den Bereich der klinischen Psychologie bzw. Psychopathologie und Psychotherapie verlagerte, er dann auch in englischsprachigen neurologischen Journalen nicht mehr in Erscheinung trat und so wohl aus dem Blickfeld der – ehemaligen – Kollegen verschwand (vgl. Meiers 1968, 287ff.). Und bezeichnenderweise findet sich seine posthum erschienene Autobiographie in einer mehrbändigen Serie mit dem Titel: A History of Psychology in Autobiography veröffentlicht (Goldstein 1967). Seit Ende des vergangenen Jahrhunderts werden Leben und Werk Goldstein aber doch wieder in einem breiteren Umfang in Deutschland wahrgenommen, hat sich sozusagen eine gewisse Erinnerungskultur herausgebildet, insbesondere durch die „Aufarbeitung“ der „deutsch-jüdischen Geschichte“ im Bereich der Hirnforschung (Kreft 2005; Benzenhöfer 2012; Benzenhöfer & Hack-Molitor 2017) bzw. der Entwicklung der Psychoanalyse in Frankfurt am Main (Laier 1996). Das Buch Nervenärzte: Biographien beinhaltet auch ein Kapitel über Goldstein als eines von zwanzig Vertretern dieses Faches (von Cramon 1998), und im Jahre 2014 wurde der Aufbau als Band 62 der Reihe Übergänge – Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt wieder leichter zugänglich (Herausgeber: T. Hoffmann, F.W. Stahnisch). Schließlich widmete die Zeitschrift Neurologie & Rehabilitation Goldstein anlässlich seines 50. Todestages ein Themenheft mit mehreren Beiträgen (Heft 6, 2015, herausgegeben von P. Frommelt und H. Grötzbach). Neben Nervenheilkunde und Neuropsychologie kommt dem Werk Goldsteins in doppelter Hinsicht auch Bedeutung im Raum der Philosophie zu: als „Objekt philosophischer Betrachtung“, insbesondere sind hier die beiden erwähnten, noch kaum erschlossenen Monographien zu nennen, aber auch aufgrund einer „direkten philosophischen Relevanz“ seiner Arbeiten für die Tradition der Phänomenologie, v.a. die zusammen mit dem Gestaltpsychologen Adhémar Gelb (1887–1936) durchgeführten Untersuchungen an Patienten mit erworbener Hirnschädigung (Gurwitsch 1971, XI). Über die phänomenologische Philosophie hinaus wird in Band 3 der litisch engagierte Sozialisten … in Weizsäckers Schriften merkwürdig ausgespart sind, obwohl sie nachweislich diagnostisch und therapeutisch Erkenntnisse Weizsäckers vorweggenommen haben“ (Hahn & Jacob 1987, 168).

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Philosophie der symbolischen Formen, zu erwähnen ist insbesondere der Abschnitt: Zur Pathologie des Symbolbewußtseins, ein Beitrag Goldsteins auch zum Werk Cassirers sichtbar (vgl. z.B. Métraux 1999). Nicht von ungefähr: Cassirer und Kurt Goldstein waren Cousins und standen lebenslang in einem engen persönlichen und intellektuellen Austausch miteinander (vgl. insbesondere die Erinnerungen von Toni Cassirer 1981). Und vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Cassirer „had been the first to call attention to the philosophical significance of Goldstein’s work“ (Simmel 1968, 11).

6.2 Medizinische Prolegomena zu Goldsteins Lehre vom Aufbau des Organismus 6.2.1 Prolegomena I. Das Paradigma der erworbenen Hirnschädigung als Ausgangspunkt einer organismischen Anthropologie (Handbuchartikel zur Lokalisation in der Großhirnrinde aus dem Jahre 1927) Die frühesten wissenschaftlichen Veröffentlichungen Goldsteins, die in den Zeitraum 1903 bis 1905 zurückreichen, stellen anatomisch-morphologische Arbeiten dar, insbesondere zur Entwicklung des menschlichen Gehirns im Verlauf der Embryonalzeit, umfassen aber auch Studien an non-humanen Wirbeltieren wie „einigen Knochenfischen“ (Meiers 1968, 273). Aber schon eine der beiden ersten neuropsychologischen Untersuchungen aus dem Jahre 1906, die jeweils einen Patienten mit erworbener „Sprachstörung“ (Aphasie) vorstellen, formuliert ein methodisch-diagnostisches Prinzip von Ganzheitlichkeit, das dann im Verlauf der folgenden Jahre sozusagen die kritischen Befunde „liefern“ wird, aus denen sich Goldsteins „Idee des Organismus“ entwickeln sollte: „daß wir bei Beurteilung einer aphasischen Störung uns nicht mit dem zum engeren Bilde der Aphasie gehörigen Befunde begnügen dürfen, sondern immer das gesamte psychische Verhalten des Patienten untersuchen und berücksichtigen müssen“ (Goldstein 1906, 187). Goldsteins umfangreicher Beitrag Die Lokalisation in der Großhirnrinde – Nach den Erfahrungen am kranken Menschen zu Band 10 des Handbuchs der normalen und pathologischen Physiologie, mit Berücksichtigung der experimentellen Pharmakologie, aus dem Jahre 1927, etwa 240 Seiten umfassend, ist als seine wohl bedeutendste Schrift im Bereich der Neurologie eingestuft worden (Teuber 1966, 301), und Walther Riese (1890–1976), ein ehemaliger Mitarbeiter in Frankfurt am Main, hat die Be-

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deutung der Überlegungen Goldsteins zur Lokalisationslehre in der Rückschau so zusammengefasst: „But his work on the doctrine of cerebral localization exceeds all other investigations of this kind“ (1968, 18). In dieser Abhandlung hat er in luzider Art und Weise die Rahmenbedingungen einer Untersuchung von Patienten mit erworbener Hirnschädigung vorgestellt: „Mir scheint es wirklich der einzig gangbare Weg zu sein, wenn man von dem vorliegenden Material ausgeht und möglichst ohne jede Voreingenommenheit durch irgendeine Theorie an die Beschreibung der psychologischen Phänomene herantritt“ (Goldstein 1927, 630). Zu ergänzen wäre: an die umfassende (!) Beschreibung. Aus dieser Perspektive heraus formuliert Goldstein folgende, im Text als zweite und dritte „methodische Forderung“ bezeichnete Leitlinien der Untersuchung eines Patienten mit erworbener Hirnschädigung: (ii) „Man berücksichtige alle Erscheinungen, die ein Kranker bietet und gebe auch zunächst keiner den Vorrang für die Beurteilung“ (ebd, 631), darüber hinaus muss (iii) „die Kenntnis des Weges, auf dem der Kranke zu seiner Reaktion gekommen ist“, d.h. die Möglichkeit einer Kompensationsstrategie, in die Beurteilung mit einbezogen werden (ebd., 631). Ein weiteres, im Text an erster Stelle genanntes Prinzip beinhaltet demgegenüber weniger eine methodische Grund-Forderung als vielmehr eine philosophisch-anthropologische Grund-Legung dieser klinisch-diagnostischen Richtschnur: (i) „Der Mensch ist ein psycho-physischer Organismus. Jede Krankheit verändert ihn im ganzen“, infolgedessen „betrachte man nie eine Erscheinung [ein Symptom, HA] isoliert vom ganzen kranken Menschen“ (ebd., 630). In diesem Zusammenhang findet sich eine sehr schöne sprachspielerische Wendung des angesprochenen Gedankens: „Für die unbefangene Betrachtung besteht ein lebendiger Organismus körperlich nicht aus Ohren, Augen, Gehirn, Beinen usw., sondern es ist ein Organismus mit Ohren, Augen, Gehirn, Beinen usw.“ (ebd., 630f.). Die Entfaltung dieser „Idee“ eines Organismus, die eng verschränkt ist mit dem durch die beiden klinisch-diagnostischen Leitlinien umrissenen ganzheitlichen Blick auf einen Patienten, erfolgt dann im Aufbau, findet aber ihre erste Formulierung schon im Handbuch-Beitrag aus dem Jahre 1927, „still the best summary of Goldstein’s views and observations up to that time“ (Teuber 1966, 301). Ganzheitliche – und zeitraubende – Diagnostik hat ihr Ziel und findet

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Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus, 9783826077425, 2023

ihre Berechtigung in einer sich darauf gründenden ganzheitlichen Therapie, im Falle der Soldaten mit Kopfschuss- oder -splitterverletzungen personalintensive rehabilitative Maßnahmen. Goldstein war ab dem Kriegsjahr 1915 an mehreren Reserve(teil)lazaretten in Frankfurt am Main tätig, konnte zusätzlich ein aus „privaten Mitteln“ finanziertes „Institut zur Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen“ an der Frankfurter Universität einrichten (Kreft 2005, 227 (Organigramm), 243ff., 262ff.; Benzenhöfer 2012, 52ff.). Aus dieser Arbeit ging ein umfassendes Therapiekonzept hervor, zusammengefasst in der Monographie Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten, zugleich ein Beitrag zur Verwendung psychologischer Methoden in der Klinik aus dem Jahre 1919 (Goldsteins „rehabilitation work“ findet sich ausführlicher dargestellt in Stahnisch & Hoffmann 2010). Kurz zusammengefasst: „Entsprechend der Vielgestaltigkeit der Aufgaben hat die Arbeit im Lazarett für Hirnverletzte einen ganz eigenartigen … Charakter. Es handelt sich nicht nur um ärztliche, sondern auch um psychologische, pädagogische und berufliche Maßnahmen“ (ebd., 2). Diese Forderung nach ganzheitlicher Diagnostik und Therapie hat ihren Grund in einer ganzheitlichen Krankheitslehre. Darauf weist die schon erwähnte, in Goldsteins Text erstgenannte methodische Leitlinie hin: „Der Mensch ist ein psycho-physischer Organismus. Jede Krankheit verändert ihn im ganzen“ (Goldstein 1927, 630). Umgekehrt formuliert: Die „Ausgestaltung eines bei örtlicher Läsion auftretenden Symptombildes“ hängt nicht nur von der „örtlichen Läsion“ ab, sondern auch von der „Beschaffenheit des übrigen Gehirns, ja der des ganzen Organismus“ (ebd., 623). Eine ins Einzelne gehende Erörterung der damals zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die „sog. klassische Lehre“ von der Topographie insbesondere mentaler Leistungen würde zu weit führen, müsste beispielsweise auf die Rezeption assoziations- und gestaltpsychologischer Modellvorstellungen im Rahmen der Neurologie eingehen (ebd., 629), eine Debatte, der heute, nach der „kognitiven Revolution“ in den Verhaltens- und Lebenswissenschaften, nur noch historisches Interesse zukommt (eine Übersicht findet sich in Caplan 1987, Teil II). Neben anderen Sachverhalten – Stichwort: Diaschisis – weist Goldstein in diesem Zusammenhang auf „Umwandlungen der Erregungsverteilung“ im Hirn hin: „Die Zerstörung einer Hirnstelle läßt den übrigen Organismus, im besonderen das übrige Gehirn in ihrer Tätigkeit nie unverändert, sondern es kommt in diesem zu Umwandlungen der Erregungsverteilung, ohne deren Kenntnis das bei einem Herd auftretende Symptombild überhaupt unverständlich bleibt“ (Goldstein 1927, 625). Dieses, so Goldstein, „sehr wichtige Problem“ verdient hier, ausführlicher dargestellt zu werden, da es im Aufbau eher bloß kursorisch behandelt wird. In einem Kritischen Exkurs über die Grundannahmen der klassischen Neurologie und Neurophysiolo-

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gie (ebd., 642–656) formuliert Goldstein, ja, 11 Thesen zur Dynamik der Aktivität des zentralen Nervensystems. Die Thesen 7 und 8 skizzieren die offensichtlich gestaltpsychologisch konnotierte wesentliche Bestimmung des Goldstein’schen Konzepts einer aufgabenabhängigen Erregungsausbreitung und -verteilung in diesem Funktionssystem: Die durch einen Stimulus – oder mehrere „gleichzeitig einwirkende“ Reize – hervorgerufene „Erregungsveränderung“ des Gehirns beschränkt sich eben nicht auf einen Naheffekt, sondern erstreckt sich jeweils über das ganze Organ hinweg in „Gestalt eines ‚Vordergrund-Hintergrundvorganges‘“ (ebd., 650ff.). Das „Vordergrund-Hintergrundgeschehen“ als die fundamentale Figur der zentralnervösen Erregungsverteilung soll nicht als bloße Metapher (miss-) verstanden werden. Ausdrücklich heißt es, dieses Muster sei „als die Grundform des nervösen Geschehens überhaupt zu betrachten“ (ebd., 650). Eine in dieselbe Richtung zielende Bemerkung sei hinzugefügt: „Die Figur-Hintergrundsbildung ist um so schwieriger d.h. setzt um so größere Anforderungen an die nervöse Substanz, je umfangreicher das Material ist, das in eine Figur-Hintergrundsbildung eingeht“ (ebd., 651). Die entscheidenden Belege gewinnt Goldstein aus der Verhaltensanalyse gesunder Probanden. Zugrunde liegt die – berechtigte – Annahme, dass einem Vordergrund-Hintergrundgeschehen auf der neuralen Ebene – notwendigerweise – entsprechende Innervations- und demzufolge Aktivitätsmuster im Bereich der Muskulatur und dann des Verhaltens korrespondieren. Zwei Beispiele dienen Goldstein hier zur Illustration dieses biologischen Aspekts von Ganzheitlichkeit: „Jede Bewegung eines Körperteils ist begleitet von einer bestimmten Veränderung der Lage, der Stellung des übrigen Körpers“ und „beim Hervortreten einer bestimmten Stelle unseres Wahrnehmungsfeldes auf einen Reiz hin verändert sich gleichzeitig … das ganze Wahrnehmungsfeld“. Mit diesen Überlegungen Goldsteins wird Ganzheitlichkeit – über die neuropsychologische Diagnostik bzw. die neurologische Krankheitslehre hinaus – im Verhalten des „normalen“ Organismus und somit auf der Ebene der Funktionen des Nervensystems verankert. Die angesprochene neurophysiologische Grundlage der Figur eines Vordergrund-Hintergrundgeschehens scheint durch Goldstein selber aber wieder – teilweise – zurückgenommen zu werden: „Wenn wir das funktionelle Geschehen, das wir annehmen, mit Bezeichnungen aus der Physik belegen, wenn wir von Erregungsverlauf, Erregungsverteilung, Gleichgewichtszustand, Ungleichgewicht usw. sprechen, so soll damit nicht und kann auch gar nicht irgend etwas über die Natur dieses Geschehens ausgesagt sein, sondern es soll damit nur die jeweilige Art der Dynamik des Geschehens charakterisiert sein, die wir beim materiellen Vorgang und bei den Leistungen unter denselben Kategorien zu betrachten uns für berechtigt halten“ (ebd., 646). Mit dieser Feststellung rutscht der Status des Vordergrund-Hin-

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tergrundgeschehens wieder etwas ins Zwielicht: es soll „gar nicht irgend etwas über die Natur des Geschehens ausgesagt werden“, obwohl die „Natur des Geschehens“ doch die im Gehirn sich abspielenden Erregungsvorgänge darstellen. Klarer wird die Einordnung dieses Konzepts, wenn die übergeordnete ökologische Perspektive der Interaktionen eines Organismus mit der Umwelt bzw. mit seinem Milieu in den Blick rückt. „Was Vordergrund, was Hintergrund wird, wechselt dauernd und ist von der Aufgabe, die der Organismus jeweilig zu erfüllen hat, bestimmt“ (ebd., 650). Jede situative Herausforderung wird eine Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt hervorrufen, nach Maßgabe seiner Ressourcen, seines artspezifischen und individualtypischen Wesens, ein Konzept, das im Handbuchartikel 1927 nur kurz (ebd., 647), ausführlicher dann in einem zweiten Handbuchbeitrag 1931 mit dem Titel: Über die Plastizität des Organismus auf Grund von Erfahrungen am nervenkranken Menschen zur Sprache kommt. Die Fokussierung des Organismus auf eine bestimmte Leistung angesichts der jeweiligen Anforderungen des Milieus setzt sozusagen den formalen Rahmen des zentralnervösen Erregungsablaufes, ohne die „Natur des Geschehens“, d.h. die neuroanatomischen und -physiologischen Details der Ausführung zu bestimmen. Mit anderen Worten: Das angesprochene Konzept eines Vordergrund-Hintergrundgeschehens darf sozusagen als ein formales Brückenprinzip verstanden werden, das eine Beziehung herstellt zwischen den Interaktionen von Organismus und Umwelt einerseits, der Erregungsausbreitung und -verteilung im Bereich der „Hirnmaterie“ andererseits, konsekutiv dann auch der Gestaltung der Bewegungsabläufe. Nochmals anders formuliert: Die Auseinandersetzungen eines Organismus mit den aktuellen Herausforderungen seines Umfelds schematisieren lediglich den zeitlichen Ablauf und die räumliche Verteilung der hirnphysiologischen Prozesse. Dennoch muss dieses Modell der Erregungsverteilung „natürlich mit den bekannten anatomischen Tatsachen vereinbar sein“ (Goldstein 1927, 644). Mit anderen Worten: „Die Struktur bestimmt die Erregungsverteilung, [aber eben nur, HA] solange nicht ganz neue Bedingungen [wie z.B. eine Läsion, HA] eine neue Erregungsverteilung im ganzen System erfordern“ (ebd., 650).

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6.2.2 Prolegomena II. Verhaltensanpassung der Lebewesen („coping“) und die Umgestaltung ihres Milieus („niche construction“) (Handbuchartikel zur Plastizität des Organismus aus dem Jahre 1931) Der Handbuchartikel Über die Plastizität des Organismus auf Grund von Erfahrungen am nervenkranken Menschen aus dem Jahre 1931 setzt ein mit der Feststellung, dass das „normale“ Verhalten eines Lebewesen sozusagen als Artefakt zu werten ist, dadurch bedingt, dass „wir das Leben der tierischen Organismen und der Menschen gewöhnlich in nur wenig wechselnden Situationen sich abspielen sehen, in denen die Leistungen eine dementsprechend relativ große Gleichartigkeit aufweisen“ (ebd., 1131). Vor diesem Hintergrund mag dann der Eindruck entstehen, das „Leben des Organismus“ sei von „festgefügten, sich nur gegenseitig hemmenden oder fördernden Reflexvorgängen beherrscht“. Um die Variationsbreite der Reaktionsfähigkeit in den Blick zu bekommen, muss untersucht werden, ob und wie ein Lebewesen mit „abnormen“, d.h. nicht-alltäglichen Anforderungen fertig wird. Grundsätzlich kommen zwei Möglichkeiten in Betracht: (i) Ein Organismus kann in ein Milieu versetzt werden, das erheblich von den „gewohnten Lebensbedingungen“ abweicht, oder (ii) es wird beobachtet, wie ein Organismus mit einer natürlichen, d.h. Erkrankung, oder einer experimentell hervorgerufenen Funktionsstörung zurechtkommt, die eine Herausforderung an das Verhalten darstellt, ja, eventuell eine lebensbedrohende Situation hervorruft (Goldstein 1931, 1132). Im Fokus des Handbuchartikels aus dem Jahre 1931 steht, wie im Titel angedeutet, der „nervenkranke Mensch“, genauer, die Frage: „Wie verhält sich ein Mensch bei einer Veränderung seines materiellen Substrates durch Krankheit oder Verletzung, oder noch präziser, wie verhält er sich bei einer Zerstörung eines umschriebenen Teiles seines Nervensystemes?“ (ebd., 1132). Die Anpassung an derartige „Defekte“ kann durch (i) eine „Umstellung“ – oder Reorganisation – der betroffenen „Apparate“ erfolgen oder durch (ii) eine „Ersatzleistung“, die sich auf nicht betroffene Organsysteme stützt. Beispiel einer Ersatzleistung wäre das – unten im Rahmen von Exkurs 1 – beschriebene Erkennen von Konturen durch „Nachfahren“ von Grenzzonen der Helligkeits- und Schattierungsverteilungen. Kinästhetische In-

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formation, das Gefühl der „erlebten Bewegung“ (ebd., 1164), tritt an die Stelle der Wahrnehmung visueller Gestalten, d.h. eine beeinträchtigte Sinnensphäre wird ersetzt durch einen funktionstüchtigen Bereich des Körpers, das Bewegungsgefühl. Der Vorgang der Umstellung kann, ohne darauf nun näher eingehen zu wollen (ausführlichere Beschreibung ebd., 1133ff.), verdeutlicht werden durch die Verschiebung der Stelle des „deutlichsten Sehens“ (Pseudofovea) bei Patienten mit Gesichtsfeldausfällen (analoge Phänomene bei non-humanen Lebewesen ebd., 1159ff.). Ergänzt sei, dass in der Regel durch die angesprochenen Formen einer Kompensation nicht das Niveau der prämorbiden Leistung erreicht werden kann. Darüber hinaus rekrutieren, bemerkenswerterweise, derartige Fertigkeiten nicht Mechanismen, die im „gesunden“ Zustand eines Organismus brach liegen würden, vielmehr handelt es sich um einen „besonders auffälligen Spezialfall an sich aber normalen Verhaltens“, nämlich, um diesen Gedanken wenigstens erwähnt zu haben, eine Modifikation der aufgabenabhängigen Schwellenlabilität der Sinnesorgane (ebd., 1136f., 1165). Eingebettet in das Handbuchkapitel zur Plastizität findet sich ein Exkurs über eine Theorie von der Funktion des Organismus, der bei dem schon angesprochenen Konzept des Vordergrund-Hintergrundgeschehens einsetzt (ebd., 1138ff.). Die grundlegende Intuition dieses Modells kann an einem Beispiel aus dem Bereich der Bewegungskontrolle verdeutlicht werden. Um eine zielgerichtete Armbewegung durchführen und einen Gegenstand ergreifen zu können, müssen mehr oder weniger, insbesondere im Stehen, alle anderen Muskeln des Körpers in ihrem Spannungszustand angepasst werden, sonst bestünde die Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Mit anderen Worten: Die zielgerichtete Exkursion der oberen Extremität, einschließlich Hand, stellt keinen isolierten, d.h. streng auf diese Körpersegmente beschränkten motorischen Ablauf dar, sondern hebt sich lediglich aus einer Gesamtveränderung der Motorik des Organismus heraus (vgl. ebd., 1156f.). In diesem Rahmen wird verständlich, dass und weshalb Goldstein, zusammen vor allem mit seinem Schüler Walther Riese, in einer Vielzahl an Untersuchungen nachzuweisen versuchte, dass in einer gegebenen Situation auch unscheinbare Stimulusdifferenzen Auswirkungen auf den gesamten Körper haben (müssen). Als Beispiel sei die Farbwahrnehmung erwähnt. „Was Vordergrund wird, ist bestimmt durch die Aufgabe, die der Organismus jeweils zu erfüllen hat, d.h. durch die Situation, in der er sich gerade befindet und mit deren Anforderungen er fertig zu werden hat“ (ebd., 1138). Und dieses Konzept aufgabenabhängiger Fluktuationen des Vordergrund-Hintergrundgeschehens leitet nun über zum Begriff der „Natur“ bzw. des „Wesens“ eines Organismus. „Die Aufgaben werden durch die ‚Natur‘ des Organismus, sein ‚Wesen‘ bestimmt, das durch die Umweltänderungen, die auf ihn wirken, zur Verwirklichung

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gebracht wird“ (ebd., 1139) – ein unabschließbares dialektisches Geschehen (ebd., 1141). Es wäre sicherlich ein überzogenes Ansinnen, aus diesem Beitrag zu einem Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie einen philosophischen Essay herauslesen zu wollen. Ganz unprätentiös beziehen sich „Natur“ und „Wesen“ auf diejenigen Eigenschaften und Eigenarten eines Organismus, die sich bei Veränderungen der Umwelt durchhalten, „relative Konstanz unter verschiedensten Umständen bewahren“, d.h. immer wieder einreguliert und ausbalanciert werden müssen. „Unter diesen Konstanten sind zwei Gruppen zu unterscheiden. Zunächst Konstanten als Ausdruck der Artwesenheit“ (ebd., 1142).39 Dazu zählen z.B. Merkmale, in denen sich Menschen von non-humanen Lebensformen unterscheiden, „in dieser Hinsicht habe ich an anderer Stelle auf das den Menschen auszeichnende sogenannte kategoriale Verhalten hingewiesen“. Als ein zweites Ensemble sind die „individuellen Konstanten“ zu erwähnen, die von physiologischen / biochemischen Parametern wie Herzschlag oder Atmung bis hin zu Einstellungen des „Denkens, Fühlens, Wollens“ reichen. Zu Recht weist Goldstein in diesem Zusammenhang auf die große Bedeutung zeitlicher Muster des Verhaltens hin, es sei als ein Beispiel die hoch charakteristische individuelle Ausprägung des Sprechtempos erwähnt. Um diese individualtypische und artspezifische Konstanz einer Mannigfaltigkeit psychophysiologischer Parameter zu gewährleisten, ist erforderlich, dass eine durch „Umweltreize gesetzte Veränderung des Organismus in einer bestimmten Zeit sich wieder ausgleicht, der Organismus wieder in jenen mittleren Zustand der Erregung, der seinem Wesen entspricht, diesem ‚adäquat‘ ist, zurückgelangt“ (ebd., 1139). Dieses sozusagen ökologische Konzept von Verhalten, das um die Balance – Goldstein spricht von geordneten oder adäquaten Beziehungen – zwischen dem „Wesen“ eines Organismus und seinem Milieu kreist, erlaubt, die schon angesprochenen Umstellungs- und Ersatzleistungen in den Alltag des „nervenkranken Menschen“ einzuordnen. „Jede Läsion des Organismus verändert seine Wesenheit, beeinträchtigt ihn in seinen Leistungen und setzt ihn, wenn er im alten Milieu bleibt, wenn die alten Anforderungen an ihn herantreten, Katastrophenreaktionen aus. … Dieser Zustand der Verwirrung, der Ungeordnetheit hält aber gewöhnlich nicht lange an. Wenn der Organismus überhaupt als solcher weiterlebt, so kommt er über kurz oder lang 39

In diesem Zusammenhang ist eine begriffliche Schwierigkeit festzuhalten, die Goldstein auch selbst bemerkt und anspricht. Einerseits wird das „Wesen“ des Organismus durch artspezifische und individualtypische Konstanten bestimmt, die auch physiologische Parameter und Prozesse umfassen, andererseits stützt sich das ganzheitliche Konzept des Organismus (siehe oben) entscheidend auf den Sachverhalt der Variabilität zumindest eines zentralen physiologischen Bausteins des Nervensystems, der Reflexe (Goldstein 1931, 1141f.).

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wieder in einen geordneten Zustand. Dies aber nur unter Einschränkung des alten Milieus“ (ebd., 1140, vgl. 1167). In dieser Aussage deutet sich an, dass neben Umstellungs- und Ersatzleistungen im Bereich des Verhaltens weitere Anpassungsstrategien zur Verfügung stehen können, z.B. die „Einschränkung“ im Sinne einer benutzerfreundlicheren Gestaltung des „alten Milieus“, erinnert sei an den „barrierefreien Zugang“ von Gebäuden. Im Jargon der zeitgenössischen Soziobiologie kann von einer „niche construction“, besser, „re-construction“ gesprochen werden.

6.2.3 Zusammenfassung: Die ganzheitliche Betrachtung des Patienten mit Hirnverletzung – Konfiguration des Leistungsprofils in ökologischer Perspektive Neben einigen anderen Autoren aus dem Bereich der Lebenswissenschaften hat sich auch Goldstein zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Suche nach einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Menschen gemacht – sozusagen ein Aufbegehren gegen die seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschende „Maschinen-Theorie“ des Lebendigen in der (Psycho-) Physiologie. Schon in einer der beiden ersten klinisch-neurologischen Abhandlungen aus dem Jahre 1906 formuliert Goldstein eine – wie sich zeigen wird – durchaus programmatische Aussage: „daß wir bei Beurteilung einer aphasischen Störung uns nicht mit dem zum engeren Bilde der Aphasie gehörigen Befunde begnügen dürfen, sondern immer das gesamte psychische Verhalten des Patienten untersuchen und berücksichtigen müssen“ (Goldstein 1906, 187). Aus den Beobachtungen und Befunden, die in den nachfolgenden Jahren aus dieser Perspektive heraus entstanden sind, sollte sich dann Goldsteins „Idee des Organismus“ entwickeln. Zwei voluminöse Beiträge aus den Jahren 1927 und 1931 zu einem Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie stellen den klinisch-diagnostischen und neurowissenschaftlichen Kontext dar, aus dem heraus die grundlegenden Einsichten des Aufbaus entstanden sind, und formulieren schon ansatzweise die avisierte ganzheitliche Betrachtungsweise als eine Hermeneutik des Verhaltens, die sich auf das gestaltpsychologisch konnotierte „Schema“ eines Figur-Hintergrundgeschehens stützt: (i) Zunächst hat eine umfassende und theoretisch unvoreingenommene psychologisch-phänomenale Analyse des Leistungsprofils eines Patienten zu erfolgen, um, erstens, Domäne-übergreifende Grundstörungen erfassen und, zweitens, etwaige Kompensationsstrategien aufdecken zu können,

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(ii) dann ist das Leistungsprofil als Figur-Hintergrundgeschehen zu interpretieren, dessen Konfiguration sich aus der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des jeweiligen Umfeldes ergibt.

6.3 Exkurs 1 / Kasuistik Patient Schneider: Beispiel einer ganzheitlich „psychologisch-phänomenalen“ Analyse der „Folgezustände“ einer Hirnverletzung „But of all the psychological theories which influenced Goldstein, perhaps the most important influence was gestalt psychology“ (Caplan 1987, 113). Sein Verhältnis zu dieser „Schule“ charakterisiert Goldstein in Kapitel 10 des Aufbaus so: „Unsere Grundauffassung stimmt in mancherlei Hinsicht mit der Gestaltpsychologie überein“ (AO, 387), aber seine eigene Vorstellung von der „Idee“ des Organismus sei nicht aus jener Tradition hervorgegangen. Dennoch: Ohne die Begegnung mit der Gestaltpsychologie in Frankfurt am Main und dann die jahrelange Zusammenarbeit mit dem schon erwähnten Gestaltpsychologen Gelb wäre der Aufbau wohl nicht zustande gekommen. Ludwig Edinger (1855-1918), Leiter eines von ihm selbst aufgebauten und finanzierten neurologischen Instituts in Frankfurt am Main (Edinger 2005, 208ff.), einige Jahre lang auch als Dr. Senckenbergisches Neurologisches Institut bezeichnet, das dann 1914 der neu eingerichteten Universität angegliedert wurde, gründete wohl schon zu Beginn der 1910er Jahre zusammen u.a. mit Max Wertheimer, der damals an der Akademie für Handels- und Sozialwissenschaften tätig war, einen Psychologischen Verein (ebd., 217). Als biographische Notiz sei ergänzt, dass Goldstein nach dem unerwarteten Tod Edingers 1918 zum – zunächst kommissarischen – Leiter des Neurologischen Instituts der Universität Frankfurt am Main aufrückte (vgl. Kreft 2005; siehe Benzenhöfer, 2012, zu den beruflichen Positionen Goldsteins in Frankfurt am Main). Wertheimer hatte sich am Institut für Psychologie der genannten Akademie im Jahre 1912 mit einer experimentellen Arbeit habilitiert, die Bewegung als genuines und originäres Gestalt-Phänomen deutete. Wird der Beginn der Gestaltpsychologie in etwa auf die grundlegende Veröffentlichung von Christian von Ehrenfels (1859–1932) aus dem Jahre 1890 mit dem Titel: Ueber „Gestaltqualitäten“ zurückgeführt (Harrington 1996/2002, 205ff.), dann stellen Wertheimers Beobachtungen zum „Bewegungssehen“ einen wichtigen Meilenstein der Entwicklung dieser Tradition dar. Es hatte sich somit in Frankfurt am Main beispielsweise über den angesprochenen Psychologischen Verein eine gewisse, eher weniger, denn mehr, institutionalisierte Verbindung zwischen

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Neurologie und (Gestalt-)Psychologie – nebenbei erwähnt auch der Psychoanalyse – herausgebildet, aus der dann die legendäre Zusammenarbeit zwischen Goldstein und Gelb hervorgehen sollte (Kreft 2005, 135ff., 249; Laier 1996, 241ff.). Gelb war wohl 1912 nach Frankfurt am Main gekommen, als Assistent des Instituts für Psychologie der oben erwähnten Akademie. Schon seine in Berlin angefertigte Dissertation hatte offensichtlich gestaltpsychologische Fragestellungen aufgegriffen, und er konnte dann im weiteren Verlauf seines beruflichen Lebens wichtige Beiträge zu dieser Tradition leisten. Gelb begann im Verlauf des Ersten Weltkriegs – wahrscheinlich ab 1915 – Untersuchungen an Patienten mit Hirnverletzung durchzuführen, zunächst in Lazaretten, die von Goldstein mitbetreut oder geleitet wurden, dann auch am schon erwähnten neu eingerichteten Forschungsinstitut (Goldstein 1919, 6), ab 1918 dritte Abteilung der Edinger’schen Einrichtung (ausführlichere Darstellung von Goldsteins „rehabilitation work“ in Stahnisch & Hoffmann 2010). Als letzte Station seiner Frankfurter Zeit avancierte er 1929 neben Wertheimer zum Direktor des Psychologischen Instituts der Universität (zum beruflichen Werdegang Gelbs vgl. Bergius, 1964, und Kreft 2005). Gelb skizziert Anlass und Beginn seiner klinisch-neuropsychologischen Laufbahn in einer gemeinsamen Veröffentlichung mit Goldstein: „In der Überzeugung, daß sowohl Arbeitskraft wie Kenntnisse des Arztes, der das Lazarett für Hirnverletzte leitet, nicht zur fruchtbaren rein wissenschaftlichen Tätigkeit ausreichen, hat der eine von uns (Goldstein), dem das Lazarett untersteht, sich bald nach Beginn seiner Tätigkeit nach der Mitarbeit eines Psychologen, dem normal-psychologische Kenntnisse, vor allem auch das Rüstzeug psychologischer Methodik und ein psychologisches Laboratorium zur Verfügung stehen, umgesehen und hat diesen in Dr. Gelb gefunden“ (Gelb & Goldstein 1918/1920, 3). Mit Hilfe dieses „Rüstzeugs psychologischer Methodik“, in Verbindung mit apparativen Verfahren (z.B. ebd., 139ff., 146ff.), konnten dann umfassende Einzelfallstudien durchgeführt werden, gekennzeichnet durch gestaltpsychologisch inspirierte Fragestellungen und Testmaterialien, einschließlich apparativer Untersuchungen. Als ein Beispiel dieses Vorgehens sei auf die berühmt-berüchtigte – berüchtigt, da hinsichtlich der Interpretation der Befunde sehr umstritten – Krankengeschichte des Patienten Schneider eingegangen, der 1915 „im Felde“ durch Minensplitter zwei Kopfverletzungen erlitten hatte, einerseits Mitte des Hinterhauptes, „bis auf das freiliegende Gehirn gehend“, und andererseits oberhalb des linken Ohres (erste ausführliche Darstellung der Krankengeschichte im Jahr 1918, wieder abgedruckt in Gelb & Goldstein 1920, hier zitiert als Gelb & Goldstein 1918/1920; eine spätere Zusammenfassung berücksichtigt weitere, in den nachfolgenden Jahren erhobene Befunde, vgl. Goldstein 1927, 661ff., insbes. 664f.). Als Diagnose wurde in der

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Erstveröffentlichung eine „Seelenblindheit“ festgehalten, in den Akten jedoch erstmals etwa ein Jahr nach der Verwundung erwähnt (Bay et al. 1949, 76), darüber hinaus berichten Gelb und Goldstein in der angesprochenen Veröffentlichung keine nennenswerten Auffälligkeiten im psychischen und mentalen Bereich, insbesondere keine Beeinträchtigungen der Wahrnehmung außerhalb des „optischen Gebietes“ (Gelb & Goldstein 1918/1920, 11f.). Allerdings finden sich dann in einer etwas später – 1919 – erschienenen Arbeit auch Einbußen des „taktilen Erkennens“ notiert (vgl. ebd., 157ff.), und schließlich zeigten sich im Verlauf weiterer Untersuchungen u.a. auch Einschränkungen des Zahlenverständnisses und der Tonwahrnehmung (Goldstein 1927, 664f.). Die genannte Seelenblindheit, das zunächst einzige beschriebene „Defizit“ des Patienten, äußerte sich darin, dass der Kranke optisch dargebotene oder in seinem Umfeld visuell präsente Gegenstände und Szenen, selbst „einfache Strichfiguren“, nicht bzw. nur mit Hilfe einer ausgeklügelten Kompensationsstrategie erkennen und benennen konnte, auch das sogenannte Bewegungssehen war aufgehoben, ebenso die Fähigkeit, optische „Vorstellungs- und Erinnerungsbilder“ aufzurufen (Gelb & Goldstein 1918/1920, 10, 164).40 Dennoch kam Patient Schneider im Alltag („‚Erkennen‘ und Benennen von Gegenständen der konkreten Außenwelt“, „alltäglicher Umgang mit Menschen und Dingen“) offensichtlich leidlich gut zurecht, konnte auch – obgleich verlangsamt und mühsam – lesen, das Schreiben war völlig unbeeinträchtigt (ebd., 16, 51, 107). Diese Leistungen wurden – wie schon angedeutet – anscheinend durch „raffinierte“ Kompensationsmanöver ermöglicht, beispielsweise gelang es ihm, „schreibend“ Wörter und Sätze zu verstehen, d.h. er musste mit dem Kopf oder den Fingern die Kontur der Buchstaben anhand der entsprechenden Helligkeitskontraste und Graustufen „nachzeichnen“ – keine bloße „Begleiterscheinung“, sondern „conditio sine qua non“ des Lesens (ebd., 27). Dieser „Trick“ war auch erforderlich, um „einfache geometrische Figuren“ zu benennen (ebd., 31). Mit 40

Das Syndrom der Seelenblindheit der älteren neuropsychologischen Literatur wird heute in der Regel als „visuelle Agnosie“ eingeordnet, abgegrenzt von Störungen des Erkennens im Bereich anderer Sinnesmodalitäten, die dann als akustische oder taktile Agnosie bezeichnet werden (Karnath et al. 2014, 52ff.). Im Falle der sogenannten Formagnosie („visual form agnosia“) „werden Oberflächeneigenschaften wie Helligkeit, Farbe oder Glanz und auch Bewegungen wahrgenommen, aber keine zusammenhängenden Konturen“. Der von Gelb und Goldstein untersuchte Patient wäre am ehesten dieser Variante einer visuellen Agnosie zuzuordnen („betrifft die Störung schon die primitivsten Gestalten“; Gelb & Goldstein 1918/1920, 129), obwohl er auch keine Bewegungen detektieren konnte. Dem gängigen Stufenmodell visuellen Erkennens zufolge ist somit schon die Verarbeitung der einfachsten räumlichen Formelemente von Gegenständen beeinträchtigt.

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zunehmender Übung vermochte er dann durch geschickte Ratestrategien die zeitraubenden Prozeduren abzukürzen und war so in der Lage, „optische Gebilde“ zu erschließen, die ein gesunder Proband sozusagen unmittelbar „optisch erkennt“ (ebd., 51, 102, 107ff.). Wie schon erwähnt weisen derartige Beobachtungen darauf hin, dass die Analyse des Wegs oder – genauer – des Umwegs, über den eine Leistung erfolgt, notwendig ist, um die Verhaltensleistungen angemessen bewerten zu können. Würde sozusagen nur die „Oberflächenstruktur“ des Verhaltens betrachtet, dann könnte fälschlicherweise der Eindruck einer Seelenblindheit ohne Lesestörung entstehen, sozusagen eine „visuelle Agnosie sine Alexie“, und schon wäre eine weitere „blumige“ Diagnose in der Welt. Gelb und Goldstein (1918/1920) nennen ihren Zugang zum „Wahrnehmungs- und Erkennungsvorgang“ bei Patienten mit Hirnschädigung eine „psychologische Analyse rein phänomenaler Natur“, die feststellen will, „was dem Kranken bewußtseinsmäßig gegeben ist, was der Patient im Augenblick wirklich an Bewußtseinsinhalten vorfindet“ („psychologisch-phänomenale Analyse“; ebd., 4f., vgl. Goldstein 1927, 629). „Die bisherigen psychopathologischen Untersuchungen haben die Darlegung der Defekte … gewöhnlich allzusehr in den Vordergrund gerückt und darüber die Frage, wie denn das normale Erkennen modifiziert ist, wie denn das pathologisch veränderte Erlebnis tatsächlich beschaffen ist, etwas vernachlässigt“ (Gelb & Goldstein 1918/1920, 5, 43). Vor dem Hintergrund seiner „normal-psychologischen Kenntnisse“ – es sei daran erinnert, dass Goldstein einen Mitarbeiter gesucht hatte, der eben diese Fertigkeiten mitbringt – entwickelte Gelb nun eine „Annahme“: Die Seelenblindheit von Patient Schneider könnte mit der Situation eines gesunden Probanden verglichen werden, der sich einem Vexierbild gegenübersieht (ebd., 53ff.). „Vor der Auflösung hat man ein mehr oder minder unverständliches ‚Wirrnis‘ aus geraden und krummen Strichen … nach der Auflösung hingegen ein größeres einheitliches, in sich abgeschlossenes und … deutlich gegliedertes Raumgebilde“ (ebd., 54).41 Und eben eine nicht aus elementaren Empfindungen „assoziierte“ Gestaltwahrnehmung erlaubt dann die Auflösung von Vexierbildern bei gesunden Menschen. Durch ausgefeilte Untersuchungsverfahren, z.B. die Analyse der Nach41

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Ein Vexierbild muss allerdings dann als etwas schiefe Analogie gelten, wenn – wie häufig – eine Figur dargestellt wird, in der sich eine andere Gestalt verbirgt. Unter diesen Bedingungen läge eigentlich keine „Auflösung“ von „Wirrnis“ vor. Es stellt sich auch die Frage, wie bei Vorliegen konturloser farbiger Flächen die „Möglichkeit eines nachfahrenden Erkennens“ gegeben sein kann (vgl. Goldstein 1956, 325). Offensichtlich wird angenommen, dass die Grenzzonen von Helligkeits- und Farbübergängen der Orientierung dienen (Goldstein 1931, 1164).

bilder des Patienten, war es Gelb dann möglich, diese Hypothese zu überprüfen und sich sozusagen ein – ungefähres – Bild zu machen davon, wie er seine Umwelt wahrnimmt: „Der Patient hat farbige und farblose Flecke in einer gewissen Verteilung im Sehraum. Er sieht wohl auch, ob ein bestimmter Fleck höher oder tiefer, mehr rechts oder mehr links als ein anderer sich befindet, ob er schmal oder dick, ob groß oder klein, ob er kurz oder lang ist, ob er näher oder weiter ist, aber nicht mehr; denn die verschiedenen Flecke zusammen erweckten einen wirrnisartigen Eindruck, nicht aber, wie beim Normalen, den eines spezifisch charakterisierten, festgestalteten Ganzen“ (Gelb & Goldstein 1918/1920, 129, vgl. 68, 76, 102). Nicht einmal „Geradheit“ oder „Krümmung“ waren dem Patienten als visuelles Datum, als optischer Eindruck (!) präsent (ebd., 72, 110). Und darüber hinaus hatte er – das sei ergänzend hinzugefügt – „die Fähigkeit, Bewegung zu sehen, völlig eingebüßt“ (ebd., 95). Vor diesem Hintergrund lassen sich – so Gelb und Goldstein – die Beeinträchtigungen von Patient Schneider „restlos“ aus einer „Grundannahme“ heraus verstehen, nämlich als „Störung des Gestalterfassens“ (ebd., 57): „In the optical domain, the patient could not ‚grasp‘ figures“ (Levelt 2013, 398). Eine hirnphysiologische Erklärung dieser unserer Fähigkeit, besser vielleicht, der zwanghaften Neigung unseres (unbeeinträchtigten) Wahrnehmungsapparates, Gestalten zu erfassen oder Gestaltung vorzunehmen, wird an zwei Stellen des Werkes angetippt, aber nicht weiterverfolgt (Gelb & Goldstein 1918/1920, 59f., 129). In der Zusammenschau liegt die Bedeutung der Gelb’schen Befunde – vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der 1920er Jahre – vor allem darin, eine oder die grundlegende Voraussetzung der Gestaltpsychologie zu untermauern, die Annahme, „daß die Gestalt etwas spezifisch Anderes und Neues ist gegenüber der bloßen Summe der sie objektiv konstituierenden ‚Elemente‘“ (ebd., 59). Wie schon erwähnt führten aber nach der Erstveröffentlichung der Krankengeschichte (Gelb & Goldstein 1918/1920) durchgeführte Untersuchungen des Patienten Schneider zu dem Ergebnis, „daß die Störung bei ihm nicht auf das optische Gebiet beschränkt war, sondern daß eigentlich alle seine Leistungen mehr oder weniger verändert waren“ (Goldstein 1927, 664; die einzelnen Tests finden sich zusammengefasst in Goldstein 1956, 328). In Anbetracht dieser Ausdehnung des psychologisch-phänomenalen Profils der Leistungseinbußen war die ursprüngliche Annahme einer „Gestaltungsstörung“ im Bereich des Wahrnehmens und Vorstellens, d.h. einer Beeinträchtigung der „Fähigkeit, Gegebenheiten als wohl strukturierte Ganzheiten zu haben“, zu revidieren (Goldstein 1927, 666). Als gemeinsamer Nenner all der angesprochenen „Symptome“ des Patienten Schneider wurde dann vermutet, die Fähigkeit, das „Wesentliche eines Vorganges zu erfassen“, sei kompromittiert – ähnlich wie bei „Stirnhirnkranken“.

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Die ursprünglich auf die optische Sphäre bezogene „Gestaltstörung“ wird erweitert zur Domäne-übergreifenden Beeinträchtigung von Figur-Hintergrundsbildungen. Schon hier wird ein Zusammenhang angedeutet, der dann im Handbuchbeitrag zur Lokalisation in der Großhirnrinde (1927) – und erst recht im Aufbau – weiter ausgeführt wird: Einbußen der Figur-Hintergrundsbildung – in Gestalt einer Entdifferenzierung (Goldstein 1927, 668f.) – scheinen einen gemeinsamen Nenner kognitiver und sensomotorischer Funktionsstörungen des Gehirns darzustellen (ebd., 666f.). Der Vollständigkeit halber muss abschließend erwähnt werden, dass Nachuntersuchungen des Patienten Schneider in den Jahren 1942 und 1944 durch Neurologen, die nicht dem Umfeld der Goldstein-Schule angehörten, zu Zweifeln an der Authentizität der von ihm berichteten „Bewußtseinsinhalte“ führten (Bay et al. 1949; Jung 1949; vgl. Goldenberg, 2003, und Marotta & Behrmann, 2004, als zeitgenössische Analysen der Fallgeschichte – unter Berücksichtigung heutiger kognitionspsychologischer Modellvorstellungen). Anfang der 1950er Jahre hatte Goldstein im Rahmen von Besuchen in Deutschlang die Gelegenheit, seinen ehemaligen Patienten erneut zu explorieren und fand seine früheren Beobachtungen bestätigt (Danzer 2006, 65f.). In Goldsteins eigenen Worten: „So bekam ich den Eindruck, daß Schneider sich in Hinsicht auf die von uns angenommene Störung und sein Vorgehen, die Leistungsstörung zu verdecken, in keiner Weise verändert hat“ (Goldstein 1956, 333). Und es sei hinzugefügt, dass die von Gelb und Goldstein (1918/ 1920) erwähnte „kinästhetische“ Kompensationsstrategie bei visueller Agnosie auch von anderen Autoren beobachtet wurde (Marotta & Behrmann 2004, 635). Wie auch immer die Kasuistik des Patienten Schneider im Einzelnen zu bewerten sein mag, sie sollte hier die methodische Grundforderung Goldsteins veranschaulichen, eine umfassende und theoretisch unvoreingenommene psychologisch-phänomenale Analyse, um, erstens, Domäne-übergreifende Grundstörungen erfassen und, zweitens, etwaige Kompensationsstrategien aufdecken zu können. Der letztgenannte Gesichtspunkt verdient v.a. deshalb Beachtung, da Goldstein unmissverständlich feststellt, dass häufig der – augenscheinlichen – Rückbildung von sensomotorischen und kognitiven „Ausfällen“ nach erworbener Hirnschädigung „Umwegsleistungen“ zugrunde liegen dürften: „Bei näherem Zusehen handelt es sich aber oft tatsächlich nur um eine im Effekt ähnliche, ihrer Entstehung nach aber völlig verschiedene Leistung, die auf einem völlig anderem Wege als die frühere zustande kommt“ (Goldstein 1927, 686). Wird die Möglichkeit von Kompensationsstrategien nicht berücksichtigt, also keine „in-depth case study“ (Levelt 2013, 403) des Verhaltens eines Patienten vorgenommen, Goldsteins „core contribution to neuropsychology (ebd.), dann kann

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– fälschlicherweise – der Eindruck eines unbeeinträchtigten Leistungsniveaus entstehen (vgl. Goldstein 1956, 315, 317, 329).

6.4 Exkurs 2 / Kasuistik Patient Th.: Ursprünge und Entwicklung des Konzepts der abstrakt / kategorialen Einstellung Das Konzept einer abstrakten oder kategorialen Einstellung stellt eine Signatur, vielleicht sogar die bekannteste „Idee“ überhaupt des Goldstein’schen Werkes dar, zumindest im Bereich der Neuropsychologie („abstract attitude“; Caplan 1987, 112ff.; vgl. von Cramon 1998, 38). Exkurs_2 soll – erstens – eine Patientenuntersuchung vorstellen, die den Ursprung dieses Begriffs in den Blick rückt, und – zweitens – kurz auf die Monographie Abstract and Concrete Behavior: An Experimental Study with Special Tests aus dem Jahre 1941 eingehen, verfasst zusammen mit Martin Scheerer, die Goldsteins Überlegungen zu diesem Thema, die sich über mehr als zwei Dekaden hinweg erstrecken, abschließt. „The problem was first discovered and experimentally attacked by Gelb und Goldstein … led them to make a distinction between two modes of behavior – the abstract and the concrete. The normal person is capable of assuming both, whereas the abnormal individual is confined to but one type of behavior – the concrete. The abstract and concrete behaviors are dependent upon two corresponding attitudes“ (Goldstein & Scheerer 1941, 1). Beginnend mit zwei im Jahre 1906 veröffentlichten Arbeiten hat Goldstein in der Folgezeit eine Vielzahl an Publikationen zu den verschiedenen Formen und Varianten einer Sprachstörung bei Patienten mit Hirnverletzung verfasst (Meiers 1968, 271ff.), die 1948 in einem umfangreichen Text unter dem Titel: Language and Language Disturbances – Aphasic Symptom Complexes and their Significance for Medicine and Theory of Language ihre „ultimative“ Zusammenfassung gefunden haben („his ultimate 1948 text“; Levelt 2013, 402).42 Aus diesem Strang an Literatur sei eine Arbeit gezielt herausgegriffen, die am Beispiel einer spezifischen Benennstörung die Herkunft der angesprochenen Unterscheidung „abstrakt / kategorial“ versus „konkret“ verdeutlicht, eine begriffliche Bestimmung, die über den (neuro-)psychologischen Bereich hinaus auch Resonanz in der Philosophie, genauer, in der Tradition der Phänomenologie hervorgerufen hat. Insbesondere weist 42

Auf Einzelheiten der Sprachpsychologie und -pathologie Goldsteins muss im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden, vgl. dazu Noppeney 2000, 115-153.

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Aron Gurwitsch (1901–1973), ein Schüler Goldsteins, der dann ab 1933 in Frankreich Philosophie lehrte, darauf hin, dass Husserls Unterscheidung von „kategorialer Anschauung“ und „figuralen Momenten“ – letztere entsprechen in etwa den „Gestaltqualitäten“, auf die von Ehrenfels (1890) aufmerksam macht – eine bislang unbeachtete empirische Bestätigung in zahlreichen Fallstudien von Goldstein und seinen Mitarbeitern findet (Gurwitsch 1968, 121, 123).43 Der ausgewählte Aufsatz aus dem Jahre 1925, mit Gelb als Erstautor, trägt den Titel: Über Farbennamenamnesie, nebst Bemerkungen über das Wesen der amnestischen Aphasie überhaupt und die Beziehung zwischen Sprache und dem Verhalten zur Umwelt (aufgenommen in den Sammelband Kurt Goldstein. Selected Papers / Ausgewählte Schriften, herausgegeben von A. Gurwitsch, E.M. Goldstein Haudek und W.E. Haudek, 1971; dieser Wiederabdruck dient hier als Textgrundlage, zitiert als Gelb & Goldstein 1925/1971). Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichung steht Patient Th., der gegen Ende des Ersten Weltkrieges eine Granatsplitterverletzung im Bereich des linken Scheitelbeins erlitten hatte. Bei einer ausführlichen neurologisch-neuropsychologischen Untersuchung zwei Jahre später wurde eine sogenannte Farbennamenamnesie diagnostiziert, eine schwere, aber umschriebene, da auf Farben begrenzte Benennstörung, d.h. der betroffene Kranke war nicht mehr in der Lage, Farbbegriffe zu verwenden (in der deutschsprachigen Literatur heute in der Regel als „Farbbenennungsstörung“ bezeichnet, im angelsächsischen Schrifttum „color anomia“). Darüber hinaus fanden sich die sprachlichen Leistungen unbeeinträchtigt, nur „Gedächtnis und Rechnen etwas herabgesetzt“. Wurden dem Patienten z.B. unterschiedlich „getönte“ Papierschnitzel vorgelegt, dann konnte er nicht die Farbe eines herausgegriffenen Exemplars benennen, und umgekehrt war er nicht in der Lage, einem vorgesprochenen Farbennamen die passenden Papierschnitzel zuzuordnen: „Es bestand also bei dem Patienten eine schwere Störung im üblichen Benennen gezeigter Farben“ (Gelb & Goldstein 1925/1971, 65). Auf den ersten Blick (!) liegt somit eine Beeinträchtigung der Semantik von Farbbegriffen vor: „Word images or con43

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Goldstein selber konzediert in einem Aufsatz mit dem Titel: Notes on the development of my concepts (1959/1971) einen „besonderen“ Einfluss Husserls auf sein eigenes Denken (Goldstein 1959/1971, 11, vgl. Goldstein 1967, 162f.), allerdings findet sich weder im Aufbau, noch in Abstract and Concrete Behavior (1941), noch in Language and Language Disturbances aus dem Jahre 1948 irgendein expliziter Verweis auf den Begründer der Phänomenologie. Bemerkenswerterweise stellt Goldstein aber eine Verbindung zu einer anderen Tradition her, zum Werk des britischen Neurologen Henry Head (1861–1940): „Abstract behavior is about the same as what Henry Head has called symbolic behavior in relation to speech“ (Goldstein 1948, 7).

cept-word connections are weakened or gone“ (Levelt 2013, 400). Auch die Fähigkeit, die Farbe vorgestellter oder sich vorzustellender Gegenstände anzugeben, z.B. Erdbeeren, oder bei Vorgabe einer Farbqualität wie eines roten Papierschnitzels „passende“ Objekte herauszufinden, z.B. Blut, fand sich eingeschränkt (Gelb & Goldstein 1925/1971, 66).44 Auch im Falle des Patienten Th. kamen die schon erwähnten methodischen Prinzipien Goldsteins zur Anwendung, insbesondere die Forderung, (i) alle „Ausfälle“ / Symptome eines Patienten zu berücksichtigen und (ii) die Strategie, d.h. den Weg bzw. die Umwege bei der Lösung einer Aufgabe nachzuzeichnen (Gelb & Goldstein 1925/1971, 61). Bei einer Farbennamenamnesie, das wird schon durch diese Bezeichnung des Syndroms nahegelegt, stehen die sprachlichen „Ausfälle“ in Gestalt von „Wortfindungsstörungen“ im Vordergrund des Interesses. Aber Gelb und Goldstein bezogen auch die nicht-sprachlichen Verhaltensabweichungen des Patienten Th. in ihre Analyse des Syndroms mit ein, anstatt sie einfach als idiosynkratische Begleitsymptome auszublenden. Vor allem wurden die Autoren aufmerksam auf spezifische Schwierigkeiten ihres Patienten beim „Farbensortieren“ unter Verwendung der Holmgren’schen Wollproben, ein damals vor allem im Bereich der Augenheilkunde gebräuchlicher Test, den Farbensinn bzw. das Farbenunterscheidungsvermögen eines Menschen zu testen. Kurz: Den Probanden wurde die Aufgabe gestellt, unterschiedlich eingefärbte Fäden entsprechend ihrer Farbe zu ordnen, nach Maßgabe einer vorgegebenen Kategorie. Neben der Farbqualität – rot, blau, gelb etc. – unterscheiden sich die Wollfäden aber auch in anderen Dimensionen, insbesondere des Helligkeits- und des Sättigungsgrades oder auch der „Wärme“ des jeweiligen Farbtons (eine modifizierte und erweiterte Version der Holmgren’schen Wollproben findet sich ausführlich beschrieben in Goldstein & Scheerer 1941, 58-80, unter dem Titel: The Gelb-Goldstein Color Sorting Test). Wurde nun Patient Th. eine Wollsträhne als Muster vorgegeben und er instruiert, alle im Farbton vergleichbaren Fäden zu identifizieren und zusammenzustellen, dann waren charakteristische Auffälligkeiten zu beobachten:

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Farbbenennungsstörungen stellen immer noch eine schwer zu deutende Konstellation dar, können weder einer umschriebenen Hirnschädigung zugeordnet werden, noch lässt sich bislang ein kohärentes psycholinguistisches Erklärungsmodell formulieren. Darüber hinaus kommt das angesprochene sprachliche Defizit auch ohne begleitende Einbußen des Sortierens von Farben zur Beobachtung, Hinweis auf „the independence of color categorization from color naming in the adult brain“ (Bartolomeo 2021).

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(i) Häufig zeigte sich eine Kategorisierung der Stimuli anhand von Sättigungs- oder Helligkeitsgrad anstelle der vorgegebenen Farbqualität, „Missgriffe“, die bei gesunden Probanden nicht auftreten (Gelb & Goldstein 1925/1971, 77f.). (ii) Am sichersten war sich der Proband in der Zuordnung von völlig identischen Wollfäden, also Stimuli, die in allen Dimensionen, insbesondere Farbton und -helligkeit, übereinstimmten (ebd., 78). Gelb und Goldstein nahmen an, dass Patient Th. unter diesen Bedingungen sozusagen jeweils auf eine „primitivere“ Ebene des Sortierens zurückfiel, das sich nun an den elementaren und konkreten sinnlichen Eigenschaften der Stimuli orientierte bzw. orientieren musste. „Der Normale [pflegt, HA] alle Farben, die irgendwie zum Grundtone des Musters gehören, zu wählen, während Patienten [mit Farbennamenamnesie, HA] sich in einem ungewöhnlich stärkeren Maße an den konkreten, individuellen Eindruck des Musters halten“ (ebd., 81). Im Rückgriff auf Gedanken Husserls hat Gurwitsch (1968) dann vermutet, dass Patient Th. nicht mehr in der Lage war, einen Akt der kategorialen Anschauung durchzuführen, der den abstrakten Gegenstand „Röte“ intendiert, ihn sozusagen „gibt“, um dann diese Kategorie („Eidos“) als Kriterium des Sortiervorganges einzusetzen. Mit anderen Worten: Wird der Kranke instruiert, die Stimuli nach einem Farbton zu ordnen, z.B. Röte, dann ist er nicht fähig, die einzelnen Wollproben als Repräsentanten dieser vorgegebenen Kategorie zu identifizieren, lässt sich stattdessen von elementaren Sinneseindrücken leiten, d.h. der konkreten Farbschattierung oder des distinkten Helligkeits- und Sättigungsgrades der einzelnen Wollsträhnen. Unter diesen Bedingungen scheint sich dem Kranken gegenüber, aus welchen Gründen auch immer, meist der Helligkeitsgrad aufzudrängen. Die schon erwähnte Monographie von Goldstein und Scheerer aus dem Jahre 1941 verwendet häufig in diesem Zusammenhang den anschaulichen Begriff „to thrust“ oder „to push“, z.B. kann jedes Merkmal („any experiential aspect“) eines Gegenstandes „thrust itself penomenally in the foreground and push the formerly predominant aspect in the background“ (Goldstein & Scheerer 1941, 86, vgl. 89, 93, 111, 124). Und dann werden Stimuli sortiert nach Maßgabe ihrer Ähnlichkeit zu einem Merkmal, das sich eben aus welchen Gründen auch immer in den Vordergrund gedrängt hat, ein Vorgang, den Goldstein auch als „sensory cohesion“ oder „sensory congruency“ bezeichnet: „The subject unreflectively apprehended a definite organization of the articles which thrust themselves upon him as a palpable context of grouping; this may be a sensory cohesion in the ‚sphere‘ of color, form, material“ (Goldstein & Scheerer 1941, 86, vgl. 73, 78, 92). In einem weiteren Schritt haben dann Gelb und Goldstein dar-

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zustellen versucht, dass diese hypostasierte Beeinträchtigung der kategorialen Einstellung ebenfalls die sprachlichen Schwierigkeiten des Patienten Th. (Gelb & Goldstein 1925/1971, 87ff.), darüber hinaus weitere Formen einer Wortfindungsstörung, insbesondere auch das Benennen konkreter Gegenstände, zu erklären vermag (ebd., 115ff.). Als Konsequenz dieser Analyse stellt die Bezeichnung „amnestische Aphasie“, ein Syndrom, dem auch die Farbennamenamnesie als eine Kategorien-spezifische Variante zugeordnet wird, eigentlich einen „misnomer“ dar. Das definierende Symptom einer amnestischen Aphasie, die Wortfindungsstörungen, spiegelt kein Defizit von Sprache per se wider, sondern eine Beeinträchtigung von „abstract thought“, der vor-sprachlichen Fähigkeit, Gegenstände zu kategorisieren, als einer notwendigen Bedingung aller Benennungsleistungen (vgl. Levelt 2013, 400).45 Im Anschluss an die Kasuistik des Patienten Th. und vergleichbare klinische Beobachtungen haben Goldstein und Mitarbeiter vor allem in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre umfangreichere Patientenuntersuchungen vorgenommen, um abstraktes und konkretes Verhalten eingehender zu charakterisieren (z.B. Nadel 1938). Diese Reihe an Arbeiten hat ihren Abschluss gefunden in der schon erwähnten Monographie Abstract and Concrete Behavior (1941). Den weitaus umfangreichsten Teil des Werkes nimmt ein Manual ein, das ausführliche Leitlinien der Durchführung und der – an vielen Beispielen erläuterten – qualitativen Auswertung von fünf Testverfahren beinhaltet, die abstrakt / kategoriales Denken bzw. Verhalten überprüfen sollen. Als Hypothese der Arbeit kann, obwohl so nicht explizit formuliert, folgende Aussage gelten: „Abnormal individuals with functional disturbance of the brain cortex are incapable of assuming the abstract approach“ (ebd., 60, vgl. 34). Unter den „numerous cases“ (ebd., 30), die den vorgestellten Untersuchungen unterzogen worden waren, finden sich Kranke, die an einer Schizophrenie, einer dementiellen Entwicklung oder, im Rahmen der vorliegenden Abhandlung besonders relevant, einer Frontalhirnschädigung gelitten haben („damage to the left frontal or both frontal lobes and a control group of fifteen other patients with no clinical manifestations of mental deterioration“; ebd., 53). In Abstract and Concrete Behavior (1941, 4) wird dann eine Liste an Charakteristika des abstrakt / ka45

Das Konstrukt einer „kategorialen Einstellung“ wurde von Goldstein später auch zur Erklärung anderer Sprachstörungen herangezogen, z.B. Beeinträchtigungen der Lautstruktur oder der grammatikalischen Organisation verbaler Äußerungen (Goldstein 1948, 25f, 42f, 56f.). Allerdings zeigt sich schon beim Überfliegen der einschlägigen Passagen, dass den Einbußen der kategorialen Haltung dann nur eine Nebenrolle zukommt (Beispiel ebd., 42f.). Kurz: Goldstein „never claimed that a single disorder accounted for all the manifestations of aphasia“ (Caplan 1987, 112).

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tegorialen Verhaltens zusammengestellt, geringfügig modifiziert später von Language and Language Disturbances (1948, 6) übernommen, eine weitaus übersichtlichere Darstellung als – wie noch zu zeigen sein wird – die entsprechenden Passagen des Aufbaus. „The abstract attitude is the basis for the following conscious and volitional modes of behavior: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

To detach our ego from the outerworld or from inner experiences. To assume a mental set. To account for acts to oneself; to verbalize the account. To shift reflectively from one aspect of the situation to another. To hold in mind simultaneously various aspects. To grasp the essential of a given whole; to break up a given whole into parts, to isolate and to synthesize them. To abstract common properties reflectively; to form hierarchic concepts. To plan ahead ideationally; to assume an attitude towards the ‚mere possible‘ and to think or perform symbolically. Concrete behavior has not the above mentioned characteristics (Goldstein & Scheerer 1941, 4)“.

Konkretes Verhalten zeichnet sich demgegenüber insbesondere durch zwei Merkmale aus: einerseits eine „unreflektierte“ Reaktion im Sinne von „never mediated by discursive reasoning“ und andererseits – dazu komplementär – „passive surrender to the organization of one’s sense impressions“ (Außenwelt) als auch der „immediate claims … of thoughts and feelings“ („innere“ Welt; Goldstein & Scheerer 1941, 3, 112). In der Terminologie der immer wieder angesprochenen Ecological Psychology (vgl. Gibson 1986) formuliert: Die „affordances“ der unmittelbar präsenten Gegenstände der externen und internen Welt begrenzen den Bereich der Handlungsoptionen eines Individuums, z.B. perzeptuelle Gruppierungen die Möglichkeiten des kategorialen Sortierens von Stimuli. Demgegenüber eröffnet die abstrakte Einstellung auch kontrafaktische Spielräume, um Formulierungen Goldsteins aufzugreifen: „merely ‚possible‘ situations“, „a situation presented only in imagination“, „imagined things“ (Goldstein 1936, 32f., 38). Mehrere Äußerungen in Abstract and Concrete Behavior (1941) legen nahe, dass abstrakt / kategoriales und konkretes Verhalten, damit wohl auch die zugrunde liegenden Einstellungen, doch einen graduellen Übergang aufweisen könnten, zumindest sich überlappen: „We have to differentiate between various degrees of both the concrete and the abstract behavior“ (ebd., 7f; die Zeilen 10 und 22 auf Seite 8 legen nicht nur eine inhärente Abstufung der beiden Modi des Verhaltens jeweils in sich nahe, sondern auch eine Überlappung des „lower degree of abs-

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traction“ und eines „less concrete approach“, vgl. dazu ebd., 30, 49, 57, 74, 87; aber gegenteilige Aussage HN, 60). Es wäre unangemessen, die Unterscheidung einer abstrakt / kategorialen und einer konkreten Einstellung, eingeführt vor der kognitiven Revolution in den Sprach- und Lebenswissenschaften, an zeitgenössischen komputationalen Modellvorstellungen messen zu wollen oder heutige Maßstäbe der Testkonstruktion anzulegen. Einige wenige Anmerkungen sollen genügen: Die Liste aus Goldstein & Scheerer (1941) müsste sicherlich reorganisiert werden, z.B. wird man Einträge nos. 2 und 4 unter dem Begriff des „set shifting“ zusammenfassen wollen, die „items“ 6 und 7 dürften als Leistungen des Arbeitsgedächtnisses (no. 5) gelten; darüber hinaus stellen die beiden Autoren die fünf Tests des Manuals als Sortieraufgaben vor („special sorting tests“; ebd., 1), aber zumindest die erste Untersuchung überprüft in erster Linie visuell-konstruktive Fähigkeiten und die fünfte das non-verbale visuell-räumliche Kurzzeitgedächtnis; schließlich bezieht sich die achte Dimension des abstrakt / kategorialen Verhaltens auf das topographische Gedächtnis (ebd., 7; eine ausführlichere Bewertung des Konzepts einer abstrakt / kategorialen Einstellung vor dem Hintergrund der aktuellen neuropsychologischen Literatur findet sich in Frommelt 2015). Die unter dem Terminus „abstrakt / kategorial“ vereinigten Bereiche lassen sich in zeitgenössischer Perspektive am ehesten den Exekutivfunktionen, dem Arbeitsgedächtnis und „höheren“ räumlich-konstruktiven Leistungen zuordnen, die an die Integrität des Stirn-, aber auch des Scheitellappens beider Hemisphären gebunden sind. Und eben eine derart weit gefasste lokalisatorische Zuordnung der Einbußen abstrakt / kategorialer Einstellung wird auch von Goldstein mehrfach ausdrücklich festgehalten („related to a much greater part of the cortex than the frontal lobes“; Goldstein 1949, 105, vgl. Goldstein 1936, 39f.). Vor diesem Hintergrund lassen sich die angesprochenen „Defizite“ auch nicht exklusiv einer Schädigung des Frontalhirns zuordnen, eine Annahme, die durch die doch umfangreiche Serie an Arbeiten Goldsteins zur Neuropsychologie des Stirnlappens, insbesondere nach seiner Emigration in die USA entstanden, nahegelegt werden könnte (vgl. Meiers 1968, v.a. nos. 230, 232, 241, 271, 272, 278, 289, 1950). Um diese Reihe an Veröffentlichungen richtig zu bewerten, ist zu berücksichtigen, dass noch im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umstritten war, ob und inwieweit eine Schädigung dieses Hirnareals überhaupt zu kognitiven Einschränkungen führt: „The greatest controversial question has revolved about whether or not a lesion of the frontal lobes of the brain will lead to mental changes“ (Nadel 1938, 6). Insbesondere die Entwicklung der frontalen Lobotomie, eine chirurgische Durchtrennung von Verbindungen des Stirnhirns mit anderen Arealen des zentralen Nervensystems, bei einigen psychiatrischen Erkrankungen damals in Erwägung gezogen, rückte

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ab Mitte der 1930er Jahre diese Thematik verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit (weitere Einzelheiten zu dieser Technik in Goldstein 1950). Vor diesem Hintergrund stellen sich die angesprochenen Schriften Goldsteins nicht der Aufgabe, Einbußen der kategorial / abstrakten Einstellung als exklusive Symptome einer Verletzung des Stirnhirns herauszustellen, sondern wollen wohl belegen, dass überhaupt kognitive Defizite „an dieser Stelle“ auftreten können. Der Frage nach der Exklusivität dieser Lokalisation wird, so der Eindruck bei der Lektüre, eher aus dem Weg gegangen, aber dann in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1956 doch eindeutig beantwortet: „In Schädigung bestimmter Hirnstellen (des Stirnlappens oder des Parietal-Occipitallappens) … tritt besonders die Störung des abstrakten Verhaltens als Ausdruck der Schädigung der Grundfunktion hervor“ (Goldstein 1956, 331; ähnliche Aussagen zur Lokalisation finden sich auch in Goldstein 1927, 666, und dann Goldstein 1949, 105). Eine abschließende Bemerkung zur wissenschaftshistorischen Einordnung des Konzepts der abstrakten / kategorialen Einordnung: Unter all den (sprach-)psychologischen Vorstellungen, auf die Goldstein in seinen Veröffentlichungen Bezug nimmt, stellt – wie schon erwähnt – die Gestalttheorie „perhaps the most important influence“ dar (Caplan 1987, 113). Ist dann die „abstract attitude“ oder – um zwei weitere Bezeichnungen Goldsteins einzuführen – „conceptual“ bzw. „voluntary attitude“ (Goldstein 1948, 6, 43) nicht auch in den Rahmen der Gestaltpsychologie einzuordnen? Vor allem in Abstract and Concrete Behavior (1941) wird mehrfach auf die gestaltpsychologische oder zumindest quasi-gestalthafte Konfiguration eines Figur-Hintergrundgeschehens Bezug genommen (z.B. ebd., 8, 32ff.). Aber Kategorien oder Symbole stellen eben keinen aus einer Szene hervortretenden Vordergrund dar, sind keine Muster oder Abläufe im perzeptuellen Raum wie beispielsweise das Gestaltphänomen einer Bewegung, sondern konzeptuelle Konfigurationen, artikulieren sich sozusagen in einer „language of thought“ (Fodor 1975). Mit anderen Worten: Gestalten sind zwar mehr als die Summe ihrer Teile, aber nicht ohne diese Komponenten präsent, im Falle kategorialer Anschauung verblassen die Teile, sprich Empfindungen: „form a more or less irrelevant background“ (Gurwitsch 1968, 136). Der Begriff „Gestalt“ taucht vor allem auf in Verbindung mit dem Phänomen einer Gruppierung von zwei oder mehreren Stimuli aufgrund ihrer perzeptuell-sensorischen Eigenschaften („sensory cohesion“) in eine „color whole“ (Goldstein & Scheerer 1941, 84, vgl. 43, 59). Mit anderen Worten: Gestalttheoretische Ordnungsfaktoren scheinen überhaupt erst so recht nach Ausfall der „abstract attitude“ zum Tragen zu kommen, also das Verhalten nicht der gesunden Probanden, sondern eher der Patienten mit Hirnschädigung zu bestimmen. Aber im Aufbau heißt es dann doch wieder: „Das Symbol muss den Charakter einer ‚Gestalt‘ aufweisen“ (AO,

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310). Die sozusagen wissenschaftstheoretischen Überlegungen Goldsteins zur Biologie stellen, dabei muss es wohl belassen werden, noch keine kohärente und bis in die Einzelheiten durchgearbeitete Modellvorstellung dar.

6.5 Der Aufbau des Organismus: „Vom [kranken] Menschen aus … das Verhalten der anderen Lebewesen … begreifen“ – Reflexmechanismen versus Hermeneutik des Verhaltens 6.5.1 Randnotizen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes Goldstein hat wohl schon am Abend des 05. April 1933, noch am Tag seiner Entlassung aus der „Haft“, Berlin Richtung Schweiz verlassen. Etwa eineinhalb Jahre später – Anfang Oktober 1934 – erreichte er von Cherbourg / Frankreich aus die USA. Die zahlreichen Reisen während dieser Zeitspanne innerhalb Europas, v.a. nach Frankreich und England, erfolgten wahrscheinlich auch auf der Suche nach einer beruflichen Perspektive (Benzenhöfer & Hack-Molitor 2017, 27ff.).46 Im Oktober 1933 bewilligten eine niederländische Stiftung und die Rockefeller Foundation Gelder zur Unterstützung der „Forschungen von Goldstein an der Universität Amsterdam“ für einen Zeitraum von zunächst einem Jahr (Benzenhöfer & Hack-Molitor 2017, 30ff.). Ab Herbst 1933 hielt sich Goldstein dann – allerdings mit mehrfachen Unterbrechungen – bis zur transatlantischen Überfahrt wohl in Amsterdam auf. Ein Brief an eine frühere Mitarbeiterin in Berlin vom 30.12.1933 berichtet: „Ich habe hier wesentlich theoretische Arbeit“ (ebd., 33f.). Diese Aussage bezieht 46

Darstellungen des Lebenslaufs von Goldstein finden sich z.B. in Danzer 2006, Hoffmann & Stahnisch 2014, und Frommelt & Grötzbach 2015; was den Zeitraum zwischen der Emigration aus Deutschland und dem Jahr 1940 anbelangt, darf auf Benzenhöfer & Hack-Molitor, 2017, verwiesen werden, eine akribische Recherche anhand von Archivmaterialien. Autobiographische Angaben enthalten Goldstein 1959/1971 und 1967, auch Bach 1962 (ein Interview mit Goldstein; vgl. Danzer 2006, 260). Mehrere ehemalige Mitarbeiter und Kollegen Goldsteins haben schließlich in einem von seiner Schülerin Marianne L. Simmel, 1968, herausgegebenen Gedenkband „personal impressions“ mitgeteilt, weitere Reminiszenzen finden sich in einem Aufsatz von Teuber 1966, Goldstein war Pate seiner Kinder. Eine Rekonstruktion der Arbeitsverhältnisse Goldsteins in Frankfurt am Main vor dem Hintergrund der Entwicklung des von Edinger 1907 gegründeten Neurologischen Instituts (Edinger 2005, 208ff.) hat Kreft, 2005, vorgelegt, unter Verwendung einschlägiger Akten aus mehreren in Frankfurt am Main beheimateten Archiven.

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sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Niederschrift bzw. das Diktat des Aufbaus, eine Arbeit, die sich anscheinend über lediglich fünf bis sechs Wochen hingezogen hat bzw. in diesem kurzen Zeitraum erledigt worden sein musste (Simmel 1968, 7). Noch im Jahre 1934 konnte das Werk gedruckt in Den Haag erscheinen. Die widrigen Umstände der Abfassung von Goldsteins Opus magnum – es entstand sozusagen während einer Atempause auf der Flucht – dürften redaktionelle Schwächen im Aufbau des Aufbaus erklären, deshalb die etwas ausführlichere Darstellung der Entstehung dieser Schrift. (i) Wahrscheinlich standen Goldstein in Amsterdam die relevanten deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung, ein Sachverhalt, der die doch oft unvollständigen Verweise auf Publikationen anderer Autoren erklären dürfte. Und diese „Lücken“ konnten immerhin als so schwerwiegend imponieren, dass vor einigen Jahren ein Antrag auf Sachbeihilfe bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht wurde mit dem Ziel, die „eigenen und fremden Quellen“ dieser Schrift zu identifizieren (Benzenhöfer & Hack-Molitor 2017, 34, Anm. 56). (ii) Die Entstehung des Aufbaus dürfte unter erheblichem Zeitdruck erfolgt sein: Goldstein war einerseits immer wieder von Amsterdam aus im europäischen Ausland unterwegs, hat auch an Kongressen teilgenommen (vgl. Meiers 1968, 286), andererseits wurde er während dieser Zeitspanne in Anspruch genommen durch die Scheidung von seiner ersten Ehefrau und die nachfolgende Heirat mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin Eva Rothmann.47 Diese Umstände dürften mit dazu beigetragen haben, dass diese Schrift nicht richtig durchkomponiert wirkt und immer wieder den Eindruck erweckt, dass Materialien vorausgegangener Veröffentlichungen relativ lose, ohne stringente Überleitung, aneinandergereiht werden. Beispielsweise erfolgt im letzten Drittel des sechsten Kapitels ein eher abrupter Themenwechsel von Bewegungsvorgängen zum „Phänomen der Angst“ (vgl. dazu Goldsteins Artikel Zum Problem der Angst aus dem Jahre 1929), dann folgt eine Erörterung des „psycho-physischen Problems“ (vgl. Das psychophysische Problem in seiner Bedeutung für ärztliches Handeln, 1931), schließ47

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Geroulanos & Meyers (2014, 13) schreiben: „Der Legende nach entstand das imposante Werk in einem kräftezehrenden fünfwöchigen Diktiermarathon“. Die inzwischen vorliegenden Daten zu Goldsteins vielfältigen Aktivitäten während seines Aufenthaltes in Amsterdam lassen die „Legende“ als durchaus glaubwürdig erscheinen.

lich eine Untersuchung des Verhältnisses von Psychoanalyse und Biologie, Thema auch eines Vortrages im Jahre 1927 (vgl. Danzer 2006, 259; Referenzen in Meiers 1968, 284f.), danach richtet sich der Fokus auf das Verhalten von Organismen, nun wieder mit Schwerpunkt auf physiologischen Prozessen. Und dieser angesprochene letzte Abschnitt des sechsten Kapitels, Titel: Ausgezeichnetes und geordnetes Verhalten, dürfte sich auf einen etwa 60-seitigen Artikel aus dem Jahre 1929 stützen (vgl. Meiers 1968, 285). Schlussendlich werden Fragestellungen immer wieder nur angetippt, obwohl ihnen erhebliche Bedeutung im Rahmen einer Lehre vom Aufbau des Organismus zukommt, z.B. der Begriff der Zweckmäßigkeit (AO, Kapitel 7.7, etwa eine Buchseite). (iii) Das Werk hat auch dadurch eine gewisse Unwucht bzw. einen sperrigen Charakter, dass in einem erheblichen Umfang empirisch-wissenschaftliche Daten referiert werden, die sich in Einzelheiten experimentell-neurophysiologischer und klinischer Forschung verlieren und wohl – aufgrund des angesprochenen Zeitdrucks – nicht an den Horizont einer breiteren Leserschaft angepasst werden konnten. So drängt sich gelegentlich der Eindruck auf, dass die philosophischen „Früchte“ des Werkes aus einem Gestrüpp empirischer Befunde erst noch zu „bergen“ sind. Der Aufbau zieht – wie schon eben angesprochen – weiträumig empirisch-wissenschaftliches Material insbesondere aus den 1920er Jahren heran, nicht nur Verhaltensbeobachtungen und apparative Untersuchungen an gesunden und kranken Menschen, sondern auch tierexperimentelle Daten. Schließlich werden damals zeitgenössische Modellvorstellungen aus dem Bereich der Neuro- und Lebenswissenschaften, z.B. der Gestaltpsychologie, erörtert. Vor diesem Hintergrund muss auf die wissenschaftshistorische Einordnung von Goldsteins eigenen empirisch-wissenschaftlichen Arbeiten, sein Literaturverzeichnis umfasst immerhin mehr als 300 Einträge (Meiers 1968), kurz eingegangen werden. Goldstein gilt – ein geläufiger Topos unter Neuropsychologen und Neurolinguisten – als ein herausragender Vertreter des sogenannten „non-localizationist camp“ der Hirnforschung, auch als „holists“ bezeichnet (vgl. Caplan 1987, 134ff.), einer, ja, Reformbewegung im Bereich der Neurowissenschaften, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausbildete und dann bis in die 1960er Jahre hinein das Feld beherrschen sollte. Er war jedoch kein – zumindest kein radikaler – Bilderstürmer, der sich völlig von der Tradition seiner – von ihm kritisierten – Vorgänger abgewendet hätte, ein Denkansatz, der immerhin Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine Renaissance erlebte und auch heute noch die Grundlage der Aphasiologie darstellt. Beispielsweise schreibt er im Aufbau Bezug nehmend auf die Frage nach den wesentlichen Eigenschaf-

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ten eines Organismus: „Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Organismus kennen. Es kann für uns kein Zweifel sein, dass wir zu dieser Erkenntnis nur auf dem Wege der wissenschaftlichen, zergliedernden, analysierenden Methode kommen können“ (AO, 49). Und in der nachfolgenden Abhandlung Human Nature aus dem Jahre 1940 heißt es, „the atomistic method is the only legitimate scientific procedure for gaining facts“ (HN, 9).48 Darüber hinaus wird von Goldstein eingeräumt, dass sich die von ihm kritisierten „älteren Arbeiten“ aus dem Bereich der „klassischen Aphasielehre“ auf ein „an sich richtiges Forschungsprinzip“ stützen (AO, 13f.). Aber diese „älteren Arbeiten“ würden – erstens – keine ausreichend „genaue Analyse aller vorliegenden Leistungsstörungen“ beinhalten und deshalb – zweitens – zu einer voreiligen „Theoriebildung“ führen (AO, 13ff.). Es wäre aber überzogen zu behaupten, Goldstein „started a new method in neurological analysis of cases“ (Luria 1966, 312), eher ging es um eine Verfeinerung der Beschreibung der Leistungen eines Patienten – unter Miteinbezug von psychologischen Untersuchungstechniken. „The pattern of work for which he and his group became known: the insistence on exhaustive analysis of the single case, and the use of psychological laboratory methods in elucidating the nature of neurological symptoms“ (Teuber 1966, 302). Diese Anforderungen führten dann unter Umständen zu einer exzessiven Detailversessenheit, die selbst in den Augen seiner Schüler übertriebene Ausmaße annehmen konnte: Die Fallgeschichten erinnern gelegentlich eher an eine „platonic idea of a brain-injured patient“ als an einen Patienten aus Fleisch und Blut (Teuber 1966, 306; das Buch Das innere Auge: Neue Fallgeschichten (32015) von Oliver Sacks kann als rezentes Beispiel dienen).49 Geschwind (1964) hat aber darauf hingewiesen, dass Goldsteins Analysen empirisch-wissenschaftlicher Arbeiten im zweiten Teil des schon erwähnten umfangreichen Handbuchartikels Die Lokalisation in der Grosshirnrinde aus dem Jahre 1927 sich weitgehend in konventionellen Bahnen 48

Ohne diesen Hintergrund hätte Goldstein nicht über mehrere Jahrzehnte hinweg seine Arbeiten in den damals anerkannten und renommierten Fachzeitschriften veröffentlichen können, wäre nicht in den Herausgeberkreis wissenschaftlicher Journale oder den Vorstand von Berufsverbänden berufen worden etc. Die wohl ausgefeiltesten Überlegungen Goldsteins zum Verhältnis von „holistic approach“ und „analytic method in science“ finden sich in Human Nature (HN, 21ff.).

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Goldstein hat im Verlauf seiner Tätigkeit als Neurologe eine Reihe von Filmen anfertigen lassen, die sein, ja, quasi-experimentelles und systematisch durchdachtes Vorgehen bei der Untersuchung von Patienten mit Hirnschädigung illustrieren, ein Zugang, der weit über die „Standardtests“ der klinischen Praxis hinausgeht. Drei restaurierte „Fallstudien“ finden sich ausführlich beschrieben und kommentiert in einer Veröffentlichung von Geroulanos & Meyers aus dem Jahre 2014.

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der Untersuchung von Patienten mit erworbener Hirnschädigung bewegen (ebd., 218). Um einen anderen Experten heranzuziehen: Sie erfolgten „in the best traditions of classical neurology“ (Luria 1966, 311). Demgegenüber setze sich – so Geschwind – der erste Teil mit, in heutiger Terminologie, theoretischen Modellvorstellungen zu den „Mechanismen“ der Leistungen des zentralen Nervensystems auseinander und zeige sozusagen den „typischen“ Goldstein, „critical of classical approaches and stressing organismic considerations“ (Geschwind 1964, 218). Etwas verkürzt formuliert will der Autor in etwa sagen, „dass die ganzheitliche Neurologie aus einer großen Menge bombastischer Rhetorik bestehe, die zwar radikal klinge, aber in der Praxis den lokalisierenden Ansätzen des 19. Jahrhunderts verbunden bliebe“ (Harrington 1996/2002, 428, Anm. 7). Die Entstehungsgeschichte von Goldsteins Opus magnum dürfte auch die anfänglich geringe Resonanz dieser Schrift erklären. Alles in allem scheinen nur zwei Rezensionen des Aufbaus aus den ersten Jahren nach der Veröffentlichung, beide 1936 publiziert, vorzuliegen: (i) eine kurze Notiz von Paul Tillich (1886 – 1965), Theologe und Religionsphilosoph, den Goldstein wohl Ende der 1920er Jahre persönlich kennengelernt hatte und zwischen denen sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte, das dann auch in den USA weiter bestehen sollte, und (ii) eine ca. 30 Seiten umfassende Besprechung des Werkes durch Siegmund Heinrich Fuchs (1898 – 1976), der sich ab Ende der 1930er Jahre, nach der Emigration, S.H. Foulkes nannte, ein ehemaliger Mitarbeiter Goldsteins aus der Frankfurter Zeit (vgl. Bruns 2011, 10f., 128, 131f.). In Frankreich stieß Goldsteins Opus magnum auf mehr Interesse. Schon Ende der 1930er Jahre hat Gurwitsch eine zusammenfassende Darstellung dieses Werkes in der Zeitschrift Journal de Psychologie normale et pathologique veröffentlicht (Gurwitsch 1939). Insbesondere Merleau-Ponty und Georges Canguilhem (1904 – 1995) haben an Überlegungen aus dem Aufbau angeknüpft, standen in brieflichem Kontakt mit Goldstein und trugen dazu bei, dass 1951 eine französische Übersetzung unter dem Titel: La structure de l’organisme – Introduction à la biologie à partir de la pathologie humaine veröffentlicht werden konnte (Geroulanos & Meyers 2014, Kapitel 4.3 und 4.4). Überblickt man die Sekundärliteratur sozusagen aus der Vogelperspektive, dann kann der Eindruck entstehen, dass Goldstein vor allem in Frankreich als Philosoph oder – bescheidener formuliert – als philosophisch relevanter Denker wahrgenommen wurde, die Rezeption in den USA sich demgegenüber eher auf die Bereiche (Neuro-)Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse konzentrierte, deshalb weni-

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ger den Aufbau in den Blick rückte (vgl. Bruns 2011, 115, Anm. 1, 116). Diese Schwerpunktbildung fällt sofort ins Auge, wenn in Betracht gezogen wird, welche US-amerikanischen Zeitschriften eine Würdigung Goldsteins zu seinem 80. Geburtstag und dann einige Jahre später anlässlich seines Todes publiziert haben: American Journal of Psychotherapy, American Journal of Psychoanalysis, American Journal of Psychology, Journal of lndividual Psychology, Social Research. Hervorzuheben ist aber, dass immerhin nach der ersten englischen Übersetzung aus dem Jahre 1939 eine zweite Ausgabe 1995 erscheinen konnte, mit einem Vorwort von Oliver Sacks. Im deutschen Sprachraum wurde das Werk Goldsteins erst ab Mitte der 1980er Jahre langsam wiederentdeckt (Kreft 2005, 235), zuvörderst im Rahmen von Beiträgen zur Geschichte der Psychoanalyse, Psychosomatik, Gestalttherapie und Gestaltpsychologie (Kütemeyer & Schultz 1984; Laier 1996; Kreft 2005 [enthält weitere Referenzen]; Danzer 2006). Was nun die Rezeption des Aufbaus anbelangt, so ist festzuhalten, dass eine Darstellung, die der ganzen Spannweite an neurologischen, psychologischen und philosophischen Themen und Motiven Rechnung trägt, immer noch als ein „Desiderat der Forschung“ zu gelten hat (Benzenhöfer & Hack-Molitor 2017, 34; zusammenfassende Wertung des Hauptwerkes in Hoffmann & Stahnisch 2014, XXXVIIff.).

6.5.2 Vorbemerkungen zum Aufbau des Aufbaus des Organismus Im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen stehen die Kapitel 1 bis 6 des Aufbaus, die einen – weitgehend – zusammenhängenden Gedankengang bilden, den man unter die Überschrift einer Ganzheitstheorie des Organismus stellen könnte – „unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen“. Es liegt somit in der Natur der Sache, dass die entsprechenden Ausführungen Goldsteins in die Tiefen – und Untiefen – der Neurowissenschaften führen müssen. Die verbleibenden Anteile des Buches – einige Abschnitte des sechsten Kapitels und die Kapitel 7 bis 12, immerhin etwa ein Drittel des Gesamtumfangs – lassen sich am ehesten charakterisieren als nur lose eingefügte oder aneinandergereihte Essays zu sehr unterschiedlichen Topoi bis hin zu „Notizen“ einer Länge von ein bis zwei Seiten. Die weitgespannte Thematik beinhaltet u.a. das „Phänomen der Angst“, das Verhältnis von Psychoanalyse und Biologie bzw. Bewusstsein und Unbewusstem, Gedanken zu Normalität und Anomalien, Vererbung und Züchtung, Leben und Geist, einschließlich einer Kritik an Schelers Kosmos-Schrift, und schließlich eine Auseinandersetzung mit der Gestaltpsychologie. Der essayistische oder teilweise sogar fragmentarische Cha-

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rakter dieser „Einwürfe“ ist immer wieder schon daran ersichtlich, dass die Überschriften mit der Präposition „über“ oder „zur“ beginnen. Ein Grund der Berücksichtigung gerade dieser Fragestellungen ist sicherlich darin zu sehen, dass die Lehre vom Aufbau des Organismus das entsprechende Themenfeld zu erhellen vermag. Beispielsweise geht Goldstein (Kapitel 8) auf die Frage ein, wie PatientInnen und ÄrztInnen das „Kranksein“ eines Menschen überhaupt bemerken. Dreh- und Angelpunkt der „Diagnose“ stellt die erlebte „Störung im Ablauf der Lebensvorgänge“ dar, ein „ungeordnetes Verhalten im ganzen Organismus“, eine Katastrophenreaktion, gekennzeichnet durch „Erschütterung und Gefährdung der Existenz“ (AO, 333). Weitere Beispiele wären das Phänomen der Angst oder das „psycho-physische“ Problem (siehe unten). Ein ausführlicheres Referat der einzelnen Essays würde zu weit führen. Finden sich Ergänzungen oder Abweichungen zur Darstellung der Ganzheitstheorie des Organismus im Aufbau (Kapitel 1 bis 6), dann wird auf die entsprechenden Inhalte über Querverweise Bezug genommen.

6.5.3 Das „Verhalten von Organismen verstehen“ – ausgehend von Beobachtungen bei Menschen mit Hirnverletzung: Methodische Vorüberlegungen (Einleitung) Bisher, so Goldstein zu Beginn der Einleitung in sein Opus magnum, hätten alle „Versuche, das Leben zu verstehen“, bei den „einfacheren“ oder „niederen“ Kreaturen eingesetzt, um dann – in der Tradition des bis in die Antike zurückreichenden Konzepts einer Stufenleiter – komplexere Lebewesen als eine „Differenzierung“ oder „Ausgestaltung“ der elementareren Formen darzustellen.50 Goldstein will nun den umgekehrten Weg einschlagen und vom Menschen ausgehend das Verhalten der anderen Lebewesen zu begreifen versuchen (AO, 3). Der wesentliche Grund für diese Umorientierung einer „Darstellung der Lebenserscheinungen“ liegt darin, dass das Konzept der physiologischen bzw. psychologischen Einfachheit dem Autor im Verlauf seiner langjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit immer fragwürdiger geworden ist. Weder der Vorgang der Wahrnehmung noch der Ablauf einer Hand50

Im zweiten Abschnitt des neunten Kapitels geht Goldstein unter der Überschrift: Der hierarchische Aufbau des Lebendigen ausführlicher ein auf das in der Geistesgeschichte weit zurückreichende Konzept einer Abfolge von Schichten – nach „höher“ und „niedriger“ gewichtet – der Natur. Resumé: Es macht zumindest auf dem derzeitigen Stand des Wissens keinen Sinn, Stufenordnungen des Organischen zu entwerfen (ausführlichere Erörterung unten).

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lung lassen sich nach einem Baukasten-Prinzip aus den Elementen („Atomen“) der Empfindung respektive der Reflexe zusammengesetzt denken, vielmehr scheint sich die Zuordnung der Begriffe „einfach“ und „komplex“ zu den Phänomenen Empfindung versus Wahrnehmung und Reflex versus Handlung umzukehren. In den Worten Goldsteins: „Immer mehr wurden Empfindung und Reflex … zum schwierigeren Problem“, d.h. zur komplexeren Erscheinung (AO, 4), ließen sich demzufolge nicht mehr als „Atome“ der Perzeption bzw. der Motorik begreifen, sondern stellten sich als Abstraktionen heraus. Im weiteren Verlauf des Aufbaus wird dann das angesprochene Bild eines Baukastens ersetzt durch das Schema des Figur-Hintergrundgeschehens, d.h. die zunächst und auf den ersten Blick invarianten Elemente von Wahrnehmung und Bewegung „verflüssigen“ sich zum volatilen Aspekt eines umfassenderen Geschehens (AO, 4).51 Noch in einer weiteren Hinsicht wurde Goldstein die Bedeutung der Termini „einfach“ und „komplex“ im Bereich von Physiologie und Psychologie fragwürdig. Diese beiden Begriffe „können einen brauchbaren Sinn nur gewinnen, wenn man sie nicht vom Betrachter her, sondern vom Organismus, auf den sie angewandt werden, aus bestimmt“ (AO, 4f.), setzen somit eine „Beschreibung der besonderen Wesenheit“ eines Lebewesens voraus. Im Vergleich zu anderen Tieren, denen wir „hilflos“ gegenüberstehen, wenn es um die Bewertung ihres Verhaltens geht, dürfte diese Aufgabe an uns selbst noch am ehesten durchführbar sein, deshalb können die Menschen „als einfachster Ausgangspunkt der Betrachtung“ gelten. Ob wir uns selbst als die „uns am besten bekannte“ Kreatur verstehen dürfen, bleibe dahingestellt, zumindest können wir auf so etwas wie Introspektion Bezug nehmen. Mit anderen Worten: Die auf einen ersten Blick so durchsichtige Rubrizierung physiologischer bzw. psychologischer Vorgänge als „einfache“ bzw. „komplexe“ Sachverhalte gerät bei näherer Betrachtung in Schwierigkeiten und verstrickt sich – so Goldstein – in zwei weitere und grundlegendere Fragestellungen: Das perzeptuelle oder motorische Verhalten eines Lebewesens kann nur in Bezug – erstens – auf eine „bestimmte gewohnte abstrahierende Einstellung“ und – zweitens – auf die „besondere Wesenheit der einzelnen Organismen“ hin als einfach bzw. komplex eingeordnet werden. Goldsteins Erörterung des „Aufbaus des Organismus“ setzt also ein bei unserer eigenen Gattung, soll aber „nicht von normalen, sondern von patho51

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Zur Entwicklung der neuzeitlichen Reflexlehre, die ihre Ursprünge im 17. Jahrhundert hat, vgl. Canguilhem 1955/2008; die russische bzw. sowjetische Tradition der Reflexologie als des „Versuchs einer mechanistischen Seelenkunde“ wird skizziert in Engmann 2020; eine sehr gedrängte Zusammenfassung der Tradition der Assoziationspsychologie, die Empfindungen sozusagen als „geistige Atome“ konzipiert, findet sich in Harrington 1996/2002, 50ff., 197.

logischen Erscheinungen ausgehen“ (AO, 5). Darüber hinaus werden – aus naheliegenden Gründen – als „Material“ der Analysen „fast ausschließlich die Erfahrungen über Untersuchungen des nervösen Geschehens“ dienen (AO, 7). Unter diesem Titel finden sich Befunde zusammengefasst, die bei Patienten mit Hirnverletzung oder -erkrankung erhoben wurden. Goldstein räumt ein, dass es Wissenschaftler gibt, „die … die Heranziehung pathologischen Materials verwerfen“ (AO, 5). Aber fehlerhafte Rückschlüsse aus an Kranken erhobenen Daten auf „die Anschauungen über die normalen Vorgänge“ lassen sich bei sorgfältiger und überlegter Arbeit vermeiden. In diesem Rahmen betrachtet Goldstein die an Menschen feststellbaren „pathologischen Erscheinungen“ als Analoga zu den „Beobachtungsergebnissen“ experimenteller Studien. „Experimentelle Eingriffe und Krankheit sind in der Hinsicht, in der uns das Material hier interessiert, prinzipiell das Gleiche; in beiden Fällen handelt es sich um Beobachtungen bei Schädigung des Substrates“ (AO, 6). Obwohl nicht explizit vermerkt, kann in diesem Fall eigentlich nur das Tierexperiment gemeint sein, auch weil die angesprochenen Eingriffe der „einfachen Tierbeobachtung“ gegenübergestellt werden. An Menschen käme als „Experiment“ mit „Substratschädigung“ nur eine operative Intervention im Bereich des Nervensystems in Betracht, eine Maßnahme, die aber im weiteren Verlauf der Schrift kaum zur Sprache kommt (Ausnahme: Nerventransplantation), demgegenüber werden tierexperimentelle Befunde immer wieder diskutiert. Die Einleitung des Aufbaus umfasst drei Abschnitte mit den Überschriften: (i) Ausgang der Betrachtung von Erfahrungen am Menschen, (ii) Ausgang von der Pathologie und (iii) Biologie als Wissenschaft von den lebendigen Wesen. Im dritten Teil wird die Frage angesprochen, ob das anstehende Vorhaben nicht zuallererst eine Definition dessen, „was eigentlich lebendig ist“, erforderlich mache, eine Frage, die auch Plessner an den Anfang der Stufen stellt (GS IV, 76). Vergleichbar Plessners Rückgriff auf die vorwissenschaftliche Erfahrung formuliert Goldstein: Das Material der Analyse des Organischen „ist einfach die Welt um uns, aus der sich gewisse Erscheinungen als lebendige unmittelbar absondern, ohne dass wir uns zunächst darüber Rechenschaft geben … warum wir sie als lebendige bezeichnen“ (AO, 8). Der Versuch einer Definition des „Lebens“ zu Beginn der Untersuchung würde in einen Zirkel führen, kann also erst am Ende stehen, „wird doch der Gegenstand selbst erst während der Forschungsarbeit offenbar“. Mit anderen Worten: Auch ohne eine Bestimmung des Begriffs des Organischen als Richtschnur biologischer Forschung an der Hand zu haben, sind die sich in der vorwissenschaftlichen Erfahrung als lebendig absondernden Gegenstände „in systematischer Weise in ihrem jeweiligen Sosein so eindeutig zu beschreiben“, dass, ja, „wir sie wiedererkennen, unterscheiden, ‚erkennen‘, dass wir unterscheiden können, ob und

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wie sie miteinander vergleichbar sind und in irgend einer Beziehung zu einander stehen, die wir Abstammung voneinander etc. nennen können“ (AO, 8). In diesem Zusammenhang kommt ein grundlegendes methodisches Motiv zur Sprache, auf das nicht erst im Aufbau dann vielfach verwiesen wird, sondern das auch schon in den einschlägigen Originalarbeiten und in den Handbuchbeiträgen anklingt: die Forderung nach bzw. der Verweis auf „genauere Beobachtung“. Es heißt beispielsweise im ersten Kapitel des Aufbaus: „Die genauere Beobachtung vieler Fälle lehrt“ (AO, 27). Auf der Grundlage dieser ersten methodischen Überlegungen kann das Vorhaben einer Bestimmung des „Aufbaus von Organismen“ zumindest begonnen werden: (i) Ausgangspunkt der Erörterungen des Aufbaus sind „pathologische Materialien“, d.h. Befunde, die an Patienten mit Hirnverletzung oder -erkrankung erhoben wurden, ergänzt – wie sich herausstellen wird – durch Befunde an gesunden Probanden und tierexperimentelle Studien. Mit anderen Worten: Resultate empirisch-wissenschaftlicher Forschung („isolierende Analyse“), so wie in den anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften und Handbüchern archiviert, bilden – auch – die Grundlage dieses Werkes. Und es wird erwartet, dass die Erträge der Analyse der angesprochenen „pathologischen Materialien“ sich verallgemeinern lassen „in Hinsicht auf die Vorgänge im Organismus überhaupt“ (AO, 7). (ii) Aber: Aus den unter Verwendung (natur-)wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden identifizierten Bau- und Funktionsteilen („Atomen“) sollen die Organismen nicht – nach Maßgabe des Vorgehens im Bereich der „unlebendigen Gegenstände der Natur“ – als gesetzmäßig aufgebaute Konglomerate oder Aggregate von Empfindungen oder Reflexen rekonstruiert werden, da diese Elemente in ein umfassenderes Figur-Hintergrundgeschehen eingebettet sind, sozusagen als die „verselbständigten“ Figuren dieses Geschehens zu gelten haben.52 Die präliminaren Ausführungen der Einleitung des Aufbaus zum Vorgehen 52

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Aus diesen Überlegungen folgt, etwas näher beleuchtet in Kapitel 7 des Aufbaus, die Unterscheidung von „Gliedern“ und „Teilen“ eines Organismus. „Es ist unsere Aufgabe, aus dieser Masse der Erscheinungen die Glieder von den Teilen zu trennen und erstere auf die Form ihrer Eingegliedertheit, ihre Bedeutung für den Organismus weiter zu erforschen“ (AO, 322). Mit anderen Worten: Der Organismus ist gegliedert, aber nicht aus Gliedern zusammengesetzt. Eine an diese Überlegungen anknüpfende, etwas kryptische Fragestellung wird gegen Ende des zehnten Kapitels aufgeworfen: „Wie steht es nun mit der Frage der Lebendigkeit der Teile?“ (AO, 403).

der Untersuchung finden eine Fortsetzung im siebten Kapitel, das sich mit dem „Wesen biologischer Erkenntnis“ befasst, und dann zu Beginn von Human Nature unter der Überschrift: The holistic approach and the analytic method in science. Mehrfach kommt Goldstein in diesem Rahmen auf Goethe zu sprechen. Wohl in Anlehnung an dessen Vorstellung einer „Urpflanze“ werden die Metaphern eines „Urbildes“ bzw. des „Bildcharakters der Wesenheit“ eines Organismus ins Spiel gebracht (AO, 307), zugänglich in „einer Art Schau etwa im GOETHEschen Sinne“, die aber „immer auf dem Boden sehr empirischer Tatsachen steht“ (AO, 301, vgl. 310f.). Aber: „Wir werden uns nicht mit irgendeiner Form intuitiver Schau begnügen … Wir wollen, wie jede Naturwissenschaft … von der isolierenden Analyse, von den „Teilen“ des Organismus ausgehen“ (AO, 9). An einer anderen Stelle wird – etwas prosaischer formuliert – die „Schau im GOETHEschen Sinne“ als „schöpferische Einbildungskraft“ bezeichnet (AO, 309). Ausgangspunkt von Goldsteins Überlegungen ist jedoch zunächst – eher unerwartet – die mathematisch-physikalische Theoriebildung in der Deutung seines Cousins Ernst Cassirer, die um den Begriff einer symbolischen Form kreist. Konzepte wie Wellen oder Korpuskeln stellen erdachte „Symbole“ dar, erdacht aber in dem Sinne, dass sie das Ergebnis „höchst komplexer intellektueller Deutungsprozesse“ darstellen, die es uns dann erlauben, das „Verhalten“ von Licht zu erklären und vorauszuberechnen. Goldstein: „Die hier vertretene Art biologischer Erkenntnis stimmt in ihrer Grundtendenz mit der so verstandenen physikalischen Erkenntnis überein. Auch sie begnügt sich nicht mit einer einfachen Ordnung der empirischen Feststellungen; auch für sie gibt es keinen direkten Übergang zwischen diesen und dem Erkenntnisziel, dem Bild des Organismus. Auch bei ihr muss, wie bei der physikalischen Erkenntnis, die ‚schöpferische Einbildungskraft‘ wirksam werden“ (AO, 309). In Human Nature wird es dann heißen, dass biologische Erkenntnis darauf abziele, „to transcend ‚empirical‘ facts and create images, ‚symbols‘, which are suited for gaining a coherent understanding of the ‚facts‘“ (HN, 27). Im Gegensatz zu den symbolischen Formen der Physik hat das Symbol – an anderen Stellen auch als „Idee“ bezeichnet (vgl. AO, 301) – des Organismus aber „die Qualität und die Individualität in ihr Bild einzubeziehen“, kann sich nicht in einem mathematischen Formalismus erschöpfen (AO, 310). Als ein weiterer Aspekt muss die Idee des Organismus im Gegensatz zu Symbolen der Physik, erinnert sei an den schon erwähnten Dualismus von Wellen- und Korpuskulartheorie des Lichts, als eine Einheit bzw. Ganzheit konzipiert werden: „weil jede Handlung hier das Ganze berührt und bei mangelhaftem Bezug zum Ganzen zwar eventuell für einen – ja immer nur künstlich isolierten – Teil richtig sein kann, das Ganze aber zerstören kann“ (AO, 310). Die Ausführungen Goldsteins müssten oder sollten in eine Grundlegung der Biolo-

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gie bzw. der Lebenswissenschaften als einer Philosophie der symbolischen Form münden, bleiben aber – anregendes – Fragment. Eine wesentliche Frage wäre, wie die im Aufbau immer nur als – unvollständige – Listen artspezifischer und individualtypischer Konstanten, v.a. physiologische Parameter, charakterisierten „besonderen Wesenheiten der einzelnen Organismen“ (siehe unten) zur Einheit eines Symbols kondensieren (AO, 301, vgl. 310f.). Um nun auf die methodische Forderung nach „genauerer Beobachtung“ zurückzukommen: Wenn die „Wesenheit“ eines Organismus zugänglich wird in „einer Art Schau etwa im GOETHEschen Sinne“, die aber „immer auf dem Boden sehr empirischer Tatsachen“ erfolgen muss, dann ist zum einen die genaue und umfassende Beobachtung individueller Nuancen des Verhaltens unumgänglich und zum andern ist auch nachvollziehbar, dass „unsere Erkenntnis auf biologischem Gebiete … niemals eine endgültige sein kann, sondern dass wir uns immer mit einer zunehmenden Annäherung an die Wahrheit begnügen müssen“ (AO, 316). Und deshalb kann „eine einzige neue Tatsache die ganze auf dem Früheren aufgebaute Vorstellung“ umwerfen und zu einer Revision der bisherigen Annahmen nötigen. Dieser Sachverhalt setzt dem Verstehen der Handlungen anderer Menschen Grenzen und ermöglicht dann die von Goldstein angesprochenen „Überraschungen“. Der hier exponierte Gedanke findet sich wieder in Human Nature, allerdings prosaischer formuliert: „We usually proceed in such a way that from certain facts gained by analysis we sketch a picture of the whole organism, which in turn, so long as we encounter discrepancies between this picture and factual experience, stimulates further questions and investigations“ (HN, 26, vgl. AO 222). Goldstein spricht von einem empirischen Vorgehen „in a dialectic manner“. Und die „Schau etwa im GOETHEschen Sinne“ des Bildes bzw. der Idee eines individuellen Organismus verdünnt sich zur „working hypothesis“ (HN, 31).

6.5.4 Kritik des Konzepts eines modularen Aufbaus der Hirnrinde: Vom Leistungsabbau nach kortikaler Läsion bei Menschen zu „einigen allgemeinen Gesetzen der Tätigkeit des Organismus“ (Kapitel 1) Wie schon in der Einleitung avisiert will der Aufbau u.a. ausgehend von den „Erscheinungen“, die bei einem hirnrindengeschädigten Menschen zu beobachten sind, über die Ableitung „gewisser allgemeiner Gesetze“ des Leistungsabbaus zu Einsichten in die Funktionsweise eines Organismus überhaupt gelangen: der Dreh- und Angelpunkt dieses Unternehmens (AO, 13ff.). Zunächst stellt Goldstein fest, dass die „älteren Arbei-

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ten“ zur Symptomatik dieser Patienten sich zwar auf ein „an sich richtiges Forschungsprinzip“ gestützt haben, aber aufgrund „theoretischer Vorstellungen“, sprich, Vorurteile, den Fehler einer „zu frühzeitigen Theoriebildung“ begehen. Als Beispiel einer „zu frühzeitigen Theoriebildung“ hinsichtlich der Lokalisation von höheren Hirnleistungen zieht der Aufbau die „klassische Aphasielehre“ heran, die – grob umrissen – ausgehend von der Erstbeschreibung der „klassischen“ Sprachzentren in den bahnbrechenden Arbeiten von Paul Broca (1824 – 1880) und Carl Wernicke (1848 – 1905), ein Lehrer Goldsteins, bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts hinein als Grundlage der Forschung diente. Um den Gedanken Goldsteins kurz zusammenzufassen: Im Rahmen der „herrschenden Vorstellungsund Assoziationspsychologie“ wird aus der Fülle der „Erscheinungen“ ein Hauptsymptom ausgewählt, das die mit dem Schädigungsort spezifisch assoziierte Funktionsstörung widerspiegeln soll, die dann zur Erklärung der anderen Ausfälle, nun zu bloßen Begleitsymptomen degradiert, herangezogen wird. Um derartige „Kurzschlüsse“ zu vermeiden, formuliert Goldstein wie schon im Handbuchartikel aus dem Jahre 1927 drei methodische Prinzipien, die bei der Untersuchung hirnrindengeschädigter Patienten beachtet werden müssen: (i) „Man muss alle Erscheinungen, die ein Organismus, etwa ein Kranker bietet, berücksichtigen und zunächst keiner einen Vorrang bei der Beschreibung geben“ (AO, 17). (ii) Der Effekt einer Schädigung ist „in Hinsicht auf die zugrunde liegende Leistung mehrdeutig. Hier kann nur eine eingehende Analyse des Zustandekommens des Resultates respektive des Versagens Aufklärung bringen“ (AO, 18). (iii) „Die dritte methodische Forderung … geht dahin, dass keine Erscheinung ohne Bezug auf den Organismus und die Situation, in der sie zur Beobachtung kommt, betrachtet wird“ (AO, 20). Werden Patienten mit Hirnrindenschädigung in dieser Weise umfassend untersucht, ohne vorschnelle und voreilige theoretische Deutung der Daten, dann lassen sich – wie oben in Aussicht gestellt – „gewisse allgemeine Gesetze des Abbaus der Funktion“ formulieren (AO, 23f.): (i) „Niemals fallen einzelne Leistungen … isoliert aus“. (ii) „Niemals fällt ein Leistungsgebiet total aus“.

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(iii) Unabhängig von der Lokalisation des Schädigungsgebietes sind die zu beobachtenden Störungen „der Art nach die gleichen“, d.h. „Ausdruck ein und derselben Grundveränderung“, und (iv) diese Grundveränderung lässt sich als „Störung bestimmter Verhaltensweisen und bestimmter Funktionsstörungen charakterisieren“. Einwände gegen die angesprochenen „methodischen Forderungen“ und die auf ihrer Grundlage abgeleiteten „allgemeinen Gesetze des Abbaus der Funktion“ müssen nicht im Einzelnen erörtert werden, ein Unterfangen, das sich zu sehr in Details neurologischer und neuropsychologischer Befunde verlieren würde (vgl. AO, 21f.). Angesprochen werden soll aber die postulierte „Grundveränderung“ in Gestalt einer „Störung bestimmter Verhaltensweisen“, da dieses Postulat in Verbindung steht mit einer grundlegenden, aber kontrovers diskutierten Unterscheidung Goldsteins, einer der bekanntesten Topoi seines Werkes (vgl. z.B. Gurwitsch 1968): die Unterscheidung von konkretem und abstraktem bzw. kategorialem Verhalten oder – im Vorgriff auf spätere Ausführungen allgemeiner formuliert – das Konzept der Entdifferenzierung als formaler Grundveränderung einer Hirnschädigung. Dass es sich bei diesem Geschehen um einen formalen Aspekt des Leistungsabbaus handeln muss, obwohl die zitierte Aussage uneindeutig wirkt, lässt sich durch folgende Äußerung belegen: Die angesprochene Grundveränderung „zeigt sich bei allen Leistungen, beim Handeln, beim Wahrnehmen, beim Denken, beim Wollen, beim Fühlen etc. etc.“ (AO, 24). Alle diese Funktionen sind dem Patienten noch möglich, aber lediglich in einer spezifisch eingeschränkten Art und Weise. Im Bereich der mentalen oder kognitiven Leistungen wird sich Entdifferenzierung so äußern: „Man kann sagen: überall, wo der Patient von einer konkreten Gegebenheit absehen muss, um etwas zu leisten, wo er sich lediglich imaginär auf etwas beziehen müsste, da versagt er; überall dort, wo der Effekt durch konkretes Tun anhand eines ‚handgreiflich‘ vorliegenden Materiales zustande kommen kann, da leistet er Brauchbares. Jedes Hinausgehen-müssen über das ‚Wirkliche‘ in bloß ‚mögliche‘ nur ‚gedachte‘ Sphären bringt ihn zum Scheitern“ (ebd.). Und nun unmissverständlich auf den Punkt gebracht: „je nach dem ob das eine oder andere Gebiet … mehr oder weniger betroffen ist, wechseln die Symptome; die Grundstörung bleibt aber die gleiche“ (AO, 25). Goldstein führt eine Reihe von Beispielen dieser Beeinträchtigungen des abstrakt / kategorialen Verhaltens an, auch als Störung des „symbolischen Ausdrucks“ eingestuft (AO, 24f.): (i) Unfähigkeit des „sich in die Situation eines anderen Versetzens“ und

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(ii) des Verstehens der „übertragenen Bedeutung“ von Äußerungen, (iii) Verlust des „Begriffs vom Zahlwert“, (iv) eine Beeinträchtigung des Vermögens, das Wesentliche eines Vorgangs zu erfassen, oder (v) „Orte und Richtungen im objektiven Raum“ anzugeben, (vi) Einbußen „des willkürlichen Verhaltens bei relativem Erhaltensein des durch die Situation direkt bedingten Tuns“ etc. Dass die angesprochene Grundveränderung nicht nur kognitive Domänen kompromittiert, folgt daraus, dass Goldstein auch die Feinmotorik in diesem Zusammenhang erwähnt, also z.B. die Fähigkeit, die Finger wie beim Klavier- oder Gitarre-Spiel unabhängig voneinander, d.h. fraktioniert, zu bewegen. Und im Handbuchartikel aus dem Jahre 1927 werden sogar – ausdrücklich – willkürliche Reaktionen als abstrakte Vorgänge eingestuft – allerdings doch in Anführungszeichen gesetzt (ebd., 677). Da nun einem der schon genannten „allgemeinen Gesetze des Abbaus der Funktion“ zufolge niemals ein Leistungsgebiet total ausfällt, lassen sich aus der Differenz von „normalen Leistungen“ und pathologischen, d.h. residualen „Erscheinungen“ die differenziertesten Aspekte menschlichen Verhaltens bestimmen, von Goldstein eben als die Fähigkeit der abstrakten bzw. kategorialen Einstellung zusammengefasst. Aus Sicht der zeitgenössischen kognitiven Neuropsychologie sind die angesprochenen „Defizite“ sicherlich mit unterschiedlichen „Funktionsapparaten“ des Gehirns assoziiert. Und die Fähigkeit des „sich in die Situation eines anderen Versetzens“, heute als „theory of mind“ bezeichnet, und die Orientierung im Raum anhand allozentrischer Koordinaten lassen sich wohl nicht auf dieselben zerebralen bzw. kognitiven Mechanismen beziehen. Aber eben „mechanistische“ Vorstellungen werden von Goldstein ja als unzulänglich eingestuft. Die Formulierung, „der Abbau erfolge in der Richtung von einer differenzierteren und prägnanteren Ausgestaltung zu einem mehr am amorphen Gesamtverhalten“ orientierten Leistungsprofil (AO, 25; Rechtschreibfehler im Original), soll nicht auf eine gemeinsame zugrunde liegende Hirnfunktionsstörung dieser „pathologischen Erscheinungen“ verweisen, sondern – wie herausgestellt – das übereinstimmende formale, aber anschauliche (!) Moment einer Entdifferenzierung der Interaktionen eines Organismus mit Gegenständen seines Umfelds bezeichnen. Und in diesen Rahmen ist der Begriff des abstrakten oder kategorialen oder symbolischen Verhaltens einzuordnen.

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Zu Beginn der Einleitung, darauf wurde schon hingewiesen, hat Goldstein „seine Darstellung der Lebenserscheinungen“ abgegrenzt von der weit verbreiteten Konzeption einer Stufenleiter des Organischen von „unten“ nach „oben“: Sein Unternehmen gehe demgegenüber „vom Menschen aus und suche von da her das Verhalten der anderen Lebewesen zu begreifen“ (AO, 3; vgl. Ebke 2012, 348ff.). Vor diesem Hintergrund wäre eine „inverse“ Stufenleiter der Lebewesen zu erwarten, die ausgehend vom gesunden bzw. kranken Menschen die Ränge des Organischen abwärts bis zu den einfachen Lebensformen entfaltet. Im Rahmen des ersten Kapitels wird tatsächlich von einer „Stufenleiter des Abbaus“ gesprochen, die dann sozusagen „das Bild einer Hierarchie der Leistungen“ fundiert (AO, 27). Das nach einer Hirnschädigung ausgefallene oder beeinträchtigte kategoriale Verhalten dürfte – so Goldstein – die charakteristischsten, insofern „wesenswichtigsten“ Eigentümlichkeiten unserer Spezies umfassen, diejenigen der „höchsten ‚Wertigkeit‘“. Grund: In ihnen und durch sie stellt sich die Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren am deutlichsten dar. Dieses Argument scheint – auf den ersten Blick – zu implizieren, dass eine Hirnschädigung den Patienten auf die Stufe eines Tieres zurückwirft, eine natürlich völlig unzulässige Schlussfolgerung, da das lädierte menschliche Hirn eben ein menschliches Hirn darstellt. Die Annahme einer „gestuften“ Ordnung der unbelebten und der lebendigen Natur des Organischen wird dann in Kapitel 9 wieder aufgegriffen und, ja, sehr zurückhaltend betrachtet, abgesehen von der hier angesprochenen Hierarchisierung von konkretem und kategorialem Verhalten. Aber der Aufbau zielt – um den weiteren Verlauf kurz vorweg zu nehmen – nicht ab auf die Darstellung einer Stufenleiter. Ausgehend von der Beobachtung, unter Einschluss klinischer Befunde, dass eine Erkrankung bzw. Verletzung des Gehirns die „Einbettung“ eines Patienten in sein zugehöriges Milieu gefährdet und die Beziehungen zur jeweiligen Umwelt reorganisiert werden müssen, lassen sich „Selbsterhaltung“ bzw. „Selbstverwirklichung“ als die Aufgabe eines jeden Organismus bestimmen. Eine Bewertung von Leistungen oder Merkmalen als „höher“ oder „niedriger“ ist vor diesem Hintergrund schlussendlich fragwürdig, ja, unangemessen (AO, 27f.). Aus dem oben erwähnten ersten der drei methodischen Prinzipien folgt, dass bei einem Patienten mit Hirnschädigung eine möglichst umfassende Beschreibung der Leistungseinschränkungen, der Ausfälle oder Symptome erfolgen muss. Formulierungen der Art „die genauere Beobachtung … lehrt“ finden sich – wie schon erwähnt – oft in Goldsteins Opus magnum (hier AO, 27). Während im Verlauf des ersten Kapitels bislang die Beschreibung der Funktionsausfälle im Vordergrund stand, ein Unterfangen, das zum Konzept des kategorialen Verhaltens führte, sollen nun ergänzend „die erhaltenen Leistungen“ betrachtet werden (AO, 29). Erst beide Per-

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spektiven zusammen, so wäre an dieser Stelle zu ergänzen, rücken das „Gesamtverhalten“ eines erkrankten oder verletzten Organismus in den Blick, das „zunächst als ein regelloser und nicht durchschaubarer Wechsel von Leistungen und Ausfällen erscheint“ (ebd.). Und – auch hier schon wieder ins Spiel gebracht – die „genauere Betrachtung“ des Gesamtverhaltens erlaubt, „zwei objektiv feststellbare Grundverhaltungsweisen“ herauszuarbeiten, denen „die effektiv guten respektive die mangelhaften Leistungen zugehören“ und die jeweils einen spezifischen subjektiven und objektiven Charakter aufweisen: (i) Im Falle des geordneten Verhaltens finden sich den Ressourcen des individuellen Organismus und den Anforderungen der jeweiligen Situation angepasste bzw. adäquate Leistungen vor, begleitet von einem Gefühl entspannter und „behaglicher“ (sic, HA) Aktivität; (ii) die andere Grundverhaltensweise, etwas überzeichnet als „katastrophale Reaktion“ benannt, geht mit einem „Zustand, den wir gewöhnlich als Angst bezeichnen“, einher und macht sich bemerkbar durch inkohärentes Handeln, „eingebettet in Erscheinungen körperlicher und seelischer Erschütterung“, bis hin zu einer eingeschränkten Reaktionsfähigkeit (AO, 29f.). Eine Hirnschädigung führt mithin – genauso wie die „experimentelle Zerstörung bestimmter Gebiete“ des Nervensystems im Tierversuch (!) – zunächst zu einer Unordnung des Verhaltens (AO, 30ff.), die aber eher selten das von Goldstein beschriebene Ausmaß einer „Katastrophenreaktion“ annimmt (neuere Literatur zu dieser Thematik in Frisch 2014, 159). In der Regel entwickelt sich dann bei einem Patienten mit bleibendem „Defekt“ im Verlaufe der Zeit wieder eine „geordnete“ Konstellation. Der Tierversuch bleibt zunächst außer Betracht, erst gegen Ende dieser Erörterungen (AO, 38) folgt die Anmerkung, dass die bei Menschen zu beobachtenden „Feinheiten der Verhaltensänderung“ bei non-humanen Spezies häufig übersehen werden dürften. Um nun auf die Hirnschädigung bei Menschen zurückzukommen: Werden Patienten in diesem wieder geordneten Zustand untersucht, dann stellen wir an den erhaltenen Leistungen eine Reihe von Eigentümlichkeiten fest, die „geeignet sind, uns zu zeigen, wie der ungeordnete Organismus wieder zu Ordnung gelangt“. (i) Eine Möglichkeit der Anpassung liegt in der „Umwandlung des Milieus“ oder, im einfachsten Falle, in der Vermeidung von Situationen, die eine Katastrophenreaktion hervorrufen könnten (AO, 32ff.). In anderen Worten: „ein defekter Organismus gelangt zu geordnetem Verhalten … durch eine dem Defekt entsprechende Einschränkung seines Milieus“ (AO, 38). In

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der Terminologie der Soziobiologie könnte man diese Veränderungen der Umwelt als „niche construction“ oder „re-construction“ bezeichnen (z.B. Odling-Smee et al. 2003). (ii) Als eine zur „niche construction“ komplementäre „Strategie“, Ordnung des Verhaltens trotz einer bleibenden Hirnschädigung – wieder – herzustellen, erwähnt Goldstein die „Tendenz zur möglichen Höchstleistung“ von Lebewesen (AO, 38ff.). Das Wort „Strategie“ wurde hier in Anführungszeichen gesetzt, da sich diese Veränderungen vom betreffenden Patienten unbemerkt entwickeln können. Im Gefolge dieser „Tendenz“ mag sich durch Reorganisationsvorgänge im Bereich des Nervensystems oder durch die Entwicklung von Kompensationsmechanismen eine Ausfallserscheinung zumindest teilweise, z.B. im Alltag, kompensieren lassen. Als eindrückliches Beispiel sei die von Gelb und Goldstein (1918/1920) ausführlich dokumentierte Fallgeschichte des Patienten Schneider genannt, der Texte, die ihm vorgelegt wurden, mit Hilfe entsprechender Bewegungen seiner Hände und seines Kopfes sozusagen schreibend lesen konnte (vgl. Exkurs_1 / Kasuistik Patient Schneider). Um zu rekapitulieren: Beobachtungen an Patienten mit Hirnrindenschädigung deuten darauf hin, dass die geklagten Beschwerden und „Ausfälle“ vor dem Hintergrund der Fähigkeiten und Fertigkeiten des „ganzen“ Organismus betrachtet werden müssen, um zu verstehen, wie Funktionseinschränkungen, residuale Ressourcen und unbeeinträchtigte Leistungen bei der Ausgestaltung der Symptomatik zusammenwirken. Diese Perspektive von Ganzheitlichkeit führt aber unweigerlich zu der Frage, die gegen Ende des ersten Kapitels gestellt wird: „Was meinen wir eigentlich mit diesem ‚Ganzen‘, das wir vorsichtiger Weise meist in Anführungsstricheln setzen?“ (AO, 49). Ganzheitliche Betrachtung muss die, ja, zunächst nur registrierten Eigenschaften eines Organismus dahingehend beurteilen, ob es sich wirklich um „echte“ Eigenschaften handelt. In anderen Worten: Ganzheitlichkeit verliert sich im Ungefähren oder in einer Fülle an Phänomenen, wenn sie nicht ein Kriterium zur Verfügung hat, das wesentliche und unwesentliche Aspekte des Verhaltens eines Organismus zu unterscheiden erlaubt. Beispielsweise könnte Patient Schneider beim Lesen im Rahmen seiner Kompensations“strategie“ immer mit den Ohren wackeln, weil er schon vor der Kriegsverletzung – als eine persönliche Schrulle – unter Anstrengung diese Marotte an den Tag gelegt hat. Um eine Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften treffen zu können, „müssen wir den Organismus kennen“ (AO, 49). Wie schon in der Einleitung erwähnt, soll von empirisch-wissenschaftlichen Befunden ausgegangen werden, um die „Idee“ des Organismus näher zu be-

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stimmen, nicht von irgendwelchen (pseudo-)philosophischen Intuitionen oder esoterischen Inhalten. Um diesen wichtigen Gedanken noch einmal unmissverständlich festzuhalten, soll auch hier die entsprechende Passage im Wortlaut wiedergegeben werden: „Wir werden uns nicht mit irgendeiner Form intuitiver Schau begnügen … Wir wollen, wie jede Naturwissenschaft, ja jede Wissenschaft überhaupt, von der isolierenden Analyse, von den ‚Teilen‘ des Organismus ausgehen; schon deshalb, weil uns ja gar kein anderes als dieses diskursive Vorgehen möglich ist, wollen wir uns nicht mit phantasievollen Allgemeinheiten begnügen“ (AO, 9).

6.5.5 Kritik des Konzepts eines modularen Aufbaus des „Bewegungsapparates“ von Lebewesen: Leistungen eines Organismus versus Funktionen eines Mechanismus (Kapitel 2, 4–5) 6.5.5.1 Vorbemerkungen Das erste Kapitel des Aufbaus galt der „Analyse der Erscheinungen bei Hirnrindenläsion“ (AO, 48). Als eine wesentliche Einsicht stellte sich heraus, dass die einzelnen Defizite oder Symptome immer auf das „Ganze“ des Organismus hin bezogen werden müssen, um sie richtig einordnen zu können. Es sei an den Patienten Schneider erinnert (Exkurs_1 / Kasuistik Patient Schneider). „Weitere Untersuchungen werden uns zeigen, dass eine solche Bezogenheit auch für solche Leistungen … gilt, die wir nicht mit dem Großhirn in Beziehung bringen“ (AO, 48). Wie in den folgenden Passagen zu zeigen sein wird, kommt diesen Überlegungen auch Geltung zu für den Bereich der Reflexe, die eben nicht (nur) durch die Hirnrinde, sondern (in erster Linie) über phylogenetisch ältere und hierarchische untergeordnete Strukturen des Nervensystems wie Hirnstamm und Rückenmark vermittelt werden.

6.5.5.2 Grenzen einer Lehre vom „Reflexaufbau“ des Verhaltens – erste Annäherung: Die grundlegende Variabilität Reiz-abhängiger Reaktionen „One of the most persistent motifs in Goldstein’s work since the first world war has been his rejection of Sherringtonian reflex-physiology“ (Teuber 1966, 306). Oder in anderen Worten: „Goldstein strenuously objected to mere reflex interpretation of behavior, because he saw in spontaneity of action a basic biologic phenomenon, certainly of higher dignity

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than mere reaction, and logically prior to it“ (ebd., 307). Bezug genommen wird in diesem Zitat auf das Werk des britischen Neurophysiologen Charles Scott Sherrington (1857–1952; vgl. AO, 85, Anm. g), der – angeblich – elementare Bewegungsmechanismen von der Art des auch (neurowissenschaftlichen) Laien bekannten „Kniescheibenreflexes“ (Synonyme: Patellarsehnenreflex, Quadrizepsreflex; Beispiel eines Dehnungs- oder Eigenreflexes, der elementarsten Form eines Reflexmechanismus) als Bausteine komplexerer Bewegungsfolgen einstufte. Vor diesem Hintergrund wurde beispielsweise der Lokomotionsablauf als eine sich selbst unterhaltende sequentielle Verkettung derartiger Dehnungsreflexe betrachtet. Sherringtons Arbeiten verdienen das Prädikat „klassisch“, da seine Untersuchungen, die im Jahre 1932 mit dem Nobelpreis gewürdigt wurden, zu grundlegenden Einsichten in die „Funktionsweise des Neurons“ (AO 85, Anm. g) führten, auf die wohl in allen einschlägigen Lehrbüchern Bezug genommen wird. Das zweite Kapitel des Aufbaus umfasst nun eine umfangreiche und immer noch lesenswerte Übersicht – damals zeitgenössischer – empirisch-wissenschaftlicher Befunde und theoretischer Modellvorstellungen zum „Reflexaufbau des Organismus“. Die klassische „Lehre von den Reflexen“ geht in den Worten Goldsteins von folgender Annahme aus: Es handelt sich „beim Organismus um ein Zusammen von isolierbaren Apparaten von konstantem Bau und von konstanter Veränderungsmöglichkeit durch Umweltvorgänge (Reize), mit konstanten Reaktionen auf diese Vorgänge; gewöhnlich, aber nicht notwendig gebunden an das Vorhandensein eines mehr oder weniger gegliederten nervösen Apparates. … Und so wurde das zerstückelnde, isolierende Experiment die ideale Erkenntnisgrundlage für diese Anschauung“ (AO, 57). Im Verbund eines Organismus können durch „gegenseitige Förderung oder Hemmung“ der „einzelnen Apparate“ dann natürlich kompliziertere und „schwerer durchschaubare“ Effekte beispielsweise im Bereich der perzeptuellen oder motorischen Funktionen zustande kommen, aber nichtsdestotrotz muss „das Leben des ganzen Organismus als aus diesen Einzelleistungen [der einzelnen Apparate. HA] zusammengesetzt gedacht“ werden (AO, 58). In zeitgenössischer Terminologie: Diese Ausführungen Goldsteins zum „Reflexaufbau des Organismus“, insbesondere verbunden mit dem Namen Sherringtons, zeichnen das Bild eines modularen Konzepts des Nervensystems. Und jedes distinkte Modul weist, ob nun isoliert getestet oder integriert in ein Netzwerk von Einheiten, unveränderliche computationale Eigenschaften auf. Es sei hier aber nochmals daran erinnert (siehe oben), dass Goldstein grundsätzlich die Methoden der naturwissenschaftlichen Tradition, in der das Werk von Sherrington steht, anerkennt (AO, 9, 49). Dennoch: Mehr oder weniger zeitgleich mit der Verleihung des Nobelpreises an Sherrington aufgrund, ja, epochaler Arbeiten zu den neuroanatomischen und -physiolo-

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gischen Korrelaten von Reflexen wirft Goldstein die Frage auf, ob es denn Reflexe „im strikten Sinne des Wortes“ überhaupt geben könne (AO, 58). Auf den ersten Blick zumindest attackiert Goldstein ein Fundament der Neurowissenschaften. Um das Konzept eines Reflex-Moduls zu überprüfen, will sich Goldstein nun „die Tatsachen“, auf die sich diese Lehre stützt, „näher anschauen“ (AO, 58). Über mehr als 10 Seiten hinweg werden tierexperimentelle Befunde und Beobachtungen an Menschen zusammengetragen, die auf eine „Fülle von Variationen der normalen Reflexe“ hindeuten (AO, 59-73). Beispielsweise vermag schon eine geringfügige, auf den ersten Blick – oder für den Laien – belanglose Veränderung der Versuchssituation wie die Modifikation der Lagerung einer Extremität eine „Umkehr der Wirkung“ ein und desselben Reizes hervorzurufen (AO, 62). Zusammenfassend zeigt diese Literaturübersicht in den Worten Goldsteins, „wie unmöglich jeder Versuch einer Isolierung eines einzelnen Momentes als bestimmend für die Reizwirkung ist“ (AO, 67). Allerdings schränkt er selber die Aussagekraft dieser Überlegungen ein: „Konstante Reaktionen erfordern strengste Isolierung von Reiz und reagierendem Teil vom übrigen Organismus und Isolierung der Reaktion in zeitlicher Beziehung von anderen Reaktionen“, sind also nicht prinzipiell ausgeschlossen, sondern kommen offensichtlich eben nur in einer „mehr natürlichen Situation des Organismus“ nicht zur Beobachtung (AO, 67f., vgl. 63). Diese Konzessionen deuten auf eine Achillesferse der Erörterungen zur Reiz-Reaktions-Variabilität hin. Das Konzept eines Reflex-Moduls schließt nicht aus, dass eine Vielzahl von internen, d.h. dem Organismus selber zugehörigen, oder situativen Faktoren Reflexe modifizieren können. Die entscheidende Frage wäre, ob sich unter – soweit überprüfbar – völlig identischen Bedingungen eine Reiz-Reaktions-Variabilität beobachten lässt, die – so müsste hinzugefügt werden – über ein Hintergrundsrauschen hinausginge, z.B. in Gestalt einer Reflexumkehr. Aber auch wenn die vorgestellten empirischen Daten nicht erlauben, das Konzept eines Reflex-Moduls schlüssig zurückzuweisen, so eröffnen sie doch einen alternativen Blick auf die betrachteten Befunde. Die „übliche Betrachtungsweise“ geht aus von einem elementaren Reflex-Mechanismus, der als solcher, d.h. isoliert getestet, invariante Reiz-Reaktions-Beziehungen aufweist, die aber durch eine Vielzahl an – in Bezug auf den Reflexbogen – äußeren Faktoren modifiziert werden können. In den Worten Goldsteins: Es wird versucht, die „reizvariablen Vorgänge auf die reizkonstanten – als die Grundvorgänge – zurückzuführen“ (AO, 68). Aber die referierten Befunde könnten auch so verstanden werden, dass „die Verhältnisse gewiss nicht so einfach liegen … ja, dass bei näherem Zusehen sogar eher das Umgekehrte der Fall zu sein scheint“ (ebd.) und der „strikte Reflexbegriff“ als eine Abstraktion „aus viel komplizierteren Tatsachen“ zu gelten hat (AO, 67).

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Und dieser Schritt lässt sich noch weitergehend präzisieren: Erst aus einer „theoretischen Voreingenommenheit“ heraus kann angesichts einer Vielfalt an Reiz-Reaktions-Beziehungen bestimmt werden, welche Variante als „normaler Reflex“ oder als elementarer Baustein des Verhaltens gelten kann (weitere Erörterungen zur Rolle der „theoretischen Voreingenommenheit“ im Bereich der Reflex-Physiologie finden sich in AO, 70). Mit anderen Worten: Das Konzept eines normalen Reflexes stellt eine theoretisch aufgeladene Rekonstruktion dar, lässt sich nicht allein empirisch bestimmen.

6.5.5.3 Auswirkungen einer Schädigung des Organismus („an verschiedenen Stellen des Nervensystems“): Beeinträchtigungen der Figur-Hintergrunddifferenzierung und der Gestaltung der Erregungsverteilung Einen weiteren Ansatzpunkt zur Überprüfung des Konzepts eines modularen Aufbaus der Funktionen von Lebewesen findet Goldstein in der Untersuchung der Auswirkungen einer Schädigung „an verschiedenen Stellen des Nervensystems“, d.h. der Symptome von Patienten, so müsste ergänzt werden, die ein hinreichend umschriebenes und räumlich umgrenztes Schädigungsmuster aufweisen (AO, 119). Der leitende Gedanke ist, dass unter diesen Bedingungen sozusagen eine quasi-experimentelle Separation von einzelnen oder mehreren Komponenten des Nervensystems erwartet werden darf. Zwei auch aus heutiger Sicht plausible Konstellationen einer quasi-experimentellen Isolierung werden von Goldstein unterschieden: (i) der Verlust an Nervenzellen in einem abgegrenzten Bezirk, z.B. des Gehirns (Thema schon des ersten Kapitels), insbesondere einer morphologisch-anatomisch abgegrenzten Komponente, mit der Folge einer, in heutiger Terminologie, Einbuße an „Rechenkapazität“, oder (ii) die Abtrennung – oder Diskonnektion – eines distinkten Bezirks von anderen Strukturen durch Unterbrechung beispielsweise von Bahnverbindungen, also eine Isolierung im engeren Sinne, die dann ebenfalls eine Einbuße an komputationalen Ressourcen des Nervensystems nach sich zieht. In den Worten Goldsteins: „Dadurch, dass die Schädigung bald mehr das Substrat selbst, dessen Funktion wir untersuchen, bald mehr seine Beziehungen zum übrigen Organismus betrifft … lassen sich bis zu einem gewissen Grade differente Erscheinungen feststellen, wenn auch das Prinzip der Funktionsstörung an sich überall das gleiche ist“ (AO, 119). Und dieses grundlegende „Prinzip der Funktionsstörungen“ äußert sich – in

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Die Stufen des Organischen und der Aufbau des Organismus, 9783826077425, 2023

erster Näherung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit – als herabgesetzte Ansprechbarkeit auf Reize, als „Entdifferenzierung“ und / oder „Modifikation an sich vorhandener Reaktionen“, Phänomene, die von der simplen Reaktionszeitverlängerung als einer „bloß“ quantitativen Leistungseinbuße bis hin zu komplexen funktionell-anatomischen Reorganisationsvorgängen reichen können (AO, 120f.). Und an einer Vielzahl von humanpathologischen und tierexperimentellen Daten, die sich auf die Beobachtung von Verhaltensänderungen nach Schädigung des Rückenmarks, z.B. Querschnittlähmung, des Kleinhirns und der Großhirnrinde stützen, werden die angesprochenen Funktionsstörungen verdeutlicht (AO, 121–138). Zur Erklärung der Symptome nach Schädigung eines Organismus „an verschiedenen Stellen des Nervensystems“ werden von Goldstein zwei Konzepte herangezogen: (i) Beeinträchtigungen der „Figurbildung“ bzw. des Heraustretens einer Figur aus ihrem Hintergrund, die Rede ist beispielsweise von einer „Nivellierung“ (AO, 126), „geringeren Festigkeit“ (AO, 128f.) oder „mangelhaften Herausarbeitung“ einer derartigen Konfiguration (AO, 135), in diesem Zusammenhang wird auch wieder der Begriff der Entdifferenzierung erwähnt (AO, 121); und (ii) Veränderungen der als „Ganzheit“ gestalteten „Erregungsvorgänge“ (AO, 119), angesprochen wird das „Verhältnis der Erregbarkeit“ von Muskeln (AO, 123), die „Stauung der Erregung an umschriebener Stelle“ (AO, 128, 135) oder der „Ablauf des Erregungsvorganges in einem vom Ganzen relativ isolierten Teil“ (AO, 129). Diese Modellvorstellungen werden hier von Goldstein ausdrücklich an die Stelle gerückt der auch heute noch nicht nur gängigen, sondern kanonisierten funktionell-neuroanatomischen Erklärungsansätze, z.B. der „Enthemmung“ von Nervenzellen bzw. -bahnen (AO, 121f.), der reziproken Innervation oder eines „Gehzentrums“ im Rückenmark (AO, 128). Mit anderen Worten: Es wird behauptet, dass die diskutierten Symptome von Patienten mit Hirnverletzung sich im Rückgriff auf organismische Vorstellungen besser verstehen lassen, z.B. die Genese des Babinski-Phänomens (AO, 121ff, 141f.) oder pathologischer Gangautomatismen (AO, 128ff.). Weshalb besser verstehen lassen? Weil sie sich auf eine „genauere Analyse“ bzw. „genaue Untersuchung“ des Patienten stützen (AO, 122, 128). Und die genauere Analyse bzw. Untersuchung der Phänomene soll dann zum Verstehen der Entstehung dieser Phänomene führen, genauer, sie offenlegen. Die Konzepte des Figur-Hintergrundgeschehens und der gestalteten Erregungsausbreitung finden sich eingeführt im dritten Kapitel des Auf-

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baus, das ein „vorläufiges Bild von der Funktion des Organismus“ (AO, 84) zeichnen soll, und werden eingehender im Zusammenhang mit diesen Ausführungen erörtert (siehe unten).

6.5.5.4 Grenzen einer Lehre vom „Reflexaufbau“ des Verhaltens – weiterführende Erörterungen: Reflexe als Grenzfälle einer „sinnvollen“ Auseinandersetzung mit der Umwelt Vor dem Hintergrund der in Kapitel 4 referierten pathologischen Phänomene will Goldstein nun in den nachfolgenden Abschnitten erneut „Reflexerscheinungen“ ins Auge fassen. Die vorausgegangenen Überlegungen finden sich auf Seite 141f. des Aufbaus zusammengefasst als ein vierfältiges Bedingungsgefüge von Reiz-Reaktions-Beziehungen. In etwas anderen Worten formuliert: Eine bestimmte „normale“ oder pathologische reflektorische Reaktion ist nie allein durch einen distinkten Reiz verursacht, sondern stellt die unter den gegebenen Bedingungen eines (i) inneren Milieus, z.B. anatomischer Verhältnisse als auch attentiver oder motivationaler Gegebenheiten, und (ii) situativer Anforderungen und Aufgaben „seligierte“ Antwort aus einem Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten dar. Eine Implikation des von Goldstein vorgestellten – hier etwas modifizierten – Bedingungsgefüges lautet dann: „Die Wirkung des Reizes wird immer durch seine Bedeutung für den Teil des Organismus bestimmt, der [bezieht sich auf den angesprochenen Teil, HA] für ihn [den Organismus, HA] erreichbar ist“ (AO, 144). Und vor diesem Hintergrund können die einfachsten Mechanismen, die Dehnungs- oder Eigenreflexe wie der „Kniescheibenreflex“, nicht als Bausteine von Verhaltensweisen verstanden werden, sondern haben als Artefakte des Verhaltens eines Organismus zu gelten, hervorgerufen durch „verschiedenartige“, experimentelle oder quasi-experimentelle Verfahren einer „Isolierung bestimmter Teile“. Auf der Grundlage dieses erweiterten Reiz-Reaktions-Modells werden die einzelnen Reflex-Typen auf ihren „Sinn“ und ihre „Bedeutung“ hin betrachtet: Eigenreflexe, Fremdreflexe, bedingte Reflexe und sogenannte Instinkt-Mechanismen, die aufgrund gewisser Ähnlichkeiten mit in die Diskussion einbezogen werden. Eine detaillierte Betrachtung dieser Überlegungen würde sich zu sehr in Einzelheiten der Biologie und der Medizin verlieren. Es sei lediglich kurz angedeutet, um einen Eindruck von Ton und Tenor der Goldstein’schen Ausführungen zu vermitteln, worin sich der „Sinn“ von Eigenreflexen, erinnert sei an das Zucken des Unterschenkels nach einem Schlag auf die Sehne unterhalb der Kniescheibe, und Fremdreflexen, z.B. das Zurückziehen des Beines nach Tritt auf eine Reißzwecke („schmerzreflektorisches Verhalten“) unterscheidet, d.h. es geht um ihre

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„Bedeutung“ für einen Organismus, der sich distinkten Anforderungen eines Umfeldes gegenüber sieht: „Für uns entsteht die Aufgabe, jeden Reflex und jede Modifikation als Vorgang am Organismus in der jeweiligen Situation zu verstehen und zu entscheiden, ob es sich um eine ihm wesenhaft zugehörige ‚adäquate‘ Leistung handelt“. In anderen Worten: mit „Sinn“ kann nur „Sinn für den Organismus gemeint sein“ (AO, 145). Die einfachsten reflektorischen Vorgänge, eben die Dehnungs- und Eigenreflexe, haben ihren Sinn „nur“ darin, den jeweiligen Reiz „unschädlich zu machen“ und setzen eine weitestgehende Isolierung des Vorgangs voraus, d.h. eine Abschirmung von allen anderen Faktoren des inneren und äußeren Milieus (AO, 146). An einem Beispiel verdeutlicht: „Entsprechend dem Gesagten lässt sich der Patellarreflex wie alle ‚Eigenreflexe‘ als Ausgleichsphänomen auffassen. Bei Beklopfen der Sehne des Quadriceps kontrahiert sich der Muskel als Ausgleich auf die Dehnung“ (ebd.). Diese in der Regel an eine artefizielle Untersuchungssituation gebundene Reaktion leistet keinen Beitrag zu irgendwelchen Leistungen des Organismus unter ökologisch valideren Bedingungen. Und Goldstein fasst in diesem Zusammenhang noch einmal sein Credo zusammen: „So dürfte kein Zweifel sein, dass sich aus den Reflexvorgängen nicht das normale Verhalten aufbauen lässt“ (AO, 151). Demgegenüber sind die sogenannten Fremdreflexe wie das angesprochene schmerzreflektorische Verhalten, das bleibe jetzt einfach so dahingestellt, anders einzuordnen: „Der Organismus leistet hier eine für ihn im Ganzen wichtige Leistung, eine Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die Fremdreflexe sind nicht in Leistungen eingebaut, sondern sind Leistungen selbst“ (AO, 151).

6.5.6 Ein „vorläufiges Bild von der Funktion des Organismus“: Ökologie und Quasi-Homöostase des Verhaltens (Kapitel 3) Das „vorläufige Bild der Funktion des Organismus“, eine Formulierung, die sich Ende des zweiten Kapitels findet und die auf die Thematik des dritten Kapitels schon Bezug nimmt, umfasst eine Reihe von Feststellungen, in einem Fall wird auch von einem „biologischen Grundgesetz“ gesprochen (AO, 100), die hier in etwas veränderter, aber systematisch angemessener Reihenfolge wiedergegeben werden sollen. (i) Prinzip der Ökologie: Als Resultat eines – nicht näher erläuterten – Anpassungsprozesses an die Umwelt ist die „Struktur einer Art“, wohl die Gesamtheit aller morphologischen und physiologischen Merkmale, so beschaffen, „dass sie die Leistungen d.h. die Erfordernisse, die durch das Ge-

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genüberstehen von Organismus und Außenwelt gegeben sind, ermöglicht“ (AO, 97). In dieser Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Umwelt verwirklicht der Organismus seine „Natur“, sein „Wesen“, bzw. seine „Eigenart“ (AO, 99). (ii) Biologisches Grundgesetz der Reiz-Reaktions-Variabilität: Derselbe Reiz, allgemeiner, dieselbe Veränderung des Umfeldes kann – in gewissen Grenzen – unterschiedliche Auswirkungen haben, z.B. in Abhängigkeit von der „Ausgangssituation“ des Organismus („Bedeutung der Ausgangssituation für die Reizwirkung“; AO, 100). Das zweite Kapitel beinhaltet – wie schon erläutert – eine umfangreiche, immer noch lesenswerte Zusammenfassung dieses Sachverhaltes am Beispiel der Reflexe. (iii) Prinzip der Fokussierung: Die Auseinandersetzung eines Lebewesens mit seinem Umfeld entwickelt sich als situationsangepasstes Vordergrund-Hintergrundgeschehen im Rahmen eines artspezifischen Leistungsprofils. Mit anderen Worten: Die Antwort eines Lebewesens auf eine instanziale Herausforderung rekrutiert immer alle – oder wenigstens eine Vielzahl – der Funktionen des Organismus, aber in je unterschiedlicher Ausprägung, abhängig von der jeweiligen Aufgabe. Ein Beispiel vermag diesen Sachverhalt zu verdeutlichen: „Jede Bewegung eines Körperteils ist begleitet von einer bestimmten Veränderung der Lage, der Stellung des übrigen Körpers. … ohne sie würden wir etwa bei seitlicher Erhebung eines Armes umfallen“ (AO, 97f.). Diese Vorgänge dienen nicht nur der Erhaltung des Gleichgewichts, sondern stellen auch eine Voraussetzung der „exakten Ausführung der im Moment erforderten Leistung selbst“ dar (AO, 98). In Abhängigkeit von der zu erfüllenden Aufgabe wechselt die Konfiguration des Vordergrund-Hintergrundgeschehens im Zeitverlauf (vgl. AO, 186f., 182). (iv) Prinzip der Quasi-Homöostase: Als ein übergeordnetes Prinzip der Auseinandersetzung des Organismus mit der Umwelt hat zu gelten, dass jede „durch die Umweltreize gesetzte Veränderung des Organismus in einer bestimmten Zeit sich wieder ausgleicht“, andernfalls würde sich das Lebewesen in einem Zustand dauernder „Unruhe“ befinden und ein geordneter Ablauf der Leistungen wäre nicht möglich (AO, 99). (v) Prinzip der Grundfunktion: „Überall, wo Reize auf den Organismus einwirken, antwortet er entsprechend dieser überall gleichen Grundfunktion in gleicher Weise. Jede Schädigung bedeutet eine Störung dieser Grundfunktion, die zu einem Abbau der Leistungen nach ganz bestimmten Gesetzen führt“ (AO, 103). Diese Aussage kann natürlich nicht so verstanden

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werden, dass unabhängig von der Lokalisation einer Hirnverletzung immer dieselben Symptome auftreten, sondern dass – vorausgreifend – in jeder Domäne einer Behinderung, seien es nun Sprach-, Bewegungs- oder Sehstörungen, eine Entdifferenzierung der jeweilig betroffenen Funktionen zu beobachten ist. An die Stelle einer Erklärung des Verhaltens von Organismen durch modular aufgebaute „Apparate“ treten die „Mechanismen“ des Figur-Hintergrundgeschehens und der gestalteten Erregungsausbreitung. In welchem Verhältnis stehen nun diese Konzepte zu den neuroanatomischen und -physiologischen „Fakten“? „Wenn wir im Folgenden das funktionelle Geschehen, das wir annehmen, mit Bezeichnungen aus der Physik belegen, wenn wir von Erregungsverlauf, Erregungsverteilung, Gleichgewichtszustand, Ungleichgewicht usw. sprechen, so soll damit nicht – und kann auch gar nicht – irgend etwas über die Natur dieses Geschehens ausgesagt sein, sondern es soll damit nur die jeweilige Art der Dynamik des Geschehens charakterisiert sein, die wir beim materiellen Vorgang und bei den Leistungen unter denselben Kategorien zu betrachten uns für berechtigt halten“ (AO, 92; vgl. Exkurs gegen Ende des dritten Kapitels, AO, 106f.). Es wurde schon in Verbindung mit den beiden Handbuchartikeln aus den Jahren 1927 und 1931 erwähnt, dass der Begriff des Figur-Hintergrundgeschehens als ein Schema oder Brückenprinzip verstanden werden sollte, das den Zeitverlauf komplexer Bewegungsmuster auf die Ebene des Nervensystems projiziert, ohne die zugrunde liegenden neuralen Mechanismen zu spezifizieren – eine Aufgabe, die erst noch zu leisten ist.

6.5.7 Weiterführende Überlegungen zur „Ganzheitstheorie des Organismus“: Quasi-Homöostase des Verhaltens und die Konstanten „individueller Wesenheit“ (Kapitel 6) 6.5.7.1 Die ganzheitliche Gestaltung der Antworten eines Organismus auf einen Reiz als Aufgaben- und Situations-abhängiges FigurHintergrundgeschehen Das sechste Kapitel, Überschrift: Zur Ganzheitstheorie des Organismus, erweitert nicht, wie vom Titel her auf den ersten Blick zu erwarten wäre, die Analyse der bislang vorgestellten empirischen Daten durch eine philosophische Besinnung, sondern beginnt (Abschnitt A) wieder mit tierexperimentellen Befunden und Beobachtungen, die an kranken oder gesunden Menschen erhoben wurden – allerdings jetzt unter einem komplementären Blickwinkel. In den vorausgegangenen Abschnitten wurde versucht zu zei-

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gen, dass „die Ergebnisse der Reflexuntersuchungen ungeeignet sind zum Aufbau des gesuchten Bildes des Organismus“ (AO, 171). In erster Annäherung wurden – alternativ – Reflexe in das breitere Konzept einer Leistung integriert und sozusagen als Abortivformen dieser vom Zustand eines inneren und äußeren Milieus abhängigen Interaktionen eines Organismus mit seinem Umfeld interpretiert. Plessner spricht in diesem Zusammenhang von einem „Grenzfall in der Reaktionsreihe des Organismus“ (GS VIII, 31). Es soll nun, so Goldstein, „die Bezogenheit jeder Einzelleistung zum Ganzen des Organismus“ zur Darstellung kommen. Wieder auf der Grundlage einer Fülle an Beobachtungen wird zunächst herausgearbeitet, dass die Wirkung eines Reizes „sich nie in der isolierten Reaktion erschöpft“, sondern eingebettet ist in ein Feld von Veränderungen, das sich mehr oder weniger über den gesamten Organismus hinweg erstreckt (AO, 171). Auch hier taucht der Hinweis auf, dass eine quasi-phänomenologische Haltung erforderlich ist, um diesen Sachverhalt überhaupt erst sozusagen in den Blick zu bekommen: „Je mehr wir genau untersuchen und je mehr wir uns abgewöhnen, nur die uns aus bestimmten theoretischen oder praktischen Gründen besonders wichtigen Erscheinungen zu beachten, umso mehr sehen wir, dass sich bei an einer Stelle gesetzter Veränderung tatsächlich überall, wo wir untersuchen, Veränderungen finden“ (AO, 172, vgl. 186). In Abhängigkeit vom Zustand des Organismus oder den Herausforderungen des jeweiligen Milieus mag aber das Verteilungsmuster der Reaktionen variieren: Beispielsweise lässt sich – in gewissen Grenzen – auch schmerzreflektorisches Verhalten „durch bewusste Einstellung“ verhindern (AO, 173). Nun ist sicherlich ein anderes Beispiel Goldsteins in diesem Zusammenhang etwas weit hergeholt, die Behauptung nämlich, dass der Pupillenreflex bei Belichtung des Auges eine Vielzahl „von weiteren Erscheinungen am ganzen Körper“ hervorrufe, die wir halt üblicherweise „nicht beachten“. Wie dem auch sei, entscheidend ist die – durch andere Beispiele gestützte – Umkehr der Betrachtungsweise: Als Default-Konstellation hat die umfassende, sich mehr oder weniger über den ganzen Organismus hinweg erstreckende Reaktion zu gelten, die dann abhängig von den vorliegenden internen und externen Bedingungen unterschiedlich fokussiert werden kann (AO, 174f.), bis hin zu – im Extremfall – isolierten Bewegungsabläufen wie einfachen Reflexen aufgrund sozusagen einer „künstlichen Abschaltung des übrigen Organismus“ (AO, 181f.). Als ein weiterer und besonders wichtiger Aspekt der Variabilität dieser so bestimmten ganzheitlichen Reaktionen sei die Rolle der Bedeutung (!) eines Reizes – Bedeutung im Blick auf aktuell vorliegende situative Anforderungen – bei der „Ausgestaltung“ eines Verhaltensmusters erwähnt, beispielsweise wenn eine zielgerichtete Tätigkeit „in sinnvollster Weise modifiziert wird, d.h. in der Richtung, dass [ihr, HA] Zweck wieder erfüllt wird“ (AO, 177). Als Beispiel aus dem mensch-

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lichen Bereich nennt Goldstein die „Kratzbewegung“, hier etwas ausgeschmückt dargestellt: Wenn ein Rechtshänder mit seiner dominanten Hand eine volle Tasse hält, aber plötzlich einen Juckreiz am Hinterkopf verspürt, dann wird er eben die linke Hand benützen, um sich zu kratzen, prompt, ohne sich irgendwelche Gedanken über das Konzept der Kompensation machen zu müssen (AO, 178). Unter Rückgriff auf die Terminologie des „vorläufigen Bildes von der Funktion des Organismus“ (AO, 84) im dritten Kapitel des Aufbaus lässt sich der Sachverhalt auch so formulieren: „die Absicht zu einer willkürlichen Leistung … bedeutet eine ganz bestimmte Stellungnahme des Organismus gegenüber bestimmten Anforderungen der Umwelt, die in der Gestaltung des Organismus ihren Ausdruck findet, der uns als Innervation eines isolierten Muskelgebiet in Erscheinung tritt“ (AO, 186f., Rechtschreibfehler im Original). Grundsätzlich könnte in diesem Zusammenhang aus einer Vielzahl „zur Verfügung stehender Strukturen“ ein „Bewegungsorgan“ ausgewählt werden. Die Selektion eben dieser bestimmten „isolierten Bewegung eines bestimmten Muskelgebietes“, in unserem Beispiel der linken anstelle der rechten Hand, stellt eine bestimmte Fokussierung des Figur-Hintergrundgeschehens bzw. eine bestimmte Gestaltung der „Erregung im ganzen Organismus“ dar – etwa weil es sich um die effizienteste oder bequemste Alternative handelt (ebd.). Die anschließenden Erörterungen (Abschnitt B des sechsten Kapitels) verlieren sich immer wieder in zoologischen und medizinischen Details, müssen deshalb nicht im Einzelnen referiert und diskutiert werden. Kurz: Es geht um „sogenannte Anpassungserscheinungen bei irreparablen Defekten [allgemeiner: strukturellen Veränderungen] bestimmter Gebiete“ (AO, 182) – nach Transplantation von Nerven und Muskeln, nach Entfernung von einzelnen oder mehreren Extremitäten bei Mensch und Tier oder nach Verletzungen des Nervensystems. Unter diesen Bedingungen kann es zu „zweckmäßigen Umstellungen“ (AO, 195) des Verhaltens kommen, die darauf hinweisen, dass eine Leistung aufgrund ihrer „ganzheitlichen Bezogenheit“ eben „nicht an eine bestimmte, anatomische Beziehung gebunden ist“ (AO, 190). Das vielleicht anschaulichste einschlägige Beispiel Goldsteins: „Amputiert man etwa bei Arthropoden einzelne Glieder, so erfolgt das Laufen der Tiere mit den übrig gebliebenen Extremitäten sofort in der zweckmäßigsten Weise – jetzt unter Benutzung ganz anderer als der ‚normalen‘ Extremitäten“ (AO, 188). Bemerkenswert ist eben, „dass die Umstellung auf die neue Gangart beim ersten Versuch erfolgt; das heißt also eine völlige Umgestaltung der Erregungsverteilung … wenn die Notwendigkeit einer Leistung es erfordert“ (AO, 189). Bei ausgedehnterer Schädigung können dann möglicherweise keine ausreichenden Ressourcen mehr für eine Umstellung vorhanden sein, so dass es stattdessen zu einer „Ersatzbildung“ kommt – im Grunde eine Domänen-übergreifende Umstel-

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lung, z.B. wenn Einschränkungen des „inneren Sprechens“ kompensiert werden mit Hilfe des visuellen Systems, also eine Re-Fokussierung der Leistung vom motorischen in den sensorischen Bereich (AO, 196f.). Zusammengefasst sollten diese Befunde dazu dienen, eine prompte und aufgabenbezogen zweckmäßige Umstellung des Verhaltens bei „irreparablem Defekt“ des Nervensystems als Ausdruck der „Ganzheitsbezogenheit biologischen Geschehens“ zu verstehen (AO, 202). Es wurde schon kurz angesprochen, dass Goldsteins Einschätzung zufolge Leistungen aufgrund ihrer „ganzheitlichen Bezogenheit“ nicht an „eine bestimmte, anatomische Beziehung gebunden“ sein können (AO, 190, vgl. 182, 187), aus dem Zusammenhang heraus so zu verstehen, dass Leistungen (!) des Organismus nicht – etwas einschränkend formuliert – exklusiv als Funktionen (!) eines distinkten Netzwerks morphologisch definierter Zentren und Bahnverbindungen gelten können. Folgerichtig in der Entwicklung des Gedankenganges des sechsten Kapitels wird diese Fragestellung im nachfolgenden Abschnitt C unter dem Titel: Lokalisation und Spezifizität weiter entfaltet, ausgehend von der Feststellung, dass die „relative [sic, HA] Unabhängigkeit der Leistungen von der Tätigkeit eines bestimmten Apparates Zweifel an der Berechtigung der ‚Lokalisation‘ bestimmter Leistungen in umschriebenen Apparaten überhaupt erwecken“ muss (AO, 202). Und es schließt sich die grundsätzlichere Frage an: „Gibt es Substrate von besonderer spezifischer Funktion, spezifische Gewebe, Nerven, Sinnesfelder etc.?“ (ebd.). Das so noch allgemein formulierte Problem soll nun im Bereich der Großhirnrinde untersucht werden. Dieser Teil des Opus magnum (AO, 202-222) weist zurück auf den schon referierten Handbuchartikel von Goldstein aus dem Jahre 1927 und überschneidet sich mit Kapitel 1 und 4.B.3 des Aufbaus. Und anders als es die oben erwähnte gängige Einstufung Goldsteins als eines „anti-localizationist“ erwarten ließe, zeichnen sich seine Ausführungen durch eine balanciertere Position aus, und er lehnt ausdrücklich einen „starken Skeptizismus“ gegenüber der „üblichen Lokalisationslehre“ ab: „Dazu sprechen die Differenzen der Erscheinungen bei Lokalisation der Herde an verschiedenen Stellen eine zu beredte Sprache“ (AO, 207). Aus seinen Erörterungen lassen sich aber wenigstens zwei Einwände gegenüber einer strikten, d.h. modular verfassten Lokalisationslehre destillieren – zumindest im Blick auf sprachliche Leistungen, das damals im Vordergrund der Diskussionen stehende Paradigma kognitiver Domänen (vgl. AO, 206): (i) Die nach einer umschriebenen Läsion der Großhirnrinde zu beobachtenden „Defizite“ weisen – wieder bei „vertiefterer Betrachtung“ – eine erhebliche Variabilität der Symptomatik auf („mit der reinen Angabe der Örtlichkeit eines Herdes ist uns sehr wenig gedient“; AO, 211),

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(ii) aber auch bei strikter räumlich-topographischer Lokalisierbarkeit von Defiziten könnte aus diesen Daten noch keine strikte Zuordnung distinkter kognitiver Leistungen (!) zu distinkten Arealen der Großhirnrinde erfolgen (AO, 212). Am Ende dieser Erörterungen findet sich eine konzise Zusammenfassung der bislang im Verlauf des Aufbaus erfolgten Analysen tierexperimenteller Daten und humanpathologischer Beobachtungen, die in ganzer Länge wiedergegeben werden soll. „Lokalisation einer Leistung heißt für uns nicht mehr eine Erregung einer bestimmten Stelle, sondern ein dynamisches Geschehen, das sich im ganzen Nervensystem, ja im ganzen Organismus abspielt und für jede Leistung eine bestimmte Gestalt hat. Diese Erregungsgestalt erhebt sich an einer bestimmten Örtlichkeit zu einer Besonderheit, die in der ‚Figur‘ zum Ausdruck kommt. Eine bestimmte Örtlichkeit ist charakterisiert durch den Einfluss, den die besondere Struktur der Stelle auf den Gesamtvorgang ausübt, durch das Moment, dass ihre Erregung kraft der in ihr vorliegenden Struktur zu dem Gesamtgeschehen beiträgt“ (AO, 213; „dass“ im Original). Goldstein fügt – um diesen Gedanken abschließend noch zu erwähnen – in seine Erörterungen der Frage nach der zerebralen Lokalisierbarkeit von „einzelnen psychischen Leistungen“ Überlegungen ein, gestützt auch auf eigene experimentelle Daten und klinische Beobachtungen, die sozusagen als (Teil einer) Phänomenologie der Sinneswahrnehmung charakterisiert werden könnten und Plessners Ausführungen zu den material-apriorischen Eigenschaften der Wahrnehmung in der Einheit ergänzen dürften – eine Perspektive, die aber hier nicht im Einzelnen weiter verfolgt, sondern nur im Vorübergehen angesprochen werden soll (AO, 213–220). Vergleichbar den Reflexen haben auch elementare spezifische Sinnesempfindungen, das bloße „Haben“ einer gegenständlichen Farbe oder eines Klanges, als Ergebnis eines „isolierenden Verfahrens“ zu gelten, als Grenz- oder „Spezialfall“ von Perzeption in Gestalt einer „Auseinandersetzung des Organismus mit den zu Sinneserlebnissen führenden Vorgängen der Außenwelt“ (AO. 214, vgl. 217). Zunächst können als eine erste Facette dieser „Ästhesiologie“ Sinnesempfindungen als Erlebnis mit einer je eigenartigen „Stimmung“ verknüpft sein, den Eindruck beispielsweise von „Kälte“ oder „Heiterkeit“ hervorrufen, als Beleg wird auf Schriften von Goethe und Kandinsky verwiesen. Als weitere und durchaus auch nachvollziehbare ganzheitliche Aspekte eines Sinneserlebnisses sind Auswirkungen auf den Spannungszustand (Tonus) der Muskulatur, möglicherweise auch auf weitere physiologische Vorgänge wie die Brechungseigenschaften des Auges zu erwähnen. Hinzuzufügen wäre, dass Tonusveränderungen Einfluss auf die „Gesamthaltung“ eines Menschen nehmen (können). Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die verschiedenen Sinnesempfindungen schon sprachlich markierte „Übereinstimmungen“

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aufweisen, Adjektive wie „warm“ und „kalt“, „leuchtend“ und „dunkel“, „stechend“ und „dumpf“ lassen sich auf Farben, Töne und Gerüche anwenden, eine Beobachtung, die Licht auf das „Problem der Synästhesien“ werfen könnte (AO, 217f.; vgl. Plessners Überlegungen GS IV, 322, Anm. 48). Schlussfolgerung: „Die verschiedenen Sinnesvorgänge erscheinen von hier aus als verschiedene Gestaltungen des Gesamtorganismus“. Abschnitt D von Kapitel 6, Überschrift: Das Prinzip des Antagonismus, beginnt mit der Erörterung eines gut belegten Reflexmechanismus aus dem Bereich der Neurophysiologie, die „reziproke, antagonistische Innervation der Muskeln“ oder „reziproke Hemmung“, und endet in Überlegungen zum Phänomen der Angst! Der angesprochene Mechanismus einer „reziproken, antagonistischen Innervation der Muskeln“ wurde offensichtlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verallgemeinert zu einer „Lehre vom sogenannten Antagonismus“, die annimmt, dass Leistungen eines Lebewesens als „Resultanten entgegengesetzter Kräfte“ bzw. „Apparate“ betrachtet werden müssen. Und dieses Konzept kann – und wurde – zu einer Lebensphilosophie erweitert, die alle biologischen Vorgänge als „Ausdruck eines Streites entgegengesetzter Kräfte“ auffassen will. Goldstein weist darauf hin, dass im Gegensatz zu den Reflexmechanismen sich die „Lehre vom sogenannten Antagonismus“ an Willkürbewegungen nicht – zumindest nicht typischerweise – bestätigen lasse: Das Muster der Innervation von agonistischen und antagonistischen Muskelgruppen variiere mit der Art der Leistung, hänge somit von der ganzheitlichen Gestaltung des Verhaltens ab, z.B. der vorliegenden Absicht des Handelnden (AO, 224f., 228). Inzwischen liegt ein umfangreiches Datenmaterial zum Innervationsmuster von schnellen (ballistischen) Willkürbewegungen vor, die darauf hindeuten, dass zumindest die Initialphase dieser Aktivitäten – über eine Zeitepoche von einigen Millisekunden hinweg – der „Lehre vom sogenannten Antagonismus“ folgen könnte. Aber diese Befunde widersprechen nicht den Überlegungen Goldsteins, da das angesprochene Innervationsmuster als ein „motorisches Programm“ zu gelten hat, das auf der Ebene der Großhirnrinde als Einheit abgespeichert sein dürfte („nicht zwei, sondern ein Apparat“) und nicht als „Resultanten entgegengesetzt wirkender Apparate“ bzw. – zugespitzt formuliert – „widerstreitender“ Faktoren verstanden werden kann (vgl. AO, 226).

6.5.7.2 Das Phänomen der Angst und das „psycho-physische Problem“ im Rahmen des „Aufbaus der Organismen“ Goldstein war in Frankfurt am Main schon früh eine dann langjährige Kooperation mit dem Gestaltpsychologen Gelb eingegangen, hatte auch enge-

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re Beziehungen zu Vertretern und Einrichtungen aus dem Umfeld der Psychoanalyse gepflegt (Laier 1996).53 Dennoch: Abgesehen von einer kritischen Auseinandersetzung mit dem „psycho-physischen Problem“ und einer Erörterung der Beziehungen von Bewusstsein und Unbewusstem (Kapitel 6, Abschnitte E und F) sowie Gedanken zu gestaltpsychologischen Vorstellungen und Denkansätzen (Kapitel 10), Fragen, die eher die theoretischen Grundlagen der „Seelenkunde“ betreffen, wird aus dem Bereich der Psychologie nur dem Phänomen der Angst etwas breitere Aufmerksamkeit zuteil. Etwas überraschend geht die Erörterung des „Antagonismus-Problems“, die sich auf neurophysiologische Befunde stützt, über in Ausführungen – letzter Passus von Abschnitt D – zum Phänomen der Angst. Ausgangspunkt der Überlegungen ist – vor dem Hintergrund des Antagonismus-Konzepts – die Frage nach den Auswirkungen „entgegengesetzt wirkender Einzelreize“ auf Bewegung und Haltung („Raumlage einzelner Glieder“) eines Organismus (AO, 232ff.). In Abhängigkeit von der relativen Intensität der beiden Stimuli und ihrer (zeitlichen) Phasenbeziehung kann es zu einem „Schwanken“, zu einer Instabilität des Funktionssystems kommen, beispielsweise der Position einer Extremität. Wird nun der Blick über den Bereich der Bewegungs- und Haltungskontrolle hinaus auf die Lebenswelt eines Organismus gelenkt, dann zeigt sich, dass die Situation der Instabilität sozusagen eine grundlegende Konstellation eines Lebewesens darstellt: Ein Lebewesen findet sich selten – oder nie – in einem „völlig adäquaten Milieu“ vor, das sozusagen eine Ruhelage erlauben würde, sieht sich vielmehr immer wieder mit „inadäquaten Reizen“ konfrontiert, z.B. „entgegengesetzt“ wirkenden Stimuli, die zu einem „gewissen Ungleichgewicht“ führen, das dann „auf Seiten des Organismus durch die entgegengesetzte Phase zum Ausgleich gebracht wird“ (AO, 235). Auf den Punkt gebracht: Goldstein bringt hier im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem Antagonismus-Problem, durchaus plausibel, das Bild der Homöostase ins Spiel. Wenn nun die Auslenkung aus der Ruhelage „über ein bestimmtes Maß hinausgeht“, dann geraten Leistungsfähigkeit, ja, Existenz des Organismus in Gefahr: „Wir haben dann ernste Katastrophenreaktionen vor uns. Subjektiv erleben wir diese als Erschütterung, als Angst“ (AO, 236). Waren bislang zuvörderst körperlich-somatische Vorgänge im Blickfeld, so erfolgt jetzt eine Wendung hin zur subjektiven Seite des Verhaltens eines Organismus, zu seelisch-psychischen Phänomenen, insbesondere Angst und Bewusstsein (ausführlichere Dar53

Weiterführende Informationen zur umfangreichen interdisziplinären Vernetzung Goldsteins in Deutschland und dann in den USA, insbesondere seiner Beziehungen zu Psychologie und Psychotherapie, finden sich in einem Beitrag von Stahnisch, auf der Grundlage auch eigener Archivrecherchen, zu einem Goldstein gewidmeten Themenheft der Zeitschrift Neurologie und Rehabilitation aus dem Jahre 2015.

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stellung von „Kurt Goldsteins Auseinandersetzung mit der Angstproblematik“ in Danzer 2006, 116ff.). Ausgehend „von Beobachtungen am Menschen“ wird von Goldstein festgehalten, dass Angst in allen Varianten ein „Erlebnis der Gefährdung der eigenen Person“ beinhalte (AO, 236). Diese erste Bestimmung des Phänomens Angst müsse allerdings in wenigstens zwei Hinsichten näher qualifiziert werden: (i) Angstzustände greifen über das „Haben“ einer distinkten subjektiven Befindlichkeit hinaus, äußern sich auch in körperlichen, z.B. mimischen Veränderungen und werden begleitet von physiologischen Vorgängen wie Pulsbeschleunigung. An einer späteren Stelle weist Goldstein darauf hin, dass die gängige Betrachtungsweise, das Erlebnis in den Mittelpunkt zu rücken und die angesprochenen körperlichen Erscheinungen als Begleitvorgänge einzustufen, eigentlich nicht berechtigt ist – auch Angst hat als eine ganzheitlich (!) gestaltete Leistung des Organismus zu gelten: „Das Psychische ist auch hier für uns nur eine Erscheinung, wie das Physische jenes Lebensvorganges, den man von der psychischen Seite betrachtet gewöhnlich als Angst bezeichnet“ (AO, 240). (ii) Darüber hinaus wird Angst als eine „besondere Art der Gefährdung der Person“ eingestuft, abzugrenzen von Schmerz und – insbesondere – von Furcht. Zum einen ist Furcht gegenüber der Angst durch „die Verschiedenheit der Abwehrreaktion und durch eine verschiedene körperliche Ausdrucksgestalt“ gekennzeichnet: „zweckmäßige Abwehrreaktion bei der Furcht“ versus „erstarrte oder verzerrte Ausdrucksgestalt“ der Angst (AO, 238). Zum andern, und damit zusammenhängend, ist die Furcht auf ein furchteinflößendes Objekt bezogen, während Angst „gegenstandslos“ erscheint: Der Mensch, der Angst hat, ist (!) eigentlich Angst (vgl. AO, 256). Das Erlebnis der Furcht bezieht sich intentional auf einen distinkten Gegenstand, kann dadurch auch eine umschriebene Abwehrreaktion auslösen, demgegenüber scheint Angst dadurch charakterisiert, dass ein geordnetes Verhältnis überhaupt zu den Gegenständen der Umwelt nicht mehr hergestellt, genauer, eine wie auch immer geartete intentionale Bezugnahme, wahrnehmend, vorstellend, erstrebend, auf ein bestimmtes Objekt des Milieus nicht mehr „gehalten“ werden kann. Als Folge davon kommt es zu „ungeordneter Reizverwertung“, zu einer „katastrophalen Reaktion“, zu einer erlebten „Erschütterung im Bestande der Welt wie des eigenen Ich“ (AO, 239). Die angesprochene Abgrenzung von Angst und Furcht hat nicht Goldstein in die Literatur eingeführt. Aber sein Rückgriff auf das organismische Konzept einer „Aufrechterhaltung der relativen Konstanz des

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Organismus“ gegenüber „allen Schwankungen in verschiedenen Situationen“ und „trotz Entfaltung und Vergehen im Laufe des individuellen Lebens“ (AO, 269) vermag unser Bild von diesen Phänomenen doch etwas zu nuancieren. Als Beispiel sei genannt: „Was ist es nun, was zur Furcht führt? Wohl nichts anderes als das Erlebnis der Möglichkeit des Eintretens der Angst“ (AO, 240). Furcht wird sozusagen als inzipiente Angst bestimmt. In Human Nature geht Goldstein dann noch einen Schritt weiter und stellt Überlegungen an zu den Möglichkeiten einer Vermeidung von Angst, die sich auf Beobachtungen an einer Vielzahl an verwundeten Soldaten während und nach dem Ersten Weltkrieg stützen. (i) „One way to escape catastrophe consists in voluntarily withdrawing, to a greater or lesser degree, from the world“ (HN, 96). Im äußersten Fall bleibt dem Betroffenen dann nur noch die Ausflucht in die Bewusstlosigkeit oder, um zeitgenössische medizinische Terminologie zu bemühen, einen „dissoziativen Krampfanfall“ oder „dissoziativen Stupor“. (ii) „Another method of escaping danger is found in not reacting at all to the required task“ (HN, 97f.). Diese Variante einer Vermeidung von Herausforderungen mag auch die Gestalt einer „Substitutionsreaktion“ annehmen, das fortwährende Sich-Beschäftigen mit belang- oder anspruchslosen Ersatzhandlungen. (iii) „Another protection from catastrophic situations is excessive and fanatical orderliness“ (HN, 101). (iv) Schließlich kann ein Patient auch seine „Defizite“ verdrängen, eine „coping strategy“, die zwar nicht das Missverhältnis von Herausforderung und Leistungsniveau ausgleicht, aber die subjektive Komponente der Katastrophenreaktion, die Angst, zu vermeiden hilft. Die im Zusammenhang mit dem Phänomen der Angst angedeutete „ganzheitliche“ oder organismische Auffassung seelischer Befindlichkeiten findet sich noch einmal – kurz – aufgegriffen in Abschnitt E des sechsten Kapitels unter dem Titel: Das psycho-physische Problem – Das Problem des Bewusstseins und des Unbewussten. „Eine eindeutige Beschreibung lebendigen Geschehens erfordert die Worte Psychisch und Physisch als zunächst indifferent gegenüber dem wirklichen Geschehen … zu benutzen.“ Und es ist immer zu beachten, „dass es sich dabei nur um Material handelt, das erst auf seine Bedeutung für das Ganze hin gewertet werden muss“ (AO, 251). Ein Erleben, das wie Angst als „Sein in der Welt“ imponiert, d.h. nicht – sensu stricto – intentional auf einen Gegenstand bezogen ist, zeichnet

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auch Gefühle, besser, Befindlichkeiten wie „Abneigung oder Zuneigung, des Gespanntseins oder Ruhigseins, des Angenehmen oder Unangenehmen, des Stimmens oder Nichtstimmens“ aus (AO, 256). Erlebnisse dieser Art können – um den Blick zu weiten – als „allgemeines Milieu“ betrachtet werden, das intentionalen Bewusstseinsvorgängen eine affektive Tönung verleiht. Demgegenüber wäre Goldstein zufolge Bewusstsein im engeren – oder eigentlichen – Sinne angemessener zu bezeichnen als „etwas bewusst haben“, ein Etwas, herausgelöst aus einer „gegenständlich“ gegliederten Welt, „die seinem ‚gegenständlichen‘ Ich als Objekt einem Subjekt gegenübersteht“ (AO, 255). Neben die intentionalen Bewusstseinsvorgänge einerseits und die Befindlichkeiten bzw. Stimmungen andererseits tritt als weiterer Aspekt – so müsste wohl ergänzt werden – eines Organismus ein „vielfältiges physisches Bild, das man als Ausdrucksphänomen, Haltungen, verschiedenste Erscheinungen an allen möglichen Organen schildern kann“: „Wir haben sie weder, noch sind wir sie, sondern sie werden – gewöhnlich – in uns“ (AO, 256). Jeweils isoliert betrachtet, für sich genommen, werden diese drei Sphären als „Geist“, „Seele“ und „Körper“ bezeichnet. In der Perspektive einer biologischen Ganzheitstheorie handelt es sich jedoch nicht um „isolierte Seinssphären“, sondern wieder um „künstlich isolierte Momente organismischen Gesamtgeschehens“, um Figuren vor dem Hintergrund der jeweils anderen beiden Domänen (ebd.). Beispielsweise können wir „unseren Körper relativ isoliert als physisches Objekt sowohl untersuchen wie ihn der Auseinandersetzung mit der Umwelt überlassen“ (AO, 257). Nicht nur der klassische Dualismus von „Psychischem und Physischem“ (AO, 251), auch die Trias der Seinssphären „Geist, Seele und Körper“ hat als „Hilfsmittel der Betrachtung“ organismischen Geschehens (AO, 251) zu gelten – „künstlich isolierte Momente“ des Lebens und Erlebens bzw. unterschiedliche Konfigurationen von Vorder- und Hintergrund (AO, 256f.). Um unangebrachte und dann zu fehlerhaften Einschätzungen führende Vorurteile zu vermeiden, beispielsweise in Gestalt vulgär-psychoanalytischer Konzepte, sind Deutungen tierischen und menschlichen Verhaltens immer wieder – erstens – mit der „unbefangenen“ und „genauen“ Betrachtung der Phänomene abzugleichen und – zweitens – auf ihre „Bedeutung für das Ganze hin“ zu bewerten (ebd.). Zusammengefasst: Der Abschnitt Die Psychoanalyse in ihrer Beziehung zur Biologie (Kapitel 6.F) stellt Geist (intentionale Bewusstseinsvollzüge als „Haben“ von etwas Gegenständlichem), Seele (Befindlichkeiten im Sinne einer „Tönung“ des intentionalen Erlebens) und das nur indirekt zugängliche körperliche Ausdrucksverhalten als gleich-ursprüngliche Erscheinungen eines lebendigen Geschehens heraus, die sich erst in einer isolierenden Betrachtung überhaupt trennen lassen.

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6.5.7.3 Die „besondere Wesenheit eines Organismus“: Individualtypische und artspezifische Konstanten als Grundlage einer QuasiHomöostase des Verhaltens Im letzten Abschnitt des sechsten Kapitels rückt wieder die ökologische Dimension des Verhaltens eines Lebewesens in den Blick, die Auseinandersetzung eines Organismus mit seinem Umfeld, eingespannt zwischen die Ressourcen eines inneren und den Anforderungen eines äußeren Milieus, unter dem Titel: Ausgezeichnetes und geordnetes Verhalten. Der Umgang eines Lebewesens mit seinem Milieu wird erweitert zu einem Konzept von zunächst ökologischer Homöostase: die „Aufrechterhaltung der relativen Konstanz des Organismus“ gegenüber „allen Schwankungen in verschiedenen Situationen“ und „trotz Entfaltung und Vergehen im Laufe des individuellen Lebens“ (AO, 269). Diese Überlegungen zur ökologischen Homöostase, ein Begriff, der bei Goldstein selber nicht auftaucht, stützen sich auf eine Fülle an Beobachtungen bei gesunden und kranken Menschen, auch einiger tierexperimenteller Befunde, die um das Phänomen des „ausgezeichneten Verhaltens“ kreisen. In einer ersten Annäherung kann dieser Sachverhalt als die in einer Situation bevorzugte, somit unter diesen Bedingungen häufigste Reaktion bestimmt werden: „Es werden vom Organismus keineswegs alle bei isolierender Betrachtung der Teile des Organismus möglichen Leistungen verwirklicht“ (AO, 277). Es mögen – der Kürze halber – zwei sehr simple Beispiele genügen, die dem Tatbestand, um den es geht, zwar nicht in seiner Komplexität gerecht werden, aber doch das angesprochene Feld an Phänomenen zu illustrieren vermögen: (i) „Wir wissen, dass Tiere, wenn man sie herabfallen lässt, immer in ganz bestimmte Stellungen fallen“ (AO, 270). (ii) „Man mag beim Einschlafen sich aus irgend einem Grunde verschiedenartig hinlegen, man gelangt doch sehr bald wieder in eine bestimmte Lage, die für einen für das Einschlafen die natürliche ist“ (AO, 274; eine sozusagen gestaltpsychologische Einordnung des „ausgezeichneten Verhaltens“ findet sich im zehnten Kapitel; vgl. AO, 389ff.). Wird auf diesen Sachverhalt des ausgezeichneten Verhaltens das uns schon bekannte methodische Prinzip angewandt, die „Gesamtsituation“ zu betrachten, in der diese Leistungen auftreten, also „die vorliegenden Tatbestände genauer anzusehen, als es bisher geschehen ist“ (AO, 281), dann lassen sich zwei Feststellungen treffen: (i) Ausgezeichnetes Verhalten geht – subjektiv – einher mit dem „Gefühl

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des Bequemen, des Angenehmen, des Sicheren, des Richtigen“ (AO, 285), begleitet unter Umständen von einem Lächeln (vgl. Goldstein 1957, 183), und (ii) stellt – objektiv – die „beste, der Aufgabe entsprechendste, adäquateste Leistung“ eines Organismus in einer bestimmten Situation dar (AO, 286). Gegen Ende von Abschnitt G des sechsten Kapitels wird der Sachverhalt des ausgezeichneten Verhaltens dann „als Ausdruck“ eines allgemeinen Verhaltens-regulierenden Prinzips betrachtet: „die Tendenz zum ausgezeichneten Verhalten ist der Ausdruck dafür, dass der Organismus immer wieder einer Situation zustrebt, in der er Adäquatestes leisten kann“ (AO, 286), eher nicht eine Ruhelage, sondern – in technologischem Jargon – ein optimaler Arbeitsbereich wie z.B. das Aussteuern bei einer Tonbandaufnahme. Die Neigung zu ausgezeichnetem Verhalten gerät so zu einer „Tendenz zur ausgezeichneten Situation“, mithin zu einem Mittel, „um die Ordnung des Organismus [in seinem Umfeld, HA] trotz Störung durch Reize aufrecht zu erhalten“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund kann nun – wenn auch nur in Gestalt einer kurzen abschließenden Bemerkung – der Begriff einer „individuellen Wesenheit“ oder „individuellen Normalkonstanten“ eingeführt werden, der von physiologischen Parametern bis hin zu intellektuellen und affektiven Charakteristika reichen soll (AO, 288f.). Und das sechste Kapitel endet mit einer Aufzählung – offensichtlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit – artspezifischer und individualtypischer Konstanten, die als „Charakteristika der Wesenheit“ eines Organismus gelten dürfen: „Konstanten etwa auf dem Gebiete der Verhaltensweisen, solche in Bezug auf die sensiblen, die motorischen Schwellen, ‚intellektuelle‘ Charakteristika, Konstanten der ‚Affektivität‘, ‚psychische‘. ‚körperliche‘ Konstanten, Konstanten auf dem Gebiete der Temperatur, der Atmung, des Pulses, des Blutdruckes, Konstanten im Sinne eines bestimmten Verhältnisses von Calcium und Kalium, eines bestimmten Reaktionstypus gegenüber bestimmten Giften etc.“ (AO, 288). Kurz: Die angesprochenen Konstanten dürfen als Inbegriff der somatisch-physiologischen Konstitution und der psychisch-mentalen Verfasstheit eines Organismus gelten. Nun können auch intellektuelle und affektive Charakteristika als Konstanten betrachtet werden, z.B. Präferenzen oder Motive, wenn sie sich im Verhalten eines Menschen langfristig durchhalten und sich insofern „konstant“ zur Geltung bringen. Aber ein in diesem Sinne „konstant“ auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtetes Handeln kann kaum als Ausgleichsbewegung eines homöostatischen Regelungsvorgangs vorgestellt werden. Deshalb soll das an den Konstanten einer individuellen Wesenheit ausgerichtete Verhalten als Quasi-Homöostase bezeichnet werden.

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Aber, und mit dieser Einschränkung setzt dann das siebente Kapitel ein, wir wissen noch nicht, „ob wir eine genügende Zahl von Vorgängen als Konstanten in die Betrachtung einbezogen haben“. Um aus der Menge der in der wissenschaftlichen Diskussion bzw. Literatur vorfindlichen möglichen Parameter und Merkmale die „notwendigen Erscheinungen“ herausfiltern zu können, ist eine „Idee des Organismus“ erforderlich, ein Gesamtbild, das „unter den festgestellten Erscheinungen die ihm zugehörigen Glieder von den unwichtigen Zufälligkeiten beliebiger Teile unterscheiden lässt“ (AO, 301). Mit anderen Worten: Es geht um eine Trennung der mit Hilfe analytischer bzw. isolierender Methoden, d.h. der geläufigen naturwissenschaftlichen Verfahren, erhobenen Daten, archiviert in einschlägigen Zeitschriften und Lehrbüchern, nach biologisch relevanten und irrelevanten Tatsachen – anhand ihrer „Bedeutung“ für das „Geschehen im Organismus“ und entsprechend einer „Bewertung“ nach Maßgabe der Idee des Organismus. Die empirisch-wissenschaftlichen Daten sollen ja nicht außen vor bleiben: „For us there is no doubt that the atomistic method is the only legitimate scientific procedure for gaining facts“ (HN, 9). Aber nur diejenigen Befunde, die sich in das Bild des Organismus sozusagen als dessen Glieder einordnen lassen, dürfen als biologische Tatsachen gelten. Mit noch anderen Worten: Die Ergebnisse der Lebenswissenschaften stellen zunächst nur „Material“ biologischer Erkenntnis dar, das erst noch darauf hin zu überprüfen ist, ob es sich um biologische Tatsachen handelt (AO, 300, vgl. 322). Die Verschwendung von Forschungsressourcen durch Beschäftigung mit – wie sich nachträglich herausstellen kann – biologisch irrelevanten Daten kann jedoch nicht durch ein sozusagen planwirtschaftliches Vorgehen vermieden werden: „Praktisch gehen wir auch beim Erkenntnisprozess allerlei falsche Wege, bis wir ein ‚passendes‘ Bild gewonnen haben“ (AO, 302). Vor dem Hintergrund der Ganzheitstheorie des Organismus im sechsten Kapitel kann vermutet werden, in welcher Richtung das gesuchte Unterscheidungskriterium zu finden ist: als biologisch relevante Tatsache darf wohl nur der ökologisch valide Befund gelten. Aus dieser Perspektive heraus kann die Kritik an einem modularen Konzept des Reflexmechanismus ergänzt und erweitert werden: Motorische Reaktionen, die nur unter „künstlichen“ bzw. „unnatürlichen“ Bedingungen reproduzierbar zur Beobachtung kommen, dürfen nicht als biologische Tatsachen „durchgehen“. Natürlich ist der Reflex „ein Geschehen am Organismus“, aber damit ist eben noch nicht gesagt, „dass ihm eine Wirklichkeit in Hinsicht auf den Organismus zukommt“, d.h. dass er zur „Natur“ des Organismus gehört und „Bedeutung“ hat im Blick auf die Leistungen des Organismus (AO, 303f.).

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6.5.8 Natur versus Geist und der Tier/Mensch-Vergleich: Anthropologische Konsequenzen der philosophischen Biologie (Kapitel 9) Das neunte Kapitel beginnt mit einer prägnanten Zusammenfassung – in einem Satz gebündelt – der „Grundhaltung“ der Ganzheitstheorie des Organismus: „unsere Grundhaltung, die ja nichts ‚neben‘, ‚außerdem‘ anerkennt, sondern den Organismus immer als Ganzes betrachtet, in dem jede Abgrenzung eine künstliche ist und jede Äußerung Erscheinung des Ganzen“ (AO, 359). Vor diesem Hintergrund muss sozusagen auch die Sphäre des Geistigen in das Konzept des Organismus integriert werden. Wie Anfang der 1930er Jahre zu erwarten, kommt unter der Überschrift: Leben und Geist die Rede zunächst auf Ludwig Klages und Sigmund Freud, allerdings nur in wenigen Worten, viel ausführlicher wird dann Schelers Kosmos-Schrift erörtert. Man darf auch an dieser Stelle – so wie schon im Rahmen einer Bezugnahme auf Jaspers (AO, 330) – einen ironischen Unterton vernehmen: „Wenn wir in aller Bescheidenheit [sic, HA] gegenüber dieser tiefen Konzeption Stellung nehmen dürfen, so würden wir etwa von zwei Seiten Einwendungen machen“ (AO, 360; vgl. dazu Ebke 2012, 350ff.). Bemerkenswerterweise dient der Tier/Mensch-Vergleich als Ausgangspunkt der „zwei Seiten“ von Goldsteins kritischer Auseinandersetzung. (i) „Was man unter Geist versteht, wird immer davon abhängen, was man unter Leben und unter Natur versteht. Uns scheint, dass die Auffassung des Geistes auch bei SCHELER sehr wesentlich dadurch bestimmt ist, dass er das Phänomen des Lebens nicht richtig gesehen hat … Nimmt man das Leben im Sinne eines ‚blinden Dranges‘, so wird es schon zweifelhaft, ob von da aus tierisches Sein in befriedigender Weise zu verstehen ist“ (AO, 360). Unter Verweis z.B. auf Gedanken von Buytendijk, erwähnt werden könnten aber auch die primatologischen Untersuchungen von Köhler, notiert Goldstein, dass das Konzept eines „blinden Dranges“ im Sinn eines „trieb- und umweltgebundenen Geschöpfes“ – ausgestattet mit einem Arsenal vorgegebener Triebe, die jeweils durch bestimmte Signale „angetrieben“ werden – dem beobachtbaren Verhalten non-humaner Lebewesen nicht gerecht werde: „So erscheint es nur in der isolierenden Betrachtung“ (AO, 361), z.B. unter besonders restringierten situativen Bedingungen, die lediglich als „reine Triebbefriedigung“ imponierende Reaktionen zulassen (AO, 360, vgl. 366f.). Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass auch das Verhalten der Tiere schon „ganzheitliche Gestaltung“ zeigt, d.h. eine Tendenz, „sich den Umständen entsprechend zu verwirklichen“ (AO, 361). (ii) Auch die im Mittelpunkt der philosophischen Anthropologie der Kosmos-Schrift stehende „Aufspaltung“ des Menschen in eine „Vitalsphäre“,

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die in etwa „dem tierischen Verhalten“ gleichzusetzen sei, und eine „Sphäre des Geistes“, die – auf sich gestellt machtlos – nur dadurch Wirksamkeit im Alltag erlangt, dass sie die vitalen Kräften zu lenken vermag, dürfte, so Goldstein, auf eine „isolierende Betrachtung“ zurückzuführen sein: „Was uns tierähnlich erscheint, ist gewöhnlich ein Verhalten, in dem der Mensch das spezifisch Menschliche in weitem Maße eingebüßt hat, d.h. ein Verhalten, in dem ein Abbau seines Wesens vorliegt, sei es infolge Krankheit oder Vergiftung oder infolge abnormer äußerer Reize“ (AO, 362). Diese „Abbauerscheinungen“ lassen sich aber allenfalls bei oberflächlicher Betrachtung mit dem Verhalten non-humaner Lebewesen gleichsetzen, da ihnen die Ganzheitlichkeit fehlt, die schon tierisches Verhalten auszeichnet (siehe oben): Während auch non-humane Lebewesen eine Plastizität ihrer Interaktionen mit dem Umfeld aufweisen, scheinen die angesprochenen „Abbauerscheinungen“ eher ungeordnet abzulaufen im Sinne einer starren „mechanischen“ Rigidität, eine vor dem Hintergrund klinischer Erfahrung durchaus plausible Annahme. Auf der Grundlage dieser Abgrenzungen lässt sich ein Missverständnis unschwer zurückweisen: „Man hat vielfach versucht, die Leistungen bei Kranken mit denen der Tiere zu vergleichen … Nichts ist falscher“ (AO, 362). Auch das Verhalten non-humaner Lebewesen zeigt, wie schon erwähnt, einen ganzheitlichen Aufbau, zu dem ebenfalls artspezifische und individualtypische Konstanten beitragen.54 Im zweiten Abschnitt des neunten Kapitels kommt Goldstein unter der Überschrift: Der hierarchische Aufbau des Lebendigen – erneut und ausführlicher – auf das in der Geistesgeschichte weit zurückreichende Konzept einer Abfolge nach „höher“ und „niedriger“ gewichteter Schichten bzw. Stufen der Natur als Ganzes – oder einzelner ihrer Domänen – zu sprechen. Eine Vielzahl von Übergängen sind als hierarchische Anordnungen gedeutet worden: der Schritt vom anorganischen zum organischen Bereich und von der Pflanze zum Tier, dann die Transitionen innerhalb „der Tierreihe selbst von der niederen zur höheren Klasse bis zum Menschen“, sogar der Aufbau eines Lebewesens, ja, eines Organsystems, z.B. die Differenzierung von zentralem und peripherem Nervensystem (AO, 371). Darüber hinaus scheinen auch die beobachtbaren „Veränderungen 54

Die Auseinandersetzung Goldsteins mit der philosophischen Anthropologie Schelers stützt sich v.a. auf eine Veröffentlichung Cassirers aus dem Jahre 1930 (AO, 362ff.). Er schließt sich den kritischen Einwänden dieser Schrift gegenüber einer „substantiellen“ Trennung von Geist und Vitalsphäre grundsätzlich an: Wie soll ein blinder (!) Drang empfänglich sein für Ideen, Vorbilder, und wie soll ein machtloser (!) Geist auf das „brutale Leben“ einwirken können? Goldstein weist aber darauf hin, dass sich eine gewisse Unschärfe der Begriffe „Leben“ und „Geist“ in dem angesprochenen Aufsatz finde (AO, 364).

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bei Hirnschädigung“ im Bereich des „psychischen Materials“, der „Ausdrucksgestalten“ und auch fast des gesamten „körperlichen Geschehens“ auf eine „gewisse Gliederung im Sinne der Wertigkeit“ der menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten hinzuweisen: Die betroffenen Patienten sind nicht mehr zu den differenzierteren „gegenständlichen“ Verhaltensweisen in der Lange und dadurch zurückgeworfen auf ein „niedrigeres“ Leistungsniveau, die Ebene der konkreten Einstellung (AO, 370, 372). Aber die Erörterungen Goldsteins beinhalten nun keine systematische Auseinandersetzung mit allen angesprochenen Aspekten einer hierarchischen Stufung der Natur, ausführlicher wird nur auf (i) die Unterschiede von Beuge- und Streckbewegungen, ein etwas merkwürdig anmutender Sachverhalt in diesem Rahmen, und (ii) das Phänomen der „Zentriertheit“ als ein Aspekt des Tier/Mensch-Vergleichs eingegangen. (i) Auf der Grundlage tierexperimenteller Untersuchungen (elektrische Reizung bzw. Durchtrennung von Strukturen des zentralen Nervensystems) und Beobachtungen bei Patienten mit Hirnschädigung kommt Goldstein zu folgender, sehr vorsichtig formulierter Aussage: „Von hier aus dürfte sich auch eine Differenzierung zwischen menschlichem und tierischem Sein geben lassen. Die Differenz zwischen Beuge- und Streckbewegungen ist beim Tier weit weniger ausgesprochen als beim Menschen“ (AO, 375). Und diese Unterschiede könnten als Ausdruck einer hierarchischen Gliederung des Verhaltens im Tier/Mensch-Vergleich gelten. Allerdings wird diese Schlussfolgerung sehr zurückhaltend formuliert: „Es ließe sich danach eine höhere und tiefere Stufe unterscheiden“ (AO, 376). (ii) Das Kriterium der „Fülle der erfassten Welt“ dürfte hingegen nicht einmal im konjunktivischen Modus Ansatzpunkte einer Stufenleiter der „einzelnen Tierklassen“ bieten (AO, 381). Hinter dieser Metrik scheint sich der Gedanke zu verbergen, dass der „weltoffene“ Mensch im Vergleich zu den je an eine spezifische Umwelt gebundenen Tieren über umfangreichere Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen, somit über breitere Gestaltungsräume verfügt. Diese Stufung müsste sich dann in der „Entwicklung bestimmter Organsysteme“ niederschlagen, genauer, in leistungsfähigeren Sinnes- und Bewegungsapparaten. Aber alle Versuche, nach diesem Gesichtspunkt eine „Wert-Systematik“ zu konstruieren, „haben doch nur zu höchstens äußerlichen Ordnungen geführt“ (AO, 381). Als eine tragfähigere Grundlage der hierarchischen Ordnung von Mensch und Tier wird deshalb die „Stärke der Zentrierung“ in Betracht gezogen, ein „Wertmesser für die Höhe des Seins“ (AO, 379). Darunter wird wohl so etwas wie eine robuste Kohärenz der Interaktionen von Organismus

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und Umfeld in der Ausrichtung auf die Verwirklichung seines Wesens verstanden, angedeutet in Formulierungen wie „Handeln aus der ganzen Persönlichkeit“ oder „Anpassungsfähigkeit an eine größere Fülle von Milieu“. Vor diesem Hintergrund stellt es schon fast eine Tautologie dar, wenn Goldstein festhält, „dass der Mensch seinem Wesen nach ein zentrierteres Geschöpf ist als alle Tiere“ (AO, 380). Wie schon erwähnt, der zweite Abschnitt des neunten Kapitels stellt keine systematische Erörterung dar, eher eine lockere Zusammenstellung einiger Gedanken zu den Möglichkeiten und Grenzen der Konstruktion von hierarchischen, an der Dimension „höher“ und „niedriger“ ausgerichteter Stufenleitern der Natur und des Organischen, bis hin zum einzelnen Organismus und seiner Funktionssysteme. Der wichtigste Ertrag von Goldsteins Ausführungen liegt darin, auf die Schwierigkeiten eines Versuchs, „hierarchische Ordnungen zu stiften“ im Bereich des Organischen, hinzuweisen: „Wir müssten … die Stellung jedes Geschöpfes im Ganzen des Lebendigen bestimmen d.h. aber dieses Ganze kennen; d.h. wir werden von der jeweiligen Erscheinung (Individuum, Art etc.) auf das nächsthöhere Ganze zurückverwiesen“ (AO, 383). Und „wir wissen … doch viel zu wenig über das Spezifische, das bestimmte Struktur zum Wesen beibringt, und wir wissen gar nicht, ob wir bestimmte Leistungen wie etwa Intelligenz bei den einzelnen Geschöpfen vergleichen können“ (AO, 381). Vor diesem Hintergrund muss auch die einzige hierarchische Ordnung von Mensch und Tier, die sich zu behaupten scheint, die Sonderstellung unserer Spezies als des höchst zentrierten Wesens, als anthropomorphes Vorurteil eingestuft werden. In anderen Worten: Wir haben die Skala zur Evaluation von Mensch und Tier nach Maßgabe des Menschen konstruiert. Kurz und bündig zusammengefasst: Es macht – zumindest auf dem derzeitigen Stand des Wissens – keinen Sinn, Stufenordnungen des Organischen zu entwerfen.

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6.6 Ausblick: Auf dem Weg zu einer organismischen Grundlegung philosophischer Anthropologie in Human Nature in the Light of Psychopathology – von der Neurorehabilitation zur „organismic psychotherapy“ 6.6.1 Vorbemerkungen zur Gliederung der Schrift Human Nature aus dem Jahre 1940 Die Zielsetzung von Human Nature wird zu Beginn des siebten Kapitels – rückblickend – so auf den Punkt gebracht: es handelt sich um den Versuch, „to understand human behavior“ (HN, 171), genauer: „to determine the qualitative structure of the individual human organism in which reactions in a given situation are ultimately rooted“. Zusammenfassend haben sich aus den referierten „Erfahrungen am kranken Menschen“ im Verlauf der vorausgegangenen sechs Kapitel des Buches, das sich auf eine Vortragsreihe an der Harvard University stützt, folgende „characteristic trends“ menschlichen Lebens und Handelns ergeben: (i) „the specific significance of the abstract attitude for human behavior“, (ii) „the character of conscious and non-conscious events“, (iii) „the human being’s coming to terms with the outer world“, (iv) „man … does not merely strive for self-preservation but is impelled to manifest spontaneity and creativeness … has the capacity of separating himself from the world“ (HN, 171). Und alle diese Merkmale oder Eigenheiten wurden eben – um es zu wiederholen – „inferred from the changes which patients with brain injuries show as a result of the loss of various capacities“. In der Zusammenschau bietet Human Nature im Verlauf der ersten sechs Kapitel keine grundsätzlich neuen oder überraschenden Einsichten. Eine signifikante Erweiterung bzw. Modifikation der Lehre vom Aufbau des Organismus im Vergleich zum Opus magnum könnte auch nicht erwartet werden, da abgesehen von den Befunden, die dann in die Studie Abstract and Concrete Behavior (1941) eingehen sollten (vgl. HN, 39ff.), sich Human Nature mehr oder weniger auf dieselben „Erfahrungen am kranken Menschen“ stützen muss. Im Vergleich zum Aufbau wirkt aber die nachfolgende Abhandlung kohärenter organisiert und systematischer komponiert, die einzelnen Facetten der Lehre vom Aufbau des Organismus finden sich hier oft prägnanter for-

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muliert dargeboten, ohne die teilweise verwirrende Menge empirisch-wissenschaftlicher Daten des Hauptwerks. Vor diesem Hintergrund muss auf den ersten Teil von Human Nature nicht gesondert en detail eingegangen werden. Aber auf diese Ausführungen, sozusagen die Fassung letzter Hand der philosophischen Biologie Goldsteins, soll dann insbesondere im Rahmen der Zusammenfassung zurückgegriffen werden. Die einleitenden Passagen des siebten Kapitels deuten nun darauf hin, dass die folgenden Abschnitte der Untersuchung (Kapitel 7–9) über den Aufbau hinausgehen oder ihn zumindest nuancieren. In der Zusammenschau stellt der Beginn dieses Kapitels einen Wendepunkt des Gedankengangs dar: der Blick weitet sich von einer philosophischen Biologie, die den Aufbau des Organismus als solchen thematisiert, zu einer philosophischen Anthropologie („to understand human behavior“; HN, 171). Um vorauszugreifen: Der entscheidende Schritt liegt im Übergang von der Aufgabe der „self-preservation“ zum Ziel der „self-actualization“. Die Interaktionen des Organismus mit seinem Milieu haben im Opus magnum einen noch sehr vom Gedanken der Homöostase geprägten Charakter, die Regulierung art- und individualspezifischer Konstanten, jetzt in Human Nature rücken Spontaneität und Kreativität in den Mittelpunkt: Grundlagen und Rahmen einer „organismic psychotherapy“ (Goldstein 1954).

6.6.2 Persönlichkeitslehren und Charaktertypologien Wie schon erwähnt formuliert die erste Passage des siebten Kapitels von Human Nature einige „characteristic trends“ des menschlichen Lebens und Handelns, die sich aus der Lehre vom Aufbau des Organismus ergeben (haben): „All these features we have inferred from the changes which patients with brain injuries show as a result of the loss of various capacities“ (Grammatikfehler im Original; HN, 171). Eines dieser Kennzeichen geht, zumindest in der Zuspitzung, die es hier erfährt, aber über Ton und Tenor des Aufbaus hinaus: „We have learned that man is a being who does not merely strive for self-preservation but is impelled to manifest spontaneity and creativeness, that man has the capacity of separating himself from the world and of experiencing the world as a separate entitiy in time and space“ (HN, 171). Kreativität trägt nun nicht mehr bloß dazu bei, nach einer Hirnverletzung wieder geordnete Beziehungen zum eigenen Milieu herzustellen, „intelligente“ kompensatorische Maßnahmen zu finden als ein Mittel der „self-preservation“. Im zweiten Teil von Human Nature weitet sich vielmehr der Blick, erfolgt eine Wendung von der bloß kreativen „self-preservation“ zur spontanen „self-actualization“. Und die nach-

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folgenden Ausführungen der Kapitel 7 bis 9, insbesondere die Überlegungen zur sozialen (!) Natur des Menschen, lassen sich nicht einfachhin als „inferences“ aus Patientendaten verstehen so wie die „abstract attitude“, ein Konzept, das sich unmittelbar auf Beobachtungen an Patienten stützt, auf ihre kognitiven Defizite und Verhaltensweisen. Es wird weiterhin Bezug genommen auf die Lehre vom Aufbau des Organismus, nun aber eher zu illustrativen Zwecken, z.B. heißt es gegen Ende der Schrift, die Untertanen einer Tyrannis seien „rather like the patient who lacks the ability to abstract“ (HN, 221), oder um damals zeitgenössische persönlichkeitspsychologische und sozialphilosophische Frage- und Modellvorstellungen zu erläutern bzw. im „Lichte der Psychopathologie“ zu kritisieren. Beispielsweise wird das zunächst im Bereich der Biologie bzw. der Naturwissenschaften angesprochene analytische Denken auch als Ursache unzulänglicher Charakterlehren (Kapitel 7) bzw. fehlgeleiteter politischer Utopien (Kapitel 9) identifiziert. Und das Konzept der „self-actualization“ als des einzigen Motivs menschlichen Handelns wird dazu herangezogen, um das Postulat einer in unserer Natur angelegten dualen Triebstruktur zurückzuweisen (HN, 204f.). Alle Antriebe des Verhaltens eines Organismus konvergieren zuletzt – so Goldstein – in einer „tendency to actualize itself as fully as possible in terms of its potentialities“ (HN, 172). Mit dieser Feststellung setzt – wie erwähnt – das siebte Kapitel nach der oben referierten Zwischensumme ein – unter der Zielsetzung, eine wesentliche Frage der damaligen Psychologie in den Blick zu rücken, „the problem of how to characterize personality“ (HN, 172). Nun ist Aktualisierung per se Aktualisierung einer Potentialität. Diese Formel bliebe eine selbstverständliche, aber inhaltsleere terminologische Hülle, wenn die „potentialities“ eines Individuums nicht inhaltlich näher bestimmt werden könnten. Aber eben diese „traits“ lassen sich nicht einfach an den Äußerungen eines Organismus ablesen. Fülle und Vielfalt des beobachtbaren Verhaltens werfen vielmehr die Frage nach den Kriterien auf, anhand derer unterschieden werden soll, welche Verhaltensweisen der Natur eines Lebewesens zuzurechnen sind, d.h. „self-actualization“ im Sinne der Aktualisierung des jeweiligen Wesens eines Organismus darstellen, und welche „only more or less accidental reactions produced by the method that has been used“ widerspiegeln (HN, 172). Etwas breiter und in zeitgenössischer Terminologie formuliert: Welche im „Strom des Bewusstseins“ auftauchenden Motive und welche beobachtbaren Neigungen eines Menschen dürfen als „authentisch“ gelten, spiegeln sein Wesen wider, sollten deshalb auch von der Mitwelt toleriert werden, und welche Facetten dürfen / müssen als „fremdbestimmt“ oder auch nur als unreflektiertes „Mitschwimmen im Strom“ gängiger Meinungen gelten. Vorneweg sei festgehalten, dass sich die Ausführungen Goldsteins auf Prozeduren beschrän-

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ken, aus methodisch restringierten Verhaltensbeobachtungen, genauer, aus der Bestimmung von „Konstanten“ des Agierens und Reagierens von Menschen, Einsichten in die Struktur der Persönlichkeit zu gewinnen. Goldstein greift in seinem Gedankengang zurück auf den Sachverhalt einer auffälligen Konsistenz bzw. Ordnung im Verhalten der Patienten mit erworbener Hirnschädigung. Wenn in diesem Zusammenhang von „abnormally ordered behavior“ die Rede ist, dann wird vorausgesetzt, dass eine „tendency to ordered behavior“ auch den Organismus ohne diese Verletzungsfolgen auszeichnet (HN, 174). Und eben diese Tendenz bietet Einblicke in die gesuchten Fähigkeiten und Vermögen: „observable activities during ordered behavior can be considered as reflecting essential capacities belonging to the individual concerned“ (HN, 174). In diesen recht lapidaren Aussagen erschöpft sich dann eigentlich die Verbindung zum Paradigma der erworbenen Hirnschädigung. Auch die im weiteren Verlauf herangezogenen Beispiele einer Ordnung des Verhaltens stützen sich nicht in erster Linie auf dieses „Patientengut“. Die Konsistenz des Verhaltens eines Organismus – unabhängig davon, ob eine Hirnschädigung vorliegt – äußert sich darin, dass unter den in einer Situation – wie auch immer bestimmt – möglichen Bewegungsmustern oder Verhaltensweisen eines Organismus eine Auswahl präferiert oder seligiert wird: „… a definite selective range of kinds of behavior exists. These we shall classify as ‚preferred‘ behavior“ (HN, 174; vgl. AO, 268ff.). Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf die Sphäre des Menschen: Goldstein greift auch hier wie schon in seinem Opus magnum auf ein zoologisches Beispiel zurück: „we know that a cat, when dropped, always lands on its feet. In spite of differing environmental situations it always returns to an optimally balanced position, and this we call the preferred condition“ (HN, 174f.). Die einschlägigen Überlegungen aus dem Aufbau werden nun in Human Nature erweitert um zusätzliche persönlichkeitspsychologische Facetten. Wie schon erwähnt sind ausgezeichnete Verhaltensmuster durch folgende Bestimmungen gekennzeichnet, sie (i) „represent the most exact execution of the required task under the circumstances given“, und (ii) „are executed with a feeling of comfort and ease, of fitness and adequacy“ (HN, 182). Vor dem Hintergrund des Konzepts bevorzugten Verhaltens und individualtypischer Konstanten kann die Aufgabe einer Bestimmung der Persönlichkeit des Menschen sozusagen operationalisiert werden, umfasst

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folgende Schritte (die begrifflichen Klammern sind jeweils durch „sic“ gekennzeichnet): (i) „We should have to explore an individual by exposing him to a variety of tasks in the fields of perception, motor performance, memory, thinking, and so on; in every instance we must seek to determine what are for him the preferred (sic) ways of execution“ (HN, 183). (ii) „The tendency toward preferred behavior (sic) is an expression of the fact that the organism constantly (sic) seeks a situation in which it can perform at its best and with optimal comfort“ (HN, 183). (iii) „Consequently, we may call the preferred way of execution a constant (sic) of the individual“ (HN, 184). (iv) „Ultimately these constants are basic traits of the constitutional and character make-up of the individual“ (HN, 184). Das auch so schon umfangreiche Programm einer individualisierten Persönlichkeitsanalyse wird noch dadurch erweitert, dass Entwicklungsphasen und Lebensalter mit in Betracht gezogen werden müssen (HN, 193). Mit anderen Worten: Das bevorzugte Verhalten eines Organismus in den verschiedenen Leistungssphären spiegelt wider, welche Aktivitäten sozusagen flüssig erfolgen und mit einem Gefühl des „Könnens“ einhergehen, ein Sachverhalt, der wiederum Rückschlüsse auf die Fähigkeiten / Vermögen eines Menschen – seine Persönlichkeitseigenschaften – erlauben sollte. Kurz: Über das Konzept des bevorzugten Verhaltens sollen die „basic traits of the constitutional and character make-up of the individual“ (HN, 184) bzw. dessen „individual aptitudes“ identifiziert werden. Die „caveats“, die in diesem Rahmen beachtet werden sollten, müssen hier nicht nachgezeichnet werden (HN, 184–189), auch nicht die Interaktionen von „capabilities“ und Erfahrung vor dem allfälligen Hintergrund möglicher Überlastungsreaktionen (HN, 193–195). Bemerkenswert sind jedoch einige Überlegungen Goldsteins zu damals zeitgenössischen Vorstellungen einer Charaktertypologie (HN, 189ff.) und zum Einfluss hereditärer bzw. soziokultureller Faktoren auf die Ausbildung der Persönlichkeit eines Menschen (HN, 193ff.), da diese Ausführungen direkt Bezug nehmen auf seine Lehre vom Organismus und Missverständnisse ausräumen können. Gegen die damals zeitgenössischen Charakterlehren z.B. von Eduard Spranger (1882–1963) oder Ernst Kretschmer, erinnert sei an seine Abhandlung Körperbau und Charakter (1921), wird vorgebracht, dass „all these attempts must be considered failures … grounded in the same me-

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thodological error as the failure of the reflex theory. Single phenomena are taken as essential factors either because of their accidentally coming into the foreground or because of theoretical prejudice“ (HN, 190f.). Mit diesen Einwänden wird nicht ausgeschlossen, dass derartige Typologien einen begrenzten „praktischen“ Wert haben, z.B. im Alltag der Personalführung („to understand why some are fitted to get along with one another“). Obwohl von Goldstein so nur angedeutet, dürfte der Gedankengang dahingehend erweitert werden, dass im Bereich der Persönlichkeitspsychologie ebenfalls das Schema der Figur-Hintergrundgestaltung zu beachten ist. Auch Verhaltens-bezogene „traits“ sind – im Rahmen einer bestimmten Stellungsnahme zu situativen Herausforderungen – als Hervorhebung einer Figur zu betrachten, die aber immer eingebunden bleibt in einen Hintergrund, innerhalb dessen auch andere Aspekte gegebenenfalls fokussiert werden könnten oder müssten. Mit anderen Worten: Wird einem Individuum / einer Gruppe der Charakter A zugesprochen, dann wird dieser „trait“ lediglich in den Vordergrund gerückt, im Hintergrund bleiben auch B, C, D… präsent. Dieses Konzept wird auch angewendet auf die Frage nach den „differences in character between the inhabitants of different countries and states and between races“ (HN, 196). Anders als eine ausdrücklich mit dem Attribut „biologisch“ versehene Lehre vom Aufbau des Organismus – einem kulturellen Stereotyp folgend – wohl vermuten ließe, wird der Heredität von Persönlichkeitsmerkmalen im Rahmen einer Völkerpsychologie nicht das Wort geredet. Unter Rückgriff auf kulturanthropologische Befunde stellt Goldstein fest, dass „the phenomena which are common to a group or race are not reducible to common inborn personality traits in that group. Our biological point of view, especially our notion of preferred behavior, would seem to contradict these statements. Therefore I must reemphasize the postulate that the range of variability in the preferred ways of human behavior has to be considered as the deciding factor in the variety of social and cultural patterns“ (HN, 198f.). Mit anderen Worten: Bei allen Vergleichen zwischen Gruppen muss immer auch die Variabilität innerhalb der Gruppen beachtet werden. In der Zusammenschau stellt Goldstein hier ein ausschließlich formales Konzept der Evaluation von „self-actualization“ vor: die optimale, aber – bislang nur nebenbei erwähnt – auf ein soziales Umfeld abgestimmte (HN, 196) Entfaltung der individuellen „potentialities“, d.h. der Talente, Fähigkeiten, Begabungen etc. des Einzelnen. Die inhaltliche Bestimmung dieser Vermögen muss sich auf umfangreiche methodisch restringierte Verhaltensbeobachtungen stützen, durch die dann sozusagen ein breites Profil von „preferred behavior“ erstellt wird.

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6.6.3 Soziales Handeln: „Self-actualization“ im Spannungsfeld von „selfrestriction“ und „encroachment“ Nur nebenbei kam bislang in den Blick, dass „self-actualization“ in ein soziales Umfeld eingebettet ist, ja, sein muss (HN, 196f.). Dieser Terminus könnte zunächst – so Goldstein – zu der Annahme verleiten, es werde einer rücksichtslosen Selbstverwirklichung das Wort geredet, d.h. einem „asocial individualism and egoism“ (Tippfehler im Original: „egotism“; HN, 201). Aber hier geht es natürlich nicht um Niedertracht im persönlichen Umgang, sondern um ein sozialphilosophisches Konzept. In diesem Zusammenhang wird wieder auf „our observation of our patients“ verwiesen: „they cannot actualize themselves without respect to their surroundings in some degree, especially to other persons“ (HN, 201). Am Paradigma der Patienten mit Hirnschädigung zeigen sich zumindest zwei Facetten menschlicher Sozialität: (i) die Abhängigkeit der Betroffenen in ihrer „self-actualization“ von der Unterstützung / Hilfe anderer Menschen schon im Alltag, damit einhergehend die Notwendigkeit der Einbettung in ein soziales Umfeld (HN, 201), und (ii) die ihnen – gewöhnlich – zuteil werdende spontane Hilfsbereitschaft: „One can hardly find a better example of the fact that the attitude of self-restriction belongs to natural human behavior than that given by the behavior of normal persons toward the sick“ (HN, 202). Diese beiden Einblicke in die Situation der Patienten mit Hirnverletzung sollen zwei Sachverhalte veranschaulichen, die über den klinisch-medizinischen Bereich hinaus eine fundamentalere Dimension menschlicher Sozialität ausmachen: die Anpassung von „self-actualization“ an ein soziales Umfeld und die Möglichkeit von „self-restriction“ zumindest im gesellschaftlichen Nahbereich, sozusagen „Auge in Auge“. Als Kehrseite dieses Zusammenhangs ist aber festzuhalten: „The self-actualization of the individual in his social environment can take place only by his encroaching upon another’s freedom“, und das kann dann konkret heißen: „by claiming something from another, by imposing upon another to a certain degree“ (HN, 203). Vor diesem Hintergrund äußert sich „self-actualization“, wenn eingebettet in ein gesellschaftliches Umfeld, als die Aufgabe, eine Balance zu finden zwischen „encroachment upon another“ und „self-restriction towards another“ bzw. zwischen Unterordnung („submission“) und Durchsetzung („aggression“) (HN, 206, 207). Auch in diesem Zusammenhang wird nochmals Bezug genommen auf das Paradigma des hirnverletzten

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Menschen: „Abnormal aggressiveness or submissiveness we observe especially in patients who lack the capacity of abstraction and in those in whom there is a pathological isolation of certain personality sectors“ (HN, 205). Diese Beobachtung mag dazu dienen, die Behauptung einer fundamentalen Bedeutung dieser beiden Verhaltensmerkmale zu unterstützen, aber natürlich finden sich bei Personen, „who lack the capacity of abstraction“, auch andere emotional / motivationale Veränderungen, Goldstein selber erwähnt beispielsweise einen Verlust an Spontaneität und Initiative. Und diese Überlegungen wollen auch nicht das Modell einer dualen Triebstruktur vertreten: Der Mensch ist „driven to actualize himself and to come to terms with his environment. In doing so, he has at times to be submissive and at times to be aggressive, depending on the situation“ (HN, 204f.). Einen erheblichen Umfang des achten Kapitels nehmen schließlich Erörterungen ein, die um das Verhältnis – in Goldsteins Worten – von „I“ und „We“ kreisen (HN, 208–223). Das „We“ bezieht sich auf „the relationship between the individual and others“ (HN, 208). Als ein Schlüsselsatz darf folgende Äußerung gelten: „we thus consider the ‚we‘ as secondary to the individual“ oder „the ‚we‘ is determinable only through the individual“ (HN, 211, 212). In gewisser Weise sind soziale Einrichtungen wie Sitten und Gebräuche („customs“) oder rechtlich-politische Organisationen natürlich nur insoweit „real“, als sie sich im Handeln der Individuen, in ihrer „self-actualization“, zur Geltung bringen. Aber andererseits verdankt sich die Identität des „I“ doch – in weiten Grenzen – einem vorgegebenen und vorfindlichen „We“, in das es hinein geboren wird und hineinwächst, ein Sachverhalt, der schon im vorausgegangenen Kapitel konzediert wurde: „the determination of the specific character of the potentialities of any individual is oriented by the contents of his milieu“ (HN, 196, vgl. 208). Der Gedankengang Goldsteins scheint hier, das muss kritisch eingewendet werden, sich ein Stück weit im Kreise zu drehen (HN, 208f.). Eingestandenermaßen gibt es eine Vielzahl an „We“-Phänomenen, d.h. Gruppierungen, Verbünde etc., die, zumindest auf einen ersten Blick, Denken und Verhalten des Einzelnen beeinflussen. Aber nicht alle diese „We’s“ sind „normal“ in dem Sinne, dass sie der Natur des Menschen entsprechen. Mit anderen Worten: Nur diejenigen „We’s“ dürfen als natürlich gelten, die „the existence of the individual“ gewährleisten. Mithin werden soziale Bedingungen nur dann als Determinanten der Natur der Persönlichkeit eingestuft, wenn sie der Entfaltung des Individuums dienen. Damit wird dem Individuum ein Vorrang eingeräumt. Aber diese Voraussetzung ist nur dann nicht trivial, wenn dem Einzelnen eine Natur eignet vor allen gesellschaftlichen Prägungen. Um die Natur, das Wesen eines Individuums zu bestimmen, wäre die in Kapitel 7 vorgeschlagene umfassende Analyse der „preferred behaviors“ eines Individuums erforderlich. Aber eben diese Verhaltensdokumen-

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tation beinhaltet doch kein Kriterium, um zwischen natürlichen und sozialen Determinanten „ausgezeichneten Verhaltens“ unterscheiden zu können („corresponding to the nature of man“ versus „merely an accidental phenomenon“; HN, 208). Es wäre überzogen, allzuviel Gesellschaftstheorie in Human Nature hinein- oder herauslesen zu wollen. Am ehesten kann der Schluss dieser Schrift gelesen werden als ein Manifest gegen jede Form eines Kollektivismus, sei es von links oder rechts, ein höchst aktueller Bezug Anfang der 1940er Jahre (HN, 212ff.). Aber Beobachtungen am Patienten mit erworbener Hirnschädigung können sicherlich nicht als eine Plattform dienen, auf der sich ein alternatives liberales Modell entwickeln oder begründen ließe. Die Bedeutung dieses Paradigmas liegt eher darin, dass es sich um eine lebensweltliche Situation handelt, die unmittelbar und intuitiv – siehe oben – das Individuum als Individuum in den Vordergrund rückt, eine Konstellation, in der das Individuum sich sozusagen als eine Art von „Überstand“ gegenüber sozialen Ordnungssystemen abhebt bzw. abheben kann. Aber auch hier gilt, dass die herausgehobene Figur sich – in Konsequenz des Gedankenganges von Human Nature, obwohl hier von Goldstein nicht ausdrücklich erwähnt – von einem Hintergrund abheben muss, in diesem Falle der Abhängigkeiten von einem Kollektiv, ganz trivial, des Gesundheitssystems und des Versicherungswesens. Auch Plessners frühe Schrift Grenzen der Gemeinschaft: Eine Kritik des sozialen Radikalismus aus dem Jahre 1924 stellt ein Manifest gegen ein überzogenes „We“ dar – in Form bedingungsloser Volks- oder Klassenzugehörigkeit. Und auch dieses Werk scheint in einer lebensweltlich situierten Erfahrung zu gründen, die das Individuum intuitiv in den Vordergrund rückt: die Verletzlichkeit des Einzelnen in der öffentlichen Bloßstellung, die durch den Takt im Umgang miteinander austariert werden muss oder kann (wiederabgedruckt in GS V).

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6.7 Zusammenfassung – Goldstein: Eine ökologische „Idee“ des Organismus als Grundlage einer Hermeneutik des Verhaltens 6.7.1 Die erworbene Hirnverletzung als „Modellsystem“ philosophischer Biologie: Vom „Bewältigungsverhalten“ der Patienten zur QuasiHomöostase der Organismen Der Untertitel von Goldsteins Opus magnum heißt: Einführung in die Biologie [sic, HA] unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen [sic, HA]. Mit anderen Worten: Ausgehend insbesondere von Beobachtungen am „kranken Menschen“ will diese Abhandlung „das Verhalten der anderen Lebewesen begreifen“ bzw. überhaupt „das Leben verstehen“ (AO, 3). Die angesprochenen „kranken Menschen“ waren vor allem Soldaten, die sich während des Ersten Weltkriegs eine Hirnschädigung durch Schuss- oder Splitterverletzungen im Bereich des Kopfes zugezogen hatten. Wenn Aufgaben und Herausforderungen, die vor Eintritt der Verletzung ohne Schwierigkeiten zu lösen oder zu meistern waren, sich nun nicht mehr bewältigen lassen, dann kann ein Zustand ungeordneten Verhaltens auftreten – bis hin, eine begriffliche Signatur des Goldstein’schen Werkes, zu einer „Katastrophenreaktion“: Der Patient „looks dazed, changes color, becomes agitated and anxious, starts to fumble“ (HN, 85f.). Um eine neue Balance in seinem Leben zu finden, kann der Betroffene entweder durch Hilfsmittel bzw. Kompensationsmechanismen („coping“ oder „Bewältigungsverhalten“) seine „Defizite“ auszugleichen oder das jeweilige Umfeld seinen Einschränkungen anzupassen versuchen (HN, 90f.). Um hier auf das Vokabular von Plessner zurückzugreifen: Die erworbene Hirnschädigung nötigt – sozusagen als eine Facette von exzentrischer Positionalität – zu einer Re-Positionierung in der jeweiligen Umwelt. Um nun die im Gefolge der Hirnverletzung geklagten Beschwerden und beobachteten „Ausfälle“ richtig einzuordnen, z.B. den Umfang kompensatorischer Leistungen am „Bewältigungsverhalten“ eines Patienten, oder um anstehende therapeutische Maßnahmen planen und bewerten zu können, hat eine „ganzheitliche“ Betrachtung des Kranken zu erfolgen, d.h. körperliche, psychische und mentale Leistungen müssen umfassend in den Blick gerückt werden – das ärztliche Credo Goldsteins. Erinnert sei an die berühmte Fallgeschichte des Patienten Schneider. Was tragen nun die „Erfahrungen am kranken Menschen“ zu einer „Einführung in die Biologie“ bei? Kurz: Sie bringen das Verhalten eines Organismus in eine ökologische Perspektive. Die Aufgabe der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Kohärenz zwischen den Ressourcen eines Organismus, einschließlich seiner Präferenzen, Neigungen und Moti-

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ve, und den Ansprüchen des jeweiligen Umfeldes, stellt sich nicht erst oder nur nach einer Hirnschädigung. Neue und / oder ungewöhnlich schwere Belastungen können auch die Einbettung eines „unversehrten“ und in diesem Sinne normalen Organismus in sein Milieu gefährden oder verunmöglichen. Mit anderen Worten: Re-Positionierung hat als ein sicherlich nicht alltäglicher, aber doch immer wiederkehrender Aspekt exzentrischer Positionalität zu gelten, stellt sozusagen eine Facette der Conditio humana dar. Bei non-humanen Lebensformen, die, um nochmals auf Plessner zurückzukommen, eine zentrische Organisationsform aufweisen, sind natürlich die Möglichkeiten der Re-Positionierung begrenzt, erschöpfen sich sozusagen in einer regulativen Homöostase vitaler Parameter („self preservation“). Die Herausforderung einer „maintenance of constancy in the actions of an organism“ beinhaltet im Falle unserer Spezies nicht nur die Homöostase physiologischer „Konstanten“, sondern eben auch „konstante“, d.h. ungehinderte und fortgesetzte Entfaltung der eigenen Potentiale, sozusagen eine quasi-homöostatische Konstellation. Und diese Kohärenz von Organismus und Umfeld dient nicht mehr nur der „self-preservation“, sondern erlaubt „self-actualization“, eine philosophisch-anthropologische Bestimmung, die dann in Human Nature, zweites Hauptwerk Goldsteins, in den Vordergrund tritt.

6.7.2 Kritik modularer Funktionsmodelle des Nervensystems: Vom „Baukastenprinzip“ zur ökologischen Hermeneutik des Verhaltens eines Organismus Unmissverständlich stellt Goldstein schon in der Einleitung des Aufbaus fest, dass die Beschreibung des Verhaltens eines Organismus – auch der Symptome einer erworbenen Hirnschädigung – von empirisch-wissenschaftlichen Befunden ausgehen muss: „Wir wollen, wie jede Naturwissenschaft, ja jede Wissenschaft überhaupt, von der isolierenden Analyse, von den ‚Teilen‘ des Organismus ausgehen; schon deshalb, weil uns ja gar kein anderes als dieses diskursive Vorgehen möglich ist, wollen wir uns nicht mit phantasievollen Allgemeinheiten begnügen“ (AO, 9). Und einige Jahre später heißt es dann in Human Nature: „The atomistic method is the only legitimate scientific procedure for gaining facts“ (HN, 9). Auf der Grundlage einer Vielfalt eben derartiger empirisch-wissenschaftlicher Befunde, die an gesunden und kranken Menschen erhoben wurden, aber auch tierexperimentelle Daten einschließen, versucht Goldstein dann aber zu belegen, dass weder (i) Wahrnehmung noch (ii) Bewegung sich aus den „Bausteinen“ („Atome“) der (i) Empfindung respektive des (ii) Reflexes zusam-

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mensetzen lassen, d.h. durch ein Ensemble zentralnervöser „Module“ zu komplexen perzeptuellen und motorischen Vorgängen bzw. Abläufen aggregiert werden. Mit anderen Worten: Empfindungsqualitäten, Reflexabläufe und Funktionszentren müssen als Abstraktionen betrachtet werden, die sich in der Perspektive eines Betrachters aus einem umfassenderen Vorgang herausheben, d.h. die „vordergründige“ Figur eines weiträumigeren Geschehens darstellen, das immer als Hintergrund präsent bleibt. Und dieses umfassendere Geschehen beinhaltet „das Ganze“ aller somatischen, psychischen und mentalen Leistungen eines Lebewesens. Mit anderen Worten: Die einzelnen motorischen, sensorischen oder mentalen Reaktionen und Leistungen, die sich in der völlig legitimen wissenschaftlichen Betrachtungsweise einer „atomistic method“ darstellen lassen, z.B. Reflexe, müssen als unterschiedliche Konfigurationen des Gesamtverhaltens eines Organismus verstanden werden. Dieses gestaltpsychologisch konnotierte Bild eines Vordergrund-Hintergrundgeschehens sei hier nochmals an einem Beispiel verdeutlicht: Bei einer Greifbewegung des Armes im Stehen kommt es zu einer Veränderung des Spannungszustandes der gesamten Muskulatur, um insbesondere den Körper im Gleichgewicht zu halten. Der entscheidende Gesichtspunkt, von dem her die Vielfalt der Leistungen eines Organismus als eine Ganzheit oder Einheit in den Blick rückt, ist die ökologische Perspektive der Auseinandersetzung mit einer aktuellen Situation unter dem Gesichtspunkt der „self-preservation“ bzw. „self-actualization“: „the response is an expression of the adjustment of the organism as a whole to the given situation … to fulfill a task in such a way that its capacities are realized as fully as possible“ (HN, 133). Diese Gedanken lassen sich in zwei hermeneutische Prinzipien des Verstehens von Verhalten zusammenfassen: (i) Jeder (vermeintlich) einzelne Reiz-Reaktions-Ablauf oder jede (vermeintlich) separate Leistung eines Lebewesens müssen verstanden werden als „Beitrag“ zu einer bestimmten Auseinandersetzung („Stellungnahme“) dieses Organismus mit den jeweiligen Herausforderungen einer Situation, haben darin Bedeutung und Sinn. Eine derartige Stellungnahme fokussiert das Verhalten des Organismus auf eine „Figur“, die sich aus dem Hintergrund hervorhebt, aber in sie eingebunden bleibt. (ii) Die Interaktionen des Organismus mit seinem Umfeld („Milieu“) unter den besonderen Herausforderungen und Anforderungen der jeweiligen Situation lassen sich nur verstehen als eine Facette der Selbst-Aktualisierung dieses Lebewesens, seiner Talente, Neigungen etc., kurz, seines Wesens, seiner Natur.

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Die schon angesprochene Forderung nach Ganzheitlichkeit der Betrachtung der Symptomatik eines Patienten (siehe oben) – das ärztliche Credo Goldsteins – wird nun erweitert auf das Verhalten eines jeden Organismus, ein Gesichtspunkt, der nun unweigerlich zu der Frage führt: „Was meinen wir eigentlich mit diesem ‚Ganzen‘, das wir vorsichtiger Weise meist in Anführungsstricheln setzen?“ (AO, 49). Als Voraussetzung einer Klärung dieses Sachverhalts „müssen wir den Organismus kennen“. Die Wesenheit eines Organismus erfassen wir in „einer Art Schau etwa im GOETHEschen Sinne“, die aber „immer auf dem Boden sehr empirischer Tatsachen steht“ (AO, 301, vgl. 310f.). Und dieser Vorgang wird nun – auf den ersten Blick doch sehr verwunderlich – mit dem Erlernen des Fahrradfahrens (!) verglichen (HN, 24f.). Illustrativer dürfte wohl der Vergleich mit einem Puzzle-Spiel sein: Nach einer Phase des Rumprobierens, des imaginativen Hin-und-Her-Wendens der Teile, fügen sie sich zu einem Ganzen, d.h. zu einem Bild zusammen. Im Falle der „Idee“ des Organismus geht es darum, die physiologischen und psychologischen „Konstanten“ eines Individuums, seine Ressourcen und die Gegebenheiten bzw. Herausforderungen des jeweiligen Milieus zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen: „an adequate relationship between the organism and its environment“ (HN, 25). Wesentlich, seiner Natur entsprechend, sind dem Organismus diejenigen Merkmale oder Verhaltensleistungen, die eine Einbettung in sein Milieu erlauben, oder dieses überhaupt erst konstituieren, und so eine Ordnung des Verhaltens gewährleisten. Nebenbei: Die „GOETHEsche Schau“ des Aufbaus wird dann in Human Nature, nur sechs Jahre später, zu einer „working hypothesis“ (HN, 31). Vor diesem Hintergrund ist Goldsteins „Idee“ eines Organismus zunächst nur ein formales Gerüst, genauer, eine Anleitung dazu, einen Organismus im Einzelfall durch Bezugnahme auf qualitative und individuelle „Größen“ oder – in Goldsteins Worten – Konstanten, zu spezifizieren.

6.7.3 Kognitive Infrastruktur menschlichen Verhaltens: Die abstrakte / kategoriale Einstellung und das Prinzip des Möglichen – „the essential and the highest attribute of human nature“ Auf der Grundlage seiner Analysen des Leistungsabbaus bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung stellt Goldstein eine grundlegende Dualität des Verhaltens und damit auch der zugrunde liegenden kognitiven Infrastruktur des Menschen fest: „… we must distinguish in the human being two types of behavior, the concrete and the abstract, and that abstract behavior represents the highest capacity – in fact, the essential capacity – of

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the human being“ (HN, 68, 224). Das Konzept einer abstrakt / kategorialen Einstellung darf wohl ebenso wie die Katastrophenreaktion als eine Signatur des Goldstein’schen Werkes gelten, wird auch immer noch mit seinem Namen in Verbindung gebracht. Insofern hat diese Vorstellung tatsächlich „das Vergessen überdauert“ (von Cramon 1998, 38). Es hätte zu weit geführt, die Entwicklung dieses doch schillernden Begriffs in seinen einzelnen Verästelungen nachzuzeichnen. Aber zumindest drei Facetten lassen sich in einer ersten Annäherung unterscheiden: (i) Der Begriff der abstrakten Haltung bzw. des kategorialen Verhaltens wird zunächst eingeführt, um Benenn- bzw. Wortfindungsstörungen nach erworbener Hirnschädigung zu erklären. Und auch noch im „ultimativen Text“ zur Sprachpathologie aus dem Jahre 1948 (Levelt 2013, 402) stellen diese Einbußen den zentralen „Pathomechanismus“ des Syndroms der amnestischen Aphasie dar. Allenfalls verhalten-zögerlich wird dieses Konzept mit anderen Sprachstörungen in Verbindung gebracht. (ii) Im Aufbau und dann in der Monographie Abstract and Concrete Behavior aus dem Jahre 1941 wird dieses Konzept erweitert zu einem dualen Gefüge der kognitiven Infrastruktur des Menschen. Die abstrakt / kategoriale Haltung ist nun verknüpft mit einer Reihe von mentalen und behavioralen Leistungen, die – in heutigem Jargon – als Exekutivfunktionen einzuordnen wären und / oder mit dem Arbeitsgedächtnis verknüpft sind. Einbußen in diesen Bereichen sollen sich zuvörderst bei einer Schädigung des Stirnhirns, aber auch des Scheitellappens finden. Demgegenüber zeichnet sich konkretes Verhalten insbesondere durch „unreflektierte“ und Stimulus-getriggerte (Re-)Aktionen aus. Eine strikte Trennung zwischen einer kategorial / abstrakten und einer hierarchisch untergeordneten konkreten Einstellung, verbunden mit der Annahme, Patienten mit Hirnschädigung – und dann erst recht non-humanen Lebewesen – stünden grundsätzlich nur Stimulus-getriggerte Reaktionen auf vor den Augen liegenden Gegenstände zur Verfügung, lässt sich sicherlich so nicht aufrechterhalten. Eine nuanciertere Vorstellung ergibt sich, wenn die „Idee“ der abstrakt / kategorialen Einstellung zurückversetzt wird in das umfassendere Konzept einer Entdifferenzierung menschlichen Verhaltens nach Hirnverletzung: „je nach dem ob das eine oder andere Gebiet … mehr oder weniger betroffen ist, wechseln die Symptome; die Grundstörung bleibt aber die gleiche“ (AO, 25). Mit anderen Worten: Nach einer kortikalen Läsion kommt es – als eines formalen (!) Aspekts aller Abbauvorgänge – zu einer Entdifferenzierung der – abhängig von der Lokalisation der Läsion – jeweils betroffenen Leistungssphären, sei es nun die Motorik, die visuelle Wahrnehmung oder die Intelligenz. Vor diesem Hintergrund würden – um diesen Gedan-

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ken zu wiederholen – Einbußen der abstrakt / kategorialen Haltung eine Entdifferenzierung derjenigen kognitiven Funktionen widerspiegeln, die an die Integrität des Stirn- und Scheitelhirns geknüpft sind. Der „ganzheitliche“ Denkansatz Goldsteins scheint dann doch wieder in eine, wenn auch abgeschwächte Lokalisationslehre zu münden: Einbußen der „abstract attitude“ spiegeln sozusagen Beeinträchtigungen der distinkten kognitiven Leistungen des Stirn- und Scheitellappens wider. (iii) Eine höchst bemerkenswerte Modifikation des Konzepts der abstrakt / kategorialen Einstellung taucht schließlich in Human Nature auf: Das Merkmal „to detach our ego from the outerworld or from inner experiences“ wird aus der Liste der Merkmale der „abstract attitude“, so wie sie sich in Abstract and Concrete Behavior (1941, 4) und Language and Language Disturbances (1948, 6) finden, herausgenommen und als separater „characteristic trend“ unserer Spezies bestimmt: „man has the capacity of separating himself from the world and of experiencing the world as a separate entity in time and space“, Grundlage menschlicher Spontaneität und Kreativität (HN, 171). Dieser – ehemalige – Aspekt von „abstract attitude“ ist nun am ehesten als eine philosophisch-anthropologische Bestimmung einzuordnen, die in die Nähe dessen rückt, was Plessner mit „Vergegenständlichung“ oder „Symbolisierung“ eines Umfeldes bezeichnet, und die es einem Subjekt ermöglicht, seiner Welt gegenüber die Perspektive des „mere possible“ einzunehmen (Goldstein & Scheerer 1941, 7, 87). Mit anderen Worten: „Die abstrakte Einstellung ermöglicht … dem Menschen, durch Reflexion oder Imagination hinter die unmittelbaren Aufforderungen der Umwelt, das unmittelbar sinnlich Gegebene, zurückzutreten“ (Frisch 2014, 161).

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Zusammenfassung und These: Goldsteins Aufbau des Organismus als „Scharnier“ der vertikalen und horizontalen Dimension von Plessners Philosophischer Anthropologie

Durch die im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit angesprochenen ethologisch-verhaltensbiologischen Befunde aus der jüngeren Vergangenheit wird die Frage nach den „wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der personalen Lebenssphäre von Menschen und den Lebenssphären anderer Lebewesen“ aufgeworfen (Krüger 2017, V) – noch zugespitzter als es je zuvor der Fall war, erinnert sei an die Stichworte „our inner ape“ oder „chimpanzee politics“. Hier sollte die so herausgeforderte menschliche „Selbstbesinnung“ als Aufgabe p(!)hilosophischer Anthropologie im Rückgriff auf die Tradition der P(!)hilosophischen Anthropologie, genauer, der Naturphilosophie Plessners erfolgen. Ausgehend von einer Bestimmung anschaulich-lebendigen Daseins, zentriert um das Ausdrucksverhalten eines Organismus („Innen/Außen-Doppelaspektivität“) in der Beziehung zu seinem Umfeld („Positionalität“), wird eine Naturgeschichte entfaltet, die sich auf der Ebene des Menschen in Gestalt exzentrischer Positionalität selbst unterläuft. Mit anderen Worten: Der Mensch ist vollumfänglich in die Sphäre des Organischen eingebettet, und seine „Sonderstellung“ verdankt sich nicht einem distinkten „Monopol“, das zur „Sphäre des Tieres“ hinzutritt, meist wird in diesem Zusammenhang Sprache reklamiert, sondern einer Eskalation der kognitiven Infrastruktur non-humaner Lebensformen, die eben „bis zum Äußersten durchgeführt“ worden ist (GS IV, 363). Diese „äußerste Durchführung“ führt zu einer gegenständlich konzeptualisierten Welt mit einem „sich erfassenden Ich“ (GS VII, 114) als „Gegenpol“. Einerseits spielt sich menschliches Leben mithin in den voraus-gesetzten Grenzen der „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ und der „Organisationsweisen des lebendigen Daseins“ ab, macht uns – um auf das Manifeste animaliste von Corine Pelluchon (2017/2020) zurückzukommen – wie alle Kreaturen zu bedürftigen und verletzlichen Wesen: „Wir Menschen sind Tiere“ (Gabriel 2021). Andererseits stellen eben diese Grenzen auch immer – früher oder später – Herausforderungen unserer Einbildungskraft dar, die wir zu überwinden trachten. Eindrückliches Beispiel ist – von Corine Pelluchon als ein Aspekt von Kreatürlichkeit angesprochen – unsere „Stellung als gezeugte Lebewesen“, eine Abhängigkeit, die doch von der Reproduktionsmedizin mehr und mehr in Frage gestellt wird. Bemerkenswerterweise hat Plessner „dem menschlichen Handeln kaum Aufmerksamkeit gewidmet“ (Glastra van Loon 1995, 50). Auf den ers-

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ten Blick scheint dieser Einwurf nur – und berechtigterweise – die vertikale Dimension seiner Philosophischen Anthropologie zu betreffen, d.h. unsere Naturgeschichte als Lebewesen, die in der Kontinuität einer Stufenordnung aller Organismen stehen. Demgegenüber muss die horizontale Ebene in Gestalt der „Beziehung des Menschen zur Welt in seinen Taten und Leiden“ (GS IV, 70), d.h. Geschichte und Kultur unserer Gattung, per se mit Handeln verknüpft sein. Tatsächlich beginnen die Ausführungen zu den „anthropologischen Grundgesetzen“ im Schlusskapitel der Stufen mit der Frage: „Wie führt er [der Mensch, HA] die exzentrische Position durch?“ (GS IV, 383). Aber die nachfolgenden Erörterungen weisen zunächst spiritualistische und naturalistische Erklärungen der Entstehung von Kultur zurück, um dann den Ursprung dieser unserer zweiten Natur im „Ausdrucksbedürfnis“, in der „Expressivität“ des Menschen zu verorten, notwendige Folge der exzentrischen Positionalität unserer Gattung. Aber alltägliches Handeln, das eben nicht in den Bereich des „Schöpfertums“ hineinreicht, ausgezeichnet durch „einen glücklichen Griff“ in der „Begegnung zwischen dem Menschen und den Dingen“ (GS IV, 397), wird weitgehend ausgeblendet. Um diesen Eindruck etwas ironisch zuzuspitzen: Menschliches Verhalten unter- und außerhalb der Sphäre historischer Taten und künstlerischer Werke, die dann Eingang in die Geschichtsbücher und in die Museen finden, rückt kaum in den Blick, am ehesten noch in der Gemeinschafts-Schrift, die Takt und Diplomatie im Umgang der Menschen untereinander anmahnt – aber doch „nur“ im Rahmen eines eher pädagogischen Traktates (Rezension Ferdinand Tönnies, in: Eßbach et al. 22016). Und gerade diese angesprochene Lücke zwischen vertikaler und horizontaler Dimension der Stufen vermag – zumindest teilweise – Goldsteins Lehre vom Aufbau des Organismus zu füllen. Ausgehend von „Erfahrungen am kranken Menschen“, meist Soldaten mit Hirnschädigung nach Kopfschuss- oder -splitterverletzung, hat Goldstein eine ökologische Verhaltenslehre der Organismen entworfen. Im Fall bleibender Behinderung nach einem derartigen Trauma stellt sich die Aufgabe einer Re-Positionierung im alltäglichen Leben, entweder durch, in zeitgemäßem Vokabular, die Entwicklung von „coping“-Strategien oder Umgestaltung des vorliegenden Milieus („niche construction). Diese „Erfahrungen am kranken Menschen“ werden von Goldstein sozusagen verallgemeinert zur Conditio humana und, in begrenztem Umfang, auch als eine Aufgabe aller Lebewesen bestimmt, deshalb der Untertitel: Einführung in die Biologie seines Hauptwerkes Aufbau des Organismus. Die Sicherung der vitalen Lebensgrundlagen („self-preservation“) und – im Fall unserer Spezies – die Erweiterung privater bzw. sozialer Teilhabemöglichkeiten („self-actualization“) erfordert den ständigen Abgleich von Präferenzen, Ressourcen und Milieu, um eine „Kohärenz“ von Organismus und

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Umwelt herzustellen. Vor dem Hintergrund der philosophischen Biologie Goldsteins wird, um nun auf die Ausgangsfrage der anthropologischen Grundgesetze Plessners zurückzukommen, exzentrische Positionalität auch – oder zuvörderst – „durchgeführt“ als die immer wieder neu erforderliche Re-Positionierung des Menschen in seinem alltäglichen Umfeld. Mit anderen Worten: Der Aufbau des Organismus und die Stufen des Organischen verschränken sich auf der Ebene des menschlichen Verhaltens.

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