Die Struktur des »voluntativen Schuldelements«: Zugleich eine Analyse des Verhältnisses von Schuld und positiver Generalprävention [1 ed.] 9783428478347, 9783428078349

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Die Struktur des »voluntativen Schuldelements«: Zugleich eine Analyse des Verhältnisses von Schuld und positiver Generalprävention [1 ed.]
 9783428478347, 9783428078349

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HELMUT FRISTER

Die Struktur des "voluntativen Schuldelements"

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamhurg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechlslehrern der deutschen Universitäten

Band 85

Die Struktur des "voluntativen Schuldelements" Zugleich eine Analyse des Verhältnisses von Schuld und positiver Generalprävention

Von

Helmut Frister

DUßcker & Humblot . Berliß

Als Habilitationsschrift gedruckt auf Empfehlung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Frister, Helmut: Die Struktur des "voluntativen Schuldelements" : zugleich eine Analyse des Verhältnisses von Schuld und positiver Generalprävention / von Helmut Frister. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 85) Zugl.: Bonn, Univ., Habil., 1992/93 ISBN 3-428-07834-9 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humb10t GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Ber1in Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-07834-9

Vorwort Die Arbeit lag im Sommersemester 1992 und im Wintersemester 1992/93 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift vor. Das Manuskript wurde im Juni 1992 abgeschlossen; bis April 1993 erschienene Rechtsprechung und Literatur wurde soweit wie möglich noch in den Fußnoten berücksichtigt. Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, an dieser Stelle meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Gerald Grünwald, für die mir zuteil gewordene umfassende persönliche und wissenschaftliche Förderung ganz herzlich zu danken. Ohne seine stete Ermutigung wäre nicht nur diese Arbeit niemals fertiggestellt worden. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Professor Dr. Günther Jakobs, der mir in großzügiger Weise bei der Literatursuche behilflich war, sich der für ihn aus thematischen Gründen etwas heiklen Aufgabe der Begutachtung der Arbeit gestellt und mir wertvolle Anregungen für die Endfassung gegeben hat. Bedanken möchte ich mich schließlich auch bei Herrn Professor Dr. Eberhard Schmidhäuser und Herrn Professor Dr. Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Strafrechtliche Abhandlungen". Bonn, den 27. Mai 1993 Helmut Frister

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

17

A.

Die Problematik des "voluntativen Schuldelements " . . . . . . . . .

17

B.

Ziel und Gang der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

20

1. Kapitel

Die Identität der Zurechnungsproblematik im traditionellen und im positiv-generalpräventiven Begriff der Schuld A.

B.

Voruberlegung: Die Grundstruktur des traditionellen, an der Idee gerechter Zurechnung orientierten Schuldbegriffs . . . . .

22

I.

Die Bezugnahme des traditionellen Schuldbegriffs auf vorpositive Regeln moralischer Zurechnung . . . . . . . . .

22

11.

Die Konstituierung der vorpositiven Regeln moralischer Zurechnung durch die Praxis sozialer Interaktion . . . . . ..

24

Die Theorie positiver Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . ..

27

I.

Der Begriff der positiven Generalprävention . . . . . . . . ..

27

11.

Die empirischen Voraussetzungen positiver Generalprävention und die beiden möglichen Ansatzpunkte zu deren theoretischer Begründung . . . . . . . . . . . . . . .

32

Die Begründung der empirischen Voraussetzungen positiver Generalprävention aus der Struktur des Pflichtbewußtseins (das handlungstheoretische Modell positiver Generalprävention) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

III.

8

Inhaltsverzeichnis

1. Das tiefenpsychologische Begründungsmodell

34

2. Ein lemtheoretisches Begründungsmodell . . . . . . . . .

37

Die Begründung der empirischen Voraussetzungen positiver Generalprävention aus der Struktur des Rechtsbewußtseins (das interaktionistische Modell positiver Generalprävention). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

39

Zwischenergebnis..........................

43

Die ontologische Struktur der Zurechnungsdogmatik in einem generalpräventiven Begriff der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . ..

45

IV.

V.

c.

I.

II.

III.

IV.

Die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten zur Einordnung der Zurechnungsmerkmale und ihre Bedeutung für die Struktur der strafrechtlichen Zurechnungsentscheidung

46

Die Begründung der Zurechnungsmerkmale auf der Grundlage des handlungstheoretischen Modells positiver Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

1. Theoretische Analyse der Begründungsstruktur

48

2. Analyse der in der strafrechtlichen Literatur gegebenen Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Deutung der Zurechnungsfähigkeit . . . . . . . .. b) Die Deutung der Entschuldigungsgründe . . . . . . ..

48 49 50

Die Begründung der Zurechnungsmerkmale auf der Grundlage des interaktionistischen Modells positiver Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

51

1. Theoretische Analyse der Begründungsstruktur

51

2. Analyse der in der strafrechtlichen Literatur gegebenen Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Deutung der Zurechnungsfähigkeit . . . . . . . .. b) Die Deutung der Entschuldigungsgründe. . . . . . .. c) Exkurs zur Deutung des Verbotsirrtums . . . . . . ..

55 55 58 61

Zwischenergebnis..........................

63

Inhaltsverzeichnis

D.

Die Bezugnahme des generalpräventiven Schuldbegriffs auf die im traditionellen Schuldverstindnis vorausgesetzten vorpositiven Regeln moralischer Zurechnung . . . . . . . . . . . . .

65

Die moralische Zurechnung in der sozialen Interaktion als Kriterium der generalpräventiven Zurechnungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

1. Die (direkte) Bezugnahme auf das Phänomen der moralischen Zurechnung im handlungstheoretischen Modell positiver Generalprävention . . . . . . . . . . . . .

65

2. Die (indirekte) Bezugnahme auf das Phänomen der moralischen Zurechnung im interaktionistischen Modell positiver Generalprävention . . . . . . . . . . . . .

67

Die Regelgeleitetheit der moralischen Zurechnung in der sozialen Interaktion als Voraussetzung einer generalpräventiven Zurechnungsentscheidung . . . . . . . .

69

Die Identität der "Zurechnungsperspektive" im generalpräventiven und im traditionellen Begriff der Schuld . . . . . . .

74

I.

11.

E.

9

I.

11.

III.

Die Problematik einer strafrechtlichen "Zurechnung auf der Metaebene" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

1. Das Beispiel der "Randschärfe" der zur Bezeichnung zurechnungsausschließender Sachverhaltsmerkmale zur Verfügung stehenden Begriffe. . . . . . . .

75

2. Das Beispiel der Infragestellung anerkannter Institutionen durch die Feststellung zurechnungsausschließender Sachverhaltsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

76

Die Unvereinbarkeit einer strafrechtlichen "Zurechnung auf der Metaebene " mit einer richtig verstandenen Theorie positiver Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Die Unvereinbarkeit einer strafrechtlichen "Zurechnung auf der Metaebene" mit dem einem richtig verstandenen generalpräventiven Schuldbegriff zugrundeliegenden Legitimationsmodell der Strafe . . . . . . . . . .

85

10

Inhaltsverzeichnis

F.

Das Ergebnis der Analyse und seine Bedeutung für die Diskussion über das Verhältnis von Schuld und positiver Generalprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

Die Identität der strafrechtlichen Zurechnungsproblematik im traditionellen und im generalpräventiven Begriff der Schuld .............................

88

1. Die Identität am Beispiel der Berücksichtigung eines ·Vorverschuldens· bei der Entscheidung über die ZurechnungsIahigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

88

2. Die Identität am Beispiel der Berücksichtigung von Gefahrtragungspflichten bei der Entschuldigung . . .

90

Die der Diskussion über das Verhältnis von Schuld und positiver Generalprävention zugrundeliegenden Mißverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

91

1. Die Identifizierung des generalpräventiven Schuldverständnisses mit einer utilitaristischen Begründung der die materielle Legitimation der Strafe betreffenden Stratbarkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . ..

92

2. Die Identifizierung des traditionellen Schuldverständnisses mit der Vorstellung eines theoretisch (empirisch) zu begreifenden·Anderswollenkönnens· als Grundlage der strafrechtlichen Zurechnung . . . . . . . .

93

Die verbleibende Bedeutung des Streits um das Verhältnis von Schuld und positiver Generalprävention . . . . . . .

95

1. Die Bedeutung für die Berücksichtigung nachträglicher Distanzierungen von der Tat bei der Schuldbeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

2. Die Bedeutung für die "Schuldidee" . . . . . . . . . . . ..

97

I.

11.

III.

Inhaltsverzeichnis

11

2. Kapitel

Die vorpositive Struktur von Zurechnungsfähigkeit und Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" (Zumutbarkeit) A.

Kritik des "voluntativen Schuldelements" . . . . . . . . . . . . . . ..

99

I.

Vorüberlegung zur Struktur von Fähigkeitsbegriffen . . ..

100

11.

Kritik der herkömmlichen Konstruktion der das "voluntative Schuldelement" konstituierenden Steuerungsfähigkeit in Analogie zur Handlungssteuerung . . . . . . . . . . .. 103 1. Die begriffslogische Struktur des herkömmlichen Verständnisses der Steuerungsfähigkeit . . . . . . . . . . . 103 2. Die Unterscheidung von vernünftigen Gründen oder Motiven und natürlichen Strebungen oder Trieben als Grundlage des herkömmlichen Verständnisses der Steuerungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 106 3. Kritik des herkömmlichen Verständnisses der Steuerungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

B.

III.

Konstruktion der das "voluntative Schuldelement" konstituierenden Steuerungsfähigkeit in Analogie zur Steuerung kognitiver Leistungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 114

IV.

Zwischenergebnis und Folgerungen für den weiteren Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Der vorpositive Begriff der Zurechnungsfähigkeit . . . . . . . . . . 118 I.

Die Zurechnungsfähigkeit als Teilaspekt der die soziale Interaktion konstituierenden Selbstbestimmungsfähigkeit . .. 118

11.

Die Selbstbestimmungsfähigkeit als Fähigkeit zu einer hinreichend differenziert strukturierten Willensbildung . . .. 125

12

Inhaltsverzeichnis

1. Der Begriff der Fähigkeit zu einer hinreichend differenziert strukturierten Willensbildung . . . . . . . . . . .. 126 2. Die Abhängigkeit einer differenziert strukturierten Willensbildung von kognitiven und affektiven Strukturierungsleistungen des Bewußtseins . . . . . . .

128

III.

Die die Fähigkeit zu einer hinreichend differenziert strukturierten WillensbiIdung konstituierende Bewußtseinsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

IV.

Die im allgemeinen Vorverständnis anerkannten Fallgruppen von Selbstbestimmungsuntähigkeit als Mängel bzw. Störungen der die Fähigkeit zu einer differenziert strukturierten Willensbildung konstituierenden Bewußtseinsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Selbstbestimmungsunfähigkeit infolge einer unzureichenden Differenzierung des Erlebens . . . . . . . . . . 134 a) Ursprüngliche Differenzierungsmängel . . . . . . . . . 135 b) Nachträgliche Differenzierungsstörungen . . . . . .. 136 2. Selbstbestimmungsunfähigkeit infolge einer unzureichenden Integration des Erlebens . . . . . . . . . . . . . 140 a) Ursprüngliche Integrationsmängel . . . . . . . . . . . . 140 b) Nachträgliche Integrationsstörungen . . . . . . . . . .. 143

V.

c.

Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Die Struktur der Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" (Zumutbarkeit) . .. 147 I.

Kritik der traditionellen Deutung des "Motivationsdrucks " als Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 148

11.

Kritik der Erklärung der Entschuldigung aus der (kognitiven) Erwartbarkeit des rechtswidrigen Handelns . . . . . .. 150

III.

Die Entschuldigung als Ergebnis einer Bewertung der Tat aus der Perspektive des Betroffenen. . . . . . . . . . . .. 153

Inhaltsverzeichnis

IV.

D.

13

Der Begriff der Unzumutbarkeit rechtmäßigen Verhaltens als zutreffende Beschreibung der Struktur des Entschuldigungsurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Das Ergebnis der Analyse und seine Bedeutung für die Struktur des strafrechtlichen Schuldbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . .. 162 I.

Die ontologische Struktur der Zurechnungsfähigkeit ..... 162

11.

Die axiologische Struktur der Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

3. Kapitel

Zurechnungsf"ahigkeit und Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" (Zurnutbarkeit) im geltenden Recht A.

Die Zurechnungsfähigkeit im geltenden Recht. . . . . . . . . . . .. 166 I.

Die Notwendigkeit der Orientierung an der vorpositiven Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit bei der Anwendung des geltenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 166

11.

Die die intuitive Orientierung an der vorpositiven Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit auf den Begriff bringende Auslegung des geltenden Rechts . . . . . . . . . . . . . 170 1. Einsichts- und Steuerungs fähigkeit

170

2. Die "biologischen" Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Die Problematik der Eingangsmerkmale auf der Grundlage des herkömmlichen Verständnisses von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit . . . . . . . . . . .. 171

14

Inhaltsverzeichnis

b) Die Funktionslosigkeit der Eingangsmerkrnale auf der Grundlage der an der vorpositiven Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit orientierten Auslegung von Einsichts- und Steuerungsf"ahigkeit . . . .. 175 3. Die Sonderregelungen der §§ 19 StGB. 3 JGG . . . . . . 178 III.

Die Konsequenzen der an der vorpositiven Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit orientierten Auslegung im Bereich der Zurechnungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . .. 179 1. Die Struktur der Entscheidung über die Zurechnungsunfähigkeit und ihre Bedeutung für die Aufgabenverteilung zwischen Richter und Sachverständigem . . . . .. 179 2. Die Unerheblichkeit der an den Täter zu stellenden normativen Anforderungen für die Entscheidung über die Zurechnungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . .. 181

IV.

Die Konsequenzen der an der vorpositiven Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit orientierten Auslegung im Bereich der verminderten Zurechnungsfähigkeit . . . . . . .. 188 1. Der Begriff und die Bedeutung der verminderten Zurechnungsfähigkeit für die Schuld des Täters . . . . . . .. 188 2. Die Unerheblichkeit der an den Täter zu stellenden normativen Anforderungen für die Entscheidung über die verminderte Zurechnungsf"ahigkeit . . . . . . . .. 194

V.

Die Konsequenzen der an der vorpositiven Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit orientierten Auslegung für das Verhältnis der Zurechnungsfähigkeitsbestimmungen zur Verbotsirrtumsregelung des § 17 StGB . . . . . . . . . . . 199 1. Die Problematik des Verhältnisses von Zurechnungs-

fähigkeit und Verbotsirrtum auf der Grundlage des herkömmlichen Verständnisses von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199

2. Das Verhältnis von Zurechnungsf"ahigkeit und Verbotsirrtum auf der Grundlage der an der vorpositiven Bedeutung der Zurechnungsfähigkeit orientierten Auslegung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit . . 203

Inhaltsverzeichnis

B.

15

Die Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" (Zumutbarkeit) im geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I.

Die Entschuldigung wegen eines auf die Erhaltung eigener Interessen gerichteten "Motivationsdrucks" . . . . . . . . 206 1. Der entschuldigende Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 a) Die Problematik der Deutung des entschuldigenden Notstands auf der Grundlage des herkömmlichen psychologischen Verständnisses des "Motivationsdrucks " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Die Deutung des entschuldigenden Notstands auf der Grundlage des axiologischen Verständnisses des "Motivationsdrucks" . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Die Entschuldigung der (persönlichen) Selbst- und AngehörigenbegÜDstigung .. : . . . . . . . . . . . . . . . . 216

11.

Die (partielle) Entschuldigung wegen eines auf die Vergeltung erlittenen Unrechts gerichteten "Motivationsdrucks " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Die Regelung des § 213 1. Alt. StGB . . . . . . . . . . . . 220 a) Die Problematik der Deutung des § 213 1. Alt. StGB auf der Grundlage des herkömmlichen psychologischen Verständnisses des "Motivationsdrucks " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Die Deutung des § 213 1. Alt. StGB auf der Grundlage des axiologischen Verständnisses des "Motivationsdrucks" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Die Privilegierung des "Zweittiiters" nach §§ 199, 233 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3. Exkurs: Die "Entschuldigung" des Notwehrexzesses nach § 33 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 a) Kritik der Deutung des § 33 StGB als materieller Entschuldigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 b) Die Deutung des § 33 StGB als typisierte Erlaubnistatbestandsirrtumsregelung . . . . . . . . . . . . . . . 229

III.

Dogmatische Folgeprobleme der Entschuldigung . . . . . . . 234

16

Inhaltsverzeichnis

1. Der Irrtum im Bereich der Entschuldigung . . . . . . . . . 234 a) Der Entschuldigungstatbestandsirrtum . . . . . . . . . . 234 b). Der Entschuldigungsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. Die Beteiligung an einer entschuldigten Tat . . . . . . . . 240 3. Die Befugnis zur Abwehr entschuldigter Rechtsgutsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Die Frage der Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung als Reaktion auf eine ent- . schuldigte Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Zusammenfassung A.

Die Identität der Zurechnungsproblematik im traditionellen und positiv-general präventiven Begriff der Schuld . . . . . . . . . . 248

B.

Die vorpositive Struktur von Zurechnungsfähigkeit und Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" (Zumutbarkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . 251

c.

Zurechnungsfähigkeit und Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" (Zumutbarkeit) im geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

Einleitung A. Die Problematik des "voluntativen Schuldelements" Der zurechnungsdogmatische Begriff der Schuld hat nach weithin anerkannter Auffassung neben der kognitiven Fähigkeit zur Unrechtseinsicht eine zweite, in der Literatur zumeist als" voluntativ" bezeichnete Komponente: Eine schuldhafte Normverletzung soll die Fähigkeit voraussetzen, durch Unterdrückung der auf die Normverletzung gerichteten Antriebe einen der (potentiellen) Einsicht in das Unrecht entsprechenden Willen zu bilden. Dieses sogenannte" voluntative Schuldelement" wird in der Zurechnungsdogmatik sowohl für die Deutung der Zurechnungsfähigkeit als auch für die Deutung der Entschuldigungsgründe, insbesondere des entschuldigenden Notstands herangezogen, dessen exkulpierende Wirkung (u.a.) damit erklärt wird, daß der auf die Erhaltung der gefährdeten Rechtsgüter gerichtete "Motivationsdruck" es dem Betroffenen erschwere, einen der Einsicht in das Unrecht entsprechenden Willen zu bilden. Während die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht bereits des öfteren Gegenstand grundlegender dogmatischer Untersuchungen war, ist die das "voluntative Schuldelement" konstituierende Fähigkeit zur Antriebssteuerung in der Literatur bisher eher stiefmütterlich behandelt worden. Eine monographische Untersuchung dieses Zurechnungsbegriffs gibt es nicht, und die einschlägigen Erörterungen in Aufsätzen, Lehrbüchern und Kommentaren sind zumeist recht allgemein gehalten, haben in der Regel eher bekenntnishaften als analytisch-dogmatischen Charakter. Über den Grund für diese Zurückhaltung braucht man nicht lange zu spekulieren; er dürfte mit einiger Sicherheit in der abschreckenden Wirkung liegen, die von dem problematischen Verhältnis der Fähigkeit zur Antriebssteuerung zu dem in der strafrechtlichen Literatur "fast bis zum Überdruß" 1 diskutierten Problem menschlicher Willensfreiheit2 ausgeht. Die aufgrund dieses problematischen Verhältnisses vielleicht schon aufgekommene Befürchtung des Lesers, daß mit der vorliegenden Untersuchung ein weiterer Beitrag zu dem ewigen Thema der menschlichen Willensfreiheit geleistet werden soll, ist jedoch unbegründet. Die Untersuchung geht insoweit von

So schon die Fonnulierung bei Mangakis in: ZStW Bd. 75 (1963), S. 119. Einen Überblick über die besonders intensive Diskussion des 19. Jahrhunderts gibt Holzhauer, Willensfreiheit und Strafe, passim. Zur weiteren Entwicklung vgl. Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit, S. 7 ff.; und zur neueren Diskussion die Darstellung und die Nachweise bei Dreher, Die Willensfreiheit, S. 29 ff. I

2

2 Frister

18

Einleitung

der in der strafrechtlichen Literatur heute in der Sache ganz überwiegend vertretenen (auf Kant zurückgehenden) Auffassung aus, daß die Willensfreiheit zwar eine Bedingung praktischen Erlebens und Handelns, aber kein Gegenstand theoretische~ (in geläufigerer, aber mißverständlicher Terminologie: empirischer) Erkenntnis ist4• Damit ist gemeint, daß auf der einen Seite soziale Interaktion erst dadurch entsteht, daß sich die Menschen in ihrem praktischen Verhalten gegenseitig als Subjekte "originären Handelns und Erlebens"s anerkennen, auf der anderen Seite aber jede theoretische Betrachtung einer menschlichen Handlung von der Prämisse ausgeht, daß es für diese Handlung einen hinreichenden Grund gibt, weil eine im eigentlichen Sinne des Wortes grundlose Handlung keine mögliche theoretische (empirische) Vorstellung ist6 • Aus diesem der Untersuchung zugrundegelegten Verständnis der Willensfreiheit folgt, daß die der Zurechnungsdogmatik gestellte Aufgabe, die Regeln der strafrechtlichen Zurechnung zu beschreiben, ohne den Begriff der Willensfreiheit gelöst werden muß: Eine Aussage, daß die strafrechtliche Zurechnung an die Anerkennung des zu beurteilenden Verhaltens als Akt originären Erlebens und Handeins gebunden sei, hat als solche noch keinen zurechnungsdogmatischen Wert. Sie formuliert - da es bei theoretischer Betrachtung für jedes Verhalten einen hinreichenden Grund gibt - erst dann eine Regel zur Entscheidung der Zurechnungsfrage, wenn zugleich angegeben wird, unter welchen Voraussetzungen, aufgrund welcher theoretischer Vorstellungen von der Psyche des Täters das zu beurteilende Verhalten als Akt originären Erlebens und Handeins anzuerkennen ist.

3 Der Begriff "theoretisch" wird hier im Sinne Kams verwendet, "theoretisch" ist also jede Erkenntnis, die darauf gerichtet ist, ihren Gegenstand und seinen Begriff zu bestimmen (vgl. Kam, Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, in: Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 8). • Nichts anderes ist in der Sache gemeint, wenn die Willensfreiheit als normative Setzung (Roxin, Strafrecht AT, 19/19 u. 19/34; Rudolphi in: SK StGB, § 20 Rdn 4 a; Lenckner in: Schönke/Schröder, Vor § 13 Rdn 110 mwN), als "transzendentale Bedingung" unserer Lebensordnung (Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 230), als "Teil unserer gesellschaftlichen Rekonstruktion der Wirklichkeit" (Schünemann in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 153) bezeichnet oder von einer durch die Dialektik empirischer Unfreiheit und intelligibler Freiheit gekennzeichneten "komplementären Struktur humanen Daseins" (Haddenbrock, Soziale oder forensische Schuldfähigkeit, S. 194) gesprochen wird. , Luhmann, Rechtssoziologie, S. 32. 6 Die in der strafrechtlichen Literatur vielfach anzutreffende Formulierung, die Willensfreiheit entziehe sich einer empirischen Feststellung, ist insofern mißverständlich, als es nicht um ein Problem der Tatsachenfeststellung, sondern um die Struktur unseres theoretischen (empirischen) Denkens geht: Wir können uns schon keinen psychischen Sachverhalt vorstellen, dessen Feststellung belegen würde, daß es keine hinreichende Bedingung für das Ergebnis einer Willensbildung gab (vgl. dazu besonders instruktiv Dohna in: ZStW Bd. 66 (1954), S. 505, 509 f.).

A. Die Problematik des "voluntativen Schuldelements"

19

Für das "voluntative Schuldelement" bedeutet dies, daß es die ihm zugedachte zurechnungsdogmatische Funktion nur erfüllen kann, wenn es keine indetermistische Prämisse enthält, der Begriff der Fähigkeit zur Antriebssteuerung sich in einer Art und Weise definieren läßt, die weder explizit noch implizit auf ein indetermistisch verstandenes "Anderswollenkönnen,,7 Bezug nimmt. Wenn eine solche Definition nicht möglich ist, die Fähigkeit zur Antriebssteuerung - wie in der Literatur vielfach angenommen8 - nur eine andere Bezeichnung für den Begriff der Willensfreiheit darstellt, formuliert das "voluntative Schuldelement" kein Prinzip, nach dem entschieden werden könnte, in welchen Fallkonstellationen die Zurechnung ausgeschlossen ist und in welchen nicht. Es wäre damit als Zurechnungsbegriff untauglich, und die herkömmlich unter Bezugnahme auf das "voluntative Schuldelement" gedeuteten Zurechnungsvoraussetzungen müßten in der strafrechtlichen Zurechnungsdogmatik auf andere Art und Weise begriffen und systematisiert werden. Eine solch andere Deutung der nicht-kognitiven Zurechnungsvoraussetzungen scheint auf der Grundlage des traditionellen, an der Idee gerechter Zurechnung orientierten Schuldbegriffs kaum möglich zu sein. Die ungeklärte Problematik des "voluntativen Schuldelements" ist deshalb einer der wesentlichen Gründe für das Aufkommen der insbesondere von Günther Jakobs entwickelten, in den letzten Jahren vieldiskutierten generalpräventiven Deutung des Schuldbegriffs, die die strafrechtliche Schuld insgesamt als "Zuschreibung" nach dem Maß des generalpräventiven Interesses an der Erhaltung der Normanerkennung begreift9 • Dieses Verständnis der Schuld scheint den aus dem problematischen Verhältnis des "voluntativen Schuldelements" zur Idee der Willensfreiheit resultierenden "gordischen Knoten" der strafrechtlichen Zurechnungsdogmatik zu durchschlagen, weil es (auch) die nicht kognitiven Voraussetzungen strafrechtlicher

1 Die Formulierung "Anderswollenkönnen " wird (im Anschluß an Maihofer in: FS Eb. Schmidt, S. 156, 167) hier und im folgenden anstelle des geläufigeren Ausdrucks "Andershandelnkönnen " verwendet, weil sie das Gemeinte präziser zum Ausdruck bringt, nämlich deutlich macht, daß es nicht um die Handlungsfreiheit, sondern um die Willensfreiheit geht. I Vgl. etwa Lange in: LK, §§ 20, 21 Rdn 4 f. i.V.m. 59; Lenckner in: Handbuch der forensischen Psychiatrie Bd. 1, S. 3, 94 ff.; MaurachfZipj, Strafrecht AT Tb. 1,36/5 i.V.m. 36/44; Annin Kaujinann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 171 ff.; Arthur Kaujinann in: FS Lange, S. 27, 29; Etzel, Die systematische Stellung der Zurechnungsfähigkeit, S. 129; BauerlThoss in: NJW 1983, S. 305, 307 u. 309. 9 Jakobs hat diese Interpretation erstmals in seinem 1976 veröffentlichten Vortrag "Schuld und Prävention" dargelegt und dann in mehreren Veröffentlichungen fortentwickelt: Zum Verhältnis von psychischem Faktum und Norm bei der Schuld, in: KrimGegfr Bd. 15, S. 1,77 ff.; Strafrechtliche Schuld ohne Willensfreiheit?, in: Aspekte der Freiheit, S. 69 ff.; Uber die Aufgabe der subjektiven Delilgsseite im Strafrecht, in: Der psychiatrische Sachverständige im Strafprozeß, S. 271 ff.; Uber die Behandlung von Wollensfehlern und von Wissens fehlern , in: ZStW Bd. 101 (1989), S. 516 ff.; Strafrecht AT, 17/18 ff.; Das Schuldprinzip , passim.

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Einleitung

Zurechnung aus präventiven Erfordernissen und damit scheinbar ohne Rückgriff auf eine in ihrem theoretischen Gehalt fragwürdige Fähigkeit zur Antriebssteuerung erklären kann.

B. Ziel und Gang der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung hat eine zweifache Zielrichtung. Sie will erstens zeigen, daß - entgegen dem ersten Anschein und der in der gegenwärtigen Diskussion vorherrschenden Vorstellung - die Problematik der begrifflichen Struktur der in der herkömmlichen Dogmatik mit dem "voluntativen Schuldelement" erklärten Zurechnungsvoraussetzungen sich mit einer generalpräventiven Interpretation der Schuld nicht erledigt, sondern - wie alle Zurechnungsprobleme - in Wahrheit quer zu dem Streit um die präventive Deutung des Schuldbegriffs liegt. Und sie will zweitens einen Vorschlag zur Lösung dieser Problematik entwickeln, der ohne Rückgriff auf die - wie sich im Lauf der Untersuchung zeigen wird - theoretisch nicht zu erfassende Fähigkeit zur Antriebssteuerung auskommt. Die Entwicklung des Gedankengangs erfolgt in drei Schritten: Im ersten Kapitel der Untersuchung geht es um den Nachweis, daß sich die Problematik der begrifflichen Struktur des "voluntativen Schuldelements" für ein positiv-generalpräventives Verständnis der Schuld in genau der gleichen Weise stellt wie für den traditionellen, an der Idee des "Dafürkönnens" orientierten Schuldbegriff. Durch eine eingehende Analyse der Theorie positiver Generalprävention und des auf ihr aufbauenden generalpräventiven Schuldbegriffs soll gezeigt werden, daß der traditionelle und der generalpräventive Schuldbegriff Kehrseiten der gleichen Medaille sind, beide in gleicher Weise auf die gleichen durch die Praxis sozialer Interaktion konstituierten vorpositiven Zurechnungsregeln verweisen, so daß der Streit um das Verhältnis von Schuld und positiver Generalprävention für die von der Zurechnungsdogmatik zu leistende Beschreibung der Regeln der strafrechtlichen Zurechnung ohne Bedeutung ist. Dieses Kapitel kann auch isoliert als Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis von Schuld und positiver Generalprävention gelesen werden. Im zweiten Kapitel geht es um die Analyse der begrifflichen Struktur der herkömmlich mit dem" voluntativen Schuldelement" erklärten Zurechnungsvoraussetzungen. Zunächst wird dargelegt, daß die Fähigkeit zur Antriebssteuerung nicht ohne Bezugnahme auf ein indeterministisch verstandenes "Anderswollenkönnen" definiert werden kann und das "voluntative Schuldelement" damit als Zurechnungsbegriff untauglich ist. Daran anschließend wird die eigene Lösung entwickelt. Diese besteht in groben Zügen darin, die Zurechnungsfähigkeit als Fähigkeit (im Sinne einer von motivatorischen Bedingungen abhängigen Dispo-

B. Ziel und Gang der Untersuchung

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sition) zu einer formal definierten psychischen Leistung, einer (hinreichend) differenziert strukturierten Willensbildung zu begreifen, und den auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdruck" gesondert mit einem sich von der Zurechnungsfähigkeit nicht quantitativ, sondern qualitativ unterscheidenden Begriff der Zumutbarkeit zu erfassen, der schon im Ausgangspunkt kein psychologischer Begriff ist, nicht durch die (normativ zu gewichtende) "Erschwerung" irgendeines psychologisch zu begreifenden "Könnens", sondern durch eine Bewertung der Tat aus der Perspektive des Betroffenen konstituiert wird. Thema des dritten und letzten Kapitels der Untersuchung sind die Konsequenzen, die sich aus dieser Neubestimmung der begrifflichen Struktur von Zurechnungsfähigkeit und Entschuldigung wegen eines auf die Begehung der Tat gerichteten "Motivationsdrucks" für das Verständnis und die Auslegung der Regelungen des geltenden Rechts ergeben. Zunächst soll demonstriert werden, daß die Orientierung an dem Begriff der Fähigkeit zu einer (hinreichend) differenziert strukturierten Willensbildung eine Interpretation der Zurechnungsfähigkeitsbestimmungen ermöglicht, die eine Vielzahl von Scheinproblemen und Ungereimtheiten der herkömmlichen Auslegung dieser Vorschriften beseitigt. Im Anschluß daran wird aufgezeigt, daß die traditionellen Schwierigkeiten bei der Deutung der Entschuldigungsgründe auf dem Fehlverständnis des "Motivationsdrucks" als Beeinträchtigung eines psychologisch zu begreifenden "Könnens" beruhen, mit dem Verständnis der "Motivationsdruck"-Entschuldigung als Ergebnis einer Bewertung der Tat aus der Perspektive des Betroffenen die Deutung der einem solchen "Motivationsdruck" Rechnung tragenden Entschuldigungsgründe des geltenden Rechts keine Probleme mehr bereitet.

1. Kapitel Die Identität der Zurechnungsproblematik im traditionellen und im positiv-generalpräventiven Begriff der Schuld A. Voriiberlegung: Die Grundstruktur des traditionellen, an der Idee gerechter Zurechnung orientierten Schuldbegriffs I. Die Bezugnahme des traditionellen Schuldbegriffs auf vorpositive Regeln moralischer Zurechnung Der Satz "Keine Strafe ohne Schuld" gilt traditionell als Grundprinzip eines an der Idee gerechter Zurechnung orientierten Strafrechts. Die Schuld wird dabei als ein Sachverhalt verstanden, der einen Vorwurf gegen die Person, abstrakter formuliert ein negatives "moralisches"! Urteil in Bezug auf ein Zurechnungssubjekt begründet. Mit diesem Begriff der Schuld werden zwei in ihrer normlogischen Struktur sehr unterschiedliche2 Arten von Entscheidungsregeln vorausgesetzt: erstens Regeln zur Entscheidung der Frage, ob und I Der Begriff "moralisch" wird hier und im folgenden nicht in seiner bereits eine bestimmte Art von Norminhalten implizierenden heutigen umgangssprachlichen Bedeutung (zum umgangssprachlichen Bedeutungswandel des Begriffs " moralisch " seit der Aufklärung vgl. Hruschka in: Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 121, 123), sondern entsprechend der in der praktischen Philosophie geläufigen Terminologie im Sinne des englischen "moral" verwendet. Ein ,;moralisches" Urteil ist danach jedes Urteil, durch das ein Verhalten nicht im Hinblick auf einzelne vorausgesetzte Zwecke, sondern "zweckübergreifend" als richtig oder falsch bewertet wird. Mit der Kennzeichnung des strafrechtlichen Schuldurteils als "moralisches" Urteil wird also nur die formale Struktur dieses Urteils bezeichnet, nicht aber zu der Frage Stellung genommen, ob strafrechtliche Schuld ein sittliches, sozialethisches oder in sonst irgendeiner Art und Weise inhaltlich bestimmtes Unwerturteil voraussetzt. 2 Vgl. zu der normlogischen Unterscheidung von Zurechnungsregeln und Bewertungsregeln: Hruschka/Joerden in: ARSP 1987, S. 93, 98 ff.; Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, S. 364 ff. ; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 29 ff.; sowie Austin in: Analytische Handlungstheorie Bd. 1, S. 8,9 f. Eine instruktive Darstellung der Entdeckungsgeschichte dieser Unterscheidung fmdet sich bei Hruschka in: ZStW Bd. 96 (1984), S. 660, 692 ff.

I. Die Bezugnahme auf vorpositive Regeln moralischer Zurechnung

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inwieweit ein Sachverhalt seiner Art nach ein moralisches Urteil in Bezug auf ein Zurechnungssubjekt ermöglicht, und zweitens Regeln zur inhaltlichen Bewertung des Sachverhalts, also Regeln, die darüber entscheiden, ob und inwieweit das zu treffende moralische Urteil positiv oder negativ ist. Die erste Entscheidung soll im folgenden als moralische Zurechnung3 , die zweite als moralische Bewertung bezeichnet werden. Die Regeln der moralischen Zurechnung müssen angeben, wer ein taugliches Subjekt und welche Art von Sachverhalten ein taugliches Objekt für eine moralische Bewertung ist, sowie die Frage beantworten, welche Beziehung zwischen dem Zurechnungssubjekt und diesen Sachverhalten bestehen muß, um aus der (positiven oder negativen) Bewertung des Sachverhalts ein entsprechendes moralisches Urteil in Bezug auf das Zurechnungssubjekt ableiten zu können. Aus den Regeln der moralischen Zurechnung müssen sich also z.B. Antworten auf die Fragen ergeben, ob Tiere oder gar Naturgewalten ein taugliches Zurechnungssubjekt sind, ob das Erkranken an der Pest ein Gegenstand moralischer Bewertung ist, oder auch ob aus der Bewertung eines Sachverhalts ein dieser Bewertung entsprechendes moralisches Urteil in Bezug auf eine Person begründet werden kann, die den Eintritt dieses Sachverhalts zwar verursacht, aber nicht vorhergesehen hat und auch nicht vorhersehen konnte. Traditionell gehen wir - wenn auch zumeist unreflektiert - davon aus, daß es auf derartige Fragen eine von dem Inhalt des positiven Rechts unabhängige ,.richtige" Antwort gibt, wir also über vorpositive Regeln moralischer Zurechnung verfügen, aus denen sich z.B. ergibt, daß Tieren kein Vorwurf gemacht, Krankheit nicht moralisch bewertet und ein nicht vorhersehbarer Sachverhalt nicht moralisch zugerechnet werden kann. Erst die vorausgesetzte Existenz solcher das "Dafürkönnen" konkretisierender Regeln gibt dem Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" seinen - vom Inhalt der strafrechtlich geschützten Verhaltensnormen unabhängigen4 - sachlichen Gehalt. Dieser besteht auf der Grundlage des traditionellen Verständnisses des Begriffs der Schuld in der Verpflichtung, nur dann eine Strafe zu verhängen, wenn nach implizit vorausge-

3 Die moralische Zurechnung umfaßt bei dieser Einteilung sowohl die in der Strafrechtsdogmatik mit dem Handlungsbegriffthematisierte Zurechnung im Unrechtsbereich als auch die Zurechnung zur Schuld. Die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, bei der moralischen Zurechnung zwischen diesen beiden Bereichen zu unterscheiden, und die Frage, in welcher Weise diese Unterscheidung dann vorzunehmen wäre, sollen im vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben (vgl. zu diesen Fragen Hruschka/Joerden in: ARSP 1987, S. 93, 98 ff.). 4 Die Frage, ob und inwieweit der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" auf der Grundlage des traditionellen Schuldverständnisses auch Vorgaben für die Gestaltung der strafrechtlich zu schützenden Verhaltensnormen (den Bereich der moralischen Bewer,tung) enthält, kann im vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben.

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1. Kap. A. Die Struktur des traditionellen Schuldbegriffs

setzten vorpositiven Regeln moralischer Zurechnung dem Täter aus dem negativ bewerteten Sachverhalt ein moralischer Vorwurf gemacht werden kann.

11. Die Konstituierung der vorpositiven Regeln moralischer Zurechnung durch die Praxis sozialer Interaktion Die Frage, in welcher Weise uns diese mit dem traditionellen Schuldbegriff vorausgesetzten vorpositiven Regeln moralischer Zurechnung gegeben sind, wodurch diese Regeln konstituiert werden, wird in der Literatur nur sehr selten und wenn dann zumeist nur von Kritikern des traditionellen, an der Idee gerechter Zurechnung orientierten Schuldverständnisses thematisiert. Seine Befürworter halten es wohl für mehr oder weniger selbstverständlich und keiner näheren Erörterung bedürftig, daß der Inhalt dieser Regeln aus der bei einer moralischen Beurteilung stets vorausgesetzten Idee der Selbstbestimmung abgeleitet und begründet werden kanns. Dabei übersehen sie jedoch, daß es auf die Frage, welche Sachverhalte als Selbstbestimmungsakte eines Subjekts zu deuten sind, keine "sachlogisch" vorgegebene Antwort gibt, weil es sich bei der Idee der Selbstbestimmung nicht um einen Gegenstand unseres theoretischen Denkens handelt: Die bei der moralischen Zurechnung vorausgesetzte Idee einer freien und zugleich vom Subjekt bestimmten Entscheidung enthält für unser theoretisches Denken selbst dann noch eine contradictio in adjecto, wenn man die Freiheit des Willens - entgegen der in dieser Untersuchung zugrundegelegten Prämisse6 - als mögliche theoretische (empirische) Vorstellung ansieht: eine Entscheidung ist bei theoretischer Betrachtung nur dann eine Entscheidung des Subjekts, wenn sie durch die Identität dieses Subjekts bestimmt, also nicht frei isf, und sie ist umgekehrt nur dann eine freie Entscheidung, wenn sie nicht durch die Identität des Subjekts bestimmt, also keine Entscheidung dieses Subjekts ist. Die bei der moralischen Zurechnung vorausgesetzte Idee der Selbstbestimmung des Subjekts kann theoretisch nicht expliziert werden, und damit kann es auch

'In diese Richtung die vielzitierte Grundsatzentscheidung BGHSt 2, 194,200 und aus der neueren Literatur z. B.: Griffel in: ZStW Bd. 98 (1986), S. 28, 41; ders. in: GA 1989, S. 193,202 f.; Dreher, Die Willensfreiheit, S. 11 ff. mwN; ders. in: FS SpendeI, S. 13, 19. 6 Vgl. in der Einleitung unter A. 7 Auf das daraus resultierende Dilemma eines theoretisch (empirisch) verstandenen Indeterminismus hat in der strafrechtlichen Diskussion insbesondere Bockelmann (in: ZStW Bd. 75 (1963), S. 372,385 f.; und in: ZStW Bd. 77 (1965), S. 253 ff.) eindringlich hingewiesen.

11. Die Konstituierung durch die Praxis sozialer Interaktion

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keine sachlogisch vorgegebenen Regeln dafür geben, welche Sachverhalte als Selbstbestimmungsakte zu deuten sind und welche nicht. Daraus zu schließen, daß die von dem traditionellen, an der Idee gerechter Zurechnung orientierten Schuldbegriff vorausgesetzten vorpositiven Regeln moralischer Zurechnung nicht existieren8 , ist jedoch voreilig. Die der moralischen Zurechnung zugrundeliegende Deutung eines Sachverhalts als Selbstbestimmungsakt ist ein dem positiven Recht vorhergehendes soziales Phänomen und deshalb kann es auch vorpositive Regeln für diese Deutung geben, die durch die Praxis sozialer Interaktion konstituiert werden. Wir wissen zwar aus der Rechtsgeschichte und der Ethnologie, daß diese Regeln nicht in allen Gesellschaftsformen die gleichen sind, aber schon die Tatsache, daß wir die Zurechnungsregeln archaischer Gesellschaften9 als von den in unserer Gesellschaft geltenden Regeln grundsätzlich verschieden wahrnehmen (das "Peitschen der Meere" u.ä. als grotesk empfinden), spricht dafür, daß in einer gegebenen Gesellschaft die Deutung als Selbstbestimmungsakt grundsätzlich regelgeleitet erfolgt. Ausgehend von dieser Annahme hat der traditionelle, an der Idee gerechter Zurechnung orientierte Schuldbegriff auch ohne sachlogisch vorgegebene Zurechnungsregeln einen Inhalt. Er verpflichtet das Strafrecht auf die in unserer Gesellschaft geltenden Regeln für die Deutung von Sachverhalten als Selbstbestimmungsakte eines Subjekts 1o, geht davon aus, daß jedenfalls die grundsätzlichen Strukturen der strafrechtlichen Zurechnungsvoraussetzungen unter Rückgriff auf diese Regeln zu bestimmen sindlI. Da Prinzipien der Gerechtigkeit

• So pointiert Jakobs, Schuld und Prävention, S. 14: Ein an der Idee gerechter Zurechnung orientierter Schuldbegriff sei nicht möglich, weil Schuld ein fonnaler Begriff sei, zweckfrei verstanden lediglich besage, daß einem Subjekt zugerechnet werde, aber keine Aussage darüber enthalte, was als die Zurechnung begründende Fehlleistung und was als die Zurechnung ausschließende Eigenart des Subjekts anzusehen sei. Erst der Zweck gebe dem Schuldbegriff Inhalt. 9 Zu den Prinzipien moralischer Zurechnung in archaischen Gesellschaften instruktiv: Ke/sen, Vergeltung und Kausalität, S. 50 ff.; vgl. dazu auch Steinmetz, Ethnolo~ische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe Bd. 1, insb. S. 363 ff. Zu der ontogenetischen Entwicklung der Zurechnungsregeln vgl. vor allem Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, S. 133 f. 10 Die Überlegung, daß das Strafrecht selbst Teil der sozialen Interaktion ist und von daher diese Regeln seinerseits mitprägt, steht - darauf sei zur Klarstellung ausdrücklich hingewiesen - der Möglichkeit einer solchen Verpflichtung nicht entgegen. 11 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, daß mit dieser Deutung des traditionellen Schuldverständnisses keine Kritik an der überkommenen "begrifflich-konstruktiven" Fonn der strafrechtlicher Zurechnungsdogmatik fonnuliert oder vorbereitet werden soll. Es geht mir nicht wie Neumann (Zurechnung und" Vorverschulden" , S. 269 ff.; ders. in: ZStW Bd. 99 (1987), S. 567, 593 ff.) darum, "begrifflich-konstruktive" Probleme der Zurechnungsdogmatik durch den unmittelbaren Rückgriff auf die Alltagszurechnung zu lösen (vgl. dazu die Kritik in Kap 3 Fn 53), sondern um die Feststellung, daß die strafrechtliche Zurechnungsdogmatik als solche auf der Grundlage des traditionellen Schuldbegriffs ihren Ursprung in der Alltagszurechnung hat, als eine systematisierte und

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1. Kap. A. Die Struktur des traditionellen Schuldbegriffs

generell in keiner anderen Weise als durch systematische Analyse der eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen, der eigenen .. wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile"12 zu gewinnen sind, wird die Idee gerechter Zurechnung auch durch eine solche Verpflichtung gewahrt. Eine unter richtiger Anwendung der in unserer Gesellschaft geltenden Regeln vorgenommene Zurechnung ist gerecht für uns, gerecht in unserer Gesellschaft, und mehr können wir - da wir über uns und die uns prägende Gesellschaft nicht hinauskönnen - nicht verlangen. Die der strafrechtlichen Zurechnungsdogmatik auf der Grundlage des traditionellen, an der Idee gerechter Zurechnung orientierten Schuldverständnisses zukommende Aufgabe läßt sich damit anhand eines Vergleichs zu den Sprachwissenschaften verdeutlichen: Deren Aufgabe ist es, die in der sozialen Interaktion nur implizit enthaltenen sprachlichen Regeln herauszuarbeiten, um damit eine bewußte und systematische Verwendung der Sprache zu ermöglichen sowie eine fehlerhafte Sprachverwendung erkennbar und kritisierbar zu machen. Ganz analog hat auf der Grundlage des traditionellen Schuldverständnisses die strafrechtliche Zurechnungsdogmatik die Aufgabe, in der sozialen Interaktion nur implizit enthaltene vorpositive Regeln moralischer Zurechnung "auf den Begriff zu bringen", um auf diese Weise eine bewußte und systematische Anwendung dieser Regeln bei der strafrechtlichen Zurechnungsentscheidung zu ermöglichen und zugleich etwaige " fehlerhafte" , d.h. von der Idee gerechter Zurechnung abweichende Regelungen des positiven Rechts erkennbar und kritisierbar zu machen.

verfeinerte, wenn man so will "begrifflich-konstruktive" Fonn der Alltagszurechnung zu begreifen ist. 12 Diesen Begriff benutzt Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 12), dessen Gerechtigkeitstheorie den Versuch einer umfassenden Analyse unserer Gerechtigkeitsurteile darstellt; vgl. zu den methodischen Implikationen eines deratigen Verfahrens etwa Hoerster in: Uber lohn Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, S. 57 ff. (64 ff.).

I. Der Begriff der positiven Generalprävention

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B. Die Theorie positiver Generalprävention Die folgenden Überlegungen zur Theorie positiver Generalprävention sind an dem Ziel orientiert, die Identität der Zurechnungsproblematik im traditionellen und im generalpräventiven Begriff der Schuld aufzuzeigen. Es soll nicht der Wert der Theorie positiver Generalprävention als Straftheorie diskutiert, sondern die Erörterung der generalpräventiven Schuldkonzeptionen vorbereitet werden. Die Ausführungen beschränken sich deshalb auf eine systematische Darstellung und Analyse der Theorie positiver Generalprävention. Das Problem, ob sich aus dieser Theorie eine hinreichende Legitimation für die Strafe ergibt 13 , soll zunächst ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage der BegfÜndetheit der einer solchen Theorie zugrundeliegenden empirischen Annahmen l4 •

J. Der Begriff der positiven Generalprävention Unter einer Theorie positiver Generalprävention soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eine Straftheorie verstanden werden, die die Aufgabe der Strafe in der Erhaltung der Normanerkennung sieht ls . Dies entspricht dem Begriffsverständnis, das den generalpräventiven Schuldkonzeptionen zugrundeliegt l6 • Normanerkennung heißt, daß das der Norm entsprechende Verhalten

13 Zur Kritik der Theorie positiver Generalprävention vgl. z.B.: Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, S. 29 ff.; E. Ä. Woljf in: ZStWBd. 97 (1985), S. 786,799 ff.; Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts, S. 48 ff.; Mir Puig in: ZStW Bd. 102 (1990), S. 914, 922 ff. 14 Zu dem Problem der empirischen Überprüfung der Theorie positiver Generalprävention vgl.: Schöch in: FS Jescheck, S. 1081, 1082 ff.; Giehring in: KrimJ 1987, S. 2, 9 ff.; Schumann, Positive Generalprävention, S. 14 ff.; Dölling in: ZStW Bd. 102 (1990), S. 1, 2 ff.; Bock in: ZStW Bd. 103 (1991), S. 636, 654 ff. U Damit ist nicht impliziert, daß Strafe der einzige Mechanismus zur Erhaltung der Normanerkennung sein muß. Auch das Verständnis des Strafrechts als (formalisierter) Teil eines umfassenderen, der Erhaltung der Normanerkennung dienenden Bereichs "sozialer Kontrolle" (vgl. zu diesem Verständnis vor allem Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 123 ff.; ders., Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 318 ff.; ders. in: Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften?, S. 39, 61 ff.; ders. in: JuS 1987, S. 257, 263 ff.; ders. in: AK StGB, Vor § 1 Rdn 291 ff. u. 429 ff.; Hart-Hönig, Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung, S. 100 ff.) fällt unter den hier zugrundegelegten Begriff der positiven Generalprävention. 16 Vgl. Streng in: ZStW Bd. 92 (1980), S. 637,642 ff. u. 663; ders. in: ZStW Bd. 101 (1989), S. 273, 286; Jakobs, Strafrecht AT, 1/11 und 1/15. Soweit Jakobs auch die "Einübung in die Akzeptation" der Strafe als Konsequenz der Normverletzung mit in seine Theorie einbezieht (aaO, 1/15), geht er allerdings über den hier zugrundegelegten Begriff der positiven Generalprävention hinaus. Für den generalpräventiven Schuldbegriff ist diese Differenz jedoch unerheblich, so daß sie im folgenden außer Betracht bleiben kann.

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1. Kap. B. Die Theorie positiver Generalprävention

als das "moralisch"17 richtige Verhalten erlebt und bewertet wird. Diese Bewertung muß nicht auf einer Zustimmung zu dem Norminhalt, sondern kann auch auf der Überzeugung beruhen, daß es moralisch richtig ist, sich gemäß den Rechtsnormen zu verhalten. Zumindest diese Überzeugung muß aber vorhanden sein; die bloße Anerkennung der Tatsache, daß es sich bei der Norm um positives Recht handelt, ist als rein theoretisches Urteil noch keine Normanerkennung in dem von der Theorie positiver Generalprävention vorausgesetzten Sinne18 • Das Ziel der Normanerkennung markiert nach der hier verwendeten Terminologie19 die Differenz zwischen positiver und negativer Generalprävention. Nicht nur die klassische Abschreckungstheorie von Feuerbach20 und seinen Nachfolgern21 , sondern auch die Verhaltenssteuerung durch Erzeugung von sogenannten Aversionen, d.h. von Verhaltenshemmungen, die nicht mit einer entsprechenden moralischen Überzeugung verbunden sind22, fällt damit aus

17 Der Begriff "moralisch" wird auch hier in der in Fn 1 dieses Kapitels erläuterten Bedeutung verwendet. 11 Eine Trennung von Recht und Moral - wie sie der Theorie des psychologischen Zwangs bei Feuerbach zugrundelag - ist der Theorie positiver Generalprävention nicht möglich, da es ihr nicht um das Erkennen der Macht, sondern um das Anerkennen der Richtigkeit des Rechts geht. Die in der Literatur verschiedentlich anzutreffende Formulierung, daß es der Theorie positiver Generalprävention nicht um sittliche Vorstellungen, sondern allein um das Rechtsnormbewußtsein gehe (so z.B. Müller-Dietz in: FS Jescheck, S. 813, 822), ist deshalb nur dann richtig, wenn mit der Gegenüberstellung von sittlichen und rechtlichen Vorstellungen keine unterschiedliche innere Einstellung zur Verbindlichkeit der Norm, sondern unterschiedliche Norminhalte gemeint sind, also lediglich zum Ausdruck gebracht werden soll, daß es der Theorie positiver Generalprävention nur um die Anerkennung der Rechtsnormen und nicht um die Anerkennung sonstiger moralischer Vorstellungen geht. 19 Über die terminologische Abgrenzung zwischen positiver und ne~ativer Generalprävention besteht in der gegenwärtigen Diskussion keine Einigkeit. Das m der vorliegenden Untersuchung zugrundegelegte Begriffsverständnis entspricht der Terminologie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitstrafe (BVerfGE 45, 187, 253 ff.) und wird in der Diskussion überwiegend verwendet, aber es fmden sich in der Literatur auch abweichende Vorstellungen. So stellt z.B. Luzon (in: GA 1984, S. 392, 397) bei der Abgrenzung zwischer positiver und negativer Generalprävention darauf ab, ob die Strafe der Gewährleistung von Erwartens - oder Verhaltenssicherheit dienen soll (vgl. zu dieser Frage so~leich am Ende von B.I.), d.h. er bezieht auch die Internalisierung von Normen insoweIt in den Begriff der von ihm als Abschreckungsprävention bezeichneten negativen Generalprävention ein, als sie der Gewährleistung von Verhaltenssicherheit dienen soll (aaO, S. 394 u. 400). 20 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, S. 44 ff.; ders., Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, §§ 13, 14. 21 Vgl. z.B. Hoerster in: GA 1970, S. 272 ff.; Strasser in: KrimJ 1979, S. 1, 16; Vanberg, Verbrechen, Strafe, Abschreckung, S. 8 ff. mwN. 22 Schon das alltägliche Beispiel eines .!Ichüchternen Menschen zeigt, daß es derartige Verhaltenshemmungen gibt, moralische Uberzeugungen keineswegs der einzig denkbare Grund dafür sind, daß Menschen Handlungen unterlassen, die sie bei einer Kosten-

I. Der Begriff der positiven Generalprävention

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dem Begriff der positiven Generalprävention heraus23 • Dies ist vor allem deshalb besonders hervorzuheben, weil die in der straftheoretischen Diskussion geläufige Dichotomie von abschreckender und bewußtseinsbildender Funktion der Strafe leicht zu der Feblvorstellung verleitet, daß jede über die Ausübung psychologischen Zwangs im Feuerbach 'schen Sinne hinausgehende Wirkung der Strafe gewissermaßen begriffsnotwendig eine das moralische Bewußtsein bildende bzw. erhaltende sein müsse. Das Ziel der Normanerkennung grenzt die Theorie positiver Generalprävention außerdem auch gegenüber umfassenderen, die gesamte "Psychologie der strafenden Gesellschaft"24 einbeziehenden Straftheorien ab. Keineswegs alle in der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Literatur beschriebenen sozialpsychologischen Auswirkungen der Strafe betreffen die Normanerkennung. Nach recht verbreiteter Auffassung soll der Strafe auch die Funktion zukommen, das Selbstwert - und Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaft zu stärken2.'i, und insbesondere von tiefenpsychologischen Autoren werden ihr gleich in mehrfacher Hinsicht auch mit der Normanerkennung nicht in Zusammenhang stehende26 psychische Entlastungsfunktionen zugescbrieben27 : Die Strafe ermögliche das Abreagieren der durch Identifizierung mit dem Leiden des Opfers und Angst vor eigener Betroffenheit hervorgerufenen Emotionen 28 sowie das Ausleben von der Tat unabhängiger Aggressionen durch Identifizie-

Nutzen-Analyse als ihren eigenen Interessen dienlich ansehen. Die Internalisierung moralischer Urteile ist nur ein (allerdings besonders wichtiger) Teil des umfassenderen Bereichs internalisierter Verhaltenskontrolle; vgl. dazu näher Aronfreed in: Handbook of Socialisation, S. 263, 265 f. 23 Ob Strafe ein zur HerbeifUhrung derartiger Aversionen geeignetes Konditionierungsmittel ist (vgl. zur Erzeugung von Aversionen durch operantes Konditionieren z.B. die Darstellung bei Her/mer, Sozialpsychologie, S. 23 ff.), sei deshalb dahingestellt. Bedenken dagegen könnten sich aus der Uberlegung ergeben, daß bloJle Aversionen möglicherweise nur durch natürlich gedeutete Verstärkungen entstehen, sozial gedeutete Verstärkungen hingegen imm~r zum Aufbau von Verhaltenshemmungen fUhren, die mit entsprechenden moralischen Uberzeugungen verbunden sind. 2A Unter diesem programmatischen Begriff wird die Problematik in der Tiefenpsychologie diskutiert; vgl. z.B. AlexanderlStaub in: Psychoanalyse und Justiz, S. 203, 405 ff. 23 Bemfeld in: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse Bd. 1, S. 192 ff.; Garfinkel in: Seminar abweichendes Verhalten III Bd. 2, S. 31, 33; vgl. dazu Hassemer in: AK StGB, Vor § 1 Rdn 58 mwN. 26 Auf die fUr die tiefenpsychologische Rekonstruktion des Beitrags der Strafe zur Erhaltung der Normanerkennung thematische Entlastungsfunktion wird sogleich näher einzugehen sein. 27 Eine ausfUhrliche Darstellung der verschiedenen tiefenpsychologischen Funktionsbeschreibungen der Strafe fmdet sich bei HajJke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, S. 87 ff. 21 AlexanderlStaub in: Psychoanalyse und Justiz, S. 205, 413 f.; OSlenneyer, Die bestrafte Gesellschaft, S. 53.

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1. Kap. B. Die Theorie positiver Generalprävention

rung mit der strafenden Gesellsehaft29 und biete dacüberhinaus die Gelegenheit, sich durch Identifizierung mit dem die Strafe erleidenden Täter von präexistenten Schuldgefiihlen zu befreien30 • Solche mit der Normanerkennung nicht in Zusammenhang stehende Funktionsbestimmungen sind nach dem hier zugrundegelegten Begriffsverständnis31 nicht Gegenstand der Theorie positiver Generalprävention. Mit der Formulierung Erhaltung der Normanerkennung soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die Aufgabe der Strafe in dem Ausgleich der von der Straftat ausgehenden, sozialpsychologiseh vermittelten Beeinträchtigung der Normanerkennung besteht. Eine Straftheorie, die eine von den sozialpsychologisehen Auswirkungen der Straftat unabhängige Stärkung der Normanerkennung intendieren würde32 , wird also von dem hier zugrundegelegten Verständnis der positiven Generalprävention nicht erfaßt. Diese begriffliche Vorgabe rechtfertigt sich aus der auf den generalpräventiven Schuldbegriff bezogenen Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung. Eine generalpräventive Schuldkonzeption muß von einem auf die sozialpsychologisehen Auswirkungen der Straftat bezogenen Modell positiver Generalprävention ausgehen, weil ohne einen solchen Bezug jeglicher Anknüpfungspunkt für eine generalpräventive Bestimmung der Schuldvoraussetzungen fehlen würde. Dementsprechend liegt den in der Literatur ent-

19 Alexander/Staub in: Psychoanalyse und Justiz, S. 203,415; Fromm in: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, S. 115, 139 f.; Jäger in: FS Henkel, S. 125, 131; Ostenneyer, Die bestrafte Gesellschaft, S. 52; Reiwald, Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, S. 253 ff. Der Gedanke geht auf die bekannte Formulierung von Freud zuruck, wonach die Strafe "den Vollstreckem nicht selten Gelegenheit" gibt, "unter der Rechtfertigung der Sühne diesseibe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen" (Totem und Tabu, in: Gesammelte Werke Bd. IX, S. 42, 89). 30 Reik in: Psychoanalyse und Justiz, S. 29, 155 f. 31 Auch insoweit ist die Terminologie in der Literatur nicht einheitlich. So betrachtet z.B. Luz6n (in: GA 1984,392,400 ff.) alle diese Aspekte als Teil der von ihm kritisierten positiven Generalprävention. Und auch bei Roxin scheint ein derartiges Begriffsverständnis zugrundezuliegen, da er "den Befriedungseffekt, der sich einstellt, wenn der Delinquent so viel getan hat, daß das allgemeine Rechtsbewußtsein sich über den Rechtsbruch beruhigt", als einen über die "Einübung in Rechtstreue" und die "Stärkung des allgemeinen Rechtsbewußtseins" hinausgehenden, selbständigen Aspekt der positiven Generalprävention ansieht (in: Wiedergutmachung und Strafrecht, S. 37,48; ähnlich in: FS Bockelmann, S. 279,306; Strafrecht AT Bd. 1, 3/27). 32 Um eine solche Straftheorie handelt es sich u.a., wenn der Strafe - wie dies in der Diskussion der positiven Generalprävention verschiedentlich geschieht - auch die Funktion einer" Verhaltensstabilisierung durch bloße Information" über die "besonders unerwünschten oder mißbilligten Verhaltensweisen" zugeschrieben wird (vgl. z.B. Nolt in: FS H. Mayer, S. 219, 223; Roxin in: JuS 1966, S. 377,383; Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Element strafrechtlicher Sozialkontrolle, S. 65). Deshalb sei hier nur am Rande bemerkt, daß die Vorstellung der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu Informationszwecken doch ein wenig befremdlich erscheint.

I. Der Begriff der positiven Generalprävention

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wickelten generalpräventiven Schuldkonzeptionen ein solches Modell zugrunde33 • Die Frage, welchem weitergehenden Zweck die Erhaltung der Normanerkennung dient, soll durch den hier zugrundegelegten Begriff der positiven Generalprävention nicht präjudiziert werden. In der Strafrechtstheorie finden sich heute zwei Zweckbestimmungen: Der überkommenen Bedeutung des Begriffs Prävention entsprechend sieht die wohl überwiegende Auffassung in der Erhaltung der Normanerkennung in erster Linie einen Weg, das Verhalten der Normadressaten zu steuern und damit Straftaten zu verhindern34 • Normanerkennung - so die zugrundeliegende Überlegung - sei vor allem erforderlich, damit sich die Normadressaten aus eigener Überzeugung dem Inhalt der Rechtsnormen gemäß verhielten3s • Demgegenüber vertritt unter Bezugnahme auf die Rechtssoziologie Luhmanns36 vor allem Jakobs die Auffassung, daß die Erhal-

33 Vgl. Streng in: ZStW Bd. 92 (1980), S. 637,642 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 1141, der den Bezug der strafrechtlichen Reaktion auf die Auswirkungen der Straftat als "Tatprinzip" bezeichnet und es als Vorteil der Theorie positiver Generalprävention insbesondere gegenüber der Spezialprävention ansieht, daß bei ihr die Tat nicht nur der Anlaß, sondern auch der Grund der strafrechtlichen Reaktion ist. Auf die Bedeutung des "Tatprinzips .. für die Legitimation der Theorie positiver Generalprävention wird später zurückkommen sein (vgl. unter E.III.). ,. Haßke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, S. 58 ff.; Streng in: ZStW Bd. 92 (1980), S. 637 (663); Grünwald in: ZStW Bd. 80 (1968), S. 89, 92; Rudolphi in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, S. 69, 70 f.; Sehmidhäuser, Strafrecht AT, 3/15 f.; Stratenwerth, Strafrecht AT, 1125; Naueke, Strafrecht, § 1 V 5 B; MauraehlZipf, Strafrecht AT Tb. 1,6/6; Zipjin: FS Pallin, S. 479, 483; Jeseheek, Strafrecht AT, § 1 11; ders. in: LKlI , Einl. Rdn 25; Roxin, Strafrecht AT Bd. 1,3/36; Moos in: FS Pallin, S. 283, 300. " Die in dieser Überlegung enthaltene Annahme, daß eine Anerkennung der Rechtsnonnen rechtstreues Verhalten zumindest begünstige, ist nach den Untersuchungsergebnissen der Rechtssoziologie allerdings weniger selbstverständlich als man bei unbefangener Betrachtung zunächst glauben könnte (vgl. dazu schon Hassemer in: AK StGB, Vor § 1 Rdn 20). Bei Befragungen von Vergleichsgruppen straffällig gewordener und nicht straffällig gewordener Personen gleicher sozialer Herkunft ließen sich nämlich keine signifikanten Unterschiede in der Einstellung zu Rechtsnonnen feststellen (Röhl, Rechtssoziologie, S. 273; vgl. auch Aronfreed, in: Handbook ofSocialisation, S. 263,265 f., der von ähnlichen Untersuchungsergebnissen für das Verhältnis von moralischer Einstellung und moralischem Verhalten von Kindern berichtet). Daraus die prinzipielle Unerheblichkeit der Nonnanerkennung für nonnkonfonnes Verhalten ableiten zu wollen, ginge aber sich~rlich zu weit. Denn zum einen läßt sich das für die Realisierung der moralischen Uberzeugung im eigenen Verhalten entscheidendende Ausmaß der Internalisierung mit solchen Befragungen kaum erfassen, und zum anderen ist es denkbar, daß gerade die straffällig werdenden Personen besondere Schwierigkeiten haben, ihre moralischen Uberzeugungen im Verhalten durchzuhalten. 36 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 33 ff. Die dort herausgearbeitete Unterscheidung von Verhaltens- und Erwartenssicherheit findet sich in Fonn der Gegenüberstellung Orientierungs- und Realisierungssicherheit bereits bei Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 101 ff.; vgl. dazu näher Beehtler, Der soziologische Rechtsbegriff, S. 161; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 173 Fn. 15.

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1. Kap. B. Die Theorie positiver Generalprävention

tung der Normanerkennung in erster Linie um der ElWartens- und nicht um der Verhaltenssteuerung willen notwendig sei37 . Die primäre38 Funktion des Rechts bestehe nicht darin, die Normadressaten zu einem dem Inhalt der Norm entsprechenden Verhalten zu motivieren, sondern liege in der Bedeutung "der Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt"39. Erst durch die Tatsache, daß die Menschen in ihren Beziehungen von der ElWartung dem Inhalt der Norm entsprechenden Verhaltens bzw. dem Inhalt der Norm entsprechender ElWartungen40 ihrer Mitmenschen ausgingen, werde soziale Interaktion möglich41 •

11. Die empirischen Voraussetzungen positiver Generalprävention und die bei den möglichen Ansatzpunkte zu deren theoretischer Begründung Nach der Idee praktischer Vernunft ist ein moralisches Urteil das Ergebnis einer durch moralische Argumente bestimmten Bewertung von Verhaltensmaximen42 • Gegenstand einer moralischen Beurteilung ist die Vorzugswürdigkeit einer Welt, in der die zu beurteilende Verhaltensmaxime allgemeine Geltung hätte, Maxime des Handelns aller Menschen wäre. Das moralische Urteil ist also seiner logischen Struktur nach ein hypothetisches Urteil: Seine Richtigkeit (das Sollen) ist von seinem Wirksamwerden in der Praxis sozialer Interaktion (einem Sein) unabhängig; das einem moralischen Urteil entsprechende Verhalten ist kein Argument für und das einem moralischen Urteil widersprechende Verhalten kein Argument gegen dessen Richtigkeit.

37 Jakobs, Strafrecht AT, 1/4 ff.; ähnlich wohl auch Bloy, Die Beteiligungsfonn als Zurechnungstypus im Strafrecht, S. 249; sowie Neumann, Zurechnung und "Vorverschulden" , S. 272 f.; ders. in: ZStW Bd. 99 (1987), S. 567,591 Fn 93, dessen Ausführungen insoweit allerdings etwas unklar sind, weil er das Problem Verhaltens- oder Erwartenssteuerung mit der von diesem Problem zu unterscheidenden Frage vennengt, ob die einzelne Nonn oder die Gesellschaft bzw. das "Nonnvertrauen insgesamt" stabilisiert werden soll. 38 Jakobs betont ausdrücklich, daß die Strafe neben ihrer primären Funktion der Erhaltung der Nonn als Orientierungs muster für sozialen Kontakt auch der Verhaltenssteuerung diene, d.h. die Chance erhöhe, daß das unter Strafe gestellte Verhalten als nicht diskutable Verhaltensalternative gelernt werde (Strafrecht AT, 1/15). 39 Jakobs, Strafrecht AT, 1/11. ~ Der Schwerpunkt der Erwartenssteuerung liegt nach der Rechtssoziologie Lulzmanns auf der reflexiven Ebene des Erwartens von Erwartungen; vgl. dazu näher Lulzmann, Rechtssoziologie, S. 33 ff., insbes. S. 38. 0' Jakobs, Strafrecht AT, 1/4. 02 Im vorliegenden Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, ob man sich diese Bewertung mit Kant als autonome Leistung des einzelnen Vernunftsubjekts oder mit Habennas als Ergebnis eines rationalen Diskurses der Vernunftsubjekte vorzustellen hat.

H. Die empirischen Voraussetzungen positiver Generalprävention

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Zur empirischen Begründung der Theorie positiver Generalprävention ist darzulegen, daß aus dieser hypothetischen Struktur des moralischen Urteils nicht auf eine hypothetische Struktur der moralischen Überzeugungsbildung geschlossen werden kann. Es muß mit anderen Worten aufgezeigt werden, daß die in der Idee der praktischen Vernunft enthaltene logische Trennung von Richtigkeit und Wirksamkeit eines moralischen Urteils für den psychologischen Vorgang der moralischen Überzeugungsbildung keine Gültigkeit hat. Denn die Theorie positiver Generalprävention geht davon aus, daß die Überzeugung von der Richtigkeit des der Normanerkennung zugrundeliegenden moralischen Urteils (zumindest auch) durch dessen Wirksamkeit in der Praxis sozialer Interaktion vermittelt wird43 : das dem der Normanerkennung zugrundeliegenden moralischen Urteil widersprechende Verhalten soll die Überzeugung von der Richtigkeit dieses Urteils schwächen und die Bestrafung eines solchen Verhaltens diese Schwächung wieder ausgleichen. Die zur Begründung dieses Zusammenhangs in Betracht kommenden Theorien zum psychologischen Vorgang der moralischen Überzeugungsbildung lassen sich nun danach unterscheiden, welcher Seite der moralischen Überzeugung sie die originäre Bedeutung für den psychologischen Vorgang der moralischen Überzeugungsbildung beimessen: dem Bewußtsein, dazu verpflichtet zu sein, entsprechend dem moralischen Urteil zu handeln (Pflichtbewußtsein) oder dem Bewußtsein, dazu berechtigt zu sein, ein dem moralischen Urteil entsprechendes Handeln zu erwarten (Rechtsbewußtsein). Der Prozeß der moralischen Überzeugungsbildung wird von diesen Theorien zum Teil als Prozeß der Bildung von Pflichtbewußtsein (das dann seinerseits die Entstehung von Rechtsbewußtsein bewirkt) und zum Teil als Prozeß der Bildung von Rechtsbewußtsein (das dann seinerseits die Entstehung von Pflichtbewußtsein bewirkt) beschrieben. Dementsprechend gibt es für die Begründung der empirischen Voraussetzungen positiver Generalprävention zwei Möglichkeiten: Eine solche Begründung hat entweder darzulegen, daß die Wirksamkeit moralischer Überzeugungen Voraussetzung dafür ist, daß die Menschen von sich selbst (und deshalb auch von den anderen) oder von anderen (und deshalb auch von sich selbst) ein dem moralischen Urteil entsprechendes Verhalten erwarten. Beide Möglichkeiten führen - wie die folgende Darstellung zeigen wird - zu durchaus unterschiedlichen Begründungsmodellen44 • 43 Zu der darauf beruhenden Affmität der Theorie positiver Generalprävention zur Rechtsphilosophie und Straftheorie Hegels vgl. unter 0.1.2 . .. Zur KIarstellung sei darauf hingewiesen, daß das einer Theorie positiver Generalprävention zugrundegelegte empirische Begrundungsmodell nicht notwendigerweise mit dem zugrundegelegten Zweck der Normanerkennung korrelieren muß. Da sich Pllichtund Rechtsbewußtsein wechselseitig bedingen (vgl. zur insbesondere von ethnologischer Seite herausgearbeiteten grundlegenden Bedeutung des Gegenseitigkeitsprinzips ffir das menschliche Bewußtsein die Darstellung und die Nachweise bei Röhl, Rechtssoziologie,

3 Friste