Die Staatswahrheit: Macht zwischen Willen und Erkenntnis [1 ed.] 9783428497034, 9783428097036

Die »Macht des Staates« wird heute immer lauter kritisiert, abgebaut, geleugnet - und sie wird immer stärker in ihren Te

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Die Staatswahrheit: Macht zwischen Willen und Erkenntnis [1 ed.]
 9783428497034, 9783428097036

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WALTER LEISNER . DIE STAATSWAHRHEIT

Die Staatswahrheit Macht zwischen Willen und Erkenntnis

Von

Walter Leisner

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Leisner, Walter: Die Staatswahrheit : Macht zwischen Willen und Erkenntnis / von Walter Leisner. -Berlin : Duncker und Humblot, 1999 ISBN 3-428-09703-3

Alle Rechte vorbehalten

© 1999 Duncker & Hurnblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-09703-3

Vorwort Die "Macht des Staates" wird heute immer lauter kritisiert, abgebaut, geleugnet - und sie wird immer stärker in ihren Techniken, an denen herkömmliche Betrachtung vorbeigeht. Die säkularisierte Staatlichkeit, der "Herrschergott auf Erden", will hier "sein wie Gott": unsichtbar, gerecht - und "wahr". "Wahrheit im Staatsrecht" war bisher, soweit ersichtlich, nie Gegenstand vertiefender Betrachtung. Hier wird eine solche versucht, zu den Formen einer "Staatswahrheit", in deren Namen die Staatsgewalt Wahrheiten einfangen, sich auf sie gründen, dies anderen, staatsfemen Wahrheiten entgegenhalten, sie zurückdrängen will, mit ihrem Staatsrecht. Das Recht wird herkömmlich als eine "Sollensordnung" begriffen, welche der "Seinsordnung" der geglaubten oder festgestellten Realität gegenübertritt. Recht wird als Ausdruck des Willens verstanden, in der Demokratie als Entscheidung des Volkssouveräns; ,,richtig" soll es sein, nicht wahr. Diese Sicht verkennt die traditionellen geistigen Grundlagen der Volksherrschaft wie, zunehmend, die politische Wirklichkeit - ja die Richtigkeitskategorie selbst: Staatsrnacht läßt sich heute nicht mehr allein stützen auf Willen, etwa den der Mehrheit: seine Anordnungen müssen sich legitimieren aus einem Wahrheitsgehalt, gerichtet sein auf Staatswahrheit; der "mündige Bürger" kann und will sie erkennen. So wird denn hier etwas in dieser Form Neuartiges vorgelegt: Der Versuch einer Staatslehre des Erkennens. Er nähert sich der "Staatswahrheit" in drei Schritten: - Grundsätzlich werden die Dimensionen der Staatswahrheit im Staatsrecht aufgezeigt, in der Gegenüberstellung von Staatswahrheit und Staatswille (Teil A), und in allgemeiner Behandlung von Begriff und wichtigsten Erscheinungsformen der Staatswahrheit (Teil B). - Die "demokratische Staatswahrheit" wird sodann eingehend untersucht (Teil C). Hier soll die "These" dieser Betrachtungen begründet werden, daß gerade die Volksherrschaft auf Wahrheit und Erkennen gegründet ist, mag dies auch auf eine besondere Wahrheit, eben die demokratische Staatswahrheit, sich richten. Dies sind Ansätze zu einer spezifisch demokratischen Staatslehre des Erkennens; sie versucht eine neuartige, wesentlich antidezisionistische Erfassung des Staatsrechts. - "Staatsgewalt gegen Wahrheit", im Namen der Staatswahrheit (Teil D), bringt schließlich eine "Antithese" zu diesem staatsgrundsätzlichen Wahrheitsver-

6

Vorwort

ständnis der Demokratie: Gerade die Staatlichkeit unserer Tage, welche sich immer mehr auf Wahrheiten gründen will, sucht sich diese anzueignen, oder außerstaatliches Wahrheits streben zu verdrängen, unmöglich zu machen, zu verbieten. Eine Synthese gelingt hier nicht; der Leser wird sie suchen, jeder auf seine Art. Möge dies in einem Ernst geschehen, wie ihn alle Wahrheits suche verlangt, im Bewußtsein, daß hier eine tiefe Tragik des Staatsrechts liegt: Jene Wahrheit, in deren Namen es der Macht entgegentreten will, stärkt eben diese Gewalt. Daß sich die Wahrheit damit nicht am Ende selbst vernichte in Staatsrecht - das ist die Hoffnung hinter diesen Blättern. Zu danken habe ich wieder sehr herzlich der Rudolf Siederleben'schen Otto Wolff-Stiftung, vor allem Herrn Professor Dr. Gunter Hartmann, daß sie diese Veröffentlichung durch ihre Förderung ermöglicht haben. München, den 11. November 1998

Walter Leisner

Inhaltsverzeichnis

A. Staatswahrheit und StaatswiUe ...................................................

15

I. "Staatsrecht der Wahrheit" - eine historische Ewigkeitsfrage .................

15

11. Der philosophische Voluntarismus im Staatsrecht .............................

17

III. Entvoluntarisierungstendenzen: Grundrechte - Stabilitätssuche - Rechtstatsachenforschung: Realität als Wahrheit .......................................

20

IV. Realitätsverändernder Normwille - die Fiktionskraft des Rechts ..............

26

a) Fiktion als "normative Wirklichkeit" ...................................

26

b) Die notwendige Realitätsnähe der Fiktion ..............................

28

V. Am Ende ,,reiner Gewalt" - zurück zur Wahrheit als Machttechnik ...........

29

VI. Der Staat - Gott der Wahrheit auf Erden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

B. Begriff und Erscheinungsformen der Staatswahrheit - Allgemeines ............

33

I. Tatsache als Wahrheit - Wertung als Tatsache ................................

33

I. "Wahre Tatsachenbehauptung" - ein Verfassungsbegriff der Wahrheit? ....

33

2. Sein und Sollen - Recht jenseits aller Wahrheitsfragen ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

3. Der weite Wahrheitsbegriff - die Wertungs-Wahrheit ......................

37

4. Tatsachen und Wertungen - untrennbar; Primat der Wertung ...............

39

11. Rezipierte und gesetzte Wertungs-Wahrheiten - eine Staatswahrheit ..........

41

I. Staatsübernommene und staatsgeschaffene Wahrheiten ....................

41

2. Rechtsrezeption als Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

III. Staatswahrheiten - Staatswahrheitssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

l. Staatskirchenwahrheiten - Staatsideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

2. Am Ende der systematischen Staatswahrheit .................. . .......... . .

45

8

Inhaltsverzeichnis IV. Staatsbestimmte Formen der Wahrheitssuche - verfahrensrechtliche Staatswahrheiten ...................................................................

46

I. Prozeß ....................................................................

47

2. Mehrheitsentscheidung .................................................. . .

48

3. Abwägung ................................................................

49

4. Wissenschaftsförderung, staatliche Bildung - Wege zu Staatswahrheiten ...

50

5. "Wahrheit durch Verfahren": die Gefahr der Krypto-Manipulation .........

52

V. Von den wandelbaren Staatswahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

VI. Das Ziel der Macht: staatsgesetzte Wahrheit ..................................

56

I. Staatswahrheit - notwendige Machtlegitimation der Gegenwart. . . . . . . . . . . .

56

2. Machtsteigerung durch Staatswahrheit .....................................

56

3. Die drei Schritte der Staatswahrheitssetzung durch die Macht ............ . .

58

4. Staatsgrundgefahr: machtmanipuliene Wahrheit ...........................

59

C. Die Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille - die "demokratische Staatswahrheit" . . .. . . . .. . . . .. . .. . . .. . . . .. . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .

61

I. Volksherrschaft - Antithese zu "alten Staatswahrheiten" ......................

61

I. Staatsbegründungen aus "Tradition" .......................................

61

a) Herkommen - Macht aus historischer Wahrheit............ . ............

61

b) Römisches Staatsrecht - reine Geschichtswahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

c) "Urkundenbeweis der Macht" ..........................................

64

d) "Tradition als Staatswahrheit" - Grundlage aller nichtdemokratischen Ordnungen .............................................................

65

2. Gottesgnadentum als Staatswahrheit .......................................

66

3. Staatskirchentum - Verbindung von Macht und Wahrheit ..................

68

11. Volkssouveränität - entstanden aus einer "Wahrheitsrevolution" ..............

71

I. Die Französische Revolution als staatsreligiöse Umwälzung...............

71

2. 1789 - Aufbau einer "ganz neuen" Staatswahrheit .........................

73

III. Die neue Staatswahrheit der Demokratie: aus Vernunft statt aus Glauben .....

74

I. Freiheit als ursprüngliche Rechtstatsache ..................................

74

2. Gleichheit - unmittelbar einsichtig wie die Glaubenswahrheit . . . . . . . . . . . . . .

76

Inhaltsverzeichnis

9

3. Staatswahrheit aus Vernunft: Verlust der organisierten Wahrheitsinstanz

78

4. Demokratische Staatswahrheit: Kontinuität zu früheren Wahrheitsgrundlagen der Macht? ............................................................

79

IV. Diskutabilität: Auflösung oder Beweis demokratischer Staatswahrheiten? ....

81

1. Demokratie: Wahrheit aus Diskussion .....................................

81

2. Politische Diskussion: ernstgenommene Staatswahrheit ....................

82

3. Diskussionswahrheit - zu Glaubenssicherheit gesteigert ................ . ..

84

4. Abgebrochene Diskussion: Wesen aller Staatswahrheits-Suche . . . . . . . . . . . . .

85

V. Die demokratische Staatswahrheit der Aufklärung: Fortschrittsglaube im Diesseits .....................................................................

87

1. Aufklärung als Diesseitsglaube - an erkennbare Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

2. Aufklärerischer Fortschrittsoptimismus - Dynamisierung der Staatswahrheit .........................................................................

88

3. Aufklärung: Wahrheit statt Macht .........................................

92

VI. Die normative Staatswahrheit ........................................... . ....

94

1. Das Gesetz als erkannte Staatswahrheit ....................................

94

a) Die Norm: Erkenntnis, nicht Befehl ....................................

94

b) Der Rechtsstaat - Systematisierung normativer Staatswahrheit .........

96

c) Die ,,Norm als Sollen" - eine antiaufklärerische Vorstellung............

98

d) Reine Rechtslehre und Staatswahrheit ..................................

99

e) Selbstgesetzlichkeit des Rechts - gerade in der "Norm als Staatswahrheit.. ................................................................... 100 2. Gesetzesanwendung - Entfaltung von Staatswahrheiten .................... 101 a) Gesetzesanwendung: mehr als Ausdruck eines Machtwillens ........... 101 b) Das Gesetz und seine Anwendung - Erkenntnis der Staatswahrheit in Annäherungen ......................................................... 102 c) Objektive Gesetzesinterpretation als Erkenntnisvorgang

105

d) Gesetzeskomplikation - Ausdruck komplexer Wahrheit

107

VII. Die Grundrechte: erkannte Wahrheitsgrundlage der Demokratie .............. 108 1. Die Grundrechte - Werte als Staatswahrheiten ............................. 109

2. Die Menschen- und Bürgerrechte - höchste Staatswahrheiten der Demokratie ...................................................................... llO a) Grundrechte als proklamierte Tatsachenwahrheiten ..................... 110

10

Inhaltsverzeichnis b) Die Grundrechte als vorstaatliche, naturrechtliche - Staatswahrheiten .. 111 c) Freiheit - die reine Staatswahrheit ...................................... 112 3. Die unabänderlichen Grundrechts-Inhalte: absolute Staatswahrheiten ...... 113 a) Unabänderlichkeit - Wesen höchster Staatswahrheit .................... 113 b) Menschenwürde - tatsachennahe Staatswahrheit ........................ 114 c) Die Ausstrahlung der Staatswahrheit in alle Grundrechte und Normen.. 115 4. Grundrechtseingriff - Beschränkung von Staatswahrheit durch Staatswahrheit ........................................................................ 116 VIII. Staatsform als Staatswahrheit ................................................ 119 1. Das Problem der unabänderlichen Regime-Grundlagen .................... 119 2. Regime-Wahrheit aus - als Grundrechts-Wahrheit ............. . ........... 120 3. Regime-Wahrheiten als typische Staatswahrheiten ......................... 121 IX. Der Richter als demokratisches Wahrheitsorgan .............................. 122 I. Richtende Tätigkeit: Von der Wahrheit der Beweise zur Wahrheit der Urteile .................................................................... 123 a) Gerichtsbarkeit - auf der Grundlage tatsächlicher Wahrheit ........ . . . .. 123 b) Urteile als Wahrheit .................................................... 124 c) Urteil als Erkenntnis - Selbstverständnis von Rechtssuchenden und Richtern................................................................ 126 2. Der demokratische Drang zur Judikative als Institutionalisierung der Staatswahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Richtertum - Institution der Staatswahrheit ............................. 127 b) Demokratische Expertokratie - Wahrheitsdominanz .................... 129 c) Ein größeres Phänomen: Entpolitisierung als Wendung zur Realität als Wahrheit ............................................................... 130

x.

Staatsschutz für Staatswahrheit ............................................... 131

1. Die politische Schwäche der Staatswahrheit ..................... . ......... 131 a) Erkenntnisschwäche gegen Willensstärke............................... 131 b) Die typisch demokratischen Schwächen der Staatswahrheit: Eudämonismus statt Erkenntnis.................................................... 132 2. Die historischen Wahrheitsängste der Demokratie - von den Ursprüngen des Staatsschutzes ......................................................... 133 3. Staatsschutz - Kategorie der Staatswahrheit ............................... 135

Inhaltsverzeichnis

11

XI. Die demokratische Anti-(Wahrheits-)These: Volkssouveräner Wille gegen Staatswahrheit - die große Versuchung der Demokratie....................... 136 1. Die Grundantinomie: Volkswille gegen Bürgerfreiheit ..................... 136 a) Freiheit und Gleichheit - eine unauflösliche demokratische Spannung demokratischer Staatswahrheiten ....................................... 136 b) Gleichheit - Grundlage der Mehrheit als Instrument eigentumsverteilender Staatswahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Wahrheitssetzender Willensstaat - Ausdruck der Staatswahrheit? .......... 138 XII. Staatswahrheit aus demokratischer Erkenntnis: Meinungsfreiheit - Öffnung zur Realität .................................................................. 140 I. Meinungsfreiheit - Versöhnung von Staatswahrheit und Staatswillen? ..... 140 a) Meinungsfreiheit - Bekenntnis zur Staatswahrheit ...................... 140 b) In Staatsrichtung privilegierte Meinungsfreiheit ........................ 142 c) Meinungsfreiheit - Streben nach breitester Staatswahrheit .............. 144 2. Sokrates: der Prozeß der Staatswahrheit ................................... 146

D. Macht statt Wahrheit............................................................. 148 I. Wahrheitsaneignung durch Macht ............................................ 149 1. Staatsgelehrte Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 a) Schule - Wahrheitsvermittlung oder Wahrheitssetzung? ................ 150 b) Universitäten: Vom Heiligtum der Erkenntnis zum Tempel der Staatswahrheit ............................................................... 154 2. Wissenschaftsförderung als Wahrheitskauf ................................. 156 3. Der Staat als Wahrheits-Experte........................................... 159 a) Der Experte - Träger von Kenntnissen, nicht von Erkenntnis ........... 159 b) Das Vertrauen in den Staat als Experten ................................ 162 c) Der staatsintegrierte Sachverstand... . . . .. . . ... . . .... . . . . .. . . .. . . . . .. ... 164 d) Privatisierung sachverständiger Wahrheitssuche? ....................... 167 4. Staatspropaganda und Öffentlichkeitsarbeit als Staatswahrheit ............. 170 5. Selbstdarstellung des Staates: Staatswahrheit von Ideologie bis zur Gemeinschaftsleistung ....................................................... 175 a) Staatsideologie ......................................................... 177 b) Staatsgeschichte als historische Staatswahrheit ......................... 179 c) Gemeinschafts(fehl)leistungen ......................................... 182

12

Inhaltsverzeichnis 6. Staatsmonumente, Staatsgesten: geronnene Staatswahrheit ................. 185 a) Das Staatsmonument als Beweis der Staatswahrheit .................... 185 b) Die Staatsgeste - Staatswahrheit aus einem Augenblick ................ 188 H. Negative Staatswahrheit .................... . .......... . ...................... 190 1. Die Veränderung der "Wahrheitslage" ..................................... 190

2. Zurückdrängung privater Wahrheits suche durch Staatsveranstaltungen der Wahrheitserkenntnis ....................................................... 192 a) Die Organisationskraft der staatlichen Erkenntnisverfahren ............. 192 b) Wirkungen der Staatswahrheit auf staatsferne Wahrheitsinhalte ......... 193 3. Der wahrheitsneutrale Staat als Instanz negativer Staatswahrheit ........... 194 a) Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates - Wahrheitsneutralität? ..................................................................... 194 b) Die negativen Wahrheitswirkungen der weltanschaulichen Staatsneutralität .................................................................... 195 c) Religionsunterricht - staatlich garantierte Wahrheitsrelativierung ....... 196 d) Ethikunterricht als Verbreitung von Staatswahrheiten ................... 198 4. Staats verbreitete Wahrheitsskepsis ......................................... 200 III. Macht gegen Wahrheit ....................................................... 204 1. Rechtliche Erkenntnisverbote . . . .. . . . .. . . . .. .. .. . . .. . . . .. . . .. .. .. . . .. . . . ... 204

a) Von der faktischen Wahrheitsverdrängung zum rechtlichen Eingriff in die Erkenntnisfreiheit .................................................. 204 b) Das rechtliche Wahrheitsverbot als höhere Stufe der negativen Staatswahrheit ............................................................... 206 c) Höhere Güter als Wahrheit? ............................................ 207 2. Allgemeine Wahrheits-Erkenntnisverbote? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208 a) Erkenntnisverbot im Namen "evidenter Wahrheit"? ... . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208 b) Erkenntnisverbot - mehr als ein Aktionsverbot ......................... 209 c) "Volksverhetzung" - ein Begriff aus unbewältigter Vergangenheit ...... 211 d) Vom Verbrechen zum Fehler ...................................... .. ... 213 3. Grenzen der Wissenschaftsfreiheit ......................................... 214 a) Abgrenzung von Aktion und Erkenntnis - keine Lösung................ 214 b) Der Begriff "Verfassungstreue" - eng zu fassen ......................... 217 c) Verfassungstreue - ein Wert über aller Wahrheitserkenntnis? ............ 218

Inhaltsverzeichnis

13

4. Hoheitliche Wahrheitsverheimlichung - das Staatsgeheimnis als Wahrheitsverbot ..................................................................... 219 a) Arcanstaatlichkeit - Erkenntnisverbote ................................. 219 b) Das moderne Staatsgeheimnis als Ausdruck der Arcanstaatlichkeit ..... 220 c) Neue Formen der Arcanstaatlichkeit .................................... 221 d) Erkenntnisverbot zum Schutz der Privatheit ............................ 225 e) Medien gegen Staatsgeheimnis? ........................................ 226 f) Staatsgeheimnis im Namen der Freiheit - Freiheit gegen Erkenntnis .... 227

5. Staatslüge ................................................................. 229 a) Staatsunwahrheit - ein aktuelles Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 229 b) Staatsverpflichtung zur Wahrheit? ...................................... 233 c) Abgeschwächte Wahrheit - bis zur Staatsunwahrheit? .................. 236 IV. "Politik": Gemenge oder Unvereinbarkeit von Macht und Wahrheit? ......... 237 1. Politik: Relativierung der Wahrheit zur Staatswahrheit ..................... 237 a) Das Recht als "Weg der Wahrheit in die Politik" ........................ 238 b) Trennung von Recht und Politik - von Politik und Wahrheit? ........... 239 c) Unvereinbarkeit von politischem Handeln und Erkennen der Wahrheit.. 241 d) "Gestaltete Wahrheit" - ein Widerspruch ............................... 243 e) Politik als "Prognose statt Erkenntnis" .................................. 244 f) Politik - Kunst des Möglichen, nicht Erkenntnis von Wahrheit . . . . . . . . .. 245

2. Machtmensch - Wahrheitspersönlichkeit: zwei Typen ..................... 246 a) Wahrheitserkenntnis und politische Gestaltung - zwei Formen menschlichen Strebens ......................................................... 246 b) Der Machtmensch ...................................................... 248 c) Der Wahrheitsmensch - die politische Professoralität des Erkennens .... 249 d) Philosophen als Könige? ............................................... 251 e) Staatswahrheit als Magd der Macht - als "aufgeklärte Macht" .......... 252

E. Rechtswissenschaft: Wahrheitserkenntnis in der Welt der Macht ............... 254 1. Rechtswissenschaft - Geisteswissenschaft nur als Wahrheitserkenntnis

254

11. Begründungsdefizite einer "Rechtswissenschaft" ............................. 256

14

Inhaltsverzeichnis III. Rechtswissenschaft als Wahrheitserkenntnis - eine Rückbesinnung ........... 257 IV. Der Einbruch des Rechtspositivismus - Verlust der Wahrheit im Recht ....... 260 V. Verfassungsrecht - die Wissenschaftschance der Jurisprudenz ................ 262

Ausblick .............................................................................. 264

Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 266

A. Staatswahrheit und Staatswille I. "Staatsrecht der Wahrheit" eine historische Ewigkeitsfrage "Was ist Wahrheit?" - das Pilatuswort war eine staatsrechtliche Frage. Zwei Reiche trafen ja in diesem Prozeß aufeinander: das jenseitige, ewige Königreich des Gefangenen und jenes Römische Imperium, das gerade in diesem Augenblick seine absolute diesseitige Macht erreichte. Hatte sich in ihm nicht der Wille endgültig an die Stelle jener Vernunft gesetzt, jenes Geistes, dessen Gegenstand die Wahrheit ist? Und da setzte dieser machtlose, dieser erbarmungswürdige, ja erbärmliche Mensch, der vorgab, aus dem Geist zu sprechen und aus der Wahrheit, gegen all dies die Erkenntnis, die Wahrheit als die höhere Macht - im Himmel also auch auf Erden. Nicht das erste Mal war sie dem Staatsrecht gestellt worden, wenn auch nie in vergleichbar transzendenter Absolutheit. Platons Philosophen-Könige, als Herrscher über den Staat, bedeuteten doch nichts anderes als die Wahrheit an der Staatsspitze, als Herrschaftslegitimation, ja als Grundlegung des wahren Staates '. Die griechische Staatsphilosophie hat angesetzt nicht beim moralisch guten, sondern beim metaphysisch-gnoseologisch wahren Staat; seine "Güte", war eben für sie, wie das griechische agathon, nicht von der Wahrheit zu trennen, vielmehr im Grunde nur die Folge des Staates der Wahrheit 2 . Doch spätestens mit dem Prozeß von Jerusalem wurde die Wahrheit eine Ewigkeitsfrage von Recht und Staat. Mit ihrer Legitimation trat der Höchstpriester des Christentums der rohen Gewalt der nördlichen Krieger entgegen, durch Wahrheit legitimiert griff der römische Pontifex auch nach der höchsten Macht über alle diesseitige Gewalt: Ihr Schwert sollte nur geführt werden im Namen der Wahrheit, gegen den Islam ebenso wie im iustum bellum3 gegen andere christliche Macht eben im Namen jenes Wahren, das Rom verkörperte oder gut hieß. So ist bis zur Renaissance das fortgesetzte Römische Staatsrecht4 stets nichts anderes gewesen als eine Disziplin der Legitimation des Rechtes durch Wahrheit. Wenn Bologna die ratio scripta lehrte, so war es eben die Normenordnung dieses Staates der WahrPlato, Politeia, 485 ff.; siehe dazu unter unten D, IV, 2, d. Entscheidend war das "in Wahrheit Gute". 3 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, 2/2, qu. 40, art. I; dort wird übrigens die Parallele gezogen von den exercitia belli zu den wahrheitsorientierten exercitia scientiarum. 4 Klassisch dargestellt bei Koschaker, P., Europa und das Römische Recht, 1947. 1

2

16

A. Staatswahrheit und Staatswille

heit; und so ist denn die große Europäische Rechtswissenschaft geworden als ein Staatsrecht der politischen Wahrheit. Die so von griechischer Philosophie und christlicher Theologie geprägte Geistigkeit Europas konnte auch in den folgenden Jahrhunderten ihr Recht nicht denken außerhalb dieser Kategorien. Die nächste große Wahrheitsfrage an ihren Staat stellte sie, auf den Grundlagen der säkularisierenden Renaissance, in Aufklärung und Französischer Revolution. Hatte sich nicht das Ancien Regime entfernt von der Wahrheit, indem es die Natur vergewaltigte, den freien Menschen in Ketten schlug? Galt es nicht, das eine, gleiche Recht für alle Menschen und Volker zuerst wieder zu erkennen im Intellektualismus der Aufklärung, sodann zu verkünden, mit der Macht der Revolution, konnte dies etwas anderes sein als jenes NaturRecht, das Recht des Staates der Wahrheit? Diese Staats-Wahrheit ertrank im Blut der Terreur und der Napoleonischen Kriege. Doch die Frage nach dem Staat der Wahrheit blieb furchtbar gestellt im 20. Jahrhundert, im Kommunismus, in Faschismen und im Nationalsozialismus. Bei all ihrer Gewaltsamkeit - diese Staatsideologien zogen letzte Kraft nicht mehr allein aus dem Willen einzelner Menschen, stützen wollten sie sich vielmehr auf das, was ihnen historische, philosophische, biologische Erkenntnis schien5 . Und so wurde denn aus dem Staat als Diener der Wahrheit, im antiken Sinn, die Wahrheit als Dienerin des Staates und seiner Gewalt. Dem Historiker mag die Frage bleiben, ob es nicht immer so gewesen ist, im Geist zynischer Gewaltherrscher, ob sich je die Legitimaton der Gewalt erschöpft hat im Glauben an irgendeine Wahrheit. Doch eines zeigt dieser Blick auf die Großentwicklungen der Geschichte: Das Wahre ist eine Kategorie des Staatsrechts, des Rechts überhaupt, soweit es die Staatsgewalt hält, ihr Ausdruck ist. Heute aber ist vielleicht - und dies mag die folgende Untersuchung im Grundsätzlichen legitimieren - eine Zeit gekommen, in der gerade dies in Zweifel gezogen wird. Wir leben im liberalen Staat der Diskutabilitäten, in jenem Gemeinwesen, das seinen Frieden gemacht hat nicht nur mit ideologischer Skepsis, sondern mit der Suche nach der Wahrheit, in dem nunmehr jeder nicht nur religiös, sondern auch politisch wirklich "nach seiner Fat;on seelig werden" darf. Wenn dies ein endgültiger Abschied sein sollte von jedem "Staatsrecht der Wahrheit", im Sinne des Glaubens wie des Erkennens, so muß eben jetzt "nachgefragt" werden, in des Wortes eigentlichem Sinn: Verschwindet damit die Wahrheit aus dem Recht, das Richtige aus dem Staat, die Wissenschaft aus der Jurisprudenz?

5 Diese Gewaltwerdung des Staates als Staatswahrheit, als Staatsreligion, kommt etwa am Schluß des "Mythus des 20. Jahrhunderts" von Alfred Rosenberg (zit. nach der 11. Aufl. 1933, S. 701), in dem Satz zum Ausdruck: "Deshalb ist Sache unserer Religion, unseres Rechtes, unseres Staates alles, was die Ehre und Freiheit dieser Seele und dieses Blutes schützt, stärkt, läutert, durchsetzt." Die ganze Ideologie des ,,Mythus" will nichts als eine neue historische Staatswahrheit sein, aus Wille und Gewalt zwar - aber als wahr geglaubt.

II. Der philosophische Voluntarismus im Staatsrecht

17

Eine berühmte These lautete vor vielen Jahrzehnten: "Die Rechtswissenschaft ohne Recht,,6. Soll sie sich nun in einer zweiten vollenden: "Die Rechtswissenschaft ohne Wissenschaft" - weil eben die Wahrheit dahingestellt bleibt? Dies alles sind bereits Themen, Probleme, Ängste genug für eine Untersuchung wie die folgende. Doch sie kann den Anschluß an die uns bekannten, an die täglichen und ewigen Fragen unseres Rechts noch in vielfachen anderen Bereichen finden, in welchen die Rechtswissenschaft der Gegenwart, das öffentliche Recht nicht zuletzt, immer von neuem auf der Suche ist nach der Wahrheit, nach dem Wissen um sie - nicht selten ohne dies zu wissen. Einige dieser Problem-Kapitel seien im folgenden aufgeschlagen.

11. Der philosophische Voluntarismus im Staatsrecht Lebt die Welt nicht aus Vernunft und Geist, so kann sie nur aus dem Willen leben. Diese Dualität oder gar dieser Gegensatz von Erkennen und Wollen, von Wahrheit und Macht, wie ihn uns die große deutsche Philosophie in klassischer Form weit über ein Jahrhundert hinweg gezeigt hat, läßt sich wohl kaum in einem anderen Bereich so klar nachzeichnen wie im Staatsrecht. Hier muß ja Stellung bezogen werden: Bedeutet Jurisprudenz den Nachvollzug, das Nachbeten machtschöpfenden Willens, nur dessen Verfeinerung in der ziselierenden Juwe1iersarbeit am einzigen Gold, das der Staats-Legist kennen darf, am Willen der Mächtigen? Oder muß dies erst noch veredelt, von den rohen Beimischungen von Blei und Stahl befreit werden durch eine wahrheits suchende Rechtswissenschaft, die höhere, ganz I andere Kategorien an diese Macht-Materie heranträgt - eben die Frage nach der Richtigkeit, ausgehend davon die nach dem Wahrheitsgehalt des dergestalt Bearbeiteten, von dort aufsteigend zu einem Wahrheitsgehalt an sich? Ein schweres Schicksal gerade der deutschen Rechtswissenschaft war es - und vielleicht ist es bis auf den heutigen Tag als solches nicht voll erfaßt worden - daß die Erkenntnislehre Kants hinter alles philosophische, ja alles wissenschaftliche Wahrheits streben ein unzerstörbares Fragezeichen gesetzt hat, daß ihm letztlich das menschlich faßbare Reich das der Ethik war, des schaffenden Willens. Damit sah sich die Jurisprudenz, mehr als alle anderen Geisteswissenschaften, wahrhaft "aus der Wahrheit geworfen". Die düsteren Worte, welche der Philosoph ihrem Gegenstand gewidmet hat, etwa zum "Ewigen Frieden" - sind sie nicht jenseits aller Wahrheit gesprochen7, könnte es einen Begriff geben, der weiter noch von ihr ent6 Nelson, L., Die Rechtswissenschaft ohne Recht, 1917, mit dem Versuch, in neuer Naturrechtlichkeit Kants Erkenntnisaporien zu überhöhen. 7 Kant, I., Zum Ewigen Frieden, Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe, 1920, Bd. 5, S. 689 f.: " ... sondern wenn die eine Schale nicht sinken, will, das Schwert mit hinein zu

2 Leisner

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A. Staatswahrheit und Staatswille

fernt wäre als der eines Friedens, der die Wollungen von Menschen zusammenführt, in "Geheimartikeln" ihrer Willenseinigung, jenseits aller Wahrheit? Ein zweiter Strom der deutschen philosophischen Klassik hat die Rechtswissenschaft in diesem Lande aus der Wahrheitssuche gedrängt: jener freiheitliche Ansatz, der bei Kant bereits die Wendung zur Ethisierung, damit aber zum Willen hin, eingeleitet hatte. In den Schriften des jungen Fichte feiert die Spätaufklärung noch rationale Triumphe der Wahrheitssuche, für Staat und Wirtschaft, wenn nachgedacht wird über ein Naturrecht der Wissenschaftsfreiheit8 , über einen geschlossenen Handelsstaat9 . Doch derartige Ausprägungen staatlicher Wahrheits geometrie machen bald einem in Frühliberalismus entbundenen Willens des Einzelnen Platz. Vorgegeben war damit, daß sich eine große systematische Staatsdogmatik aus intellektueller Wahrheitssuche nicht entwickeln konnte. Sie wurde denn auch bald abgedrängt in die juristische Technik der historisierenden Pandektistik. Für Hegel lO war der Staat zwar die höchste geistige Wesenheit und damit philosophisch erkennbare Wirklichkeit schlechthin - doch dies kam ihm zu nicht nach seinem Wahrheitsgehalt, in der wahrheitslegitimierten Güte seiner Ordnung, sondern durch jene Macht höchster Selbstbehauptung, die der politische Wille gesetzt hatte, nicht die im Kollektiv erkannte Wahrheit. Mit dem jungen Schopenhauer erfolgte eine weitere, philosophisch entscheidende, voluntaristische Wendung 11 , in den Gedanken des Reiferen stellt die Skepsis den Einzelmenschen und seinen Willen selbst noch in Frage l2 , für Wahrheitserkenntnis im Staat und durch ihn ist in legen (vae victis), wozu der Jurist ... die größte Versuchung hat, weil es seines Amtes nur ist, vorhandene Gesetze anzuwenden, nicht aber, ob diese selbst einer Verbesserung bedürfen, zu untersuchen ... ". "Daß Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt." 8 Fichte. J. G.• Grundlagen des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. 1796. 9 Fichte. J. G.• Der geschlossene Handelsstaat, 1800 - immerhin war dies "Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre." 10 Siehe vor allem Hegel, G. W. F.. Grundlinien der Philosophie des Rechts. 1833, insbes. §§ 257 ff. II Schopenhauer, A .• Die Welt als Wille und Vorstellung, 1844. deutlich insbes. im 2. Buch: "Die Objektivation des Willens". vgl. etwa den Kernsatz: "Die Erkenntnis überhaupt. vernünftige sowohl als bloß anschauliche. geht also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor" (11, § 27). 12 Vgl. etwa Schopenhauer, A .• Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, zit. nach der Gesamtausgabe von Julius Frauenstädt, 1974, Bd. 5, wo es heißt, daß es möglich sei, daß "auch jenes Schicksal, welches unseren wirklichen Lebenslauf beherrscht. irgendwie zuletzt von jenem Willen ausgehe, der unser eigener ist, welcher jedoch hier. wo er als Schicksal aufträte. von einer Region aus wirkte, die weit über unser vorstellendes. individuelles Bewußtsein hinausliegt" (S. 233); vgl. auch "Vereinzelte. jedoch systematisch geordnete Gedanken über vielerlei Gegenstände" (aaO., Bd. 6. § 63): "Wie wir von der Erdkugel bloß die Oberfläche. nicht aber die große, solide Masse des Inneren kennen; so erkennen wir empirisch von den Dingen und der Welt überhaupt nichts, als nur ihre Erscheinung, das ist die Oberfläche"; ebda. § 122: Wer den Begriff des Rechts zu

11. Der philosophische Voluntarismus im Staatsrecht

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dieser Philosophie des politischen Agnostizismus kein Raum mehr. In Fortsetzung solcher Gedanken wendet sich schließlich Nietzsche vollends ab von einer Staatlichkeit, die ihm das wilhelminische Deutschland nur in einer ungeliebten Form präsentierte l3 ; die Hoffnungen gehen zur Morgenröte eines neuen Übermenschen, der aus dem Willen zur Macht wächst, nicht eines Staates, der im Willen zur Wahrheit wird. Die Rechtswissenschaft hat dieser großen Entwicklung gegen eine Staats-Wahrheit kaum mehr etwas entgegenzusetzen. Die letzte historische Wahrheitssuche, in der Pandektistik, gibt sie mit der Kodifikation des BGB auf. Nicht genug damit, daß die Begriffsjurisprudenz 14 sich nunmehr wandelt, von kompilatorischer Beschäftigung mit historischer Wahrheits suche des Römischen Rechts zur Erforschung des Willens der Vater des BGB, also der Wahrheit eines kontingenten Systems, letztlich verengt auf Widerspruchslosigkeit - alsbald wird das Recht, und dies mit historischer Notwendigkeit, überrollt durch jene Interessenjurisprudenz 15, die im Recht den Ausdruck kämpferischen Willens erkennt, die Rechtswissenschaft gar in die Taten des Freirechts 16 münden lassen möchte. Wohl folgen dann, nach zwei Weltkriegen, Ermüdungserscheinungen der politischen Willenskraft, doch zum Intellektualismus einer Wahrheitssuche zur Staatsrechtfertigung findet die juristische Dogmatik nicht mehr zurück. Schon in der Staatslegitimationslehre von Georg Jellinek 17 spielt die Wahrheit und ihre Suche keine wesentliche Rolle mehr; Rudolf Smend und earl Schmitt sind, jeder auf seine Weise, letztlich doch nur Erben der großen voluntaristischen Philosophie Deutschlands 18, jener in der Integration vielfacher Wollungen zum Staatskonsens, dieser in der Entbindung des politischen Willens in eine Selbständigkeit, der Wahrheit nichts bedeutet l9 . Und mit Hans Kelsen 20 schließlich bleibt von der Wahrdefinieren unternimmt, "will einen Schatten greifen, verfolgt ein Gespenst, sucht ein Nonens." 13 Wobei Friedrich Nietzsche, auf eigenartigen Wegen, zum Gegenstand seiner tiefen Verehrung, der Renaissance, zurückfindet, etwa in seinem "Blick auf den Staat", in "Menschliches - Allzumenschliches", geradezu in einem Neo-Macchiavellismus endend (vgl. etwa Nr. 445 ff.). 14 Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 19 ff.; Pawlowski, H.-M., Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 66 ff., 213 ff.; Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 400 f. 15 Heck, p', Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1 ff.; Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 49 ff.; Larenz, K., Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, AcP 143 (1937), S. 257 ff. (271 ff.); Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 574 m. weit. Nachw. 16 Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 59 ff., im übrigen vgl. die in Fn. 15 Zitierten. 17 Jellinek, G., Allgemeine Staatslehre, 4. Aufl. 1922, S. 184 ff. 18 Smend, R., Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 1 ff. und S. 67 ff. 19 Zuhöchst gesteigert in der Theorie der Entscheidung über den Ausnahmezustand, Schmitt, c., Verfassungslehre, 7. Aufl. 1989, S. 110. 2*

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A. Staats wahrheit und Staatswille

heitssuche dem Staatsrecht nur mehr ein Streben nach geometrisch-dogmatischer Systemwahrheit; was immer ihm der politische, rasch wechselnde Wille vorgibt das Recht hat es allenfalls noch zu ordnen nach seinen eigenen Kategorien. Wenn Othmar Spann 1923 sein Buch "Der wahre Staat" vorlegt - ist dies nicht nur ein anderer Titel für "Der richtige Wille zum Staat"? Sollte all dies noch eine Beschäftigung sein mit der Wahrheit, eine Wissenschaft? So haben denn Willensphilosophie und aus ihr entwickelte Rechtsethik die dogmatischen Grundlagen der heutigen Jurisprudenz gelegt, nicht ein Wahrheitsstreben, von dem es gar scheinen mag, als habe es uns mit dem überzeitlichen Römischen Recht vollends verlassen. Das Staatsrecht der letzten Jahrzehnte stellt sich eine Frage zuerst: Was darf menschliche Freiheit, was ist dem Willen des Bürgers gestattet, der sie trägt?

111. Entvoluntarisierungstendenzen: Grundrechte Stabilitätssuche - Rechtstatsachenforschung: Realität als Wahrheit Und doch zeigen sich in den letzten Jahrzehnten neue Strömungen, welche eine Rückkehr der Wahrheits suche im Staat einleiten könnten, durch das Staatsrecht. Drei Erscheinungen gänzlich verschiedener Art seien hier beispielhaft erwähnt, in denen sich neue Fragen anzubahnen scheinen, nach etwas wie einer wiederzuentdeckenden Staats-Wahrheit, in einem Recht, das nicht mehr nur Suche nach Gewolltem ist, sondern nach Vorgegeben-Seiendem. 1. Die große Aufklärung mag ihre letzten historischen Phasen in unserer Zeit erreichen 21 , sie trägt noch immer, in einer wahren Staatsrenaissance 22 , die Grundrechtlichkeit, wenigstens in deren elementarem Kembereich. Hier geht es schon dies wird noch zu vertiefen sein 23 - um die Suche nach Vorgegebenem, das es in Systematik zu entfalten gilt, nicht nach den wechselnden Inhalten eines Norrnwillens, mit dem Bibliotheken der Rechtswissenschaft zur Makulatur werden. Mit den Freiheitsrechten und dem sie organisatorisch flankierenden Rechtsstaat 24 hat das Staatsrecht einen neuen Gegenstand der Wahrheits suche gefunden, in dem auch historische Untersuchungen wieder wahren Erkenntniswert gewinnen. Was sich jen20

Kelsen, H., Allgemeine Staatslehre, unveränderter Nachdruck 1966 (I. Auf!. 1925),

S. 27 ff.

Leisner; w., Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 127 ff. Näher dazu allg. Leisner; w., Staatsrenaissance - Die Wiederkehr der "guten Staatsformen", 1987, für die Grundrechte insbes. S. 268 f. 23 V gl. unten C, VII. 24 Zum "organisatorischen Freiheitsschutz" vgl. m. Nachw. Leisner; w., Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 5 ff.; ders., Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 471. 21

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III. Entvoluntarisierungstendenzen

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seits aller Verfassungsrevisionen 25 halten kann, was in Überzeitlichkeit über die Paulskirche zurückreicht bis zu den amerikanischen Menschenrechtserklärungen 26 - darin entfaltet sich etwas wie ein neues Römisches Recht der konstitutionellen Freiheit; nicht zuletzt deshalb ist dies zum beliebtesten Untersuchungs gegenstand des Staatsrechts in jüngster Zeit geworden. Hier gibt es Axiome, Dogmen, etwas wie eine neue, demokratische Theologie. Wenn Recht dergestalt dem politischen Willen selbst der heiligen Mehrheit entzogen erscheint, so stellt sich damit eben seine Wahrheitsfrage von neuem; denn eine Norm, die nicht geändert werden kann, findet ihre Rechtfertigung, in einer Zeit der radikalen Legitimationsforderungen, nur in einem: in etwas wie einer unverbrüchlichen Staatswahrheit27 . Fiktion mag dies sein, Ideologie oder gar nur konsensgetragene Realität - im Sinne dieser Untersuchung bleibt es Wahrheit zur Legitimation des Staates und seiner Macht, wie alles, was dem menschlichen Willen entzogen ist, was letztlich eben doch - erkannt wird, in Wissenschaft. 2. Das organisatorische Staatsrecht.hatte sich am weitesten von allem entfernt, was die Wahrheits frage stellen ließ. Wenn schon nicht die Grundrechte - die Einrichtungen des Staates erschienen doch, von der grundrechtlich begründeten Wahlfreiheits-Ideologie einmal abgesehen 28 , lediglich als Schöpfungen gesetzgeberischen oder gar verwaltungsorganisatorischen Willens, mit ihm vergänglich, Gegenstand einer Untersuchung des Rechts nur zu seiner Befestigung und Verfeinerung. Doch hier scheint es nun, als stoße die Willensdynamik zunehmend an ihre eigenen Grenzen, als mißachte sie, ins Extrem gesteigert, gerade ihre menschlichen Realitäten, als deren Ausdruck sie sich versteht. Die demokratische Dynamik der Volkssouveränität - auf sie wird im folgenden besonders zurückzukommen sein29 . - hat institutionelle Instabilitäten hervorgebracht, welche immer stärkeres Ordnungsbemühen des Staatsrechts auslösen, weit über ein Fortdenken gesetzgeberischer Gedanken hinaus und ein "Fort-Wollen" gesetzgeberischen Willens 3o . In vielen Fällen sind diese sogar nur noch Anlaß vertiefender Systematisierung, Dogmatisierung, unbekümmert wird hier von Verfassungs gerichten fortentwickelt, verbogen, gebrochen - hin zum System. All dies läßt sich einordnen in den großen Zug eines staatsrechtlichen Stabilitätsstrebens. In ihm sollen nicht nur bewährte Formen der Staats- und Verwaltungsorganisation wiederkehren, weiter verbessert wer25 Zur Verfassungsrevision und ihren Grenzen vgl. f. viele Ehmke, H., Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, insbes. S. 11 ff.; Henke, W, Die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957, insbes. S. 87 ff. 26 Jellinek, W, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. 1919, S. 10 ff. 27 Vgl. unten C. VII, 3. 28 Maunz, T., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 38, Rn. 31 f. 29 Vgl. C, XI. 30 Doch auch dieses Richterrecht (vgl. dazu Larenz, K./Canaris, c.-W, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 187 ff.) muß die Verfassungsschranken achten, vgl. Leisner, W, Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 889 ff.

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den; immer mehr wird auch wieder die Frage nach dem ,,richtigen Recht" gestellt, dem Ausgangspunkt jeder Frage nach der Wahrheit in diesem Bereich. Gewiß mögen da noch viele historisch kontingente Vorgaben zu beachten sein, weiter zu systematisieren; doch immer wieder kehrt auch das Fragen nach dem, was jenseits allen gesetzgeberischen Willens, aller politischen Macht geschehen sollte, erfolgen muß, damit das gesamte politische System sich hält. Damit wird etwas wie eine "verselbständigte Systemsuche,,31 eben doch zur - Suche nach einer Wahrheit, welche politischem Veränderungswillen nicht zu folgen braucht, ihn vielmehr beherrscht. Wie sich die Staatsgewalt den Grundfreiheiten zu beugen hat, es hinnehmen muß, daß sie als ihr vorgegebene Wahrheiten vom Recht als einer Wissenschaft untersucht, ihrem Machtstreben überlagert werden - ebenso gilt dies für die elementaren Stabilitätserfordernisse in der Organisation der staatlichen Gemeinschaft, von jenen politischen Staatserfahrungen, die zur vorgegebenen Staatswahrheit werden. Denn Staatswahrheit ist all dies, als etwas dem Staat Vorgegebenes, von ihm dienend Getragenes, der Macht geistig Überlegenes - als eine Realität, die vom Recht und seiner Dogmatik erkannt, nicht geschaffen wird. Dies gilt im Bereich aller klassischen Staatsgewalten: Der Verfassunggeber mag die Repräsentation des Volkssouveräns durch unabhängige Abgeordneten-Persönlichkeiten seit zwei Jahrhunderten als Staatsgrundsatznorm festgelegt haben 32 stärker war die Notwendigkeit des effektiven tatsächlichen Funktionierens des Parlamentarismus - und es endete daher in Fraktionszwang 33 . Volkssouveränität bedeutet zuallererst Herrschaft des dynamisch wechselnden Volkswillens; doch auf die parlamentsabhängige Regierung kann diese Instabilität nicht übertragen werden, ohne daß der Staat in Gefahr käme - so erzwang die politische Realität das konstruktive Mißtrauensvotum in Deutschland34, wenn nicht gar das präsidentielle Regime in Frankreich. Die Exekutive darf nach der Verfassung nur den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers vollziehen. Doch die Verwaltungswirklichkeit erzwingt laufend Gestaltungen, im Namen von Effektivität und Stabilität, die keine ausdrückliche Grundlage im Gesetz mehr finden, diesem sogar widersprechen mögen, man denke nur an Typisierung35 und Pauschalierung. Voller Rechtsschutz 31 Im Bereich des Staatsrechts, nicht nur in den einzelnen Räumen des einfachen Gesetzesrechts; allerdings kann auch dort "Systemdenken" Verfassungsbedeutung erreichen, siehe dazu Degenhart, c., Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 41 ff., zum Systemdenken allgemein, Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 437 ff. 32 Maunz, T./Zippelius, R., Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, S. 261 f. 33 Als eine für die "Funktionsfahigkeit" der Staatlichkeit unumgängliche Organisationsform, wie es das BVerfG zur Begründung des - von einer geschlossenen "Rechtsdogmatik" aus gesehen - höchst bedenklichen Fraktionszwangs ausgeführt hat, BVerfGE 10,4(14). 34 Maunz, T./Zippelius, R., Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, S. 283 f.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 989 ff.; Badura, P., Die parlamentarische Demokratie, § 23 Rn. 13 ff., in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. I, 2. Aufl. 1995.

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schließlich ist unabdingbare Konsequenz der Rechtsstaatlichkeit, Kernbereich der Dritten Gewalt. Doch vor der Realität der Prozeßlawinen kapituliert immer wieder der Gesetzgeber des gerichtlichen Verfahrens; im öffentlichen Recht vor allem, von den Verfassungsbeschwerden36 bis zu den verwaltungs gerichtlichen Massenverfahren werden Äußerungsmöglichkeiten, wird letztlich der Rechtsschutz beschränkt, im Interesse tatsächlich funktionierender Rechtsstaatlichkeit. In all dem liegt immer nur eines: die Kraft einer Realität, der sich das Recht, bis zu seinem höchsten Ausdruck in der Verfassung, zu beugen hat. Auf die Wahrheitsfrage bezogen kann dies nur bedeuten: Es gibt eine "Staatswahrheit aus Realität", welche vom Recht, von der obersten politischen Gewalt, anerkannt und übernommen werden muß, mag sie dem Willen der Mächtigen noch so sehr widerstreben; und ebenso wie im Grundrechtsbereich sind diese Wahrheiten, die als Normen das Recht orientieren und verändern, höherer Art, letztlich in ihrer Effizienzbegründung so unveränderlich dem gesetzgeberischen Willen vorgegeben wie die Freiheitsideologie der Grundrechte. Wer danach also sucht im Staatsrecht, wer fahndet nach normunabhängigem, höchstrangigem öffentlichen Recht, nach einer ratio scripta, jenseits von allem Staatswillen - der sucht nach historischer und technischer Staatswahrheit, im Verfassungs- wie im Verwaltungsrecht. 3. Die Nähe von Realität und Recht, die wechselseitigen Einflüsse von menschlichem Normwillen und außernormativer Wirklichkeit sind, gerade in den vergangenen Jahrzehnten, wieder in zunehmendem Maß Gegenstand rechtswissenschaftlicher Untersuchungen geworden - im eigentlichen Sinne des Wortes, geht es hier doch um die Frage der Wahrheit in Recht und Staat: Die Rechtstatsachenforschung im weitesten Sinne des Wortes, von der Statistik bis zur Rechtssoziologie 37 , beschäftigt sich nicht nur mit Fragestellungen politischer Wissenschaft, sondern zu Erkenntnis und Bedeutung des Rechts: Wie "treffsicher" sind die Normen, wie genau erfassen sie eine Wirklichkeit, die sich von ihnen leiten läßt? Wie weitgehend gelingt es, umgekehrt, dieser Realität, an den Normen vorbei, oder gar gegen sie, menschliches Verhalten in Staat und Gesellschaft zu ordnen? Wie verhält sich das praktizierte, das "wahre" Recht zu dem papierenen, geschriebenen der Gesetze, was ist Normwirklichkeit? Wer solche Fragen untersucht, der forscht nach einer StaatsWahrheit, wie sie sich eben in der Symbiose von Norm und Realität täglich bildet. 35 Kirchhof, P., Deutsche Sprache, § 18 Rn. 26, in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. 1,2. Aufl. 1995; Isensee, J., Die typisierende Verwaltung, 1976; Tipke, K., Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 1993, S. 1501 f. 36 Schlaich, K., Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl. 1994, Rn. 251 m. weit. Nachw. 37 Albert, H., Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, 1993; ders.l Luhmann, N., Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972; Blankenburg, E., Empirische Rechtssoziologie, 1975; Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 180; Frommei, M. (Hg.), Normenerosion, 1996; Luhmann, N., Rechtssoziologie, 3. Aufl. 1987; Müller, F., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 43, 105 f. m. Nachw. z. Rspr. d. BVerfG.

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Tatsachen sind wahr oder unwahr, dies ist eine Grundnorm der meinungsfreien Demokratie 38 ; also kann nur nach der Staats-Wahrheit fragen, wer den tatsächlichen, insbesondere gesellschaftlichen Grundlagen und Wirkungen des Rechts nachgeht im Staat. Ein ungewohnter Sprachgebrauch mag es sein, hier von Norm-Wahrheit zu sprechen, davon, daß ein Gesetz, welches sich von der Realität allzu weit entfernt, unwahr werden könnte, "Macht-Lüge". Und doch ist letztlich kein anderes Wort am Platze. Verschüttet hat diese Erkenntnis nur jener Rechtspositivismus 39 , der da glaubte, es könne etwas geben wie eine in sich geschlossene, der Realität ferne und von ihr unabhängige Normenwelt - immer wieder, stündlich und täglich, muß sie im Zusammenprall mit der Realität ihre Wirklichkeit, ihre eigene Realität beweisen: ihre Wahrheit. Der Positivismus, für den es kaum eine sinnvolle Rechtstatsachenforschung geben konnte, wollte stets in Perioden hochentwickelter Rechtstechnik, in einem verständlichen geistig-juristischen Hochgefühl, über die Realität hinwegschreiten, sich von ihr völlig lösen. Verkannt wurde dabei, daß der gesetzgeberische Wille auch nur ein Teil der Wirklichkeit ist, ihr politischer Ausdruck, daß er "unwahr" wird, wo er die Realität nicht beugt, wo ihn nicht die Tatsachenwelt annimmt oder fortentwickelt. Mit dem Niedergang der absoluten Staatsgewalten in den letzten Jahrzehnten, mit der Öffnung des Staates zur Privatheit4o , hat sich eine Renaissance 41 der Rechtstatsachenforschung, der Rechtssoziologie vor allem, verstärkt, nicht zuletzt im gesamten Raum der politischen Wissenschaft. Im Grunde führt dies zu alten Quellen zurück, zu der nie gänzlich verkannten Tatsachenbasis der Normen. Zwei Beispiele dafür: In den internationalen Beziehungen hat die Diskussion um die sogenannte "Völkerrechtsleugnung" etwa den Empirismus des 18. Jahrhunderts als eine Ent-Rechtlichung hingestellt 42, weil es ihm nur um die Sammlung von Rechtstatsachen gehe, indem er Vertragssammlungen als Gesetzbücher des Völkerrechts zu entwickeln versuche, ohne nach dessen "normativen Grundlagen" zu fragen, jenseits aller "politischen Rechtstatsachen". In Wahrheit haben sich die völkerrechtlichen Normen weithin induktiv gerade aus diesen Realitäten entwickelt, und sei es auch nur in langsamer Entfaltung, unter Hinzutreten allerdings eines 38 Schmidt-Jortzig, E., Meinungs- und Infonnationsfreiheit, § 141, Rn. 20, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1. Aufl. 1989; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. I, 11, Rn. 51 - 54, Stein, E., Staatsrecht, 14. Aufl. 1993, § 37 III 1. 39 Zippelius, R., Rechtsphilosohpie, 3. Aufl. 1994, S. 78. 40 Dazu neuerdings vertiefend m. Nachw. Leisner, W, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 175 ff. 41 Denn die größte Zeit der Rechtstatsachenforschung war jenes 18. Jahrhundert, welches das "Droit public de I'Europe" aus tatsächlicher Verhaltenspolitik der (Haupt-)Mächte entstehen sah; vgl. für das Völkerrecht, in demselben Sinn, die Betonung der entscheidenden Bedeutung der diplomatischen Usancen, noch in Mannel diplomatique von Martens, eh. de, 1822, insbes. S. 3 ff. 42 Ziegler, K.-H., Völkerrechtsgeschichte, 1994, S. 234.

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"normativen Katalysators", des Gewohnheitsrechts 43 . Dennoch ist im Völkerrecht die Wirklichkeit immer mit normkorrigierender Macht aufgetreten 44 , bis hin zur vielkritisierten normativen Kraft des Faktischen, zur c1ausula rebus sic stantibus 45 . Das Völkerrecht kann eben nur Recht sein, soweit es sich international-politisch durchsetzen läßt, hier ist die Realitäts-Sensibilität am weitesten entwickelt; doch deshalb fehlt ihm nicht der Rechtscharakter, er hört vielmehr, umgekehrt, dort auf, wo der Realitätsbezug endet, erfolgt doch die letzte Durchsetzung des Völkerrechts gerade aus der politischen Realität heraus, in der tatsächlichen Reaktion der Parteien und der Völkergemeinschaft. In ähnlicher Weise, und dem herkömmlichen Gesetzesrecht noch weit näher, waren es ebenfalls Rechtstatsachen, welche vom Gesetzgeber gewollte Normen nicht nur randkorrigiert, sondern auch immer wieder, in eigentümlicher Verbindung mit staatlichem Willen, hervorgebracht haben: Nur so erklärt sich, als eine Erscheinung von "Recht aus Rechtsrealität", das Richterrecht seit seinen römischen Anfangen: Bürger tragen dem Prätor tatsächliche, in der Realität auftretende Machtfragen zwischen ihnen vor, die aus "ihrer kleinen Politik" kommen. Je nachdem in welchem Umfang, in welcher Häufigkeit, mit welchen Folgen sie auftreten, gibt dann der Prätor in seinem Edikt, das Gericht in ständiger Judikatur, die Antwort, für diese wie für alle ähnlichen Fragen - eine Norm ist aus Wirklichkeit geboren46 . Damit die folgende Untersuchung nicht erscheine als eine Betrachtung ohne aktuellen, ohne grundsätzlich-dogmatischen Rechtsbezug, mußten derartige Beziehungen aus dem juristischen Unterbewußtsein in die Klarheit einer Fragestellung gehoben werden: das Recht stellt in seinem Realitätsbezug die Wahrheitsfrage. Ein Staat, der sie nicht überzeugend, realitätsnah zu beantworten weiß, verfehlt eine Staatswahrheit, die ihm aus der Wirklichkeit vorgegeben ist. Und Aufgabe einer Wissenschaft der Wahrheitsfindung, eben der Rechtswissenschaft, muß es immer bleiben, den ,,rechtserträglichen" Abstand zur Realität zu untersuchen, als NormLüge zu entlarven, was sich von ihr allzuweit entfernt. Jede Zeit wird hier andere Antworten finden müssen; die einen werden darin Fortschritt zu erkennen glauben, die anderen Dekadenz - Staatswahrheit ist keines von beiden allein. Doch der Realitätsbezug des Rechts, die Wirklichkeit als Kriterium und Schranke der rechtlich anerkannten Staatswahrheit ist nur die eine Seite der Wahrheitsfrage an den Staat. Die andere betrifft die "Setzung von Wirklichkeit durch den Staat in Staatswahrheit", durch die Macht und ihr Recht. 43 Berber; F., Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1975, S. 40; lpsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 190 ff. 44 So vor allem im "politischen" Charakter des Völkerrechts, vgl. Berber (Fn. 43), S. 19 ff. 45 Kaufmann, E., Das Wesen des Völkerrecht und die clausula rebus sic stantibus, 1911, S. 128 ff. 46 Müller; F., Richterrecht, 1986, S. 80; Schachtschneider; K. A., Res publica res populi, 1994, S. 536 ff., 864 f.; Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 429 ff.

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A. Staatswahrheit und Staatswille

IV. Realitätsverändernder Normwille die Fiktionskraft des Rechts a) Fiktion als "normative Wirklichkeit"

Recht ist nicht nur ein Phänomen der Realität, in seinen Beziehungen zu dieser, seinem Abstand zu ihrer Unordnung oder ihrem Ordnungsbedürfnis erfaßbar. Das Gesetz ist - darin muß dem Dezisionismus gefolgt werden - in seiner äußeren Erscheinungsform Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, "expression de la volonte generale", er bleibt ihm, trotz all der dargesteIlen "Entvoluntarisierungen", Grundlage, Legitimation, interpretative Orientierung. Die viel kritisierten Normfluten demokratischer Gegenwart47 mögen den Rechtsstaat gefährden, die Majestät der Gesetze entweihen - eine Norm-Ehrlichkeit haben sie zurückgebracht: Die realitätsnahe politische Staatsform der Demokratie zeigt das Gesetz zuallererst wieder als das, was es im Grunde immer auch war: als Ausdruck eines Willens, nicht einer übermenschlichen, von der Vernunft zu erkennenden Wahrheit; darin beherrscht auch heute noch der Voluntarismus Staat und Recht. Dieser Wille mag noch so "hoch" stehen, von einem traditionellen Gesetzgeber, oder gar von einem Konsens der Jahrhunderte gesetzt sein - die Willensqualität bleibt allem Normativen stets erhalten, damit aber auch ein eigenartiger Realitätsbezug: Das Gesetz ist selbst Wirklichkeit, der Normwille unternimmt es, die Realität zu verändern. Soweit er sie zu erfassen vermag - aber eben auch nur so weit, nicht in einem geheimnisvollen Eigen-Automatismus bringt er seine Wirklichkeit täglich hervor, mehr noch: er verfestigt sie, solange er die Normen nicht ändert. Der Geltungsanspruch der Normen, der stets ein wesentlich überzeitlicher ist48 , hat diese Erkenntnis getrübt. Der Herrschaftswille, wie er in den Gesetzen zum Ausdruck kommt, hat sich stets absolut setzen, sich immer als etwas wie eine säkularisierte göttliche Wahrheit auf Erden verstehen wollen. Daher kam es dann zu jenem verhängnisvollen Wort von der "Selbstgesetzlichkeit", mit dem sich ein Normenwerk, ein juristisches System angeblich weiterentwickle, weit ab von allem konkreten Willen des Gesetzgebers 49 . Und da es einmal geschehen konnte, daß historische Entwicklung das Unikat des völlig willensgelöst erscheinenden Römischen Rechts hervorbrachte, hing die Rechtswissenschaft der Nostalgie eines wil47 Siehe f. viele Lenz, C. 0., "Gesetzesflut" und ihre Eindämmung, in: Festschr. f. Friedrich Schäfer, 1980, S. 66 ff.; Redeker, K., Gesetzesrationalität und verständliches Recht, NJW 1977, S. 1183 ff.; Starck, c., Übermaß an Rechtsstaat?, ZRP 1979, S. 209 f.; Leisner, w., Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 127 ff. 48 Zu den Wirkungen der Zeit auf dieses normative Rechtsverständnis vgl. neuerdings Winkler, G., Zeit und Recht, 1995. 49 Neuerdings sucht rechtliche Betrachtung dieses Denken sogar auf den "außerrechtliehen" Bereich, insbes. der Wirtschaft zu übertragen, um sich vor einer derartigen ,,selbstregulierung" zurückzuziehen. Vgl. dazu di Fabio, VVDStRL 5 (1996), S. 233 ff.; umgekehrt zur Realitätssetzung durch Gesetz neuerdings Jachmann, M., Die Fiktion im Öffentlichen Rcht,1998.

IV. Realitätsverändemder Nonnwille

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lensfernen Ius nach, als ob in diesem Recht selbst nichts mehr sei von Realität, als ob es lediglich der Wirklichkeit mit eigengesetzlicher Ordnungskraft gegenübertrete. Damit aber war etwas Entscheidendes verkannt: die realitätsverändernde Macht der Nonnen, die Fiktionskraft des Rechts, das sich nicht eine wirklichkeitsferne Eigenwelt, sondern eine eigene Wirklichkeit aufbaut. Je vollkommener dies zu gelingen schien, mit der Schubkraft der absoluten, hegelianischen Staatssouveränität50, getragen vom Kodifikationsoptimismus einer Aufklärung, die alles eigene Schaffen stets nahe an der Wirklichkeit sah - desto weniger mehr konnte eine Grundfrage das öffentliche Recht erreichen, die denn auch das 19. Jahrhundert fast dort völlig verschüttet hat, so eifrig auch das Privatrecht um sie bemüht war: die Grundsatzproblematik der Nonn als Fiktion5l , das Bemühen um die Grenzen des realitätsschaffenden staatlichen Gesetzeswillens an der Wirklichkeit. Dies nun ist eine andere Seite der Wahrheitsfrage an den Staat, wie sie im folgenden gestellt wird: Was kann der Staat proklamieren als "seine eigene Wahrheit", als Grundlage seiner Existenz, seines Rechts, als unbedingtes Ziel seines Gewalteinsatzes? Was ist allein schon deshalb "wahr", weil die Staatsgewalt es dekretiert, ohne Rücksicht auf eine Realität, die eben fingiert wird? Und "fingierte Rechtswahrheit" wird eben zuallererst ersetzt, nicht erkannt. Im herkömmlichen Verständnis bezeichnet Fiktion eine nonnative Gestaltung, bei der es gleichgültig ist, ob sie der Wirklichkeit entspricht, der gegenüber die Frage der Wahrheit nicht mehr gestellt wird; das Fingierte gilt, nicht "schon" weil es, sondern "nur" weil es die Staatsgewalt so als existent und damit als "wahr" proklamiert. Um der Staatswahrheit zu begegnen, ist von einem weiten Begriff der Fiktion auszugehen. Einzubeziehen ist alles, was der Staat ordnend setzt - dann aber stellt sich doch die entscheidende Frage, die zur Wahrheitsproblematik zurücklenkt: Wie weit entfernt sich dies von der Wirklichkeit, vor allem aber, wie weit darf es sich von ihr abheben, aus dem Wesen der staatlichen Fiktionsgewalt und ihrer eigenen Wahrheitssetzungsmacht heraus? Fiktionen ist also nicht nur dort nachzugehen, wo der Staat eindeutig und absichtlich an der Wirklichkeit vorbei seine Realität ordnend setzt und durchsetzt. Einen gewissen Fiktionsgehalt hat vielmehr jede nonnative Ordnung, in der Auswahl der Voraussetzungen wie in den Rechtsfolgen der Nonnen: Wer wegen Irrtums anfechten darf, zu dessen Gunsten wird eben unterstellt, daß die Erklärung "dann" seinem Willen insoweit nicht entsprochen habe; und das Gesetz knüpft daran "seine" Rechtsfolge: die Willenserklärung verschwindet aus der rechtlichen Realität. Für die Rechtsgenossen führt dies zu einer Fest50 Zum Sinn des "Staates als geistiges Sein" vgl. Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1833, §§ 257 ff. 51 Ausgewählte Nachweise zu dem "fast unübersehbaren" Schrifttum zur gesetzlichen Fiktion bei Larenz, K.lCanaris, c.-w., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 83; vgl. dort auch grundlegend die Ausführungen zum Wesen der Fiktion, S. 83 ff.

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A. Staatswahrheit und Staatswille

stellung, in der Resignation mitschwingen mag. Es war zwar vielleicht anders, aber das Recht will es so - dies ist nun seine Wahrheit, der Richter verkündet sie als eine eben solche, nicht als Diktat eines politischen Willens, der als solcher an ständigem politischen Gegenbeweiswillen der Gewaltunterworfenen auf die Dauer scheitern würde. Orientierung aller Bemühungen um die Staatswahrheit bleibt dennoch der Realitätsbezug 52 : Ist die Wirklichkeit politisch stark genug, so zwingt sie sich dem Normgeber auf; ist es der Staat und seine Gesetzgebung, so zwingen sie sich den Fakten auf, drängen die Realität durch ihre eigene Willens-Wirklichkeit zurück, bis hin zu völlig realitätsblinder Normfiktion. All diese Fiktionen müssen sich jedoch stets messen lassen in "Realitätsabständen": Nur bis zum gewissen Grad, der bereichs weise unterschiedlich zu bestimmen sein mag, kann die staatliche Wahrheit an die Stelle der außernormativen Tatsachenwahrheit treten. Ein Hauptthema der folgenden Ausführungen wird sein: die Macht des Staates zwischen Realität und realitätsunabhängiger, wirklichkeitsgestaltender Fiktion.

b) Die notwendige Realitätsnähe der Fiktion

Was immer das Ziel der Fiktion sein mag - von der Gleichsetzung realer Tatbestände bis zur Kontinuitätswahrung - stets findet sie ihre Schranke an jener Wirklichkeit, welche ihr realer Wahrheits-Maßstab bleibt, ihr nur insoweit ihre normschöpferische "normative Kraft des Faktischen" verleiht, als das Recht sich an diesem Kriterium ausrichtet, sich von seinen Inhalten jedenfalls nicht allzu weit entfernt. Drei Beispiele bedeutsamer, grundsätzlicher Rechtsphänomene, gerade aus letzter Zeit, mögen die Problematik der Realität als Inhalts- und Schrankenbestimmung vor allem normativer Staatswahrheit verdeutlichen, eine Wirklichkeitsöffnung des Rechts, in welcher wirklichkeits setzende Kraft der Fiktion in Wirklichkeitsabbildung umschlägt: - "Bestandsschutz" ist eine neutrale Gestaltungsform des öffentlichen Rechts, eine wahre "Grundnorm", vor allem im Baurecht53 . Das Recht mag sich über Absichten, Bestrebungen, Chancen hinwegsetzen, in denen sich immerhin oft wirkmächtige Realitäten ausdrücken, denen Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen. Erst wenn sich diese Wirklichkeiten in einem "Bestand" verdichten, dessen aufstrebende Mauem die Inswerksetzung unübersehbar abbilden, endet an ihnen die Fiktionskraft des Rechts; es darf keine Regelungen setzen, "als 52 Wobei es zunächst gleich bleibt, ob die rechtliche Entscheidung aus einem normativen oder einem logischen Idealtypus im Sinne von Max Weber gewonnen wird (vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Auf). 1964, Bd. 1, S. 9 ff.). 53 Brohm, W, Öffentliches Baurecht, 1997, § 21, Rn. 24 ff.; Hoppe, WIGrotefels, S., Öffentliches Baurecht, 1995, § 2, Rn. 59 f.; grundlegend Friauf, K., Zum gegenwärtigen Stand der Bestandsschutz-Problematik, WiVerw., 1986, S. 87 ff.; zum Bestandsschutz außerhalb des Baurechts vgl. Sendler, H., Bestandsschutz im Wirtschaftsleben, WiVerw. 1993, S. 235 ff.

V. Am Ende "reiner Gewalt"

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gebe es diese Wirklichkeit nicht". Das Eigentumsgrundrecht wird zur großen Sanktion der Realität. - Der "Markt", die "Märkte" sind die mächtigste ökonomische und politische Kraft neuerer Tage. Das Recht wird stets versuchen, sie zu reglementieren, ihre Realität durch Fiktionen aus seinem System auszublenden. So wird etwa "unterstellt", dem Unternehmer gestatte es seine grundsätzliche Dispositionsfreiheit, "durch eigene Leistung" dem Marktdruck stand zu halten. In der Verfassungsrechtsprechung ist dies bis zur wirklichkeits fernen Fiktion gesteigert worden. Demgegenüber erzwingt jedoch die Realität, vor allem globalisierter Wirtschaften, "marktoffenes Verfassungsrecht"s4. - "Leistungsfähigkeit" des Steuerbürgers soll die Abgabenbelastung rechtfertigen. Dann aber darf sie nicht beliebig fingiert, unterstellt, bei einer Kategorie von Abgabenpflichtigen mit der Leistungsfähigkeit einer anderen normativ gleichgesetzt werden. Denn die Steuergesetze haben hier "die Wirklichkeit abzubilden"ss. Ausgehend von solchen Ansätzen muß eine Lehre vom "öffentlichen Recht als Abbildung der Realität" entwickelt werden, als "Staatswahrheit (nur) nach Wirklichkeit". Hier kann sie nicht geboten, es kann nur die Frage grundsätzlich aufgeworfen werden. Die folgenden Betrachtungen müssen sich vielmehr darauf beschränken, was die Macht rechtlich im Namen der Wahrheit versucht - oder gegen sie - dabei wird allerdings "Realität als Wahrheit", damit als Schranke allzu beliebig gesetzter Staatswahrheit, immer wieder sichtbar werden.

v. Am Ende "reiner Gewalt" zurück zur Wahrheit als Machttechnik Die Frage nach der Staatswahrheit, insbesondere nach dem Abstand, den sie höchstens - zur Realität halten darf, zu den "wahren Tatsachen", drängt sich heute mehr denn je auf. Vergangen sind die Zeiten der "reinen Gewalt"; in einer von Medien beherrschten Politik geht es um die Macht der wahren oder vermeintlich vorliegenden Tatsachen. "Daten" und "Information" sind Kernworte gesellschaftlichen wie staatlichen Lebens geworden. Der Sieg der Tatsachen scheint perfekt über Ideologien und den Glauben. Die Staatsgewalt muß sich daher, wie nie zuvor, aus Erkennbarem legitimieren, aus dem, was eine Welt verbreiterter, wenn auch nicht vertiefter, Bildung gerade noch als ihre Wahrheit aufnehmen kann. Akzeptanz, ein weiteres Kernwort, hat einen deutlichen Tatsachen-, keinen primären Wertungs bezug: Tatsächliches, Überprüfbares wird erwartet und hingenommen, Siehe dazu Leisner, W, Eigentum (Hg. Isensee), 1996, S. 697 ff. Vgl. dazu grundlegend den VSt- und den ErbSt-Beschluß des BVerfG NJW 1995, S. 2615 (2617); 2624 (2625). 54 55

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A. Staatswahrheit und Staatswille

nicht die von Autoritäten gesetzte Wertung. Entscheidend bleibt daher immer, inwieweit sich in diese "Tatsachen" gewisse Wertungen hineinschieben können 56 aus der Sicht der Staatswahrheit bedeutet dies: wie weit die Staatsautorität ihre gesetzgeberischen, ihre machtmäßigen Wertungen als akzeptable Tatsachen verkaufen kann, im wahren Sinne des Wortes, damit ihr jener Konsens zurückkommt, aus dem sie lebt. Denn auch dieses neue wichtige Wort57 von der staatstragenden Übereinstimmung ist tatsachengewendet, hat einen wesentlichen Wahrheitsbezug: Der wahren Tatsache ist unvergleichliche konsensschaffende Kraft eigen, sie allein ist alternativlos, ermüdender politischer Diskussion entzogen. Akzeptanz- wie Konsenskategorien haben also zwar noch immer eine WillensGrundlage, nie wird sich aus Staat und Politik dieses voluntaristische Mittragen der Staatsentscheidung durch den Bürger, den Genossen in Macht- und Parteiapparat, eliminieren lassen. Doch all dem überlagert sich immer mehr, als Motiv der Willensentscheidung, der Wahrheitsgehalt des Angenommenen - die Staatswahrheit. Mit Wahrheit müssen daher die Herrschenden ihre Strenge verbrämen, Richtiges, Nachprüfbares, am besten noch wissenschaftlich Beweisbares den Bürgern vorstellen, nicht wie früher zum Glauben, sondern zum selbstbewußten, rationalen Gehorchen. Trotz primitivierender Tendenzen bricht im Staat eine Zeit des Intellektualismus an; und was wäre die heute so wirkmächtige Demagogie anderes als primitive Vorstufe eines Intellektualismus der Macht? So bleibt denn die folgende Untersuchung über die Staatswahrheit im weiteren Rahmen der Reihe dieser Betrachtungen: zu den Techniken der Macht58 . Großes gemeinsames Thema ist die Unfühlbarkeit der Staatsgewalt, welche den Bürger in einer Illusion der Freiheit wiegt oder eine Freiheitsanstrengung als unnötig erscheinen läßt59 . Da mag sich dann der starke Staat aus den äußeren Formen seiner Machtausübung zurückziehen, sich einer Abwägung anvertrauen, welche Gewaltlosigkeit zur Schau trägt und sorgfältige Sachlichkeit - oder er verbirgt sich hinter der Wahrheit ihm vorgegebener Realitäten, während er gleichzeitig seine eigenen Entscheidungen als wahre Tatsachen, als wirklichkeitsnah ausgibt.

56 Dies ist das Kernproblem des Art. 5 Abs. 1 GG: Die Abgrenzung von Wertung und Tatsache, Tatsachensammlung, -annahme, -darstellung als Wertung, vgl. dazu BVerfGE 85, 1 (15 f.) sowie im folgenden B, I. 57 lsensee, J., Staat und Verfassung, in: HdBStR (Hg. Isensee I Kirchhof), Bd. I, 2. Auf!. 1995, § 13 Rn. 164; Schachtschneider; K.A., Res publica res populi, 1994, S. 526 ff., 1099 ff. 58 Vgl. dazu Leisner; w., Der Abwägungsstaat, 1997, S. 152. 59 Zentrales Anliegen des Steuerrechts ist es etwa, die Fühlbarkeit der Belastung zu vermeiden, um den Steuerwiderstand in Grenzen zu halten. Andererseits wird dort progressive Belastung, ebenso wie im Strafrecht (§ 40 Abs. 2 S. 1 StGB: "Die Höhe eines Tagessatzes bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse.") doch wieder mit der verfassungsgebotenen gleichen Belastung für "Arme" und "Reiche" begründet.

VI. Der Staat - Gott der Wahrheit auf Erden

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Entscheidend an diesen Techniken und ihnen gemeinsam ist stets vor allem ein Doppeltes: Zum einen darf es ihnen gegenüber keine eindeutige, klare, leicht zu formierende Gegengewalt geben können. Diese Voraussetzung erfüllt die Staatswahrheit, in welcher Form immer, in vorzüglicher Weise: Gegen die "Wahrheit" als solche wird niemand antreten, niemand den Staat auf breiter Front der Lüge bezichtigen; niemand kann mit vergleichbarem Gewicht seine eigenen Dogmen als Wahrheit ausgeben. Diese Technik der Macht mag nicht immer wirksam sein, bekämpfen wird man sie als solche nie, schon weil sie eine entscheidende zweite Voraussetzung erfüllt: Sie läßt sich leicht und in kleinen Wendungen immer wieder nahezu beliebig ändern, adaptieren, manipulieren. Vielfältige Räderwerke laufen hier ineinander, für jeden Bereich in Staat und Verwaltung, vor allem der Gesetzgebung, können andere Fiktionsräume eröffnet, unterschiedliche Realitäten als vorgegeben anerkannt oder abgelehnt werden. Eine einheitliche Kontrolle des Wahrheitsgehalts oder der Fiktionselemente ist ebensowenig möglich wie eine solche über die Sichtbarkeit der Staatsäußerungen oder die Sachgerechtigkeit der Abwägung 60 . Denn jener Bürger, der heute so viel mehr ,,Fakt" will, weniger "Macht" durch beugenden Willen - auch er kommt weder über die grundsätzlichen Erkenntnisschwächen des Menschen hinaus, seiner Realität gegenüber, noch - erst recht nicht - über eine Wirklichkeits- und Wahrheitsvernebelung, welche die Welt der Kommunikation und ihrer Medien um ihn verbreitet. Weil nichts schwerer zu erkennen, nichts leichter zu verändern ist als der Wahrheitsgehalt, in der Politik zumal, kann die Macht einen ganz neuen Weg einschlagen: den der "Flucht in die Wahrheit" - oder was sie dafür ausgibt61 . Zu der dogmatisch faßbaren Größe von Staatsformelementen mag dies nicht hinaufwachsen - aber es ist überall gegenwärtig in Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit, in immer großzügigerem Umgang mit der Realität, in stets noch bequemeren und weiteren Fiktionen trägt es den Staat. Und in wessen Namen sollte der Bürger dem widerstehen, wenn nicht in dem einer anderen Wahrheit, ist er aber nicht dabei, die einzige aufzugeben, die jahrhundertelang die Macht in Grenzen gehalten hatte, und die Staatswahrheit: die einer staatskritischen Religion?

VI. Der Staat - Gott der Wahrheit auf Erden Ob die Mächtigen unserer Zeit dies erkennen oder unbewußt praktizieren - der Staat wächst auch hier zu einem Gott auf Erden hinauf, seine alternativlose Unentbehrlichkeit muß sich daher mit den großen Attributen der alten Gottheiten schmücken. Leisner, W, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 125 ff., m. weit. Nachw. Nachdem der Staatsgewalt immerhin nunmehr eigene Öffentlichkeitsarbeit gestattet ist (Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 310 f., m. weit. Nachw.), wenn auch in Grenzen (BVerfGE 44, 125 [147 ff.)). 60 61

A. Staatswahrheit und Staatswille

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Gott ist die Wahrheit62 , das Wahre ist gottähnlich - dies ist die erste, wenn nicht die wichtigste Legitimation absoluter Macht, im Himmel wie auf Erden, daß sie "wahr sei", eine unbezweifelbare Tatsache. Gott als Wahrheit bedeutet, daß er existiert63 , nur dann kann er allmächtig sein und gut. In seiner Wahrheit liegt der Existenzbeweis Gottes, gnoseologisch der erste Gottesbeweis überhaupt; der unsichtbare Allmächtige wird darin zur Realität. Deshalb bedeutet die Staatswahrheit nichts anderes als den Staatsbeweis. Die Macht existiert, sie kann ebenso "erkannt" werden wie ihr Recht. Rasch folgt dann der nächste Schritt: Da sie den "wahren" Realitätsbezug menschlichen Willens verkörpert, bewirkt sie das "Richtige", die Staatswahrheit wird zu etwas wie einer intellektuellen Staatsrechtfertigung. Je bruchloser sie die Wirklichkeit fortdenkt, diese also nur zu ordnen scheint, wo nötig allerdings auch mit "eigenen Wahrheiten", desto mehr kommt ihr aus diesem Realitätsrespekt an Legitimation zurück. Trefflich geordnete Schöpfung war noch immer ein Gottesbeweis 64 ; realitätsnahe Gesetze, konsensgetragene Normen und Administrationen sind das Zeichen des Gottes auf Erden. Denn in all dem ist Staatswahrheit, Staatsbeweis. Techniken rufen nicht Begeisterung hervor, sie funktionieren. Die großen Staatsprinzipien, welche die dauernde Ordnung tragen - Erfolg, Wiedergeburt, Größe, Einung 65 - sie wirken auch, ja zuerst durch ihre Überzeugungskraft, durch den Enthusiasmus zum Staat, der aus ihnen erwächst. Vielleicht kann aber die Macht der Gegenwart weithin auch ohne all dies auskommen, bleibt ihr nur eines geschenkt: eine funktionierende Staatstechnik, welche nicht begeistert, wohl aber alternativlos überzeugt. Dem geht vor allem eine Bemühung nach: die Frage nach der Staatswahrheit.

Joh. 14,6. So heißt es dann bei Thomas von Aquin, Summa theologica, I, qu. 16, art. 5 ("Utrum Deus sit veritas") "Veritas invenitur in intellectu ... et suum (Dei) intelligere est causa et mensura omnis alterius esse." 64 Das Abirren menschlicher Sünde ist nur ein "accidens" gegenüber der wesentlichen Gotteswahrheit (Thomas von Aquin, Fn. 63, a.E.) - also ist auch der Ordnungsverlust (vgl. Leisner; w., Demokratische Anarchie - Verlust der Ordnung als Staatsprinzip, 1982) kein Beweis gegen die Staatswahrheit. 65 Wie sie betrachtet wurden in den Untersuchungen von Leisner; w.. Der Triumph, 1985; ders., Staatsrenaissance, 1987; ders., Monumentalstaat, 1989; ders., Staatseinung, 1991. 62

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B. Begriff und Erscheinungsformen der Staatswahrheit Allgemeines I. Tatsache als Wahrheit - Wertung als Tatsache 1. "Wahre Tatsachenbehauptung" ein Verfassungsbegriff der Wahrheit?

Der Begriff der Wahrheit kommt in den demokratischen Verfassungen als solcher nicht vor. Indifferent steht die Demokratie in ihrer religiösen Neutralität den WahrheitsanspfÜchen der Religionsgemeinschaften gegenüber] . Das Wahrheitsproblem stellt sich für sie - bei erster Betrachtung zumindest scheint es so, im folgenden Hauptteil wird dies allerdings zu problematisieren sein - in einer besonderen, zum Teil geradezu "negativen" Weise: in der Suche nach der politisch besten, nicht primär nach der "wahren" Lösung; kein Zwang darf ausgeübt werden, sich irgendeiner Meinung, einer Wertung anzuschließen 2 . Und doch kennt diese meinungsfreiheitliche Staatsform einen besonderen Wahrheitsbegriff, sie rezipiert ihn, wenn auch nur indirekt, in ihr Verfassungssystem: Eine Meinungsfreiheit für Unwahrheit gibt es nicht, die Aufstellung unwahrer Tatsachenbehauptungen und deren Verbreitung genießen keinen rechtlichen Schutz3 . Eine Tatsache allein kann also, so scheint es doch, wahr oder unwahr sein; das Staatsrecht hat hier letztlich nur - "Verfassung nach Gesetz" - eine Begriffsverbindung "Wahrheit-Tatsache" übernommen, welche dem Prozeßrecht aller Art von jeher zugrunde liegt, besonders dem Strafrecht der Beleidigung und Verleumdung 4 : ] Diese Neutralität des Staates (vgl. v. Campenhausen, A., in: HdBStKirchR (Hg. Listll Pirson), Bd. I, 2. Auf). 1994, § 2, VII) bezieht sich insbesondere auf den Wahrheitsgehalt religiöser Lehren. 2 BVerfGE 86, 122 (128). 3 BVerfGE 85, 1 (15); 90, 241 (247); Schulze-Fielitz, H, in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5, Rn. 28; Pieroth, B./Schlink, B., Staatsrecht 11 - Grundrechte, 12. Auf). 1996, Rn. 608; a.A. Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Auf). 1992: Einbeziehung falscher Tatsachenmitteilung in den Schutzbereich, Berücksichtigung bei der Abwägung mit kollidierenden Rechten Dritter oder sonstigen verfassungsrechtlich geschützten Gütern mit "gegen Null tendierendem Gewicht"; Thieme, W, Über die Wahrheitspflicht der Presse, DÖV 1980, S. 149 (159); Köhler, M., Zur Frage der Strafbarkeit der Leugnung von Völkermordtaten, NJW 1985, S. 2389 (2390). 4 "Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, ... wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren und mit Geldstrafe ... bestraft" (§ 187 StGB). 3 Leisner

B. Staatswahrheit - Allgemeines

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Tatsachen sind wahr oder unwahr, Werturteile, Meinungen können richtig oder unrichtig sein, grundsätzlich genießen sie den Schutz der Meinungsfreiheit, eine Wahrheitsfrage stellt sich hier nicht. "Die Wahrheit" in diesem Sinn ist nicht nur an den Tatsachenbegriff gebunden, sie setzt überdies noch "Erweislichkeit,,5 voraus: Wahr ist nur, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der faktischen Realitätslage entspricht. Ein kleines "Restrisiko der Unwahrheit" wird in Kauf genommen, mehr aus praktischen Gründen als in Anerkennung einer letzten Erkenntnisunsicherheit des Menschen. Wäre dies der Wahrheitsbegriff im Staat, in der Rechtsordnung überhaupt, so könnte die Untersuchung hier schließen. Die politisch Herrschenden werden zwar stets versuchen, ihren Entscheidungen eine möglichst zutreffende, eben eine "wahre" Tatsachenlage auch in diesem engen Sinne zugrunde zu legen. Im Rechtsstaat kann eine Entscheidung, die auf falschen Tatsachen beruht, grundsätzlich nicht von Bestand sein6 ; darin setzt sich wiederum nur das prozessuale Grundprinzip durch, daß unvollständige Wahrheitserrnittlung 7, unwahre Tatsachengrundlagen jede staatliche Entscheidung rechtswidrig machen, aufhebbar, wenn nicht sogar nichtig. Doch dies sind Probleme des Verfahrensrechts, nicht des Staatsrechts, der politischen Ordnung des Gemeinwesens. Nur selten hält sich die politische Diskussion, der Kampf ums Recht in Parlamenten und Verwaltungen, auf bei solchen Wahrheitsproblemen. Mehr noch: Der eigentliche Bereich der Politik beginnt überhaupt erst dort, wo die reine Tatsachenlage geklärt oder unproblematisch ist, wo über sie Konsens besteht - nicht aber über die beurteilungsmäßigen Folgerungen, die es nun daraus zu ziehen gilt. In diesem Sinn setzt Politik ein, wo die Wahrheit des Prozesses endet8 , und das öffentliche Recht ist insoweit dem jenes Zivilprozesses verwandt, in welchem wiederum auch gleichgültig ist, ob eine Tatsache objektiv wahr ist oder nur subjektiv, vom Konsens der Streitteile getragen. Im "politischen Recht" von Staat und Verwaltung kann jedoch grundsätzlich der Wahrheitsbegriff nicht auf die objektive Tatsachenfeststellung beschränkt bleiben, er greift über in den Bereich einer, im weiteren Sinne des Wortes, "politischen 5 Dreher; E. /Tröndle, H., StGB und Nebengesetze, 48. Aufl. 1997, § 190 Rn. 1; Herdegen, M., in: Leipz. Komm. z. StGB, 10. Aufl. 1989, § 186, Rn. 1; Helle, E., Die Unwahrheit und die Nichterweislichkeit der ehrenrührigen Beauptung, NJW 1964, S. 841 ff.; Streng, F., Verleumdung durch Tatsachenmanipulation, GA 1985, S. 214 ff. 6 Schmidt, in: Karlsruher Komm. z. StPO, 3. Aufl. 1993, vor § 359, Rn. 1 ff.; Buchwald, D., Prinzipien des Rechtsstaats, 1996. 7 Grummer; P., in: ZPO mit GVG (Hg. Zöller), § 550 Rn. 1. 8 In diesem Sinn ist "Politik" auch für das BVerfG der Bereich jenseits feststellbarer Tatsachen; allerdings sieht das Gericht diese Schranke seiner Feststellungsgewalt nur zu bald erreicht, wie etwa die Entscheidung zum Wahrheitsgehalt des angeblichen sowjetischen Vetos gegen eine Rückgängigmachung der "demokratischen Bodenreform" in der früheren SBZDDR (BVerfGE 94, 12 (33 ff.) zeigt.

w.,

I. Tatsache als Wahrheit - Wertung als Tatsache

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Wahrheit". Die Funktion des Begriffs der "Tatsachenwahrheit", ihre Bedeutung im Recht, variiert denn auch, je nachdem, ob es um die Abgrenzung von privaten Äußerungssphären der Bürger untereinander geht oder um die Gestaltung des Gemeinschaftslebens, um das Verhältnis des Bürgers zum Staat. Der erstere Fall ist wesentlich "unpolitisch", er soll möglichst eindeutig in greifbaren, objektiven Tatsachenfeststellungen entschieden werden, eben vom unpolitischen Richter. Der politische Prozeß "Man versus State" dagegen ist einer vergleichbaren "Beweisaufnahme" schwer nur zugänglich, hier wird zwischen Mehrheitswillen und Bürgerfreiheit entschieden. Und doch wird auch hier der Wahrheitsbegriff eingesetzt, er wird zur politischen Waffe, wie noch näher zu zeigen sein wird. Die grundsätzlichen Unterschiede des Tatsachenwahrheiten erforschenden Prozeßrechts und des Willensrealitäten setzenden "politischen" Staats- und Verwaltungsrechts sollten zur Vorsicht in einem Bereich mahnen, in dem der Prozeß zur Entscheidung vor allem staats- und verwaltungsrechtlicher Rechtsetzungsfragen eingesetzt wird, heute in steigendem Maße: in jener Verfassungsgerichtsbarkeit, welche mit dem Anspruch der richterlichen Wahrheitserforschung auftritt9 - und dann doch weithin politische, allenfalls noch normtechnisch zu begründende Urteile über Wertungen der anderen Staatsgewalten fällt. Hier tritt eine oberste Staatsinstanz mit dem Ethos der Wahrheitserforschung auf, im Sinn der Feststellung von Tatsachen, in Erfüllung der vornehmsten Aufgabe des gerichtlichen Prozesses. Über die Erforschung von Tatsachenwahrheiten gehen solche judikative Anstrengungen weit hinaus, sie erlangen, auf breiter Front, Rechtssetzungsbedeutung. Stellen sich hier dann aber nicht in erster Linie Rechtsrichtigkeitsfragen, i.S. herkömmlicher Terminologie? Jedenfalls ist Vorsicht geboten beim Einsatz des Prozeßinstruments zur Findung des "richtigen Rechts" oder gar bei der Gleichsetzung von Recht und Verfahren, wenn letzteres sich immer mehr dem Idealbild des gerichtlichen Prozesses nähern so11 lO ? Bei der Behandlung der "demokratischen Staatswahrheit"ll wird dies noch zu vertiefen sein. Eines jedenfalls darf nicht vorschnell geschehen: Auf Tatsachenwahrheiten im prozessualen Sinn läßt sich die Staatswahrheitsfrage nicht von vorneherein beschränken; "wahre Tatsachenbehauptung" ist kein Verfassungsbegriff der Staatswahrheit.

9 Wie ja die - immer weiter ausufernden - Sachverhaltsdarstellungen in der Judikatur des BVerfG zeigen vgl. etwa (BVerfGE 87, 153 ff.; 90, 286 ff.). 10 Aus dem es, im Namen der Rechtsstaatlichkeit, ersichtlich entwickelt worden ist. "Wie das gesamte Verwaltungsrecht ist auch das VerwaItungsverfahrensrecht des VwVfG und der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder konkretisiertes Verfassungsrecht" (Kopp, F., VwVfG, 6. Auf!. 1996, Vorbem. § I Rn. 4). 11 Vgl. unten C.

3*

B. Staatswahrheit - Allgemeines

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2. Sein und Sollen - Recht jenseits aller Wahrheitsfragen?

Die These vom Grundsatzunterschied zwischen der "Seinsordnung der Realität" und der "Sollensordnung des Rechts" gehört zu den begrifflichen Standardrequisiten der allgemeinen Rechtslehre 12. Nirgends ist sie grundsätzlicher zum Gegensatz gesteigert worden als im öffentlichen Recht dieses Jahrhunderts, wo Hans Kelsen die letzten Brücken der normativen Kraft des Faktischen abbrechen wollte, die Sollensordnung völlig beziehungslos der Realitätswelt des politisch oder gesellschaftlich Existierenden gegenüberstellte l3 . Anleihen mag diese Sollensordnung immerhin aufnehmen bei der Realität, in der Suche nach tatsächlich existenten Sachverhalten, die das Recht ordnen soll. Wenn diese aber in die Welt des Rechts "hineingenommen", wenn aus solchen tatsächlichen Voraussetzungen Rechtsfolgen abgeleitet werden, so vollzieht sich dies in einem völlig anderen Koordinatensystem, in dem des Rechts, nicht in dem des "wahrhaftig Seienden". Der Wahrheits begriff bezieht sich hier als solcher primär auf Feststellung der Wirklichkeit. Aus den Tatsachen-Voraussetzungen des Rechts werden sodann wertende Folgerungen gezogen, rechtliche Urteile, die aber, so scheint es doch, mit der Wahrheitsfrage nichts mehr verbindet. Kennt die eigenständige Welt des Rechts nur ihren Begriff der "Richtigkeit", liegt nicht selbst in der Feststellung wahrer Tatsachen lediglich ein Richtigkeitsproblem, ebenso wie in dem Verfahren, in welchem diese Wahrheit erforscht wird?

In all dem zeigt sich der - wissenschaftstheoretisch legitime - Versuch, die Eigenständigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft zu erweisen, sie nach dem Verlust der historischen Tatsachenforschung um das Römische Recht wieder als eigenständige Geisteswissenschaft zu begründen. Dabei könnte jedoch ein folgenschwerer Fehler unterlaufen; daß in der Beschränkung auf die Sollensordnung, auf die dort allein wichtige Rechtsrichtigkeitsfrage, die Jurisprudenz abgekoppelt würde von jener Wahrheits frage, welche aber allein wissenschaftliches Bemühen trägt. Demgegenüber wird hier, von vorneherein, ein anderer Problemansatz gewählt: ,,staatswahrheit" bedeutet nicht allein die Frage nach der Existenz rechtserheblicher Tatsachen in der Realität, sondern auch, ja vor allem, nach dem Wahrheitsgehalt rechtlicher Beurteilungen, etwa nach dem Kriterium von deren "Realitätsnähe"; Wie nahe müssen Seinswelt und Normenwelt, Seinsordnung und Sollensordnung beieinander liegen, damit das Recht das Wahrheitssiegel verdient?

12

Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriffe, 2. Aufl. 1991, S. 44; Drei-

er, R., Sein und Sollen, JZ 1972, S. 329.

13 "Ist erkannt, daß die Existenzsphäre des Staates normative Geltung und nicht kausale Wirksamkeit (ist), daß jene spezifische Einheit, die wir in den Begriff des Staates setzen, nicht in der Welt der Naturwirklichkeit, sondern in jener der Normen oder der Werte liegt, ... , dann ist damit die Erkenntnis, daß der Staat als Ordnung nur die Rechtsordnung oder Ausdruck ihrer Einheit sein kann, eigentlich schon erreicht" (Kelsen, H., Allg. Staatslehre, 1966,S. 16).

I. Tatsache als Wahrheit - Wertung als Tatsache

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Ein Mißverständnis darf nicht aufkommen: Es geht nicht darum, die Eigenständigkeit der Methode rechtlichen Erkennens und Bewertens zu leugnen; doch an dessen Ende beginnt erst die hier gestellte Wahrheitsfrage: wie nah dieses Sollen dem Sein ist - sein muß, in Staatswahrheit. Trennt man dagegen radikal Sein und Sollen, Wertung und Tatsache, Richtigkeit und Wahrheit, so wird am Ende stets die Wahrheitsfrage, insbesondere die nach dem Realitätsbezug übersprungen; das Recht endet in einer Wirklichkeitsfeme, die man ihm seit Jahrhunderten zum Vorwurf macht, die heute, als "Bürgerfeme", verhängnisvolle politische Folgerungen für die Staatsordnung insgesamt nach sich ziehen muß.

3. Der weite Wahrheitsbegriff - die Wertungs-Wahrheit

In Wahrheit - in jedem Sinne dieses Wortes - ist die wissenschaftstheoretische wie die praktisch-politische Entwicklung seit langem über eine Verengung des Wahrheitsbegriffs auf die Tatsachenwahrheit hinweggegangen. Die "richtige" Wertung mag als solche nicht "Wahrheit" genannt werden, entscheidend geht es bei ihr immer um Wahrheitsgehalt, jedenfalls im Sinn der Realitätsnähe. "Staat" ist eine Organisationsform, in welcher sich die Menschen die Erde Untertan machen wollen und sollen. Sie müssen deren Wirklichkeit erfassen, ihre Kräfte richtig beurteilen und einsetzen; in all dem liegt letztlich vor allem eines: eine Form der Realitäts-Interpretation, welche die Wirklichkeit ordnet, das für den Menschen Bedeutsame 14 herausgreift. Die Suche nach derartigen Organisationsformen und -instrumenten kann nicht für die Organisationslehre "reine Wahrheit" sein, im Recht aber, das doch dafür erst Grundlagen und Rahmen schafft, eine "ganz andere", eine Sollenswissenschaft. Das Recht handelt von Beurteilungen, von zwischenmenschlichen Bezügen wie von Beziehungen zwischen der Macht und den ihr Unterworfenen. Seine Wertungen sind in gleicher Weise Ausdruck geisteswissenschaftlichen Bemühens um die Wahrheit wie die Interpretationsanstrengungen des Philologen, die Wahrheitssuche des Philosophen und der ästhetischen Wissenschaften. Dies mag keine naturwissenschaftliche Tatsachenerforschung sein; doch wenn der Wahrheitsbegriff auf diese letztere beschränkt wäre - könnte es dann überhaupt noch Geisteswissenschaft geben? So sucht denn das Recht, wie etwa auch die technischen Disziplinen, nach der besten, der Realität nächsten, der am meisten ihr und den Bedürfnissen der Interpretationsempfänger entsprechenden Lösung. Dies ist dann seine "Staatswahrheit", 14 Dies verkennt die modernistische Absage an die Anthropozentrik im Naturschutzrecht, welche "die Schöpfung" um ihrer selbst, nicht um des Menschen willen schützen will (zur Diskussion darüber im Naturschutzrecht vgl. Kimminich, 0., Prüfstein der Rechtsstaatlichkeit, 1987, S. 46 ff.; v. Lersner; H., Gibt es Eigenrechte der Natur, NVwZ 1988, S. 988 ff.; Sening, c., Eigenwert und Eigenrechte der Natur, NuR 1989, S. 325 ff.) - zumindest erkenntnistheoretisch, also vor allem hinsichtlich der "Staatswahrheit", gibt es seit Kant nichts anderes als Anthropozentrik.

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

welche geglaubt wird - oder erzwungen. Unterscheidet sie sich wirklich, ihrem Wesen nach, von jenen religiösen Glaubensinhalten, welche stets als "Wahrheiten" der christlichen oder anderer Religionen bezeichnet wurden? Getragen waren diese theologischen Wahrheiten vom Glauben - doch ihm entspricht der politische Konsens, wenn nicht geradezu ein heute zunehmend in den Mittelpunkt tretendes politisches Credo l5 . Durchgesetzt wurden diese religiösen Wahrheiten auch früher auf Erden durch die Macht der Kirche und des Staates, nur darin erwuchsen sie zu diesseitiger Wahrheit. Der Unterschied zu heute akzeptierter, nicht mehr im früheren Sinn geglaubter "demokratischer Wahrheit" liegt allenfalls in der Intensität, in der Unbedingtheit des "Fürwahrhaltens", nicht etwa darin, daß es im Staat keine Wahrheit gäbe. Demokraten als Kinder der Aufklärung glauben eben daran, daß der Mensch frei ist, und wär' er in Ketten geboren. Übergänge zwischen der hier untersuchten Staatswahrheit und den theologischen Wahrheiten mag es einst gegeben haben, stets waren religiöse Wahrheiten zugleich Staatswahrheiten, vom Gottesgnadentum der Fürsten bis zum auserwählten Volk der Pilgerväter. Dies ist im folgenden Hauptteil (B) zu vertiefen. Zwischen die reine Tatsachenwahrheit und die religiös geglaubte Wahrheit schiebt sich in unserer Zeit immer mehr der Begriff der Wertungs-Wahrheit. Um eine solche aber geht es bei der Staatswahrheit - aber auch, ganz allgemein und jenseits von diesen, um Formen der Säkularisierung theologischer Glaubenswahrheiten, um die noch nicht gänzlich beweisbare, aber eben doch schon naheliegende Wertungswahrheit. Sie ist ein Kind jener Wissenschaft, welche den Brückenschlag versucht von theologischem Glauben zu naturwissenschaftlichem Tatsachenwissen. Hier findet auch die Rechtswissenschaft ihren Platz, in geisteswissenschaftlicher Wahrheitssuche 16. Warum dies nun Wahrheit heißen soll, nicht Richtigkeit? Der Grund ist im letzten ein politischer: Dem modemen Staat kann es weder darum gehen, neue Glaubenswahrheiten im herkömmlichen Sinn des Wortes zu entwickeln, noch darf er sich in der Entdeckung naturwissenschaftlicher Tatsachenwahrheiten erschöpfen. Dennoch braucht die Politik, für ihre Willensentscheidungen, für ihre Begeisterungen, Argumente und Legitimationen, die mehr bieten als technisch-mechanische Richtigkeit eines Funktionierens 17 , über die nicht mehr zu diskutieren wäre. Die Wahrheitsfrage als solche muß sie daher auch heute, und immer wieder, an das Recht stellen, sei es, daß sie daraus etwas von der Glaubenskraft früherer politischer Schöpfungen gewinnen kann, oder und vor allem, daß sie sich tragen lassen will von der Überzeugungskraft Tatsachen erkennender, oder Abständen von der Realität ausmessender Wissenschaft. Zwischen Glauben und exakter Wissenschaft 15 Wenn man es nicht "demokratische Ideologie" nennen will (vgl. Leisner, W, Der unsichtbare Staat, 1994, S. 176 ff.) oder doch "negative Ideologie" (ders., Die demokratische Anarchie, 1981, S. 272 ff.). 16 Vgl. noch näher unten Kapitel E. 17 Zur Problematik der Begriffe vgl. Leisner, W, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 147 ff.

I. Tatsache als Wahrheit - Wertung als Tatsache

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steht dieser Staat mit seinen Wertungen, mit seinem Recht. Soll gerade er die Wahrheitsfrage nicht stellen, welche doch Theologie und Naturwissenschaft gemeinsam ist? Deshalb muß es die Wertungswahrheit geben, die Staatswahrheit.

4. Tatsachen und Wertungen - untrennbar; Primat der Wertung

Um Wertungswahrheiten geht es also im folgenden vor allem, nicht um die Behauptung wahrer und unwahrer Tatsachen. Daß die Unterscheidung von "Tatsache" und "Wertung", die Beschränkung des Wahrheitsbegriffs auf die Tatsachen, nichts ist als ein Aspekt herkömmlicher prozessualer Behandlung von Bürgerbeziehungen, wurde bereits deutlich l8 ; um eine staatsgrundsätzliche Kategorie demokratischer Regierungsform handelt es sich dabei nicht. Daß Wertungswahrheit hier im Mittelpunkt stehen muß, ergibt sich schon daraus: In einer Ordnung freier Meinungen 19 kann es eine Trennung von Wertung und Tatsachen entweder überhaupt nicht geben, oder es muß dort jedenfalls der Wertungsgehalt im Freiheitsschutz durchschlagen 20 ; damit aber konzentriert sich die Problematik eben doch auf die Wertungs-Wahrheit. Die ,,reine Tatsachenmitteilung" ist eher ein Kunstgebilde der Rechtsprechung, zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Bürger, insbesondere ihrer Ehre 21 : Die Meinungsfreiheit soll nicht Äußerungen decken, durch die "unwahre Tatsachen" verbreitet werden. Selbst wenn hier noch nicht moralisierend ein Lügenbegriff ins Recht eingeführt wird - wo findet sich denn in der Realität die "reine Tatsachenmitteilung"? Gewiß nicht im Bereich der wirtschaftsrelevanten Information. Dort ist letztlich alles Werbung 22 , bis hin zu der wiederum werblichen Gebrauchsanweisung. Die Wirtschaft will dem Bürger nicht Tatsachen nahebringen, sie will Produkte verkaufen; Tatsachenwahrheit ist dort stets zugleich Werbemittel und damit Teil einer Wertung. Ebensowenig kann von ,,reiner Tatsachenmitteilung" die Rede sein, wo Bildung im Unterricht vermittelt werden soll. Im 23 Mittelpunkt steht wiederum etwas andeVgl. dazu die Zitate in Fnen. 3 ff. Und daß gerade in der Meinungsfreiheit mehr liegt als ein punktuelles Grundrecht, daß sie sich zu einer "Ordnung" verdichtet, nicht in diesem Begriff nur, Ansprüchlichkeit relativiert, hat bereits Ridder; H. K. J., Meinungsfreiheit, in: Neumann I Nipperdey I Scheuner, Die Grundrechte, Bd. H, 2. Auf!. 1968, S. 243 ff. dargetan. 20 Zu den Schwierigkeiten einer Trennung von Tatsachen und Wertungen im Bereich der Meinungsfreiheit vgl. BVerfGE 61, 1 (9 ff.); 65, 1 (41); 90, 247 f. 21 BVerfGE 61,1 (7 ff.); 85, 1 (15 f.); 90, 1 (15 f.). 22 Zum weiten Werbungsbegriff vgl. allg. Lerche, P., Verfassung und Werbung, 1967, S. 11 ff.; Scholz, R., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 12 Rn. 327. 18

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

res: jene Wertung von Tatsachen, aus der sich sodann erst der Bildungseffekt24 , die Formung einer Persönlichkeit ergibt, welche einem bestimmten Bildungsideal25 entspricht. Die Auswahl der Bildungsmaterien und ihre Darbietung sind nicht etwa sekundär gegenüber dem Bildungsziel eines durch möglichst objektive Darstellung "wahrer" Tatsachen informierten Jungbürgers; seit dem Beginn der abendländischen Bildung in der griechischen Paideia26 ist Bildung ein wertender Vorgang, durch die - im weiten Sinne - gesellschaftsgestaltende Macht der Politik. Die Betrachtungen zur Wertungswahrheit münden daher in das größere Thema der Beziehungen zwischen gesellschaftlicher Freiheit und staatlich-politischer Gewalt. Doch dies wird hier unter einem besonderen Aspekt behandelt, dem der "Wahrheit,,27 insbesondere, der "Realitäts-Konformität" der Äußerungen der Staatsmacht. Diese soll nicht nur, in Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Mächten, das Gemeinschaftsleben ordnen und verändern; sie soll auch dessen außerrechtlichen Entwicklungen folgen, sich von ihnen leiten lassen. Dann jedenfalls darf sie sich auf den Wert einer Staatswahrheit berufen, welche nicht nur gesetzt ist par ordre de moufti, sondern legitimiert par la nature - wie die Aufklärer gesagt hätten - als Staatswahrheit mit Bezug zur staatsgeachteten außerrechtlichen Realität, sei diese nun erkannt oder geglaubt. Die Legitimationskraft einer Staatswahrheit tragen Äußerungen der Staatsgewalt nur dann in sich, wenn sie sich "nicht allzuweit" von der ihr vorgegebenen außerrechtlichen Realität entfernen. Darin liegt eine grundSätzliche Bejahung der Korrigierbarkeit dieser Wirklichkeit, aber auch eine Absage an "totale Machbarkeit", allein mit Mittel rechtlicher Wertung. Wer sie absolut setzt, muß "Wahrheit" aus Recht und Staat eliminieren.

Vgl. dazu noch näher unten 0, I, 1. So wird auch im Verfassungsrecht der Begriff der "Schule" auf diese "Bildung" ausgerichtet. "Das Bildungswesen ist im Verhältnis zum Schulwesen der Oberbegriff; die schulmäßige Form der Unterrichtung ist die unterscheidende Besonderheit. Zum Bildungswesen zählt man die Gesamtheit der Vorgänge, die den Menschen geistig, leiblich, seelisch und charakterlich formen" (Maunz, T., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 7 Rn. 8). Lecheier; H., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 7, Rn. 22; BVerfGE 47, 46 (71). 25 Das es heute ebenso gibt wie zu Zeiten Wilhelm von Humboldts (vgl. Über die Sittenverbesserung durch Anstalten des Staates, Gesammelte Werke, 1. Auf). 1841, Bd. 1, S. 318 ff.; Über öffentliche Staatserziehung, ebda., S. 336 ff.; Ideen zu einern Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, ebda., Bd. 7, S. 49 ff.) 26 Unübertroffen dargestellt von Jaeger; Werner; Paideia, drei Bände, 1934, 1944, 1947. 27 Zurück tritt folglich das, was man die "innere Wahrheit", die Konsequenzialität eines in-sieh-geschlossenen Systems, nennen könnte. Auch sie hat gewisse Beziehungen zur Realitätswahrheit, bringt sie doch häufig die folgerichtige Einbettung in diese "bereits existierende" oder "gesetzte" Wahrheit (vgl. dazu die Bedeutung des "Systems" im Verfassungsrecht, siehe Degenhart, c., Die Systemgerechtigkeit, 1976, S. 5, 14 ff., 19 ff., 49 ff., 89) als Indiz für die Existenz einer "Systemwahrheit", als Fortsetzung der noch zu vertiefenden Normwahrheit, vgl. dazu im folgenden III. 23

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11. Rezipierte und gesetzte Wertungs-Wahrheiten

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11. Rezipierte und gesetzte Wertungs-Wahrheiteneine Staatswahrheit 1. Staatsübernommene und staatsgeschaffene Wahrheiten

Schon eingangs der Untersuchung war von den zwei Arten des Realitätsbezuges die Rede, welchen der Staat in Staatswahrheit überzeugend gestalten kann: Einerseits gibt es mächtige Realitäten, die sich ihm aufzwingen; er hat sie jedenfalls zu achten, wenn nicht zu rezipieren. Dies gilt vor allem im Verhältnis zu außerstaatlichen Ordnungen, wie denen der Volkergemeinschaft oder der Kirchen28 . Diese Bereiche werden durch den Begriff der "Achtung" beherrscht, in dem jene "Gegenseitigkeit,,29 mitgedacht ist, welche vor allem das Volkerrecht beherrscht, zunehmend aber auch im Staatskirchenrecht in ihrer Bedeutung erkannt wird: im Dialog, nicht in Beziehungslosigkeiten 3o . Viel ist in letzter Zeit die Rede gewesen von der "Offenen Gesellschaft,,31 - nun gilt es das "Offene Recht" zu erkennen und zu entwickeln, das den Dialog suchen muß mit außerrechtlichen Realitäten, unter Einsatz der Kategorien, welche sich in seinen Beziehungen mit formierter außerrechtlicher Realität, mit anderen Ordnungen also, bereits entfaltet haben - in erster Linie eben im Begriff der Gegenseitigkeit. Daneben steht dann die zweite, die voll staatsgeschaffene Wahrheit. Als Schöpfung der Staatsgewalt wird sie besonders deutlich im herkömmlichen Begriff der Fiktion 32 . Die Staatsgewalt verzichtet hier auf Feststellung und Bewertung außerstaatlicher Realitäten, sie setzt vielmehr "ihre Wirklichkeit" ein, bis hin zum bewußten Widerspruch zu anderen, wie immer festzustellenden Realitäten. Doch dies ist nur der realitätsfemste Extremfall der staatsgesetzten Wahrheit; zwischen ihm und der staatsrezipierten Wirklichkeit liegen zahllose staatliche Wertungen, vor allem normativer Art, mit ihrem, mehr oder weniger bedeutsamen, Wertungs-Wahrheitsgehalt. Beide Wahrheiten, die staatsgesetzte wie die staatsrezipierte, können 28 Wobei es gleich bleibt, ob das innerstaatliche öffentliche Rcht selbst dies als "Recht" versteht - oder nur als Faktum, so wie umgekehrt das innerstaatliche für das Völkerrecht nur ein "fait" darstellt (Berber; F., Lehrb. d. Völkerrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1975, S. 92 ff.); aus der Sicht der "aufnehmenden" Rechtsordnung ist die ordnungsfremde Norm jedenfalls zunächst nur ein Faktum. 29 Vgl. Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 46; wobei diese Reziprozität auch das Verhalten des jeweils anderen Normgebers einschließt - aus völkerrechtlicher Sicht ein Faktum. 30 "In Verweisungs- und Bezugnahmecharakter der staatskirchenrechtlichen Mantel- und Rahmenbestimmungen liegt die Notwendigkeit der zahlreichen Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung von Staat und Kirche begründet" (v. Campenhausen, A., in: HdBStKirchR [Hg. ListllPirsonj, Bd. I, 2. Auf!. 1994, § 2, 11). 31 Vgl. f. viele Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 67 ff. 32 V gl. bereits oben A, IV.

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

schließlich im Gemenge liegen, wie etwa in der Umsetzung internationalrechtlicher Rechts-Realitäten in innerstaatliches Recht. Die Frage der Staatswahrheit aber stellt sich an all diese Formen und ihre Mischungen grundsätzlich in stets gleicher Weise. 2. Rechtsrezeption als Rechtssetzung

Die Einheit der Frage nach der Staatswahrheit, insbesondere nach dem Realitätsbezug, im weiteren Sinn, der staatlichen wertenden Urteile, wird also nicht durch die Dualität der eben erwähnten Formen der "Realitätsübernahme" und der "Realitätssetzung" aufgehoben. Dies bestätigt eine Betrachtung des Begriffes der Rezeption, der Übernahme "fremder" Norminhalte, insbesondere, durch staatliche Entscheidungsgewalt 33 . Rechtsrezeption und Rechtssetzung sind in der Normentwicklung nie klar unterschieden worden, dies ist auch gar nicht möglich, handelt es sich doch in beiden Fällen letztlich um staatliche Normsetzung. Auch als "Übernahme" fremder Norminhalte ist Rezeption ja stets Normsetzung, wie weitgehend immer dabei grenzkorrigiert werden mag 34 . Grundsätzlich ist es gleichgültig, woher die betreffenden Inhalte kommen, entscheidend bleibt der staatliche Gesetzgebungsbefehl; oder sollte es etwa von Bedeutung sein, wer Norminhalte vorschlägt, sie an den übernehmenden Gesetzgeber heranträgt, und in welcher Form? Eine derartige Bedeutung des inhaltlichen Vorschlagsrechts kennt die Gesetzgebungstradition nicht35 . Normativ entscheidend ist das letzte, nicht das erste, einleitende Wort, mag es auch praktisch-politisch das oft entscheidende sein. In der Gegenwart nimmt denn auch immer stärker die Rechtsrezeption zu, in manchen Bereichen ist fast alles heute inhaltliche Übernahme anderweitig normativ gesetzter Inhalte. Dies gilt nicht mehr nur für die immer zahlreicheren Anleihen bei fremden Rechten, sondern vor allem im Bereich des Europarechts, das sich weithin als eine großangelegte Übernahme "fremder" Norminhalte darstellt. Im Grunde ist selbst jede auf Rechtsvergleichung 36 zurückgehende nationale Normset33 Vom Internationalen Privatrecht über "Verfassungssituation" und "Tradition" (Gemenge von Fakten und Normen) bis zur "innerpyramidalen" Rezeption des einfachen Gesetzesrechts in die Verfassung, etwa in den "Rechtsinstitutsgarantien". Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 350 f., oder über "Verfassung nach Gesetz", vgl. Leisner; W, Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung, in: Staat (Hg. Isensee) 1994, S. 276 ff. 34 Oft verbinden sich im Rezeptionsvorgang selbst faktische und rechtliche Entwicklungen, etwa in der Rezeption des Römischen Rechts (siehe dazu etwa Wesenberg, G. /Wesener; G., Neuere Deutsche Privatrechtsgeschichte, 4. Aufl. 1985, S. 80 ff.; Coing, H., Römisches Recht in Deutschland, Jus Romanum Medii aevi, Bd. V 6, 1964) - "historische Fakten als Gesetzgebung", Historia legislatrix. 35 Soweit das Initiativrecht nicht normativ-formal geregelt ist. 36 Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung als Vorstufe der Rechtsangleichung im Europarecht vgl. etwa Bleckmann, A., Europarecht, 5. Aufl. 1990, Rn. 282 ff.

III. Staatswahrheiten - Staatswahrheitssysteme

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zung nichts anderes als Rezeption fremden Rechts - und doch handelt es sich eindeutig um Rechtssetzung. Um der Vielfalt solcher Übernahmefonnen gerecht zu werden, wird man sich heute wieder mehr auf ihren historisch bedeutsamsten Anwendungsfall, den des Römischen Rechts, besinnen müssen. "Anerkanntes Recht" ist ebenfalls nichts anderes als Ergebnis einer Rezeption: Wenn naturrechtliche Nonninhalte im innerstaatlichen Bereich anerkannt 37 , wenn allgemeine Regeln des Völkerrechts in innerstaatliches Recht global transfonniert werden 38 , so handelt es sich inhaltlich um Rezeption, nur fonnalrechtlich entscheidend ist die anerkennende Rechtssetzung durch die Staatsgewalt. Die Staatswahrheitsfrage kann also im Grundsatz einheitlich gestellt und beantwortet werden, gleich ob der Staat sich ihm aufdrängende, nonnative oder tatsächliche Realität übernimmt oder eigene setzt. Immer geht es dabei jedenfalls um den Realitätsbezug seiner Entscheidung; dieser wird allerdings dann mit besonderer Sorgfalt zu prüfen sein, wenn die Inhalte nicht als solche "von außen" auf die staatliche Nonnsetzung zukommen, von dieser vielmehr in eigenschöpferischer Gestaltung hervorgebracht werden sollen. Bei den ,,rezipierten" Inhalten wird vor allem zu fragen sein, wie weit sich die Staatsgewalt der außerrechtlichen Wirklichkeit öffnen soll, bei den "eigengesetzten Realitäten" stehen die Grenzen staatlicher Fiktionsgewalt im Vordergrund.

111. Staatswahrheiten - Staatswahrheitssysteme Wie immer man die Frage der Staatswahrheit stellt - sie verändert sich, je nach dem, ob sie einzelnen Wahrheits-Inhalten nachgeht oder ganze "Wahrheitssysteme" aufzusuchen unternimmt. Gleich, ob nach ,,reiner Tatsachen-Wahrheit" gesucht oder ein "Realitäts-Bezug von Wertungs-Wahrheiten" in den Mittelpunkt gestellt wird - stets wird Wahrheitserforschung und -überprüfung dann problematisch, wenn größere oder gar allumfassende Systeme mit dem Anspruch auf Wahrheitsgehalt übernommen oder neu gesetzt werden sollen.

1. Staatskirchenwahrheiten - Staatsideologien Die Geschichte der Staatswahrheit zeigt: Frühere Staatlichkeit war wesentlich getragen durch übernommene Wahrheiten im Sinn von Staatswahrheitssystemen. Dies ist der tiefere Sinn allen Staatskirchenturns. Der brutale diesseitige Herr37 Von dem "vorstaatlich geltenden" Gleichheitssatz (BVerfGE I, 208 [233]) bis zur vergangenheitsbewältigenden Judikatur über Taten in Unrechts staaten (vgl. neuerdings zu den Mauerschützenfällen BVerfG NJW 1996, S. 2042). 38 Denn nichts anderes regeln Art. 25, 10 GG; BVerfGE 23,288 (316 f.); 46, 342 (360); 64, 1 (14 f.).

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

schafts wille der germanischen Eroberer, etwas wie ein staatsrechtlicher "reiner Naturzustand", um eine völkerrechtliche Kategorie zu gebrauchen 39 , konnte sich nur darin zur organisierten Staatlichkeit hochentwickeln, daß sie von der Religion und ihrer Kirche die systematische Staatswahrheit übernahmen, bis gar der Staat des Mittelalters 40 seine Herrscher oft in den Dienst göttlicher Wahrheit stellte. Wo immer die Fürsten sodann gegen diesen Glauben, damit aber gegen die Wahrheit ihres eigenen Staates, Front machten, gerieten sie in einen inneren Staatswiderspruch. Überdies verloren sie die Unterstützung des intellektuellen Substrates, der "Erkenntnisorgane" ihrer Ordnung. Erst mit der Reformation gelang es der Staatlichkeit, dieses kirchliche Monopol systematischer Wahrheit zu brechen, unter den nun sich entfaltenden Wahrheitssystemen das ihren Machtvorstellungen Entsprechende auszuwählen, dessen Entwicklung, vor allem im protestantischen Raum, sogar wesentlich zu beeinflussen. Bis in die Aufklärung hinein blieb es also bei der systematischen Staatswahrheit als Staatsgrundlage. Rezipierte Wahrheits systeme waren für viele Jahrhunderte Staatsgrundlage; noch heute wirkt dies nach, wenn auch nur selten bewußt: Der Staat ist gerade in seinem innersten Wesen, als Ordnungssystem - Staatswahrheit.

In Aufklärung und Französischer Revolution ist dann der Übergang versucht worden von der systematischen geglaubten zur ebenso systematischen erkannten Wahrheit. Doch hier verlor das Wahrheitssystem an Grundlagenkraft: Die einzelnen Freiheiten entfalteten neuartige, "punktuelle", staatbildende Kräfte, mehr noch der Gedanke der Freiheit selbst, mit seiner Ablehnung systematischer Bindungen. Zwar versuchte das Naturrecht, in seiner systematischen Ausgestaltung, etwa in der deutschen Wohlfahrtsstaatlichkeit 41 , das neue Staatswahrheitssystem des erkannten richtigen Rechts an die Stelle der religiösen Staatskirchengrundlage zu stellen. Doch um die Welt ging die französische Menschenrechtsvorstellung, welche nur mehr einen Katalog kannte 42 , eine Sammlung gewaltiger Bruchstücke früherer Systeme. Mit der Französischen Revolution geht die Zeit der Wahrheitssysteme als rezipierte Staatswahrheit zu Ende. Das 19. Jahrhundert bringt die große liberale Wahrheitskrise als Staats- und Gesellschaftskrise. Die vergeistigten Wahrheitskriterien einer massonischen Oberschicht brachten nicht mehr die systematische Kraft auf, auf welche sich eine ganze Staatlichkeit hätte stützten können. Deshalb entstanden damals bereits die neuen systematischen Staatswahrheiten, die Staatsideologien, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollten sie sich weithin durchsetzen, das Staatsdenken jedenfalls wesentlich prägen. Diesmal ging es nun nicht mehr um die legitimierende Übernahme staatsferner Wahrheits systeme, 39 So nennt Verdross, A., Völkerrecht, 3. Auf!. 1955 die völkerrechtlichen Strömungen um Hobbes und Pufendorff (S. 53 f.). 40 Mitteis, H., Der Staat des hohen Mittelalters, unveränderte Auf!. 1986, S. 185 ff. 41 Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte, 2. Auf!. 1967, S. 329 ff. 42 Zur Bedeutung des "Grundrechtskatalogs" vgl. Leisner, W, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 153 ff.

III. Staatswahrheiten - Staatswahrheitssysteme

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"eigene Wahrheiten" sollten kanonisiert werden, aber noch einmal systematisch. So wurde im Marxismus die Verwissenschaftlichung der Staatswahrheit in einem einmalig geschlossenen System versucht, in fast bruchloser, verdiesseitigender Fortsetzung des Staatskirchenrechts. Das "wissenschaftlich erkannte" System einer ganzen Welterklärung trat an die Stelle früher geglaubter Wahrheiten. Für die naturwissenschaftlich-ökonomischen Lehren des Kommunismus galt dies ebenso wie für die historisch-biologistischen des Nationalsozialismus, ja selbst für die wesentlich historisch-religiös geprägten Staatsideologien in Österreich, Italien und Spanien, wo noch einmal in Verbindung von staatsgesetzten und vom Staat rezipierten religiösen Wahrheitssystemen ein Übergang in eine neue Zeit versucht wurde. Der Zusammenbruch all dieser staatsgesetzten Wahrheitssysteme war schon deshalb, unabhängig von äußeren Mißerfolgen, nicht aufzuhalten, weil keine der Ideologien eine systematisch erklärende Totalität einerseits, eine die Wirklichkeit ersetzende glaubensmäßige Intensität auf der anderen Seite erreichen konnte, wie sie die religiösen Wahrheitssysteme über die Jahrhunderte getragen hatten. Gerade jener totale Staat43 , den diese Regime nun auf ihre Wahrheitssysteme gründen wollten, hätte eine ebenso totale, jedenfalls eine "ganze" Wahrheit gebraucht - und eben diese vermochten die Ideologien nicht zu bieten. Statt dessen verloren sie in der wissenschaftlichen Bestreitbarkeit ihrer Systeme nicht für alle Einzelheiten der staatlichen Entscheidungen, wohl aber für die systematische Grundlage der Gesamtstaatlichkeit die Legitimationskraft der Wahrheit.

2. Am Ende der systematischen Staatswahrheit Die Übernahme von Systemen der Staatswahrheit ist mit dem Staatskirchenturn endgültig zu Ende gegangen, die der staatsgeschaffenen Wahrheitssysteme mit dem Zusammenbruch der Staatsideologien. Daraus folgt aber nicht, daß für die Staatswahrheit und ihre Legitimation kein Raum mehr wäre - sie kann nur eines nicht mehr sein: ein allumfassendes Wahrheitssystem, ja vielleicht nicht einmal mehr ein Partialsystem von Staatswahrheit. Skepsis ist angebracht gegenüber allen Versuchen, wenigstens teilweise den früheren globalen Wahrheits-Halt des Staates durch "Systemstützen" zu restaurieren. Solche Anstrengungen wurden nach 1945 unternommen, als das "Wertesystem,,44 der Grundrechte geradezu als eine "Staatswahrheit der Freiheit" systematisiert werden sollte. Von diesem Wert- und Anspruchssystem der Grundrechte ist nur ein Netz kaum mehr zusammenhängender Freiheits-Abwägungen geblieben; das System hat sich in Worthülsen von "wichtigen", "bedeutsamen", "elementaren" Grundrechten aufgelöst45 . 43 Im Sinne von Ernst Forsthoffs Monographie (Der totale Staat, 1933, S. 29 ff.) war dort eben doch zuallererst organisatorische, nicht inhaltlich - wahrheits getragene Totalität. 44 Vgl. Dürig, G., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. I, Rn. 5 ff.; krit. hierzu Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 2. Auf!. 1994, S. 216 ff.

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

Nicht anders erging es Versuchen, ein System der "Wirtschaftsverfassung" aufzubauen; daß dies mit der "sozialen Marktwirtschaft" nicht gelang 46 , obwohl sie doch auch nicht viel mehr war als eine nahezu inhaltslose Blankettvorstellung, zeigt: die Zeit der voll-systematisierten Staatswahrheiten ist unwiderbringlich vorüber. Herauf kommt eine Periode der "punktuellen Wahrheiten", gerade wenn man die heute zu beobachtende Staatsrenaissance der Aufklärung, in all ihren Spielarten, ernst nimmt: Auch sie hat sich ja vor allem über die Speerspitzen einzelner Staatswahrheiten, der Freiheiten des Individuums, durchsetzen können (näher unten C). Der Verlust der systematischen Staatswahrheit führt zu Auflösungstendenzen der systematischen Staatlichkeit, vielleicht der Einheit des Staates: Den "wahren Staat" gibt es so wenig mehr wie eine Staatskirche, in deren Reminiszenz er gedacht war47 . Die eine große Staatswahrheit hat sich in Einzelwahrheiten aufgelöst - pragmatisch, d. h. "von Sache zu Sache". Doch auch dies verdient noch den Namen der Staats-Wahrheit, wie pragmatische Politik Staatlichkeit trägt.

IV. Staatsbestimmte Formen der Wahrheitssuche verfahrensrechtliche Staatswahrheiten In der modemen Staatlichkeit, welche das staatskirchenrechtliche und das staatsideologische System geglaubter und befehlender Wahrheiten verlassen hat, vollzieht sich eine Entwicklung zu neuen Formen der Staatswahrheit, man könnte sie "verfahrensrechtlich" nennen. Eine Staatsgewalt, die immer mehr von häufig bestreitbaren Inhalten ihrer Machtäußerungen zu weit weniger diskutablen MachtVerfahren übergeht, entfaltet zunehmend Wahrheitsfindungsformen für noch nicht gefundene, nur auf diesem Wege aber überhaupt aufzufindende Wahrheit. Eines scheint all diesen Bemühungen gemeinsam: eine weit höhere Akzeptanz von Prozeduren als aller auf ihren Wegen gewonnenen einzelnen Ergebnisse. Es ist, als verberge sich die Wahrheit hinter den Formen ihrer Suche; die Freiheit des Bürgers scheint nicht durch ein Diktat der Wahrheit beeinträchtigt, solange lediglich ein Verfahren zu deren Auffindung zu beachten ist. In der historischen Vergangenheit der Staats wahrheiten waren es ja vor allem Beteiligungsdefizite, welche die zum Glauben vorgestellten Wahrheiten diskutabel werden ließen. Fast scheint es, als wolle der menschliche Wille seine Revanche nehmen an einem Übermaß von Intellektualismus, der alles auf tatenlose Erkenntnis reduzieren möchte - in dem doch so tatenreichen Feld der Politik. Vgl. dazu näher Leisner; W, Der Abwägungsstaat, 1987, insbes. S. 84 ff. Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 903 ff.; Herzog, R., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 20, Abs. VIII, Rn. 60 ff. 47 I.S. v. Othmar Spann, Der Wahre Staat, 2. Auf. 1923, S. 75 ff. 45

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IV. Staatsbestimmte Fonnen der Wahrheitssuche

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Eines steht im Mittelpunkt all dieser "Wahrheits suche als Wahrheit", und niemand hat es treffender ausgedrückt als Leon Bourgeois: ,,si nous ne sommes pas discutables, nous ne sommes pas vrais" - in einer wahrhaft prophetischen Verbindung des Verfahrens der Wahrheitssuche mit dem Wahrheitsbegriff. Entscheidend ist die Diskutabilität seiner Inhalte, damit die Teilhabe an der Wahrheits suche. Eine ganze Reihe von Verfahren der Staatswahrheits-Suche haben sich entwikkelt, soweit ersichtlich sind sie bisher nicht unter diesem Gesichtspunkt zusammengesehen worden; hier die wichtigsten Beispiele:

1. Prozeß

Daß Wahrheit in trial and error gefunden wird, ist ein Grunddogma, wenn nicht ein Axiom des freiheitlichen angelsächsischen Prozesses48 ; aus ihm hat sich die Vorstellung von der demokratischen Willensbildung auf einem ebenfalls geradezu gerichtsähnlich gestalteten Forum der Wahrheitsdiskussion entfaltet. Ausgangspunkt war stets die Suche nach der unbestreitbaren, nach der Tatsachen-Wahrheit; erweitert wurde dies sodann zum Prozeß als Findungsform des richtigen Urteils immer als eine Form der Wahrheits-Findung. Die hohe Autorität, mit welcher noch heute alle prozeßförrnige Staatswahrheits-Suche umgeben ist, bis hin zum Staatsprozeß der Verfassungsgerichtsbarkeit49 , zeigt den Glauben an den verfahrensrechtlichen Wahrheitsgehalt dieser Methode: Sie ist ebenso ein Weg zur Wahrheit wie eine Askese, die zur Erleuchtung führt, wie eine Bibellektüre, welche die Weisheiten der Offenbarung erschließt. Dieser Wahrheits glaube an den Prozeß stützt sich nicht allein, ja nicht einmal so sehr darauf, daß Betroffene hier mitsprechen dürfen; hier liegt keine Wahrheitslegitimation für Betroffenheitsdemokratie. Lebendig ist vielmehr darin die Vorstellung von einer "Wahrheit aus Rede und Gegenrede", die von einem allein nicht gefunden werden kann, sich vielmehr nur einem diskutierenden Umstand, einer Prozeß-"Gemeinde" erschließt. Es ist, als wenn der Herr mit seiner Wahrheit unter diejenigen träte, die in seinem Namen versammelt sind, über ihn sprechen; Beziehungen zum christlichen Gemeindedenken sind hier sicher stets lebendig gewesen. So liegt denn darin auch keineswegs eine Subjektivierung der Wahrheit, sie erschließt sich vielmehr den Versammelten wie ein ausdiskutiertes Pfingstwunder. Staatswahrheit wird solange die Macht legitimieren, wie der Glaube an den Prozeß als Form der Wahrheitsfindung herrscht, solange der Staat es vermag, sie überzeugend im Staatsprozeß, in der Verfassungs gerichtsbarkeit vor allem, zu "zelebrieBlumenwitz, D., Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 4. Auf!. 1990, S. 37 ff. Die Diskussion um die Autorität des BVerfG, wie sie sich nach einigen Urteilen aus neuester Zeit entwickelt hat (BVerfG, NJW 1994, S. 2943 f.; BVerfGE 93, 266 ff.; BVerfGE 93, 1 ff.) betrifft gerade nicht diesen Aspekt der prozeßfönnigen Wahrheitssuche, mag auch er durchaus Anlaß zu Kritik geben. 48 49

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

ren". Und die größte Gefahr dafür liegt in der Politisierung solcher Verfahren durch ihre Richter: Der Prozeß gewinnt seine Legitimationskraft nicht aus ihnen, sondern aus dem Verfahren; der Prozeß ist klüger als die Richter. Das Vertrauen zum Verfahren aber wird aufhören, wenn die Richter nicht das einzige gewährleisten, das ihre Aufgabe ist: Wahrheitsfindung ohne Vorfestlegung, bei der in der Person des Richters bereits das Urteil gefällt ist. Der politische Richter kann nie prozessuale Wahrheitsfindung betreiben 50; wenn "reiner Willen" den Richtertisch besetzt, ist das Urteil schon gesprochen, der Prozeß wird zum politischen Standgericht. Noch immer stehen heute die Richter am nächsten bei der Staatswahrheit.

2. Mehrheitsentscheidung

Die Verehrung der Mehrheitsentscheidung 51 hat Wahrheitsgehalt: Wahrheit ist alternativlos, das politische System der Demokratie erlaubt eben keine andere Wahrheitsfindung oder Wahrheitssetzung als die, welche durch die maior pars erfolgt, welche damit ex definitione auch zur sanior pars wird. Wieder liegt die Legitimationskraft dafür weniger in Vorstellungen einer "Beteiligtendemokratie", weit mehr bereits in der jeder Mehrheitsentscheidung notwendig vorangehenden Diskussion oder doch der Möglichkeit zu einer solchen. Auch der Wille wird, ebenso wie im Bereich des Prozesses, einbezogen in diese Form der Wahrheits suche: Letztlich ist sie zwar sein Ergebnis, doch ihr Wesen bleibt - Erkenntnis. So rechtfertigt sich die Lehre vom Allgemeinen Willen Rousseaus 52 : Die siegreiche Mehrheit hat schärfere Augen als die unterlegene Minderheit, mehr Augen sehen mehr als weniger - die Wahrheit. Der Glaube an die Richtigkeit der Mehrheitsentscheidung, nein: an ihren Wahrheitsgehalt, erwächst, nach wie vor ungebrochen, aus der Altemativlosigkeit dieser Form der Findung von Wertungs-Wahrheiten; und etwas vom Prozeß begleitet die50 Insoweit trifft neueste Kritik am Bundesverfassungsgericht (Fn. 114) den Kern judikativer Problematik. Und deshalb ist die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit (Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 554 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 842; BVerfGE 4,331 [347]; 26,186 [198 f.] m. weit. Nachw.) ein höchstrangiges Verfassungsprinzip, aus dem Wesen des Prozesses als möglichst reiner Wahrheitsfindung heraus. 51 Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. 11, Rn. 14; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 140 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 610 ff.; Gusy, c., Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, AöR 106 (1981), S. 329 ff.; Zippelius, R., Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987; LeisneT; W, Demokratie, 1998, S. 527 ff.; ders., Zur Legitimität politischen Entscheidungshandeins, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 348 ff.; BVerfGE 2, I (12. f.); 5, 85 (140,147 ff.). 52 Weshalb er denn auch in Buch 11, Kap. 3 die Frage eingehend behandelt, "si la volonte generale peut errer" und den Weg dahin weisen kann, daß (vgl. das Ende des Kapitels) "la volonte generale soit toujours eclairee et que le peuple ne se trompe point".

IV. Staatsbestimmte Formen der Wahrheitssuche

49

ses Verfahren schon darin, daß es nur dann als legitim erscheint, wenn auch die "andere Seite", die Minderheit, irgendwann einmal, bei früheren Wahlen und nochmals spätestens in der Diskussion, "ihre Chance hatte" - so daß eben mehr unter Menschen zur Wahrheitsfindung nicht mehr getan werden kann. Dieser Charakter der Mehrheitsentscheidung als Ergebnis eines Wahrheitsfindungsprozesses gerät in Gefahr, wenn in sich verstärkender Politisierung nur mehr Komparsen die Hände heben in stetigem Mehrheits-Gleichklang; dann bringt auch hier Diskussion keine Wahrheit mehr auf eine politische Bühne, wo nur mehr längst gefallene Vorentscheidungen ihre Wirkungen entfalten - in politisch bereits festgelegten Persönlichkeiten der Abgeordneten 53 - in denen sich aber doch die Diskussion um die Wahrheit vorbereiten oder fortsetzen soll.

3. Abwägung Alle Staatsgewalten unterliegen dem Abwägungsgebot und berufen sich, gerade neuerdings, zunehmend darauf54 . Staatswahrheit in einer Verhältnismäßigkeit, wie sie den Staat der Mäßigung auszeichnet, soll hier mit besonderer Sorgfalt55 gesucht und gefunden werden. Dabei schwingen Grundvorstellungen der Wahrheitssuche durch Prozeß, in Für- und Widerrede mit; es soll ja jene Waage benutzt werden, von allen Staatsinstanzen, welche das Attribut der Gerichtsbarkeit ist. Doch nicht nur das gerechte, weil ausgewogene Urteil soll Abwägung bringen, darin liegt auch etwas vom Glauben an einen Wahrheitsgehalt, der sich in solcher Abwägung erschließt. Sie wird wohl weithin geradezu als eine Form der Erkenntnis, ja als ein Phänomen der Verwissenschaftlichung staatlichen Entscheidens gesehen; die hier besonders zu vertiefende Sorgfalt nähert die staatlichen Entscheidungsinstanzen geradezu jenen naturwissenschaftlichen Forschern an, deren Erfolge vornehmlich aus immer wiederholtem Wägen, Abwägen, Nachwägen erwachsen. So hat denn in der bereits näher untersuchten "Abwägungsstaatlichkeit" die Staats macht eine alte Methode zu neuen Dimensionen gesteigert, durch die Suche nach der zutreffenden Staatsentscheidung stärker auf "Wahrheit" hin orientiert, als dies je in der Dogmatisierung einer bestimmten Staatsentscheidung als Wahrheit geschehen könnte; und zugleich bleibt ihr die angenehme Freiheit, als ein Wahrheits-Ergebnis der Abwägung bereits all das zu proklamieren, was doch immerhin mit nachweisbarer Sorgfalt ausgesprochen worden ist. Eine wissenschafts gläubige 53 "Gewissen" ist im Kembereich seiner Bedeutung höchste Instanz der "subjektiven Wahrheit". Gerade in diesem Sinn ist der Abgeordnete "nur" seinem Gewissen unterworfen (Hesse. K.. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik' Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 598 ff.; Degenhart. c.. Staatsrecht 1,11. Auf!. 1995, Rn. 406 ff.); Art. 38 GG weist deutlich auf die "Staatswahrheit als Gewissenswahrheit des Abgeordneten" hin. 54 Siehe dazu nun Leisner, w.. Der Abwägungsstaat, 1997, insbes. S. 11 ff. 55 Leisner, w.. aaO., S. 125 ff.

4 Leisner

50

B. Staatswahrheit - Allgemeines

Zeit ist bereit, genaue Untersuchungsmethoden als Wahrheits garantie zu akzeptieren. Damit ist der Abwägungsstaat nicht nur ein Verfahren zur Gewinnung der Staatswahrheit, er wird zu ihrem Ausdruck.

4. Wissenschaftsförderung, staatliche Bildung Wege zu Staatswahrheiten Die rasch zunehmenden Aktivitäten des Staates im Gesamtbereich der Kulturund Bildungsförderung56 sind heute von dem breiten Vertrauen getragen, daß auf diese Weise nicht Macht ausgeübt, sondern vor allem Wahrheit erforscht und vermittelt wird. Damit scheint der Staat in unverdächtiger, unpolitischer Weise seinem Auftrag zum optimalen Realitätsbezug 57 seiner Herrschaft auch in seiner Mittelverwendung zu entsprechen, indem er außerstaatliche Realitäten nicht nur achtet, sondern fördert, ja geradezu als solche hervorbringt: Dieser Staat der Kulturförderung präsentiert sich seinen Bürgern als eine Institution der Erforschung und Verbreitung nicht staatsgesetzter, nicht einmal staatsgeordneter Wahrheit, sondern in einer Öffnung zu außerrechtlichen Realitäten, denen sich die Staatsrnacht gewissermaßen in dienender Förderung58 unterzuordnen scheint. In einer politikmüden Grundstimmung erwächst der Staatsgewalt daraus eine kaum zu überschätzende Legitimation. Von ihr fällt das Odium der Gewalt ab, sie wirkt als intellektueller Erkenntnis-Mechanismus. Gesteigert wird dieses Wahrheits-Prestige noch durch den Einsatz dessen, was man, in einem weiteren Sinn, die "Beamtenautorität des Staates" nennen könnte, das besondere Vertrauen, welches der Bürger Staatsvertretern von jeher entgegenbringt, die in jenem Beamtenstatus stehen, der durch spezielle Sachkunde und Unbestechlichkeit qualifiziert erscheint59 . Dies alles hatte schon früher der Staatsgewalt gesteigerte Macht verliehen - findet es nun aber nicht im Bereich des kulturfördernden Staates einen besonders seriösen, der Wahrheitserforschung und -verbreitung in spezieller Weise angepaßten Ausdruck? Staatswahrheit statt Staatsrnacht - läßt sich dafür nicht sogar die so viel wegen ihres "Hoheitsdenkens" gescholtene Beamtenschaft einsetzen? Auch hier wird zwar Privatisierung der Erfüllung von Staatsaufgaben gefordert60 ; doch man wird noch eher bereit sein, herkömmliche staatsorganisatorische Oppermann, T., Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 6 ff., 11 ff. Was als Kriterium der Staatswahrheit bereits oben A IV und sodann laufend erkannt wurde. 58 Vgl. Oppermann, aaO.; Schah, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. III, Rn. 8. 59 Immerhin ist dies sogar gesetzlich verfestigt, nachdem sich der Beamte des Vertrauens der Bürger würdig erweisen muß, selbst in seinem außerdienstlichen Verhalten (vgl. § 36 BRRG, § 64 BBG); Leisner; w., Legitimation des Berufsbeamtentums aus der Aufgabenerfüllung, 1988, S. 82 ff.; BVerfGE 3, 288 (341). 60 Oppermann, T., Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 449 ff., 523 ff., als Vorstufe zur Entbeamtung von Lehrern und Professoren. 56

5?

IV. Staatsbestimmte Fonnen der Wahrheitssuche

51

Strukturen dort zu bewahren, wo es um Staatswahrheit geht, als zum Zweck der Staatsproduktion. So scheint also einer Verbreiterung solcher Wege zu wesentlich rezipierter Staatswahrheit nichts im Wege zu stehen, keine Gefahr zu drohen aus einer staatsabhängigen Wahrheit, wo sich doch der Machtträger immer neuen Realitätsbezügen öffnet. Gerade hier aber ist die politische Gefahr am größten, schon wenn man all dies unter dem Gesichtspunkt des Realitätsabstands betrachtet (von den Gefahren der Wahrheitsaneignung und der Verdrängung der Wahrheitssuche wird noch die Rede sein, unten E): Unter dem Vorwand eines Verfahrens der Erkenntnis und Verbreitung von Wahrheit kann es zu einer Instrumentalisierung dieses Prozesses zu politischen Machtzielen kommen. Daß sich Staatsideologie über staatsgelenkte Bildung verbreiten läßt, hat die jüngste Vergangenheit eindrucksvoll gezeigt. Warum sollte nicht, in "weicherer Steuerung", etwas wie eine staatsgesetzte, staatsbestimmte "Bildungs-Wahrheit" entstehen, und eben nicht nur eine Öffnung des Bürgerblicks auf außerstaatliche Realitäten61 ? Die Gefahr der realitätsverbiegenden Bildungswahrheit mag nur in Teilbereichen auftreten, früher in bestimmten Akzentuierungen der Rassenlehre, heute in verengten Bildungsvisionen aus Literatur und Geschichte. Die Gefahr einer realitätsfemen Staatswahrheitssuche, in Wahrheit: einer Setzung von Staatswahrheiten an wissenschaftlicher Erkenntnis vorbei, doch immer in deren Namen, verstärkt sich aber in einer Periode, in welcher Parteipolitik die Schul- und Bildungspolitik als wichtiges Feld immer klarer erkennt, in der Wissenschaft, angeblich "im Dienste der Gesellschaft stehend,,62, auch nur zu bestimmten Zielen gefördert werden darf - und wie könnten sie anders bestimmt werden, als eben "politisch", nicht zu ,,reiner Wahrheitserkenntnis". Ein Alarmzeichen für alle Sucher überpolitischer Staatswahrheit muß es sein, wenn von der Unterstützung "nicht gesellschaftsrelevanten", weil ,,rein" oder "abstrakt" forschenden Erkenntnisbemühens heute weithin Abschied genommen werden soll, ohne daß Protest laut wird. Will die Bürgerschaft bereits die Instrumentalisierung gesellschaftspolitischer Wahrheits suche in Staatsförderung und zur Förderung des Staates? Zur Fixierung politischer Ziele, zur Festlegung auf "politische Wahrheiten" hin, steht dann die Parteipolitik bereit. Entscheidend wird es also darauf ankommen, in kritischer Durchleuchtung von "Wahrheits-Erkenntnis-Verfahren" der Staatswahrheitsfindung ihre Grenzen aufzuzeigen: Eine "politische Wahrheit" darf nicht entstehen auf Kryptowegen des Verfahrens, die Finanzgewalt des Staates muß wesentlich wahrheits neutral bleiben; doch sie ist dem Zugriff des Machtwillens weiter geöffnet als politikfemer Wahrheitserkenntnis. 61 Zu den Gefahren der "politischen Bildung" in der Demokratie vgl. Leisner; w., Demokratie, 1998, S. 51 ff. 62 Schatz, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. III, Rn. 93; BVerfGE 5, 85 (145 f.); 25, 44 (63); Bethge, H., in: Sachs, GG-Komm., Art. 5, Rn. 205 f. m. Nachw. z. Rspr. d. BVerfG.

4*

B. Staatswahrheit - Allgemeines

52

5. "Wahrheit durch Verfahren": die Gefahr der Krypto-Manipulation

Nach dem Verlust der staatstragenden Wahrheitssysteme des Staatskirchenturns, nach dem Zusammenbruch der staatsgesetzten Ersatzwahrheiten der Staatsideologien, beschreitet nun modeme Staatlichkeit neue Wege der Gewinnung von Staatswahrheiten. Wie dargestellt, stützt sie sich dabei vor allem auf bestimmte Verfahren der Wahrheitserkenntnis; deren Einsatz erscheint ihr bereits als "prozessuale Staatswahrheit", bei durchaus noch offenem Staatswahrheits-Ergebnis. Hier entsteht in der Tat neue Staatswahrheit, sie muß sich der Kritik stellen: Die Festlegung der Gewinnung staatlicher Beurteilungs-Wahrheiten auf bestimmte Methoden, vom Prozeß über die Abwägung bis zur abschätzenden Förderungsfinanzierung, bedeutet eben den Ausschluß anderer Verfahren der Wahrheitserkenntnis, etwa des Einsatzes prüfungselitärer Strukturen. In gewissem Umfang sind damit oft auch schon inhaltlich Ergebnisse vorgeprägt, wenn nicht vorweggenommen, etwa im Sinne egalisierender Kompromiß-"Erkenntnisse,,63. Die Förderung bestimmter Methoden der Erkenntnisverbreitung, in Bildungspolitik, drängt die Gewinnung solcher "Bildungswahrheiten" auf die Dauer in ganz bestimmte Richtungen: Sie müssen sich etwa "für eine größere Masse eignen", "nicht nur für Deutsche, für jedermann" usw. Festlegung auf bestimmte Methoden bedeutet Vorfixierung der Ergebnisse der Wahrheitsfindung, jedenfalls in einen bestimmten Rahmen; in der Förderung gewisser Aktivitäten liegt bereits die Förderung bestimmter Ergebnisse. Dies begünstigt politische Krypto-Manipulation: Nach außen zieht man sich auf das "bewährte Verfahren" zurück, behauptet völlige Ergebnisneutralität, die Suche nach etwas geradezu wie einer "reinen Staatswahrheit nach Realität"; dabei sind doch bereits politische Vorgaben, gesetzt durch die verfahrensmäßige Kanalisierung der Wahrheitssuche, eine neue Gefahr "verfahrensmäßiger Staatswahrheit". Am Bild des Rouletts läßt sich dies verdeutlichen: Die aus systematischer Staatswahrheit geworfene Staatlichkeit unserer Tage hat dem Wissenschaftsdenken der liberalen Freiheit das Zugeständnis gemacht, daß die Staatsgewalt sich aus der Erkenntnis der Wahrheit zurückzuhalten habe. So wirft sie denn eine Kugel in ein drehendes Rad; wo sie liegen bleibt - scheinbar nach ganz anderen Gesetzen als denen ihrer politischen Macht - da sei Wahrheit, auch für den Staat. Die Bürger umstehen staunend den Vorgang, halten das Ergebnis für "wahr". Doch sie wissen nicht, daß dieses Roulett sich nicht ganz frei dreht, daß es nur über bestimmte Lager läuft - noch weniger vermögen sie zu erkennen, mit welchen Zielen so mancher politische Croupier an seine Mechanik herangeht, wie er sie beherrscht - manipuliert. Der Bürger der wöchentlichen Millionenspiele hat sich daran gewöhnt, an Roulett und Croupier zu glauben, auch wenn sie ihm nicht nur seine Fortune zeigen, sondern die "Wahrheit"; darin zumindest sollte er vorsichtiger werden. 63

So insbes. bei der Abwägung, vgl. Leisner; W, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 235 ff.

V. Von den wandelbaren Staatswahrheiten

53

,,staatswahrheiten nicht als System" und kritische Betrachtung aller "Staatswahrheit als Verfahren" - dies sollte die folgenden Betrachtungen begleiten.

V. Von den wandelbaren Staatswahrheiten Den religiös wie den ideologisch geprägten Staatswahrheiten war eines stets wesentlich: In ihrem Kern jedenfalls waren sie allem Wandel entzogen, wie ewige Leuchtfeuer orientierten sie die politische Tagesmacht. Staatslegitimierende Kraft zog die Staatswahrheit aus eben dieser ihrer Unveränderlichkeit. Wenn heute ein Verfassungsgericht meint, der demokratischen Dynamik des Wechsels müsse durch die festen Strukturen beamtengestützter Staatsorganisation entgegengewirkt werden 64 , so zeigt dies die kritische Lage der Demokratie: Früher waren es mächtige Wahrheiten, aufgehängt in den Sternen des politischen Firmaments, welche die drehende Kugel der Macht hielten - anhielten, nicht beamtliche Liliputaner, welche den volks souveränen Riesen fesseln wollten. Die grundlegende Veränderung durch den "Verlust des Wahrheitssystems", wie er vorstehend angesprochen wurde, die Entwicklung hin zu "einzelnen Staatswahrheiten", zeigt bereits die erhöhte Wandlungsfähigkeit der "Legitimationsgrundlage Wahrheit" im Staat: Ein festgefügtes Wahrheitssystem wie das der Katholischen Kirche hält sich als solches in sich, kann daher im einzelnen auch Wandlungen offenstehen. Gewisse, punktuelle Staatswahrheiten, etwa aus dem Wertungsbereich der Grundrechte oder der Sozialstaatlichkeit, können dagegen nie in vergleichbarer Weise die Unwandelbarkeit "ewiger" Wahrheiten erreichen. Dem Staatskirchenturn, gesteigert zum Caesaropapismus, war es gelungen, die unwandelbare Wahrheits-Spitze im "wahren Schöpfergott" stets in enger, lebendiger Verbindung zu halten mit seinen einzelnen Wahrheits-Worten, den Teilen der einen Staatswahrheit. Eine Demokratie kann diesen System-Halt nicht erreichen, deren "Gott" bestreitbar wird65 , nur noch in Präambeln ihrer Verfassungen hindämmert. Ihre ,,höchsten Wahrheiten", die Menschenwürde vor allem, werden zwar als unwandelbar verkündet66 , doch bedeutungsentleert schweben sie in der norrnverdünnten BVerfGE 7, 155 (162). Vgl. zu seiner Erwähnung Maunz, T.. in: Maunz/Dürig, Präambel, Rn. 18; SchmidtBleibtreu. B./ Klein. F.. in: Schmidt-Bleibtreu 1 Klein. GG-Komm., 8. Auf). 1995, Präambel, Rn. 2.; Lecheier, H.. Kirchen und staatliches Schulsystem, in: HdBStKirchR (Hg. Pirsonl ListI), Bd. 11, 2. Auf). 1995, VII a.E.; Dreier, H.. in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Präambel, Rn. 14 ff.; Greive. W. (Hg.), Gott im Grundgesetz? (Loccumer Protokolle 14/93). 1994; Vögele. w.. Zivilreligionen in der Bundesrepublik Deutschland. Diss. Heidelberg 1994. S. 278 ff.; Häberle. P., "Gott" im Verfassungsstaat? in: Festschr. für Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 3 ff.; Behrend. E.. Gott im Grundgesetz. Der vergessene Grundwert "Verantwortung vor Gott", 1980; Hofmann. H.. Das Grundgesetz ohne Gott- aber mit Mitmenschlichkeit?, ZRP 1994, S. 215 ff. 66 Nur dies kann ja eine Zusammenschau von "unverletzlich" und "unveräußerlich" in Art. 1 Abs. 11 GG bedeuten, zumindest im Sinn einer Unwandelbarkeit des Kerns dieser 64 65

54

B. Staatswahrheit - Allgemeines

Luft der obersten Staatsgrundsatznormen - unter dieser Normschicht unterliegt alles der Veränderung im Staat. Nun gibt es in Staatslehre und Staatsrecht zwar Entwicklungen, welche geradezu mit der Kraft neuer Wahrheits-Erkenntnisse auftreten, die Staatsgewalt umorientieren, oft gänzlich neu prägen, und dies nicht nur für kürzere Zeit. Demokratischer Sprachgebrauch bezeichnet dies als Bewußtseinswandel; in großem Stil hat gerade Deutschland die Geburt einer solchen neuen Staatswahrheit in den letzten Jahrzehnten erlebt, im Heraufkommen des Umweltschutzes 67 . Es ändern sich dann die Stellenwerte in den Beurteilungsgewichten der Staatsgewalt68 : Der "Staats wahrheits-Gehalt" der Notwendigkeit des Gesundheitsschutzes steigt, der des Schutzes der Ehe geht zurück, und es gibt keinen faßbaren höheren Bezugspunkt, der all dies in einer auch nur annähernden Gleichgewichtslage halten könnte; der nach seinem "Wahrheitsgehalt" weithin sinnentleerte Begriff der Freiheit taugt dazu nicht mehr. Die Staatswahrheiten verlieren so heute an Allgemeingültigkeit, vermögen sich eine solche auch nicht mehr in einem Rest von Naturrechtsgehalt zu bewahren. Spektakulär ist das "Ende der Ewigkeit" einer großen Staatswahrheit beim Eigentumsrecht gekommen, jenem "unverletzlichen und geheiligten Recht,,69 der Französischen Revolution, das mit wirklichem Staats wahrheits-Anspruch proklamiert worden war - in der Umverteilungsfreude einer egalisierten Welt geht es sang- und klanglos in Sozialbindung unter. Dieses Schicksal der früheren ,,höchsten Staatswahrheiten" wird wohl bald auch jene größeren Wahrheits-Erkenntnisse ereilen, welche heute noch, wie etwa die eines notwendigen Umweltschutzes, als unwandelbar erscheinende Erkenntnisse Staat und Gesellschaft beherrschen: "Abschaffen" wird man sie so wenig wie das Eigentumsgrundrecht; doch sie werden sich eben "wandeln,,7o wie dieses, in unzähligen immer weiter relativierenden Abwägungen und Anwendungen, welche eine kaum mehr überschaubare Fülle von Erscheinungen hervorbringen werden, Rechte, vgl. Kunig, P., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Art. 1, Rn. 43; Höfling, W, in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 1, Rn. 70. 67 Klaepfer, M., Umweltstaat als Zukunft, 1994; Murswiek, D., Umweltschutz als Staatszweck; auch Endres, A.lMarburger, P., Umweltschutz durch gesellschaftliche Selbststeuerung, 1993; Tsai, T.-J., Die verfassungsrechtliche Umweltschutzpflicht des Staates, Diss. München 1996; Klein, F., in: Schmidt-Bleibtreu I Klein, GG-Komm., 8. Aufl. 1995, Art. 20 a, Rn. 5; Schalz, R., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 20 a, Rn. 35. 68 Und dies ist deutlich als "neue Wahrheit", nicht als neuer politischer Wille gekommen, in naturwissenschaftlichem wie in religiösem Sinn (Bewahrung der "Schöpfung"). 69 Dem "Droit inviolable et sacre" der Universellen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789; selbst in der Jakobinerverfassung wird das Eigentum noch als ein "droit naturel et imprescriptible" bezeichnet (Art. I, 2, vgl. auch Art. 16). Siehe zur Begründung Thiers, A., De la Propriete, Paris 1848, S. 9 f. 70 Maunz, T., Wandlungen des verlassungsrechtlichen Eigentumsschutzes, BayVBI. 1981, S. 321 ff.; Saell, H., Die Bedeutung der Sozialpflichtigkeit des Grundeigentums bei der Landschaftspflege und dem Naturschutz, DVBI. 1983, S. 241; Leisner, W, Eigentum in engen Rechtsschranken des Umweltschutzes, in: Eigentum (Hg. Isensee), 1996, S. 414 ff.

V. Von den wandelbaren Staatswahrheiten

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die man geradezu "Einzelfall-Staats wahrheiten" nennen könnte. Das Absterben der Unwandelbarkeit höherer Wahrheiten in "Konkret-Wahrheiten" von Entscheidungen aus den politischen Niederungen schreitet unaufhaltsam fort. Wie könnte ein solcher Verlust von Allgemeingültigkeit nicht zugleich zu einem Wahrheitsverlust werden, der am Ende den Begriff der Staatswahrheit vollends aufhebt, in politisierender Tagesentscheidung? Diese mag sich immer noch als "Wahrheit" ausgeben, eine Rückbindung an bereits weithin verdämmerte "höhere Erkenntnisse" versuchen - wann wird der letzte Glaube an diese aufhören, wann wird man nicht "nur mehr sehen" wollen wie Thomas - eben die kleine, die einzelne Wertungs-Wahrheit? Wenn aber die Staatswahrheit so völlig von jedem Glauben sich trennt, wenn sie ihre Richtpunkte in der Realität aus dem Blick verliert, nur mehr gelten will, wo man sie deutlich sehen kann, weil ein Entscheidungswille sie setzt - wird dann nicht der Begriff der Staats wahrheit ein völlig anderer, geht er nicht doch unter in Willen, in Macht? In jenem Ende der Staatswahrheit könnte dann die Anarchie in der Tür stehen. Doch bis dorthin mag es noch dauern. Die Staatsgewalt könnte sich jedenfalls auch darauf vorbereiten, mit einer Machttechnik gesetzter Staatswahrheit noch lange zu überleben, in einem mächtigen "Über-Leben", über geglaubte und realitätsbezogene Wahrheit hinweg. Dieser Abschnitt hat sich mit dem beschäftigt, was Staatswahrheit früher bedeutet hat, was sie heute geworden ist, wozu sie werden könnte. Ihre Probleme und Grenzen sind darin sichtbar geworden, aber auch eines: ein Ende dieser Wahrheit ist noch nicht in Sicht. Diese Kategorie, so unklar, dogmatisch ungeklärt sie heute sein mag, entfaltet noch immer entscheidende Legitimationskraft, sie gewinnt sie sogar neu aus der zunehmenden Skepsis der Bürgerschaft gegenüber der überkomplizierten, sich abkapselnden Welt des Rechts; seine zunehmende Wirklichkeitsferne und Fiktionsbereitschaft richtet politische Sehnsüchte auf außerrechtliche, rechtsfeme Bereiche oder geradezu auf einen neuen Glauben an Rechts-Wahrheiten. Gerade deshalb wird die Staatsgewalt versuchen, solche Hoffnungen einzusetzen zur Rechtfertigung ihrer politischen Macht, die "Realitäten" setzt, vor allem ein Recht, an das man glauben kann - glauben muß. Dies führt arn Ende zur drängenden Problematik dieser Untersuchung: Appropriierung der Wahrheit durch Macht - in Staatswahrheit71 ?

71

Vgl. unten D.

56

B. Staatswahrheit - Allgemeines

VI. Das Ziel der Macht: staatsgesetzte Wahrheit 1. Staatswahrheit - notwendige Machtlegitimation der Gegenwart

Staatswahrheit wird auf der Tagesordnung des Staates der Gegenwart bleiben wenn möglich nicht so genannt, doch als eben solche praktiziert. Auf den Begriff der Wahrheit kann die Staatsgewalt auch im weltanschaulich und meinungsmäßig neutralen Staat nicht verzichten, aus vielen Gründen: Jahrtausendelang rechtfertigte sich die Staatsmacht, in all ihren Formen, zuallererst aus dem Dienst an einer bestimmten Wahrheit - an Göttern und Schöpfergott. Diese Legitimationskraft der Staatskirchen-Wahrheit und der Staatsideologien, welche sie bis in unsere Tage fortsetzen wollte, wird noch für Generationen so stark sein, daß sich Staatlichkeit nur dort hält, wo sie solche Kategorien noch einsetzt, wenn auch mit anderen Inhalten. Die Säkularisierung unserer Zeit, durch Rationalismus und Verwissenschaftlichung auf allen Gebieten, hat der Wahrheitskategorie zusätzliche, entscheidende Legitimationskraft für alle Bereiche gebracht; immer mehr erscheinen Meinungen als schutzwürdig nur nach ihrem wissenschaftlich nachprüfbaren, eben nach ihrem Wahrheitsgehalt. Eine Politik, welche sich mit ihren Meinungen durchsetzen will, muß deren Wahrheitsgehalt als überzeugend hinstellen, nur dann kann sie beim Bürger um Akzeptanz werben. Soweit Wissenschaft die neue Religion bedeutet, ist ihre Wahrheit Gegenstand des neuen Bürger-Glaubens. Der Staatsmacht bleibt nur wieder ein neuer Gang nach Canossa - zur Staats wahrheit. Politik-Müdigkeit prägt das öffentliche Leben, Formen und Persönlichkeiten der alternden Parteien-, Wahl- und Mehrheitsdemokratie erschöpfen sich. Der Bürger sucht mehr als Diskutabilitäten. Deshalb muß sein Staat den Ausbruch in die Staats wahrheit wagen. Vor allem aber: Staatswahrheitssuche erschien den Gewaltunterworfenen in der Vergangenheit meist als Mittel der Machtbeschränkung, ja des Machtabbaus. Im Namen der Wahrheit drängte die Kirche, sodann die Aufklärung übermächtige Staatsmacht zurück. Sollte da nicht die Staatsgewalt ihre Macht unter diesem Mantel der Machtlosigkeit verbergen? Welche Machtlegitimation wäre besser als die, welche die eigene Macht einer Wahrheit unterzuordnen bereit ist?

2. Machtsteigerung durch Staatswahrheit

Der modeme Staat steigert seinen Machtanspruch, seine Machtrealität, wenn er sich auf Staatswahrheiten beruft, in ihrem Namen zu handeln vorgibt: - Eine Macht, welche sich an Wahrheiten orientiert, an Bezügen zu einer außerhalb von ihr entwickelnden Realität, darf nie untätig bleiben; sie hat Recht und

VI. Das Ziel der Macht: staatsgesetzte Wahrheit

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Pflicht zu ständiger Aktivität72 . Denn eines darf nie dahingestellt bleiben, treibt immer von neuem an, immer weiter: die Wahrheit. Die Staatswahrheit legitimiert den aktiven Staat, den Staat, der sich in seiner Tätigkeit beweist. - Gegenkräfte zur Staatsgewalt werden geschwächt, wenn diese im Namen der Staatswahrheit handelt, derartige Wahrheiten aufzubauen in der Lage ist. Dies drängt sogar die parteipolitische Opposition zurück, jedenfalls aber jene Kräfte, welche den Staat als solchen in Revolution oder Anarchie bedrohen. Sie müssen gegen ihn "Gegenwahrheiten aufbauen", die Staatswahrheit dagegen wird getragen vom favor des Bestehenden. Wer sich außerhalb der Staatswahrheit stellt, in Opposition zu ihr, sich jedoch nicht rasch durchzusetzen vermag, kann nicht Wahrheitsträger sein, ist besiegt bereits durch die Wahrheit. Staatswahrheit ist das sicherste Schild gegen den Staatsfeind73 . In der Staatswahrheit schafft sich die Macht ihre eigene Kontinuität; sie muß nicht immer wieder bei ihren Anfangen beginnen, mit ihren Legitimationsversuchen, in ihrer grundsätzlichen, ja ihrer kontingenten Staatspolitik. Was einmal als Staatswahrheit anerkannt ist, und sei es auch als Wertungs wahrheit von der Macht gesetzt, von den Gewaltunterworfenen akzeptiert, das schafft den Rahmen einer kontinuierlichen Politik, gibt ein Recht auf "Politikwiederholung", die Macht wird nicht in immer neue Experimente gezwungen, da sie doch einmal die Wahrheit erreicht hat, darf sie sich wiederholen; solche Machtwiederholung aber wird zur Machtbefestigung. Kräfte, welche mit ihrer Wahrheit früher den Staat trugen, sind noch immer lebendig, mächtige Realitäten in ihm, die Kirchen zumal. An ihrer Wahrheitsbegründung hat sich im Kern nichts geändert, wie sehr sie sich auch modernen Entwicklungen öffnen mochten. Muß der religiös neutrale Staat sie immerhin als wohlwollende Stützen seiner Macht einsetzen 74 - und täglich geschieht dies - will er überhaupt einen "konstruktiven Dialog" mit ihnen führen, deren "ganz anderem Reich" ja doch so viele seiner Bürger zugleich angehören, so muß er ihre Sprache sprechen - die Sprache der Wahrheit. Nur wenn er mit Wahrheitsanspruch auftritt, und sei es auch einer von der religiösen Wahrheit unterschiedlichen Staatswahrheit, werden ihn die Kirchen als Partner akzeptieren, die Bürger als Gott auf Erden. Jenem großen Bürgerumstand gegenüber, der kritisch jede Staatsveranstaltung begleitet, bedeutet es entscheidende Legitimation, wenn der Staat einen Richtig72 Darin liegt vor allem die große Selbstverstärkungskraft der Gleichheit, daß sie den außerstaatlichen Wandel gegensteuernd zu begleiten hat, vgl. Leisner; W, Der Gleichheitsstaat, 1980, S. 76 ff. 73 Der strafrechtliche Tatbestand der Volksverhetzung hat nicht nur Willens-, er hat in erster Linie Wahrheitsbezug - der Hetzer als Ketzer (Dreher, E. /Tröndle, H., StGB-Komm., 48. Aufl. 1997, § 130, Rn. 7 f.), vgl. auch unten D, III, 2. 74 Vgl. die Darstellung in Kap. "Kirchen und Demokratie" bei Leisner; W, Demokratie, 1998, S. 146 ff.

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

keitsbeweis seines Handeins anbieten kann: den positiven Bezug zu einer staatsfernen Wirklichkeit, zu einem objektiv Staatsfernen, mit dem die Staatsrnacht ihren Frieden in Staatswahrheit gemacht hat, in Realitätsnähe. - Staatswahrheit tritt mit dem Anspruch objektiv richtiger Politik auf, sie kann mit den schillernden Begriffsbeziehungen zwischen Richtigkeit und Wahrheit geschickt spielen, eines jedenfalls erreichen: den Eindruck einer Objektivierung von Politik. Die Macht genießt viele Vorrechte, nur eines nicht: daß sie aus sich selbst heraus stets als seriös sich bezeichnen dürfte. Man nimmt sie hin, selbst in ihrer Theatralik, in ihrem überzeugungslosen Schwanken - doch letztlich sucht der Bürger, sie zu überleben. Seriös, mit einem Hauch von Ewigkeit umgeben, ist sie nur in einem: in der Staatswahrheit. Und läge in all dem nicht gewaltige Verstärkung, ja Legitimation der Macht?

3. Die drei Schritte der Staatswahrheitssetzung durch die Macht

Die Betrachtungen zum Wesen der Staatswahrheit haben bisher ergeben, daß diese entweder dadurch entsteht, daß die Staatsgewalt außerrechtliche Realitäten erkennt, anerkennt, in ihre Ordnung rezipiert - oder daß sie versucht, Wahrheiten selbst hervorzubringen, sie als solche damit zu legitimieren, daß sie einen überzeugenden Realitätsbezug zu der das Recht umgebenden Außenwelt aufweisen. So sehr es gerade diese Realitätsnähe ist, welche die Staatsgewalt "in Wahrheit legitimiert", so überzeugt wird diese, nach historischer Erfahrung, aus ihrer ureigenen Machtstruktur heraus, stets versuchen, außerstaatliche Realitäten zurückzudrängen, eigene Wirklichkeiten durch ihren Willen zu schaffen. Möglichst vollständige Machtrealität aus eigenem Willen - das allein kann Ziel der Staatsgewalt sein, wie realitätsnah, wirklichkeitsoffen sie sich auch geben mag. Dieser Machtanspruch wird von aller Staatlichkeit stets erhoben werden; im folgenden wird sich dies auch für die gegenwärtige Demokratie erweisen, trotz deren eigentümlich zwiespältigem Verhältnis zur Macht, damit aber auch zur Staatswahrheit. Die Staatsgewalt wird also immer versuchen, Staatswahrheit soweit wie irgend möglich durch ihren politischen Willen zu setzen, in drei Schritten vor allem Wahrheit durch Macht zu ersetzen: - Übernahmen außerrechtlicher Inhalte in die Machtwelt des Rechts bleiben in möglichst engen Grenzen; wo sie stattfinden müssen, wird die außernormative Wirklichkeit, weitgehend durch normative Ordnungen verändert, in das Machtsystem des Staates eingepaßt. - "Eigene Wahrheiten" wird die Staatsrnacht stets in maximalem Umfang hervorzubringen versuchen, eine wenn nicht in sich geschlossene, so doch wesentlich staatswillensbezogene Welt von Staatswahrheiten um sich aufzubauen. Diese

VI. Das Ziel der Macht: staatsgesetzte Wahrheit

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müssen sich dann zwar an ihrem Realitätsbezug zu außerrechtlicher Wirklichkeit messen lassen, doch hier soll alles vom Staat nicht Gesetzte möglichst weit zurücktreten, nur einen äußersten Rahmen mehr bilden. Der Kampf des politischen Machtwillens gegen eine außer ihm stehende, von ihm letztlich doch noch zu achtende Realität setzt sich hier nach der Formel fort: Soviel Realitätswahrheit wie nötig - soviel staatsgesetzte Wahrheit wie möglich. - Diese beiden Schritte sollen, wenn irgend möglich, zu einem dritten führen, in dem der Staat seine eigene Wahrheit gar noch ohne Rücksicht auf objektiv feststellbare Tatsachenwahrheiten durchzusetzen sucht - in Fiktionen, welche die Realität nicht fortsetzen, sondern setzen, bis hin zur Verkündung echter politischer Glaubens-Wahrheiten, an denen selbst im Namen der Wissenschaft nicht mehr gerüttelt werden darf. Dies ist die höchste Steigerungsform staatsbestimmter Wahrheit, ein fernes, doch stets angestrebtes Ideal aller Staatswahrheit: Die Dynamik der Staatsrnacht wird immer versuchen, sich diesem Zustand zu nähern, indem sie etwa geschichtliche Wahrheiten festlegt, ja überhaupt das für ihre Bürger Gesunde, Gute - Wahre. Für Völkerrecht und Völkergemeinschaft bleibt die innerstaatliche Norm "nur" eine Tatsache75 - gerade dies ist auch das Ideal der innerstaatlichen souveränen Macht: daß sie eigene Staats-Wahrheit auch noch gegen Tatsachenwahrheit setzen kann, daß ihre Rechtsbefehle zu Tatsachen werden, unumstößlich, weil wahr. Und vielleicht gibt es dann noch einen weiteren Schritt: Macht, ganz einfach und entschieden gegen Wahrheit ... Damit werden dann die Betrachtungen schließen.

4. Staatsgrundgefahr: machtmanipulierte Wahrheit

Hier droht der Freiheit der Bürger Gefahr: Was der Wille der staatlichen Macht nicht dürfte, gelingt ihr im Schutz der Wahrheit. Die Macht gewinnt die Kraft des real Existierenden, Wahrheit ist nicht das verschleierte Bild, sondern der Mantel, welcher die Macht verhüllt, und er wird nie weggezogen; wenn die Wahrheit selbst zur Larve wird, endet alle politische Entlarvung. Der Staatsrnacht gelingt das Spiel mit den schillernden Begriffskategorien des Richtigen und des Wahren: Vom "wahren Staat" führt sie der Weg zur ,,richtigen", zur erst wirklich effektiven "Gewalt". Den Aufklärern erschien einst eine Staatsrnacht bereits als unerträglich, welche ihre geistige Freiheit in religiös-weltanschaulichen Dingen an Staatswahrheiten binden wollte. Heute könnten diese gefährlicher werden: Die für viele nicht mehr bedeutsamen religiösen Wahrheiten mag der Staat aussparen, wenn es ihm nur gelingt, seine Wahrheitslegitimation in alle anderen Bereiche zu tragen, von der Wirtschaft bis zur Kultur. D~mn droht mehr als eine Bedrohung der Geistesfreiheit 75

Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, § 72, Rn. 1 ff.

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B. Staatswahrheit - Allgemeines

durch staatsbestimmte Glaubenssätze, wie vor Jahrhunderten - dann wird die ganze Freiheit geschlagen im Namen staatsappropriierter Wahrheiten; dieses Gefecht, zwischen Wahrheit und Freiheit, könnte für diese das letzte sein. Späte zivilisatorische Entwicklungsstufen fallen oft in Intellektualismen zurück, Aufklärungen kommen nach Renaissancen, Plotin kommt nach Platon. Sollte dies auch das Schicksal der politischen Kultur des abendländischen Denkens sein, so könnte es wohl den Untergang der freiheitlichen Willenskraft in staatsbesetzter Wahrheit bedeuten. Wenn die Macht nicht mehr die stärkeren Bataillone einsetzen kann - genügen ihr dann nicht die schärferen Augen der Wahrheitserkenntnis? Eines jedenfalls wird gegen geschickt gesetzte Staatswahrheit nie mehr stattfinden: Revolution. Gegen Wahrheiten verschwört man sich nicht. Der erste Abschnitt dieser Betrachtungen begann mit der Pilatusfrage als einem staatsrechtlichen Problem. Der zweite soll wieder mit ihr enden, mit der Antwort der diesseitigen Römischen Gewalt auf die jenseitige Wahrheit: Kreuzestod war Staatsschutz, Durchsetzung einer Staatswahrheit, über alle geistige Wahrheit hinweg. So wird eines Tages wieder die Freiheit gekreuzigt werden, wenn nur mehr der Staat nach der Wahrheit fragt, sie dann selbst setzt - durchsetzt in Macht. Was Freiheit ist, wird man auch in Form von Staatswahrheiten nie gültig sagen können. Was an Freiheit verloren geht, wenn der Staat die Wahrheit besetzt, wird der Bürger erkennen: Freiheitsverlust durch staatliches Machtmonopol - das ist eindeutige Staatswahrheit.

C. Die Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille - die "demokratische Staatswahrheit" Begriff und Probleme der Staatswahrheit sind im vorstehenden Kapitel in ihren Dimensionen allgemein untersucht worden; sie können aber nicht losgelöst von der jeweiligen Staatsform behandelt werden und deren Grundentscheidungen. So gilt dieser Hauptteil nun der "demokratischen Staatswahrheit", diesem Phänomen im Staatsrecht der Volksherrschaft. Erst dann kann die - entscheidende - Abschlußfrage gestellt werden: "Staat als Wahrheit - und gegen diese"? - gerade in dieser demokratischen Ordnung.

I. Volksherrschaft - Antithese zu "alten Staatswahrheiten" 1. Staatsbegründungen aus "Tradition" a) Herkommen - Macht aus historischer Wahrheit

Staatslegitimation nicht-demokratischer Ordnungen mag Glaube sein, Transzendenz, Theologie, immer, oft in erster Linie, ist es aber Tradition; als Staatswahrheit wirkt sie in die Gegenwart hinein, welche auf ihr, auf diesem Felsen, gebaut ist. Prototyp dieser Staatsgrundlage bleibt das Papsttum der Römischen Kirche: die Tradition aus dem Glauben des Petrus und seiner Berufung, aus einem historischen Vorgang, in dem der Herr seine Kirche für alle Zeiten errichtet hat, wirkend in einer Gemeinschaft, welche sich jahrtausendelang auf diese, im wahren Sinne des Wortes "unterstellte", Wahrheit berufen hat. Eine Tradition geglaubter historischer Wahrheit ist Lehre, Norm, Dogma geworden. Ganz Rom ist nur eines: Verkörperung historischer Wahrheit der Tradition als Grundlage aller Macht. Das päpstliche Rom hat monarchischen Absolutismus zuhöchst gesteigert. Dies konnte die aufklärerisch-antiklerikale Vorstellung nähren, Berufung auf Tradition, auf herkömmliche Staatswahrheit, sei ein Wesenszug gerade monarchischer Staatsformen. Abgesehen davon, daß es solche in reiner Form sogar im Ancien Regime nie gegeben hat, welches stets, auch in Frankreich, eine Gemengelage aristokratischer und monarchischer Staatselemente zur Grundlage hatte 1 - Tradition als I Die französische, klassische Staatslehre des 18. Jahrhunderts bemüht sich daher, diese bereits in der Antike festgestselIte Gemengelage in die drei aristotelischen Staatsformtypen aufzulösen (vgl. etwa Montesquieu, De I'Esprit des lois, Buch IV; Rousseau, Du Contrat social, Buch III, der dort die "Gouvememens mixtes" im Kap. VII besonders behandelt).

62

C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Machtbegründung aus historischer Wahrheit ist nicht so sehr der Einherrschaft wesentlich als vielmehr der oligarchischen Aristokratie. Sie ruht ja auf der Staatsgrundlage des familiären Herkommens, auf all jenen unzähligen Realitätsbezügen der Vergangenheit, welche ein "Haus", die Macht einer Familie, geschaffen und gesteigert haben. Deshalb vermochte Aristokratie zu beharren, Jahrhunderte zu überleben, weil sie so vielfältig in der Wirklichkeit früherer Zeiten verwurzelt war, daß der unhistorisch-reine Machtwille späterer Zeiten dies wohl schwächen, nicht aber brechen konnte. In der aristokratischen Oligarchie wurde dieses Herkommen aus der vertikalen Führung früherer Zeiten verbreitert und erweitert in die Horizontale der vielen Familienzweige, welche den großen, einen Stamm der Familienrnacht erhielten, in schier unübersehbarer Verästelung. Macht kam dieser Begründung aus Herkommen ganz wesentlich über die historische Wahrheit zahlloser machtbeweisender, machtstützender Vorkommnisse, vor allem aber aus deren vergrößerndem Verdämmern in der Zeit. Es war, als werde diese Wahrheit nur um so mächtiger, je weniger sie in ihren Grundlagen im einzelnen noch überprüfbar war; den Augen des Jedermann blieb sie ohnehin verborgen. Ihre Ursprünge lagen in Legenden, in Familienmythen als Machtmythologie. Welche Bedeutung mochte schon der historischen Realität zukommen, war sie nur Gegenstand des Glaubens. Die Zusammenfassung langer Vergangenheit in einem einheitlichen Begriff der Tradition ließ deren Einzelelemente mit all ihren unterschiedlichen Wahrheitsgehalten verschwimmen und zusammenklingen zugleich. Dieses Herkommen überhöhte die einzelnen machtlegitimierenden Wahrheiten in einer neuen, einheitlichen Wahrheit, aus der als solcher machtbegründend argumentiert werden konnte. Die Monarchie hat all dies weiterentwickelt, vertieft und auf den Kern der politischen Macht konzentriert. Doch in ihrer Staatsformbegründung blieb sie Aristokratie, mit ihren Häusern, deren Nachfolgegesetzen, den aus germanischem Freudaldenken und römischem Recht begründeten Privilegien des Pater familias als Führer. Sein Obereigentum über das gesamte Staatsgebiet2 wurde meist im großen politischen Sprung erreicht, aus der Gewalt. Die Legitimation dieser Macht erwuchs sodann aus einzelnen geschichtsmächtigen Vorgängen, aus großen Siegen, Triumphen einer Persönlichkeit, die zu denen ihres Hauses, ihrer Herrschaft wurden. Wahrheit als Machtgrundlage wurde damit faßbarer noch als die der aristokratischen Potentaten; ihre Rechte mußten der größeren geschichtlichen Wahrheit weichen - der Sieg der Monarchien war der Triumph einer größeren historischen Wahrheit. Das tausendjährige Ancien Regime, seit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, ist eines vor allem: Macht legitimiert durch historische Wahrheit.

2

Mitteis, H.lLieberich, H., Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Auf!. 1992, S. 183 ff.

I. Volksherrschaft - Antithese zu "alten Staatswahrheiten"

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b) Römisches Staatsrecht - reine Geschichtswahrheit

Der jahrtausendelange Kampf in Europa um das Römische Erbe 3 ist nur verständlich als ein Ringen um Machtlegitimation - dieser historischen Banalität sei hier hinzugefügt: Dieser "Kampf um Rom" wurde ausgetragen, immer von neuern, um den Besitz der römischen Staats-Wahrheit. Denn dies war ja nun nicht eine Tradition vom Hörensagen, welche den historischen Einzelbeweis im großen Strom der Geschichte untergehen ließ. Die römische Macht war unbestreitbare Realität gewesen, faßbar in ihren mächtigen Bauten, weiterwirkend in ihren literarischen Monumenten, vor allem aber in ihrem rechtlich verfaßten politischen Willen. Und es war eine Wahrheit, immer die gleiche: die des Sieges und des Friedens, einer ständig sich mit historischer Notwendigkeit erweiternden Mächtigkeit. Diese Macht konnte in militärischen Niederlagen untergehen, in Ruinen ihrer Bauten verfallen - als geschichtliche Realität war sie ein unverrückbarer Rocher de bronze. Entscheidend war ihr historischer Wahrheitsgehalt, nicht ihre tatsächliche Machtrealität, die längst vergangene. Wahr blieben ihre Erfolge und die Kräfte, welche sie hervorgebracht hatten, zuallererst die Vlrtus Romana4 . Weil all dies "wahr" war, konnte es wieder kommen - und es ist wiedergekommen. In Schulen und Gymnasien, vor und nach der Renaissance, wurden nicht allein ihre Staatslegenden gelehrt, nur ihre Staatsmoral den künftigen Herrschenden und ihren Beratern gepredigt. Staatswahrheiten sollten sie kennenlernen, in ihrer ganzen Unumstößlichkeit, in den wie durch Wunder wiedergefundenen Staatsurkunden der alten Autoren 5 . Historismus und Pandektismus haben im 19. Jahrhundert das entlarven wollen, was diese Bildungsideale einst politisch getragen hatte: die geglaubte Staatswahrheit, in welcher stets politisches Engagement den historischen Nachweis ersetzte und umgekehrt. Als diese Beweise dann beigebracht oder hinterfragt wurden, war der Sinn dieser alten römischen Staatswahrheit als Machtlegitimation längst verblaßt; sie war in Historien zerfallen, in jene Bruchstücke, aus denen eifrige Gelehrtenhände etwas ganz anderes formten, eine neue, ,,rein historische" Wahrheit - nun aber eine nutzlose, seit dem Einbruch von Aufklärung und Französischer Revolution. Die Livius-Geschichten von Cannae und Zama, die Annalen des Tacitus von einer zur Selbstverständlichkeit gewordenen Mittelmeer-Großmacht, die sich und der Nachwelt ihr abscheuliches und dennoch, gerade darin, großes Machttheater vor-

3

278.

Vgl. Koschaker, P., Europa und das Römische Recht, 3. Auf). 1958, S. 69 f., 91, 124,

I.S.d. männlichen Vollkommenheit, vgl. Cicero, Tusculanae disp. 2, 43. Die damit "virtutem edunt" - eine übermenschliche Kraft entfalten, ein Wunder, vgl. Sulp. Sev. chron. 1,43,7. 4

5

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C. Demokratie zwischen Wahtheitsstreben und Machtwille

spielte - all dies waren Staatswahrheiten einer aristokratisch-monarchischen Macht, welche spätere, ebenso familien-verfaßte Mächtige sich anzueignen trachteten, um sie fortzusetzen oder doch ihre Macht mit Blick auf dieses nicht mehr erreichbare Ideal zu legitimieren. Zuwenig ist wohl historischer Forschung bislang bewußt, daß in all dem nicht etwa reines politisches Wollen sich ausdrückte, sondern eine eigenartige Verbindung des Willens zur Macht mit dem Willen zur Wahrheit.

c) "Urkundenbeweis der Macht"

Aus dem Streben nach "Staatswahrheit aus Tradition" läßt sich erklären, was demokratische Zeit nur schwer mehr versteht: die unschätzbare Machtbedeutung von Urkunden und Archiven. Sie sind Verkörperung alter, unvordenklicher Staatswahrheiten, ihr faßbarer, unwiderleglicher Beweis. Die fast schon sakrale Bedeutung verbriefter Rechte, die Macht von "Brief und Siegel", kann voll nur begreifen, wer die Machtbegründung der Staatswahrheit einbezieht; sie will nicht den Willen, sie will Tatsachenwahrheit als Grundlage der Macht. Kaum irgendwo wird so deutlich faßbar die Verbindung von Wirklichkeit und Wahrheit mit Recht und Macht wie in einem solchen Urkundenbeweis der Mächtigkeit. Er zeigt die Wahrheit von Staatsvorgängen, aus denen sich Rechte ableiten; in sich sind jene nichts als vergänglicher Wille, in der Verkörperung der Urkunden werden sie zur weiterwirkenden, unumstößlichen Wahrheit. Nicht der Wille des Verfassers beugt den Willen des Lesers, dessen Geist muß sich der Evidenz des Gelesenen unterwerfen. Die Staatsurkunde ist der Sieg des historischen Erkennens über das politische Wollen. Gebrochen werden konnte dies nur, in der Französischen Revolution, durch die Behauptung noch älterer, unvordenklicher Rechte, in einem "staatsrechtlichen Urkundsbeweis ohne Urkunden,,6. In den gold schimmernden Bibliotheken der Schlösser und Klöster waren nicht nur Rechtsweisheiten verborgen, verschüttet, die man dort gegen geistesräuberische Goldsucher der Macht gesichert glaubte; aufbewahrt wurden auch die alten Staatswahrheiten als Rechtstitel, mit Büchern und Urkunden warf sie die Säkularisation ins Wasser. Es schien, als sei damit endlich der "Name dieser Wahrheit in Wasser geschrieben,,7 - den Urkundenbeweis der Macht durch Staatswahrheit mochte der neue Wille zur Macht nicht mehr gelten lassen. Vernichtet werden sollten Urkunden, in denen sich die Macht sicherer noch aus Staatswahrheit legitimieren konnte als aus Unvordenklichkeiten ihrer Existenz. Die Revolutionäre von 1789 haben damit nicht nur alte historische Tatsachen bewußt verschüttet; dies war eine Absage an die Historie und ihre Wahrheit, einen 6 Daher heißt es zu Beginn der revolutionären Menschenrechtserklärungen, das "Vergessen der Menschenrechte" sei der Grund für alle staatlich-gesellschaftlichen Mißstände, sie ließen sich eben nicht mehr urkundlich beweisen - dies sollte nun durch aufklärerische Evidenz ersetzt werden. 7 "Here lies one whose name was writ in water" (Keats).

1. Volksherrschaft - Antithese zu "alten Staatswahrheiten"

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der Kerne des Wahrheitsbegriffs überhaupt, an seine Lehrbarkeit - eine Antithese zur Historia magistra. So sind denn diese Urkunden heute von "nur mehr" historischer Bedeutung, wo doch einst ihre Bedeutung nur im Historischen lag, ihre rechtliche Macht. Fast scheint es, als sollte damit eine historische Verbindung gebrochen werden, wie sie noch die Reformation getragen hatte: Lesen und glauben; nunmehr sollte es heißen: Nicht mehr lesen, nur mehr - glauben, bald: wollen.

d) "Tradition als Staatswahrheit" - Grundlage aller nichtdemokratischen Ordnungen

Herkommen als Staatswahrheit, daraus Machtlegitimation - das war die Rechtfertigung von Aristokratien und Monarchien der Vergangenheit; aktuelle Bedeutung gewinnt sie noch immer aus den Versuchen nicht-demokratischer Regime, so ihre Legitimation zu erweisen. Faschismus und Nationalsozialismus waren Versuche, massive Mächtigkeit aus konzentrierter historischer Staatswahrheit zu gewinnen. In Italien erwuchs dies aus der Restauration des römischen Staatsdenkens, im Namen seiner geschichtlichen Realität, einer "Wahrheit", wie sie eben beschrieben wurde. Deshalb konnte dies eingebettet werden in die monarchische Tradition des Staates der Savoyer; Tradition und Erfolg erwuchs hier - im Risorgimento - wie dort zur unumstößlichen Regimewahrheit. In Spanien wurde so die Staatswahrheit des Königtums und des Katholizismus restauriert, der mächtigen historischen Realitäten dieses Landes. Deutschland sollte seine Macht zurückgewinnen aus den Staatswahrheiten germanischer Vorzüglichkeit und preußischer Tugenden. Überall war da nur eines: Behauptete Wahrheit, aus alter, bekannter, oft aber kaum mehr faßbarer Geschichte, aus einer Tradition, die nun in Staatsrenaissance zurückkommen sollte 8 . Getragen war dies nicht nur von einer archäologischen Schliemann-Begeisterung des Wiederentdeckens des Legendären; dahinter stand ein bis zur Gewaltsamkeit gesteigertes Bemühen um die Restauration von UraltWahrheit, das um so atemloser wurde, je weniger es sich auf kontinuierliche, urkundlich beweisbare Staatswahrheit zu stützen vermochte. Da sich diese Regime die Legitimation des Revolutionären nicht versagen wollten, erhielt ihr machtlegitimierender Wahrheitsbegriff etwas Forciertes, Willens getragenes; da war bereits gewollte Wahrheit, welche die überkommene, beweisbare Realität ersetzen mußte, wo diese versagte 9 .

8 Dazu Leisner; W, Staatsrenaissance - die Wiederkehr der "guten Staatsformen" - 1987, insbes. S. 45 ff. 9 Besonders deutlich tritt dies hervor in Alfred Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts", insbes. in den historischen Ableitungsversuchen des 1. und 3. Buches.

5 Leisner

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C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

Demokraten ist stets bewußt gewesen, daß derartige Regime sich von ihren, im folgenden näher zu entfaltenden, Wahrheitsvorstellungen grundsätzlich entfernten, daß hier eine wesentliche Verbindung zum Ancien Regime bestand, daß damit Wahrheiten weit mehr aufgesucht als wiederentdeckt werden sollten. Soweit sich auch derartige Regime von der ruhigen Selbstverständlichkeit alter aristokratischmonarchischer Staatswahrheiten entfernen mochten - sie hatten dazu doch darin noch eine, wenn auch nicht feme, Verbindung, daß sie schäumenden politischen Willen durch eine herkömmliche Staatswahrheit legitimieren wollten. So mag man denn Tradition als Grundlage der Staatswahrheit, als herkömmlicher Ausdruck derselben, geradezu als ein Wesenselement nicht-demokratischer Staatlichkeit begreifen; dies muß dann aber zu der Frage führen, wie sich die Demokratie ihrerseits mit ihrem Verständnis von Staatswahrheit von anderen Regimen abhebt - wenn ihr denn ein solches eigen ist.

2. Gottesgnadentum als Staatswahrheit Die Staatswahrheit kam, als historische Grundlage des europäischen Staatsdenkens, seit Jahrhunderten, nicht nur aus der Tradition, sondern auch, ursprünglich mehr noch, aus einer weiteren, wirklich "ganz anderen" Quelle: Staatswahrheit war Gegenstand des Glaubens. Da auch dies, ebenso wie das Herkommen, in der Demokratie aufgegeben werden sollte - und doch ebenso wie die Tradition, noch weiterwirkt - muß es ebenfalls zu Beginn dieses Hauptteils angesprochen werden, als ein großer Hintergrund, von dem sich die Volksherrschaft abheben will. Die Formel von der "Herrschaft von Gottes Gnaden" zeigt Bezug zur Staatswahrheit auf drei Ebenen: - Im Mittelpunkt dieser Machtlegitimation steht die Behauptung einer Übertragung der Machtausübung "von oben", in einem transzendenten, nur mit Kategorien des religiösen Glaubens erfaßbaren Vorgang JO • Diese Belehnung durch den Allmächtigen kann nur als eine Tatsache im weitesten Sinn verstanden werden. Im Akt der Krönung findet sie sichtbaren Ausdruck. Darin mag etwas liegen vom Wunder vor aller Augen, doch auch dies ist ja, für religiöses Verständnis, eine Tatsache, welche dahinterstehende Wahrheit bezeugtlI. Der religiöse Akt ersetzt die urkundliche Dokumentation. Die Selbstkrönung des französischen Kaisers bedeutete nicht nur eine Absage an päpstliche Suprematie-Ansprüche, sie wendete sich vor allem ab von der Grundlegung der kaiserlichen Macht aus der Staatswahrheit einer göttlichen Belehnung, welche der Stellvertreter des Jenseitigen auf Erden vollzogen hätte. Damit wandelte sich die Krönung von der 10 Dazu und zum folgenden vgl. lellinek, G., Allg. Staatslehre, 4. Neudruck der 3. Auf!. 1922, S. 186 ff. 11 Vgl. Thomas v. Aquin, Summa theologica I, qu. 105.

I. Volksherrschaft - Antithese zu "alten Staatswahrheiten"

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Staatslegitimation aus Staatswahrheit zur Staatsbegründung aus Mächtigkeit, aus dem Willen des Herrschenden - Macht durch Macht, nicht mehr Macht durch Wahrheit. Münzen haben stets Urkundencharakter im weiteren Sinn; wo sie das Gottesgnadentum verkündeten, waren sie Beurkundungen eines historischen Vorganges, dessen Wahrheit sie bezeugten. Zugleich war all dies ein Alibi der Macht: Der Wille des Potentaten trat zurück hinter die von seinen Untertanen gewonnene Erkenntnis, daß er die Gewalt im Namen eines noch Mächtigeren, des Gottes der Wahrheit - wahr-nahm. - Doch im Gottesgnadentum lag, aus seinen religiösen Wurzeln heraus, noch eine andere Wahrheitsdimension; sie erwuchs aus der historischen Tatsachen-Wahrheit der Belehnung zur Intensität einer von allen geglaubten transzendenten Wahrheit: "Macht stets in Gottes Namen". Darin lag eine höhere Glaubens-Sicherheit, die über alles diesseits Wahrnehmbare hinausreichte, ihm eine Zuverlässigkeit verlieh, welche das real Feststellbare in den Schatten (der Wirklichkeit) stellte. Ein säkularisiertes Staatsdenken kann solchen Wahrheitsbezug der Macht nicht anerkennen, nicht einmal mehr erkennen. Es begreift nicht, daß auch darin wiederum nichts anderes liegt als eine allerhöchste Wahrheitsvorstellung, eine andere Realität vielleicht als die der fühlbaren Macht der Bajonette, aber eine ungleich stärker überzeugende, eine durch nichts zu widerlegende Gewißheit. An dieser Stelle müßte theologische Untersuchung die Frage aufnehmen, ob Glaube ausschließlich als Willensakt vorzustellen ist, oder auch als eine Erkenntnisforrn von höherer Sicherheit; dies letztere entsprach jedenfalls traditioneller katholischer Dogmatik, aus dieser heraus den Wirkungen des Gottesgnadentums. Diese Wirkungsweise des religiös-politischen Glaubens an die Staatswahrheit des Gottesgnadentums verband sich in eigentümlicher Weise mit jener Sicherheit, welche dessen sichtbare Zeichen, Krönung und Machtausübung, als historische Staatswahrheit hervorbrachten: Da diese nun durchwirkt wurde von religiöser Gläubigkeit, steigerte sie sich zur unbezweifelbaren Wahrheit. Historie und Theologie ergänzten auf diese Weise den Sicherheitsgehalt ihrer Aussagen in einer Weise, wie sie uns bereits in den Mythen der Antike begegnet, und in den Sakramenten der Kirche: vom äußeren Zeichen zur inneren Bedeutung fortschreitend. Staatswahrheit läßt sich auch heute nur erfassen, wenn man diese ihre vielschichtige Natur, in der Verbindung von erkennender Betrachtung und dieser sich hingebendem Willen würdigt. Nur so schließlich wird begreiflich, daß auch die Demokratie ihren säkularisierten Glauben mit Begriffen wie "Überzeugung" oder "politisches" Engagement in eine glaubensärrnere Welt hineinträgt. - Auf einer "dritten Wahrheitsebene" wurde dann die so verkündete und geglaubte Realität, gerade sie, zur politisch wirkenden Staatswahrheit: Der mit solcher Macht Belehnte verwirklicht notwendig die "wahre Beurteilungswahrheit". Der Fürst, der aristokratische Magistrat, fallt nicht nur das richtige, sondern das wahre Urteil, das aus einer gottgewollten Beurteilung der gottgesetzten Wirklichkeit s*

c. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

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erwächst, in Übereinstimmung mit dem transzendenten Wahrheitssystem. Der Fürst entscheidet nicht nur "aus Gott", sondern wie Gott - in Wahrheit, im historischen, religiösen und politischen Sinne. Alle denkbaren Wahrheitskategorien, mit Ausnahme der des in "Wahrhaftigkeit schaffenden Willens", fallen darin zusammen. Hier wird gehandelt von einer Staatsgewalt, die sich, wie es eine Redewendung plastisch ausdrückt, "im Besitz der Wahrheit weiß" - der ganzen politischen, der Staatswahrheit. Diese Staatsgrundlage ist breiter, als es das herkömmliche Verständnis des Gottesgnadentums annimmt; sie reicht längst nicht nur bis zu seinem Träger, der Person des Monarchen. Seine Investitur als des obersten Vertreters der göttlichen Macht der Wahrheit auf Erden durchwirkt die gesamte Staatsorganisation, sie prägt das Verhältnis von Macht und Machtunterworfenen schlechthin, in allem, was im Staat geschieht. In ihm werden göttliche, geoffenbarte Wahrheiten staatsrechtlich umgesetzt, höchste Wahrheit wird politische Wirklichkeit, so etwa im hierarchischen Feudalaufbau der früheren Regime als einem Spiegelbild der göttlichen Ordnungen des Jenseits, in Engeln und Heiligen: der Staat als Abbild des Himmels und seiner - ja so genannten - "Mächte"; in der "Hoheit" des Staates über jenen Gewaltunterworfenen, die auch "schwierigen Herren" zu gehorchen haben, und sei es nur, weil in ihnen etwas von der Furchtbarkeit des "ganz Anderen" zum Ausdruck kommt; in der Macht schließlich als Herrin über das Gesetz, nicht umgekehrt, so wie eben der Herrschergott Herr ist über seine Gesetze. All diese Staatswahrheit endet - das ist aus heutiger Sicht ihre entscheidende Schwäche - im Unnachprüfbaren, ja im Unsichtbaren. Doch gerade dies prägt die gesamte Staatswahrheit und damit die Staatlichkeit früherer Zeiten: daß sie auf etwas aufruht wie einem großen Staatsgeheimnis, daß ihre Wahrheit eines der Arcana Imperii ist 12 , das unbefugten Augen nicht geöffnet werden darf, so wenig wie die Geheimnisse der Priester, und das doch, gerade deshalb, die unvergleichliche Macht des Staates, gegenüber allen anderen Gewalten auf Erden, trägt und legitimiert. Solange die Demokratie noch etwas kennt und hütet wie ein Staatsgeheimnis, hat sie sich nicht voll abgewendet von jener in Glauben vergeistigten Staatswahrheit früherer Epochen, welche wie ein Geheimnis bewahrt werden muß, wie Urkunden und Siegel in eisernen Kassetten. Solange müssen auch Kapitel wie dieses geschrieben werden, soll es gelingen, heutige Staatswahrheit zu erfassen.

3. Staatskirchentum - Verbindung von Macht und Wahrheit

Die jahrhundertelange enge Verbindung von Staat und Kirche war nicht nur darauf gegründet, daß die geistliche Macht Kultur- und Sozialstaatlichkeit im modernen Sinn repräsentierte. Hier hatte vielmehr alle Macht ihre Wahrheits instanz ge-

12

I.S.d. Tacitus: geheime Prinzipien des monarchischen Regiments.

I. Volksherrschaft - Antithese zu "alten Staatswahrheiten"

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funden, eine Organisation, welche ständig herkömmliche Staatswahrheiten befestigte, neue bei Herrschaftsbedarf hervorbrachte. Dies alles geschah im kirchlichen Bereich in einem Vorgang, der weit mehr dem Erkennen zuzuordnen war als einem schaffenden Willen, welcher sodann, als weltlicher Arm, die Erkenntnis vollstreckte. Ihr beugte sich die Macht, sie nahm sie hin als Wahrheit, wenn sie von Wundem berichtete, errichtete um sie ihre Kirchen und Klöster - und auf ihr. Die großen Reichsabteien der Apostolischen Majestät sind bis heute eindrucksvolle Verkörperungen dieser steingewordenen Staatswahrheit geblieben, die von dort aus lebendig in das Volk hineinwirkte, in die Basis der weltlichen Macht. Was diese auf Erden durchsetzte, als ihre aus der Kirche fließende Staatswahrheit, bis zur Verbrennung der Irrlehrer, das war im Jenseits ruhige Realität, im Reich des wahren Gottes. Der Glaubenskrieg, den modemes Staatsverständnis belächelt, war nichts anderes als Kampf um Staatswahrheit im Namen und mit der unsichtbaren Macht der Kirche. Begreifen kann ihn historisch nur, wer die Staatsrnacht jener Zeiten gegründet sieht auf eine Staatswahrheit, welche sich durchzusetzen vermochte, bis ins Wunder der Schlachtensiege des rechten Glaubens, des wahren. Selbst dort, wo diese religiöse Staatswahrheit Kritik einschloß, auf diese sich gar gründete, wie in der Reformation, war auch sie, gerade darin, nichts anderes als Macht aus der Wahrheit des vernunfterkannten Evangeliums. Es war also kein Abfall von Staatswahrheit, sondern eine neuartige Befestigung der Macht durch sie, wenn dieser Protestantismus endete im Summepiskopat. Wo aber die Wahrheitssuche als solche gepredigt wurde, wie in kalvinistischen Gemeinden, da konnte sie Staatlichkeit weniger schaffen, als bekämpfen; und so entstanden dort die Freiheitsrechte, eine Abwehr des Menschen gegen Staatswahrheiten, welche herrscherliche Gewalt ihnen auferlegen wollte. Diese kirchliche Staatswahrheit erreichte in eigentümlicher, aber besonderer Weise Staatsnähe, Machtkonformität: Einerseits war sie getragen von einer Unbedingtheit des Glaubens, welche ihre Entsprechung im Gewaltmonopol der letztlich unwiderstehlichen Absolutheit der weltlichen Macht fand; zum anderen bot sie eine Zukunfts sicherheit, wie sie auch der seinem Wesen nach zeitlose Staat stets 13 verspricht, wie man sie von ihm jedenfalls erwartet. Wie er war diese geistige Wahrheit schließlich sichtbar verkörpert in Menschen, mehr noch in Ämtern, welche das Leben der Inhaber überdauerten, und endlich in jenem gewaltigen Versprechen, das den Wahrheitsfelsen des Petrus noch heute in seinem römischen Dom krönt: ... et in coelis, auch im Himmel wird diese Macht gelten, dort ist sie bereits Wahrheit. Macht und Besitz der Kirche, mit dem sie die Staatsgewalt im Diesseits umgab, werden sich daher nie begreifen lassen aus der Rechtfertigung heutiger Kirchensteuern und Staatshilfen für religiöse Gemeinschaften - daß diese gemeinnützige Aufgaben erfüllen, "für den Staat" 14. Einst schuf die Kirche die Wahrheitsgrund13 Siehe Leisner, W, Die Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 221 ff.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

lage des Staates, damit seine Basis schlechthin, sie war nicht nur eine Überzeugungsinstanz gegen unruhige, unzufriedene Gewaltunterworfene, wie es später der Marxismus gelehrt hat; sie brachte jene Staatswahrheit - damit geistig den Staat hervor, welche der Kommunismus von ihr hat erben wollen, er, der radikale Neuerer und zugleich Rückwärtsgewendete, mit seinem eben doch auf die Staatswahrheit des Ancien Regime gegründeten Machtsystem. Eines vor allem gewährte diese Kirche dem Staat mit ihrer Wahrheit: ungemessene Potentialität. Daß dieses Wort im theologisch-philosophischen Sprachgebrauch seit vielen Jahrhunderten aus derselben Wurzel kommt wie die "Macht,,15, ist kein sprachlich-historischer Zufall: Macht ist, sie handelt nicht, am stärksten wird sie, wo sie nicht zu handeln braucht. Die Kirche des Christentums ist potentielle Wahrheitsinstanz, in ihrer Organisation liegt unausgefaltete Wahrheit beschlossen. Wie aus einem ,,Mutterrecht,,16, im Sinne heutiger Grundrechtsdogmatik entfaltet die Kirche Wahrheiten bei Bedarf, früher waren es Staatswahrheiten, wann immer die Macht sie benötigte. Darin lag der tiefere Sinn der Kirche als einer Wahrheitsinstanz, in ihrer Organisation als "Wahrheit in potentia", so wie der Staat nichts anderes ist als Gewalt in potentia 17. Eine letzte, wiederum machtkonforme, Steigerung erfuhr diese kirchengetragene Staatswahrheit darin, daß sie der weltlichen Macht ein voll formiertes, flächendekkendes Staatswahrheitssystem zur Verfügung stellte, so wie diese, in diesseitiger Allgegenwart, virtuell jeden Ort ihres Territoriums 18, jede Bewegung ihrer Gewaltunterworfenen mit einem einheitlichen System der Macht überzog, wenn nicht überall präsent, so doch stets bald zur Stelle. Der Staat als Rechtssystem, als Rechtsordnung 19 - das ist nicht nur eine weltliche Auflage des großen kirchlichen Glaubenssystems, zuhöchst gesteigert in der Dogmatik der Katholischen Kirche; viele einzelne Staatswahrheiten schließen sich hier zusammen zu einem eigenständigen weltlichen Wahrheitssystem. Dies ist ge14 Marre, H., Das kirchliche Besteuerungsrecht, in: HdBStKirchR, (Hg. Listl/Pirson). Bd. 1,2. Auf!. 1994, § 37; Isensee, J., Die Finanzquellen der Kirche im deutschen Staatskirchenrecht, JuS 1980, S. 94 (95); BVerfGE 44, 103 f. 15 ,,Pot ... ": Einerseits "Potentia" im Gegensatz zum "Actus", vgl. Thomas v. Aquin, Summa Theologica I, qu. 9, 41; zum anderen "Potestas", ebda. III, 64. 16 BGHZ 24,72 (78); Dürig, G., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 2 Abs. I, Rn. 7; Nipperdey, H. c., Die soziale Marktwirtschaft in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1954, S. 6. 17 Das staatliche "Gewaltmonopol" (lsensee, J., in: HdBStR [Hg. Isensee/Kirchhof], Bd. 1,2. Auf!. 1995, § 13, Rn. 77; Benda, E., in: HdBVerfR [Hg. Benda u. a.], 2. Auf!. 1994, § 17, Rn. 14) regelt nicht den Gewalteinsatz, es bezeichnet nur eine letzte Möglichkeit, die Ausschließlichkeit des "Könnens". 18 Davon geht die völkerrechtliche "Territorialhoheit" als von einem Wesenselement der Staatlichkeit aus (Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Auf!. 1990, S. 247 ff.; Verdross, A.lSimma, B., Universelles Völkerrecht, 3. Auf!. 1984, S. 663 ff.). 19 Kelsen, H., Allg. Staatslehre, 1966, S. 16 ff.

11. Volkssouveränität aus "Wahrheitsrevolution"

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radezu vorgegeben mit dem Begriff der Wahrheit. Sie kann, im religiösen wie im weltlichen Sinn, immer nur eine sein, eine systematische, allgegenwärtige, so wie ihr Herr, aus dem sie kommt. So ist denn die Einheitsforderung ut ornnes unum sint der Kirche nichts als das geistige Grundmodell der Staatseinheit20 - aus der einen Staatswahrheit. Die modeme Staatsneutralität in Glaubenssachen 21 will die frühere Einheit von Staat und Kirche als Fehlentwicklung hinstellen, sie als solche überwinden. Sie übersieht, daß allenfalls Versuche eines Caesaropapismus, jenseitige Wahrheit und diesseitigen Willen der Macht gewaltsam zusammenballen, ja gleichsetzen wollten. Das Nebeneinander von Wahrheit und Macht aber, ihre vielfachen Verbindungen, Verschlingungen, wechselseitigen Legitimationen - dies alles hat überhaupt erst hervorbringen können, was heute Staat heißt: Macht gegründet auf Staatswahrheit.

11. Volkssouveränität - entstanden aus einer "Wahrheitsrevolution" 1. Die Französische Revolution als staatsreligiöse Umwälzung

Je mehr sich das religiös neutrale Staatsrecht einer säkularisierten Gesellschaft abwendet von den Kräften früheren Glaubens, desto mehr verschließt es sich zugleich dem Verständnis seines eigenen Ursprungs: der Revolution von 1789. Diese wird dann reduziert auf einen Aufstand gegen ökonomisch-soziale Unterdrückung, nach dem historisch-ideologischen Weltbild des Marxismus: Entscheidend soll der Sturz der monarchischen Macht sein, die antikirchliche Frontstellung wird als Nebenkriegsschauplatz dazu relativiert, wenn nicht zuallererst oder gar ausschließlich wirtschaftlich gedeutet. Übersehen wird damit die große Einheitlichkeit des Kampfes gegen Staat und Kirche, Staat als Kirche - Kirche als Staat, zusammengeschlossen in der einen Staats wahrheit, die gestürzt werden sollte. Die Französische Revolution war eine staatsrechtliche, vor allem aber eine staatsreligiöse Umwälzung. Damals ging es nicht primär um reine Diesseitigkeit, wurde doch weder das Höchste Wesen geleugnet, noch die Grundlage der neuen Freiheitsrechte allein in dieser Welt gefunden. Wesentlich blieb die neue StaatsWahrheit aus der Grundrechtsidee, diese Revolution war eine staatsrechtliche Reformation, die zu einer neuen Staatswahrheit aufbrach, diesmal aber zu einer "ganz anderen"; darin lag ihr wesentlicher Unterschied zu den staatsrechtlichen Bemühungen der Reformation. 20 Siehe dazu neuerdings "Staatseinheit", Colloquium zum 60. Geburtstag von J. Isensee 1998 (Hg. Depenheuer), sowie, zur Systemeinheit der staatskirchenrechtIichen Wahrheit, oben B, I. 21 v. Campenhausen, A., Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: HdBStKirchR (Hg. ListI I Pirson), Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 2, VII; vgl. dazu noch näher unten D, II, 3.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Diese war in FraI).kreich ein Kampf um Staatswahrheit gewesen, deutlicher noch als in Deutschland, wo sich fürstliches Machtstreben von einer weit tiefer angelegten, religiös verselbständigten Bewegung tragen ließ. In Frankreich ging es immer primär um die "Staats-Form des Religiösen", über die Reformation konnte daher auch im Staats-Akt der Konversion Heinrich IV. entschieden werden. Deshalb wollten die Revolutionäre von 1789 staatsrechtlich anknüpfen an die Zeit vor dem Sonnenkönig, der mit dem Widerruf des Toleranzedikts von Nantes die absolute Staatswahrheit des Katholizismus dekretiert hatte. Weil aber die Revolutionäre von 1789 keine neue Religion im herkömmlichen Sinn schaffen, ihre neue Staatswahrheit nicht aus einer solchen ableiten wollten, konnte spätere Betrachtung noch versuchen, auch in früherer Vergangenheit religiösen Neubeginn vor allem staatsgeschichtlich zu erfassen, als ob die religiöse Entwicklung nur ein Aspekt der politischen Entfaltung des "Volkes von Frankreich" sei 22 . Darin lag immerhin die Erkenntnis, daß bis zur Revolution gerade in Frankreich religiöse Umwälzungen immer wieder ihre "erste Ableitung" in neuen Staatswahrheiten gefunden haben; sie dürfen daher nicht religionswissenschaftlich isoliert werden, sind vielmehr stets im Zusammenhang zu sehen mit der machtpolitischen Entwicklung - als Staatswahrheiten 23 . Die säkulare Bedeutung der Umwälzung von 1789 liegt, aus der Sicht der Staatswahrheit, darin, daß hier einerseits Macht und Glauben gleichzeitig und bis in ihre Grundlagen erschüttert wurden, und dies in einer Ordnung besonders wirkmächtiger kirchlich geprägter Staatswahrheit. Anders als früher sollte nun aber eine ganz neue, nicht mehr nur eine reformiert-christliche Staatswahrheit der Macht zugrundegelegt werden. Nicht übersteigert ist daher der Ausdruck "Wahrheitsrevolution", will man das Wesen des französischen Neubeginns erfassen; es ist eine andersartige Staatswahrheit, die an die Stelle der früheren, glaubensbegründeten treten sollte. Diese Entwicklung hat weithin den Begriff der Staatswahrheit überhaupt in Vergessenheit geraten, den Wahrheitsbezug, das Wahrheitsstreben jeder staatlichen Gewalt hinter deren vom Volkswillen getragene Organisation zurücktreten lassen. Trümmer der Bilder dieser alten Staatswahrheit gilt es denn noch immer auszugraben unter dem Schutt, den die Verwüstungen der Freiheit hinterlassen haben nicht um sie zu restaurieren, sondern damit die Wahrheitsgrundlagen auch der neuen Volksmacht wieder sichtbar werden, welche 1789 hinterlassen hat; wie so oft in der Geschichte der Zerstörungen und Renaissancen 24 wird sich wohl zeigen, daß 22 Das war Hauptthema und Erfolg der postrevolutionären französischen Geschichtsschreibung, vor allem etwa von Henri Martin, Histoire de la France populaire, 1833 ff., 1856 ff., 1878 ff. in einer Kurzausgabe (etwa 1888 ff.) auch als "Histoire de la France populaire" bezeichnet. 23 Dies war allerdings vor allem eine Folge der in Frankreich traditionell stärker entwikkelten staatlichen Machtstrukturen. 24 Im einzelnen dargestellt bei Leisner, w., Staatsrenaissance - die Wiederkehr der "guten Staatsformen", 1987.

11. Volkssouveränität aus "Wahrheitsrevolution"

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vieles von ihnen auch hier aus alten Steinen zusammengesetzt ist. In Rußland sollte sich all dies später noch radikaler wiederholen, geradezu in einer ,,Revolutions-Renaissance".

2. 1789 - Aufbau einer "ganz neuen" Staatswahrheit Die historische Einmaligkeit der Französischen Revolution liegt in einem Zweifachen: Einerseits war sie Leugnung aller bisherigen Staatswahrheit, darin fundamentale reine Machtzerstörung - zum anderen wollte sie nicht eine der bisherigen vergleichbare neue Staatswahrheit aufbauen, vielmehr einen ganz neuen Wahrheits-Grund des Staates legen. Darin wächst die Bedeutung der Französischen Revolution über die der Russischen hinaus: Diese wollte zwar die völlige Vernichtung der bisherigen religiösen Staatsgrundlage - und doch bemühte sie sich zugleich um eine neue Staatswahrheit von durchaus vergleichbarer Art. Eine säkularisierte Staatsreligion sollte, in der Form staatsverkündeter Ideologie, im Grunde nichts anderes fortsetzen als die Staatswahrheit des Zarenreiches. Vielleicht war ihr gerade deshalb ein so großer, auch geistiger, Erfolg in ihren Anfangen beschieden, weil sie niemanden zwang, in völlig anderen Denkkategorien sich zu bewegen als in denen des herkömmlichen russischen Caesaropapismus. Darin liegt auch die tiefere Problematik des Zusammenbruchs gerade dieser Staatsideologie: Nun muß, zwei Jahrhunderte nach der französischen Umwälzung, nochmals bewältigt werden - in den früher kommunistischen Ländern wie im geistigen Raum von 1789 - was damals bereits versucht worden war: die Schaffung einer neuen, liberalen, einer "demokratischen" Staatswahrheit. Bei der Verdeutlichung ihrer Konturen muß ein Doppeltes klar sein: Hier geht es um ganz Neues, das mit der früheren, geglaubten, erzwungenen Staatswahrheit als Staatsgrundlage nichts mehr gemein haben will - und doch, und zugleich ist es noch immer Staatswahrheit, was hier gesucht, wenn nicht gefunden, so doch praktiziert werden soll. Für neue Macht allein wären die zahl- und namenlosen Soldaten der französischen Revolutionsarmeen nicht gestorben; es geschah für eine neuen Staatswahrheit, auch später noch auf den Schlachtfeldern ihres Kaisers. Solche Opfer bringt niemand für eine Gewalt, die nur darin real ist, daß sie über ihm steht, sondern nur für eine neue Wahrheit, welche das eigene Leben trägt und es zugleich überdauert. Die Lebenslust heutiger Bürger mag dem verständnislos gegenüberstehen. Hier ist der Zugang wohl verschlossen zu Heldentum im Namen von Staatswahrheit, wie es die Französische Revolution für die Demokratie neu hervorgebracht hat und doch stehen Demokraten von heute noch immer auf der Grundlage eben dieser so geborenen Staatswahrheit, sie opfern ihr und in ihrem Namen. Dienst an der

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c. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Staatswahrheit im Namen der futures generations war ein Kemwort der Überzeugungen von 1789; heute ist dies, wie die Umweltbewegung zeigt, ebenso aktuell wie damals. Für feme Kindeskinder allein aber läßt sich kein Bürger verpflichten; er ist es im Namen einer Staatswahrheit, die sein Leben ebenso trägt und prägt wie ein künftiges Zeitalter. Es ist das Überdauernde der Wahrheit, die ihrem Wesen nach unvergänglich gilt, nicht wirkt, welches auch noch die so "ganz andere" Staatswahrheit zur Staatsgrundlage macht, die seit 1789 die Demokratie trägt: noch immer ist es - Staatswahrheit.

111. Die neue Staatswahrheit der Demokratie: aus Vernunft statt aus Glauben Die neue Staatswahrheit ruht auf anderen Grundlagen als die frühere, und doch tragen sie deren Denkkategorien noch immer: Sie sucht einerseits nach wie vor den historischen Beleg, die Rechtfertigung aus früheren Vorgängen, und seien sie auch, aus der Sicht einer rasch lebenden Zeit, bereits in Unvordenklichkeit zurückgefallen, damit aber auch indiskutabel geworden; zugleich aber will sie sich auf eine übergeschichtlich-zeitlose geistige Wahrheit stützen, auch darin über Bestreitbarkeiten hinaus-, von der Staatsmöglichkeit zur Staatswahrheit hinaufwachsen. In beiden Richtungen gewinnt sie den Anschluß an frühere Grundlagen der Staatswahrheit: Dokumente und Glauben.

1. Freiheit als ursprüngliche Rechtstatsache

Die Revolutionäre mußten damals, die Demokratie mußte auch seither lange Zeit ankämpfen gegen frühere Staatswahrheit, welche ihr im Namen des Herkömmlichen entgegentrat. Je länger sich die wahlgestützte Volksmacht behaupten kann, desto mehr entwickelt sie eigene Traditionen, kann sich damit in Selbstverständlichkeit auch frühere Herkommens-Legitimation zueigen machen. Doch die ihre ist immer eine Tradition des Wechsels, der Bestreitbarkeiten; sie muß sich daher stets, will sie geschichtliche Belegbarkeit zu ihrer Begründung einsetzen, auf eine andere Traditionsebene begeben, welche schon die Revolutionäre vor und nach 1789 erreicht hatten: Ihre neue Staatswahrheit bedurfte ebenso einer Art von historischer Rechtfertigung, wie sie die ihrer feudalen Gegner in deren Urkunden, ihrer bekannten Geschichte gefunden hatte. Die Kinder des enzyklopädischen Zeitalters unterlagen voll dessen historischem Legitimationszwang. So suchten sie nach Grundlagen, welche älter und daher mächtiger sein konnten als alle diplomierten Privilegien. Aus der historisch stärkeren Rechtstatsache sollte die neue Rechtswahrheit erwachsen, die den Staat trug.

III. Die neue Staatswahrheit der Demokratie

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Geschichten um den Gesellschaftsvertrag, von Locke bis Rousseau, waren keineswegs nur Staatsdogmatik, sie sollten Historie bringen 25 , wenn auch nur postulierte, urkundlich nicht beweisbare; doch so stark hatten bereits platonische Staatsmythen 26 wie römische Staatslegenden gewirkt27 , daß plausible Geschichte die wahre ersetzen, ja überhöhen konnte, sogar noch im Namen einer alles beherrschenden Vernunft. Man mochte sich, aus leidvollen Erfahrungen, noch scheuen, frühere Freiheitsaufstände, ,,Jacquerien", als historisch faßbare Belege der neuen Staatswahrheit anzuführen, waren sie doch weder von Vernunft, noch von Freiheits- oder gar Eigentumsachtung getragen; solcher Revolutions-Historismus sollte später dem Kommunismus vorbehalten bleiben. Doch die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen war ebenso eine gegenwärtig laufend feststellbare wie historisch unzweifelhafte Tatsache, daher eine real faßbare neue Staatswahrheit; der "Staatsakt der Bürgergeburt in Freiheit,,28 wirkte stärker, auch historisch, als vergilbte Privilegien-Dokumente. So fand denn in jenem nahezu untrennbaren Geflecht von Dogmatismus und Historismus, wie es Philosophie und Historie des 17. und 18. Jahrhunderts kennzeichnet29 , etwas statt wie Vorgefechte um eine neue Staatswahrheit im Namen jener geistigen Kraft, welche immer nur auf Wahrheitssuche wesentlich gerichtet sein kann - der Vernunft30 . Dies ist die Geschichte des Übergangs von der früheren Staatswahrheit in eine ganz andere, neue. An die Stelle jener urkundsbewehrten Tradition, welche die erste Stütze der alten Staats wahrheit gewesen war, trat nun, in entscheidender Verbreiterung dieser Basis der Macht, die dogmatisierte Historie, bis hin zu einer Vernunftbetrachtung ihrer verdämmernden Ursprünge. An diesem "vernunft-gesteuerten", zu Zeiten recht freien Umgangs mit historischen Wahrheits-Fakten hat sich im Grunde bis heute wenig geändert ...

25 Immerhin geht der Contrat social Rousseaus immer wieder auf historische Ableitungen zurück (vgl. etwa Buch I, 2; II, 10; III) in ständigen Rückgriffe auf die Vorgänge der Antike (vgl. auch etwa Montesquieu, De l'Esprit de Lois, z. B. Buch IV, 4 ff.; VII, 7 ff.; X, 5, 12, 14). 26 Allen voran der des "Gorgias", 523 ff. 27 Ihr großes Lehrbuch waren die Historien des Livius, der unterschwellige Republikanismus des Tacitus, und so konnten sich diese beiden Parade-Autoren der vorrevolutionären Zeit kontinuierlicher Beliebtheit erfreuen: in eigenartiger Ambivalenz - als Künder einerseits der aristokratisch-caesarischen Ordnung Roms, andererseits des Vordringens der plebs zur Macht, in immer neuen Herrschaftsverträgen. 28 Geradezu hymnisch besungen im Eingang der Universellen Menschenrechtserklärung von 1789. 29 Siehe etwa f. viele Mably, Observations sur I'Histoire de France; oder seine Observations sur I'Histoire de Grece. 30 Vgl. die klassischen Ausführungen bei Diderot und d'Alemben, Encyclopedie, "Raison".

C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

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2. Gleichheit - unmittelbar einsichtig wie die Glaubenswahrheit

An die Stelle der zweiten Säule des Ancien Regime, der im Gottesgnadentum religiös geoffenbarten Hierarchie, im Himmel wie auf Erden, tritt nun die vernunft-geoffenbarte, die rational erkannte Gleichheit als die große, systematische Gegenwahrheit, als Staatsgrundlage. Sie beruft sich nicht auf eine transzendente Offenbarung höherer Wahrheitsgehalte, nicht auf diesseitige priesterliche Verkörperung jenseitiger unsichtbarer Wahrheitsinstanzen, sondern wieder nur auf eine Wahrheitsquelle: die erkennende Vernunft. Ihren Erkenntnis-Gegenstand findet diese wiederum in der Realität der Geburts-Gleichheit aller Menschen 31 ; sie entspricht, täglich unzählige Male, der Einmaligkeit fürstlicher Krönung: Der Volkssouverän wird mit seiner gleichen Geburt als Träger der absoluten Macht - gekrönt, ein für allemal und bis zu seinem Tode. So muß der Begriff der Volkssouveränität32 erfaßt und ernst genommen werden: Er läßt sich nur aus einer monarchischen Souveränität begreifen, welche die Gleichheit auf alle Bürger verbreiternd erstreckt - Gleichheit als Gottesgnadentum des Jedermann. Eines verbindet, trotz aller Einmaligkeit der Revolution, dieses neue Staatscredo mit früheren Staatswahrheiten: Auch diese waren ja auf Erkenntnis gegründet, welche ihre Sicherheit aus dem Glauben gewann, sie in dieser Welt realisiert sah. Erkenntnis-Wahrheit ist aber auch die Gleichheit von Anfang an gewesen, für die Demokratie seit der Französischen Revolution unverändert geblieben. Die Revolutionäre wollten nicht, wie später ihre kommunistischen Erben, zu allererst und ganz wesentlich Gleichheit erst schaffen, sie durchsetzen; in all ihrem Bemühen suchten sie stets nur aus ihrer Gleichheits-Erkenntnis Folgerungen abzuleiten, die eben deshalb nur zu oft im Grundsätzlichen blieben, eine reale Basis durch Herstellung materieller Gleichheit nicht finden konnten. Es ging hier um die Anerkennung einer neuen Staatswahrheit, nicht um eine Gesellschaftsveränderung, in welcher diese Realität werden sollte. Stark war noch der Glaube an die selbsttätige Wirkung einmal erkannter Staatswahrheit im politischen Raum, in einer von Vernunftgläubigkeit geprägten Zeit. Genügte es nicht, die neue Gleichheits-Wahrheit zu erkennen, anzu-erkennen, würde dann nicht in der Praxis alle politische Egalität alsbald hinzugeben werden? In dieser Überzeugung unterschieden sich die kirchenfernen Revolutionäre kaum von ihren Gegnern, für welche Glaube und Erkenntnis untrennbar verbunden waren: Alle glaubten sie an die rationale Macht des Erkannten, die einen aus der Offenbarung, die anderen aus der neuen Staatswahrheit der Gleichheit. Diesen beiden Staatswahrheits-Grundlagen war ja, bei all ihrer Unterschiedlichkeit, eines gemeinsam: die unmittelbare Einsichtigkeit der so erkennbaren, erkannVgl. Fn. 28. Vgl. Schneider, H.-P., Das parlamentarische System, in: HdBVerfR (Hg. Benda u. a.), 2. Auf!. 1994, § 13, Rn. 36 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. II, Rn. 33 f.; Leisner, w., Volk und Nation als Rechtsbegriffe der Französischen Revolution, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 150 ff. 31

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III. Die neue Staatswahrheit der Demokratie

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ten Wahrheit, deren Absolutheit das Gewaltmonopoe 3 legitimiert, welches eine Staatswahrheit zu ihrer Durchsetzung braucht und zugleich der Macht als deren Grundlage verleiht. Die Offenbarung ließ früher keinen Zweifel aufkommen an der Legitimation von Kirche und Staat; ebenso eindeutig, indiskutabel, unbezweifelbar war und ist nun das neue Axiom der Gleichheit der Menschen, welches von jedem erkannt werden kann, jedem einleuchtet34 . Damit ist die Egalität sogleich und selbstverständlich von allgemeinem Konsens getragen; sie beweist sich eben darin geradezu selbst, daß alle Bürger sie gleichermaßen erkennen, nein: sie einfach sehen, wollen sie nicht - sich selbst übersehen. Diese neue Staatswahrheit unterscheidet sich von religiösen Überzeugungen also nicht in der gemeinsamen unmittelbaren Einsichtigkeit, sondern vor allem in einem: Einst wurde eine Wahrheits-Instanz, die des Allmächtigen, religiös anerkannt, nun ist es sogleich ein fester, konkret faßbarer Wahrheits-Inhalt, der alle Macht trägt, auf den die Durchsetzung dieser Egalität gerichtet sein muß, eine neue "propaganda fides". Denn dies ist nun eine weitere Wende: Die Staatswahrheit wird zur Staats-Aufgabe 35 , deren Erfüllung durch die Staatsgewalt für den Volkssouverän faßbar, durch ihn erzwungen wird. Auch frühere, fürstliche oder autoritäre Staatlichkeit hatte "Staatswahrheit als Staatsaufgabe" erkannt, in ihrem Namen gehandelt, sich darin legitimiert. Doch wer geglaubt hatte, damit werde die Staatsrnacht gebändigt, an die Ketten kontrollierbarer Erkenntnis gelegt, der sieht sich seit zwei Jahrhunderten im Gleichheitsstaat enttäuscht36 ; diese Staats aufgabe aus der neuen Staatswahrheit ist eine so allgemeine, läßt der Macht soviel an interpretierender Freiheit, daß nur eines mehr bleibt: immer stärkeres Drängen zum Einsatz aller Staatsgewalt, in diese Richtung. All dies ist aber letztlich die Folge einer unmittelbaren Einsichtigkeit, welche eben auch diese Staatswahrheit prägt, wie die früheren Offenbarungswahrheiten; sie wurden in dieser neuen revolutionären Überzeugung nur durch eine andere Staatswahrheit ersetzt, eine vermeintlich realitäts-, damit aber "erkenntnis-nähere".

33 Letzte Begründung kann das staatliche Gewaltmonopol (vgl. lsensee, J., Staat und Verfassung, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhot), Bd. I, 2. Auf!. 1995, § 13, Rn. 74 ff. m. weit. Nachw.) nur in einem finden: im letzten Richtigkeitsmonopol der staatlichen Machtentscheidungen, das auf Staatswahrheit zurückführt. 34 In früheren Betrachtungen zur Gleichheit war zwar von der politisch wirkenden Mächtigkeit der Egalität die Rede, insoweit auch von ihrer Evidenz (vgl. Leisner; W, Der Gleichheitsstaat, 1980, insbes. S. 67 ff., llO ff.), nicht aber von der Erkenntnis-Geneigtheit dieser neuen "säkularisierten Staatsreligion". 35 Zur "Gleichheit als Lawinengewalt", zu "immer mehr Gleichheit" vgl. Leisner; W, Demokratie, 1998, S. 248 ff. 36 Zur Unkontrollierbarkeit der Gleichheitsentscheidung vgl. Leisner; W, Demokratie, 1998, S. 262 ff.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

3. Staatswahrheit aus Vernunft: Verlust der organisierten Wahrheitsinstanz Der religiös neutrale Staae 7, das bleibende Erbe der Französischen Revolution, hat vor allem in einem eine umstürzende, grundlegende Veränderung in der Staatswahrheit gebracht: Er anerkennt nicht mehr ein Organ, welches sie unwandelbar verkündet; an die Stelle der Kirche, welche Offenbarungen predigt und fortentwikkelt, tritt die Vernunft jedes einzelnen Bürgers als allgegenwärtige Instanz des ,,staatswahrheits-Verfahrens,,38. Damit ist es bereits seit langem, zu einer in ihren Auswirkungen noch kaum bemerkten "Entamtung" gekommen, die heute bereits den Staat und seine Macht zu bedrohen beginnt. Solange konnte er, "in eigener Instanz", mit eigenem "Amtsbonus", seine Wahrheiten selbst verwalten, wie er laufend durch die organisierte Wahrheit der Kirche getragen war, deren Organisationsformen ebenso ewig erschienen wie die Inhalte ihrer Verkündigung. Ihr Wahrheitsgehalt kam geradezu in jener festen, dauernden Struktur zum Ausdruck, die man Institution nennt 39 . Die Französische Revolution hat die Staatswahrheit "aus dieser Institution geworfen", hinein in eine Subjektivierung, Vergeistigung und Verinnerlichung der Wahrheitserkenntnis, welche diese aber zugleich als Machtgrundlage gefährdet, ja entwertet. Nun ist die staatsgrundlegende Dualität der beiden Reiche beendet, deren eines die Wahrheit, die Erkenntnis, das andere die Macht, den Willen verkörperte, so daß dann beide Köpfe den Körper des einen Reiches im Namen der Staatswahrheit beherrschen konnten. Nun bleibt die Staatsrnacht als Instanz auf sich selbst gestellt, aus sich heraus muß sie ihre Staats wahrheit finden und entwikkeIn, ohne institutionelle Stütze, oder doch nur mit einer solchen, welche sie selbst in ihrem demokratischen Willensbildungsprozeß aus dem "Volkssubstrat" zur Verfügung stellt. Diese Staatswahrheit findet kein Wahrheits-Amt mehr, dessen Autorität sie hält, es sei denn in einem Richterturn, welches an die Stelle der kirchlichen Autoritäten getreten ist, diese aber, wie sich noch zeigen wird, in der Festlegung von Staatswahrheiten nie erreichen kann. Ihre Grundlage bleibt die Vernunft des 37 Zu diesem Begriff in seiner Bedeutung vgl. v. Campenhausen, A., Der heutige Verfassungsstaat und die Religion, in: HdBStKirchR (Hg. Pirson/Listl), Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 2, insbes. V, 7. 38 Zu diesem Begriff vgl. oben B, IV - Wenn es keine überindividuelle Vernunft gibt, im Sinne eines "Weltgeistes", kann darin nur eine Individualisierung, eine Art von ,,Entkollektivierung" des obersten Staatsorgans liegen, von dem "alle Gewalt ausgeht" - des Volkes: seine einzelnen Glieder, die Bürger, sind dann gewissermaßen "Erkenntnisorgane der Staatswahrheit". Die Interpretation dieser Verfassungsformel erscheint dagegen meist "willensmäßig" gewendet, nicht erkenntnismäßig, auf Staatswahrheit gerichtet, vgl. Badura, P., Die parlamentarische Demokratie, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 23, Rn. 1 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. 11, Rn. 37 ff.; Krüger; H., Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 200 f. 39 Zippelius, R., Allg. Staatslehre, 12. Aufl. 1994, S. 39 ff.; Krüger; aaO., S. 168 ff.; Herzog, R., Allg. Staatslehre, 1971, S. 139 ff.

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Jedermann, als eine lebendige, in "Fortschritt" wesentlich agierende, allgegenwärtige Instanz. Über diese Vernunftgläubigkeit der Revolutionäre von 1789 mochten spätere Demokraten lächeln, ihr die eigene "Vernunft aus Willen" gegenüberstellen. Doch noch heute lebt die Demokratie aus diesem Vernunftglauben, der aber die Instanz der Staatswahrheit gewechselt hat - vom kirchlichen Amt zu dem, was die alte Kirche die höchste Instanz des menschlichen Gewissens genannt hatte 40 . Daß der Staat der Gegenwart diese Entamtung seiner Staatswahrheit hinein in die Rationalität der Bürgervernunft überstehen wird, kann heute nur Hoffnung sein. Gelänge dies allerdings nicht, so wäre endgültig die Macht von der Wahrheit getrennt, der Wille vom Erkennen, weil dessen Instanz, die Bürgervernunft, sich verlöre in interessenverfolgendem Bürgerwillen. Die vielen, immer lauteren Appelle an die Rationalität gegenwärtigen Regierens41 zeigen, daß die erkennende Vernunft nicht abzudanken bereit ist zugunsten des Willens reiner Machtdurchsetzung, daß noch etwas von Staatsrationalität bleiben soll, in der Hoffnung, daß es von Bürger-Vernunft getragen werde. Solange aber ist Staatswahrheit noch kein Wort der Vergangenheit. Nun sind zwar alle Wahrheitsstützen des Ancien Regime ausgewechselt, vollständig wie es scheint; auf ihnen ruht aber doch wieder eine neue, eine wenn auch labil formierte - doch wieder eine Staatswahrheit der Demokratie. Solange dort noch an die Kraft des Erkennens - geglaubt wird, ist die Verbindung zu früheren Staatswahrheiten, die aus dem Glauben kamen, nicht verloren.

4. Demokratische Staatswahrheit: Kontinuität zu früheren Wahrheitsgrundlagen der Macht?

In der französischen Staatslehre vor allem ist versucht worden, die aus der Revolution hervorgegangene Staatsrnacht in die Kontinuität absolutistischer Souveränität zu stellen; so wurde selbst die "Staatssouveränität" des deutschen Konstitutionalismus gedeutet. Die Kategorie Staatswahrheit als solche ist sicher in der postrevolutionären Staatlichkeit nicht schlechthin verloren. Doch nunmehr trägt nicht mehr, wie früher diese Wahrheit den Staat, sondern der Staat die Wahrheit; darin liegt Kontinuität zu Früherem.

40 In diesem Begriff des "demokratischen Gewissens" gewinnt das Wort con-scientia eine neue Bedeutung: ,,Zusammen mit anderen Staatswahrheiten wissen - erkennen." 41 Die auch geradezu als Verfassungsgebot der Rechtsstaatlichkeit erscheint, Kunig, P., Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, insbes. S. 240 ff.; Sachs, M., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 20, Rn. 49 ff.; Benda, E., Der soziale Rechtsstaat, in: HdBVerfR (Hg. Benda u. a.), 2. Auf!. 1994, § 17, Rn. 1 ff.; Sobota, K., Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, 1997.

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c. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Gerade in Frankreich hat die fest formierte, institutionalisierte Staatlichkeit die Revolution nicht nur überlebt, sie ist von Napoleon, ihrem Erben, noch weiter, in geradezu absolutistischen Traditionen, verfestigt worden. Dann aber mußte sich diese Macht, so wie die des Sonnenkönigs, frühere Staatswahrheit wieder ins Haus rufen, in ihre eindrucksvollen Staatspaläste des 19. Jahrhunderts. Und dies geschah selbst noch in der bewußten Nachfolge der Revolution, in jener "republikanischrevolutionären Tradition", aus welcher das Land immer wieder gelebt hat, geradezu aus altem Staatswahrheits-Herkommen seines Ancien Regime heraus. Dies führt zu einer allgemeineren Feststellung: Je mehr an Staatsgewalt sich institutionell, aus der Vergangenheit oder erneut in revolutionärer Gegenwart, verfestigen oder in Festigkeit halten läßt, desto mehr ruft sich und braucht sogar die Volksherrschaft "ihre Staats wahrheit", sie wird sie selbst in Kontinuität zu Früherem zu schaffen suchen, zu Geglaubtem oder rational Erkanntem. Wie schon autoritäre Regime des 20. Jahrhunderts an alte Traditionen anknüpfen mußten, so läßt sich dies nun grundsätzlich in alle fest formierte Staatlichkeit hinein verbreitern: Sie bedarf stets der rationalen Säule, in geschichtlicher oder in anderer Erkenntnis, die sie legitimiert, ihr erst ihre Aufträge gibt. Für die Demokratie zeigt also eine Betrachtung der Staatswahrheit, daß sie Staatskontinuität soweit sichern kann, wie ihre eben doch noch immer festen, im Ursprung vorrevolutionären Strukturen von Ämtern und Kompetenzen der gleichen Legitimationen und zugleich Ziele bedürfen, wie ihre Vorgänger-Regime. Nicht die Inhalte der Staatswahrheit als solche sind es, welche diese Kontinuität herstellen, sondern die überdauernden staatlichen Strukturen, die "verwaltete Wahrheiten" als Daseinsberechtigung und damit zu ihrer Befestigung benötigen staatliche Ordnung als Wahrheits-Verwaltung. Doch es ist eben nun eine andere Staats wahrheit, die zu ihnen kommt, eine wesentlich flexible, labile, in alle Richtungen veränderbare 42 • In Grenzen mochte dies auch für frühere, geoffenbarte Staatswahrheiten gelten, welche der Interpretation durch die heilige Staatswahrheits-Instanz auf Erden offen standen. Doch sie lebte als solche aus Kontinuität, gewann ihren Wahrheitsbeweis gerade aus dieser. Wenn nun aber eine neue, eine demokratische, wandelbare Staatswahrheit die Staatsmacht trägt, so kommt nicht mehr aus ihr das Beharrungsvermögen staatlicher Kontinuität, sondern nur mehr aus den Machtstrukturen des Regimes als solchen, welche sich in kontinuierlicher Staatspraxis erhalten, selbst befestigen. Und so wird aus der Sicht der Kontinuität eher eine andere Frage zu stellen sein: Wie lange können die Staatsstrukturen der Volksherrschaft die Dynamik sich wandelnder Staatswahrheiten aushalten? Der revolutionäre Wandel von der jenseitigen zur diesseitigen Staatswahrheit ist daher eben doch ein historischer Einschnitt, er wirkt kontinuitätsbrechend43 . Mit Vgl. oben B, V. Es vollzieht sich damit nun eine laufende .. Ent-Legalisierung" der Staatsmacht, zur Bewahrung demokratischer Legitimität, im traditionellen Verständnis des Begriffspaares 42 43

IV. Diskutabilität und demokratische Staatswahrheiten

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Notwendigkeit muß sich nun der "Tatsachengehalt" der neuen demokratischen Staatswahrheit noch steigern, ihre Realitätsnähe sich verstärken, damit die rational erkennbare Staatsgrundlage noch faßbar bleibt. Diese demokratische Staatswahrheit bedarf einer "Theorie der wahren Staats-Tatsachen", erkennbar in rechtlichen Verfahren, erfaßbar in Prozeß-Kategorien des Rechts. War früher das Recht die Herrin der Macht, doch Magd der Theologie, so wächst ihm nun eine neue Aufgabe zu: Staatswahrheiten in rechtlich, nicht mehr nur theologisch, faßbaren Formen zu entfalten, aus der Erkenntnis von Realitäten, nicht von Glaubensinhalten.

IV. Diskutabilität: Auflösung oder Beweis demokratischer Staatswahrheiten ? 1. Demokratie: Wahrheit aus Diskussion

Gewandelt hat sich in der Demokratie, so scheint es, doch alles an der Staatswahrheit: ihre nun nicht mehr kirchlich-ethisch geprägten, nicht mehr geoffenbarten Inhalte ebenso wie die Instanz der Wahrheitsurteile, welche von den Kirchenämtern in die Bürgervernunft verlegt wurde. Vor allem aber hat sich der Wahrheitsbegriff selbst verschoben, mit diesen wahrhaft umstürzenden Veränderungen im "Wahrheitsverfahren": Die letzten Grundlagen der neuen Staatswahrheit, die Gleichheit vor allem, mögen noch immer als unmittelbar erkennbar und erkannt gesetzt, Wahrheit insoweit als etwas fest Vorgegebenes wahrhaft "unterstellt" werden. Doch in all ihren Ausprägungen, in grundsätzlichen Inhalten bereits, nicht nur in Einzelheiten, ist die Staatswahrheit nun nicht mehr das aller Politik unwandelbar Vorgegebene, eine klare Aufgabe, unter welche sich diese stellen muß. Etwas neues, eminent Wahrheits-Relevantes ist heraufgekommen: Staatswahrheit verlangt Diskussionsfreiheit, nur im Streit entsteht sie, wird sie erkannt. Darin liegt mehr als eine Verstärkung der Antithese zur früheren kirchlichen Wahrheits-Verwaltung. An ihre Stelle tritt nun nicht nur die an sich schon völlig neue Instanz der Bürger-Vernunft; vielmehr wird das Wahrheits-Erkenntnisverfahren geradezu auf den Kopf gestellt - oder auf die Füße -, im Raum wie in der Zeit: Die Wahrheit kommt nicht mehr von oben, sondern von unten; sie ist nicht bereits vor aller Diskussion da, den Bürgern vorgegeben wie ihrem Staat, sie wird in Diskussion erst geboren. Doch ihre rationale Natur wird dadurch nicht verändert, die endlich obsiegende Mehrheit wird zum Notar entfalteter Staatswahrheit. Wie sich einst Priester und Heilige in Askese und Gebet sammelten in Erwartung göttlicher Erleuchtung, damit aus der Stille eine Staatswahrheit zu ihnen komme, die sie dann den Mächtigen zu verkünden hatten - so, und doch ganz anders, sammeln sich nun der Volkssouverän und seine Vertreter im Lärm der Streitgespräche, wie (Schmitt, c., Legalität und Legitimität, 1932, insbes. S. 32 ff.; ders., Das Problem der Legalität [1950], in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 440 ff. [448 ff.]). 6 Leisner

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C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

schon ihre Bürger in ihren Zirkeln, manches bereits erwägend und vorschlagend, nichts noch wissend, aber in der Sicherheit, daß am Ende eine Wahrheit steht, der man sich unterwirft. Zuwenig ist bisher darüber nachgedacht worden, daß die Regel der Mehrheitsentscheidung, diese Grundlage aller Demokratie44 , sich durchaus nicht nur willensmäßig begründen läßt, am Ende in reiner Gewaltaddition, da die Mehrheit eben stärker ist als die geschlagene Minderheit45 . Wenn etwas ist an dem rationalen Wesen der demokratischen Staatsform, so muß diese davon ausgehen, daß die Mehrheit nicht nur das Beste findet, sondern das Wahre; denn nur ihm kann sich letztlich eine Minderheit geschlagen geben, welche nicht eine genügende Zahl von Gleichen hat überzeugen können, weil sie eben nicht hinreichenden Wahrheitsgehalt in die Diskussion werfen konnte. Die Gegenthese ("Mehrheit ist Unsinn - Vernunft ist bei wenigen stets gewesen") stellte die Wahrheitsfrage gerade für das Majoritätsprinzip; sie lehnt "Quantifizierung" in einem Erkenntnisverfahren der Staatswahrheit ab. Demokratie dagegen ist aufgebaut auf einem Grundsatz, den jedes Kollegialgericht praktiziert: daß als bewiesene Wahrheit gilt, wovon die Mehrheit der Richter überzeugt werden kann. Die engen Bezüge des Gerichtsverfahrens zur demokratischen Willensbildung treten gerade an dieser Stelle der "Wahrheitserkenntnis durch Mehrheiten in Diskussion" schon seit der attischen Volksherrschaft in allem hervor, was sich je Demokratie genannt hat. Diese demokratische Staatswahrheit gleicht einem verborgenen Schatz, dessen Ort die Redner der Diskussion weisen, den die Teilnehmer sodann in Mehrheit heben. Diese Wahrheitsfindung, führt zu einer Erkenntnis, welche aller Kritik der Minderheit widerstehen kann, unerschütterlich, wie der Beichtvater dem Fürsten über göttliche Erleuchtung den rechten Weg der Staatsführung wies. Die Unbedingtheit des demokratischen Allgemeinen Willens, mit welchem Rousseau seine Mehrheit auch für die unterlegene Minderheit sprechen läßt, erklärt sich nur aus solchen Wahrheitskategorien. 2. Politische Diskussion: ernstgenommene Staatswahrheit

Wer die leidenschaftlichen Diskussionen der ersten französischen Nationalversammlung von 1789 nachliest, mag glauben, einem Gottesdienst an der politischen 44 Vgl. dazu bereits allgemein oben B, IV, 2 sowie im hier behandelten Zusammenhang: Gusy, c., Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, AöR 106 (1981), S. 329 ff.; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 140 ff.; Herzog, R., in: Maunz/DÜfg, GG-Komm., Art. 20 Abs. 11, Rn. 14; Leisner, W, Demokratie, 1998, S. 527 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 610 ff.; Zippelius, R., Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie, 1987; BVerfGE 2,1 (12 f.); 5, 85 (140,197 ff.). 45 V gl. dazu bereits grundSätzlich oben B, IV, 2.

IV. Diskutabilität und demokratische Staatswahrheiten

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Staatswahrheit beizuwohnen. Eine lange Entwicklung war es von dort zu heutigen parlamentarischen Debatten, denen Kritik oft vorhält, dort würden nur Wahrheiten zerredet. Wenn Demokraten schon im 19. Jahrhundert verkündeten, sie seien "wahr nur, soweit sie diskutabel" blieben, so liegt darin bereits dieser gefährliche zweite Weg der Diskutabilität zur Staatswahrheit - oder vielmehr weg von dieser: laufende Erörterung, von allem und jedem, als eine Form der Auflösung von Wahrheiten, als ein Instrument hinterfragender, in Frage stellender Skepsis. Dies ist heute schon von breiter Überzeugung getragen: Diskussion als resignierendes Instrument des Findens von Minimallösungen, welche nicht mehr einen Anspruch auf Staatswahrheit erheben. Diskussion wird dann zu einem Vorgang, der wirklich alles "auseinanderschlägt", im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung, in immer kleinere Trümmer, aus denen sich das Bild einer, wenn auch verschleierten, Wahrheit auch nicht umrißhaft mehr gewinnen läßt. In dem Wort von der Diskutabilität liegt dann etwas von erschöpftem Verfahren, von fruchtlos beendeter Diskussion, die nicht mehr das Wahre bringen will, sondern "gerade noch etwas, damit etwas sei". Dieses Ende der Staatswahrheit in der Setzung politischer Minimallösungen, über geringsten gemeinsamen Nenner, führt zum kleinsten möglichen Staatsfaktum46 . Allenfalls wird noch nostalgisch zurückgeblickt auf die beeindruckende, schier grenzenlose Diskussionsfreudigkeit früher Volksherrschaften, in jenes Reich der unbeschränkten Möglichkeiten in der Suche nach der Staatswahrheit. Doch nun steht nicht mehr diese revolutionäre Begeisterung hinter der "Diskussion um der Diskussion willen", nicht mehr die Goldgräber-Passion zahlloser Staatswahrheits-Funde, sondern die Resignation des nie zu hebenden Schatzes, über dem der Staat bescheiden sein gerade noch umgreifbares Feld bestellt. Doch dies ist nichts als degenerierender Abfall von den Urkräften der Demokratie. Richtig und ihre Staatswahrheit ist das Gegenteil: Diskutabilität kann nur bedeuten, daß die Wahrheit besonders ernst genommen wird in dieser Staatsform, daß man ihr deshalb Zeit und Mühe opfert, Reibungsverluste 47 ohne Zahl in Kauf nimmt, um sie sichtbar werden zu lassen, rational überzeugend. Daß dahinter die Erkenntnisgrenzen der Vernunft sichtbar bleiben, ist seit Kant, dem Zeitgenossen der großen Revolution, ebenfalls eine unverzichtbare - Staatswahrheit, eben dieser Volksherrschaft. Sie aber steht nicht an, diese auf unser Erkenntnisvermögen relativierte Wahrheit mit ihrer Macht dann so absolut zu setzen, daß in dem Gesamtwort Staatswahrheit das Teilwort Staat die mangelnde Sicherheit des Teilworts Wahrheit kompensiert. 46 Wo aber doch der Staat wesentlich die "große Lösung" bringen soll (vgl. Leisner; w.. Der Monumentalstaat - Staatlichkeit als große Lösung, 1989, insbes. S. 121 ff.• 224 ff.). 47 Sie sind nie verkannt worden in der Behandlung der "föderalen Diskussion" als "kooperativer Dialog", vgl. Isensee. I .• Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HdBStR (Hg. Isensee I Kirchhof), Bd. IV, 1990, § 98, Rn. 299 ff.; Rudolf, w., Kooperation im Bundesstaat, ebda., § 105, Rn. I ff.; Scheuner; u.. Kooperation und Konflikt. Das Verhältnis von Bund und Ländern im Wandel, DÖV 1972, S. 585 ff.; Vogel. H.-I., Die bundesstaatliche Ordnung des GG, in: HdBVerfR (Hg. Benda, u. a.). 2. Aufl. 1994, § 22, Rn. 12 ff.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Vom Ancien Regime der Feudalzeit unterscheidet sich die Demokratie vor allem aber darin: Sie ist nicht, wie jene Ordnung, ein beruhigter Staatszustand, der aus statischer Staatswahrheit lebt, sie will den erregten, aufgeregten, bewegten Staat, dessen Wahrheiten dann aber nur um so bewegender auftauchen aus der Flut gewechselter Worte - Diskussion als ein Zeichen ernstgenommener Wahrheitssuche. Staatswahrheit der Demokratie "ist" jedoch nie einfach und schlechthin Verfahren48 , nie allein Diskussion. Staatswahrheit darf für Demokraten, die diesen Namen verdienen, nur etwas so Hartes sein, daß es aus diesem leuternden Feuer hervorgeht mit dem Glanz höherer Erkenntnis:

3. Diskussionswahrheit - zu Glaubenssicherheit gesteigert

Nicht die Diskussion an sich soll in der Demokratie stattfinden, sondern die intensive Erörterung. Ihre Steigerung in Allseitigkeit und Vertiefung, ihre objektive und subjektive Intensivierung im Engagement der Teilnehmer, soll in diese politischen Debatten etwas bringen von religiöser Glaubensinbrunst; dies wird gerade dann erreicht, wenn eine neue "Ordnung" entstehen soll, wie die Volksherrschaft sie sich allein vorstellen kann: eine "noch demokratischere,,49. Dieser demokratischen Diskussion ist daher, aus ihren zentralen Gegenständen heraus, eine Grundsätzlichkeit wesentlich, welche belächeln mag, wem diese Staatsform nichts anderes bedeutet als allseitige Pragmatik. Hinter solcher immer wiederholter, nie auszuschließender "Wendung zum Prinzipiellen", zum Staatsgrundsätzlichen, steht jedoch nichts anderes als die Wahrheitsdimension, eine Suche nach Staatswahrheit, gerade in Gespräch und Streit; sie aktivieren, aus den Überlegungen der Vernunft heraus, auch den Willen zur Durchsetzung, das Gefühl, welches all dies erst zur subjektiven Überzeugung werden läßt. In solcher Diskussion werden alle menschlichen Kräfte zusammengefaßt, auf eines immer gerichtet: auf die politische, auf die Staatswahrheit. In all dem wächst ihre Suche in eine ge48 Zur Diskussion darüber vgl. Bethge, H., Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, NJW 1982, S. 1 ff.; Bleckmann, A., Staatsrecht 11 - Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 11, Rn. 118 ff.; Canaris, c.-W, Konsens und Verfahren als Grundelemente der Rechtsordnung - Gedanken vor dem Hintergrund der Eumeniden des Aischylos, JuS 1996, S. 573 ff.; Hesse, K., Bedeutung der Grundrechte, in: HdBVerfR (Hg. Benda u. a.), 2. Aufl. 1994, § 5, Rn. 42 ff.; Ossenbühl, F., Grundrechtsschutz im und durch Verfahrensrecht, in: Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel, Festschr. f. Eichenberger, 1982, S. 183 ff.; Alexy, R., Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 428 ff. 49 Insoweit liegt in der immer wieder aufflammenden Diskussion um "Demokratisierung" von Staat und Gesellschaft eine Wahrheits(suche)-Dimension, Schnapp, F. E., in: v. Münchl Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Art. 20, Rn. 11; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 627 ff. m. weit. Nachw.; Maihofer, W, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: HdBVerfR (Hg. Benda u. a.), 2. Aufl. 1994, § 12, Rn. 80 ff.; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 288 f.

IV. Diskutabilität und demokratische Staatswahrheiten

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radezu religiöse Dimension hinauf, Wahrheitssuche unterscheidet sich hier nicht mehr wesentlich von jenem Wahrheitsglauben, in dem ebenso Geist, Wille und Gefühl sich zusammenfanden. Diese Diskussion ist wahrhaft ein Gottesdienst an der Staatswahrheit, so ist sie in den klassischen Anfangsstunden aller Demokratien stets verstanden worden, diese "subjektive politische Wahrheit". Das Objekt ihrer Suche erfährt eine ähnliche, ebenso die religiöse Dimension erreichende Steigerung. Das Ausdiskutierte ist unbestreitbar geworden, aus der Zeitlichkeit der Erörterung in die Überzeitlichkeit des Gültigen hinaufgewachsen, welche die geführten Debatten beweisen und absichern. Die so gewonnene Erkenntnis hat der wesentlichen Zeitlichkeit mit ihren Bestreitbarkeiten standgehalten; nun erreicht sie die Ruhe allseits akzeptierter Erkenntnis. Wie der Gegenstand religiösen Glaubens zunächst vom Willen erstrebt, vom Gefühl herbeigesehnt wird, sodann jedoch zur höheren Rationalität der Erkenntnis erwächst, so vollzieht sich eine ähnliche Wandlung auch bei den Diskussionsgegenständen demokratischer Staatswahrheit: Am Ende erscheinen sie nicht mehr als gewollt, als ersehnt, sondern sie sind "erkennbar geworden" in der Unbestreitbarkeit der Rationalität. Dimensionen religiösen Glaubensgutes erreichen diese Diskussionsergebnisse auch noch darin: Sie werden für Teilnehmer und Außenstehende zum Faktum, festgehalten in Protokollen5o und Akten, wie die Dogmen des Glaubens. Damit haben sie sich faßbar durchgesetzt, in ihrer größeren und kleineren Geschichtlichkeit, sie legitimieren sich inhaltlich auch noch aus dieser Faktizität, so wie die Glaubenswahrheiten durch ihre dauernde historische Tatsächlichkeit. Die scheinbar von alter Glaubenswahrheit so grundverschiedene Diskussionswahrheit der Demokratie erstreckt also, im Grunde, frühere Glaubensdimensionen nur mit anderen Mitteln, auf anderen Wegen, in die Gegenwart. Ethos der Glaubensüberzeugung wie Pathos der Glaubensbegeisterung treten in diesen beiden Formen des Suchens und Findens der Staatswahrheit immer wieder hervor.

4. Abgebrochene Diskussion: Wesen aller Staatswahrheits-Suche

Abbruch der Staatswahrheits-Diskussion in der Versenkung der Staatsgläubigkeit - dies hat die Demokratie dem Ancien Regime vor allem zum Vorwurf gemacht. Sie wollte Staatswahrheit nicht als Kategorie leugnen, sondern in Diskussion ernster nehmen; diese Demokratie wollte den neuen Wahrheitsaufschwung, nicht die Wahrheitsskepsis im Staat. Sie wendete sich vor allem gegen Verein50 So sind denn die Parlamentsdrucksachen, ebenso wie die internationalen Verhandlungsprotokolle, "Erkenntnisquellen", nicht "Geltungsquellen" (vgL für das Völkerrecht Verdross, A./Simma, B., Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 492 f.; Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 120 ff.); sie zeichnen Wege der Staatswahrheitssuche nach, sind weit mehr als Historien politischer Willensäußerungen.

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fachungserscheinungen in der glaubensmäßigen Suche der Staatswahrheit. Diese hat sich allerdings historisch durchaus nicht immer, oder auch nur wesentlich, vollzogen im raschen Zugriff, in der Setzung bestimmter Dogmen; voraus ging meist lange, oft schmerzliche, leiderfüllte Wahrheitssuche, bis auf die Schlachtfelder der Glaubenskriege, aber auch geistige Diskussionen auf Konzilien, Synoden und Reichstagen. Daß irgendwann dieser Streit um den Staats-Glauben dann abgebrochen, mit geistlicher und weltlicher Gewalt für beendet erklärt wurde, bedeutete zwar nicht, daß die Wahrheitsdimension als solche verlassen worden wäre, die Suche nach der Staatswahrheit fand aber nicht mehr in Rede und Widerrede statt. Was hier die Volksherrschaft grundlegend ändern wollte, waren die Formen der Wahrheitsfindung, vor allem in dem neuen, parlamentarischen Verfahren, in das sie die Wahrheits suche gestellt hat, nicht aber diese selbst. Diese "Suche in Erörterung" aber mag sie nun ordnen, kanalisieren, verlängern, als eine wesentlich "offene" ausgestalten - irgendwann muß auch sie die Staatswahrheits-Suche abbrechen, die Diskussion um sie als beendet erklären. Dies geschieht in den so oft gerade deshalb kritisierten Geschäftsordnungen demokratischer Gremien 51 . Hier soll der Eindruck "völlig offener" Wahrheitssuche erweckt werden - doch diese wird auf einzelne Punkte gerichtet, durch zu bestimmter Zeit bestimmte Tagesordnungen. Darin unterscheidet sich dieses Verfahren einer dann abzubrechenden Diskussion nicht wesentlich von dem endgültigen Roma locuta causa finita früherer Zeiten, das damals auch den Streit um Staatswahrheiten beendet hatte. Abgebrochene Diskussion ist also nicht eine Negation der Staatswahrheit, sondern eine institutionelle Ausprägung im Verfahren ihrer Suche. Die postrevolutionäre Demokratie hat übrigens nicht nur in ihren politischen Institutionen, sondern auch in ihrem gesellschaftlichen Umfeld stets dafür sorgen müssen, daß die Diskussion um Staatswahrheiten irgendwann für beendet erklärt werde. Man mag dies Tabuisierung nennen oder Konsens - immer ist es Ergebnis einer irgend wann abgebrochenen, beendeten Diskussion um eine, positive oder negative, Staatswahrheit. So ist es in Deutschland neuerdings zweimal erlebt worden, im Namen einer "Vergangenheitsbewältigung", welche sich als historische Erkenntnis verstand52 . Überhaupt kommen und gehen staatsrechtliche Diskussionen in immer rascherer Folge auch im Bereich der Staatsinstitutionen; ihr Gegenstand wird Gemeingut oder vergessen. In all dem liegt letztlich immer abgebrochene Diskussion über Staatswahrheiten oder die Verdrängung einer solchen durch eine andere, jüngere. Dabei wird das Privileg der Aktualität durchaus nicht immer zu 51 Zur Bedeutung und den Regelungsgegenständen parlamentarischer Geschäftsordnungen Kretschmer, G., Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis (Hg. Schneider/Zeh), 1989, § 9, Rn. 1 ff. 52 Besonders deutlich, nonnativ sogar, faßbar im strafrechtlichen Begriff der "Volksverhetzung", vgl. Streng, F., Das Unrecht der Volksverhetzung, in: Lackner-Festschr., 1987, S. 501 ff.; Wehinger, M., Kollektivbeleidigung - Volksverhetzung, 1994, S. 73 ff.; sowie unten D, III, 2.

V. Die demokratische Staatswahrheit der Aufklärung

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einem Vorrecht der Wahrheit; oft fällt jene nur um so rascher wieder ab von der Ruhe und Endgültigkeit einer Staatswahrheit. So zeigt denn auch dieses Auf und Ab von Staatswahrheiten, beendete und wieder neu beginnende Diskussionen um sie in der postrevolutionären Demokratie, in der "offenen Gesellschaft", was dieses Kapitel erweisen sollte: eine Kontinuität der Staatswahrheitssuche, über die größten Staatsumwälzungen der bekannten Geschichte hinweg. Nie hat es bisher den agnostischen Staat geben können, Staatlichkeit als organisierte Wahrheitsskepsis, mögen sich auch Verfahren und Inhalte demokratischer Staatswahrheitssuche deutlich abheben von einer glaubensgeprägten Vergangenheit; dies bleibt nun zu vertiefen.

V. Die demokratische Staatswahrheit der Aufklärung: Fortschrittsglaube im Diesseits 1. Aufklärung als Diesseitsglaube - an erkennbare Wahrheit

Die Demokratie, einst als Kind der Aufklärung geboren, wollte damals und will noch heute "ewige religiöse Wahrheiten" politisch nicht kennen, ihren Staat jedenfalls, jenseits von ihnen, auf andere Wahrheiten gründen. Dies könnte nicht gelingen in einem müden Intellektualismus reinen staatstheoretischen Erkennens; dessen große Gefahr, ein Ende in nutzloser, unpraktischer Erkenntnis, hat die Volksherrschaft von ihren Anfängen an überspielt, indem sie in ihrer aufklärerischen Vernunft-Gläubigkeit etwas von wahrhaft religiöser Glaubensintensität übernommen hat. Darin fand sie jenen mächtigen Schwung, welcher Staatswahrheit zur Staatsrnacht werden läßt. Das politische Kraftzentrum dieses Vorgangs liegt darin, daß hier etwas von einer Diesseitsreligion wirksam wird, welche der Staatswahrheit besondere Machtnähe vermittelt, die früher zu Zeiten aufbrechende Distanz zwischen brutaler Gewalt und reiner Erkenntnis wieder zu überwinden sucht. Frühere religiös geprägte Staatswahrheiten hatten zwar nie die Erkenntnis-Wahrheit als solche aufgegeben, sie aber doch stets als eine Erscheinung des Diesseits relativiert. Die eigentliche Wahrheit, auch die des Staates und seiner Macht, lag eben in einer anderen Welt, aus deren Sicht sie ständig überprüft, korrigiert, verändert werden konnte, ja werden mußte. Wenn auch eine große Analogia Entis den Diesseits-Staat mit jenem Reich verband, das nicht von dieser Welt war, so blieb doch alle Staatswahrheit beherrscht von der Vorstellung eines "Diesseits als schlechteres Jenseits". Gerade die Staatswahrheits-Versuche der Reformation haben, in sündigkeitsgeprägter Grundstimmung, erst recht das bessere Jenseits mit seiner höheren Wahrheit über alle diesseitige Erkenntnis gestellt, nicht zuletzt auch über alle Staatswahrheit. Ob es nun am Erkenntnisvermögen der Menschen man-

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gelte, oder ob es die wesentliche Unvollkommenheit dieser Welt war - vor der Aufklärung konnte Staatswahrheit nie über die Weisheit des platonischen Höhlengleichnisses hinausführen: sie war und blieb eine nur unklar erkennbare, eine schlechtere Heilswahrheit. Die Aufklärung, aus ihr die demokratische Staatsform, hat erstmals die Staatswahrheit als erkennbar, als "primär menschliche Wahrheit" proklamiert, diesen Glauben ihrer Bürger voll ins Diesseits geworfen. Unbelastet durch kantianische Erkenntniszweifel, welche im Grunde die Demokratie nie erreicht haben, ging diese von der unbegrenzten Erkenntnisfähigkeit der Vernunft aus, damit von der unbeschränkten Wahrheitsfähigkeit ihres Staates. Nun war ja der Bürger, der ihn trug als den seinen, nicht mehr gegängelt durch Religion und Offenbarung, wie man es dem Katholizismus zum Vorwurf machen konnte, nicht mehr gebrochen durch die sündengetrübte Erkenntnisschwäche des unerlösten Protestantismus. Die Erkenntnisfähigkeit der Wahrheit um den Staat und in ihm ist durch die Aufklärung, bis heute, zur ersten, zur unverbrüchlichen Staatswahrheit geworden, Diskussionen darüber werden seit über zwei Jahrhunderten abgebrochen, in immer rascherer Folge53 . Diese Diesseitsgläubigkeit an eine erkennbare Staatswahrheit steht im Zentrum der Aufklärung; es ist ihre zentrale Botschaft, daß die erste Wahrheit die Staatswahrheit sei, welche mit der pädagogischen Kraft, wie sie eben diese Aufklärung im 18. Jahrhundert neu entdeckt hatte, das Leben aller Bürger zu verändern vermag. Im Siede des Lumieres ist die religiöse Verheißung "Es werde Licht" zur Realität geworden: Aus Staatswahrheit Licht im Diesseits - "Mehr Licht!".

2. Aufklärerischer Fortschrittsoptimismus Dynamisierung der Staatswahrheit

a) Die modeme Demokratie ist, in ihrem aufklärerischen Wesen, nicht nur geprägt von einem parareligiösen Glauben an das politische Erkenntnisvermögen der Bürger, sondern von einer Staatswahrheits-Vorstellung, welche weiter trägt: Ja zu "immer mehr Erkenntnis", also auch zu immer noch mehr Staatswahrheit. Jene diesseitige Macht, welche bislang in transzendenten Wahrheitsgehalten nur feme Schranken fand, sich in deren weitem Rahmen frei in Gewaltsamkeit bewegen konnte, kann nun immer mehr auf diese Wahrheit gesetzt, auf sie gegründet, ge53 Dies, und nicht nur die Unverzichtbarkeit der Grundrechte (vgl. dazu Sturm, G., Probleme eines Verzichts auf Grundrechte, in: Festschr. f. W. Geiger, 1974, S. 173 ff.; Robbers, G., Der Grundrechtsverzicht, JuS 1985, S. 925 ff.; Schwabe, J., Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 92 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 887 ff.), ist der tiefere Sinn der Proklamation der "unveräußerlichen Menschenrechte" als "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" (Art. 1 Abs. 2 GG): Die "Erkenntnisfähigkeit" dieser zentralen Staatswahrheiten darf nicht an einen Potentaten "abgetreten" werden.

V. Die demokratische Staatswahrheit der Aufklärung

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radezu ihr Organ werden - der Weg zu ihrer Verwirklichung. Damit gewinnt Staatswahrheit eine weit höhere Bedeutung, sie wird von einer Machtschranke zur Machtgrundlage, was sie früher nur in Form ferner, und immer mehr bestrittener, religiöser Legitimation gewesen war54 . Doch nicht nur in diesem Sinn rückt die Staatswahrheit deutlich, mit aufklärerischem Schwung, in das Zentrum der demokratischen Macht; noch bedeutsamer ist die Dynamik, welche sie nunmehr entfalten kann, da Staatswahrheit ja nicht nur "immer näher" sein soll, sondern "immer mehr" - Grundlage der Macht. Regimegläubigkeit in der Demokratie richtet sich nicht mehr auf "eine Staatswahrheit", sondern auf "immer mehr Staatswahrheit"; sie kann sich dynamisch zu immer neuen Höhen der Erkenntnisfähigkeit und des Erkennbaren entfalten, mit ihr die auf sie gestützte Macht. Der demokratische Glaubenssatz von einer steigerbaren Staatswahrheit verleiht diesem Wort eine ganz neue, über die Statik früherer Ewigkeits-Wahrheiten hinausreichende, nicht mehr so sehr machtbegrenzende als vielmehr machtlegitimierende Bedeutung. Mochte früher der Sünder an der Staatswahrheit zweifeln wie an den Wahrheiten seiner heiligen Religion - nun steht der Bürger selbstverständlich in dieser seiner Wahrheit, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich ihr hinzugeben, sie immer weiter zu entfalten. Auch darin gewinnt die demokratische Staatswahrheit der Aufklärung das an Wahrheitssicherheit wieder hinzu, was ihr ihre vernunftgeprägte Wahrheitsoffenheit relativierend entzieht. Man sollte den Begriff der steigerungsfähigen Staatswahrheit einmal weiterdenken bis zur steigerungsfähigen Staatsrnacht ... 55. b) Fortschrittsgläubigkeit trägt die Volksherrschaft, von ihren aufklärerischen Ursprüngen bis heute; niemand wird ihr diese geistige Grundlage streitig machen. Von seinen naturwissenschaftlich-technischen wie seinen liberal-ökonomischen Ausgangspunkten her ist dieser Progress jedoch ganz wesentlich eine Wahrheitskategorie: Er entdeckt neue Richtigkeiten, Gesetzmäßigkeiten, daraus entsteht eine gewandelte Realität, die er in sich aufnimmt. Doch nicht sie ist es an sich, welche den Fortschritt trägt, sie beweist ihn nur; sein Wirkungsgrund liegt in der Erkenntnis neuer Wahrheiten. Demokratie ist im Grunde nichts anderes als der politisch-staatsrechtliche Aspekt dieser Entwicklung; da sie sich in ihrem rechtlichen Raum genauso vollziehen muß wie in den primär außer-politischen Bereichen, sei es als Folge des dort erreichten technisch-ökonomischen Fortschritts oder in einer geistigen Parallelität zu diesem, kann dies nur bedeuten: immer mehr Staatswahrheit. Politischer Fortschritt wird auch nur entstehen aus mehr und besser erkannter Staatswahrheit, aus ihr heraus, in noch größere neue hinein; und sei sie auch "geschaffen", sie wird stets primär "erkannt". 54 Diese Abschwächung zeigt sich deutlich im Kap. über die religiös-transzendente Staatsrechtfertigung in der Allg. Staatslehre Georg Jellineks, 3. Auf!. 1922, S. 186 ff. 55 Durchaus im Sinn der ,,Prämie der Macht" im Sinne des Dezisionismus, vgl. Schmitt, c., Legalität und Legitimität (1932), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 288 f., 348.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Die Geburtsstunde einer neuen Politischen Wissenschaft fällt denn auch in eben die Zeit der Aufklärung, welche die Kategorie des Fortschritts in allen anderen Bereichen erkannt und diesen entscheidend vorangetragen hat: In jenem 18. Jahrhundert hat die Staatsgeschichte den Anschluß an das Öffentliche Recht gefunden und sich mit diesem zu einer Wissenschaft der politischen Wahrheit, des politischen Fortschritts, aufklärerisch verbunden s6 • Seither hat Demokratie solche politische Wissenschaft stets begünstigt, je stärker sie sich politisch durchsetzte, desto intensiver wurden politologische Anstrengungen, nicht nur in Machtnachzeichnung, sondern aus dem Bemühen um das, was diese Volksherrschaft trägt: dynamische Staatswahrheit; diese wird nur wirken, wenn immer mehr von ihr entdeckt, wenn sie immer klarer erkannt werden kann, wenn auch hier gelten darf: Wahrheit und Fortschritt gehören untrennbar zusammen. c) Aus diesem Fortschrittskern demokratischer, durch Aufklärung geprägter Staatswahrheit kommt auch eine Entwicklung, welche dieser Staatsform wesentlich ist wie keiner anderen: Ihr Fortschritt führt sie in eine politische Einbahn, er ist alternativlos, wie es nur die Wahrheit sein kann, er wird letztlich zum politischen Faktum wie diese. Alle Eigenschaften einer immer weiter zu entdeckenden, zu steigernden Wahrheit muß dieser politische Fortschritt in sich tragen, aus seinen Erkenntnissen kann es kein Zurück geben. Demokratie in Einbahn aus Staatswahrheit - deshalb kann diese Staatsform nicht bei der Bürgerfreiheit stehenbleiben, immer wieder muß ihre Macht darüber hinaus wirken, um legitim zu bleiben. Deshalb sucht die aufgeklärte Volksherrschaft wesentlich nach inhaltlich-materiellen Zielen, die weiter entfernt sein mögen, aber eben doch wesentlich in Einbahn erreichbar erscheinen. Hier ist sie zur sozialen Demokratie geworden: Ihre "Errungenschaften" werden zu sichtbaren Zeichen des Fortschritts, und hier darf es, nach aufklärerischem Fortschrittsglauben, ein Zurück nicht geben. Hier leuchtet das Licht, die Lumieres der Aufklärung, immer weiter, stets nur in eine Richtung, es muß vorwärtsgetragen werden zu neuen Staatswahrheiten - hier: zu einer neuen, zur sozialen Staatswahrheit. Darin hat die Demokratie das Soziale und seine Gerechtigkeit als Staatswahrheit aus Fortschritt entdeckt, von dem es keinen Abfall mehr geben darf, kommt es doch aus ihrer ersten, mächtigsten, wahrhaft transzendenten Staatswahrheit: aus der GleichheitS7 • Fortschritt als Kategorie der Staats wahrheit - dies bedeutet zugleich, daß alle staatlichen Kreislauftheorien in die staatsrechtliche Unterwelt der Dekadenzphilosophien zu verbannen sind. Aus der Staatswahrheit führt kein Kreislauf heraus, es sei denn, er leite wieder zu ihr zurück. Lehren, welche die Phase eines Untergangs der Demokratie einbeziehen 58 , diesen permanenten Fortschritt hinterfragen, die 56 Klassisch geworden in Voltaires "Siecle de Louis XIV", dessen einigennaßen gesicherte Vorlage die Annales politiques des Charles Irenee Castel de St. Pierre sind, I. Auf). 1757, wo Geschichtsschreibung zur politologischen Abrechnung mit dem Absolutismus wird, herauswachsen aus Memoiren - Belegen als historischer Staatswahrheit. 57 Beschrieben bei Leisner; W, Demokratie, 1998, S. 260 f.; vgl. auch S. 108 ff., zu den inneren Widersprüchen einer "sozialen Demokratie".

V. Die demokratische Staatswahrheit der Aufklärung

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kontinuierliche Entfaltungsmöglichkeit von immer mehr demokratischer Staatswahrheit, greifen für Radikaldemokraten die Staatsgrundlagen der Volksherrschaft an, wie jene Häretiker, welche einst Glaubenswahrheiten nicht wollten gelten lassen. Wer solches unternimmt, muß nach ihnen auf den Scheiterhaufen des Volkes enden; allerdings sollte auf ihnen noch immer nur eines brennen: Wahrheit, im Namen der Staatswahrheit ... d) Daß dynamisch steigerungsfahige Staatswahrheit die Gefahr "mehr Staatswahrheit in Fortschritt - daher mehr Staat", heraufbeschwören könnte, glaubt die Demokratie der Aufklärung vermeiden zu können mit einer Wendung zur Qualität: Ein Mehr an Staatswahrheit soll nicht den größeren, den mächtigeren, es soll den besseren Staat bringen, den besser befestigten, den indiskutabel gewordenen, von dem das Schlechteste abgefallen ist: die Instabilität experimentierender Macht. Staatswahrheit mag allerdings das Experiment zu ihrer Erkenntnis einsetzen; wird sie unendlich steigerungsfahig gesetzt in ihrer Erkennbarkeit und Verwirklichung, so darf sie auch immer noch mehr experimentieren 59 • In der Wirklichkeit des Politischen aber tritt - diese Hoffnung bleibt - dann eben doch eine WahrheitsBeruhigung ein, welche nicht in die schier unendlichen Horizonte der Versuche exakter Wissenschaften hinausführt. Fortschrittsgläubige aufklärerische Staatswahrheit wird sich demnach selbst zur Gefahr: Eine wesentliche Antinomie tut sich ja nun auf zwischen politisch bisher Erkanntem und Erreichten und jener Fortschrittsidee, die noch mehr derartige Staatswahrheit erstrebt. Wohl möchte man sich immer wieder einrichten auf der Ebene erkannter Staatsgrundlagen, sie nicht als Stufe zu noch höheren Staatssicherheiten begreifen - und doch liegt beides im Begriff der Staatswahrheit der Demokratie: beruhigte, beruhigende Errungenschaft und Fortschrittsdynarnik zugleich 6o . Hier wird gerade die wesentlich realitäts geöffnete demokratische Staatswahrheit aus der Wirklichkeit und deren Schwankungen heraus verwundbar: Wo es einmal, vor allem ökonomisch, "nicht mehr höher hinaufgeht", stellen sich sogleich eben nicht nur "pragmatische" Bedenken ein zu einzelnen Gütesiegeln bisheriger Staatlichkeit; deren zentrale Staatswahrheiten geraten in eine Zone staatsgefährdenden Wie auch die des Verfassers zur "Persönlichen Gewalt", Demokratie, 1998, S. 789 ff. Vgl. dazu Schneider, H., Gesetzgebung, 1982, Rn. 106 ff.; Horn, H.-D., Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. 60 Eine Synthese versucht die Dogmatik der "Staatsgrundsatznonnen" wie der "Staatszielbestimmungen" (vgl. dazu Isensee, J., Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 57, Rn. 121 ff.), doch gerade dort gerät die Staatsgrundlage in Dynamisierungs-, in Labilitätsgefahr, wie die "Staatszielbestimmung Umweltschutz" neuerdings zeigt (vgl. dazu Murswiek, D., Staatsziel Umweltschutz (Art. 20 a GG), in: NVwZ 1996, S. 222 ff.; Kloepjer, M., Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20 a GG, DVBI. 1996, S. 73 ff.; Uhle, A., Staatsziel "Umweltschutz" und das Sozialstaatsprinzip im verfassungsrechtlichen Vergleich, JuS 1996, S. 96 ff.; Waechter, K., Umweltschutz als Staatsziel, NuR 1996, S. 321 ff.). 58 59

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Zweifels. Überwunden werden kann eine solche ökonomische Krise als Staatswahrheitskrise nur aus einer anderen, nicht leicht zu vermittelnden Staatssicherheit: daß der Fortschritt immer eine Türe zu neuen, doch wieder "besseren" Staatswahrheiten offenhält; doch daran muß dann wirklich - geglaubt werden, wie an Wahrheiten der Religion. Sicher ist immerhin eines: Die Kategorie Staatswahrheit ist in der Aufklärung und der aus ihr erwachsenen Demokratie inhaltlich verändert, doch sie ist nicht verloren; eher ist sie noch höher gesteigert worden in ihrer Dynamik, und damit erscheint sie nicht nur als eine Grundlage, sondern nunmehr geradezu als Ersatz der Macht.

3. Aufklärung: Wahrheit statt Macht

a) Staatswahrheit ist immer auf eines gerichtet: Entvoluntarisierung des Politischen; darin erreicht sie mit der Aufklärung eine besondere, eine grundsätzliche Höhe. Aufklärung denkt ihrem innersten Wesen nach nicht eigentlich in Willenskategorien. Wo sie auftraten, das Wesen des Politischen prägten, wie in der Staatslehre des Macchiavelli und seiner Nachfolger, wurden sie gerade von illuministischem Denken zurückgedrängt. Die gewaltenteilende Staatsgeometrie der Pouvoirs kennt solche Mächte nur mehr in einem rational erfaßbaren Gleichgewichtszustand, in welchem sie letztlich, von ihrer Willensbasis getrennt, "entmachtet" werden. Eine "Staats-Gewalt" im eigentlichen Sinne ist dem Denken der Aufklärung fremd; ihr Licht erleuchtet die Vernunft, nicht den schaffenden Willen, er selbst wird in lichte Rationalität hinaufwachsen, fortschreiten mit der nachtwandlerischen Sicherheit der Staatswahrheit und zu dieser. Hier gilt dann auch politisch: Vernunft vermag alles. Alle Macht löst sich in Wahrheit auf; so erst wird der Mensch, der Bürger ganz frei, weil ihn nur eines mehr beherrscht, Staatswahrheit, nicht Staatsrnacht. So wird wieder die Eleutheria der attischen Demokratie erreicht und ihrer philosophischen Denkanstöße: Freiheit von fremdem Willen, unter der Führung der eigenen Vernunft. b) Diese letzte Auflösung der Staatsrnacht in Staatswahrheit erreicht auf breiter Front die Jurisprudenz in der Naturrechtlichkeit der Aufklärung. Wenn für sie alles Seiende natürlich ist, alles Natürliche zu Recht wird, sei es nun in der Existenz des Individuums oder in der seines Staates61 , so fehlt in dieser gängigen Beschreibung der Naturrechtlichkeit ein wesentliches Verbindungsglied: die Rechts- und Staats61 Wie es etwa der Vorstellung von den "Grundrechten des Staates" im Völkerrecht zugrunde liegt, Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 330 ff.; Verdross, A.lSim17Ul, 8., Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 272 ff.; Berber; F., Lehrb. d. Völkerrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1975, S. 178 f.

V. Die demokratische Staats wahrheit der Aufklärung

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wahrheit. Alles Existente ist ja in seiner Tatsächlichkeit "wahr", darin transformiert es sich in die Richtigkeit des beurteilenden Rechtes. "Richtige Urteile" kann es nach diesem aufklärerischen Denken aber nicht geben, nur Urteile der Wahrheit, nicht den "richtigen", den "guten" Staat, sondern nur denjenigen, welcher der Seins ordnung entspricht - den "wahren Staat,,62. Seine wesentliche Staatswahrheit macht also auch alle seine Entscheidungen, die Urteile seiner Gerichte, zum Ausdruck der Wahrheit; Aufklärung kennt nur sie, keine wahrheitsunabhängige "Richtigkeit,,63 des Rechts, als eine wahrheitsferne, "technische" Kategorie. Damit löst sich nicht nur die Staatsgewalt auf in Staatswahrheit, das Recht selbst ist nichts mehr anderes als Ausdruck des Wahren, mit seinen Kategorien allein wirklich erfaßbar. Gerechtigkeit wird erkennbar in der Konformität einer Ordnung, die zur Wirklichkeit geöffnet ist, zur "Wahrheit des Existierenden". "Offene Staatlichkeit", der Begriff der "Offenheit" überhaupt64 , wird neuerdings immer häufiger, aber stets vor allem im Sinne einer Relativierung strengerer Nonnbefehle gebraucht. Darin liegt zwar eine für die Demokratie gefährliche Staatswahrheits-Skepsis. In der Tradition der Aufklärung steht diese Kategorie dennoch in einem Sinne, der sie primär prägt: dem der Offenheit des Rechtlichen und des Staatlichen gegenüber allem, was als "Realität" außerhalb von ihm steht, was es zu ordnen, zu nonnieren gilt. Dies hat in der Tat die Aufklärung ihrer Demokratie als deren Staatswahrheit mitgegeben: nicht daß sie an Wahrheit nicht glaube, sondern daß sie diese überall, allgegenwärtig sehe, in allem Seienden, mit dessen ganzer, wechselnder Dynamik, und daß sie diese stets auf sich wirken lasse. Mit diesem Hinweis auf die seinsbezogene Staatswahrheit der Aufklärung, welche die Volksherrschaft trägt, der Wirklichkeit gegenüber öffnet, erreicht diese Betrachtung ein Ergebnis, welches nun weiterführen und die Staatswahrheit unter einem besonderen Blickwinkel betrachten lassen wird: Die Staatlichkeit der Demokratie ist kein Abfall von Staatswahrheit an sich, sie bleibt voll auf ein solches Denken gegründet. Sie hat den Begriff der Staatswahrheit vertieft und verbreitert, in seinen Inhalten verändert. Vor allem aber ist sie nun von einem aufklärerischen Schwung getragen, der in sie Steigerungstendenz legt, bis hin zur Eliminierung von Wille und Macht. Diese Entwicklung, welche wesentlich sogar über das Recht und sein Ordnen hinausgehen will, öffnet aber die Demokratie, weit mehr als frühere Ordnungen, einer Realität, aus der sie ihre wesentlichen Wahrheitsimpulse empfangen soll, im Namen jener selben Aufklärung. Die 62 Othmar Spanns Staatsphilosophie steht denn auch dem Naturrecht weit näher als dem Rechtspositivismus seines Zeitgenossen Kelsen. 63 Die Lehre vom "richtigen Recht" (vgl. Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 89 ff.; ders., Richtiges Recht, 1979; Henkel, H., Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 563 ff.) kommt denn auch aus der Anti-Naturrechtsreakton der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 64 Der über die "offene Gesellschaft" die "offene Staatsordnung" erreicht, vgl. Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl. 1996.

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c. Demokratie zwischen Wahrheits streben und MachtwiIIe

Demokratie ist getragen vom real existierenden Volks souverän. Wie kann sie nun ihr Recht mit dieser laufend wechselnden Realität, mit der ganzen außerrechtlichen Wirklichkeit in eins bringen, aus der sie doch ständig sich aufladen - und die sie zugleich ordnen soll? Eine Antwort auf diese Grundfrage demokratischer Staatswahrheit versucht die Norm; und daher ist nun dem nachzugehen, was hier "normative Staatswahrheit" heißen soll.

VI. Die normative Staatswahrheit 1. Das Gesetz als erkannte Staatswahrheit

Über Gesetze muß zuallererst gesprochen werden, wenn von Staatswahrheit die Rede ist. Ihre erzenen Tafeln aus früherer Zeit konnten die Unverbrüchlichkeit der Normen, damit ihre Wahrheitsnähe, wenn nicht ihren Wahrheitsgehalt, eindrucksvoller zeigen als die normativen Papierfluten demokratischer Gesetzgebungsmaschinen. Doch in der Demokratie ist die Frage nach dem Gesetz als einem Ausdruck der Staatswahrheit nicht nur rechts-, sondern staatsformwesentlich: Von Anfang an ist dieses Regime auf das Gesetz gegründet, diese vornehmste Entscheidungsform, den ersten Entscheidungsgegenstand und damit Legitimationsgrund der Volkssouveränität und ihrer Vertreter. In der Demokratie nur ist die gesetzgebende Gewalt wirklich die Erste im Staat, so muß sie denn zuerst an der Staatswahrheit gemessen werden, oder diese an ihr. Die folgende Betrachtung richtet sich auf diesen Staatswahrheits-Bezug der gesetzlichen Normen im allgemeinen. Sie versucht, diese als Ausdruck eines Erkennens, nicht eines rechtstatsachenschaffenden Willens zu deuten. Denn es geht hier um Demokratie als eine Staatsform, welche durch Staatswahrheit getragen ist, nicht als ein Regime, das sich grundsätzlich vornimmt, eine solche erst normativ zu schaffen. Das willensorientierte Wesen der Volksherrschaft und ihrer Volonte generale soll hier erst vor dem Hintergrund der staats tragenden Staatswahrheit, vielleicht als ein Abfall von dieser, behandelt werden.

a) Die Norm: Erkenntnis, nicht Befehl

Das Gesetz ist der Ausdruck des "Allgemeinen Willens"; diese Grundaussage der Französischen Revolution ist in deren erster, Universeller Menschenrechtserklärung enthalten 65 ; ihre voluntative Prägung des Gesetzesbegriffs ist diesem seither stets geblieben, in einem Wesensverständnis der Norm als Ausdruck des höchsten politischen Willens. "Das Gesetz und der König" - die erste Devise der Revo65 Art. 16; dazu klassisch Carre de Ma/berg, La Loi-expression de la volonte generale, Paris 1931.

VI. Die normative Staatswahrheit

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lutionäre - stellte nicht zwei Wahrheiten nebeneinander, sondern zwei Willensträger. Doch die Aussage sollte die Legitimation der Norm, die Weihe ihres Inhalts bekräftigen, nicht aber das innere Wesen des Normativen primär oder gar abschließend beschreiben. Dieses Wesen lag, für die Französische Revolution jedenfalls, durchgehend in der Proklamation aufklärerischer Staats wahrheiten an die Adresse der Bürgerschaft, des Jedermann, in einer Form, welche Unverbrüchlichkeit zugleich und Gleichheit des Wirkens dieser normativen Wahrheit sicherstellte. Das Gesetz der Französischen Revolution, der Prototyp aller demokratischen Gesetzlichkeit, garantierte gleiche Wirkungen der Staatswahrheiten auf alle Bürger. Daß sie diese Gesetze hervorbrachten, über ihre Vertreter oder in direkter Demokratie, mußte keineswegs bedeuten, daß hier lediglich "ihr Wille" gelten sollte; vielmehr erkannten nur die unzähligen Augen des Volkes, die vielen Augen seiner Vertreter, diese Wahrheit am nächsten und besten. Das Gesetz muß auch, gerade für diese Ursprungszeit der Demokratie, stets gesehen werden in seiner wesentlichen Verbindung zu einer Verfassung der Freiheit, von der noch als Ausdruck der Staatswahrheit die Rede sein wird; sie sollte darin entfaltet, "näher erkannt" werden. Das Gesetz teilte mit der Verfassung den Charakter der Deklaration und der Proklamation, welche Wahrheiten bekanntmacht, nicht Befehle gibt. Vom "Gesetzesbefehl,,66 weiß die Französische Revolution wenig, viel von der Gesetzessanktion, aber nur im Sinne der Durchsetzung gesetzlich erklärter und verkündeter aufklärerischer Staatswahrheiten. Deshalb eben wurde das Gesetz, als Ausdruck des Allgemeinen Willens, angesprochen in jenem Dokument, das wie kein anderes den Charakter einer Erkenntnis von Staatswahrheiten hat, nicht den eines Normbefehls - in der universellen Menschenrechtserklärung. Die Funktion des Gesetzes, wie sie dort noch näher beschrieben wird, ist selbst nichts anderes als Ausdruck einer Staatswahrheit, nicht eines Machtbefehls. Staatswahrheit der Demokratie ist es daher, daß ihre Wahrheiten in Gesetzesform erkannt und bekannt werden. Im Vordergrund steht damit, in demokratischer Freiheit, nicht das Gesetz als Ausdruck des Willens, als Ankündigung des ihn vollendenden Zwangs. Das Wesen dieser Norm wurde in ihrer Unverbrüchlichkeit, in ihrer Unantastbarkeit gesehen, denn ihr Inhalt waren eben Staatswahrheiten, nicht Staatsbefehle. Die vielen und immer neuen Gesetze, welche damals - wie heute - eine aufgeregte Demokratie hervorgebracht hat, standen dazu nicht im Gegensatz, waren vielmehr geradezu Ausdruck des Gesetzes als Erkenntnis von Staatswahrheiten: In immer neuer Weise, vermeintlich immer nur noch perfekter, gültiger, näherten sich die Norminhalte diesen Staatswahrheiten an; Gesetze, ja Verfassungen wurden begriffen als laufend 66 Im Sinne etwa des kaiserlichen Gesetzgebungsbefehls nach der Verfassung des 2. Reiches, vgl. Laband, P., Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 5. Aufl. 1911 (Neudruck 1964), S. 4 ff.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

zu verbessernde, verbesserungsfähige Annäherungen an jeweils eine bestimmte Staatswahrheit67 , welche sich aus der höchsten revolutionären Staatserkenntnis ableitete, aus Freiheit und Gleichheit der Bürger. Dem antikisierenden Grundzug der Revolutionszeit entsprach wesentlich ein solches Normverständnis, in dem der Anschluß gefunden werden sollte an solonische Staatsweisheiten und an die römische Staats- und Rechtsräson der Zwölf Tafeln - jene Staatsvernunft, welche Staatswahrheiten erkannt hatte. Sie war die eigentliche Gesetzgeberin, verkörpert in einer "Republik", welche dargestellt wurde als Minerva, mit der Kraft höherer Erkenntnis begabt. Die repräsentative Demokratie konnte über deren unmittelbare Ausdrucksformen, Volksbegehren und Volksentscheid, damals und in den folgenden Generationen, so unschwer nicht zuletzt deshalb den Sieg davontragen, weil dahinter die Vorstellung stand von einer durch Norm zu erkennenden Staatswahrheit: Wäre das Gesetz nichts gewesen als der Wille des Volkes, wie hätte man seine Entstehung von dieser natürlichen Basis trennen können? Wenn diese Normen aber Erkenntnisse von Staatswahrheiten beinhalteten, so durften, mußten sie vielleicht besonderen "Erkenntnisorganen" anvertraut werden, welche besser, näher feststellen konnten, was sich der Wahrheit näherte, als ein vielköpfiger Volkssouverän, dem schon die intellektuelle Kraft zu solcher Erkenntnis fehlte. Bis auf den heutigen Tag hat sich die Demokratie der Volksvertreter letztlich nie allein durch das schwächliche Argument legitimieren können, sie "funktioniere eben besser" als unmittelbare Volksgesetzgebung 68 ; stets stand dahinter vor allem die intellektualistische Vorstellung vom Gesetz als erkannter Staatswahrheit, die eben ihr besonderes Erkenntnisorgan benötigt. Nicht von ungefähr kündigt sich ein Durchbruch unmittelbarer Demokratie in einer Zeit nun an, welche nicht nur das Volk für klüger hält als früher, sondern vor allem den Glauben an gesetzeserkannte Staatswahrheit in Staatsskepsis aufzugeben beginnt.

b) Der Rechtsstaat - Systematisierung normativer Staatswahrheit

Noch deutlicher fast als in diesen französisch-revolutionären Anfängen, die bis in die Gegenwart den Gesetzesbegriff prägen, kommt die Vorstellung von der Norm als Erkenntnis einer Staatswahrheit zum Ausdruck in der typisch deutschen Systematisierungsform der normativen Staatlichkeit, im Rechtsstaat. Hier wird das Gesetz hochgerechnet zur Staatsgrundsätzlichkeit, hier werden Norm und Normun67 So erklären sich die wiederholten Menschenrechtserklärungen der Revolutionsverfassungen von 1791, 1793, dem Jahr III - bis sich dies dann abschwächt in der Caesarischen Willensprägung napoleonischer und restaurativer Staatsgrunddokumente. 68 Auch die Volksvertreter-Gesetzgebung sieht sich ja auf diesen Prüfstand des Funktionierens (BVerfGE 10,4 [14]) gestellt; allerdings wird umgekehrt Formen unmittelbarer Bürgerdemokratie vom BVerfG jedenfalls nicht grundSätzlich der Vorwurf der "Funktionsschwäche" gemacht (vgl. BVerfGE 69,315 [345 ff.); 79,127 ff.).

VI. Die normative Staatswahrheit

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terworfenheit zum staatsrechtlichen Selbstzweck, in einem willensabgelösten, auf Ordnungen, nicht auf Befehle gerichteten Denken. Schon die bis heute tradierte, für die Rechtsstaatlichkeit zentrale Formel von "Gesetz und Recht" zeigt Abstand zu Vorstellungen einer Befehlsordnung in Gesetzesform. Hier tritt das "Recht,,69, in welcher Ausprägung immer, neben das beschlossene Gesetz, wenn nicht gar über dieses. Wenn schon das Gesetz nur gewollt vollzogen zu werden bräuchte, das "Recht" muß erkannt werden - als eine Form normativer Staatswahrheit. Hier jedenfalls steht der höchste Wille nicht über der höchsten Wahrheit im Staat. Das Wesen des Rechtsstaats besteht in seiner systematischen Geschlossenheit: daß nichts außerhalb des Gesetzes geschehe 7o , nichts freiheitsbeschränkend ohne dieses 71 . Einer Ordnung aus reinen Norm-Befehlen kann dies, aber es muß ihr nicht wesentlich sein, insbesondere dort nicht, wo liberales Denken den allgegenwärtigen Staatsbefehl nicht wünscht. Ganz anders dann, wenn der Rechtsstaat mit Gesetz und Recht Staatswahrheiten behütet: Er bedeutet dann die Garantie, daß nichts außerhalb dieser Wahrheiten sich vollziehen soll, daß sie den ganzen Staat tragen und ordnen, was reine Willensakte von Volksvertretern nie vergleichbar vermöchten. Die große andere Seite der Rechtsstaatlichkeit spricht ebenfalls dafür, daß hier die Normen als Ausdruck erkannter Wahrheiten zu verstehen sind, nicht als politische Befehle: Sie müssen ihrem wahrheitsannähernden Wesen entsprechen - erkennbar, berechenbar sein72 , als eine Vertrauensgrundlage, wie sie eben jene Staatswahrheit bildet, auf welche der Bürger sich verlassen darf. In diesen Forderungen der Legalität - mögen sie sich auch nur schwer verwirklichen lassen 73 liegt nicht ein befehlskonformes Verständnis, das sich überdies auch in punktuellem, unsystematischem Wollen verwirklichen könnte, wie es aber der systematischen Rechtsstaatlichkeit fremd ist. Unausgesprochen kommt darin, und damit in der Rechtsstaatlichkeit insgesamt, die Vorstellung zum Ausdruck, daß die Normen, 69 Sachs, M., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 20, Rn. 64 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. VI, Rn. 1 ff.; Hesse, K, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 195,507. 70 Wahl, R., Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; ders., Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechtes, NVwZ 1984, S. 401 ff.; Kunig, P., Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 316 ff. 71 Sachs, M., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 20, Rn. 70 ff.; Maurer, H., Allg. Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1997, § 6, Rn. 3 ff.; Kunig, aaü., S. 176 ff., 316 ff.; zur begrifflichen Unterscheidung "Gesetzesvorbehalt" - "Vorbehalt des Gesetzes" vgl. Stern, K, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III 12, 1994, S. 369 ff. (373, Fn. 9). 72 Kunig, P., Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 396 ff.; Leisner, W, Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 44 ff.; Stern, K, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 830 ff.; Herzog, R., in: Maunz 1Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. VII, Rn. 63; BVerfGE 21, 73 (79); 14, 13 (16). 73 Und allenfalls in Extremfällen zur Verfassungswidrigkeit führen, vgl. BVerfGE 17,67 (82); 59, 36 (52); 1, 14 (45) (Widersprüchlichkeit).

7 Leisner

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das Recht überhaupt, zuallererst statische Wahrheit sind, nicht drängender Befehl, daß sie erkennbar sein und bleiben müssen wie die Staatswahrheiten, die sie bringen. Ein Befehlssystem kann es nicht geben, wenn der Gegenbefehl schon ins Haus steht; Befehlsvertrauen ist fast schon ein Widerspruch in sich. Eine Rechts- und Gesetzessystematik aber fordert, normativ höchstrangig, der Rechtsstaat, das Gesetzesvertrauen 74 seiner Bürger hat in ihm normativen Höchstwert. In all dem steht er jedenfalls weit näher bei Vorstellungen von "Normen als Erkenntnis" als vom "Gesetz als willensgetragenem Befehl". An dieser Stelle sind nun eingangs (A 11) bereits dargestellte Ansätze zum Voluntarismus für den Normbegriff zu vertiefen:

c) Die "Norm als Sollen" - eine antiaufklärerische Vorstellung

Die Allgemeine Rechtslehre geht jedoch seit dem 19. Jahrhundert weithin nicht aus von jenem Gesetzesbegriff der Aufklärung, welcher die Norm primär als Erkenntnis der Staatswahrheit sah. Der Normbegriff wurde vielmehr, in Verbindung mit einer bis auf den Willen der Römischen Imperatoren zurückgehenden Tradition im "Recht als einer Sollensordnung" gefunden 75 , in der Norm als Ausdruck einer Verpflichtung, nicht einer Erkenntnis. Die Philosophie des Deutschen Idealismus begünstigte dies durch ihre Skepsis der Seinserkenntnis, welche einen wesentlich wahrheitsorientierten Normbegriff auszuschließen schien. Dem aufklärerischen Optimismus der unbegrenzten Erkenntnismöglichkeit, damit auch des die Wahrheit erfassenden Gesetzes, trat, schon in der Geburtsstunde des revolutionären "Gesetzes als Staatswahrheit", die Erkenntniskritik Kants entgegen: Wenn der Mensch das Sein und seine Wahrheit nur so begrenzt, vielleicht gar nicht zu erfassen vermag, so mußte das gerade damals aus alten Bindungen ausbrechende Gesetz auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt werden: der des Willens, der Verpflichtung - des nur moralisch mehr zu begründenden Sollens. Die staatsgesetzte Norm konnte dann nur von demselben Wesen sein wie das "moralische Gesetz in mir", sich im Bereich jener praktischen Vernunft entfalten, die auf ganz anderes gerichtet war als auf Wahrheit und Sein. So sollte denn neben die Seinsordnung eine ebenso voll formierte Sollensordnung treten, die der Normen, der Gesetze. Für Kant war dieser Normbegriff allerdings weniger durch fremdbestimmenden Willen konstituiert, er blieb im letzten sogar etwas wie eine Erkenntniskategorie von Handlungsmaximen, damit eine "menschenbestimmte und menschenbestim74 Leisner; w., Das Gesetzesvertrauen des Bürgers. Zur Theorie der Rechtsstaatlichkeit und der Rückwirkung der Gesetze, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 599 ff. 75 Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 44 ff.; Müller; F., Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, S. 328 ff.

VI. Die nonnative Staatswahrheit

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mende Wahrheit", nur daß er nicht, wie die Aufklärung dies annahm, von der realitätserkennenden reinen Vernunft erfaßt werden konnte, sondern von jener praktischen Vernunft, welche aber immer noch Ratio blieb. Erst die späteren Ausfonnungen der Willensphilosophie des 19. Jahrhunderts 76 haben die so grundgelegte Lehre von der Sollensordnung zu einem Gegensatz zur Seinsordnung gesteigert, so daß das Recht als Sollensordnung, die Nonn als Staatsgrundlage von der Nonn als Staatswahrheits-Erkenntnis prinzipiell getrennt erschien. Seither ist der Gegensatz von Sein und Sollen in der Lehre vom Nonnbegriff nicht mehr überwunden und es ist damit der Begriff der Staats wahrheit, der Nonn als ihrer Erkenntnis, "in Philosophie verschüttet" worden 77 • Nicht gegen sie und ihre Erkenntnisse - wie weit immer sie tragen mögen - richten sich diese Betrachtungen zur Nonn als Erkenntnis der Staatswahrheit; sie wollen aber den aufklärerisch-revolutionären Gesetzesbegriff wieder entdecken und in den Mittelpunkt stellen, aus dem in jener Zeit, in welcher auch die "praktische Vernunft" geboren wurde, das Wesen des Rechts und der Staatswahrheit grundgelegt worden ist. Recht als Sollen ist dann, in dieser historischen Sicht, keine unüberwindliche rechts- und staatsgrundsätzliche Antithese mehr zum Gesetz als Erkenntnis einer Staatswahrheit.

d) Reine Rechtslehre und Staatswahrheit

Die Allgemeine Staatslehre hat diese Trennung von Sollen und Sein ins Extrem gesteigert in Kelsens Reiner Rechtslehre. Hier wurde nun alles Recht auf einen Nonnbegriff gegründet, der jedoch völlig unvennittelt neben dem gesellschaftlichpolitischen Sein stand, dieses mit seinen Mechanismen ordnend, jedoch nicht in sich aufnehmend78 • Dieser scharfe Dualismus von Sein- und Sollensordnung setzte nur neukantianisch fort, was der deutsche Idealismus dem Recht als eigenständigen Entfaltungsraum bereits geboten hatte, in seiner Unterscheidung von reiner und praktischer Vernunft: Da war nun rechtliche Eigenständigkeit, Selbstgesetzlichkeit, Rechtstechnik jenseits aller Politik. Die Wahrheitsfrage wird in dieser Reinen Rechtslehre völlig eliminiert; die Nonn ist zum reinen Sollen geworden, darin erst zum ,,reinen Recht". Der Staat wird zwar mit der Nonn identifiziert79 , doch für ihn gibt es ebensowenig eine "Wahrheit", wie eine solche durch das Gesetz erkannt Vgl. oben A, 11. Letztlich steht dahinter die grundsätzliche philosophische Disziplinen-Trennung von Metaphysik/Gnoseologie und Ethik seit Aristoteles, welche in der Scholastik, aus deren Sünden- und Rechtfertigungsdogmatik heraus, erst recht vertieft werden mußte; sie war stets auf das ethisch-nonnative Sollen gerichtet, mochte sie auch den Abfall von möglicher Wahrheits-Erkenntnis als Sünde betrachten. Die Verletzung dieses der Wahrheitserkenntnis gegenüber "sekundären Sollens" allein wird jedoch von der Aufklärung mit Sanktionen belegt. 78 Kelsen, H, Reine Rechtslehre, 1934, S. 115 ff. 79 Kelsen, H., Allg. Staatslehre, 1966, S. 5,16 ff., 47 ff. 76 77

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C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

werden kann; der Staat ist wahrheitsblind wie die Lex, welche sein Wesen ausmacht. Der äußerste Abstand vom aufklärerischen Wesen einer Gesetzlichkeit ist erreicht, welche die Gesellschaft in der Erkenntnis immer neuer Wahrheiten umgestalten wollte. Der Kelsenianismus hat jedoch die Norm ebenso wenig grundsätzlich in den Bereich des Gewollten versetzt wie einst Kant; die Gesetze sollten vielmehr eine "zweite Seinsordnung des Sollens" bilden, neben der der Realität, vom politischen Willen insbesondere völlig getrennt. Das Gesetz ohne Wille und ohne Wahrheit, der Staat als ein Gesetz ohne Erkenntnis - dies alles endete nun in einer Realitätsferne, in der die Sollensordnung ihr eigentliches Wesen finden sollte. Die Faszination einer auf solche Weise grundgelegten Selbstgesetzlichkeit hat die damals bereits hochentwickelte Rechtswissenschaft ergriffen und bis heute geprägt. Deswegen mögen Betrachtungen über Normen als Erkenntnis von Staatswahrheiten Juristen zunächst ein Ärgernis sein, die darin die Grundlagen der Eigenständigkeit ihrer Disziplin in Gefahr sehen. Immer wieder werden sie versuchen, ihre Rechtswissenschaft gerade nicht auf jene Aufklärung zu gründen, welche ihnen das Gesetz geschenkt hat, sondern auf eine Philosophie, die in souveränem Absehen von aller Historie eine Sollensordnung entfaltet. Kelsen war nicht in allen seinen Thesen, wohl aber in einer Grundstimmung bleibender Erfolg beschieden: der des Rechts als einer geschlossenen, in seiner Technik und seinen Selbstgesetzlichkeiten sicher verankerten Welt. Und warum sollte diese auch versuchen, in den Gesetzen Staatswahrheiten zu erkennen? Würden diese dann nicht ständig, unter der Einwirkung einer wahrheits verschiebenden Wirklichkeit, relativiert werden - und damit das Recht selbst?

e) Selbstgesetzlichkeit des Rechtsgerade in der "Norm als Staatswahrheit"

Wer nicht davon überzeugen kann, daß sein Rechtsverständnis dem Recht Eigenräume gewährt, Selbstgesetzlichkeiten seiner Entfaltung sichert, wird Juristen in der Eigenart ihrer normgeprägten Sollensordnung festhalten; das Gesetz als Ausdruck erkannter Staatswahrheit kann es dann nicht geben. Diese Betrachtungen können daher um Verständnis für eine in Normen gegossene, aus ihnen erkannte Staatswahrheit nur werben, wenn eines wieder nahe gebracht werden kann, das heute in immer weitere Feme zu rücken scheint: die Vorstellung von der Unverbrüchlichkeit des Gesetzes, dessen Geltungswille nur von einem letztlich getragen sein kann - von einem Wahrheitsethos, wie es die Aufklärung hervorgebracht und alle nachrevolutionäre Politik geprägt hat. Diese Staatswahrheit mag dann in praktischer, selbst willensgestützter Vernunft erkannt und umgesetzt werden - sie bleibt zuallererst Wahrheit, dies trägt ihre "Geltung", nicht allein der Wille der Mächtigen. Deshalb gibt es, wie bereits dargelegt, Wertungs-Wahrheiten, in denen sich die Staatswahrheit entfaltet.

VI. Die nonnative Staatswahrheit

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Eine solche Vorstellung gewährt auch der normgewordenen Staatswahrheit einen Raum selbstgesetzlicher Entfaltung, die nicht durch einen, "von außen kommenden" Willen immer wieder gebrochen wird, sondern sich in den Bahnen des Rechts, seiner Mechanismen, seiner Rechtstechnik weiterbewegt, immer aber in Wahrheits-Erkenntnis. Rechtstechnik wird nicht unmöglich, verliert nicht ihre Kraft, gewinnt vielmehr erneut ihre Majestät, wenn sie wieder eingebunden wird in einen Vorgang des Erkennens, nicht mehr nur als Fortführung fremden Willens auftritt. In solchem Erkennen liegt immer etwas im höheren Sinne Priesterliches; als Diener einer Sollensordnung dagegen bleiben die Legisten der Staatsgewalt letztlich Diener der Macht. Von der Staatswahrheit getrennt, ist das Gesetz nur mehr irgendeine äußere Form menschlicher Willensäußerung; besonderen Rang findet es allenfalls noch in der Komplikation seines Erlasses; Demokratische Majestät wird es dann vergeblich darin suchen, daß es von den Vielen kommt ... Die Einsichten der Aufklärung und der Französischen Revolution, die den demokratischen Gesetzesbegriff hinterlassen haben, reichten tiefer: Nicht der Wille der Masse bringt die Majestät der Norm hervor, sondern der gemeinsame Aufbruch aller Bürger zu einem Höheren, zur Staatswahrheit in Gesetzesform80 . Normfluten wird immer begrüßen, wer im Recht nur den Überbau ständig sich wandelnder Wirklichkeit sieht; wem das Gesetz mehr bedeutet, etwas ganz anderes als augenblicklicher "Machtwille", der durch Gleichheitsvorstellungen verbreitert wird, der muß die Wahrheit und ihre Erkenntnis in das Gesetz selbst legen.

2. Gesetzesanwendung - Entfaltung von Staatswahrheiten Die Majestät des demokratischen Gesetzes liegt nicht nur in seinem Erlaß, sie zeigt sich in seiner Anwendung. Hier erst wird die Norm deutlich als Proklamation erkannter Staatswahrheit. Nun treten die vielen, meist wenig bedeutsamen Volksvertreter zurück hinter der Selbstgesetzlichkeit der normativen Hoheit. Ihr Wille hat die Staatswahrheit erkennen lassen, nun setzt sie sich durch, auf anderen Wegen, mit eigenem Gewicht.

a) Gesetzesanwendung: mehr als Ausdruck eines Machtwillens

Ein Befehl wird ausgeführt, die Norm wird angewendet. In diesem juristischen Sprachgebrauch liegt Tieferes: eine Entvoluntarisierung der Norm, welche sie als Erkenntnisform von Staatswahrheiten ausweist. 80

Das steht letztlich hinter der Souverainete nationale Carre de Malbergs, vgl. dazu Leis-

ner; W, Volk und Nation als Rechtsbegriffe der Französischen Revolution. Zur "tradition re-

volutionnaire", in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 150 ff.

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c. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Keine Rede kann davon sein - und so sieht es gerade die Praxis nicht - daß sich in Gesetzesanwendung nur reine "Weiter-Voluntarisierung" des normgewordenen Staatswillens vollziehen soll, ohne Staatswahrheitsanspruch. Eine solche Vorstellung konnte in neuerer Zeit nur vertreten werden für einen FührerwillensI, der sich nach Form und Inhalt im Befehl erschöpfte. Wahrheit im Sinne der Aufklärung war hier nicht mehr, in nichts mehr erkennbar. Die Staatsführungsgewalt brachte neue Realitäten hervor, die nur in ihrer Siegeskraft Wahrheit bedeuteten. Das "Regierungsgesetz" war und ist, wo immer es noch auftritt, etwas wie eine "andere Norm"S2 gegenüber dem Gesetz der Aufklärung: reiner Wille, nicht Versuch irgendeines Erkennens. Dort findet nicht jene eigenartige Verschränkung von "normativer Wahrheitserkenntnis" im Gesetz und praktischer Wahrheitsverwirklichung in der Gesetzesanwendung S3 statt, welche, wie sich sogleich zeigen wird, demokratischer Gewaltenteilung ihr Wahrheitsethos verleiht; das Regierungs-Gesetz, der Führerwille vor allem, ist von Anfang an nichts anderes als reine Willenskraft, nichts als Ankündigung, ja Vorwegnahme einer Gesetzesdurchsetzung, welche der Gesetzesanwendung nur eines befiehlt: reinen Gehorsam. Die demokratische Setzung der Normen dagegen bleibt selbst dort Suche nach Staatswahrheit, bis hinein in deren Anwendung, wo sie von der Exekutive kommen, in Verordnung und Satzung sich ausdrücken: Auch diese Formen des Normerlasses werden "vom Gesetz ferngesteuert", sind Ausdruck normativer Staatswahrheitssuche, müssen sich in Normanwendung, nicht einfach nur in Normgehorsam bewährens4 . Das Führergesetz der Exekutive mag ebenfalls versuchen, sich aus erkannter Staatswahrheit zu legitimieren - die ganze Begründungslast läge hier aber nur bei einer Macht, die sich täglich, ihrem Wesen entsprechend, ihrer selbst bewußt und selbst genug ist, der Weisheit gesetzgebender und gesetzanwendender Staatswahrheitserkenntnis nicht mehr bedarf. Das große Vertrauen, daß gerade ein Führer die Wahrheit kennen, erkennen wird, fehlt der Demokratie, dies ist ihr innerstes Wesen und es ist schwer vereinbar mit einer Persönlichen Gewalt, die sich zuallererst aus dem mächtigen Willen einer Persönlichkeit legitimiert.

b) Das Gesetz und seine Anwendung Erkenntnis der Staatswahrheit in Annäherungen

"Das Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber" - dieses Radbruch-WortS5 ist demokratische Staatswahrheit, es läßt sich fortdenken zum Gesetz als Ausdruck ihrer Dazu Huber, E. R., Staatsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Auf!. 1937/9, S. 194 ff. Für das Staatsrecht des Dritten Reiches vgl. Huber, aaO., S. 235 ff. 83 Zu dieser unter dem Führerwillen vgl. Huber, aaO., S. 270 ff., 404 ff. 84 Dies ist der Sinn des "Gesetzes im materiel1en Sinn", das auch die abgeleitete Gesetzgebung umfaßt, vgl. Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 502 und krit. Rn. 506; Maunz, T., in: Maunz/Dürig, GGKomm., Art. 80, Rn. 14 ff. 85 V gl. Radbruch, G., Rechtsphilosophie (Hg. Wolf! Schneider), 8. Auf!. 1973, S. 207. 81

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VI. Die nonnative Staatswahrheit

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Erkenntnis. Darin kommt der vernunftgetragene, willensüberhöhende Charakter der Norm zum Ausdruck, die Intelligenz des Gesetzes, nicht seine Kraft, denn es ist auf Wahrheit gerichtet, auf Durchsetzung nur deshalb, weil diese Wahrheit sich - durchsetzen wird, nach dem intellektualistischen Credo der Aufklärung. Das ,,klügere Gesetz" mochte auch pandektistische Ursprünge haben, weil eben das römische Recht, als ratio scripta, geschichtsübergreifend zu gelten schien, aus der reinen Macht höheren Erkennens heraus; und dies hatte den Willens- und SollensLehren des 19. Jahrhunderts lange Zeit widerstanden. Doch jenes Wort wurde bereits aus demokratischer Grundüberzeugung heraus neu gesprochen, gerade in einer Zeit, welche den Volkssouverän, die Rechte seiner Vertreter, wiederentdeckt hatte. In ihm kommt daher tiefere Erkenntnis zum Ausdruck: Das demokratische Gesetz ist nichts als eine Etappe in einer Wahrheitsfindung in fieri, ein erster parlamentarischer Anlauf zur Erkenntnis und, aus ihr heraus, zur Verwirklichung der erkannten Staats wahrheit. Das Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber, weil seine Anwender, so muß dies fortgedacht werden, immer wieder neue Erkenntnisse hinzufügen zu dieser legislativen Erkenntnis der Staatswahrheit. Dem parlamentsbeschlossenen Gesetz geht nichts von seiner Majestät verloren, wenn es verstanden wird nur als eine "erste, allgemeine Annäherung" an die normativ zu erkennende Staatswahrheit. Wahrheiten ist es eigentümlich, daß sie, anders als willensgetragene Befehle, wesentlich in Stufen erkannt und eben darin dann auch bereits verwirklicht werden, in Annäherungen, welche ein reiner willensgebundener Befehlsgehorsam nicht kennen darf. Dies ist der tiefere, der Staatswahrheit zugewendete Sinn der demokratischen Gewaltenteilung: Nach der ersten normativen Annäherung an sie im Gesetzesbeschluß - dem seinerseits oft bereits Regierungs-Annäherungen im Gesetzgebungsverfahren vorangingen86 - bemächtigen sich nun andere demokratische Gewalten dieser in der Allgemeinheit legislativer Annäherung gesetzten Wahrheit; sie denken sie fort, legen in sie immer neue Erkenntnisse von Staatswahrheit. Damit tritt nicht ein anderer Wille neben den der Vertreter des Volkes, demokratisch wäre dies ja kaum zu legitimieren 87. Vielmehr kommt es hier zu einer neuen, in der demokratischen Ordnung vorgesehenen Entfaltungsphase der legislativ erkannten Staatswahrheit, durch andere Staatsorgane; wo sie den Erkenntnisvorgang der Staatswahrheit abschließen, wie die Richter im Urteil, sprechen sie denn auch ganz offen von ihrer - Erkenntnis. Administrative und Judikative leisten im Grunde in der Demokratie ein immer weiteres Fortdenken gesetzgeberischer Klugheit 88 , in weiteren Staatswahrheits-Annäherungen, aus 86 In Gesetzesentwürfen und Gesetzesvorlagen, auch über den Bundesrat, als Primärorgan der Länder-Exekutiven. 87 Nicht ausreichen würde dafür die "demokratische Legitimation der Exekutive" allein aus der parlamentarischen Kontrolle über sie; so aber eine verbreitete Ansicht, vgl. Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. H, Rn. 53. 88 Besonders deutlich im Raum administrativen Ennessens (vgl. dessen "innere Schranken", aus den Zielvorstellungen des Gesetzes, welches Ennessen einräumt, vgl. dazu Ossenbühl, F., Rechtliche Gebundenheit und Ennessen der Verwaltung, in: Allg. Verwaltungsrecht

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

ihren jeweiligen Perspektiven. Hier wirken die verbreiterten Bedürfnisse allgemeiner Verwaltungspraxis, nach und unter ihr die des administrativ und sodann zu entscheidenden Einzelfalles, welche die Wahrheit von allen Seiten beleuchten lassen, immer näher, damit sie nur noch deutlicher hervortrete. Der Demokratie ist darin eines eigen: fortschreitende, in diesem aufklärerischen Sinne progressive, immer bessere Gesetzeserkenntnis, dadurch Annäherungs-Erkenntnis von Staatswahrheit. Ließe sich die Gewaltenteilung, die demokratische Gesetzesanwendung nicht begründen aus solchen Annäherungsstufen in der Erkenntnis der Staatswahrheit, wäre das Gesetz nichts als Ausdruck des Volkswillens, so bliebe unlösbar das Problem der demokratischen Legitimation der anderen Staatsorgane. Die wenig überzeugenden Versuche, Entscheidungen der Exekutive oder gar noch der Richter, zurückzuführen auf einen Willen des Volkssouveräns 89 , werden dann aber überflüssig, wenn das Wesen des Parlamentarismus darin gesehen wird, Staatswahrheiten durch die Vertreter des Volkssouveräns im Parlament nur "in erster Annäherung" erkennen zu lassen. Ihre vielen, vielleicht allzuvielen Augen sollen doch nur im "ersten Gesetzesüberblick" die Wahrheit möglichst allseitig sehen, während deren genauere Erfassung dann der sektoral durchblickenden Administration, noch weitergehende Präzision dem einzelfall-beschränkten Richter vorbehalten bleibt, schließlich dem Gelehrten der Rechtswissenschaft, welcher seine Augen, um mit Nietzsche zu sprechen, besonders "nah an den Gegenstand hält". Auf diesen Stufen, auf welchen sogar noch die Suprematie der Volkssouveränität sich bewährt, geschieht immer nur eines: die Entfaltung des Gesetzes als Ausdruck einer in vielfacher Annäherung erkannten Staatswahrheit. Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Richtem 90 nimmt der Gesetzesanwendung durch diese Instanzen nichts von ihrer wesentlichen, demokratischen Selbständigkeit. Sie rechtfertigt sich vielmehr gerade dann, wenn man die Gesetzesentfaltung als Suche der Staatswahrheit begreift: Extra muros dieser Wahrheit darf sich kein Organ dieses Staates bewegen, der seiner Staatswahrheit insgesamt verpflichtet bleibt, eine contra legem-Entscheidung 91 müßte die Wahrheitsunter[Hg. Erichsen], 10. Aufl. 1995, § 10, Rn. 13 ff.; Peine, F.-J., Allg. Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1995, Rn. 66; König, H.-G., System des Verwaltungsrechts, 1983, S. 55 ff.), das ebenso Ausdruck einer ,,Erkenntnis" ist wie die Entscheidung des Richters, die es nicht ersetzen darf. 89 Vgl. Fn. 87. 90 Roellecke, G. / Starck, c., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff., 45 ff.; Sachs, M., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 20, Rn. 68 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. VI, Rn. 24 ff.; Schnapp, F.E., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 1,4. Aufl. 1992, Art. 20, Rn. 36 ff. 91 Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366 ff., insbes. S. 426 ff.; Schachtschneider; K. A., Res publica res populi, 1995, S. 885 ff., 920 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994; Kirchhof, P., Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Richterliche Rechtsfortbildung, 1986, S. 11 ff.; Müller; F., Richterrecht - rechtstheoretisch formuliert, ebda., S. 65 ff.; Neuner; J., Die Rechtsfortbildung contra legern, Diss. München 1991; Leisner; W, Richterrecht in Verfassungsschranken, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 889 ff.

VI. Die normative Staatswahrheit

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worfenheit der Staatsinstanz aufheben, ihr das Recht zuerkennen, eigene Staatswahrheiten in direktem Zugriff, ohne Berücksichtigung der normativen Annäherungen an ihre Erkenntnis zu realisieren. Die Demokratie geht mit ihrer Gewaltenteilung vielmehr aus von einem bestimmten Realisierungsmechanismus der Staatswahrheiten in Stufen ihrer Erkenntnis - rahmenmäßig im Parlament, konkretisierend durch die Zweite und Dritte Gewalt. Darin bleibt sie sogar, von ihren aufklärerischen Anfängen her, einer Erkenntnisskepsis der Vernunft verpflichtet, welche den direkten Zugriff auf die eine, ganze Wahrheit niemandem mehr gestatten will.

c) Objektive Gesetzesinterpretation als Erkenntnisvorgang

Der Ausgangspunkt der demokratischen Norminterpretation wird wiederum durch das Wort vom klügeren Gesetz verdeutlicht: Die Norm führt ein intellektuelles Eigenleben, über den Willen der Normsetzer hinweg, es entfaltet sich in der Normanwendung; und es setzt sich fort in Stufen, darin etwa, daß jeweils der "spätere Interpret" klüger sein darf als der vorhergehende: Die Gesetzesbegründung orientiert die Verwaltung, doch sie bindet sie nicht; deren Verständnis wiederum mag der letztentscheidende Richter berücksichtigen, er kann auch sie wieder anders akzentuieren, und dementsprechend auch der jeweils später Normanwendende. Zuwenig ist bisher bewußt geworden, daß die heute ganz herrschende objektive Auslegungslehre der Normen 92 mit der Vorstellung vom Gesetz als Wille des parlamentarischen Volkssouveräns völlig und endgültig unvereinbar ist. Wenn die Verwaltung, wenn vor allem der Richter das Gesetz letztlich so verstehen darf, wie es nicht nur dessen vielleicht noch parlamentsgewolltes System, sondern wie es nun Sprachgebrauch und Anschauungen der jeweiligen Zeit, heutiger "Gesellschaft" ihm nahelegen, so kann dies doch nur bedeuten, daß entweder völlig andere und in keiner Weise demokratisch legitimierte Instanzen das letzte Wort haben - irgendwelche unfaßbare gesellschaftliche Strömungen, oder eben einfach der Richter, als ihr Organ, nicht als das des Staates - oder daß eben doch der Wille des Gesetzgebers nur eine erste Annäherung bringt, die es dann zu präzisieren gilt - in Gesetzesanwendung. Herkömmliches Verständnis der Norm als eines reinen Willensausdrucks läßt offen, woher denn diese objektiv interpretierenden Instanzen ihre demokratische Legitimation beziehen sollen. Ein Leichtes wäre es doch, den parlamentarischen Willen ausschließlich aus einer subjektiven Auslegungslehre heraus verstehen zu lassen, aus dem, was der konkrete Gesetzgeber damals, historisch ge92 Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 53 f. m. Hinw. zur Rspr. d. BVerfG; Koch, H.-J.lRüßmann, H., Juristische Begründungslehre, 1982, S. 177 ff.; Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1991, S. 428 ff.; Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 316 ff.; Müller, F., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 254 ff. ("Unbrauchbarkeit der "objektiven" und "subjektiven" Theorie").

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c. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

sehen, gewollt hat. Nur dann wäre Gesetzesanwendung, wäre zuallererst die Gesetzesinterpretation Ausdruck eines Willens, nicht einer Erkenntnis. Die herrschende Lehre sieht es, in sicherem Rechtsinstinkt, völlig anders. Der subjektive Wille des Gesetzgebers ist ihr nichts als eine erste Orientierung 93 , ein Nachvollziehen der ersten Annäherung des Gesetzgebers an eine erst später endgültig zu realisierende Erkenntnis - einer Staatswahrheit. Erkenntnisbemühungen ist es eigen, daß sie durch frühere, vorgeschaltete Erkenntnisse orientiert, nicht aber gebunden werden. So schreitet denn nun der Interpret demokratischer Normen mit Selbstverständlichkeit fort zu weiteren, zu seinen eigenen, oft endgültigen Erkenntnisvorgängen. Demokratischem Grundverständnis widerspräche es, diese als Willensakte zu qualifizieren; das müßte enden in einer Überordnung der Exekutive über die Legislative, in einem höchsten Staatswillen, den der Richter ausspricht, er, der am weitesten entfernt ist von der Volkswahl. Dies letztere wird in heutiger Staatslehre zwar zugegeben 94, aber mit einem ersichtlich "schlechten demokratischen Gewissen", welches nur mehr aus letzten Notwendigkeiten stabiler Rechtsund Staatsordnung argumentieren kann - als wenn es eben doch einer noch höheren Macht bedürfte als der des Volkes, welche dessen Willen hält, stabilisiert ... Demokratisch zu Ende gedacht werden können diese Mechanismen der Gesetzesauslegung nur, wenn Normauslegung begriffen wird als Normerkenntnis, die Norm wiederum als Erkenntnis einer Staatswahrheit. Wer die Auslegung als Willensakt zu fassen versucht, als voluntative Gesetzesfortsetzung, bleibt auch hier wieder, wie schon die Legitimationsbemühungen der nichtgewählten Staatsgewalten, neben der demokratischen Sache stehen. Gerade in der Demokratie kann Interpretationslehre nur eines sein: rationale Erkenntnislehre, die den Normwillen als Wahrheitsannäherung erfassen und diese Wahrheit zur Entfaltung bringen will. Mit einem solchen Verständnis mag die Demokratie der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit ihren Tribut entrichten; sie anerkennt, neben dem Parlament, andere Instanzen, über welche Wertungen und Entwicklungen dieser Realität in ihr Recht einfließen, in der Auslegung ihrer Normen. Doch sie entfernt sich dann nicht von einer Grundvorstellung, welche all ihre Gewalt legitimiert: daß hier eben doch Wahrheitserkenntnis stattfindet, vor allem "außerstaatlicher Realitäten", nicht einfach nur Willensmacht sich durchzusetzen versucht. Dies ist denn auch die Grundstimmung, aus welcher alle Interpretation erfolgt. Ihr Selbstverständnis ist immer das eines rationalen Vorgangs, nicht das der Durchsetzung neuen Willens. Deshalb auch bleibt sie, bei Beamten wie bei Richtern, stets möglichst nahe, oft nur allzunahe, beim Gesetz stehen, entfernt sich von seinem Wortlaut immer nur mit erkennbar schlechtem Gewissen, wenn sie eben nur 93 Larenz, aaO., S. 316 ff., 328 ff.; Koch/Rüßmann, aaO., S. 211 ff.; vgl. auch Isensee, i., Vorn Ethos des Interpreten, Festschr. f. Winkler, 1997, S. 367 ff. 94 Schlaich, K., Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl. 1995, Rn. 503 ff.

VI. Die nonnative Staatswahrheit

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mehr "in seinem Namen", aber doch nach ihrem eigenen Willen entscheidet. Dies sind jene seltenen Ausnahmefälle, in welchen der Interpret handelt, als wäre er selbst Gesetzgeber, indem er "sein eigenes Gesetz aufstellt". In diesem vielzitierten Satz des schweizerischen ZGB 95 läge aber ein Fehlverständnis von Interpretation und Lückenfüllung, wollte man deshalb allgemein Auslegung als Willensvorgang verstehen. Zutreffend ist dies nur in Extremfällen, in welchen die erste, die gesetzgeberische Wahrheitsannäherung nicht stattgefunden hat, der Auslegende deshalb "in diese Lücke springt", um eben doch jene Erkenntnis der Staatswahrheit zu ermöglichen, welche der Gesetzgeber offengelassen hat. Dieses Verständnis der objektiven Interpretation als Erkenntnisvorgang von normativen Staatswahrheiten bewährt sich sogar noch bis hin zur systematischen Auslegung 96 • Auch dort wird nicht, aus vielen einzelnen Willensbekundungen des Gesetzgebers, vom Interpreten etwas gebildet wie ein neuer, flächendeckender Wille. Vielmehr liegt darin ein Aufsteigen von Einzelerkenntnissen zur höheren Schau systematischer Wahrheitserkenntnis, deren Licht nun eben auch in Bereiche dringt, welche die Augen der Gesetzgeber noch nicht zu erfassen vermochten. Die systematische Interpretation, dieser Gipfel der Auslegung, wird erreicht im Vorgang eines Erkennens, in einer Weite, welche sich zu größeren Staatswahrheiten öffnet. Systematischer Wille dagegen - wie wäre dies vollziehbar? Dem interpretierenden Juristen aber wird damit seine stille, allgegenwärtige Majestät zurückgegeben, er ist dann mehr als reiner Vollzieher dessen, was doch nicht selten unter seinem Erkenntnisniveau bleibt, in Eile und politischem Kompromißzwang des Gesetzgebungsverfahrens: des Willens des Normgebers. Der Interpret entfaltet vielmehr sein Normverständnis in der Ruhe seiner Erkenntnisse, die allein am Ende auch deren wissenschaftliche Begründung ermöglicht. Wohl mag es sein, daß in den parlamentarischen Anfangsphasen der Normsetzung nur schäumender Wille sich zeigt, ja austobt; in den ruhigeren Spätphasen der Normverwirklichung, in Amtsstuben und Gerichtssälen, dominiert die Vernunft des fortgedachten Gesetzes.

d) Gesetzeskomplikation - Ausdruck komplexer Wahrheit

Von der Einfachheit der wenigen Tafeln haben sich die Normen zur schier unübersehbaren Vielfalt entwickelt - schon diese immer häufiger wiederholte und beklagte Feststellung zeigt, daß hier noch immer in Erkenntnis-, nicht in Willenskategorien gedacht wird. Wie könnte denn auch ein "schier unübersehbarer Wille" vorgestellt werden, geschweige denn vollzogen? Als erstmals die Vielfalt der Normen 95 Bydlinski. aaO .• S. 472 ff.; lArenz. aaO., S. 370 ff.; Canaris. c.-w.. Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, insbes. S. 129 ff.; Müller, F.. Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 90 f., 259 f. 96 Vgl. Bydlinski. aaO., S. 442 ff., 453 ff.; lArenz. aaO., S. 324 ff.; Müller, aaO., S. 209 ff.

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c. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

allenthalben in Kodifikationen zusammengeführt wurde, geschah dies in eben jener Zeit der Aufklärung, welche darin die leichtere Erkennbarkeit des in Normen bereits Erkannten bringen wollte 97 . Alles Kodifikationsdenken ist nicht nur rationalistisch gewendet, es setzt die Norm als Wahrheitserkenntnis voraus. Wenn eine Gegenwart versucht, dies im sozialen oder im Umweltbereich durch "Gesetzbücher" zu wiederholen, so richtet auch sie ihre Anstrengungen damit immer wieder auf die "möglichst einheitliche, möglichst eine" Wahrheit, welche solche Gesamtschau dem Normadressaten, dem Rechtsanwender vermitteln soll. Die Vielfalt der Normen ist also stets verstanden worden als eine Gefahr für die Erkennbarkeit der Wahrheit, welche sie doch gewährleisten sollen. Auch dort aber, wo solche Zusammenfassung nicht gelingt, wo Unübersichtlichkeit weiter den "Normzustand" prägt, wenn er als solcher überhaupt noch faßbar wird, ist dies nicht ein Beweis gegen normative Wahrheit, sondern eine Erscheinungsform derselben: Staats wahrheiten als einfache Sätze postulieren, wäre nichts als der primitive Versuch, Wahrheiten in wenige Worte zu fassen. Von solchem einfachen Glauben hat sich die Aufklärung bereits in ihren enzyklopädischen Bibliotheken entfernt, als sie "das Gesetz" der Demokratie hervorbrachte. Von Anfang an sammelte diese Staatlichkeit ihre immer weniger zählbaren Staatswahrheiten in immer neuen Büchern, und sie mochte darin sogar etwas wie den Ausdruck eines normgewordenen Fortschritts erkennen: Stieß sie denn nicht mit jedem neuen Gesetz vor auch zu einer neuen Wahrheit, wurde denn nicht in deren Namen erst legitim, was sonst nur als ständiger Willens-Widerspruch hätte gedeutet werden können, schlechthin unbefolgbar, unvollziehbar werden müssen? So ist es recht eigentlich erst die unendliche Wahrheit, ihre unübersehbare Komplexität, welche eine kaum mehr erfaßbare Normenwelt hervorbringt und zugleich rechtfertigt. Auch hier wieder gilt es, das große Mißverständnis der voluntativen Deutung der Französischen Revolution und der aus ihr entstandenen Demokratie zu verlassen: als habe man dort mit wenigen großen Gesetzesschlägen, in Gesetzesnaivität, eine Welt von Wahrheiten erfassen und ordnen wollen. Geboren wurde vielmehr die Norm als Ausdruck der Staatswahrheit, von ihren Anfängen an lag in ihr rationalistische Skepsis, die zu demokratischer Skepsis geworden ist: daß nämlich die unübersehbare Wahrheit die unübersehbaren Normen rufen wird, daß das schwache Erkenntnisvermögen der Menschen immer neu ansetzen muß, in neuen, in vielen Gesetzen.

VII. Die Grundrechte: erkannte Wahrheitsgrundlage der Demokratie Die Demokratie will in ihren Normen die Staatswahrheit erfassen, in ihren vielen Gesetzen die vielfache Wahrheit. Doch von ihren Anfängen an hat sie die eine 97

Vgl. Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auf!. 1967, S. 322 ff.

VII. Die Grundrechte - erkannte Wahrheitsgrundlage

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Wahrheit nie aus den Augen verloren, diese "im Zugriff' erkennen und proklamieren wollen: die Grundrechte als ihre Grundwerte.

1. Die Grundrechte - Werte als Staatswahrheiten

Bevor diese Grundrechte als erkennbare, erkannte Staatswahrheiten näher betrachtet werden, gilt es, vom Blickpunkt dieser Untersuchung aus das Thema "Staatswahrheit und Wert" zu beleuchten. Heutiger Verfassungsrechtsprechung sind die Grundrechte in erster Linie "Wertentscheidungen,,98, zu denen sich die Verfassung geber seinerzeit bekannt haben (sollen). Solches Bekennen beinhaltet sicher zuallererst einen Willensakt. Dieser richtet sich auf einen Wert, ein Begriff, welcher der neueren materialen Wertphilosophie entlehnt ist. Auch dort ist ein Willensbezug des Begriffs unverkennbar: Solche Werte müssen nicht nur erkannt, sondern anerkannt werden, in diesem Akt des persönlichen Entscheidens wird erst ihre Bedeutung, ihre Wertigkeit Wirklichkeit; sie wird voluntativ gesetzt, so wie der Verfassunggeber sie in das Grundgesetz durch einen politischen Willensakt rezipiert hat. Doch diese Seite der Wert-Philosophie ist ebensowenig geeignet, den Begriff der Staatswahrheit aus dem demokratischen Normverständnis zu verdrängen99 , wie die bereits dargestellte "Philosophie des Sollens". Vielmehr muß von den Gegebenheiten des politischen Bereiches ausgegangen werden, von der Tradition einer Volksherrschaft insbesondere, die sich nicht mit philosophischen Theorien allein erfassen läßt. "Wert" bezeichnet dort mit Sicherheit nicht das, was eine politische Entscheidung konstitutiv hervorgebracht hat - sie hätte auch ganz anders fallen können. "Anerkennen" steht dort auch nicht im Widerspruch zum "Erkennen", aus dem es vielmehr erwächst; die Besonderheit der Staatswahrheit mag in deren normativer Verbindlichkeit liegen, doch ihrem Wesen nach bleibt sie erkannte, nicht gesetzte Realität. Daß darin Wertungen wirken, daß solche Beurteilungen zur Realität, die Realität wiederum zum Normwert erhoben wird, mag eine typisch politische Erweiterung der Wahrheits-Wirksamkeit bedeuten, an deren innerem Wahrheits-Wesen ändert dies nichts. Demokratische Wertentscheidung kann nicht von der Wahrheitsfindung getrennt werden, sie ist vielmehr deren Folge, ihre typisch juristische Form.

98 Vgl. Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 898 ff. m. zahlr. Nachw. z. Rspr. d. BVerfG; krit. Goerlich, H., Wertordnung und Grundgesetz, 1973; Müller; F., Juristische Methodik, 6. Auf!. 1995, S. 62 f., 67 f. 99 Dies war auch nicht der Sinn des "Wert- und Anspruchssystems" der Grundrechte, welches Günther Dürig seiner Grundrechtsdogmatik zugrunde legen wollte, vgl. Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 1 Abs. I, Rn. 6 ff. Dürig stand weit näher beim Naturrecht als bei einem voluntaristischen Dezisionismus.

llO

C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

Der politischen Betrachtung ist ein weiteres wesentlich, in ihrem Verständnis des "Wertes": Es geht dort nicht um moralische Entscheidung eines Einzelmenschen, der ihn akzeptiert oder ablehnt, er wird vielmehr auferlegt, ja aufgezwungen im Namen des Staates, durch dessen Gewalt. Der Wert im staatsrechtlichen Verständnis ist primär weder eine Willens-, noch eine Erkenntniskategorie, er ist ein Rechtfertigungsbegriff für staatlichen Zwang und damit für die Staatlichkeit schlechthin. Dann aber muß die Wert-Frage dort ganz anders gestellt werden: ob sich diese staatstragenden Werte - denn gerade darum geht es - legitimieren aus einer Willens- oder aus einer Wahrheitskomponente. Diese Frage aber kann nicht aus philosophischer, sie muß aus der Sicht der politischen Entwicklung, der Entstehung der Wertvorstellungen im staatsrechtlichen Sinn, beantwortet werden. "Als Wert der Demokratie" in solchem Verständnis mag zwar auch gelten, daß ihre Macht sich vom Volk ableitet, auf seinen Willen sich stützt. Doch auch dies kann sich nicht selbst legitimieren, es muß zurückgeführt werden auf eine - Staatswahrheit, die Gleichheit. Sie allein kann begründen, daß niemand anderem Willen als dem seinen und von seinesgleichen unterworfen werden darf. Hier hat der Wille des einzelnen Gewaltunterworfenen, oder aller Volksangehörigen, gar kein eigenständiges Gewicht, er hat Begründungskraft nur als Ausdruck der höheren Wahrheit der Egalität. Noch deutlicher ist dieser Wahrheitsbezug bei den übrigen Grundrechten, schon vom Grundsatz her: Sie haben Normlegitimation nicht, weil sich ein bestimmter politischer Wille zu ihnen bekennt und nur insoweit; sie liegen ihm voraus, zwingen ihn unter ihre Wertigkeit, zu ihrer Anerkennung. So läßt sich denn aus dem Begriff der Grundrechte als Wertentscheidungen nichts gegen die Freiheitsrechte als Staatswahrheiten ableiten, im Gegenteil: als Grundlage der Demokratie können sie in dieser Wesen und Legitimation nur darin finden, daß sie deren Staatswahrheiten proklamieren.

2. Die Menschen- und Bürgerrechte höchste Staatswahrheiten der Demokratie a) Grundrechte als proklamierte Tatsachenwahrheiten

Die Grundrechte haben, im Verständnis aller Demokratien, von vomeherein einen wesentlichen Tatsachenbezug, der sie in die Nähe zur Wahrheit stellt, nicht zum aktiven politischen Willen. Dies kommt, wie bereits erwähnt, in den "demokratischen Staatsmythen" zum Ausdruck, in erster Linie in den Versuchen, diesen neuen, den "wahren" Staat, aus einem Gesellschaftsvertrag zu erklären. Daß man überhaupt daran denken konnte, diesen Höchstwerten eine historisch-tatsächliche Basis zu unterschieben, eine solche jedenfalls zu postulieren, diente nicht nur ihrer Erklärung; es kam darin der ursprüngliche Wahrheits anspruch zum Ausdruck, wie er sich eben nur auf Realitäten gründen läßt. Der Sozialvertrag soll zuallererst Er-

VII. Die Grundrechte - erkannte Wahrheits grundlage

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kenntnishilfe für eine Staatswahrheit sein, erst dann Ausdruck eines politischen Willens, der Macht begründet. Bereits in der universellen Menschenrechtserklärung, schlug dies dann um in die reine Wahrheitsthese: "Die Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren"; hier wird Wahrheit verkündet, nicht politischem Willen Ausdruck verliehen. Deshalb mußte und muß auch heute noch diese allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 100 gar nicht einen besonderen, vom Staatswillen ausdrücklich getragenen Rang erhalten, sie gilt als solche, als Wahrheit. Diese Wahrheit wird "erklärt", nicht als Gesetz erlassen. Sie ist nur der Proklamation zugänglich und bedürftig, nie einer "Setzung des Rechts", im Sinne eines Willensaktes der Mehrheit. Diese höchsten Normen der Grundrechte sollten damals nur eines bringen und bedeuten heute auch nur dies: sie stellen die "wahre", die ursprüngliche Tatsachenlage wieder her, dienen damit einer zugleich historischen und philosophischen, einer politischen und menschlichen Wahrheit. Unvollziehbar ist, ihr Verständnis als das einer politischen Entscheidung zu werten, welche vom Volkswillen hervorgebracht, nur von ihm getragen wäre; damit würde ihre ganze Legitimation auf den Kopf gestellt: Der demokratische Wille gründet sich auf diese Wahrheiten, nicht sie sich auf seine Macht, und diese hat nur jener Wahrheit zu dienen, eine davon unabhängige Staatswahrheit kann und darf, auf letzter Norrnhöhe, die demokratische Gewalt nicht kennen, geschweige denn hervorbringen.

b) Die Grundrechte als vorstaatliche, naturrechtliche - Staatswahrheiten

Die Verfassungsrechtsprechung hat, vielleicht in unbewußter Wortwahl, den Erkenntnischarakter gerade beim Verständnis der Grundrechte immer wieder darin betont, daß die "Wirkkraft der Grundrechte nicht verkannt" werden dürfe 101 . Damit werden hier Kategorien von Irrtum und Wahrheit an die Spitze der Normpyramide gestellt. Noch deutlicher ist dies geschehen mit Aussagen über die Grundrechte als vor- und überstaatliches Recht, das der Staat nicht gesetzt, sondern wesentlich nur anerkannt habe 102 , und so proklamiert es ja auch das Grundgesetz: Die Menschenwürde ist ihm eine faßbare, greifbare Tatsache, welche schlechthin nur Wahrheit ausdrücken kann, niemals politischen Normwillen. Sie ist zu achten - anzuerkennen als etwas Vorgegebenes; und "darum bekennt" sich die Verfassung nicht zu Geschöpfen des Willens ihrer Organe, sondern zu den Grundrechten - als Staats wahrheiten. 100 So konnte sie auch in den Präambeln der französischen Verfassungen von 1946 und 1958 in allg. Form in Bezug genommen, vom Conseil d'Etat als Ausdruck "allgemeiner Rechtsgrundsätze" judiziert werden. 101 BVerfGE 56, 90 (107); Darstellung der Rechtsprechung bei Krauss, F., Der Umfang der Prüfung von Zivilurteilen durch das BVerfG, 1987, S. 34 ff. 102 Insbes. zur Gleichheit (BVerfGE 1,233 [242]; 3, 391 f.; 6, 84 [91]), dem zentralen demokratischen Grundrecht.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Daß diese Freiheiten, ganz wesentlich, Ausdruck des Naturrechts seien, aller Staatsgewalt vorgegeben, war nach 1945 zunächst eine Selbstverständlichkeit 103. Dann aber konnten sie doch nur gelten im Namen der Wahrheit, da kein schaffender Wille hinter ihnen stand. Gerade der heutigen Zeit, die sich immer weiter von den transzendenten, religiösen Grundlagen des Naturrechts entfernt, muß dies selbstverständlich bleiben; anerkennen kann sie doch nur, was erkennbar ist an den Grundrechten - die vorstaatliche Staatswahrheit. Die Grundrechte stehen als solche nicht zur Disposition eines politischen Staatswillens, weil es sich eben um Wahrheiten handelt, welche aller Staatlichkeit vorgegeben sind, in welchen sich die Wahrheit dem politischen Willen aufzwingt. Juristische Dogmatik hat dies stets in Zurückhaltung anerkannt: Nie hat sie sich näher damit befaßt, ob diese Grundrechte verändert lO4 oder gar abgeschafft werden dürften; und ihrem "Wesensgehalt" nähert sie sich nur zurückhaltend 105, in der selbstverständlichen Überzeugung, daß es hier nicht mehr um veränderbare politische Willensinhalte geht, sondern, im Kern jedenfalls, nur um eines: um Wahrheiten der Demokratie - um ihre Staatswahrheit.

c) Freiheit - die reine Staatswahrheit

Dem Wahrheits begriff ist eines stets immanent, in all seinen Ausprägungen: eine . gewisse Einheit seines Inhalts, über den einzelnen Gegenständen des Erkennens. Die Vorstellung von der "einen Wahrheit" mag durch die monotheistischen Religionen geprägt sein, aus der Person des einen Herrn im Reich der Wahrheit; auch die Erkenntnistheorie führt dies darin weiter, daß sie sich um die "Erkenntnis der einen Wahrheit" der Wirklichkeit bemüht, weil jedes Stück von ihr sie ganz sichtbar machen wird. Die Grundrechtsdogmatik entspricht dem in der Zurückführung aller Freiheitsrechte auf die eine, große Freiheit. Sie ist die vorstaatliche Wahrheits-Quelle aller einzelnen Grundrechtsgeltungen; je mehr sich diese aus ihr speisen, desto näher stehen sie bei der einen, großen Staatswahrheit, erlangen sie Unverbrüchlichkeit, Schutz durch die Staatsgewalt. Normstufungen innerhalb der Grundrechte lO6 gibt es nur in einem Sinn: nach deren Freiheitsgehalt und auf die Freiheit hin. Diese höchste Staatswahrheit wird gewissermaßen zum Erkenntnis-Medium 103 Zu diesem Neo-Naturrecht im Bereich der Grundrechte vgl. näher m. weit. Nachw. Leisner; w.. Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 121 ff. 104 Vgl. BT-Drucks. 7/5924 (Enquete-Kommission Verfassungsreform); Stern. K.. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 155 f. 105 Vgl. Krüger; H.• in: Sachs, GG-Komm., 1996. Art. 19. Rn. 24 ff. 106 Die Problematik der "stärkeren und schwächeren Verfassungsnormen" (vgl. dazu Bachof, 0 .• Verfassungswidrige Verfassungsnormen, Recht und Staat. 1951, S. 7 ff.• insbes. S. 12 ff., 16 ff.) kann für die Grundrechte nur aus ihrer jeweiligen ,,Freiheitsnähe" gelöst werden.

VII. Die Grundrechte - erkannte Wahrheitsgrundlage

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für alle anderen Staatswahrheiten, bis hinein in deren einfach-gesetzliche Ausprägungen. Diese grundrechtsdogmatischen Selbstverständlichkeiten beweisen und verdeutlichen die eine große Wahrheitsstruktur dieser höchstrangigen Normschicht der Demokratie: Mit ihren Grundrechten will sie sich der einen Wahrheit nähern; wo immer sie diese Einheit aus der Freiheit aufgibt, für "mehr Güter", "mehr Sicherheit", verliert sie etwas von einer letzten, einheitlichen Legitimation, wie sie eben nur aus einem höchsten Gegenstand des Erkennens kommen kann, aus einer höchsten Staatswahrheit, der Freiheit.

3. Die unabänderlichen Grundrechts-Inhalte: absolute Staatswahrheiten a) Unabänderlichkeit - Wesen höchster Staatswahrheit

Das Verfassungsrecht der Nachkriegszeit hat, erstmals ausdrücklich, die normative Unabänderlichkeit von grundrechtlichen Norminhalten proklamiert 107. Dies bedeutet nichts anderes als eine verdeutlichende Entfaltung der Freiheitsrechte als Staatswahrheiten, welche damit absolut gesetzt werden. Hier kommt nur zum Ausdruck, was "eigentlich", aus der Geschichte des Grundrechtsdenkens heraus, allen diesen staatsorientierenden Normen zukommt: eine Unveränderlichkeit, welche sich nur erklären läßt, wenn man darin Erkenntnisse von Wahrheiten sieht, nicht Ausdruck eines Willens. In diesem Sinne bedeutet Unabänderlichkeit der Grundrechte nicht eine problematische Übersteigerung von Normwirkungen, sondern lediglich die endlich klar sich enthüllende Spitze einer großen Rechtsanalogie als Wahrheit erkannter Freiheiten. Diese Unabänderlichkeit ist eine dogmatische SpätErkenntnis des Wesens aller Grundrechtlichkeit; wäre sie nicht endlich normativ proklamiert worden, so hätte die Dogmatik sie erfinden müssen. Nirgends zeigt sich klarer die Unhaltbarkeit eines rein auf den politischen Willen gegründeten Normverständnisses, als Ausdruck von Befehlen. Sie könnten in der Tat niemals absolut gelten, in Unabänderlichkeit auf immer. Der Begriff des "ewigen Befehls" ist schon logisch unvollziehbar, ja ein Widerspruch in sich. Der Befehl tritt mit Durchsetzungswillen auf, er bricht in die Zeit ein und läßt sie stilllestehen lO8 , in seiner Erfüllung geht er unter. Die Zeitdimension eines "Fortgeltens" ist dem Befehl wesensfremd wie dem Willen, aus dem er erwächst; diese Zeitdimension, im Ewigkeitsanspruch voll entfaltet, ist ein Wesenszug der Wahr107 In Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. I GG (..Menschenrechtskeme"), vgl. Lücke, J., in: Sachs, GG-Komm, 1996, Art. 79, Rn. 30 ff.; Maunz, T./Dürig, G., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 79, Rn. 41 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 20 ff. 108 Näher dargestellt bei Leisner; W, Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 221 ff.

8 Leisner

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

heit, die sich gerade daraus definiert, daß sie immer gilt, über einer Zeit, welche sie als solche zur Kenntnis nimmt, jedoch über-blickt. So bedeutet denn grundrechtliche Unabänderlichkeit nichts anderes als die hier ganz klare Anerkennung normativer Wahrheit an der Spitze des Staates.

b) Menschenwürde - tatsachennahe Staatswahrheit Höchster Ausdruck dieser Staatswahrheit ist die Menschenwürde. Hier zeigt die Staatswahrheit alle Dimensionen des erkennbar Wahren: Sie ist proklamiert, nicht vom politischen Willen gesetzt; unveränderlich steht sie über aller Staatlichkeit, als ein Ziel, dessen Erreichung dieser unwandelbar vorgegeben bleibt 109. Doch eine letzte Unbestreitbarkeit kommt ihr aus einer Tatsachennähe, in welcher der revolutionär-demokratische Idealismus den Anschluß an die Realität wiederfindet, sich aus ihr gewissermaßen normativ auflädt. Dieser "Mensch" wird ja vorgefunden, nicht aus der Ferne eines transzendent begründeten Naturrechts herabgeholt, ihm begegnet die Staatsgewalt im wahren Sinne des Wortes, sie weicht ihm aus, oder behütet ihn begleitend. So ist denn dieser höchste Inhalt der Menschenwürde letztlich nur das "als festgestellt Geachtete", eine wirkliche Tatsachen-Wahrheit. Wenn in anderen Gesetzen noch immer etwas mitschwingt von einem "Staatsschutz für normgesetzte Staatswahrheiten" - von dem noch die Rede sein wird - so ist hier alles im Grunde Anerkennung, ein sich Beugen der Staatsrnacht unter die Macht der elementaren Tatsache des Menschen und seines höchsten Wertes. Einem rein voluntaristischen Normverständnis kann Menschenwürde als höchste Norm llO nur ein Ärgernis bedeuten; was sollte auch eine Würde, in ihrer ruhigen, unveränderlichen Statik verbinden mit der dynamischen Kraft des schaffenden Willens? Mit der Menschenwürde ist etwas wie eine fürstliche Majestät wieder an die Spitze des Staates, auf seinen Thron gesetzt worden; ihr ist Ruhe eigen, das Erreichte der Staatswahrheit, nicht der stets Neues hervorbringende, darin sich aber auch erschöpfende Staatswille. Diese Würde "ist", wie die Wahrheit; und da sie als ,,höchste Tatsache" jederzeit unmittelbar einsichtig wird, kann ihre Achtung auch von allen wechselnden Staatsgewalten, von jeglichem Staatswillen verlangt werden, diese Staatswahrheit brechen ist - Staatsverbrechen. Die Verurteilung einer Zeit und ihrer Taten, welche dies durch ihren Willen gewaltsam beiseite schie109 Die Zielvorstellung kommt deutlich zum Ausdruck in Art. I Abs. I S. 2 GG, vgl. Häberle, P., Die Menschenwürde als Grundlage staatlicher Gemeinschaft, in: HdbStR (Hg. Isensee 1Kirchhof), Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 20, Rn. 56 ff.; Kunig, P., in: v. Münch 1Kunig, GGKomm., 4. Aufl. 1992, Art. I, Rn. I ff.; Starck, c., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GGKomm., Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. I Abs. I, Rn. 22 ff.

w.,

110 Höfling, in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. I, Rn. 3 ff.; Kunig, aaO., Art. I, Rn. 3; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III 11, 1988, S. 20 ff.

VII. Die Grundrechte - erkannte Wahrheits grundlage

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ben wollten, kann nur so sich legitimieren 111 - aus einer Staatswahrheit; anderenfalls könnte der politische Wille heutiger Zeit nie stärker sein als der einer mächtigen Vergangenheit.

c) Die Ausstrahlung der Staatswahrheit

in alle Grundrechte und Normen

Langsam nur konnte sich die Grundrechtsdogmatik befreien von der dezisionistischen Staatslehre der Normen als Ausdruck politischen Willens. Es gelang in der zweiten Nachkriegszeit, als die Politik mit ihren Willens-Kräften gescheitert war, der Blick frei wurde für die Erkenntnis normativer Staatswahrheiten. In jener Zeit ist vor allem mit der Lehre vom Grundrechtskern die Erfassung normativer Wahrheit gelungen. Was in der ersten Bestimmung des Grundgesetzes nur undeutlich angesprochen war, in einem "daher", welches die Grundrechtsgeltung auf die Menschenwürde zurückführte, das verdeutlichte nunmehr die Dogmatik mit der Kategorie jener Zentren aller Freiheitsrechte, welche die Menschenwürde mitreißt in ihre normativen Höhen der Staatswahrheit ll2 . Begriffsjurisprudenziell ließ sich dies allerdings kaum erfassen, feste Freiheits-Inhalte konnten damit nicht in die höchsten Bereiche der Staatswahrheit gehoben werden ll3 , solchen harten normativen Zugriff duldete die im letzten verschleierte Staatswahrheit der Menschenwürde nicht. Doch eine gewissermaßen umgekehrte Bildlichkeit konnte sich durchsetzen: die Vorstellung von einer Menschenwürde, welche hinein strahlt in die Grundrechte, deren Kern beleuchtet, ihn als Ausdruck überzeitlicher, absoluter Wahrheit sichtbar werden läßt. Nur in den Randzonen niederrangiger Normen wird diese Wahrheit dann "grau", dort allein steht es dem staatlichen Normwillen zu, sie in sein Recht, seine Verdeutlichungen der Staatswahrheit zu übernehmen oder nicht, nur diese ,,Randzonen der Staats wahrheit" stehen zu seiner Verfügung. So strahlt 1l4 die höchste Staatswahrheit der Menschenwürde hinein in die Norminhalte der Grundrechte, verleiht ihnen damit die Majestät des Erkennbaren, und ihr Licht fällt dann, wie das der sonnenerleuchteten Sterne, weiter hinunter in die Gesetze, deren Anwendung die Ausstrahlung der Grundrechte orientiert. Dieses Licht erreicht sogar die gesellschaftlichen Bezüge zwischen den Bürgern, in der grundrechtlich, aus der Menschenwürde begründeten Privatautonomie einerseits, 111 Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1777 ff.; Degenhart, c., in: Sachs, GG-Kornrn., 1996, Art. 103, Rn. 76 f.; Schmidt-Aßmann, E., in: Maunz/Dürig, GG-Kornrn., Art. 103, Rn. 254 ff. 112 In Art. 79 Abs. 3 iVrn. Art. I GG; vgl. Pn. 107. 113 Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/I, 1988, S. 22 ff.; Höfling, W, in: Sachs, GG-Kornrn., 1996, Art. I, Rn. 7 f. 114 Das BVerfG hat die "Ausstrahlungskategorie" geradezu in den Mittelpunkt seiner Grundrechtsdogmatik gestellt; krit. dazu lsensee, J., BVerfG - quo vadis?, JZ 1996, S. 1085 ff. ("Strahlungsschäden").

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

den von jedennann zu achtenden Grundfreiheiten der Mitbürger zum anderen 115. Dieses Wahrheitslicht wird zwischen solchen Spiegeln gewissennaßen hin und her reflektiert, zwischen den Gewaltunterworfenen wie zwischen ihnen und ihrem Staat, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner Wechselwirkungslehre 1l6 zum Ausdruck gebracht hat. Entscheidend ist, mit Blick auf die feme, höchste Staatswahrheit der Menschenwürde: Hier wird überall gedacht in Kategorien des Lichtes, von Schwingungen, welche das "Jahrhundert der Lichter", die Aufklärung, in der politischen Welt verbreitet hat. Licht aber hat nur eine Entsprechung, in diesem Bereich wie auch sonst: Erkennbarkeit, Erkenntnis, Wahrheit. Mit ihnen steht sie über allen dumpfen Willensmächten. Menschenwürde ist deshalb noch nach einem halben Jahrhundert von Nachkriegs-Grundrechts dogmatik ein Problem. geblieben 117, weil sie sich mit den herkömmlichen Kategorien des Nonn-Willens der Macht nicht fassen läßt. Erst wenn mehr in Staats wahrheiten gedacht wird als in Machtpotentialen, wird Menschenwürde endlich mehr schützen als ein Minimum von Freiheit.

4. Grundrechtseingriff - Beschränkung von Staatswahrheit durch Staatswahrheit

Grundproblem der freiheitlichen Demokratie ist die Beschränkung der Freiheit ihrer Bürger durch die Staatsgewalt. Mögen die Grundrechte noch "wirklich in Wahrheit gedacht" sein, als deren Ausdruck erfaßt werden - jene eingreifende politische Macht, welche sie zurückdrängt, wird, im herkömmlichen Verständnis, wesentlich als Willenspotenz begriffen. Damit läßt sich dann aber der Grundrechtseingriff doch nur verstehen als ein Zusammenprall von nonnativer Wahrheit und politischem Willen. Nach dem rechtsstaatlichen Nonnverständnis muß es sogar die Nonn selbst sein, welche dieser Willensmacht der politischen Gewalt die Tore öffnet, ihre Nonnwahrheiten damit den wahrheitsblinden Mächten des politischen Kräftespiels ausliefert. Ist dann letztlich nicht doch alle Staatlichkeit nur ein ewiger Kampf zwischen einer Staatswahrheit und einer Staatsrnacht, welche jene zurückdrängt, nur zu oft bis zur Kapitulation der Erkenntnis vor dem stärkeren Willen? 115 In der Drittwirkungslehre, seit dem Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198 ff.) des BVerfG, das ja auch bereits die "Strahlungskategorie" eingesetzt hat. 116 BVerfGE 7,198 (208 f.); 12, 113 (124 f.); 71, 206 (214). 117 Dürig, G., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. I Abs. I, Rn. 17 ff.; Kunig, P., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Autl 1992, Art. I, Rn. 18 ff.; Zippelius, R., in: BK z. GG, Art. I, Abs. I und 2, insbes. Rn. 19 ff.; Dreier; H., GG-Komm., Bd. I, 1996, Rn. 67 ff. m. zahlr. Nachw. aus der Lit. zur nicht entschiedenen Problematik des Grundrechtscharakters des Art. I Abs. I GG.

VII. Die Grundrechte - erkannte Wahrheits grundlage

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Wenn es eine Nonn-Wahrheit gibt, wenn die Rechtsstaatlichkeit deren ruhige Herrschaft wünscht, nicht die des wechselnden Willens, so darf dies nicht das letzte Wort sein. Vielleicht war es Ausdruck eines "Staatswahrheits-Instinkts" neuerer Grundrechtsdogmatik, und nicht nur bewußter Begriffsverunklarung, daß der Grundrechts-Eingriff verstanden wurde als eine "Ausgestaltung,,118 der Grundrechte, als normative Erlaubnis sogar zu einer solchen für die eingreifende Exekutive. Ausgestalten lassen sich ja Wahrheiten, sie sind dessen bedürftig, gerade im politischen Bereich; ein Eingriff in die Wahrheit aber - wie sollte er vorgestellt werden? Doch jenseits von solchen Terminologien - oft nicht mehr als grundrechtsdogmatischen Wortspielen - kann ernstgenommene nonnative Staatswahrheit immer nur eines gestatten: Beschränkung ihrer einzelnen Wahrheiten durch gleichgewichtige andere, welche wiederum Staatswahrheiten zum Tragen bringen. Die Verfassungsrechtsprechung hat hier Abwägungen verlangt" 9 - was immer das unklare Wort bedeuten soll 120, in ihm liegt eine Vorstellung von gleichartigen Größen, vergleichbar jedenfalls in ihrem Gewicht. Wenn die Grundrechte Staatswahrheiten proklamieren, so kann doch in die andere Waagschale nicht der reine Staatswille gelegt werden, die Macht als solche. Wiederum müssen es notwendig Wahrheits gewichte sein, welche die Grundrechtinhalte leichter erscheinen lassen. Nicht staatlicher Machtwille, sondern nur andere nonnative Staatswahrheiten können diese Wahrheit zurückdrängen, sie ausgestalten, als eine bessere, nähere Erkenntnis. Die nonnative Staatswahrheit muß überall wirken in Abwägung - oder sie wird nicht anerkannt. Sie allein, nicht ein Wille, der sie durchsetzen will, relativiert das als Höchstwahrheit Proklamierte. Nur was die einfach-gesetzliche Nonnwahrheit der Exekutive als Ziel vorgibt, zu wahrheitserkennender Verwirklichung, darf dann sogar Grundrechte relativieren lassen, soweit dies die höhere Staatswahrheit der Verfassung gestattet. Mit anderen Worten: Die gesamte Beschränkungsdogmatik der Grundrechte muß auch ihrerseits voll in Kategorien der Staatswahrheit gedacht werden, sonst hebt man diesen Begriff, gewissennaßen von unten, aus den Angeln; es würde dann freiheitsbeschränkende Staatsgewalt zum "Einbrecher in die Staatswahrheit", da sie vorginge mit den brechenden Geräten des politischen Willens, nicht mit dem Schlüssel der Wahrheit. Darin wird auch erst die ganze Nonnstufendogmatik geistig vollziehbar: Höhere Wahrheiten - das liegt im Begriff der Wahrheit selbst; "höherer Wille" - das kann 118 Kirchhof, P., Mittel staatlichen Handeins, in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. IIl, 1988, § 59, Rn. 24 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/ 1, 1988, S. 1026 ff. 119 Vor allem bei den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten, BVerfGE 28, 243 (260 f.).; 41, 29 (50); 30, 173 (191 ff.). 120 Krit. allg., und vor allem zur "Grundrechtsabwägung", Leisner; W, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 152 ff.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

in Kategorien der Anordnung kaum gedacht werden, folgt doch der Soldat wie der Beamte stets dem nächsten Vorgesetzten 121; und höher ist ein Befehl allenfalls im Namen der höheren Wahrheit, deren Organ die Instanz ist, welche ihn gibt. Dies führt zu einer zentralen Erkenntnis des Wesens grundrechtslegitimierter, verfassungsgestützter Staatlichkeit: In einer Ordnung, in welcher die Grundrechte höchste Nonnwahrheiten bedeuten, in all ihren Auswirkungen - bis hin zur Anspruchsbegründung für Teilhabe, die nur als Ausdruck einer Wahrheit verständlich wird l22 - können alle anderen Werte, in deren Namen sie eingeschränkt werden dürfen, gleichfalls immer nur aus Staatswahrheit sich legitimieren, also nonnative Staats wahrheiten darstellen, in ihrem Namen Verwaltungen und Gerichte zum Grundrechtseingriff ermächtigen. Damit findet die Kategorie Staatswahrheit eine große Verbreiterung und zugleich Vertiefung, auf den Gesamtbereich staatlicher Tatigkeit, bis hinab in die untersten Stufen von Nonnpyramiden im kelsenianischen Verständnis, selbst "Erkenntnisse" der Verwaltung wie der Gerichtsbarkeit noch einschließend 123. All dies ist wiederum aufklärerisch gedacht, im systematischen Naturrecht dieser Zeit bereits vorgezeichnet; dort findet es auch seine Verbindung zur Realität des Politischen und seines Willens: Wenn alles Seiende vernünftig ist, so trägt es in sich eben einen Kern von Staats wahrheit, welcher aus den politischen Erscheinungen des Willens heraus anderen, nonnativ bereits verfestigten Staats wahrheiten entgegengesetzt werden, diese relativieren darf. Dann ist staatserhaltender Machteinsatz gegen übersteigerte Freiheit des Individuums nicht zu verstehen als ein Kampf des Willens gegen die staats wahre Freiheit, sondern als Bewährung des Staatswahrheits-Gehalts der notwendigen Erhaltung der Ordnung. Damit werden nicht nur Worte getauscht, vom Willen zur Wahrheit; immer bleibt die Wahrheitskategorie zentral, vor ihrem höheren Geltungsanspruch muß sich rechtfertigen lassen, was in die Freiheit des Bürgers eingreift, nicht durch ein "sic volo sic iubeo, stat pro ratione voluntas". Damit wird den Grundrechten ihre staatsgrundlegende Bedeutung zurückgegeben, die sie selbst im systematischen Naturrecht nicht verloren hatten, welches allem Seienden Rechtsrelevanz zuerkannte: Die Freiheiten der Verfassung machen nicht nur die Demokratie zum "totalen Wahrheits staat", weil sie ihn, in all seinen Machtäußerungen, wahrhaft grundlegen in Erkenntnis; sie lassen auch alle seine Staatsbelange zum Ausdruck von Staatswahrheiten werden, ohne daß sie sich in reiner Macht verlieren müßten. Das inhaltslos erscheinende Wort, alle Macht der aufklärerischen Demokratie müsse dem Recht unterworfen bleiben, gewinnt dann 121 Daraus legitmiert sich auch letztlich die noch immer herrschende Auffassung, nach welcher der Verwaltung ein Norrnverwerfungsrecht nicht zusteht, vgl. Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20 Abs. VI, Rn. 30. 122 Deutlich in der Studienplatz-Rechtsprechung des BVerfG (E 33, 304 [333]; 37, 104 ff.), die auf der Tatsachen-Wahrheit des staatlichen Ausbildungs-Monopols aufruht. 123 Kelsen, H., Allg. Staatslehre, 1966, S. 257 ff., 285 ff.

VIII. Staatsfonn als Staatswahrheit

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einen tieferen Sinn: Die Macht bleibt stets unterworfen einer rechtlichen Rationalität ihrer Erfassung und Ausgestaltung, dem Recht als Wissenschaft der Erkenntnis. Das Beste ist dann nicht ein Befehl, sondern eine Erkenntnis.

VIII. Staatsform als Staatswahrheit 1. Das Problem der unabänderlichen Regime-Grundlagen Im Jahre 1884 schien die Französische Republik etwas begangen zu haben wie ein normatives Staatsverbrechen: Sie setzte ihre republikanische Staatsform durch eine Staatsgrundsatznorm, ja sogar in der Form des Parlamentsgesetzes, als unabänderlich. Das Schrifttum zur Verfassungsänderung hat sich eingehend mit dieser Herausforderung des politischen Willens beschäftigt, der sich selbst im Ewigkeitsanspruch divinisierend auf die Staatsaltäre heben wollte 124 . Inzwischen ist dies, dort wie anderswo, fast zu normativer Selbstverständlichkeit herabgesunken. Seinerzeit politisch-kontingente Kampfansage an eine drohende monarchische Restauration, erscheint es nun nicht nur als selbstbewußte Fortsetzung von deren Gottesgnadentum, sondern einfach als Selbstbestätigung des höchsten politischen Willens. Doch in Wahrheit ist damit etwas Neues in die normative Verfassungswelt gekommen: die Anerkennung einer erweiterten Staatswahrheit, in der Form der Regime-Wahrheit. Dies mochte in einem 19. Jahrhundert als Ausdruck normativer Verwegenheit erscheinen: als Staatswahrheiten waren noch nicht einmal die bereits hundert Jahre früher feierlich proklamierten Grundrechte ausdrücklich anerkannt und nun sollte politische Macht in solche Höhe gehoben werden. Doch vielleicht mußte erst dieser Durchbruch des "Hochpolitischen" in die Dimension der offiziell proklamierten Staatswahrheit erfolgen, bevor in diese dann auch die Freiheit, mit all ihren Werten, gestellt werden konnte. Mit dem Grundgesetz ist dieser Weg bereits, ganz selbstverständlich, in umgekehrter Richtung beschritten worden 125: Grundrechtlicbkeit als Ausdruck der Staats wahrheit, daraus eine Wendung zur Regimewahrheit, die letztlich nur mehr ihr Ausdruck sein, ihre Sicherung bringen sollte. 124 Ehmke, E., Grenzen der Verfassungsänderung, 1953; Steiner, U., Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966; Stern, K., Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, JuS 1985, S. 329 ff.; Dreier, H., Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungs staat, JZ 1994, S. 741 ff.; Lücke, J., in: Sachs, GGKomm., 1996, Art. 79, Rn. 36 ff.; Maunz, T.IDürig, G., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 79, Rn. 44 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm, Art. 20 Abs. I, Rn. 2; Pieroth, B., in: Jarass/Pieroth, GG-Komm., 3. Auf!. 1995, Art. 79, Rn. 7. 125 Art. 79 Abs. 3 GG erklärt ja zunächst die Menschenwürde, sodann erst die dieser (und Art. 1 Abs. 2 GG) verpflichtete Staatlichkeit als unantastbar, vgl. Maunz, T.I Dürig, G., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 79, Rn. 41.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

2. Regime-Wahrheit aus - als Grundrechts-Wahrheit In den Staatsgrundsatznonnen des Grundgesetzes sind, wie in anderen modemen Verfassungen, Grundlagen der politischen Macht als unverbrüchlich anerkannt worden - dies konnte und kann nur bedeuten, daß in ihnen Staatswahrheiten erkannt werden sollen. Erst dann konnte dies, allgemein und mit Überzeugungskraft, gelingen, als auch die Staatsform etwas von jener Selbstverständlichkeit des Konsenses erreicht hatte, zu welchem die Grundrechte im allgemeinen Bewußtsein bereits Generationen früher durchgebrochen waren. In einer solchen Phase kann dann der politische Wille sich unterfangen, als Instanz der Wahrheitserkenntnis aufzutreten, damit aber das Wesen der von ihm gesetzen Inhalte vom Gewollten zum Erkannten zu verändern, darin sein eigenes Wesen. Organisationsrechtliche Staatsgrundsatznonnen könnten nie mehr sein als bestreitbare Machtthesen, fern von aller Staatswahrheit, gewännen sie nicht Verbindung zu dieser über jene machtlose, geradezu gegen die Macht sich wendende Grundrechtlichkeit, welche schon weit früher die nonnative Ruhe der Wahrheit gewonnen hatte. Darin waren anfängliche rechtsdogmatische Zweifel berechtigt, daß Unverbrüchlichkeit sich nicht selbst setzen, daß sie vielmehr nur nonnativ anerkannt werden kann, als eine dem Staat präexistente politische Wirklichkeit wie als ein Gegenstand des politischen Glaubens. Beides hat die Demokratie für ihre grundgesetzlichen Prinzipienaussagen heute im wesentlichen erreicht: Die politische Alternativlosigkeit wird durch den Sieg einer demokratischen Weltmacht gesichert, ihre Glaubensinhalte kommen aus jenen Freiheiten, mit denen zusammen, zu deren Schutz diese Staatsgrundsätze postuliert, als Staatswahrheiten den Bürgern zum glauben vorgestellt werden. Diese enge und notwendige Verbindung der Staatsform zu den Grundrechten reicht bis in die Ausgangszeiten der Französischen Revolution zurück: Da ist die Republik, wie bereits erwähnt, nichts anderes als staatsorganisatorischer Ausdruck einer Staatswahrheit der Egalität; da entfaltet sich die unausgesprochene RegimeGrundform der Großen Revolution, die Demokratie, aus deren Staatswahrheits-Erkenntnis vom Gesetz als Ausdruck des demokratischen Allgemeinen Willens. Selbst die drei neu proklamierten Regime-Grundlagen des Grundgesetzes, Föderalismus, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, waren schon früher, sie sind erst recht heute grundrechtlich grundgelegt: Föderalismus ist eine deutsche historische Staatswahrheit, getragen von der Kraft einer geschichtlichen Unvordenklichkeit in diesen Ländern, welche sogar die Neue Welt staatspolitisch noch mitgestalten konnte. Frankreich dagegen hat aus der ebenso historisch bereits seit Jahrhunderten, in zunehmender Annäherung, verwirklichten Einheit des Staates die indivisibilite seiner Republik proklamiert, in einem gegenläufigen, nach Dimension und Wahrheitsgehalt aber vergleichbaren Staatsdenken. Der Rechtsstaat, wiederum aus typisch deutschem, systematisierendem Rechtsdenken geboren, war und ist nichts anderes als nähere, geistig vertiefte Erfassung der Staatswahrheit jenes Gesetzes, das damit zur "Legalität" sich steigerte, in der Gesetzesbindung aller Gewalten

VIII. Staatsform als Staatswahrheit

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eben das Gesetz fortdachte. Auch die Sozialstaatlichkeit ist eine aus deutscher Geistigkeit und Geschichte emporgewachsene eigenartige Staatswahrheit dieses Landes, von ihren staatstheoretischen Grundlegungen im Marxismus über den deutschen Sozialdemokratismus hin zum sozialen Sicherungsstaat nach dem Modell des konservativen Reichskanzlers. Zu diesen wahrheitsträchtigen geschichtlichen Entwicklungen kam hier ein eigenartiges Fortdenken jener Gleichheit vor den öffentlichen Lasten - und ihrer Ver-Wendung zu öffentlichen Wohltaten - welche sich wiederum auf die alte egalite devant les charges publiques zurückführen ließ; sie aber war für die Revolutionäre nicht ein Grundsatz der Staatspolitik, sondern ein Prinzip der Staatswahrheit. Politik- wie geistesgeschichtlich können daher alle diese Regimegrundlagen nur begriffen werden als Regime-Wahrheiten - als wirkliche Staatswahrheiten; und darin allein ist ihre unveränderliche Proklamation im Grundgesetz hinausgewachsen über etwas, das sonst nur als schiere Behauptung das Lächeln des Verfassungshistorikers hätte hervorrufen können.

3. Regime-Wahrheiten als typische Staatswahrheiten

Die Staatsgrundsatznormen, deren Inhalt hier der Verehrung und dem Glauben der Bürgerschaft vorgestellt werden - denn diese hohen Worte verdient die Unverbrüchlichkeit ihrer Proklamation -, sind, nach ihrem Inhalt, staatswahrheits-fähige Aussagen: Sie sind erkennbar intellektuell als Staatsziele, auf welche sich dann die Staatsgewalt mit ihren Willensmächtigkeiten zu richten hat. In ihnen liegen keine Befehle, kein Wille, dem einfach zu gehorchen wäre; hier wirkt eine Teleologie, welche aus dem Erkennen politische Kraft gewinnt. Deshalb sind dies auch Rahmen, welche nur geistiges Erkennen erfaßt und ausleuchtet, durch Erkenntnis erleuchteter Wille sodann ausfüllt. Diese Staatsgrundsatznormen sind der Anerkennung fähig und geöffnet, sie stehen als Wahrheiten vor und über dem Staat, mag auch die Dogmatik dies niemals deutlich - anerkannt haben, deren Gegenstand eben doch noch immer Rechtssetzung bleibt, nicht Anerkennung von Norminhalten. Sozialstaatlichkeit etwa kann dann für eine solche Rechtslehre im Grunde, als solche, rechtlich-normativ eigentlich ein Nichts sein, existent erst werden im politischen Willen des Gesetzgebers 126 ; und doch wird sie immer diesen an materiellen Normzielen orientieren, was nicht anders gelingen kann als mit den Erkenntniskräften der Verfassungsjurisprudenz - in Staatswahrheit. Daß mit diesen Staatsgrundlagen Staatspolitik im herkömmlichen Verständnis geradezu Wahrheit werden sollte und konnte, erstaunt den nicht, der darin jenes 126 Hofmann, H., Die Entwicklung des GG nach 1949, in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. I, 2. Auf!. 1995, § 7, Rn. 58 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 20, Abs. VIII, Rn. 16 ff.

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c. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

notwendige "Fortdenken der Grundrechte in Staatsform" - erkennt, welches, schon über deren Beschränkung, Wahrheitsqualität auch den öffentlichen Interessen vermittelt. Er wird jedoch dadurch auch eine andere Tradition sich fortsetzen sehen: die jener Staatsformenlehre, welche immer um die "gute Staatsform" bemüht war, um die beste von ihnen, die stets wiedergeboren werden sollte 127 . Solcher Staatsrenaissance fähig aber kann nur eines sein: Die Staatswahrheit, geboren aus der ratio scripta des römischen Rechts oder aus den ästhetischen Unvergänglichkeiten der antiken Proportions-Geheimnisse 128 . In der Staatsformenlehre der Alten wurde ja auch nicht nur das ethisch Gute als\wahr gesetzt, und als staats-wahr, in einem moralisierend verengten Sinn späterer religiöser Entsündung. Das platonische Agathon war eben Wahrheit und Güte in einem, Staatswahrheit aus Staatsgüte, im Sinne der Leistungsfähigkeit zur Freiheit. Wem es gelingt, die Verengungen so mancher religiöser Moralbegriffe zu überwinden, wer den Staat nicht auf die Rolle des organisierten Gutestuns beschränkt, der wird ein Organ für jene Staatswahrheit entwickeln, welche auch die Staatsorganisation erfaßt. Dann wird das historisch als bestes Erfahrbare in ihr nicht nur zur besten, sondern zur wahren Staatsform; es wird der Schritt vom sokratisch bekennenden Platon vollzogen zur Staatsformenlehre des Aristoteles, in der Suche nach der besten Staatsform als der, welche sich als Staatswahrheit erfassen und proklamieren läßt. Staatsformenlehre als Wahrheitssuche - dies endet mit wissenschaftlicher Notwendigkeit bei den Staatsformen als Staatswahrheiten. Sie ruhen dann, auch als politische Erscheinungen, auf den beiden Stützen der Ethik und der historischen Erfahrbarkeit. Darin ist schließlich die Demokratie nicht nur Staatsform der Staatswahrheiten - sie wird selbst zur Staatswahrheit.

IX. Der Richter als demokratisches Wahrheitsorgan Das Wort vom ,,königlichen Richter", äußere Formen angelsächsischer Tribunale, in denen sich ein längst vergangenes Ancien Regime fortzusetzen scheint, in einer Wahrheits suche aus der Sicht früherer Zeiten und ihrer Staatswahrheiten - all dies mochte die Vorstellung nähren, daß dieses Wahrheits streben nichts gemein habe mit einer Staatswahrheit, wie sie die demokratische Gerichtsbarkeit eben nicht kennen dürfe. Darin konnte sich bestätigt finden, wer Demokratie als Form des Staatswillens sehen, "reinere Wahrheit" jedoch in Gerichtssäle verbannen wollte. Man mag dann sogar einen Gegensatz finden zwischen dem schäumenden Volkswillen der Gesetze und ihrer ruhigen, der Wahrheit verpflichteten Anwendung, welcher es sogar Verfassungsrichtern versagt, sich allzusehr in willensbestimmte Vgl. Leisner, W, Staatsrenaissance - die Wiederkehr der "guten Staatsformen", 1987. Zum Begriff dieser staatsrechtlichen Verhältnismäßigkeit vgl. Leisner, W, Der Abwägungsstaat - Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit, 1997, S. 201 ff. 127 128

IX. Der Richter als demokratisches Wahrheitsorgan

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Politik einzumischen. Hatten nicht deshalb die französischen Revolutionäre es den Richtern bei schwersten Strafen verboten, sich in den Gang der Staatsgeschäfte, in die Entscheidungen der Exekutive einzumischen, welche den Volkswillen vollzog, oder gar noch in dessen parlamentarische Bildung? War nicht Generationen hindurch die Verfassungskontrolle durch den Richter gerade daran gescheitert, daß der Richter zu erkennen, die anderen Gewalten zu wollen hatten, zu entscheiden nicht in Kategorien der Wahrheit, sondern des Willens? Doch der allgemeine Durchbruch der Verwaltungs-, ja der Verfassungsgerichtsbarkeit in den letzten Jahrzehnten zeigt, daß die Richter ihren festen Platz in der Demokratie gefunden haben, daß ihr Erkennen vor deren Willens-Macht nicht mehr zurückweicht: Die Judikative ist zum Wahrheitsorgan der Volksherrschaft geworden.

1. Richtende Tätigkeit: Von der Wahrheit der Beweise zur Wahrheit der Urteile a) Gerichtsbarkeit - auf der Grundlage tatsächlicher Wahrheit

Richtertum ist immer zuallererst Wahrheits suche gewesen, der Versuch, Tatsachen unbezweifelbar festzustellen, auf welchen dann das Urteil steht. Zu wenig ist heute dem Juristen wohl bewußt, daß all seine Tätigkeit diesem Weg folgt, von der Wahrheit der Tatsachen zur Wahrheit des Urteils. Nicht klar genug wird ihnen vermittelt, daß sie immer nur dieser richterlichen Methode folgen dürfen; Versuche, Juristen nicht-richterlich auszubilden, verkennen, daß der Richter das Urbild des Juristen darin stets bleiben muß, daß alle Rechtsanwendung von einer Tatsachenerkenntnis ihren Ausgang nimmt, welche in der richterlichen Tatbestandserfassung rein, geradezu modellhaft, verwirklicht ist. Dieser Richter und alle Juristen, die methodisch handeln wie er, sind Feststellungsorgane der reinsten Wahrheit, welche das Diesseits kennt und daher anerkennt. Der richterliche Begriff der Tatsachenwahrheit, in der Demokratie gesichert durch die richterliche Freiheit der Tatsachenfeststellung 129, aus einer judikativen, staats organisatorischen Garantie der Staatswahrheitssuche heraus - er ist die täglich erreichte Höchstform dessen, was Menschen überhaupt Wahrheit nennen. Die Wahrheit des Richters ist jene an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der Tatsachenwahrheit 13 0, welche sodann auch das Urteil zum Ausdruck der Wahrheit werden läßt. Ihre Grenzen findet sie nur mehr in den Schwächen des menschli129 Ohne gesetzliche Beweisregeln (vgl. Greger, R., in: Zöller, ZPO, 20. Aufl. 1997, § 286, Rn. 3; Hartmann, P., in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 53. Aufl. 1995, § 286, Rn. 71; Prütting, H., in: Münch. Komm., ZPO, 1992, § 286, Rn. 23 ff.), was eben gerade Ausdruck der richterlichen Unabhängigkeit ist. 130 Greger, aaO., § 286, Rn. 17 ff.; Prütting, aaO., § 286, Rn. 18.

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C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

chen Erkenntnisvennögens; im Sinne der kantianischen Philosophie ist der Richter das menschliche, das transzendentale Erkenntnisorgan der Gemeinschaft schlechthin. Deshalb begrenzt er sein Erkennen der Tatsachen örtlich wie zeitlich in der Einheitlichkeit seines Prozesses 13l, kausalitätsmäßig in den verfeinerten Lehren des Strafrechts und Zivilrechts, die diesen Namen tragen l32 . Zugrunde liegt immer die Tatsachenbasis aller Wahrheit, in einem engen Sinn faßbarer Wahrheit: Der Richter glaubt nicht, er stellt fest, was er "fassen kann, mit den prozessualen Händen des Rechts". Damit wird die festgestellte Tatsache zur richterlichen Staatswahrheit. Die Demokratie ist auch in ihrer Judikative eine typische Staatsfonn der "Staatswahrheit in Annäherungen". Ihr genügt nicht die Begegnung des einen Richters mit der einen Tatsachenwahrheit; sie überhöht diese in der Stufung ihrer Instanzen, ihr Wahrheitsgewissen schlägt, wenn eine Tatsacheninstanz verloren zu gehen droht 133 . Selbst auf den höchsten Ebenen geht die Gerichtsbarkeit, noch einmal, der Tatsachenwahrheit nach, wenn sie die Grundsätze überprüfen läßt, nach welchen jene gewonnen wurde l34 .

In dieser Stufung demokratischer Gerichtsorganisation als Institutionalisierung der "Wahrheitsannäherung" zeigt sich die Ernsthaftigkeit staatlicher Wahrheitssuche - der Suche der Staatswarheit. b) Urteile als Wahrheit

Herkömmliche Rechtslehre sieht das richterliche Urteil, welches ein Recht anerkennt, zuerkennt, als konstitutiven Willensakt der Judikative 135 , weil eben überhaupt Urteile Ausdruck des Willens, der von ihm getragenen Staatsgewalt seien. Darin liegt eine apriorische Entintellektualisierung des Vorgangs des Urteilens, welche weder mit dem Verständnis der Richterschaft noch mit dem der Rechtssuchenden vereinbar ist, vor allem aber grundsätzlich den Wahrheitsinhalt der vom Richter angewendeten Gesetze ignoriert. Das Rechtsurteil ruht auf der festgestellten Tatsachenwahrheit, es kann nicht grundsätzlich von dieser getrennt werden. Schon nach ihrem Aufbau sind gerichtli131 Greger; aaO., vor § 128, Rn. 13, § 272, Rn. 111; Thomas, H.lPutzo, H, ZPO-Komm., 19. Aufl. 1995, § 272, Rn. 1. 132 Grunsky, w., in: Münch. Komm., AT Schuldrecht, 3. Aufl. 1994, vor § 249, Rn. 36; Larenz, K., Lehrb. d. Schuldrechts, Bd. I AT, 13. Aufl. 1982, S. 401 ff. 133 Albers, J., in: Baumbach I Lauterbach I Albers I Hartmann, ZPO, 53. Aufl. 1995, § 565, Rn. 2; Jauemig, 0., Zivilprozeßrecht, 24. Aufl. 1993, S. 277 f. 134 Gummer; P., in: Zöller, ZPO, 20. Aufl. 1997, § 550, Rn. 6 f.; Walchshöfer; A., in: Münch. Komm. z. ZPO, 1992, § 550, Rn. 14. 135 Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 429 ff.; Schachtschneider; K. A., Res publica res populi, 1994, S. 536 ff.; Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 501 ff.

IX. Der Richter als demokratisches Wahrheitsorgan

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che Urteile nichts als ein Fortdenken dieser Realitäts-Wahrheit in die des Rechts hinein. Der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellte Tatbestand verleiht Wahrheitscharakter auch dem auf ihm errichteten Rechtsgebäude der Beurteilung. Wenn der Sachverhalt sich so als Wahrheit darstellt, dann "darf es doch nicht wahr sein", daß eine bestimmte rechtliche Folge nicht einzutreten hat. Das Urteil ist nichts anderes als ein Übergang aus der reinen Tatsachenwahrheit der Voraussetzungen des Sachverhalts in die Rechts-Wahrheit der Norm, welche den Richter die Rechtsfolge aussprechen läßt; der Gesetzgeber hat diese zwar "gewollt", aber eben nur als eine seiner Norm-Wahrheit entsprechende Konsequenz richterlichen Erkennens. Grundsätzlich bewährt sich gerade hier die "Norm als Wahrheit": Wenn es zutrifft, der tatsächlichen Wahrheit entspricht, daß diese und jene Voraussetzung erfüllt ist, wie sie die Norm abgrenzend umschreibt, wenn es weiterhin wahr, weil eben unbestreitbar ist, daß damit, aus dieser Tatsachenwahrheit heraus, eine bestimmte Leistung zu erbringen ist, so stellt die Norm damit nur eine weitere Staats-Wahrheit fest: daß eben eine Verpflichtung zu dieser Leistung besteht. Anderes kann nicht wahr sein - die Tatsachenwahrheit wie die Normwahrheit, welche die Staatseinsicht erkannt hat, würden um ihren Wahrheitssinn gebracht, wäre dies nicht die rechtliche Folge. . Damit soll dem richterlichen Urteil nicht jeder Willens-Inhalt abgesprochen werden; zu zeigen war aber, daß es eben auch als ein intellektueller Erkenntnisvorgang gedeutet werden darf, daß Adern B eine bestimmte Leistung schuldet, diese Verpflichtung eben deshalb auch eine "Realität" wird zwischen beiden, nicht nur Ausdruck eines richterlichen Sollens-Befehls ist l36 . Wer die Grundrechte als erkannte Staatswahrheiten sehen muß - und daran führt in der Demokratie kein Weg vorbei - wer deshalb auch den Gesetzen, welche ihre Freiheiten entfalten und beschränken, diesen selben Charakter erkannter Wahrheit nicht bestreiten darf, für den kann sich all dies nicht mit einem Mal in richterlichem Willen verlieren, die Wahrheit zum Machtentscheid werden, nur weil nun diese Normwahrheit in die Wirklichkeit des Einzelfalles transponiert, in ihr - verwirklicht wird. Wahrheitsverwirklichung muß vielmehr bei der Wahrheit stehenbleiben, das Urteil des Richters bei der Staatswahrheit der demokratischen Norm. Dann erst leben alle Äußerungen der Judikative in der Volksherrschaft aus dem Wahrheitsgehalt der grundrechtsgetragenen Normen, welche erkennende Betrachtung in die Staatswahrheit hinaufhebt.

136 Die Subsumtion (vgl. Larenz. K.. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auf). 1991, S. 155 ff.) bleibt dabei durchaus ein Vorgang der Koordinierung von Tatsachenwahrheit und Normwahrheit.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

c) Urteil als Erkenntnis - Selbstverständnis

von Rechtssuchenden und Richtern

Der Rechtssuchende will bei Gericht nicht den Willen eines Richters kennenlernen, er ist ihm so gleichgültig wie diese für ihn zufällige Gestalt; er erhebt sich nicht vor der Majestät der Roben, nur weil deren Träger das letzte Wort sprechen. Die Majestät des Gerichts kommt aus dem Richter als Verkörperung der Wahrheitssuche, aus seinem Urteil als verkündete Wahrheit für die Bürger. Daß es zwischen ihnen, zwischen dem Einzelnen und dem Staat, "so wahr sein soll", wie es von der Richterbank kommt, das ist der Urgrund des Prozesses, seine Legitimation bleibt es auch, daß er zum letzten Wort führt - aber zu einem Wort der Wahrheit. Gerichtsskepsis und Prozeßangst würde es nicht geben, oder sie würden sich rasch beruhigen, wenn hier nichts erwartet würde als konkreter, zufälliger Wille fehlsamer Menschen, deren Willkür selbst nicht überraschen dürfte. Nur weil all dies eingebettet ist in einen Mechanismus der Rationalität, getragen von intensiver Wahrheitssuche, deshalb befriedigt oder enttäuscht ein Urteil, über dem entweder steht, daß "es eben doch so sei", oder "daß es nicht so sei, obwohl doch ... ", so daß der Rechtssuchende nicht einen Willensfehler zu beklagen hat, sondern eine Wahrheitsverfehlung. Würde er nur menschlichen Willen erwarten, er wäre nicht letztlich enttäuscht, er sucht jedoch das Richtige - das Wahre, das so sein muß, weil es so ist. Dem Selbstverständnis der Richter entspricht denn auch nur diese Wahrheitsfindung. Sie sind keine Willenstäter, sondern Wahrheitssuchende. Sie erkennen, als Einzelpersonen oder in ihren Spruchkörpern - was denn? Die Wahrheit. Thr Urteil hat nur deshalb "für Recht erkannt". In einem letzten Legitimationsversuch, dessen Problematik von keinem Demokraten verkannt wird, überschreiben die Richter ihre Urteile "im Namen des Volkes,,137 - als ob ihr ganzes erkennendes Tun in einer solchen Floskel umschlagen könnte in den Willensakt einer unfaßbaren Instanz. Die Formel ist eher Entschuldigung der Richter dafür, daß nun etwas folgt, was gerade nicht ihr Willensakt ist, sondern ihre Erkenntnis - die des Volkes ... In richterlicher Beratung wird, je höherrangig desto deutlicher, gedacht und erkannt, nicht gewollt und befohlen. Der Wille wird eingesetzt, wo er die Lücken des Erkennens schließen muß. Im Lauf ist hier, sagen wir es heraus, die intellektuelle Erkenntnismaschine der Jurisprudenz, aus ihr legitimieren sich die politikfernen Richter 138 , die Berufsrichter der Demokratie. Staatswahrheiten transformieren 137 Die Fonnel wird denn auch gewiß nicht überzubewerten sein, vgl. Gollwitzer, W, in: Löwe/Rosenberg, StPO-Komm., 3. Aufl. 1987, § 268, Rn. 14; Engelhardt, H., in: Karlsruher Komm. zur StPO und ova, 3. Aufl. 1993, § 268, Rn. 1. 138 Bei den Begründungen der richterlichen Unabhängigkeit (Barbey, G., Der Status des Richters, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 74, Rn. 30 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11, 1980, S. 902 ff.; Simon, D., Die Unabhängigkeit des Richters, 1975; Geiger; W, Die Unabhängigkeit des Richters, DRiZ 1979,

IX. Der Richter als demokratisches Wahrheitsorgan

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sie erkennend in Individualwahrheiten des einzelnen Falles. Subsumtionsautomaten sind sie nicht, denn das Erkennen der Wahrheit ist alles andere als ein mechanischer Vorgang. Neue Wahrheitsannäherungen bringen ihre Beratungen, so wie dies erstmals in parlamentarischen Räumen versucht worden ist; der judikative Staatswille sichert nur die Unverbrüchlichkeit der judikativen Staatswahrheit. Deshalb ist hier auch Berufsjurisprudenz, ja Verbindung zur Wissenschaft gefordert, die Demokratie ist der Versuchung des reinen Laienrichterturns, vor allem in Deutschland, nicht erlegen, sie ist zur Staatsform gelehrter Anwälte, gelehrter Berufsrichter geworden. Alle diese Juristen handeln aus einer Grundstimmung des Erkennens heraus, bei allem anwaltlichen Engagement nicht nur in einem Drang willentlicher Durchsetzung. Im prozessualen Streit soll überzeugt, nicht in Ecken gedrängt werden. Engagement ist nur gefordert als Motor einer Erkenntnis, die sich ja nie in Beschaulichkeit verlieren darf. Die letzten Worte spricht eine höhere Gerichtsbarkeit, deren Vertreter sich, im Stil ihres Denkens, der Professoralität einer Rechtswissenschaft nähern, die sie weithin mittragen, in welche sie bruchlos ihre judikativen Gedanken einfließen lassen 139 , in eine Welt des Erkennens von Staatswahrheiten. Selbst dort, wo demokratisches Volksrichterturn gefordert wird, geschieht dies nur zu oft aus einer eigentümlich verbogenen Erkenntnisvorstellung des Rechts heraus - als ob diese "unverbildeten" Geister besser und sicherer Staatswahrheiten erfassen könnten, sie aus dem allgemeinen Bewußtsein heraus interpretieren. Dies mag dann Wahrheitsfindung sein in einem "gesunden Volksempfinden"; nur eines ist es nicht: Macht und Wille.

2. Der demokratische Drang zur Judikative als Institutionalisierung der Staatswahrheit a) Richtertum - Institution der Staatswahrheit

Die Richter sind an sich, in ihrer äußeren Erscheinung, ihrem Denken und nach dessen Inhalten, Antipoden der Demokratie. In ihnen lebt etwas weiter von der fürstlichen souveränen Entscheidung, etwas von einem darüberstehenden, souveränen Sein der Wahrheit, nicht ein von unten drängender Wille. In Durchsetzung soll zwar der Richterspruch münden, doch der Urteilende wendet sich davon in souveränem Desinteresse ab, seine Entscheidung als solche ist ihm genug. Dennoch - das Verhältnis der Volksherrschaft zum Richterturn war und ist, solang jene in Freiheit sich halten kann, geprägt von einem demokratischen Drang zu allem Richterlichen. Man mag dies deuten als die Suche nach dem institutionellen S. 65 ff.) ist diese Wahrheits-Legitimation, in ihrer Abgehobenheit vom politischen Willen, allerdings noch nicht hinreichend erkannt. 139 Seit langem sind die (höheren, obersten) Gerichte vielfach die eigentlichen Träger der Rechtswissenschaft, während an den Hochschulen nur zu oft nur mehr "Hilfsbeamte ihrer Wahrheitserkenntnis" tätig sind.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Gegenbild, aus dem rechtliche Einrichtungen leben wie Menschen. Aus der Sicht dieser Betrachtung steht dahinter jedoch noch etwas anderes: die Suche nach einer Staatswahrheit, aus welcher die Demokratie eben ursprünglich gekommen ist, die sie in ihrem ungebändigten Willen immer wieder zu verlieren droht, daher in souveräner richterlicher Entscheidung befestigen will. Nur wo in "volksdemokratisehern" Denken diese Staatsform ihren Primat des politischen Willens bis in die Gerichtsbarkeit hinein fortsetzt, verläßt mit der Richterwahrheit auch die Staatswahrheit die Volksherrschaft. Das tiefe institutionelle Mißtrauen der Demokratie gegen das Gouvernement des juges 140, zwischen dessen Scylla und der Charybdis des Gouvernement d' Assemblee 141 sich das französische demokratische Staatsschiff lange Zeit mühsam hindurchzwängte, ist inzwischen, unter starkem angelsächsischen Einfluß, einem Drängen der Volksrnacht zur Richtermacht gewichen I42 . Die neue deutsche Demokratie hat ihren Rechtswegestaat in einer noch nie erreichten Breite ausgebaut, darin vielleicht auch manch verlorene Autorität der Vergangenheit wiederzufinden geglaubt. In der hohen Verwaltungs-, vor allem aber in der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde diese institutionalisierte Wahrheitsinstanz an die Spitze des Staates gehoben, in neuester Zeit erstarkt sie auch politisch zu seiner geradezu souveränen Macht I43 . Dezisionistische Deutungen eines "letzten Wortes", das immer mehr, durch Richterratschläge l44 und Rahmenziehungen aus Gerichtssälen, zum ersten wird, schöpfen die Bedeutung einer solchen Entwicklung nicht aus, verkennen sie letztlich: Verfassungsrichter wollen ein "letztes Wort" nicht sprechen im Sinne der Macht, sondern in dem der Staatswahrheit, als deren höchsten Ausdruck. In ihren Urteilen wird Rechtsrichtigkeit, in Wahrheit: Staatswahrheit zur politischen Macht. Auch unter den höchsten Roben versteckt sich immer noch etwas wie eine letzte Durchsetzungs-Indifferenz der Richter; sie haben ,jedenfalls" gesprochen, die Wahrheit erkannt - nun seht ihr zu, ihr Träger der Macht! Die doch staatsrechtlich so naheliegende Frage, wo denn nun wirklich die letzte Macht liege, wie sie sich in einem hochgesteigerten Antagonismus zwischen Parlament und höchstem Gericht politisch wenden würde - die Vorsicht juristischer Dogmatik hat dies bisher umgangen; es wäre auch eine letztlich kaum zu treffende Entscheidung - zwischen Wahrheit und Macht. Selbst der Aufstand der Richter gegen die Korruption der Politik, in welchem diese wahrheitserkennende Reservegewalt Italiens politisch die Grundlagen eines Regimes erschüttern, verändern konnte, hat nicht einen politischen Willen gegen Vgl. Lambert, Ed., Le Gouvernement desjuges, 1936. Dazu Bastid, P., Le Gouvernement d' Assemblee, 1957. 142 Beschrieben bereits von Marcic, R., Vorn Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957. 143 Und ist als solche denn auch zunehmender Kritik ausgesetzt, vgl. lsensee, J., BVerfGquo vadis?, JZ 1996, S. 1085 ff. 144 Hoch gesteigert etwa in den Einheitswertbeschlüssen des BVerfG, NJW 1995, S. 2615 ff., 2624 ff., vgl. auch die Kritik im Sondervotum des Richters Böckenförde. 140 141

IX. Der Richter als demokratisches Wahrheitsorgan

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einen anderen gesetzt, sondern Wahrheitskategorien gegen Macht: Das moralisch Gute, das Staats-Agathon im antiken Sinn, der Gegenstand des religiösen Wahrheitsglaubens wurde gewendet gegen den wahrheitsblinden Nützlichkeitswillen der politisch zusammengerafften Macht. Die Richter waren am Werke als Erkenntnis-Institution letzter Staatswahrheiten, deshalb wurden sie sogar politisch stärker als die mächtigsten ökonomischen Kräfte. Auf vielen Pfaden drängt also die Volksherrschaft zur Gerichtsbarkeit - zu einer ihrem Institutionendenken konformen Organisation von Staatswahrheit.

b) Demokratische Expertokratie - Wahrheitsdominanz

Die demokratische Gerichtsbarkeit ist nur eines der Phänomene institutionalisierter Staatswahrheit in dieser Staatsform, das bedeutendste vielleicht; doch andere Einrichtungen legitimieren sich aus ähnlichen Quellen der Staatswahrheit. Da sind vor allem die immer zahlreicheren demokratisch gewollten Areopage, welche in richterähnlich geschützter Unabhängigkeit nicht neben, sondern in mancher Hinsicht schon über den Volksvertretungen thronen, vom Zentralbankrat bis zu den Rechnungshöfen, von Sachverständigenräten als Staatsorganen bis zu den zahllosen Experten, deren sich die Volksvertreter und ihre Regierungen täglich nicht nur bedienen, sondern so oft unterwerfen. Gewiß ist diese steigende Expertokratie 145 , welche in Brüssel zu einer obersten Staatsgewalt ganz offen emporwächst, nur zu oft lediglich ein Alibi für politisch nicht Ansprechbares, nicht Durchsetzungsfähiges; es wird dann jenen Organen in den Mund gelegt, deren Weisheit durch rechtlich gesicherte Unabhängigkeit bewiesen sein soll. Auch darin mag wieder eine ständige Suche der Demokratie nach dem verlorenen Gegenbild zu sehen sein, nach dem Pouvoir neutre einer in politikferner Ruhe regierenden Fürstengewalt, qui regne et ne gouverne pas, welche die Wogen der Politik beherrscht, sie nicht durchrudert. Doch hinter all dem steht doch auch eine Staatsüberzeugung: daß es Wahrheiten geben muß, welche sich der Gewalt aufdrängen, denen diese zu folgen hat, sich ihnen - zu unterwerfen. Wenn es dabei nur darum ginge, der politischen Macht zu bieten, was heute mit dem Allerweltswort "Information" angesprochen wird, dann gäbe es andere Wege, auf welchen die Realität den Willen der Vertreter des souveränen Volkes erreichen könnte; sie müßten nicht in einer Weise rechtlich, geradezu machtpolitisch institutionalisiert werden, wie dies, noch ständig zunehmend, laufend geschieht. Heute ist es wirklich bereits Staatswahrheit als Macht, welche dort zelebriert wird, auf welche die obersten Staatsorgane geduldig und nur zu oft ängstlich hören. Diese Expertokratie ist dabei, zu einer institutionalisierten Form der Herrschaft von 145 Thieme, w., Einführung in die Verwaltungslehre, 1995, S. 44 f.; Schelsky, H., Wissenschaftliche Experten und politische Praxis, 1966; vgl. dazu auch unten D, I, 3 sowie die dort in Fn. 28 Genannten.

9 Leisner

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Staatswahrheiten zu erstarken, und darin liegt sogar eine große Gefahr von "Staatswahrheit gegen Wahrheit", im drohenden Umschlag der Expertisen in Pseudowahrheiten. Naheliegen mag es, eine solche Entwicklung als Reaktion gegen machtraffende Überpolitisierung zu erklären, weil sonst demokratische Parteihände nie mehr loslassen, was sie einmal ergriffen haben; doch ist nicht gerade diese Gegenwehr der Beweis einer zu Staatswahrheiten drängenden Volksherrschaft? Die Experten, die nichts repräsentieren als Wahrheitsmächte, wären längst demokratischer Gewaltsamkeit zum Opfer gefallen, hätten nie deren schlechtes Wahrheitsgewissen erstarkend ausnutzen können, wäre es nicht die stillschweigende Überzeugung von Staatswahrheiten, wie sie die Macht nur deklarieren darf, die sie letztlich über diese Gewalt hinaushebt, weil die Staatswahrheiten eben den ganzen demokratischen Staat tragen, gerade ihn. So ist denn eine Expertokratie - deren altes Urbild der demokratische Richter ist, welcher als erster Experten zu Hilfe ruft - im Grunde nichts als eine Erweiterungsform der Judikative in eine wahrheitsorientierte Staatsleitung hinein.

c) Ein größeres Phänomen: Entpolitisierung als Wendung zur Realität als Wahrheit

Die Judikativierung der Demokratie ist praktisch zuallererst eine Erscheinungsform der Entpolitisierung der Volksherrschaft, des Abbaus jedenfalls jenes übersteigerten Macht- und Willensregimes, welches in Appropriationen der Wahrheit endet, nicht in Gerechtigkeit. Doch gerade darin drückt sich eben jene große Wendung zur Staatswahrheit aus, zu Erkanntem, nicht Gewolltem. Lebte die Gerichtsbarkeit nicht gerade daraus, träfe auf sie das böse, zutiefst antidemokratische Wort vom ordre de moufti zu, Gerichtsurteil als Gewaltbefehl. Letzter Wert der Judikative bleibt dagegen die richterliche Erkenntnis, das salomonische Urteil, welches die Wahrheit aufdeckt, nicht Güter zuspricht und Macht. Parteipolitik hat den Staat voluntarisiert, es gilt aber, ihn zu erkennen - so könnte man das Marx-Wort wieder umkehren, welches, am Eingang eines Tempels der Wahrheit, Erkenntnis in Aktion münden lassen wollte. Die Richter als Experten des Rechts, als Träger der Rechts-Wahrheiten, werden über den Willen, besser: die Wollungen aller Politik gestellt, weil der letzte Wert des Staates Rechts-Erkenntnis bleiben muß, Staatswahrheit. Hinter Entpolitisierung durch Expertenwahrheit, welche sich in all dem ausdrückt, steht allerdings auch, das Streben nach erweiterter Öffnung des Rechts zu einer Realität, die in ihm erkannt wird, durch seine Wahrheitskanäle die Macht erreicht. Diesem Seienden begegnet der Richter auf seinen Wahrheitswegen im Einzelfall, der gelehrte Experte in Büchern und Laboratorien. Staatswahrheit - das sind nicht nur Philosophemata allgemeiner Staatslehre, Abstraktionen über Macht-

x. Staatsschutz für Staatswahrheit

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konstruktionen, sondern die Majestät eines Seins, welches auf den Thon des Rechts gesetzt wird, durch die Macht des Staates. Die gelehrten Richter, das Studium der Experten, sie alle führen aus den Zwingburgen der Macht, die zu Elfenbeintürmen eines um sich selbst kreisenden Willens geworden sind, hinaus in eine Wirklichkeit, die erkannt wird als eine letzte Herrscherin in Wahrheit, selbst noch über dem Recht.

x. Staatsschutz für Staatswahrheit Viel war nun die Rede von der Norm-Wahrheit, dem Wahrheitsausdruck des Willens der Ersten Gewalt, sodann vom Wahrheits-Urteil des Richters, dem wahrheitsorientierten Willen der Dritten Gewalt. Ein Wort zur Zweiten muß diese Betrachtungen runden, zur Exekutive und ihrer Beziehung zur Staats wahrheit, welche diese in einem vor allem findet, was kein anderer Pouvoir leisten kann: im Staatsschutz. Von vielen wird er begriffen und bekämpft als Gefährdung der Wahrheit, ihrer freien Findung; hier soll gezeigt werden, daß er sich in der Demokratie, gerade umgekehrt, auch legitimiert aus Staatswahrheit.

1. Die politische Schwäche der Staatswahrheit a) Erkenntnisschwäche gegen Willensstärke

Wahrheit sollte eigentlich diejenigen stark machen, "die aus ihr sind"; was erkannt werden kann - wird es sich nicht, muß es sich nicht letztlich auch politisch durchsetzen? Doch der Denkende bleibt passiv, wie es schon Seneca wußte, er will nicht und daher kann er sich so oft nicht durchsetzen. Das Geschaute genügt ihm, in seinem Namen blickt er über die Niederungen politischer Realitäten hinweg. Politik hat, in der Demokratie zumal, die Begeisterungskräfte des Irrationalen für sich, des außerhalb jeder Ratio mit Mächtigkeit eben doch Existierenden, gerade nicht aus Erkenntnis Schaffenden. Wen aber soll Staatswahrheit begeistern, außerhalb von Expertenzirkeln? Aller diesseitigen Wahrheit ist weithin Nicht-Eindeutigkeit wesentlich, vor allem "politischen Wahrheiten" im Staat. Allzu allgemein nur können sie formuliert werden, im Zusammenprall mit einem irrational und konzentriert agierenden Willen werden sie in aller Regel zurückweichen, in der Vornehmheit der Erkenntnis, in diese. Politik als Reich des Willens, nicht der Wahrheit, ist eine historische, eine philosophische Banalität. Aus der Sicht einer Betrachtung über Staatswahrheit führt dies zu einem demokratischen Paradox: Sie, die sich selbst in Evidenz schützen sollte, in unmittelbarer Einsichtigkeit, gerade sie bedarf des Schutzes einer willensgetragenen Gewalt, welche sie doch in Rationalität auflösen will; sie kann 9'

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

sich entfalten nur unter dem Staatsschutz der machtnächsten Staatsgewalt, der Exekutive.

b) Die typisch demokratischen Schwächen der Staatswahrheit: Eudämonismus statt Erkenntnis

Im demokratischen Staat bricht wieder auf, was schon seinen alten Gegenspieler geschwächt hatte, die transzendent begründete fürstliche Staatlichkeit: die wesentlich prekäre Glaubensseite aller Staatswahrheiten. Was die weltanschaulich neutrale Volksherrschaft sich selbst zum Glauben vorstellt, trägt in sich die Schwächen aller religiösen Wahrheit: Von wenigen wird all dies stets nur proklamiert, es gibt in der Demokratie Staatswahrheits-Priester, wie in religiös fundierten Regimen zelebrieren sie den Kult der Arkan-Wahrheiten. Wenigen nur sind diese Erkenntnisse zu vermitteln, niemals dem Jedermann, den doch die erste und größte Staatswahrheit der Demokratie politisch erkennbar werden läßt: die Gleichheit. Dahinstehen mag hier, ob aller Wahrheit und ihrer Erkenntnis ganz wesentlich schon eine Gleichheitsfeindlichkeit eigen ist, eine Unvereinbarkeit jedenfalls mit der Egalität. Den unzähligen, real faßbaren kleinen Souveränen der Volksherrschaft fehlt mit Sicherheit jene intellektuelle Kapazität, welche sie in Verbindung bringen könnte zu höherer oder gar höchster Wahrheitserkenntnis, wie sie aber allein ein komplexes Staatswesen tragen kann. Mehr noch: dieselbe Egalität verbietet es geradezu, dem Souverän und seinen ihm gleichenden Vertretern dies offen zu sagen, es auch nur in einer Demokratie ernsthaft zu denken. Wenn überhaupt Staatswahrheit, so muß sie doch von jedem Bürger erkannt werden können; sie kann es nicht. Deshalb wendet sich diese Bürgerschaft auch immer wieder ab von ihr, sie wird ihr zur nutzlosen Wahrheit, sie sucht den nützlichen als den allein wahren Staat. Nicht zu vermitteln ist ihr der große Gegensatz von eudämonistischer Nützlichkeit und staatsgrundlegender Erkenntnis, welcher die beiden bedeutendsten Perioden der Philosophie geprägt hat, mit der sich all ihre führenden Geister immer wieder beschäftigt haben, gerade mit Blick auf die Politik, in Athen wie im deutschen Idealismus, und immer mit einem Ergebnis: Der Nutzen der Glückseligkeit ist nichts, läßt er sich nicht finden im Glück der Erkenntnis; das Volk aber will nicht leben wie Sokrates, in nutzloser Erkenntnis, nutzloser Staats wahrheit - in einem nutzlosen Staat. Im Mittelpunkt seiner Staatsanstrengungen steht das erkenntnisblinde, aber nutzenträchtige Eigentum 146 , und selbst die höchsten Erkenntnisobjekte demokratischer Staatlichkeit, Menschenwürde und Freiheit, sind diesem nützli146 Das allerdings in seinem Freiheitsbezug Erkenntnisgegenstand und damit Staatswahrheit werden kann, so wie es seine klassische liberale Darstellung im 19. Jahrhundert grundgelegt hat, vgl. Thiers, A., De la Propriete, 1. Aufl. Paris 1848, vgl. insbes. zum Methodischen S. 16 ff.

X. Staatsschutz für Staatswahrheit

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chen Zweck wesentlich verpflichtet, in ihm erst werden sie Realität, nicht in Wahrheitserkenntnis. So ist also der Volksherrschaft ein eigenartig gespaltenes Verhältnis zur Staatswahrheit eigen: Einerseits will und kann sie ihr Souverän, das Volk, nur unvollständig erkennen, andererseits baut er sich daneben eine besondere Staatswahrheit auf, die des nützlichen, güterzuweisenden Staates. Ist es dann aber verwunderlich, daß eine solche Staatswahrheit, die sich wesentlich in Güteransammlung verkörpert, des Schutzes bedarf durch die Macht? Erkenntnis ist nicht durch Diebe bedroht; der Schatz aber muß machtvoll gesichert werden. So liegt wohl in den Wahrheitsängsten der Demokratie, von denen im folgenden die Rede sein wird, welche ihre Staatswahrheiten so schutzbedürftig machen, vielleicht schon ein grundsätzlicher Abfall von demokratischem Erkenntnisstreben nach Staatswahrheit, das sich verliert in der Suche nach Staatsgut als Bürgergott. Doch immerhin gibt sich auch heute noch demokratischer Staatsschutz als Sicherung von Staatswahrheiten; darin, als Beweis der Suche nach ihnen, hat er Geschichte.

2. Die historischen Wahrheitsängste der Demokratie von den Ursprüngen des Staatsschutzes Historisch-politische Kreislaufsorgen haben die Volksherrschaft von ihren attischen Anfangen an verfolgt; sie haben sie nicht einmal in den von Konterrevolutionsängsten geplagten "Volksdemokratien" verlassen. Seit dem Durchbruch der Volksherrschaft in der klassischen Zeit von Athen gibt der Tyrannenkomplex die Demokratie nicht mehr frei. Daß sie wiederkehren könnten, daß sie sogar dreißigfach wiedergekommen sind, nach militärischer Niederlage aus der Schwäche der Freiheit, daß die große geistige Freiheitskultur Griechenlands nur im Schutze mazedonischer Phalangen die bekannte Welt erobern konnte, daß eben doch etwas sein könnte von historischer, von Staatswahrheit an dem Zyklusdenken des Polybios 147 - das hat sich in allen Demokratien seither zum politischen Angstkomplex gesteigert. In ihm wurde nicht nur die Schwäche der Freiheit deutlich, sondern gar etwas wie eine geschichtliche Wahrheits-Erkenntnis, eine "staatszerstörende Staatswahrheit aller Demokratie". Löst sich diese Freiheit nicht notwendig aus sich selbst heraus auf, aus der Schwäche ihrer obersten Staatswahrheit, der Freiheit? Haben nicht die in ihrem Namen prekär nur Herrschenden stets mehr zu fürchten, für ihre Wahrheiten und für sich selbst, als Mächtige, welche ein Gottesgnadentum trug? Eindrucksvoll haben sich diese typisch demokratischen Ängste wieder gezeigt, nach Staatsschutz für ihre Wahrheiten rufen lassen, in gequälten demokratischen Perioden der neuesten Geschichte: im brutalen Staatsschutz zuerst, welchen die re147 Vgl. dazu Petzold, K. E., Studium zur Methode des Polybios und zu ihrer historischen Auswertung, 1969; Meister, K., Historische Kritik b. Po1ybios, 1975.

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C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

volutionäre Terreur über ihre Staatswahrheit der republikanischen Freiheit gelegt, mit dem sie diese erstickt hat. Daraus erklärt sich die Abneigung des folgenden Jahrhunderts gegen angeblich höchste, erkannte Staatswahrheiten der Demokratie, die solcher Gewaltsamkeit, derartiger Verbrechen zu ihrer Verteidigung bedurften. Wahrheits sicherheit hatten diese Revolutionäre letztlich eben doch nicht, getrieben sahen sie sich ständig vom schlechten Wahrheits gewissen des Königsrnords, der Tötung der alten Wahrheit. Da ihre neuen Wahrheiten in einem ähnlichen Regicid hätten enden können, mußten sie mit dessen Grausamkeit geschützt werden. Dieses schlechte Gewissen demokratischer Revolutionäre hat auch Weimar verunsichert, aber seine in jener Verfassung eindrucksvoll formulierten Staatswahrheiten, die gerade als solche normativ gewollt waren, ohne Schutz gelassen. Wieder war, im Nationalsozialismus, etwas geschehen wie ein Königsrnord früherer demokratischer Staatswahrheit, und nachher sollte noch eine weitere solche entdeckt werden: daß es gerade das Fehlen demokratischen Staatsschutzes gewesen sei, welches die "Rückkehr der Tyrannen" ermöglicht, den Weg in den Führerstaat geebnet habe. Seit Weimar ist die Notwendigkeit demokratischen Staatsschutzes für demokratische Staatswahrheiten - selbst eine Staatswahrheit. In der "wehrhaften Demokratie" des Grundgesetzes 148 sollte sich dies nun bewähren, mit der Endgültigkeit einer wirklichen Staatswahrheit. Diese streitbare Volksherrschaft ist entstanden aus Vorstellungen, die, wie kaum andere nach 1945, aus Staatswahrheits-Kategorien erwachsen sind. Ganz vermochte sie allerdings dem Odium freiheitlicher Gewaltsarnkeit nicht zu entgehen; doch es öffnete sich ein Ausweg in neue Formen des Zyklusdenkens und seiner Ängste: Vergangenheitsbewältigung setzte ein in großem Stil, "Staatsschutz aposteriori", als Vorsorge für die Zukunft aus der Vergangenheit heraus. Daß diese Vergangenheit nur Unrecht bedeutet, wesentlich Untat, ist inzwischen zur ersten Staatswahrheit gegenwärtiger Demokratie geworden, weit über Deutschland hinaus orientieren sich Volksherrschaften, nicht ohne Selbstgefälligkeit, an dieser ihrer wichtigsten "negativen Wahrheit". Sie erscheint als historisch eindeutig faßbar in ihren unzähligen Opfern, in ihrer geradezu religiösen Glaubensdimension - der des totalitären irrglaubens, kurz, sie trägt negativ alle Züge dessen, was hier als Staatswahrheit erkannt wurde. Selbst politischer Wille kann seine Dynamik in solche Wahrheitssuche einbringen, gilt es doch nicht nur zu erkennen, sondern zu verabscheuen, nicht lediglich zu verurteilen, sondern zu bestrafen. So findet denn die Volksherrschaft in diesem ihrem bereits traditionellen Staatsschutz-Bemühen zurück zu einer geradezu religionsähnlichen Wahrheit, in Formen, in welchen diese letztere einst Staatswahrheiten gesichert hatte, in der Inquisition gegen staatsgefährdende Glaubens-Häresien. Alles Antidemokratische, vor allem alles Totalitäre, wird zu solchem Ketzertum, es muß verfolgt werden, in wes148 Becker, J., Die wehrhafte Demokratie, in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. VII, 1992, § 167, Rn. 1 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 176 ff. m. weit. Nachw.

X. Staatsschutz für Staatswahrheit

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sen Namen? Doch nur in dem der Staatswahrheit. Offenbar fehlt Demokraten der Glaube, daß sich ihre Wahrheit als solche durchsetzen wird, daß ihre ständigen Subversionsängste an ihrer ruhigen Wahrheitsüberzeugung scheitern werden. Wenn diese, Jahrhunderte nach der Französischen Revolution, noch immer nicht gebannt sind, so gilt es wohl, die so mühsam erkannten und anerkannten Staatswahrheiten gegen ihre Leugner ebenso zu schützen, wie die Kirche die Macht des weltlichen Armes gegen die Gottesleugnung einsetzte.

3. Staatsschutz - Kategorie der Staatswahrheit

Eine Volksherrschaft, die sich aus Freiheit legitimieren will, kann ihren Staatsschutz, den ihr geschichtliche Erfahrung nahelegt wie kaum einem anderen Regime, nur begründen aus Staatswahrheiten, die es zu sichern gelte, selbst mit einer Gewalt, die an sich den Grundprinzipien der Staatsform widerspricht. Hier muß die sonst notwendige Verbindung von Freiheit und Wahrheit unterbrochen werden, die sich im Erkenntnisvorgang bewährt: Diese Staatswahrheiten sind so wichtig, so wahr, daß sie den Umschlag aus der reinen Schau und Verehrung von Regimegrundlagen in deren gewaltsame Befestigung rechtfertigen, aus einem Erkennen, das seinem Wesen nach nur tolerant sein kann - weil dulden darf, wer nichts zu fürchten braucht - in die letzte Intoleranz des Kampfes gegen StaatswahrheitsLeugnung. Wer der Demokratie nicht Staatswahrheiten unterlegt, kann ihren Verfassungsschutz 149 nicht mehr von Geheimer Staatspolizei unterscheiden. Wer ihn nicht im Namen erkennbarer Wahrheiten betreibt, läßt ihn letztlich entarten zu einem unwahrhaftigen Gewaltregime, zu einem Reich, das geistig in sich uneins ist, schon deshalb zerfallen wird. Klarer können doch Staatswahrheiten nicht zur Grundlage einer Staatsform erklärt werden als darin, daß deren ganze Macht aufgeboten wird zu ihrem Schutz, in Formen, welche seit Jahrtausenden Wahrheitsschutz als Staatsschutz bringen sollten.

149 Obwohl der Verfassungsschutz, soweit ersichtlich, bisher im wesentlichen stets aus einer Kamptbereitschaft politischen Willens legitimiert worden ist, vgl. Stern, aaO., S. 192 ff., Becker, aaO., Rn. 49 ff.

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c. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille XI. Die demokratische Anti-(Wahrheits-)These: Volkssouveräner Wille gegen Staatswahrheit die große Versuchung der Demokratie 1. Die Grundantinomie: Volkswille gegen Bürgerfreiheit

a) Freiheit und Gleichheit - eine unauflösliche demokratische Spannung demokratischer Staatswahrheiten

Unter einem hat die Demokratie von Anfang an gelitten, darin ist sie stets unglaubwürdig erschienen, widersprüchlich - geradezu staats-unwahr: Einerseits hat sie den freien Menschen zu ihrem Ideal erklärt, seine subjektive Wahrheit anerkannt, als eine Tatsache unverrückbar festgehalten. Andererseits aber mußte sie, getragen vom Schwung der Aufklärung und der Französischen Revolution, absolute Gewalt in Anspruch nehmen wie kaum eine andere Staatsform - aus der Legitimation gerade ihrer Staatswahrheiten, aus Gleichheit, Wahl und Mehrheit. Zu einfach wäre es aber, darin nur wieder die alte Spannung erkennen zu wollen zwischen dem Willen zur Macht und der Erkenntnis einer Wahrheit, welche beide dem Gesetz, dem Richterspruch, dem Staatsschutz zugrundelägen. An sich ist gerade die Volksherrschaft - dieser Hauptteil sollte es erweisen - schon von ihren Ursprüngen her nicht eine Staatsform des Voluntarismus, sondern der Wahrheitserkenntnis. Doch letztlich treten in ihr zwei Staatswahrheiten in Spannung zueinander: die des Individuums, welches in Freiheit geboren wird, und eine Gleichheit, welche alle Ordnung in Anarchie aufheben müßte, könnte sie nicht mehr an Freiheit anstreben nur "als die eines Einzelnen". Nicht der Machtwille wird also in der Demokratie immer stärker - sie schwächt ihn ja laufend in rationalen Zweifeln und in Machtabbau - die Gleichheit tritt als noch höhere Staatswahrheit immer mehr über die individuelle Freiheit. Dies aber ist, gerade aus dem Wahrheitsbegriff heraus, nicht nur eine Versuchung der Demokratie, sondern sogar ein notwendiges Fortdenken ihrer Staatswahrheits-Grundlagen, betrachtet man näher das Wesen der staatslegitimierenden demokratischen Freiheit. Diese Libertät trägt in sich etwas wie eine Wahrheits-Indifferenz. Sie schafft zwar die Basis einer möglichst weiten Wahrheits schau, ist deren unbestritten bestes, überzeugendes Instrument. Doch ihrem Wahrheitsgehalt als solchem, der freien, staatsfernen Geburt des Menschen, fehlt die besondere Wirkmächtigkeit einer Staats-Wahrheit: daß dies nun als eine Ordnungs-Wahrheit erkannt und verehrt werden dürfte. Freiheit "ist" immer nur so viel Wahrheit, wie "der Einzelmensch als solcher an Wahrheit bedeutet", historisch und täglich erfahrbar - aber eben nicht mehr. Gleichheit dagegen ordnet, organisiert, systematisiert, sie allein kann zum Staats wahrheits-Gebäude emporgebaut werden. Egalität kann auch die politische Willenskraft noch einsetzen zur Verwirklichung ihrer Wahrheit; die Freiheit sperrt diesen politischen Willen aus ihrem Reich aus. Absolutheit der Wahrheit

XI. Volkssouveräner Wille gegen Staatswahrheit

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kann sich in der perfektionierten Egalität wiederfinden, absolute Freiheit ist auch nicht entfernt denkbar, erkennbar, staatswahrheits-fähig. Im Kampf der beiden großen demokratischen Staatswahrheiten untereinander wird daher immer die Freiheit mehr an Wahrheit erkennen, die Gleichheit mehr an Wahrheit verwirklichen, Wirklichkeit werden lassen - darin zur vollen Wahrheit erstarken. Die eigentliche Spannung ist nicht die zwischen dem Willen der Mehrheit und der Wahrheit der Freiheit, sie verläuft von dieser zu der höheren Staatswahrheit der Egalität; und deshalb sieht sich die Demokratie nicht aus ihrer ursprünglichen Staatswahrheit geworfen, wenn sie immer wieder den einzelnen Bürger zurückdrängt aus seinem Wahrheitsstreben, seiner Wahrheitserkenntnis, im Namen ihrer kollektiv-egalitären Staatswahrheit.

b) Gleichheit - Grundlage der Mehrheit als Instrument eigentumsverteilender Staatswahrheit

Die Spannung zwischen dem Willen des demokratischen Volkssouveräns und der Freiheit des seine Wahrheiten erkennenden Individuums hätte sich wohl freiheitlich lösen lassen in der These, daß Mehrheitsrechte nur soweit gelten dürften, wie dies der Schutz der Freiheit als höchster Staatswahrheit, der Freiheit aller anderen erfordert. Doch dem Mehrheitswillen, dem Ausdruck der organisierten Staatswahrheit der Gleichheit, konnte dies nie genügen: Er will die Verteilung, sucht deren Überzeugungskraft als Staatswahrheit, damit diese Nutzen bringe. Selbst wenn man darin nicht der Versuchung jenes Eudämonismus erläge, von dem bereits die Rede war - es läßt sich nicht das an sich staatswahrheitsblinde Eigentum zur Staatswahrheit erklären, sondern immer nur dessen Verteilung. Die wahre, die seinsentsprechende Distribution hat der Sozialstaat als soziale Gerechtigkeit auf die Fahne seiner Wahrheit geschrieben, nicht immer nur mit der rohen Gewalt seiner Mehrheiten durchzusetzen versucht; ein solches schlechtes Machtgewissen hätten sozialistische Bewegungen auch nie auf Dauer ertragen können. Der Wahrheit durften sie sich weiter verpflichtet fühlen, wenn jene Güterverteilung, welche nur ein absoluter Mehrheitswillen realisieren kann, selbst als Ausdruck einer Staatswahrheit erschien, einer Gleichheit, über deren Distribution nun alle anderen Freiheiten erstmals nicht nur "nützlich", sondern "als Wahrheiten sinnvoll" werden konnten l50. Darin wird dann die verteilungsorientierte Eigentumsfreiheit der Demokratie zur höherrangigen Staatswahrheit über aller Freiheit, daß sie all deren Ausprägungen erst in Nützlichkeit faßbar werden läßt, erkennbar mit gesellschaftswissenschaftlichen Kategorien, zuallererst mit denen der Ökonomie. Demokratie als Ökonomisierung der Freiheit darf sich dann auf die Staatswahrheit der Gleichheit, der Verteilung der Güter, berufen.

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Vgl. Häberle. P.. Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff.

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

Damit aber bleibt nur eine andere Auflösung der Spannung zwischen den beiden Staatswahrheiten der Demokratie, Freiheit und Gleichheit: Freiheit nur soweit, wie sie zur funktionierenden Mehrheitsdemokratie erforderlich ist, Meinungsfreiheit als Instrument des Erkennens, aber nur als Institution der Bildung des Mehrheitswillens. Denkt man dies aber weiter, so endet es doch in einer neuen Voluntarisierung des Staates, der nunmehr auf den Willen der Mehrheit gegründet wird, nicht mehr auf eine Erkenntnisfähigkeit, oder gar auf Erkenntnisinhalte, welche allenfalls noch als Legitimation dieses Willens gebraucht werden. Staatswahrheit und Erkenntnis sinken fatal zurück auf die Ebene der Legitimation des Machtwillens, weil eine höchste Staatswahrheit, die Gleichheit, sich nur in solchem Willen vollenden kann. Dann muß selbst diese zentrale Freiheit der Meinungsäußerung degenerieren zur politischen Mehrheitsbildungs-Freiheit, dies wird, im gefährlichen Sinne dieses Wortes, ihre neue "Funktion"l5l, ein Begriff, den Erkenntnis und Wahrheit der Freiheit nicht kennen dürfen. Die Volkssouveränität der Demokratie führt dann, aus deren Wahrheiten heraus, eben doch - zum Willens staat, in einem fundamentalen demokratischen Staats-Umschlag.

2. Wahrheitssetzender Willensstaat Ausdruck der Staatswahrheit?

Wären die Spannungen zwischen der Staatswahrheit und ihrer Realisierung durch Machtwillen, in zwanghafter Wahrheitssetzung, als Wahrheitsersatz, klar antithetisch faßbar, so hätte die Staatswahrheit immer wieder eine größere Chance der Durchsetzung in Rationalität gegenüber der rohen Gewalt des politischen Willens, in höherentwickelten Zivilisationen zumal. Doch diese Spannungen sind vielfach verschlungen; auch der Willensstaat der mehrheitsbegründeten Demokratie kann und wird sich auf Staatswahrheit in jenem Sinne berufen, der hier entfaltet werden sollte: a) Die willensgestützte Mehrheitsdemokratie kann ebenfalls in Erkenntnis-, in Wahrheitskategorien denken. Sie darf sich darauf berufen, daß das gesamte organisierte Regime der Volkssouveränität, von deren Ursprüngen her, stets die bereits beschriebene Wahrheitsannäherung in Stufen institutionalisierter Erkenntnisvorgänge erreichen wolle, von der ersten Normannäherung im Parlament bis zur endgültigen Wahrheitserkenntnis im Richterspruch. Läßt sich dann aber die Fiktion des Allgemeinen Willens Rousseaus nicht weiterdenken in einer Mehrheit, welche eben am besten die Staats wahrheit erkennt, einer Majorität als Erkenntnisorgan der Staatswahrheit? . Dann muß nicht mehr der Mehrheitswille zur Rechtssetzung bemüht werden; Rechtssetzung als Wahrheitserkenntnis findet statt, weil - wie schon 151 Lecheler, H., "Funktion" als Rechtsbegriff?, NJW 1979, S. 2273 ff.; Lerche, P., "Funktionsfähigkeit" - Richtschnur verfassungsrechtlicher Auslegung, BayVBI. 1991, S. 517 ff.

XI. Volkssouveräner Wille gegen Staatswahrheit

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erwähnt - die "zahlreicheren Augen" eben klarere Wahrheitserkenntnis erlangen, und überdies schon darin, daß die Mehrheit stärker in einer Wirklichkeit verwurzelt ist, welche sie mit Wahrheitslegitimation repräsentiert. Rousseau ist bisher immer nur voluntativ gedeutet worden; wäre seine Mehrheitslehre, welche die Demokratie bis heute trägt, nicht auch der Erkenntnis zugänglich, daß sie Erkenntnis begründen will? b) Die Mehrheitsdemokratie entwickelt, seit der Französischen Revolution, einen Absolutheitsanspruch, den sie dem fürstlichen Absolutismus entlehnt und immer noch weiter gesteigert hat, mit deutlichen Akzenten nicht mehr zur Macht, sondern zur Wahrheit hin. Wenn aber diese Staatswahrheit sich immer, neben der Basis des Glaubens, stützen wollte und konnte auf die "faßbare Tatsache", sei sie historisch vergangen oder in gegenwärtiger Realität, so hat auch hier die Mehrheitsdemokratie nichts zu verbergen: Sie steht bei den stärkeren Bataillonen, darf sich auf die eindeutigeren Tatsachen stützen, ihren stärkeren Willen als Faktum proklamieren, als Staatswahrheit. Wer politisch in der Minderheit ist, hat rechtlich Unrecht - dieses Wort eines sozialistischen Iustizministers Frankreichs kann als eine Feststellung zur "Staatswahrheit der stärkeren Kräfte" gedeutet werden: Ihre Widersacher fallen nicht nur aus der Macht, sie fallen aus der Wahrheit. c) Wenn der Wahrheit, und damit auch ihrer Ausprägung im Staat, etwas wesentlich ist, so die Alternativlosigkeit, mit welcher sie zu überzeugen vermag. Dieses Wahrheitsattribut kann gerade der Mehrheitswille im Volksstaat für sich beanspruchen: Was und wie sollte denn erkannt werden, wenn seine Erkenntnis, die der Majorität, nicht auch die einzig mögliche ist, nicht etwa nur die siegreiche, die bessere? Eine außerpolitische Wahrheitsfrage darf doch, so scheint es, an diese Mehrheit als höchstes Staatsorgan gar nicht mehr gerichtet werden, und an ihre Staatswahrheiten. Darin setzt sich dann nur eines fort: die Alternativlosigkeit des Volkes als einer politischen Tatsache, einer wirklichen Staatswahrheit, außerhalb von dessen Willen es eben keine Realität, keine erkennbare Tatsache mehr geben kann, es sei denn die usurpatorische Wahrheitsbehauptung des antidemokratischen Staatsverbrechers. Die Demokratie wird sich immer scheuen, das angebliche fürstliche "L'Etat c'est moi" auszusprechen; der Staat als solcher bedeutet ihr nichts. Doch sie wird es abwandeln, indem das Volk nun verkündet "La Yerite c'est moi". "Wir sind das Volk" ist die schon fast ängstliche Proklamation einer Banalität. Doch sie ist mächtig, weil hinter ihr ein anderes Wort steht: "Wir sind die Wahrheit". d) Auf solchen Wegen hat sich in die Demokratie der Machtwille eingeschlichen als Träger nicht nur, sondern als potentieller Ausdruck der Staatswahrheit. Ein solcher Radikaldemokratismus - denn als solcher versteht er sich selbst - läßt den Volkswillen, und ihn allein, Staatswahrheit erkennen, also auch hervorbringen, sie ersetzen, wo sie verdämmert. In der Volksmehrheit als Wahrheitsorgan liegt .die Chance zur metabasis eis allo genos, vom Willen zur Wahrheit. Gegen diesen Mehrheitswillen als Organ der Staatswahrheit kann sich dann keine "Realität von

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C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

außen" mehr durchsetzen, keine wie immer erkannte Wirklichkeit ihm noch Schranken ziehen. Und da dies zur Exklusivthese gesteigert wird, erreicht es gerade darin die Qualität höchster Staatswahrheit. Zwischen diesen gegensätzlichen Vorstellungen, die sich beide als Staatswahrheiten ausgeben, auf deren Faktizität sich berufen, lebt die Demokratie, muß sie ihren mühsamen Weg der Staatswahrheit oder zu einer solchen suchen: Willensdemokratie als Setzung von Staatswahrheiten durch Mehrheit - oder Erkenntnisdemokratie, in welcher auch die Mehrheit Wahrheiten immer nur anerkennen darf, ausgestalten, nie letztlich setzen. Die Willensdemokratie kommt der Politik entgegen, sie ist unschwer zu formulieren, läßt sich der politischen Macht legitimierend nahebringen, im Recht sich gewaltsam, ohne hemmende Schranken durchsetzen. Doch diese Betrachtungen sollten zeigen, daß die Volksherrschaft auf einer Wahrheitsgrundlage ruht, welche ihr zuallererst Schranken weist, nicht Machtquellen, welche Behutsamkeit des Erkennens verlangt, nicht nur Einsatz zur Durchsetzung des Erkannten. Daß das Recht, in seiner ganzen säkularen Technizität, letztlich näher beim Durchsetzen steht, beim Erzwingen, daß es damit sogar als reiner Ausdruck des Staatswillens in Machtmechanik enden kann - diese Gefahr des Abfalls von der Rationalität des Erkennens ist für den Juristen an sich eine fast schon selbstverständliche Erfahrung; doch wie soll er sie einer Macht verständlich machen, die nichts erkennt, alles will?

XII. Staatswahrheit aus demokratischer Erkenntnis: Meinungsfreiheit - Öffnung zur Realität 1. Meinungsfreiheit - Versöhnung von Staatswahrheit und Staatswillen?

Die demokratische Realität des Volkswillens mündet, sei dies Setzung oder Erkenntnis von Staatswahrheiten, in die Frage nach dem Verfahren, in dem sich der Volkswille bildet: Ist es erkenntnisnah oder willensbetont, wird dieser Wille geschöpft aus einer Wahrheitsschau oder aus dem Machtkalkül des Willens - mehr aus diesem oder aus jenem, sind doch Übergänge gerade hier ein Wesenszug verunklarender Politik. Dies kann im Rechtsraum freiheitlicher Demokratie nur aus einem Bereich heraus beurteilt werden: aus der Meinungsfreiheit.

a) Meinungsfreiheit - Bekenntnis zur Staatswahrheit

Was kann meinen, behaupten, Thesen aufstellen, Überzeugungen bekennen anderes bedeuten als Suche nach Wahrheiten, als Bekenntnis zu ihnen? Wie könnte eine "Meinung", deren Begriff die Grundrechtsdogmatik ausgeweitet hat bis zu

XII. Staatswahrheit aus demokratischer Erkenntnis: Meinungsfreiheit

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fast schon jeglichem menschlichen Verhalten 152, den hohen Schutz eines zentralen demokratischen Freiheitsrechts 153 genießen, stünde hinter ihr nicht Wahrheit, demokratische Staatswahrheit? Gäbe es eine solche nicht, würde sie nicht wenigstens postuliert, so wäre der Schutzbereich dieses zentralen Grundrechts in der Volksherrschaft nur mehr der irgendeines Redens und Protestierens, welches gewiß kaum mehr an rechtlicher Sicherung verdiente als die allgemeine Handlungsfreiheit. Die eindeutige und hochgesteigerte Privilegierung der Meinungsfreiheit legitimiert sich dagegen vor allem aus einem: aus Staatswahrheiten, denen man sich aus ihr heraus anzunähern versucht, weil die Meinungsfreiheit sie recht eigentlich hervorbringen soll. Die Demokratie ruht auf der Überzeugung, daß solche Bürgermeinung nicht an sich schon "Wahrheit" ist, deshalb verengt sie den Begriff ja auch nicht auf den der wahren Tatsache, er findet vielmehr sein Zentrum gerade in dem Angenommenen, in der Diskussionswahrheit. Dies geschieht jedoch aus der politischen Überzeugung, daß diese Vielfalt der Meinungen, als "Annäherungs-Wahrheiten" - dem Begriff sind diese Betrachtungen ja bereits innerhalb der institutionellen Staatstätigkeit begegnet - ein System von Prüfung und, aus ihr heraus, Irrtumsvermeidung konstituiert, von trial and error. Auch dies aber sind nun doch schon Wahrheitskategorien, nicht Ausdrucksformen von Willenskräften. Nicht das Mächtigste soll hier siegen, das advokatorisch-Geschickteste; ja nicht einmal auf das qualitativ Beste sind solche Bemühungen gerichtet, sondern eindeutig primär auf Wahrheit, nicht notwendig vielleicht auf die eine Wahrheit, aber auf das Viele, was eben diesen Namen verdienen kann. Daß die gesamte demokratische Staatsgewalt in diesem Punkt auf einer Intellektualisierung beruht, aus der Meinungsfreiheit heraus, ist bisher zuwenig bewußt. Daß hier zugleich Überzeugung prämiert wird, bedeutet nicht ein Privileg für den politischen Willen, es soll nur die Ernsthaftigkeit dieser Suche von Staats wahrheiten verdeutlichen. Die Meinungsfreiheit bewährt sich im "Meinungsbildungs-Prozeß". Nicht umsonst wird hier ein Kernwort jener Judikative gebraucht, welche bereits als institutionalisierte Zentralinstanz staatlicher Wahrheitsfindung erkannt wurde. Meinungsfreiheit bedeutet den Staatsprozeß ohne Richter, weil sich die Meinungsfreiheit selbst zum Richter wird, indem aus ihr sich die Wahrheit erhebt. Daß diese immer wieder in Frage gestellt wird, zeigt das intellektuell redliche Wesen dieser Freiheit als einer Suche, es bedeutet gerade nicht Leugnung der Wahrheit, sondern nur ihrer allzuleicht gewonnenen Erkenntnis. Wenn es kein Grundrecht gibt im Katalog der Freiheiten, welches in solcher Intensität auf die Staatsform bezogen wird wie gerade die Meinungsfreiheit l54 , so muß hier das Zentrum der Demokratie-Legitima152 Bethge, H., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 5, Rn. 8 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. I, Rn. 3 ff.; Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Art. 5, Rn. 8. 153 Vgl. BVerfGE 7, 198 (208); 5,85 (134 f., 205). 154 Vgl. BVerfGE 5,85 (205); 7, 230 (234).

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

tion schlechthin liegen: im Gegenstand erkennender Vernunft, im Intellektualismus der Staatswahrheit. Die Meinungsfreiheit wird geschützt, nicht eine Willensfreiheit der Bürger, der Träger der Volkssouveränität. Zwar wird dann der Prozeß der freien Meinung mit einem Mal als ein solcher der Willensbildung in der Gemeinschaft gewertet, doch dieser wenig reflektierte Umschlag von Wahrheit in Willen, den. auch die Verfassungsrechtsprechung unkritisch mitträgt 155 , ist letztlich unvollziehbar: Gegenstände der Wahrheits suche können nicht einfach als Willensinhalte ausgegeben werden, nur das Umgekehrte läßt sich annehmen - Staatswahrheit erkannt durch Staatswillen. Der "in Meinungsfreiheit gebildete Staatswille" kann allenfalls eines leisten: der Staatswahrheit, die sich aus dem Meer der Meinungsfreiheiten erhebt, letzte Durchsetzungskraft verleihen. So bleibt denn Meinungsfreiheit selbst dort noch volle Wahrheitskategorie, wo sie als politisch wirkender Machtfaktor anerkannt wird; über dieses Grundrecht werden die Freiheiten insgesamt, wird der aus ihnen wachsende Staat nicht voluntarisiert. Nur eines ist normativ höchstrangig proklamiert: der Staatswille als Erkenntnisorgan und als Diener der Staatswahrheit.

b) In Staatsrichtung privilegierte Meinungsfreiheit

Die besondere Bedeutung dieses Grundrechts ist von Anfang an, in der Rechtsprechung vor allem, aus ihrer Staatsrichtung im umfassenden Sinn begründet worden: In dem Maß sind Meinungen besonders schutzwürdig, in welchem sie sich auf gemeinschaftsrelevante Erkenntnis 156 richten, insbesondere den institutionellen Wahrheitserkenntnis-, nicht den Willensbildungsvorgang beeinflussen oder gar tragen. Deutlicher hätte die Grundrechtsdogmatik nicht zum Ausdruck bringen können, was sie unter "Staatswahrheit" versteht: einen Gegenstand der Erkenntnis, dem Gemeinschafts-, Politik-, Staatsrelevanz eigen ist; denn Staatswillen "als solchen" kann der Einzelne mit seiner "Meinung" nicht bilden. Die Meinungsfreiheit der Demokratie definiert sich also aus der Staatsgegenständlichkeit ihres Schutzbereichs, in ihrem Kern, von dem aus dies, wie sich noch zeigen wird, in maximale Breite der Wahrheitssuche ausstrahlt. Es ist das gute Recht einer Staatsform, die Erkenntnis besonders zu schützen, die sie tragen soll, und wenn sie aus der Freiheit lebt, so muß sie eben - ihre Staatswahrheiten mehr hinnehmen als setzen. Eine demokratische Verfassung kann nicht als eine Magna Charta allgemeinen Erkenntnisschutzes verstanden werden, ihn gewährt sie selbst der Wissenschaft nur mit Blick auf die typischen Staatseffekte von deren Erkenntnissen i57 . EntscheiEtwa BVerfGE 7, 198 (208). Gegenstand des Schutzes der Meinungsfreiheit sind, jedenfalls und zentral, Stellungnahmen zu allgemein-grundsätzlichen Themen, während etwa beruflich gewerbliche Äußerungen, wie die Werbung, zunehmend dem Schutzbereich des Art. 12 GG zugeordnet werden, Schatz, R., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 12, Rn. 161 ff. 155

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XII. Staatswahrheit aus demokratischer Erkenntnis: Meinungsfreiheit

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dend aber bleibt, daß eine Ordnung, welche die Suche nach staatsgewendeten Wahrheiten im hier beschriebenen weiten Sinn mit besonderem Schutz umgibt, Staatswahrheiten nicht nur allgemein als Gegenstände der Erkenntnis anerkennt, sondern ihre Gewalt auf sie gründet. Notwendig müssen dann jene Instanzen herausgehoben, gesichert, im wahren Sinne des Wortes privilegiert werden, welche am nächsten bei solchen Staatswahrheiten stehen, sie zu ihrem Gegenstand machen, ihnen im eigentlichen Sinn des Wortes zu dienen bestimmt sind: die Presse von jeher, die Medien heute ganz allgemein. Dies sind die einzigen Institutionen, bei denen das historisch belastete Wort der Privilegien auch heute noch laufend gebraucht werden darf: sie sind eben Organe einer Staatswahrheit in fieri. Das verfassungsgerichtliche Wort von der "öffentlichen Aufgabe der Presse,,158 ist in der Dogmatik des Staatsrechts viel gescholten worden; in der Tat konnte es dort nur verunklaren, wo in Machtzielen, in Willen und Eingriffen gedacht wird. Die willensfern erscheinenden Medien, deren Macht auf die Verbreitung von Meinungen, also auf Wahrheitssuche, sich gründet, können im traditionellen Sinn des Wortes öffentliche Aufgaben gewiß nicht erfüllen; wohl aber gilt dies dann in vornehmster Weise, wenn sie als Kreationsorgane von Staatswahrheiten erkannt werden, aus deren meinungsfreiheitlicher Begrifflichkeit heraus. Dann ist es in der Demokratie selbstverständlich, daß diese Wahrheits suche eine höhere Aufgabe stellt als die der Wahrnehmung einer wirtschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Äußerungsfreiheit, welche der Berufsfreiheit oder allgemeiner Vereinigungsfreiheit zugeordnet werden mag 159 . Die Grundrechtsdogmatik hat die materielle, normative Höherrangigkeit der "politischen" Meinungsfreiheit gegenüber jenen wirtschaftlichen Äußerungsfreiheiten stets, meist stillschweigend, unterstellt 160 - zu Recht, geht es hier doch um Staatsgrundlagen und die Entfaltung von Staatswahrheiten. Was könnte öffentliche Aufgabe sein, wenn nicht diese es wäre? Wird damit nicht sogar die Qualität von notwendigen Staatsaufgaben 161 erreicht, auch wenn diese gerade nicht von Staats157 Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Auf!. 1992, Art. 5, Rn. 114; Schotz, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. III, Rn. 197 ff. 158 BVerfGE 10, 118 (121); 12, 113 (125 ff.); 20, 56 (97 ff.); 27, 71 (81 f.); 52, 283 (296); 66,116 (133); Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. I, 11, Rn. 118 ff. 159 Schotz, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 9, Rn. 8; ders., Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 283 ff. 160 Ursprünglich sollte die Meinungsfreiheit, nach einer Auffassung, sogar nur für allgemeine Äußerungen von grundlegender Bedeutung gelten, vgl. Rothenbücher; K., Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: VVDStRL 4 (1928), S. 6 ff.; vgl. neuerdings Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Art. 5, Rn. 2; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. I, 11, Rn. 55 e; Jarass, H. D.lPieroth, B., GG-Komm., 3. Aufl. 1995, Art. 5, Rn. 2 f. 161 Schmidt-Jortzig, E., Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdBStR (Hg. Isensee/ Kirchhof), Bd. VI, 1986, § 141, Rn. 6 ff.; Schachtschneider; K. A, Res publica res populi,

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C. Demokratie zwischen Wahrheitsstreben und Machtwille

organen erfüllt werden, liegt hier nicht eben deshalb schon in einer Ordnung der Freiheit ein Staatsaufgaben-Kern, weil die ganze Ordnung auf den so erkannten Wahrheiten aufruht? Und in diesem Sinne sind die Medien mit Recht als eine Staatsgewalt 162 bezeichnet worden, als ein Pouvoir der Wahrheitssuche. Wer Staatswahrheiten nicht anerkennt, den Staatswillen nicht hinter sie zurücktreten läßt, muß am Ende die Medienfreiheit aufgeben, mit ihr die Demokratie. Gefährdet wird sie zwar durch jene approximative Staatswahrheit, auf die sich so oft die Wirkung der Medien beschränkt, wenn sie nicht gar eine ihnen ebenfalls wesentliche Wahrheits auflösung im Namen der Wahrheit fördern. Doch dies ist eben der Wahrheitsbegriff der freien Erkenntnis, der willensgelösten Wahrheit, in deren Namen Zeitungsredaktionen in der Volksherrschaft stärker sind als Polizeiposten.

c) Meinungsfreiheit - Streben nach breitester Staatswahrheit

Hier erreicht die Freiheitsdynarnik eine Form der Staatswahrheit, welche auf Meinungsfreiheit gegründet ist: im Streben nach der weiten, der grundsätzlich unbegrenzten, einer in ihrer Suche überhaupt nicht begrenzbaren Wahrheit. Möglichst viel Meinungsfreiheit soll es in der Volksherrschaft geben, "genug von ihr" kann dort nie vorstellbar sein. Im Prozeß der vom Verfassungsgericht postulierten Wechselwirkungslehre schaukelt sie sich hoch, von Wahrheitserkenntnis 163 zu ebenfalls erkannter Staatsnotwendigkeit, von dort wieder zu höherer Erkenntnis - immer weiter hinein in die Staatswahrheit. Wenn für eine Freiheit das allzuoft kritisierte Wort gilt in dubio pro Libertate, so für die Meinungsfreiheit, hier ist es stets unangefochten geblieben. Es bedeutet ja fast schon eine intellektuelle Tautologie: im Zweifel für die Erkenntnis - was sollte anderes über sie ausgesagt werden, wenn gerade sie erst und in aller Regel diesen Zweifel hervorbringt? Möglichst viel Meinungsfreiheit im Staat - was kann dies aber anderes bedeuten als: möglichst weite, breite Staatswahrheiten als Basis dieser Ordnung? Hier gewinnt die Kategorie der Staatswahrheit eine Dimension, welche hinausreicht über Staatsrnacht und Staatswillen: Sie erweitert sich in die beiden großen Wahrheitsräume hinein, über welchen sich dieser Wahrheitsbegriff wölbt: die möglichen Gegenstände eines "Glaubens als Erkenntnis" und, vor allem in einer säkularisierten Welt, "Wahrheit als erkannte Realität". Meinungsfreiheit gewinnt dann ihre wahre Bedeutung als Erkenntnisfreiheit, und nur dann, wenn sie die ganze Staatlichkeit 1994, S. 602 ff.; Isensee, J., Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 57, Rn. 152 ff. 162 Bullinger; M., Die Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. VI, 1986, § 142, Rn. 34 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 617 f. 163 Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Art. 5, Rn. 75 m. weit. Nachw.

XII. Staatswahrheit aus demokratischer Erkenntnis: Meinungsfreiheit

145

der ganzen Wirklichkeit gegenüber öffnet, in dubio, wenn nämlich diese Realität auch nur irgendwie hineingenommen werden kann in die staatliche Ordnung, ratifiziert werden durch Staatsgewalt. Was "Glauben als Erkenntnis" bedeuten kann, hat die Demokratie eindrucksvoll gezeigt, vor allem in ihren normativen Glaubenswahrheiten, welche in diesem Hauptteil analysiert wurden, bis hin zu einer Meinungsfreiheit, welche politischen Willen mit Erkenntnis versöhnen, jenen in dieser aufgehen lassen will. Doch nicht vergessen werden darf das andere, große Erkenntnisziel, das gerade heute in den Vordergrund tritt: Der Staat als Ratifikationsordnung der Wirklichkeit; dort liegt das eigentliche Ende der Staatsgewalt im Sinne ihrer Erfüllung, es ist zugleich der Rahmen erkennbarer Staats wahrheit. Seit der enzyklopädischen Öffnung der Demokratie zur Realität, im Durchbruch aus ihren proklamierten Staatswahrheiten heraus, ist dies die eigentliche Größe der Staatsform immer gewesen, in ihr allein hat sie sich durchsetzen können: daß sie die Wirklichkeit zur Grundlage ihrer Ordnung gemacht hat, soweit diese für Menschen überhaupt erfaßbar erscheint, mit den Kräften der Ökonomie, bis zur Öffnung zu aller, oft erschreckender, Geistigkeit. Nichts Menschliches ist dieser Staatsform fremd gewesen, von ihren Anfängen her, deswegen hat die Revolutionszeit gerade die hellenistisch, erkenntnismäßig geprägte Menschlichkeit eines Terenz verehrt, denn sie wollte verkünden: Nichts von all dem darf uns fremd sein, was von Menschen erkannt werden kann. Deshalb muß hier der Versuch einer Staatsdogmatik aus der gesetzten Staatswahrheit enden; die Betrachtung muß die proklamierten Wahrheiten der Demokratie verlassen, die große Lektion der Wirklichkeit für das Recht, vor allem in der Volksherrschaft, zu lernen versuchen. Die Lehre von der demokratischen Staatswahrheit mündet in die Betrachtung des Abstands von Staatswillen und Wirklichkeit, aus dem Staatsgrundsatz heraus, daß dem Realen und seiner Erkennbarkeit der Sieg gebührt über den politischen Willen und seine Setzungen. Die Begründung der Staatswahrheit als rechtsdogmatische Kategorie sollte hier geleistet werden; nun gilt es eigentlich, die Wirklichkeit als deren Rahmen zu erkennen, dies aber sprengt den Rahmen dieser Betrachtung .... Noch ein Wort zur Demokratie und ihrer rechtlicchen Wahrheitserkenntnis: In dieser Realitätsöffnung der demokratischen Staatlichkeit bewährt sich im letzten auch deren tiefer Freiheitsglaube, ausgedrückt zuallererst in der Meinungsfreiheit. Von der Staatswahrheit konnte gesagt werden, sie sei immer die schwächere gegenüber einem Staatswillen, der ,,konzentriert wisse, worauf er sich richte", darin sogar erkenntnisstärker werde. Doch andererseits werden über die Meinungsfreiheit, in der schier grenzenlosen Weitung des Blicks über die Meere der Erkenntnis, immer neue Realitäten als Wahrheiten, mit all ihren faktischen Mächtigkeiten, hineingenommen in ein Recht, das sich damit sogar noch machtmäßig auflädt aus Erkenntnis. Die schwächere Staatswahrheit wird in Meinungsfreiheit die breitere und stärkere; solange es diese Freiheit gibt, ist die Demokratie nicht der geschlossene 10 Leisner

146

C. Demokratie zwischen Wahrheits streben und Machtwille

Wahrheitsstaat des Staatswillens, sondern die nun im wahren Sinne des Wortes wahre Staatsform, geöffnet zu einer schier grenzenlosen Wahrheit in der Freiheit der Erkenntnis. In der Meinungsfreiheit ist die Macht stets von neuem an ihre Grenzen gestoßen, ihre eigentlichen, wesentlichen, weil eben aus ihrer Staatswahrheit errichteten Schranken; und so hat denn die Staatsrnacht immer wieder ihren Prozeß geführt gegen ihre eigenen Grundlagen, die Staatswahrheiten.

2. Sokrates: der Prozeß der Staatswahrheit Die Demokratie darf sich nicht im sicheren Stolz bekannter Staatswahrheiten beruhigen; gerade an ihren Wanden erscheint immer wieder dieses Menetekel: daß ihr Wille sich nicht auflehnen darf gegen höhere Wahrheiten, auf denen sie ruht. Der Prozeß des Sokrates war die Ermordung einer Staatswahrheit durch die Staatswahrheit des Volkes. In diesem Sinn war er das staatsrechtlich furchtbarste Ereignis des Diesseits. Dieser Mann ,,hielt nicht die Wahrheiten des Staates, er hielt nicht zu ihnen in seinem Erkennen". Daß diese vermeintlichen Staatswahrheiten als "Götter der Stadt" zu seinen Anklägern werden konnten, ließ den ganzen Prozeß zu einem Verfahren erkannter und verkannter Staatswahrheiten werden: Die vom Volkswillen gesetzte Staatswahrheit trat an gegen die ruhige Erkenntniskritik der Philosophie, die vielen angesammelten, traditionalisierten Willens-Wahrheiten unzähliger Volksversammlungen wollten eine zur Wirklichkeit neu sich öffnende Wahrheitssuche unter ihren alten Steinen begraben. Im Prozeß des Sokrates hat die Demokratie eine Sünde begangen wider ihren Heiligen Geist, die ihr die Geschichte nie hat vergeben können. Es bleibt ihr nur immerwährende Buße, in ständig wiederholter Kritik an eigenem übermütigen "Staatswillen als Staatswahrheit". In der Person des Sokrates war das Erkennen erstmals ganz eingebrochen in die politische Welt, Wahrheiten hatten die alten Straßen der Macht fortgebaut, Erziehung aus Erkenntnis sollte den Staat tragen, nicht was die Volksversammlung in Staatshappening und Ostrakismus, in Vergnügen und Neid, in Ausdruck von Staatswillen, ja von "Staatsgefühl" verlangte. Der Schirlingsbecher des Philosophen ist zum Todesurteil über "Versammlungen" geworden, über die Masse als Volks willens- und Machtträger. Dabei konnte sich gerade der Philosoph des Erkennens auf Staatswahrheiten berufen, verehrte doch er wirklich die Götter der Stadt, weil er sie erkannte - anerkannte, nicht erfand zum Nutzen der Macht. In der Person des Sokrates ist die Staatswahrheitsfrage in dramatischer Weise an die Volksherrschaft herangetragen worden, tödlich für den Erkennenden, aber auch für eine Macht, die sich nur aus Erkennen legitimieren konnte, nur aus Gewalt aber sich legitimieren wollte. Dieser Prozeß des Sokrates wurde geführt von der Demokratie im Namen ihrer Wahrheiten, gegen das, was allein ihre Wahrheit sein konnte. Mit dieser Gestalt ist

XII. Staatswahrheit aus demokratischer Erkenntnis: Meinungsfreiheit

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die platonische Demokratie des Erkennens zur Herausforderung des Machtwillens der Mehrheit geworden. Die Machtanalyse des Erziehers des mazedonischen Prinzen und alle Politologie, welche dem Aristoteles darin gefolgt ist, konnte diese Herausforderung der Staatswahrheit nur umgehen, nicht eine Antwort finden auf sie. Aristoteles analysierte die Staatswahrheit der erkannten Macht, im Prozeß des Sokrates stand der Staat der erkannten Wahrheit vor Gericht, er wird andauern, solange demokratisch gedacht wird - oder bis ein Richter der römischen Macht sich wieder die Hände wäscht, nachdem er die Wahrheits frage offengelassen hat. Dann hinterfragt die Macht sich selbst. Mit dem Prozeß des Sokrates gegen die Freiheit staatsrechtlicher Erkenntnis hat die demokratische Meinungsfreiheit die metaphysische Wahrheitsdimension erreicht. Die Macht zwingt seither dem Juristen eine Entscheidung auf, ein Bekennen durch Erkennen, er muß "der Wahrheit Zeugnis geben". Die Macht wahren demokratischen Willens aber liegt darin, daß er das Staatswahrheits-Erkennen hinausträgt über seine eigenen Willenskategorien - hinauf zur Wahrheit. Hier endet der erste Teil dieser Untersuchung: "Wahrheit als Grundlage des Staatsrechts", vor allem in der Demokratie, erkannt in Staatswahrheit. Nun setzt die Antithese ein: "Diese Staatswahrheit - gegen die Wahrheit" in der Bürgergemeinschaft unserer Tage.

10*

D. Macht statt Wahrheit Die Staatswahrheit als Machtdimension, als ein Raum, aus dem sich die Herrschaft entfaltet und aus welchem sie ihre Legitimation gewinnt, wurde in ihren Umrissen zu Beginn der Untersuchung deutlich (B). Daß gerade demokratische Machtausübung sich in besonderer Weise der Wahrheit verpflichtet fühlt, daß damit demokratische Herrschaft geradezu in einer Staatsform der Wahrheit ausgeübt werden soll, daß hier der groß angelegte Versuch einer "wahren Macht" unternommen wird, wurde sodann deutlich (C). Wahrheit sollte stets, in allen Regimen, Machtlegitimation sein; in keinem aber ist diese Versuchung größer als in der Volksherrschaft. Diese demokratische Staatsform beruht jedoch zugleich auf Annahmen und Mechanismen, welche den Ersatz erkannter Wahrheit durch deren Setzung im Akt herrscherlichen Willens nahe1egen, die Macht von der Erkenntnis zum Willen verschieben; die Volkssouveränität ist eine solche große Versuchung. Das nächstliegende und stärkste Korrektiv einer derartigen Denaturierung des Erkannten durch das politisch Gewollte ist der Maßstab der Realität. Die Macht mag ihre "Wahrheit" wollen und setzen; dabei muß sie jedoch stets nahe an jener Realität bleiben, ohne deren Abbildung sie unglaubwürdig wird, die Überzeugungsmacht gerade einer Wahrheit verliert. So erhebt sich denn in allen Herrschaftsformen, vor allem aber in der Demokratie, welche ihrerseits auf der Realität des politischen Volkswillens gegründet ist, das große Problem der Realität als Machtgrenze, dogmatisch betrachtet: der Grenzen jener rechtlichen Fiktion, in welcher Staatswille zur normativen Staatswahrheit werden will. Dies alles aber schöpft die Problematik der Staatswahrheit bei weitem nicht aus, es zeigt nur Versuchungen, Tendenzen zu einem Machtersatz der Wahrheit. Nun gilt es, Phänomene zu untersuchen, in welchen heute ganz offen Macht gegen Wahrheit auftritt. Vielfältige Erscheinungen müssen dabei in den Blick genommen werden, dies kann stets nur in Erwähnungen und Fragestellungen geschehen, welche jeweils einer Vertiefung bedürfen, wie sie hier auch nicht annähernd geboten werden kann. Entscheidend ist aber, daß die Weite der Problematik, zugleich jedoch auch ihre Einheit, deutlich wird. Zu eng bliebe eine Betrachtung, welche nur staatliche Wahrheitsverbote beträfe; die freiheitliche Demokratie würde sich demgegenüber sogleich, und mit Überzeugungskraft, auf die ihr wesentliche Weltanschauungs-, Religions- und Ideologieneutralität 1 berufen, welche sie doch zur 1 Böckenförde, E.-W, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVDStRL 28 (1970), S. 33 (55 f.); v. Campenhausen, A., Staatskirchenrecht, 3. Auf!. 1996, S. 422 f.; Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, insb. S. 132 ff., 154 ff. 192 ff., 236 ff.; ders.,

I. Wahrheitsaneignung durch Macht

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Wahrheitsneutralität unbedingt verpflichte. Es gilt daher, wie so oft bei kritischer Betrachtung gegenwärtiger Herrschaftsformen, all den Phänomenen nachzugehen, in denen der Staat das, was man gemeinhin Wahrheit nennt, nicht in einem machtfernen Selbstand beläßt oder einfach als solches rezipiert, sondern sich ihm vielmehr in einer Weise nähert, welche die Wahrheit seiner Macht unterordnet, sie ihr dienstbar macht, sie in seinem Namen begrenzt. Immer dort, wo das Reich der politischen Herrschaft übergreift in das Reich der Wahrheit, ist sogleich Staatswahrheit. Dies darf nicht alles von vorneherein in rascher Kritik als illegitim erklärt werden; es mögen sich darin ja auch Praktiken finden, welche keine Machtausübung völlig vermeiden kann, und sei sie noch so bereit, sich der Wahrheit zu unterwerfen, diese nicht zu ersetzen. Deutlich muß jedoch stets die Gefahr bleiben, zu der all dies sich steigern kann: die große, hier immer wieder betonte Versuchung der Macht als Wahrheitsersatz.

I. Wahrheitsaneignung durch Macht Jede Macht muß den Kontakt mit der Wirklichkeit halten und pflegen, das zeigte sich schon2 . Daher ist es ihre legitime Aufgabe, Wahrheiten zu rezipieren, und als ein solches Regime versteht sich vor allem die Demokratie. Doch nur ein Schritt trennt solche Wahrheitsunterwerfung der Herrschaft von dem, was hier Wahrheitsappropriation genannt werden mag: Der Staat übernimmt Wahrheitsgehalte in seine Herrschaft, doch indem er sie kanalisierend in diese einführt, verändert er sie; es ist dann nicht mehr die "ganze", die staatsferne Wahrheit, welche er mit Hoheitsgewalt oder in schlichtem Staatshandeln weitergibt, verbreitet. Noch wichtiger aber ist in solchen Vorgängen ein anderes: Diese Wahrheitsaneignung führt zu einer Wahrheitsreduktion auf herrscherliche Bedürfnisse; der jeweils übernommene Wahrheitsausschnitt wird instrumentalisiert auf Staatsnützlichkeit, d. h. dann aber rasch: auf Herrschaftsverstärkung. Gerade weil der Staat nicht einfach nur ein großer Mechanismus der Wahrheitsfindung und Wahrheits bewahrung sein kann, muß er seine herrscherliche Wahrheitsauswahl treffen. Wie aber sollte dann sichergestellt werden, daß die angeeignete Wahrheit nicht zur Magd der Macht wird? Die große Gefahr der Machtaneignung durch die Staatsgewalt, im weitesten Sinne des Wortes, liegt gerade darin, daß sie sich vollzieht unter dem Mantel eines Dienstes am Richtigen, an dem, was nicht durch Herrschaftswillen gesetzt ist. Zur weltanschaulichen und konfessionellen Neutralität des Staates, Essener Gespräche 4, 1970, S. 9 ff.; Krüger, H., Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 160 ff., 178 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 4, Rn. 19 ff.; Maunz, Th., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 140, Rn. 43 ff.; Morlok, M., in: Dreier, GG-Komm., Bd. 1, 1996, Art. 4, Rn. 121 ff.; Zippelius, R., in: BK z. GG, Art. 4, Rn. 19 ff.; Listl, J., Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdBStKirchR (Hg. Listl/Pirson), Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 1411 2 a. 2 Vgl. oben C.

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D. Macht statt Wahrheit

Doch so wenig wie die Berufung auf ungeschriebene Freiheitsrechte 3 verhindern kann, daß gerade in ihrem Namen Freiheiten kanalisiert und damit machtmäßig instrumentalisiert werden, dies mit der Weihe des Außerstaatlichen, so wenig darf sich grundsätzliche Betrachtung mit der Berufung auf Überstaatlichkeit zufriedengeben, die nicht ausschließen kann, daß die Vereinnahmung der Wahrheit eben doch zu jenem negativen Vorgang wird, welcher seit Karl Marx. in aller Appropriation gesehen wird. Es gilt daher, gerade hier das kritische Bewußtsein derer zu schärfen, denen es um Wahrheit geht, nicht um Gewalt, und sei sie noch so sorgfältig hinter den hohen Fassaden der Wahrheit versteckt.

1. Staatsgelehrte Wahrheit a) Schule - Wahrheitsvermittlung oder Wahrheitssetzung?

Der modeme Staat sieht sich als Dienstleistungsunternehmen4 , für den Bürger und an der Wahrheit. Alle staatlichen Bildungsstätten verstehen sich als solche, kleine oder größere, Serviceunternehmen einer Wahrheit, welche der Staat denen vermittelt, die sonst Zugang zu solcher Erkenntnis nicht finden könnten; darin scheint nichts anderes zu liegen als eine vorsichtige Schaffung materieller Grundlagen einer "Freiheit der Wahrheitserkenntnis" s. Selbst dort noch, wo über Privatschulen oder -universitäten staatliche Aufsicht ausgeübt wird6 , direkt oder indirekt, 3 Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1786 ff.; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/ 1, S. 39 ff., 47 ff., 1025 f.; ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. V, 1992, § 108, Rn. 13 ff.; ders., Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, ebda., § 109, Rn. 36 ff.; ders., Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, JuS 1985, S. 329 (336 ff.); lsensee, J., Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, ebda., § 115, Rn. 34 ff.; Schwartländer; J. (Hg.), Menschenrechte, 1981; Böckenförde, E.-W/Spaemann, R. (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde, 1987; Starck, ehr., in: v. Mango1dt/K1ein, GG-Komm., Bd. 1,3. Auf!. 1985, Art. 1 Abs. 3 Rn. 107; Badura, P., Staatsrecht, 2. Auf!. 1996, Rn. C 12. 4 Leisner; W, Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 229 ff.; Herzog, R., Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 58, Rn. 17 ff.; Rüfner; W, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, ebda., § 80, Rn. 1 ff.; seit langem schon wird auch der Begriff ,,Daseinsvorsorge" verwendet für den immer mehr dienstleistenden (helfenden) Staat. S Häberle, P., Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (68 f.); Murswiek, D., Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. V, 1992, § 112, Rn. 26 ff., 81 ff. 6 Heckei, H./ Avenarius, H., Schulrechtskunde, 6. Auf!. 1986, S. 180 f.; Blau, K., Probleme und Bedeutung der Privatschulfreiheit, JA 1984, S. 463 (465 f.); Lemper; L.T., Privatschulfreiheit, Kap. 5, Die Rechtsgrundlagen der Privatschule im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht 1989, S. 87 (97 ff.); Müller; F., Das Recht der freien Schule nach dem GG, 2. Auf!. 1982; Maunz, Th., Gestaltungsfreiheit des Lehrers und Schulaufsicht des Staates, in: Das akzeptierte Grundgesetz, Festschr. f. Dürig, 1990, S. 269 (278); Pieroth, B./Schlink, B.,

I. Wahrheitsaneignung durch Macht

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etwa durch Anerkennung ihrer Abschlüsse, steht immer die gleiche Legitimation bereit: Der Staat hat im allgemeinen Interesse seriöse Bildung zu gewährleisten, ein hohes geistiges Niveau, von dem aus nur eines versucht werden kann - Wahrheitserkenntnis. All dies gilt nicht nur für Universitäten, welche ihre Legitimation zur Wahrheitslehre aus der Erforschung der Wahrheit ableiten? Auch dort, wo Lehre im Namen des Staates betrieben wird, an allen Grund- und weiterführenden Schulen, tritt, gerade in letzter Zeit, die Wahrheitssuche immer mehr in den Vordergrund. Lehrfreiheit wird für alle Pädagogen gefordert, auf welcher Stufe immer sie tätig sein mögen, als pädagogische Freiheit8 , aus dem Wesen dieses Bereichs heraus, in dem Menschen geführt werden müssen, in Wahrheit und zu dieser. Dahinter mag Gruppenegoismus stehen, der billige Versuch, mit hohen Worten höheres Einkommen zu erzielen, Höherstufungen im Namen der Wahrheit9 . Doch zugleich liegt darinund dies begründet den Ernst der Bewegung - der ethische Anspruch einer Anerkennung des Dienstes an der Wahrheit in allen staatlichen und staatlich überwachStaatsrecht II - Grundrechte, 12. Aufl. 1996, Rn. 750 f.; Gräschner; R., in: Dreier, GGKomm., Bd. 1, 1996, Art. 7, Rn. 47, 91. 7 So wie es Grundlage des geltenden Rechts der wissenschaftlichen Hochschulen ist, vgl. Pernice, I., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5 III, Rn. 1,4; Scholz, R., in: Maunz/ Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. III, Rn. 91; Smend, R., Das Recht der freien Meinungsäußerung (zur WRV), VVDStRL 4 [1928], S. 6 [67]: "Was sich als ernsthafter Versuch zur Ermittlung oder zur Lehre der wissenschaftlichen Wahrheit darstellt, ist Forschung und Lehre im Sinne des Art. 142"; vgl. aber Schulze-Fielitz, H., Freiheit der Wissenschaft, in: HdBVerfR (Hg. Benda u. a.), 2. Aufl. 1994, § 27, Rn. 17: "Offener sozialer Prozeß vielfältiger Kommunikationen". 8 Grundlegend Stock, M., Pädagogische Freiheit und politischer Auftrag der Schule, 1971; Schierholz, H., Pädagogische Freiheit und schulrechtliche Entwicklung, 1988; Fauser; P., Pädagogische Freiheit in Schule und Recht, 1986; Denninger; E., in: Alternativkommentar zum GG, 2. Aufl. 1989, Art. 5 Abs. 3 I, Rn. 28 (30) (Freiheit der Lehre auch für Lehrer an allgemeinbildenden Schulen); Oppermann, T., Freiheit von Forschung und Lehre, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 145, Rn. 38 (Lehrfreiheit auch für Fachhochschulprofessoren); einschränkender Zöbeley, G., Zur Geltung des Grundrechts auf Wissenschaftsfreiheit an Fachhochschulen, in: WissR 1985, S. 76 ff.; die überwiegende Meinung gesteht jedoch nur den Hochschulprofessoren die Freiheit der Lehre im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG zu, vgl. Pernice, 1., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5 III, Rn. 26; Scholz, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. III, Rn. 106 f., 171; Ossenbühl, F., Die pädagogische Freiheit und die Schulaufsicht, DVBI. 1982, S. 1157 (1158 f.); Pieroth, B., Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVBI. 1994, S. 949 (951 f.) mit Hinweisen auf frühere Begründungsversuche der Literatur zur pädagogischen Freiheit als Grundrecht im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG. 9 Kroll, w., Die Besoldung der Lehrer in den neuen Ländern, ZBR 1994, S. 299 ff.; Becker; H. J., Das Besoldungsrecht im Spiegel der neueren Kommentarliteratur - zugleich einige Bemerkungen zur besoldungsrechtlichen Gesamtsituation, RiA 1993, S. 66 ff.; Brosche, w., Dreißig Jahre Bundesbesoldungsgesetz - eine Bestandsaufnahme und Gedanken zur weiteren Entwicklung des Besoldungsrechts, RiA 1987, S. 248 ff.; Millack, Chr./Summer, R., Besoldungsrecht im Spiegel besoldungsrechterlicher Einflüsse, ZBR 1978, S. 138 ff.; Clemens, H.I Lantermann, H., Lehrerbesoldung (S. 166 ff.), in: Zum Besoldungsteil des 2. BesVNG unter Berücksichtigung der Besoldungserhöhung, 1975, ZBR 1975, S. 161 ff.

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D. Macht statt Wahrheit

ten Schulen. Gewisse Formen eines politischen Liberalismus finden hier die moralische Begründung für die Auflösung bisheriger Hochschulprivilegien in allgemeiner schulischer Wahrheitssuche. Doch die Realität ist eine andere. Schule als Veranstaltung der Wahrheitssuche mag ein fernes Ideal sein, auf das immer zu blicken ist. Doch auf dem Boden der Tatsachen ist sie zuallererst, und gerade heute, etwas anderes: Vorbereitung junger Menschen auf die immer härter fordernden Bedürfnisse ihres Berufs und der Gemeinschaft. Nach diesen Zielen wird der Stoff ausgewählt, auf ihre Erreichung sind alle Formen der Wissensverrnittlung, immer intensiver, gerichtet. Und diese Ziele sind keineswegs, durchgehend und ihrem Wesen nach, wahrheitsbestimmt, im Sinn einer Erkenntnis um ihrer selbst Willen. Gefragt sind hier Kenntnisse, nicht Erkenntnisse. Untergeordnet sind all diese Veranstaltungen einer letzten Nützlichkeit, deren Zwecke heute weitestgehend ökonomisch bestimmt werden 10. Doch selbst in jenen Räumen, in denen es der Gesellschaft und einem Staat, der ihr hier dienen will, noch um Bildung in einem früheren, wirtschaftsunabhängigen Sinn geht, wo also die Wahrheit als solche menschenformende geistige Kräfte entfalten könnte, war es nie deren Suche, sondern die einer allgemeineren, gesellschaftlichen und herrschaftlichen Nützlichkeit, aus der heraus "die Wahrheit gelehrt" werden sollte. Das humanistische Bildungsideal, nirgends besser als in den früheren deutschen Gymnasien vertreten, diente der Weitergabe geistiger und insbesondere historischer Wahrheitserkenntnisse, welche aber stets zugleich, ja vor allem, auf gesellschaftlich-herrschaftliche Nützlichkeit gerichtet waren: Von den Herrscherbeschreibungen des Plutarch bis zu der Herrschaftskritik des Tacitus, um nur die wichtigsten klassischen Bildungsschriften zu nennen, stand im Vordergrund immer die griechisch-römische Staatswahrheit der Optimatenrepublik, der feudal-aristokratischen und militärstaatlichen Ordnung. Selbst in Zeiten eines vermeintlich reinen Erkenntnisstrebens an allem, was sich Schule nannte, unter der unvergessenen Größe des deutschen Historismus, war Schulwahrheit - Staatswahrheit. Als dann die Ökonomie gegen diese Bildungsinhalte vordrang, in Liberalismus und Marxismus, setzte erst recht ein Nützlichkeitsdenken ein, auf weit tieferer geistiger Stufe. Offen entfernt man sich gerade heute von einer schulischen Wahrheitssuche, die man kaum mehr zu nennen wagt. Nun gilt es, jenen Zwecken zu dienen, welche die modemen Herrschenden setzen, die Wirtschaft zuallererst, aber auch ein Staat, der dem Bürger Dienste leisten will 11 , dieses Wort aber sagt bereits: sie sind nicht wahr, sondern nützlich. 10 Heckel, H.I Avenarius, H., Schulrechtskunde, 6. Aufl 1986, S. 41 f.; Stein, E.I Roell, M., Handbuch des Schulrechts, 1988, S. 59 ff.; vgl. aber Ossenbühl, F., Schule im Rechtsstaat, DÖV 1977, S. 801 (808); Feldhoff, J./ Jacke, N. / Simoleit, J., Schlüsselqualifikationen für neue Anforderungen in Betrieb und Gesellschaft, 1995; Groebner, P., Neues Lernen, neue Gesellschaft, 1995; Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (Hg.), Lernen in einer dynamischen und offenen Gesellschaft - die Rolle der Schule, 1996. 11 Vgl. Fn. 4.

I. Wahrheitsaneignung durch Macht

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So schiebt sich Nützlichkeitsdenken, gerade in der modemen Schule, auf breiter Front unter die äußeren Formen der Wahrheitsvermiulung. So unvereinbar aber dies steht seit dem deutschen Idealismus unverrückbar fest - Erkenntnisstreben und Nützlichkeitssuche sind, so unmöglich wird Nützlichkeitsschule als Wahrheitseinrichtung. Die Staatsgewalt ist jedoch weit davon entfernt, den Schleier der Wahrheitssuche um ihre Schulen fallen zu lassen. Hinter ihm kann sie höchst wirksame, weil indirekte und überaus langfristige Sozialgestaltung betreiben, und dies sogar noch im Namen einer Freiheit, in welcher "die Wirtschaft", "die Gesellschaft" ihr Ziele vorgeben können l2 , nichtstaatliche, nicht herrscherliche, wie es scheint. So wird dem jungen Menschen in den Schulen als Wahrheit geboten, was ihm nützen kann, und nach anderem verlangt ja weder er noch seine Eltern. Daß dies aber nicht "die Wahrheit" ist, sondern eine Nützlichkeitswahrheit, welche infiziert ist von allen ökonomischen und politischen Kräften der Interessenverfolgung - wer erkennt es schon, wer sieht hier gerade nicht die Staatswahrheit, ja die Gesellschaftswahrheit im Vormarsch? Indem die staatliche Schulgewalt das Nützlichkeitskriterium in der Stoffauswahl, heute nahezu durchgehend, entscheiden läßt, eignet sie sich, interessenverfolgend, "die Wahrheit" unter gewissen Gesichtspunkten an, ignoriert sie aber unter anderen, indem sie sogar ihre Suche durch Lehrpläne 13 unmöglich macht. So entsteht ein großes Wahrheits-Teilgeflecht, eben die appropriierte Staatswahrheit. Und Gegner wirtschaftlich-gesellschaftlicher Mächte können nicht ohne Recht wirtschaftliche Herrschaft im sozialen Staat l4 sehen - nein: wirtschaftliche und soziale Herrschaft, durch die Wahrheitsmutation der Nützlichkeit. 12 Pieroth, B., Erziehungsauftrag und Erziehungsrnaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVBI. 1994, S. 949 (950 ff.); Huber; P. M., Erziehungsauftrag und Erziehungsrnaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, BayVBI. 1994, S. 545 (550 ff.); Evers, H. U., Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979, S. 53 ff.; Häberle, P., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 40 ff., 50 ff.; Glotz, P.I Faber; K., Richtlinien und Grenzen des Grundgesetzes für das Bildungswesen, in: HdBVerfR (Hg. Benda u. a.), 2. Auf!. 1994, § 28, Rn. 20 f.; vgl. auch Fn. 313. Allerdings wird, soweit ersichtlich, nicht offen ausgesprochen, daß die Bildungsinhalte durch Gesellschaft oder Wirtschaft und deren Interessen gesteuert werden. Die Frage, inwieweit inhaltliche Ziele vorgegeben werden dürfen, wird regelmäßig unter dem Aspekt des Konflikts "elterliches Erziehungsrecht - staatliche Bestimmungsmacht" diskutiert. Dazu heißt es dann, daß die staatliche Verantwortung im Bildungsbereich auch bedeute, daß das Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen sei, daß aber die gesellschaftlichen Zielsetzungen und die Wertvorgaben breit gefächert ("offen") sein müßten. 13 Als Instrumente der Wahrheitssteuerung werden hier die, immer dichteren, Lehrpläne eingesetzt, vgl. zu diesen Bichler; A., Bildungsziele deutscher Lehrpläne, 1979; Baureis, U.I Heinzmann, M., Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, 1995; Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (Hg.), Empfehlungen zur Erstellung von Klassenlehrplänen in der Grundschule, 1986; dasselbe, Die Ausbildungspläne für die Seminarausbildung am Gymnasium in Bayern, 1992; Chott, P., Schulkonzepte zum "Lehren des Lernens", 1996; Vollstädt, w., Lehrpläne und Lehreralltag, 1995. 14 Vgl. dazu, wenn auch in anderer Sicht, Benda, E., Industrielle Herrschaft und sozialer Staat, 1966.

154

D. Macht statt Wahrheit

b) Universitäten: Vom Heiligtum der Erkenntnis zum Tempel der Staatswahrheit

Wahrheitsverändernde Erkenntnisvermittlung in staatlichen Schulen oder in gesellschaftlichen Bildungseinrichtungen, in denen ökonomisch-soziale Kräfte ihre politischen Zielvorgaben setzen, mag es immer, unter allen Regimen, gegeben haben, schon aus der Unmöglichkeit heraus, eine große Zahl zur reinen Wahrheit durch Zwang zu führen. Doch dramatisch hat sich diese Entwicklung verschärft im Hochschulbereich, und gerade in jenem Deutschland, dessen Universitäten einst wirklich Tempel der reinen Wahrheit sein sollten, als solche von einer Welt bewundert und ihr Vorbild. Staatswahrheit war für diese Universität im 19. Jahrhundert geradezu ein Unwort; sozialpolitische Kritik mochte ihr politische Einseitigkeit vorwerfen, doch ihre nahezu unbegrenzte Erkenntnisfreiheit hat sogar diese Kritik geistig und vor der Wahrheit auf hohem Niveau hoffähig gemacht, von Adolph Wagner bis Lujo Brentano l5 . Dies war ein Orden der Wahrheit, aber eine staatsfeme Zunft, ohne Kunden und Nützlichkeiten; vom alten Zünftewesen 16 war nur mehr eines geblieben: Die Universität als das gemeinsame Oratorium, in dem jene Wahrheit verehrt wurde, die gottähnlich sein sollte, so wie die Meister einst, nachdem sie ihre Werke vollendet und verkauft hatten, sich in Gebetssälen zur Gottesverehrung zusammenfanden. Nun hat die Wucht der ökonomischen, sozialen und politischen Interessen, in durchgehender Gemengelage, die Universität voll erfaßt, sie ist dabei, die Hochschulen zum Herrschaftsinstrument werden zu lassen, trotz allen Beteuerungen, ihre Autonomie solle verstärkt werdeni? Abgebaut, ja zerstört wird jedoch, andererseits, die Freiheit der Lehre in laufenden Verschulungen, vor allem aber durch verstärkte Trennung von einer Forschung l8 , welche grundsätzlich und weithin auch 15 Und dies geschah gerade aus der Universität heraus, vgl. Born, K. E., in: HdWW (Hg. Albers u. a.), Bd. 4, 1978, Stichwort: Kathedersozialisten, S. 462 ff. (Vertreter) m. weit. Nachw. zu Lujo Brentano und Adolph Wagner; Schmölders, G., in: HdWW (Hg. Albers u. a.), Bd. 9, Wirtschaftswissenschaften 111, Theorienbildung in der VWL, Geschichte, S. 425 (433 f.); Obermayer, K., Der Sozialstaat als Herausforderung zur Menschlichkeit, RdA 1979, S. 8 (9); Oppenheim, H. 8., Der Kathedersozialismus, 2. Aufl. 1873; v. Treitschke, H., Der Socialismus und seine Gönner, 1875. 16 Schwineköper, B. (Hg)., Gilden und Zünfte, 1985; Hübner, R., Grundzüge des deutschen Privatrechts, 2. Neudruck der 5. Aufl. Leipzig 1930, 1982, S. 143 ff. m. weit Nachw. 17 Weber, J., Mehr Autonomie für die Hochschulen, 1992; Volle, K., Mehr Autonomie für die Hochschulen - Veränderung der Entscheidungsstruktur, WissR 1995, S. 187 ff.; Karpen, U.lFreund, M., Hochschulgesetzgebung und Hochschulautonomie, 1992; Becker, W (Hg.), Hochschulautonomie - Privileg und Verpflichtung, 1989; AleweIl, K., Autonomie mit Augenmaß, 1993; Asche, K., Hochschulautonomie - Wissenschaftsfreiheit im Abseits, 1975; Knemeyer, F.-L., Hochschulautonomie/Hochschulverwaltung, in: HdBWissR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 1, 2. Aufl. 1994, Kap. 8, S. 238; Schiedermair, H., Universität als Selbstverwaltungskörperschaft, WissR 1988, S. 1 (15); Rupp, H. H., Hochschulische Selbstverwaltung, in: v. Mutius (Hg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, 1983, S. 919 ff., 926 ff.

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tatsächlich auf reine Wahrheitserkenntnis gerichtet ist. Was der neuen, nicht mehr in diesem Sinne forschungsbezogenen Lehre bleibt, ist nun: statt Wahrheit Staatswahrheit und Gesellschaftswahrheit. Führungspersönlichkeiten dieser Gesellschaft und ihrer Wirtschaft sollen Direktionszirkel an der Spitze der Universitäten bilden 19 , damit endlich überall dort zum Tragen komme, was bisher hartnäkkige Tradition verhindert hat: ein auswählendes Nützlichkeitsdenken, nach wirtschaftlichen, sozialpolitischen und politischen Interessenlagen. Mit Polizeigewalt wird den Lehrenden ihr Programm und dessen Inhalte im einzelnen nicht vorgeschrieben. Doch mit sanfter Gewalt werden sie, durch Kontrollen der Studenten, politisch orientierter Ministerien und profitorientierter Wirtschaft, in die nützliche Wahrheit gedrängt, in die utilitaristische Lehre, von dort in die nutzbringende Forschung. Dies mag nicht einem wohlforrnierten, systematisch antiuniversitären strategischen Konzept folgen, mit welchem politische Instanzen sich bewußt Wahrheitsmacht aneignen wollen; doch die Wirkungen laufen auf nichts anderes hinaus, auf lange Sicht zwar, aber unausweichlich: einst gesuchte und gelehrte reine Wahrheit wird zur Disposition des Staates gestellt, zur Verfügung der Herrschenden, mögen sie nun aus Regierungszentralen oder Vorstandsetagen wirken; und politische Akzentuierung schiebt sich rasch in diese Entwicklung, kann sich unschwer hinter solchen Nützlichkeitserwägungen verstecken; was wäre denn auch demokratische Politik anderes als das Nützliche des Augenblicks für die Vielen? Die Universitäten sind in Deutschland Staatseinrichtungen und so wird es bleiben. Einrichtungen der Wahrheits suche sind sie gewesen und werden daher nun zu Institutionen der Staatswahrheitssuche - weniger der Suche allerdings als der Vermittlung. Dies alles wird ablaufen auf der Höhe und mit dem noch immer unvergleichlichen Prestige der deutschen Universität, sie wird zum Tempel der Staatswahrheit. Etwas von staatsferner, staatsunnützer Wahrheit wird sie zu bewahren versuchen, und dieser stumme Kampf zwischen Wahrheit und Staatswahrheit wird die kommenden Jahrzehnte erfüllen. Als die preußischen Könige ihren Geheimräten in Berlin den Schwarzen Adlerorden verliehen, huldigte der Staat der Wahrheit; ein Jahrhundert später stehen zahllose Professoren an, um der Staatswahrheit zu huldigen.

18 Entgegen dem Verfassungsgebot von deren Einheit, vgl. Pemice, I., in: Dreier, GGKomm., Bd. I, 1996, Art. 5 III, Rn. 25 f.; Starck, eh., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GGKomm., Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 3, Rn. 226, 235; Oppermann, Th., Freiheit von Forschung und Lehre, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 145, Rn. 37 ff. 19 Dies ist der tiefere Sinn der nach amerikanischem Vorbild propagierten Boards im Leitungsbereich der Hochs~hulen.

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2. Wissenschaftsförderung als Wahrheitskauf

Geförderte Wahrheitssuche sucht die Wahrheit des Fördernden. Er kauft sich jenen Geist, dessen Erkenntnisse er als seine Wahrheit verkünden will. So war es und wird es bleiben, solange Mäzenatentum ein Begriff der Kunstgeschichte ist, nicht der Wissenschaft; und selbst die große Kunst verschrieb sich, in Florenz, Rom und anderswo, zu eigenem Gewinn in Machtfassaden der Machtwahrheit. Soll dem heutigen nützlichkeitsdurchwirkten, interessengeprägten Staat geglaubt werden, daß er mit einem Mal in interessenfreie Mittelverteilung übergehe? Wenn Förderung 20 der Wissenschaft Wahrheitserkenntnis erleichtern soll, liegt nicht darin ein besonders subtiles Wirken im Aufbau neuer Staatswahrheit - Wahrheitsappropriation durch gekaufte Wahrheit? Dieses böse Wort wird durch eine deutliche Entwicklung legitimiert: Wahrheitssuche in wissenschaftlicher Forschung läßt sich heute nicht mehr ohne staatlichen Mitteleinsatz erfolgreich betreiben. Wer aber zahlt, schafft an, auch hier; absurd wäre der Glaube, gerade eine politische, in allem und jedem auf Interessenverfolgung ausgerichtete Staatsgewalt bilde die große, geistige Ausnahme. So liegt denn auch die Forschung bereits fest im staatlichen Rahmen, bald wird sie in staatlicher Hand sein. Zauberwort ist das "Forschungsvorhaben,,21. Erkenntnis muß programmiert werden, dies mag in dem heute erreichten Forschungszustand eine Notwendigkeit sein. Damit aber entwickeln sich zahllose Formen einer "Antragologie", mit der geschickte Spezialisten immer neue Projekte ersinnen, sie in Anträge kleiden. Die projektierte Erkenntnis, die planifizierte Wahrheits suche muß notwendig enden in - Wahrheit nach Plan. Selbst wenn es hier noch zu "reiner" Erkenntnis kommt - der Weg dorthin ist gepflastert nicht nur mit den guten Vorsätzen der Forscher, sondern vor allem mit dem Gold des fördernden Staates und dessen Machtbelangen. Da muß dann alles überwacht und gebilligt werden, bis in den kleinsten Mittelansatz hinein wird das Verfahren der Wahrheitserkenntnis vorgegeben, seine Akteure werden vorbestimmt - alle werden zu "Assistenten nach Projekten". Die Staatsgewalt stellt die sächlichen und persönlichen Mittel der Wahrheitserkenntnis, damit kauft sie diese; und da soll der Bürger glauben, daß darin keine sozialpolitische oder ökonomische Interessenverfolgung liege, keine 20 Vgl. Oppermann, Th., Kultur, in: BMI/BMI (Hg.), Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge, 1983, Rn. 169 ff.; ders. (Fn. 311), Rn. 16,24; ders., Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 29 ff.,116 ff., 427 ff.; Steiner; U., Kulturpflege, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 86, Rn. 30; Krüger; H., Hochschule in der bundesstaatlichen Verfassungsordnung, in: HdBWissR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 1,2. Aufl. 1994, Kap. 4, S. 166 f., 176, 185; Schuster; H. J., ebda., Finanzen, Haushalt und Rechnungskontrolle, Kap. 39, S. 1062 ff.; Paulig, W, ebda., Forschungseinrichtungen der ..Blauen Liste", Kap. 51, S. 1325 ff.; BVerfGE 35,79 (114 f.); 88,129 (136 f.). 21 Krech, H., Großforschungseinrichtungen und AGF, in: HdBWissR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 2, 2. Aufl. 1996, Kap. 50, S. 1307 ff., insbes. 1315 ff.

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kanalisierte Wahrheit, keine Staatswahrheit? Niemand wird dies annehmen, doch es wird auch niemand protestieren, müßte er doch mit Mittelkürzung, ja Mittelentzug rechnen. Die Wissenschaftsappropriation über den Kauf wissenschaftlicher Erkenntnis vollzieht sich auf verschiedenen Stufen22 • Da müssen zuerst die Mittel global bereitgestellt werden, welche sodann für Gutachten, Studien, Veranstaltungen vergeben werden. Dies erfolgt meist in verhältnismäßig weitem Rahmen, doch auch darin bereits liegt eine Orientierung der Wahrheitserkenntnis, und es geschieht dies durchaus mit meist sogar unverhohlener, wenn auch nur allgemein angesprochener, politischer Zielsetzung. Programme der Regimekritik dürften kaum aufgelegt werden, naturwissenschaftliche Forschung wird dort schwerlich gefördert, wo politische Widerstände zu erwarten sind. Und doch wäre es Aufgabe der Wahrheitserforschung, jenseits all dieser oft rein modischen, jedenfalls aber nicht notwendig aus Wahrheitsstreben kommenden Tendenzen und Pressionen Erkenntnisse zu gewinnen. Wenn eine Regierung europäische Integration besonders fördert, wird sie entsprechende Mittel für Untersuchungen in diesem Bereich bereitstellen, oder sie wird umfangreiche Förderung von Erkenntnissen im Bereich des Umweltschutzes bieten, ähnlich verfahren heute bereits, in größtem Umfang, europäische Instanzen 23 . Förderprogramme sind Politik, meist sogar gezielt, bis hin zum politischen Alibi. In nicht wenigen Fakultäten beschränkt sich wissenschaftliche Arbeit heute auf Ausfüllung von Rahmen derart vorgegebener Wahrheitserkenntnis. Muß da nicht von Wahrheitskauf gesprochen werden? Private, die wissenschaftliche Untersuchungen über Gutachten vorantreiben möchten, deren Ergebnisse aber dem Staat, aus finanziellen oder anderen, politischen Gründen unbequem sind, sehen sich immer mehr der Schwierigkeit gegen22 Erichsen, H.-V. / Scherzberg, A., Verfassungsrechtliche Determinanten staatlicher Hochschulpolitik, NVwZ 1990, S. 8 (15 ff.); Schuster; H. J., Finanzen, Haushalt und Rechnungskontrolle, in: HdBWissR (Hg. Flärnig u. a.), Bd. 1,2. Aufl. 1994, Kap. 39, S. 1062 ff., insbes. 1070 ff.; Sandberger, G., Drittmittel, ebda., Kap. 40, S. 1089 ff.; Meinecke, M., Haushaltsrecht, ebda., Bd. 2, 2. Aufl. 1996, S. 1473 ff., insbes. 1480 ff. (zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen); Pemice, /., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5 III GG (Wissenschaft), Rn. 46 ff., 51 ff.; Oppennann, Th., Freiheit von Forschung und Lehre, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 145, Rn. 12 ff.; Maunz, Th., in: Maunz/Dürig, GGKomm., Art. 91 b, Rn. 30 ff. (Zusammenwirken von Bund und Ländern); Bullmann, A, Käufliche Wissenschaft, 1994. 23 Ullrich, H, Einzelstaatliche Förderung industrieller Forschung und Entwicklung zwischen Binnenmarkt und Technologiegemeinschaft, EWS 1991, S. 1 ff.; Cremer; w., Forschungssubventionen im Lichte des EGV, 1995; Zacher; H. F., Forschungsfreiheit und Forschungsförderung in Europa, in: Festsehr. f. Jahr, 1993, S. 199 ff.; Classen, C. D., Forschungsförderung durch die EG und Freiheit der Wissenschaft, WissR 1995, S. 97 ff.; Schmidt-Aßmann, E., Organisationsfragen der europäischen Forschungspolitik, in: Festsehr. f. Everling, Bd. 11, 1995, S. 1281 (1288 ff.); ders., Verfassungs- und europarechtliche Grundlagen, in: HdBWissR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 2, 2. Aufl. 1996, Kap. 66, S. 1621 ff., insbes. 1630 ff.; Glaesner, H. J., Außeruniversitäre Forschung in der europäischen Rechtsordnung, ebda., Kap. 47, S. 1281 ff.; Pemice, aaO., Rn. 6 ff.

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über, daß eine über Förderung weithin bereits gleichgeschaltete Wissenschaft nicht mehr bereit ist, ihre Anstrengungen der Wahrheitserkenntnis auf diese Bereiche zu richten oder auch - dorthin zu verkaufen, weil sie weit besser gefördert, bezahlt wird, wenn sie dem großen Auftraggeber Staat und seinen Wahrheiten zur Verfügung steht. Jeder, der vorurteilslos über längere Zeit den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland verfolgt und in Europa, wird solche Phänomene mit Bedauern feststellen, wenn auch, in Anerkennung deutscher Wissenschaftsförderung sei es gesagt, hierzulande weniger als in anderen Ländern. Tendenzen zur gekauften Staatswahrheit aber lassen sich nicht leugnen, und sie treten längst nicht nur dort in Erscheinung, wo etwa in völkerrechtlicher Forschung getreulich französische Staatswahrheit gesucht und gefunden wird. Denn es ist ja nicht nur der Mittelrahmen, die allgemeineren oder spezielleren Zwecksetzungen, welche hier politisch vorgegeben werden; in den meisten Fällen bedarf das geförderte Vorhaben auch noch der ausdrücklichen administrativen Zustimmung politisch verantwortlicher Instanzen 24 • Von ihnen darf nicht erwartet werden - ihre finanzielle Verantwortung gegenüber dem Bürger bereits schlösse es aus - daß sie hier Überlegungen ,,reiner Wahrheit" anstellen; sie haben vielmehr auf den Nutzen zu blicken, zu anderem wären sie meist gar nicht in der Lage. Damit aber kann es zu einer kapillaren Feinsteuerung des gesamten Forschungsgeschehens kommen, zu einer nicht nur im Ergebnis gekauften, sondern auch im Verfahren feingesteuerten Wahrheitssuche; und da dies meist die Ergebnisse bereits absehen läßt, wenn nicht vorwegnimmt, was geradezu im Wesen des Forschungsvorhabens 25 liegt, ist damit zugleich die gesuchte Staatswahrheit vorherbestimmt, vorausbezahlt. Kritik hält deutschen Professoren seit langem vor, sie schrieben Gutachten für jeden, der sie entsprechend bezahle; wenn dies zutreffen sollte, so zuallererst zugunsten des Staates, der wenn nicht am besten, so doch am häufigsten zahlt, ad hoc und laufend-institutionell, für "seine" Wahrheit. Mit einem naheliegenden Einwand läßt sich dies nicht widerlegen: daß die Mittelverteilung im einzelnen ja doch weithin "im Bereich der Wissenschaft selbst" erfolge, über staatlich bestellte Expertengremien oder Fakultäten26 • In beiden Fällen bleiben dem Staat vielfache, wenn auch indirekte Steuerungsmöglichkeiten, und es sind eben, erfahrungsgemäß, meist seine bewährten, vertrauten Ratgeber, welche sich in diesen Zirkeln wiederfinden; hier laufen Lehrstücke wissenschaftlicher Notablierung ab. Wer wollte übrigens von den Legisten der Macht, von ihren Ökonomen erwarten, daß sie ihr Widerstand entgegensetzen, im Namen der Wahrheit, noch dazu, wenn es ihnen so leicht gemacht wird, nach au24 Meusel, E. J., Außeruniversitäre Forschung in der Verfassung, in: HdBWiSSR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 2,2. Auf!. 1996, Kap. 46, S. 1235 (1273 f.). 25 Vgl. Fn. 21. 26 Krüger, H., Forschung, in: HdBWissR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 1,2. Auf!. 1994, Kap. 9, S. 262 (298 f., 305 f.).

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ßen im Namen dieses Wortes tätig zu werden - und dabei das Vor-Wort "Staats-" zu vergessen ... Wer Derartiges schreibt, von dem darf die Erklärung erwartet werden, daß ihm in einem langen Universitätsleben nie ein solcher Antrag abgelehnt wurde - schon weil er nie einen solchen gestellt hat. Politischer Idealismus in der Demokratie mag glauben, daß Wahrheit und ihre Erkenntnis nie Handelsware sein können. Hier sind sie es, und welche Erkenntnis wäre es nicht irgendwo und irgendwie immer gewesen. Die Gefahr liegt nicht darin, sondern in der Persönlichkeit des großen Förderers: Es ist nicht mehr der Maecenas des Horaz, dessen königliche Vorfahren dieser besingen konnte27 , sondern die große politisch-gesellschaftliche Herrschaftsmaschine, welche sich ihren Teil der gesellschaftlich nützlichen Wahrheit aneignet, zu ihrer eigenen Rechtfertigung wie zur Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Bürger - als Staatswahrheit. Und brächte nicht eine derart geförderte Universität, weit mehr noch als jede Schule, auf höchster Ebene höchsten Staatsnutzen hervor?

3. Der Staat als Wahrheits-Experte a) Der Experte - Träger von Kenntnissen, nicht von Erkenntnis

Kaum ein "besseres" Wort bietet unser politisches Vokabular als das des Experten 28 . "Gut" ist es vor allem darin, daß es über die Niederungen des Politischen hinausführt. Wo Politikmüdigkeit sich breit macht, Parteienverdrossenheit sich ausbreitet29 , wo die Flucht aus dem Vertrauen in die demokratischen Institutionen angetreten wird, in die sicheren Häfen hoher sachlicher Kompetenz - überall dort ist der Experte am Werk, von der Bundesbank bis zur Rechnungsprüfung, von Sachverständigenräten 30 bis zum Bundesverfassungsgericht. Die gemischte Staatsform des Aristoteles wird dadurch in wichtigen Bereichen realisiert, daß ihre aristokratischen Elemente nicht mehr durch Adelige von Geburt, sondern durch FürHoraz, Carmina, I, 1; 1. Becker,B., Veränderungen der Wissensproduktion und -verteilung durch Expertensysteme, 1994; Di Fabio, U., Verwaltungsentscheidung durch externen Sachverstand, Verw Arch. Bd. 81 (1990), S. 193 ff.; Bullmann, A., Käufliche Wissenschaft, 1994; Hitzler, R., Expertenwissen, 1994; Metzger, M., Das Expertenturn in der modernen Industriegesellschaft, Diss. Stuttgart 1993; Nennen, H.-U., Das Expertendilemma, 1996. 29 v. Amim, H. H., Demokratie ohne Volk, 1993; Schmitz, M., Politikversagen? Parteienverschleiß? Bürgerverdruß?, 1996; Waigel, Th., Stimmungsdemokratie und Politikverdrossenheit, 1993; Kerssenbrock, T./Bartels, H.-P., Abgewählt? 1994. 30 Schlecht, 0., Symposium 30 Jahre Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1995; Kämper, N., Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Diss. Bochum 1988; zum Sachverständigenrat für Umweltfragen: Schreiber, H./TImm, G., Im Dienste der Umwelt und Politik, 1990; vgl. auch v. Münch, 1., Staatsrecht, Bd. 1,5. Auf!. 1993, Rn. 703. 27 28

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sten des Geistes repräsentiert werden, bis hinunter in den "niederen Adel" der Spezialisten-Experten, seien sie beamtet oder nicht. Dabei fällt dann die Gewaltenteilung zwischen demokratisch und fachlich qualifizierten Pouvoirs sogar noch weithin mit der zwischen der Ersten und Zweiten Gewalt zusammen, womit wiederum Verfassungsharmonie hergestellt erscheint. Im Hintergrund werden die großen Staatskulissen der Bürokratie und der Technokratie sichtbar, sie wachsen in allen Dimensionen ständig an, wo das Staatstheater größer wird, vor allem in den europäischen Institutionen 3l . Expertokratie hat große sozialpolitische und ökonomische Zukunft. Kaum eine Rechtsfigur paßt so gut in die Behandlung des Themas der Staatswahrheit wie die des Experten. Ihm wird nicht nur privat geglaubt, sondern öffentliches Vertrauen zuteil. Der Bürger wendet sich an ihn als eine Quasi-Staatsinstanz, damit er vor den eigentlichen Staatsinstanzen obsiege. Als öffentliche Vertrauensperson ist der Experte, in allen Bereichen, etwas wie ein Staatsnotar, wie dieser sucht, findet und bestätigt er - Wahrheit. Der Experte ist wandelnder Beweis, lebendige Wahrheit, er drückt dieser auch, und immer öfter, geradezu ein Staatssiegel der Richtigkeit auf; was er sagt, ist Staatswahrheit oder kann es doch werden, findet jedenfalls Eingang in die staatliche Wahrheitsdiskussion. Experten sind Organe der Umsetzung außerstaatlicher Wahrheiten in staatsrelevante Räume. Damit aber werden sie zu hervorragenden Instrumenten der Wahrheitsaneignung durch den Staat, seien sie nun staatlich anerkannt, bestellt, angestellt - oder nur staatlich gehört. Alle diese Expertisen sollen öffentlich ratifizierte oder ratifizierbare Wahrheitsausprägungen bringen. Die Gefahr einer manipulierten Staatswahrheit liegt hier auf der Hand und schon im Expertenbegriff selbst; er ist bis zur Konturlosigkeit ausgeschliffen. In jener Staatsform der Demokratie, in welcher alle nicht nur nach politischen Rechten, sondern möglichst auch nach Vermögen und Intelligenz gleich sein oder sich doch gleichbehandelt sehen wollen, schlägt diese allgemeine Egalitätstendenz auch auf die höheren Stufen durch, auf denen Wahrheitserkenntnis stattfinden sollte: Längst nicht mehr erträglich ist ein Expertenprivileg von Universitätsordinarien, auch schon nicht mehr das der universitären Sachverständigen32 . Sachverständig ist jeder, der sich einmal mit einer Materie beschäftigt hat, in welchem Zusammenhang immer, als Richter, Parlamentarier, wirtschaftlicher Interessenvertreter. Eine be31 Die Literatur zum Europarecht sieht die Ausweitung des europäischen Verwaltungsapparates allerdings eher positiv, als Erleichterung von Problemlösungen. Zur oft verwirrenden Vielfalt der europäischen Institutionen vgl. Oppermann, Th., Europarecht, 1991, § 5, Rn. 204 ff.; Bleckmann, A., Europarecht, 6. Auf!. 1997, Rn. 205 ff.; Schweitzer; M.lHummer; w., Europarecht, 5. Auf!. 1996, Rn. 126 ff.; vgl. auch Rabe, H.-i., Über Europa, AnwBI. 1994, S. 263 ff. 32 Vgl. Stelkens, P., in: Stelkens IBonkl Sachs, VwVfG-Komm., 4. Auf!. 1993, Rn. 48 ff.; Kopp, F.O., VwGO-Komm., 10. Auf!. 1994, § 98, Rn. 13 ff.; Greger; R., in: Zöller, ZPOKomm., 20. Auf!. 1997, § 402 Rz. 6; Schmidt, R., Einführung in das Umweltrecht, 4. Auf!. 1995, Rn. 14.

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denkliche Entwicklung hat sich vollzogen: Der Expertenbegriff ist von dem der wissenschaftlichen Unabhängigkeit in reiner Erkenntnissuche völlig abgekoppelt worden. Sachverständigenräte und Expertengruppen werden vom Staat in einiger Beliebigkeit zusammengestellt33 , oft nach persönlichen Bekanntschaften, nach politischen Kriterien, wie dies ganz offen in den Anhörungen34 der Parlamente geschieht. "Wirklicher Experte" ist immer häufiger schon, wer einer bestimmten ökonomischen oder politischen Richtung zuzuordnen ist, sich dort aktiv gezeigt hat. Da gibt es Sachverständigenräte, in denen Interessenvertreter ebenso sitzen wie Parlamentarier und Beamte, Kommissionen, die deshalb ausdrücklich "unabhängig" genannt werden, damit nicht allzu offenkundig werde, daß ihre Mitglieder nichts anderes fortsetzen als ihre übliche, durchaus meist weisungsgebundene, interessenvertretende Tätigkeit. Diese gesamte Expertokratie hat sich weithin außerhalb des Rechts, ja sogar der üblichen Interessenstrukturen entwickelt. Dies alles wäre hinnehmbar, läge darin nichts als eine Form ständestaatlicher Einbeziehung unterschiedlicher Interessen und würde es auch offen als solche bezeichnet. Versteckt wird es jedoch hinter einem Schleier von vermeintlichen oder wirklichen Kenntnissen, und eines ist nun sicher nicht das primäre Ziel: Erkenntnis einer Wahrheit. Der Bürger erwartet vom Experten doch zuallererst, daß er sage, wie etwas sei, nicht wie es sein solle. Mit Analyse und damit Wahrheitserkenntnis sollte alles beginnen, aus ihr erst sodann der Vorschlag herauswachsen. Der eigentliche Experte ist primär ein Organ der Wahrheitserkenntnis, erst in zweiter Linie ein solches der Wahrheitsanwendung, ihrer Umsetzung in richtige Lösungen. Dieser Zweitakt wird jedoch völlig überdeckt durch die Figur des Experten als einer Instanz des sachlich begründeten und gebildeten, daher emstzunehmenden Vorschlags. Damit wird der Expertenbegriff bereits denaturiert, es entstehen "politische Instanzen im Namen der Wahrheit", als ihr Sprachrohr, damit aber wiederum - Organe der Staatswahrheit. Schon in Expertenthematik und Expertenauswahl erfolgt, auf breiter Front, Wahrheitsappropriation durch den Staat, in Expertentätigkeit setzt sie sich um in weitere Staatswahrheiten. Experte ist, wer von etwas gehöit hat und daher gehört wird, nicht wer von Kenntnis fortschreitet zu Erkenntnis.

33 Vgl. etwa zum "Sachverständigenrat Schlanker Staat" Meyer-Teschendorf, G.lHofmann, H., Zwischenergebnisse des Sachverständigenrats "Schlanker Staat", DÖV 1997, S. 268 f. 34 Dazu Steinberg, R., Parlament und organisierte Interessen, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis (Hg. Schneider/Zeh), 1989, § 7, Rn. 24 ff.; Schütfemeyer, S.S., Öffentliche Anhörungen, ebda., § 42, Rn. 1 ff.; Mengel, H.-i., Die Funktion der parlamentarischen Anhörung im Gesetzgebungsprozeß, DÖV 1983, S. 226 ff.; Tenhaef, R., Öffentliche Anhörungen der Fachausschüsse des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Entscheidungsprozeß bis zur 10. Wahlperiode, Diss. Bonn 1992.

11 Lei,ner

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b) Das Vertrauen in den Staat als Experten

Der Sachverständige als solcher wirkt allein durch seinen Sachverstand, durch sein Wissen, durch die Wahrheit, welche er verkündet, die aber nicht "seine Wahrheit" ist. Der Staat dagegen ist der anerkannte Experte, wenn er als solcher auftritt. Dies aber bedeutet, von vorneherein und wesentlich, für ihn die Versuchung, die Sachverständigenmacht des Verstandes durch eine Expertengewalt der Staatswahrheit zu ersetzen, die sich, was ja ihrem Wesen entspricht, als Wahrheit ausgibt. Niemand wird behaupten, staatliche Instanzen seien doch nur sachverständig wie private Experten. In der Wirklichkeit schon trifft dies nicht zu: Dem Staat wird, noch immer, ein höheres und ein ganz anderes Vertrauen entgegengebracht als außerstaatlichen Instanzen. Deshalb konnten etwa technische Anweisungen durch Verwaltungsvorschriften im Umweltrecht von den Gerichten behandelt werden als "vorgezogene Sachverständigengutachten,,35, welche es sonst, so pauschal anerkannt, nicht geben könnte; und gegen sie war und ist praktisch ein Gegenbeweis äußerst schwierig. Das ganze System der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen36, deren Aussagen eben schwerer wiegen, vor Gericht und Verwaltung, als die eines privaten Sachverstandes, der sich nur auf sein außerstaatlich erworbenes, staatlich nicht geprüftes, nicht zertifiziertes Wissen berufen kann, beruhen auf der ungeschriebenen aber allseits beachteten Herrschaftsmaxime, daß dem Staat etwas zusteht wie eine Anerkennungsgewalt des Sachverstands; und ist dies nicht nur, letztlich, Ausdruck der staatlichen Diplomierungsgewalt im gesamten Bildungsbereich? Die Bürgerschaft bringt den staatlichen Instanzen ein besonderes Vertrauen in ihre Sachkenntnis entgegen; der Staat muß dies auch gegen sich gelten lassen, wenn er dieses Vertrauen enttäuscht. Von seinen beamteten Trägem darf nicht nur, es muß erwartet werden, daß sie sich durch ihr gesamtes Verhalten, im Dienst und außerhalb desselben, des "besonderen Vertrauens würdig erweisen", welches die Bürgerschaft in sie setzt - so normiert es das Beamtenrecht von jeher37 . Dieses be35 Breuer, R., Umweltschutzrecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Hg. Badura u. a.), 10. Aufl. 1995, 5. Abschn., Rn. 179 ff.; Stelkens, P., in: Stelkens IBonkl Sachs, VwVfGKomm., 4. Aufl. 1993, § 26, Rn. 20 ff.; Kopp, F. 0., VwVfG-Komm., 6. Aufl. 1996, § 24, Rn. 11; ders., VwGO-Komm., 10. Aufl. 1994, § 98, Rn. 3 a m. weit. Nachw. 36 Vgl. dazu Bock, R., Die öffentliche Bestellung und Vereidigung nach § 36 GewO, in: Bayerlein/Baer, Praxishandbuch Sachverständigenrecht, 2. Aufl. 1996, § 3, Rn. 1 ff.; Wellmann, C. R., Der Sachverständige in der Praxis, 5. Aufl. 1988, Anm. 5.1. ff.; Müller, K., Der Sachverständige im gerichtlichen Verfahren, 3. Aufl. 1988, Rn. 159 f.; Bleutge, P., Der öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige, BB 1973, S. 1416 ff.; Stober, R., Der öffentlich bestellte Sachverständige zwischen beruflicher Bindung und Deregulierung, 1991, insbes. S. 65 ff.; Frieling, G./ Jessnitzer, K., Der gerichtliche Sachverständige, 10. Aufl. 1992; vgl. auch Fn. 335. 37 Vgl. Schütz, E., Beamtenrecht des Bundes und der Länder, § 57 LBG NRW, Rn. 6 ff.; Hilg, G., Beamtenrecht, 3. Aufl. 1990, S. 342 f.; Scheerbarth, H. W./Bauschke, H. J./ Schmidt, L., Beamtenrecht, 6. Aufl. 1992, § 15, I, 3.

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sondere Vertrauen genießt vor allem eine Beamtenschaft, welche nach der Verfassung in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, berufen ist, hoheitliche, herrscherliehe Gewalt zum Einsatz zu bringen38 . Das Regierungssystem bescheinigt sich also selbst, daß es besonderes Vertrauen genießt, weil es besondere Macht einsetzt. Nun mag man einwenden, all dies beziehe sich nicht in erster Linie auf Qualität und damit auf Richtigkeits-, ja Wahrheitsgehalt beamtlicher Entscheidungen; hier gehe es vielmehr um menschliche Qualitäten, vor allem um die moralische Integrität der Träger der Staatsgewalt39 . Doch so eng ist dieses Vertrauen nicht zu fassen. Es erstreckt sich zugleich auf Vor-, Aus- und Fortbildung 40 der öffentlichen Bediensteten, auf ihren Wissensstand, der auch noch immer als besonders hoch erscheint, auf eine Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Unabhängigkeit, welche ihnen die richtige Entscheidung eher gestatten als Vertretern privater Interessen - von dort aber ist es nur ein Schritt zum Vertrauen in eine höhere Erkenntnismöglichkeit der Wahrheit, der Sachverhalte, welche den staatlichen Entscheidungen zugrundeliegen, durch die Träger der Staatsgewalt. Auf einem solchen Wahrheitsvertrauen beruht die Autorität des Staates schlechthin, auch in der Demokratie, hier trifft sich die "Autorität von oben" mit dem "Vertrauen von unten" in besonderer Weise. Dieses Vertrauensprivileg wird nun aber rasch und notwendig zur Versuchung eines staatlichen Wahrheitsprivilegs, im Wirken des staatlichen Sachverstandes. Wenn Vertrauen gut, Kontrolle aber besser ist - hier fehlt jede Möglichkeit einer Überwachung, nicht nur, weil der Staat sie ja nur gegenüber sich selbst leisten könnte, sondern weil sachverständige Wahrheitserkenntnis zwar wieder durch einen Obergutachter kontrolliert werden mag, dies aber wäre meist wieder eine Staatsinstanz. Wo immer also dem staatlichen Sachverstand Vertrauen in seine erhöhte Erkenntnisfähigkeit und damit in seine höhere Erkenntnis entgegengebracht wird, herrscht Vertrauen in Staatsorgan-Wahrheit - in Staatswahrheit. Mit Notwendigkeit muß dies zu wahrheitsselektionierenden Versuchen der Aufstellung eigenständiger Kriterien der Staatswahrheit führen und dann zu besonderen Inhalten derselben. Einfach ist die Voraussage, wodurch sie sich von einer ,,reineren", wenn nicht reinen, staatsfernen Wahrheit unterscheiden: durch jenen politischen Bezug, in den alles tritt, was die Hände der Herrschenden berühren. Das Wort des Regierungschefs und des Ministers 41 schafft die große Wahrheitsrichtung, 38 Kunig, P. H., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 33, Rn. 47 ff.; Battis, u., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 33, Rn. 45 ff., 55 ff.; Lecheler, H., Der öffentliche Dienst, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 72, Rn. 23 ff.; ders., Die Verfassungspflicht der Dienstherrn zum Einsatz von Beamten bei der Erfüllung staatlicher Daueraufgaben, 1990, S. 5 ff. 39 Vgl. Schütz, E., Beamtenrecht des Bundes und der Länder, § 57 LBG NRW, Rn. 6; Weiss, H.I Niedermaier, F./ Summer, R.lZängl, S., Bayerisches Beamtengesetz, Komm., Art. 62, Anm. 2; Fürst, W, GKÖD, K § 52, Rn. 4 ff.; Wiese, W, Beamtenrecht, 3. Aufl. 1988,

S.l12f. 40 Vgl. Leisner, W, Legitimation des Berufsbearntentums aus der Aufgabenerfüllung, 1988, S. 154 ff. 11*

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emsig begeben sich Heerscharen von Sachverständigen, Wissenschaftlern und Verwaltern auf diesen Weg, immer getragen durch das besondere Vertrauen der Bürgerschaft in ihre erhöhte Fähigkeit, "die Wahrheit" zu erkennen. So sind denn die staatlichen und staatlich bestellten, überwachten Sachverständigen etwas wie eine virtuelle Personifikation der Staatswahrheit; sie wirken überall, vor allem aber in jenen europäischen Instanzen, in denen ihre Wahrheiten dann in erstaunlicher Unterschiedlichkeit aufeinanderprallen, gerade dort, wo naturwissenschaftliche Erkenntnis doch sichere, einheitliche Wahrheit erwarten ließe: Da gibt es nicht nur eine deutsche, englische und französische Einschätzung etwa von Seuchengefahren42 , sondern sogar unterschiedliche nationale "Erkenntnisse", auf denen sie beruhen, zahllose und immer wieder neu aufbrechende nationale Staatswahrheiten, welche dann, mühsam, zu einer europäischen Superwahrheit integriert werden, zu einer kontinentweiten herrscherlichen Super-Staatswahrheit. Wahrheit mag stets im letzten unfaßbar bleiben. Greifbar wird sie in den erkennenden Menschen, in ihrer Wahrheits fähigkeit; am größten ist diese beim Staat, der sie sich mit Machtentscheidung bescheinigt.

c) Der staatsintegrierte Sachverstand

Die Gefahr "Staatswahrheit durch staatlichen Sachverstand" hielte sich in Grenzen, wäre sie nur auf wenige staatliche Erkenntnisorgane beschränkt, welche ihrerseits weitgehend unabhängig wären und in ihren Aussagen von anderen Unabhängigen, den Richtern, sachlich auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen hin kontrolliert würden. Das Gegenteil jedoch ist der Fall und entwickelt sich immer stärker: Die Figur des staatsintegrierten Experten ist in zahllosen Spielarten, in normativen und faktischen Gestaltungen, überall Wirklichkeit, es ist fast, als bringe sie immer neue Erscheinungsformen ihrer selbst hervor. Die Wahrheits gefahr liegt gerade in dieser Vielfalt, die sich auf Wissen, Sachverstand und Wahrheitsgehalt der Aussagen im einzelnen kaum wirksam kontrollieren läßt, weil der Grad der Abhängigkeit von den Entscheidungszentren staatlicher Macht normativ nur selten deutlich festgelegt und auch dann im einzelnen nicht wirksam zu kontrollieren ist. Deutlich ist aber ein Zug zum nicht nur staatsintegrierten, sondern staatsangestellten Sachverständigen. Er liegt im Wesen jener möglichst durchgehenden ÜberUnterordnung, welche das gesamte Administrativsystem43 kennzeichnet: Wenn der 41 Von der selbständigen Leitungsgewalt des Ressortministers bis zur Richtliniengewalt des Kanzlers, vgl. Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 640 ff.; Kröger, K., Die Ministerverantwortlichkeit in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1972, insbes. S. 74 ff.; Maurer, H., Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, Festschr. f. Thieme, 1993, S. 123 ff. 42 Vgl. dazu etwa die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Rinderseuche BSE, AgrarR 1995, S. 143,263.

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Beamte als solcher, der öffentliche Bedienstete im Angestelltenverhältnis, als Experte staatsintern oder nach außen und vor Gericht eingesetzt wird, so muß er die Erkenntnisse einer "vorgesetzten Staatswahrheit" verkünden, Gegenteiliges möglichst mit Schweigen übergehen. Zwar wird immer wieder versucht, Sachverständigen wenigstens sachliche, wenn schon nicht persönliche Unabhängigkeit normativ zu sichern, wie etwa den kommunalen Bewertungsfachleuten bei der Enteignung von Grundstücken44 . Doch in der Praxis läuft dies meist schon deshalb leer, weil die persönliche Unabhängigkeit hier fehlt: Der Bürgermeister der enteignenden Kommune oder ihr Stadtrat mögen diesen Bediensteten keine Anweisungen geben können; wie aber soll verhindert werden, daß sie ihr sachverständiges Wissen bei der Ermittlung der "Preis wahrheit" der expropriierten Grundstücke nicht zugunsten ihrer Kommune einsetzen? Private Gegengutachten zeigen immer wieder erstaunliche Differenzen. Vom staats angestellten Experten darf eben nicht erwartet werden, daß er, der ein Leben lang in Über-Unterordnung des Dienstrechts sich bewährt hat, nun mit einem Mal zum unabhängigen Richter wird, wo er doch, und neuerdings immer weitergehend, der Versetzungsgewalt45 und, vor allem, der Beförderungsmacht des Dienstherrn ausgeliefert ist. Dessen Wahrheit wird er also verkünden; das Gegenteil würde die Kraft wahrheitssuchender Heiligkeit voraussetzen. Fort setzt sich dies, ganz natürlich, in staatlichen Forschungsinstituten46 und Prüfungsämtern, häufig in organisatorisch unausscheidbarer Gemengelage mit der Staatsverwaltung. Faktisch mag hier Machtferne und damit Wahrheitsnähe sich steigern, wenn Forschungskarriere zur Wahrheitskarriere wird. Doch da ist noch immer der öffentliche Bedienstetenstatus und damit ein Denken in administrativen Kategorien, welches durch Haushaltsabhängigkeiten laufend verstärkt wird, in der Psychologie der Handelnden wie im Umfang der zur Wahrheitserkenntnis einzusetzenden Mittel. Staatsinstitute sind und bleiben Staatsbehörden, organisatorisch und personalpolitisch ist hier die Wahrheit der politischen Macht unterworfen 47 , 43 Das BVerfG spricht bereits im Bremer Personalvertretungsurteil (E 9, 268 [287]) von dieser wesentlichen "Über-Unterordnung". 44 V gl. Stich, R., in: Schlichter / Stich, Berliner Komm. z. BauGB, 2. Auf!. 1995, § 192, Rn. 1 ff., § 193, Rn. 1 ff.; Krautzberger, M., in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB-Komm., 5. Auf!. 1996, § 192, Rn. 1 ff., § 193, Rn. 1 ff.; Dieterich, H., in: Emst/Zinkahn/Bie1enberg, BauGB-Komm., § 192, Rn. 1 ff., § 193, Rn. 1 ff. 45 Hilg, G., Beamtenrecht, 3. Auf!. 1990, S. 255 f.; Monhemius, J., Beamtenrecht, 1995, Rn. 183 ff.; Schnellenbach, H., Beamtenrecht in der Praxis, 3. Auf!. 1994, Rn. 66 (68 ff.); vgl. jetzt das Gesetz zur Reform des öffentlichen Dienstrechts vom 24. 2. 1997, BGBL I 1997, S. 322 ff., Art. 1, Änderung des Beamtenrechtsrahmengesetzes, §§ 17, 18, Art. 2, Änderung des Bundesbeamtengestzes, §§ 26, 27. 46 Wesphalen, K., Reformpolitik durch Innovationsagenturen - zur beratenden Funktion von Staatsinstituten, RdJB 1979, S. 300 ff. 47 Dazu Wesphalen, aaü., S. 302 ff. zu Status, Funktion und Arbeitsweise von Staatsinstituten; Schorb, A. 0., Vorurteile gegen ein Staatsinstitut - zur Rolle des Institutes für Bildungsforschung, Bayer. Staatszeitung vom 18.2.1977, S. 12.

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die sich ihre eigenen Organe der Staatswahrheit ständig weiter aufbaut, in größtem Umfang, unter einem Deckmantel wissenschaftlicher Unabhängigkeit, die sie doch gerade hier laufend und geradezu systematisch unterläuft. Von dort führt der Weg in die schier unübersehbaren, weil immer weniger formalisierten Expertenzirkel, welche unter dem Schutz begrifflich aussagearmer Worte gebildet werden, von der "Arbeitsgruppe" über die "Expertenrunde,,48 zum "Workshop". In sie werden die staatlichen Experten entsandt, als Träger von Staatswahrheiten, ausgewählt nach ihrer Bereitwilligkeit, diese zu vertreten, hinter einer möglichst hohen Fassade reinen Wahrheitsstrebens. Immer mehr degeneriert hier die Wahrheitserforschung offen zur politischen Entscheidungsfindung, diese beruft sich dabei auch noch auf eine spezifische, sachlich legitimierende Wahrheitsnähe. So verborgen wie die Wahrheit dem Erkennenden stets bleibt, so unerkennbar sind für den Außenstehenden schon die staatlichen, administrativen, parlamentarischen und parastaatlichen, die rein staatlichen und die gemischten staatlich-gesellschaftlichen Zirkel dieser Wahrheitserkenntnis. Eines nur läßt sich mit Sicherheit für sie alle feststellen: Mögen hier wirklich kenntnisreiche, intelligente Persönlichkeiten zusammentreten oder solche, denen das Amt den Sachverstand verleiht, mögen diese Staatsexperten ergänzt werden durch jene staatsgekaufte universitäre Wissenschaft, von der bereits die Rede war - das Ergebnis kann immer nur eines sein: ein undefinierbares Gemenge von Ganz-, Halb- und Viertelwahrheiten, welche letztere durch die Macht des hoheitlichen Worts, durch die Autorität der Staats stellung oder des Volksmandats, zur "Wahrheit ergänzt" werden, "zur ganzen, reinen Wahrheit". Unangreifbar sind die Träger dieser Staatswahrheit, die hier wie kaum irgendwo in Erscheinung tritt - und doch in ihrem Wahrheitsgehalt meist unfaßbar bleibt. Wer sie in Zweifel ziehen wollte, müßte sich vergehen am politischen heiligen Geist der Staatlichkeit, auch in der Demokratie, vor allem hier: Intellektuelle Qualifikation hoher Staatsbeamter müßte er in Zweifel ziehen, die geistigen Qualitäten ·der Vertreter des Volkes49 , die doch der Souverän in seinem Wahlakt bestätigt hat. Intellektueller, universitärer Hochmut würde ihm sogleich bescheinigt, und nur 48 Vor allem in interministerieller Zusammenarbeit oder im Föderalbereich der "Dritten Ebene", vgl. zu dieser Klatt, H., Bundestag und Landesparlamente, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis (Hg. Schneider/Zeh), § 67, Rn. 58 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 755 ff., 759; zur Diskussion um eine Dritte Ebene in Form eines Länderrates vgl. Ade, M., Der Länderrat, 1976; Dichgans, H., Das Unbehagen in der Bundesrepublik, 1968, S. 227 ff.; Laufer; H., in: Laufer-Pötz, Föderalismus, 1973, S. 143 ff.; Leisner; W, Föderalismus als kooperativer Dialog, ZRP 1969, S. 14 ff.; Esterbauer; F., Stellung und Reform des Bundesrates in der Bundesrepublik und Österreich, BayVBl. 1980, S. 225 (228 f.). 49 Die Diskussion um die Legitimation des Bayerischen Senats hat durch solche Kritik eine für diesen gefährliche Wendung genommen, vgl. Ziemske, B., Der Senat: Bayerns zukünftige Europakammer, BayVBl. 1997, S. 428; Mößle, W, Der Bayerische Senat und seine geistesgeschichtlichen Grundlagen, BayVBl. 1995, S. 1 ff.; Schmitt Glaeser; W/Klein, B., Der Bayerische Senat, JöR 39 (1990), S. 105 ff.

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weniges kann so vernichtend wirken in einer Gesellschaft der nunmehr ja auch in steigendem Maß intellektuell Gleichen, sich jedenfalls gleich Fühlenden. Diesen Teufelskreis von Politik und Wahrheitsfindung kann niemand durchbrechen, am wenigsten jener Wissenschaftsnotabel 5o, der vielleicht noch am ehesten die geistigen und die persönlichen Qualitäten einer Selbständigkeit aufweist, welche ihm die Kraft geben könnten, einer staatlichen "Wahrheitspolitik" entgegenzutreten. Doch er ist staatlich geprüft, bewährt, geehrt, und aus zahllosen Begegnungen ist er ein Freund der hohen Administratoren und der Vertreter des Volkes. "Man kennt sich doch" und kann daher leicht "zusammen die Wahrheit erkennen". Diese ganze Entwicklung ist derart erstaunlich, ja unglaublich, sie vollzieht sich so langsam und zugleich sicher, daß sie keinen Widerstand mehr gegen die Staatswahrheit aufkommen läßt, welche hier einen zugleich großen und langen Marsch durch die Institutionen angetreten hat. Überdies stützt sie sich ja auch auf die stärkste Legitimation, die es in der Demokratie der flächendeckenden Politisierungen geben kann: daß wenigstens hier sich Bollwerke aufbauen gegen radikale Parteipolitik, gegen einen politischen Willen, der offen und brutal an die Stelle der Erkenntnis treten möchte. Und wer wollte leugnen, daß hier viel Wahrheitsgeneigtes doch immer wieder hervorgebracht wird, in diesen Räumen politikverdünnter Expertentätigkeit. So staatszuverlässig ist sie geworden, daß ihr Vertrauen bis in die höchsten Entscheidungsebenen entgegengebracht wird, wo immer mehr Sachverständigenkommissionen politische Leitentscheidungen verdeutlichen, begründen, vorwegnehmen - ersetzen. Gegen all dies wird sich niemand mehr wenden in der Machtordnung der Demokratie, denn die Folge könnte nur ein massiver Verlust von Staatswahrheit sein, mit ihr aber würden die Reste der Wahrheitserkenntnis ausziehen aus dem politischen Raum, zurück bliebe nur mehr die brutale Macht des erkenntnisfernen Willens. Doch all dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eben nicht "die Wahrheit" ist, welche hier gesucht wird, sondern - die Staatswahrheit. Und ihre besondere Natur kommt darin vor allem zum Ausdruck, daß es nicht nur gilt, sie zu suchen, sondern durchzusetzen, in ~inem ,,Reich der Wahrheit".

d) Privatisierung sachverständiger Wahrheitssuche ?

Der große Zug zur Privatisierung des Staates, seiner Machtäußerungen51 vor allem, könnte eine bedeutsame Chance bieten, Sachverständigentätigkeit der Suche 50 Insbes. die Spitzen vertreter öffentlicher Wissenschaftsorganisationen, wie etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft u.ä.m.; vgl. dazu Letzelter, F., Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in: HdBWissR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 2, 2. Auf!. 1996, Kap. 54, S. l381 ff.; Meusel, E.-J., Die Max-Planck-Gesellschaft, ebda., Kap. 48, S. 1293; vgl. auch Kap. 49, S. l301 ff. (Die Fraunhofer-Gesellschaft); Kap. 55, S. 1401 (Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD)); Kap. 56, S. 1409 ff. (Die Alexander von Humboldt-Stiftung).

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reinerer, politikfernerer Wahrheit wieder anzunähern. Das Vertrauen in den staatlichen Sachverstand ist hier ja an einem entscheidenden Punkt erschüttert worden und damit das Zutrauen der Gemeinschaft in eine, wie immer gefundene, Staatswahrheit. Die große bürokratische, herrscherliche Staatsorganisation erschien doch den Bürgern lange Zeit als Ausdruck einer "Organisationswahrheit", so wie die Normen der Demokratie 52 als normative Wahrheiten verehrt wurden. Bürokratiekritik und Überzeugung von der Vorzüglichkeit private Managements im öffentlichen Bereich53 haben zu einer Vertrauensverlagerung, ja zu neuen vermeintlichen oder wirklichen Erkenntnissen von "Organisationswahrheiten" geführt. Die private Wirtschaft arbeitet nicht nur effizienter, sie findet mehr an Wahrheiten, vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, und sie setzt diese nicht nur um, sondern durch. "Wahrheitsfindung durch Leistung,,54, "Wahrheit durch Effizienz,,55 sind zum Credo einer Generation geworden, sie haben die Staatsrnacht und die Staatswahrheit erschüttert, im Osten zerstört. Ein ganz großer, ein wirklicher Wahrheitskampf hat hier stattgefunden, "Effizienz gegen Ideologie" bedeutete nichts anderes. Könnte a11 dies nicht, in die freiheitliche Demokratie übertragen, in ihr immer weiter entwickelt, die "verkrusteten Strukturen staatlicher Wahrheitsfindung" aufbrechen, damit die Staatswahrheit selbst der "privaten Wahrheit" öffnen, welche so viel näher stehen würde bei der reineren, herrschaftsgelösten Wahrheit? Dies alles mögen große Hoffnungen sein und als solche noch weiter wirken. Doch abgesehen davon, daß Bürokratien und Staatsexperten dem einen zähen, hinhaltenden Widerstand entgegensetzen, so daß die staatlichen Wahrheits wege noch längst nicht verlassen sind - jene Wirtschaft, deren freiere Anstrengungen einen neuen Aufschwung zur reineren Wahrheit bringen sollten, gerade sie ruft nach staatlicher Wahrheits suche, welche sie von eigenen Anstrengungen entlasten soll56. 51 Vgl. dazu allg. aus letzter Zeit Schuppert, G., Privatisierung und Regulierung, 1996; Papst, H.-J., Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung im Fernstraßenbau, Diss. Köln 1996; Völnicke, ehr., Privatisierung öffentlicher Leistungen in Deutschland, 1996; v. Amim, H. H., Rechtsfragen der Privatisierung, 1995; Kulas, A., Privatisierung hoheitlicher Verwaltung, 1996; Sack, F., Privatisierung staatlicher Kontrolle, 1995; Ipsen, J., Privatisierung öffentlicher Aufgaben, 1994; v. Hagemeister, A., Die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Diss. Innsbruck 1992. 52 Vgl. oben C, VI. 53 Vgl. dazu weiterführend Grosskettler, H., Privatisierung, Deregulierung und Entbürokratisierung, 1993; Donges, J. B., Reform der öffentlichen Verwaltung, 1991; Schmidt, J., Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Verwaltung, 4. Auf!. 1992; Gomas, J.I Beyer, W, Betriebswirtschaft in der öffentlichen Verwaltung, 1991; Goller, J., Verwaltungsmanagement, 1996; Hieber, F., Öffentliche Betriebswirtschaftslehre, 2. Auf!. 1996; Hill, H., Qualitäts- und erfolgsorientiertes Verwaltungsmanagement, 1993. 54 Vgl. Wenger, A., Leistungsanreize für Beamte in Form von individuellen Zulagen, Diss. Tübingen 1995; Klages, H. (Hg.), Leistungsmotivation und Leistungsanreize im öffentlichen Dienst, 1985. 55 Dazu aus letzter Zeit Vrenegor, R.J., Kameralistik versus Effizienz, Diss. Köln 1996; Friedich-Ebert-StiJtung (Hg.), Innovative Kommunalverwaltung, 1996; Eidenmüller, H., Effizienz als Rechtsprinzip, Diss. München 1996.

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Darin kommt bereits die Grundproblematik einer "Privatisierung der Staatswahrheit", ihrer Distanzierung von politischer Macht, deutlich zum Ausdruck: Auch den Auftraggebern solcher privater Wahrheitserkenntnis geht es eben nicht um jene reinere Wahrheit, welcher sie sich sodann unterzuordnen bereit wären, wie dies noch in Anfangszeiten naturwissenschaftlicher Erkenntnis die technische Umsetzung zu üben bereit war. Nunmehr herrscht auch hier eine Nützlichkeit, nicht zwar die der politisch-herrscherlichen Durchsetzung, sondern die des Profits, im Kampf um ökonomisches Überleben. Privatisierte Staatswahrheitssuche bedeutet daher, in all ihren Formen, nur eines: den Wechsel des richtungweisenden Herrn der Erkenntnis, oder, noch besser, den Eintritt eines zweiten Herrn in die hohen Hallen der Staatswahrheitssuche. Hier wird wirtschaftliche Herrschaft Wirklichkeit, wie sie schon seit langem prognostiziert und bekämpft wird57 . Die Experten unterwerfen sich neuen, weiteren Mächten. In den Machtzwischenräumen zwischen Politik und Wirtschaft, die sich überall auftun und sich immer mehr zu Antagonismen steigern, mag die sachverständige Wahrheitserkenntnis Räume neuer Unabhängigkeit finden und in ihnen geschickt Wirtschaftswahrheit gegen Staatswahrheit ausspielen. Darin liegt eine Chance größerer reiner Erkenntnisfreiheit. Doch es bleibt abzuwarten, ob nicht auch diese Mächtigkeit des wirtschaftsorientierten Sachverstands eines Tages doch in Staatsintegration endet, oder in einer anderen, noch schwerer lastenden Machtintegration, in welcher das Gold den Geist endgültig sich kauft. Eines jedenfalls sollte dieses Kapitel über die Staatswahrheit der Experten zeigen: Jener Sachverstand, aus dem allein tiefere Erkenntnis kommt, ist zugleich auch deren Bastard, er kann leicht zu ihrem Zerstörer werden. Gegen Expertokratie, welche Staatswahrheit erkennt und durchsetzt, könnte eine Institution wohl schrankenbildend wirken: die unabhängige richterliche Gewalt. In vielen Bereichen fühlt sich der Richter nicht als Experte und ruft einen "Sachverstand", dem er aber nicht zu folgen verpflichtet ist58 . Doch darin schwächt sich die Herrschaft der Experten kaum ab, eher wird sie noch stärker, mit all ihrer politischen Nützlichkeit - und damit die Staatswahrheit. Der Richter als solcher ist ja bereits ein eigenartig institutionalisiertes Instrument der Staatswahrheitsfindung 59 . Gerade in dieser Tätigkeit wird er nun auch noch durch die Wahrheitsfindung der 56 Deutlich wird es in der Diskussion um die "Grundlagenforschung", die Gedenfalls auch) vom Staat geleistet werden müsse, vgl. Trute, H.-H., Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 97 ff., 390 ff., 545 ff. und passim; Meusel, E.-J., Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, 1992, S. 2 ff.; Krüger; H., Forschung, in: HdBWissR (Hg. Flämig u. a.), Bd. 1,2. Aufl. 1994, Kap. 9, S. 261 (263 f.). 57 Vor allem, im Gefolge der Bewegung von 1968, unter dem Stichwort der "Kapitalabhängigkeit" der (staatlichen) Wissenschaft. 58 Kopp, F. 0., VwGO-Komm., 10. Auf]. 1994, § 86, Rn. 9, § 108, Rn. 9 f.; Broß, S., Richter und Sachverständige, dargest. anhand ausgewählter Probleme des Zivilprozesses, ZZP 1989, S. 413 (416 ff.), Rudolph, K., Die Zusammenarbeit des Richters und des Sachverständigen, WuV 1988, S. 33 ff.; krit. Sendler; H., Richter und Sachverständige, NJW 1986, S. 2907 (2908 f.). 59 Vgl. oben C, IX.

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Experten unterstützt, allenfalls tritt er, wenn er ihnen nicht folgt, als höherer Staatsexperte gegen ihren Sachverstand an. Im übrigen und in unzähligen täglichen Urteilen ist aber gerade er es, welcher den Experten die Weihe der justiziellen Staatswahrheit, des letzten Wortes verleiht, dem nicht mehr widersprochen werden darf. In der Judikative vollzieht sich daher, auf all diesen Wegen, nicht Abschwächung, sondern entscheidende Verstärkung der Expertokratie.

4. Staatspropaganda und Öffentlichkeitsarbeit als Staatswahrheit Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda war eine furchtbare Institution, nicht nur in seinem Leiter und dessen Wirken, sondern bereits durch seinen Begriff, der noch immer weiterwirkt, wenn auch mit anderen Worten und verdeckt durch die Sicherheit, daß eine freiheitliche Demokratie zu seinen Inhalten nie zurückkehren wird. Doch auch hier irren Demokraten, wenn sie sich, wie so oft in Vergangenheitsbewältigung, vor allem eigene Vorzüglichkeit bescheinigen wollen. Volksaufklärung wird ja auch heute noch betrieben, in vielfachen Formen, fast scheint es, als höre die Unmündigkeit des vielgepriesenen Souveräns nie auf. Seine gefahrdende politische Sensibilität und seine intellektuelle Schwäche müssen laufend geschützt werden in Aufklärung, gegen "Volksverhetzung"; davon wird noch die Rede sein. In all dem ging es damals und geht es heute, hinter verschiedenen Vorzeichen, immer nur um eines: um Staatswahrheit, welche durch Staatspropaganda verbreitet wird und bereits in dieser selbst liegt, in ihrem Begriff. Durch verharmlosende Begriffe aus dem Repertoire der Freiheit wird dies verschleiert. Nun soll dem Staat eben die Macht zustehen, Öffentlichkeitsarbeit60 zu betreiben, wie könnte sie, wie könnten die noch stärker verharmlosenden Worte der Public Relations etwas enthalten wie eine wahrheitsaufzwingende Regimepropaganda früherer Zeit? Wenn man sich nur ihr nicht allzu sehr nähert, wenn man "arbeitet", anstatt zu schreien, wenn es um Vertrauen des Bürgers geht, nicht um Unterwerfung und Ausmerzung, dann scheint doch sogar jene Wahrheitsgefahr gebannt, welche einst, als massive Staatswahrheit verkündet, Unzählige in den Tod getrieben hat - den viele sogar noch freudig gestorben sind, für eine "Wahrheit". 60 Schürmann, F., Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, 1992; Schreiber; w., Wahlkampf, Wahlrecht und Wahl verfahren, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis (Hg. Schneider/Zeh), 1989, § 12, Rn. 13; Püttner; G., Verwaltungslehre, 2. Autl 1989, S. 367 f.; Häherle, P., Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Partei- und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff.; Jerschke, H. u., Rechtliche Verpflichtung zur Öffentlichkeit der Regierungsarbeit, ZParl 3 (1972), S. 516 ff.; Leisner; w., Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966; BVerfGE 44, 125 (141 ff.); 63, 230 (242 ff.); StaatsGH B.-W. ESVGH 31, 81 (85); SaarVerfG NJW 1980, S. 2181 f.; auch BVerfGE 14, 121 (132 f.); 20, 56 (98 ff.); 48, 271 (279 f.).

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Die äußeren Fonnen der Verkündung der Staatswahrheit mögen von besonderem freiheitsgefährdendem Gewicht sein; Gefahr droht aber aus jeder Staatsäußerung, die sich als Wahrheitsbekundung gibt, als eine solche wirken und angenommen werden will. Hier eröffnet sich nun der Staatswahrheit und ihrer Befestigung in zahllosen Punkten ein schier unübersehbares Feld. Öffentlichkeitsarbeit dürfen alle Staatsinstanzen ja betreiben. Ihre Erkenntnisse müssen sie sogar der Bürgerschaft mitteilen, diese warnen und damit vorbereiten auf ihre Freiheitsbetätigung. Dies reicht von gezielten Warnungen vor gefährlichen Sekten61 über allgemeine Berichte zur polizeilichen Sicherheitslage bis hin zu "einfacher" Infonnation über Staatstätigkeit, Staatswahrheitssuche und deren Ergebnisse im öffentlichen Bereich. Alle diese Aktivitäten dürfen nicht nur gesehen werden in einer Verengung zu Verhaltensratschlägen, als Anregungen zur Betätigung des Bürgerwillens und damit als ein politisches Drängen, bis hin zum sanften Zwang, der den Einsatz der Hoheitsgewalt ankündigt. In all dem liegt ja zuallererst, aus der Begrifflichkeit dieser Öffentlichkeitsarbeit heraus, die Mitteilung von angeblichen oder wirklichen Erkenntrrissen. Gerade wenn damit die Entscheidung des Bürgers nicht vorweggenommen, sondern nur ennöglicht werden soll, können solche Infonnationen und Ratschläge inhaltlich nichts anderes sein als Mitteilungen von Erkenntnissen, verdeckt wieder durch ein anderes, völlig konturloses Wort: die Infonnation. Mit ihr ist es ja gelungen, der Propaganda das politische Odium der Vergangenheit zu nehmen. Die stärkste, schier psychologische Gewalt anwendende Werbung beruft sich noch immer auf diesen Tatsachen-Mitteilungsinhalt62 - auf eine Wahrheit, in deren Namen sie dann volle Meinungsfreiheit für sich in Anspruch nimmt63 . Wenn also auch der Staat vor gefährlichen Vereinigungen warnt, so kann darin, wie es scheint, schon deshalb nicht ohne weiteres eine Freiheitsverletzung liegen, weil es ja dem Warnungsempfänger immer noch freisteht, aus diesen Tatsachenmitteilungen, diesen Tatsachen-Wahrheiten eigene Folgerungen zu ziehen. Und doch zeigt das vieldiskutierte Beispiel der Sekten64 ein gefährliches Gemenge von Staatswahrheit, Staatswille und reinem Erkennen: Der Staat teilt zu61 Vgl. Muckel, St., Staatliche Warnung vor sog. Jugendsekten, JA 1995, S. 1343 ff.; Discher; Th., Mittelbarer Eingriff, Gesetzesvorbehalt, Verwaltungskompetenz: Die Jugendsekten-Entscheidungen, JuS 1993, S. 463 ff.; Meyn, K.-U., Warnung der Bundesregierung vor Jugendsekten, JuS 1990, S. 630 ff.; BVerwGE 82, 76 ff.; BVerwG NJW 1991, S. 1770 ff.; NJW 1992, S. 2496 ff.; BVerfG NJW 1989, S. 3296 ff. 62 Lerche, P., Werbung und Verfassung, 1967, S. 76 ff.; Starck, Ch., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG-Komm., Bd. 1,3. Auf). 1985, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 18; Hatje, A., Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 1993. 63 Degenhart, Ch., in: BK z. GG, Art. 5 I, 11, Rn. 138, 153 f.; Schmidt-Jortzig, E., Meinungs- und Informationsfreiheit, in: HdBStR (Hg. Isensee/ Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 141, Rn. 21 und dort Fn. 59. 64 v. Münch, 1., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Auf). 1992, Art. 4, Rn. 58 ff., m. zahlr. Nachw.; Badura, P., Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 31 ff., 58 ff.; Fleischer; Th., Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, Diss.

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nächst mit, die Mitglieder der betreffenden Vereinigung hätten bestimmte Straftaten begangen, sie entsprächen den Zielsetzungen dieser Gemeinschaft. Der Schwerpunkt liegt damit eindeutig auf reiner Tatsachenweitergabe, es handelt sich jedoch um Tatsachenerkenntnis, um eine Wahrheit, welche später als eine historische gewertet werden wird. Daran schließt sich dann aber die entscheidende Aussage an, diese Gemeinschaft sei eine Sekte, nicht eine Religionsgemeinschaft im Sinne der Verfassung 65 ; denn die Überzeugungen, in deren Namen sie zu handeln vorgebe, seien keine religiös-weltanschaulichen, sondern sie verfolge überwiegend ökonomische, politische oder schlechthin kriminelle Ziele. Diese Aussage aber ist nicht primär eine politische, sondern eine religionswissenschaftliche, schon in diesem Sinn ist sie Ausdruck einer - vermeintlichen - Wahrheitserkenntnis. Indem hier das Streben der Sekte nach religiöser Wahrheit bestritten wird, nimmt der Staat für sich auch noch in Anspruch, diesen letzteren Begriff zu definieren. Wenn darin nicht der Anspruch einer Staats-Wahrheit liegt, daß sogar der Umkreis der höchsten Wahrheiten, die der Mensch annimmt, noch bestimmt werden soll, so haben Wahrheit und Staatswahrheit schlechthin jeden Sinn verloren. Alle diese Gefahrenwarnungen, mögen sie nun im religiösen, politischen oder in anderen Bereichen erfolgen, weisen mithin einen hohen Grad beanspruchter Wahrheitserkenntnis auf, welche darin weitergegeben werden soll. Dies läßt sich verfolgen bis in die Niederungen der Warnungen vor gewissen gewerblichen Aktivitäten, etwa aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung66 . Auch hier geht es regelmäßig um Tatsachenfeststellungen und damit um Gegenstände intellektuellen Erkennens. Selbst der Gefahr- und der Risikobegrif~7 als solcher, insbesondere die Wahrscheinlichkeit68 des Eintritts des schädigenden Ereignisses, hat eindeutigen Erkenntnisgehalt, er ist mit Wahrheitskategorien zu - verifizieren oder eben zu falsifizieren.

Bochum 1989; v. Campenhausen, A., Neue Religionen im Abendland, ZevKR 25 (1980), S. 135 (150 ff.). 65 Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 467 ff.; Maunz, Th., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 140, Rn. 18 ff.; Jurina, J., Die Religionsgemeinschaften mit privatrechtlichem Rechtsstatus, in: HdBStKirchR (Hg. ListllPirson), Bd. I, 2. Auf!. 1994, § 23 1.; Starosta, Th., Religionsgemeinschaften und wirtschaftliche Betätigung, Diss. Hamburg 1986, S. 38 ff. 66 Spaeth, W, Grundrechtseingriff durch Information, Diss. Passau 1995; Dreier, H., Informales Verwaltungshandeln, StWuStP, 1993, S. 647 (649 ff.); Schoch, F., Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, DVBI. 1991, S. 667 ff.; Philipp, R., Staatliche Verbraucherinformation im Umwelt- und Gesundheitsrecht, 1989, S. 106 ff.; Dolde, K. P., Behördliche Warnungen vor nicht verkehrsfähigen Lebensmitteln, 1987. 67 Knemeyer, F.-L., Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Auf!. 1995, Rn. 61 ff.; Di Fabio, u., Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994; Drews, B.lWacke, G. /Vogel, K.I Martens, W, Gefahrenabwehr, 9. Auf!. 1985, S. 332 ff. 68 Drews, B.lWacke, G.lVogel, K.lMartens, W, aaO., S: 224 (496); NeU, E.-L., Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, Diss. Bayreuth 1983, S. 61 ff., 86 ff.

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Sämtliche informellen Äußerungen der Staatsgewalt, welche heute von der herrschenden Lehre den freiheitsgefährdenden Eingriffen grundsätzlich gleichgestellt werden 69 , unterscheiden sich von diesen letzteren doch gerade darin, daß hier nicht der Wille des Staates den Willen des Bürgers im Hoheitsakt beugt, daß vielmehr staatliches Erkennen den Gewaltunterworfenen überzeugen soll, mit den Mitteln der höheren, besser erkannten Wahrheit. Bei näherem Zusehen zeigt sich also, daß darin intellektuelle Vorgänge ablaufen, Erkenntnisprozesse, welche erst die Wahrheitsgrundlage für die Willensentscheidung des Bürgers darstellen. Damit aber nimmt die Staatsgewalt - denn um eine solche handelt es sich ja auch bei der informellen Staatstätigkeit - intellektuellen Einfluß über Inhalte, welche sie als Wahrheit herausstellt; und ihre ganze Öffentlichkeitsarbeit, bis hin zu offener politischer Propaganda, ist letztlich nichts anderes als Staatswahrheit im Namen der Freiheit, als Voraussetzung zu deren Verwirklichung - doch wie oft liegt in ihr bereits die Vorwegnahme der Entscheidung eines Bürgers, der all dies mit seinen Mitteln nicht überprüfen, nicht widerlegen kann. Niemand wird nun bestreiten wollen, daß es in vielen Fällen dem Staat, in der Erledigung seiner allgemeinen "laufenden Angelegenheiten", wirklich nur darum geht, Tatsachen zu erkennen und weiterzugeben, daß darin kein Versuch der Manipulation der Realität oder ihrer Erkenntnis zu politischen, herrscherlichen Zwecken liegt. Gerade deshalb erscheint diese Öffentlichkeitsarbeit des Staates als zulässig, ja als ungefährlich, nicht nur, weil keine andere Instanz solche Erkenntnisse gewinnen und weitergeben könnte, sondern vor allem, weil dies alles der Aufrechterhaltung einer allgemeinen Ordnung, der Abwehr auf jeden Fall zu bekämpfender Gefahren oder einfach der Verbreitung von - Wahrheit dient. Wiederum aber ist es das gefährliche Gemenge, dessen Versuchung für den Staat so nahe liegt: daß er nämlich in dieser Öffentlichkeitsarbeit wirkliche Erkenntnisse politisch selektioniert oder gar herrscherlich akzentuiert und denaturiert, daß er sie damit zu "seiner eigenen Wahrheit werden läßt". Wenn es schon so schwer fällt, Tatsachen und Wertungen klar zu trennen, so läßt sich diese Versuchung schlechthin nicht bannen, und nicht widerstehen kann ihr eine Politik, die doch überall Wirklichkeit gestalten und ihre eigene Wirklichkeit schaffen will - also auch ihre eigene, ständig zu verkündende Wahrheit. 69 Di Fabio, U., Information als staatliches Gestaltungsmittel, JuS 1997, S. I ff.; Huber; P.-M., Allg. Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1997, S. 240 ff.; Spaeth, W, Grundrechtsschutz durch Information, Diss. Passau 1995; Maurer; H., Allg. Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 15, Rn. 14 ff. m. zahlr. Nachw.; Erichsen, H. u., Das informale Verwaltungshandeln, in: Allg. Verwaltungsrecht (Hg. Badura u. a.), 10. Aufl. 1995, § 32, Rn. I ff.; Brohm, W, Rechtsstaatliehe Vorgaben für informelles Verwaltungshandeln, DVBI. 1994, S. 133 (135 f.); Leidinger; T., Hoheitliche Warnungen, Empfehlungen und Hinweise im Spektrum staatlichen Informationshandeins, DÖV 1993, S. 925 (927 f.); Dreier; H., Informales Verwaltungshandeln, StWuStP 1993, S. 647 (660 ff.), differenzierend mit zahlr. Nachw. zur Literatur; Philipp (Fn. 369), S. 135 ff.; Schulte, M., Informales Verwaltungshandeln als Mittel staatlicher Umwelt- und Gesundheitspflege, DVBI. 1988, S. 512 (515); BVerwGE 71, 183 ff. (Transparenzlistenurteil); BVerwG NJW 1989, S. 2272; Heintzen, M., Staatliche Warnungen als Grundrechtsproblem, VerwAreh. 81 (1990), S. 532 ff.

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Diese Öffentlichkeitsarbeit aber liegt ja nicht nur in Veröffentlichungen und voll formulierten Appellen, welche gezielt angebliche oder wirkliche Erkenntnisse verbreiten sollen. Der Staat betreibt Öffentlichkeitsarbeit eigentlich in allen Formen7o , in welchen er nach außen hervortritt, nicht zuletzt im Staatstheater7l , in der Staatszeremonie, in der Ankündigung von Staatstätigkeit - einfach schon darin, daß er seine Schilder an die Türen seiner Amtsgebäude heftet. Staatspräsenz als Staatspropaganda hat es immer gegeben, sie ist vielleicht deren wirksamster, weil ganz unverdächtiger Ausdruck. In all dem wird letztlich Staatswahrheit verkündet. Und sie ist darin herrscherlich, Machtäußerung in allem und jedem. Die Dogmatik des öffentlichen Rechts hat erkannt, daß informelles Staatshandeln nur eine andere, oft noch weit wirksamere, Form des Einsatzes der Hoheitsgewalt72 ist, des hoheitlichen Zwanges. Damit ist die herrscherliche Natur dieser Formen der Staatswahrheit offengelegt; sie wirken gerade darin besonders stark, daß sie den Zwang vermeiden, damit gerade als wahrheitskonform erscheinen; denn die Wahrheit zwingt nicht, sie existiert, ermöglicht, allenfalls noch orientiert sie. Die Freiheit der Bürgerentscheidung wird darin geachtet und der Rechtsstaat sieht sich sogar nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, dieses informelle Staatshandeln einzusetzen vor jedem rechtlichen Zwang, damit dieser vermieden, jedenfalls aber nicht unverhältnismäßig lastend werde. Im Begriff der Erforderlichkeit73 schiebt sich daher die Staatswahrheit vor den Staatswillen, mit notwendiger rechtlicher Priorität. Nicht mehr nur die Hoheitsgewalt bestimmt das Wesen des Staates74, sondern zugleich, noch vor ihr sogar, die Staatswahrheit. Kurz aber könnte nun der Weg sein von einem Gewaltmonopol des Staates zu seinem Wahrheitsmonopol. Ein in Willenskategorien primär denkendes öffentliches Recht hat solche Zusammenhänge bisher weithin verschüttet. Macht erschien als Zwang, all ihre subtileren Formen einer "freiheitseinschnürenden Informationsbelagerung" blieben unerkannt; sie konnten erst bemerkt werden, als die modeme Reklame diese reale 70 Die Vorstellung von einer solchen Globalkompetenz der Regierung liegt ja auch der Rechtsprechung zu den gesetzlichen Grundlagen des informellen Staatshandelns zugrunde, vgl. dazu Fn. 66, 69 sowie Brohm, W, RechtsgrundSätze für normersetzende Absprachen, DÖV 1992, S. 1025 (1029 ff.); Hill, H., Rechtsstaatliche Bestimmtheit oder situationsgerechte Flexibilität des Verwaltungshandeins, DÖV 1987, S. 885 (893 f.); vgl. im übrigen Fn. 74. 71 Krüger; H., Allg. Staatslehre, 2. Auf!. 1966, S. 214 ff. (224 ff.); Leisner; W, Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 62, 71 f., 105, 108, 1I0, 137. 72 Bohne, E., Der informale Rechtsstaat, Diss. Köln 1981, S. 126 ff. und die in Fn. 60 Genannten. 73 Vgl. Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. ßI/2, 1996, S. 769 ff., 779 ff.; Bull, H. P., Allg. Verwaltungsrecht, 4. Auf!. 1993, Rn. 289 ff.; v. Münch, l., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Auf!. 1992, Vorb. Art. I - 19, Rn. 55; differenzierend Dechsling, R., Das Verhältnismäßigkeitsgebot, Diss. Hamburg 1989, S. 1I4 ff. 74 Herzog, R., Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 58, Rn. 9, 24 ff., 44 ff.; vgl. aus ökonomischer Sicht Hesse, G., Zur Theorie der Legitimation und Identifikation staatlicher Aufgaben, 1979; Bull, H.P., Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Auf!. 1977, S. 91 ff., 99 ff.

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Macht gezeigt hat. Nun aber bedarf die öffentliche Publizität der rechtlichen Publifizierung, in der Erkenntnis dessen, was hinter all diesen Erscheinungen steht: das Streben nach einer "Staatswahrheit statt Staatsgewalt". Der modemen publicity wird stets bescheinigt - und es wird beklagt - daß es gegen sie Widerstand nicht gebe, allenfalls noch schlichte, stumpfe Untätigkeit. Dahin könnte der modeme Wahrheitsstaat die Bürger eines Tages drängen, daß sie sich, weil Widerstand gegen seine informellen Äußerungen nicht möglich ist, in sprachlose Hinnahme dieser Herrschaft flüchten. Schwache, zerstrittene Staatsgewalten bringen keine solchen Gefahren, und dies ist die Hoffnung der Demokratie 75. Doch sie schafft geistige Strukturen, welche entschlossenen Machtträgem eines Tages unabsehbaren Mehrwert der Macht bringen könnten in ihren Staatsäußerungen - in ihrer Staatswahrheit.

5. Selbstdarstellung des Staates: Staatswahrheit von Ideologie bis zur Gemeinschaftsleistung Der Begriff der Staatspropaganda muß weit gefaßt werden, dies hat sich gezeigt. Er reicht über Öffentlichkeitsarbeit der Regierung hinaus und umfaßt auch den, mehr oder minder selbstbewußten, Hinweis auf die Existenz des Staates und die Tätigkeit der Staatsorgane. In all dem liegt Wahrheitsaneignung, Staatswahrheit als selektionierte Wahrheit. Diese Selbstdarstellung des Staates "in seiner Wahrheit", seine Begründung durch diese, erschöpft sich nicht in gezielten Aktionen. Intensiv zugleich und weiter ausgreifend stellt sich die Macht selbst dar, wo immer sie kann, sie appropriiert sich darin allgemeinere wie speziellere Wahrheitskomplexe, welche sie in ihre Staatswahrheit umformt. Daß dies in ihren organisatorisch-institutionellen Ausprägungen als solchen bereits geschieht, wurde für die Demokratie76 eingehend dargestellt, welche sich als ein "Normenreich der Wahrheit", als eine "Wahrheitsorganisation" versteht. Hier soll jedoch ein anderer Aspekt näher beleuchtet werden: Hinter all dem stehen große Staatsüberzeugungen, welche im günstigen Fall mit denen der jeweiligen Gemeinschaft übereinstimmen, diese zugleich aber auch ihrerseits prägen. Als solche finden sie weder normativen, noch administrativen oder justiziellen Ausdruck. Und doch wird jede bedeutendere Entscheidung der Staatsorgane, ihr ganzes informelles Verhalten in der Gemeinschaft, getragen durch solche tieferen Staats-Überzeugungen, welche die Macht in Orientierungen und Direktiven umzusetzen bestrebt ist. Jede Partei, welche auch nur einen Saum der Macht ergreifen konnte, wird sogleich versuchen, hier Wahrheiten aufzurichten, sie über 75 Und auch die Gewaltenteilung mit ihrer parlamentarischen Kontrolle trägt für das BVerfG (vgl. BVerfGE 44, 125 [144 ff.]) ersichtlich zur Beruhigung bei. 76 Vgl. oben C.

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Wertungen in die politische Gestaltung einfließen zu lassen. In der "Politik der Opposition" mag dies noch Streben sein und Behauptung; in der "Linie des Ministers" und der Regierung wird es bereits zur verbindlichen Festlegung. Über Parteipolitik wächst es in Staatspolitik hinauf, in der ebenso undefinierbaren wie überall wirkmächtigen Staatspraxis77. Schließlich erfaßt es das gesamte Gemeinschaftsleben, welches durch solche politische Feststellungen und Wertungen immer stärker durchwirkt wird. In all dem liegen, wie bereits oben B dargestellt, Tatsachenwahrheit und Wertungswahrheit in unausscheidbaren Gemenge. Der politische Wille aber möchte gewiß den Akzent immer stärker auf den Wahrheitsaspekt legen, welcher überzeugender wirkt als Wertungen, die gerade in der Demokratie stets bestreitbar bleiben, einen Ewigkeitsanspruch nicht erheben dürfen, wie er aber aller Wahrheit immanent ist. Wenn Begriffe wie Staatspraxis und eine aus ihr erwachsende Staatspolitik in ihren Wirkungen faßbar werden können, so hier: in ihnen findet Wahrheitsaneignung statt, Wahrheitstransformation in die Sphären der Macht. Auf drei Ebenen belegt gerade die neueste Geschichte solche Phänomene - Staatsideologie, Staatsgeschichte, Gemeinschaftsleistungen als historische Staatswahrheiten - die aber immer wieder in eine geradezu weltanschauliche Wahrheitsdimension hinaufwachsen und darin geradezu Religion durch Politik ersetzen. Daß hier häufig, wenn nicht regelmäßig, eine oft erstaunliche Naivität am Werk ist, welche mit der Kraft des Unbewußten voranschreitet, darf nicht überraschen: Vielleicht ist dies ja aller Wahrheitssuche an sich schon mitgegeben; jedenfalls aber wirkt darin die bis zur Ungeistigkeit gesteigerte Unbekümmertheit einer demokratischen Parteipolitik, welche sich an die Vielen wendet, deren geistiger Horizont andere Vermittlung nicht zuläßt. Eine Behandlung dieser Themen, welche sich hier auf herausragende Beispiele beschränken muß, ist gerade deshalb geboten, weil demokratisch Herrschende sich, im Namen der Prinzipien ihrer Staatsform, dagegen verwahren, daß darin bestreitbare Wahrheitsappropriation liege. Sie geben es, gerade umgekehrt, als ,,reine" Wahrheit aus und berufen sich dabei auf eben ihre Neutralität gegenüber aller Ideologie 78. Darin aber ist ihr Machtstreben verdeckt - gefährlich.

77 Ein Begriff, der denn auch als solcher, soweit ersichtlich, nicht Gegenstand vertiefender Behandlung ist, obwohl er ständig gebraucht ist. 78 Morlok, M., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 4, Rn. 120 ff.; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 161 ff.; Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 236 ff.; Hollerbach, A., Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht (Hg. Maihofer), 1968, S. 52 ff.; Krüger; H., Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 178 ff.

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a) Staatsideologie Die schönen Tage sind vorüber, an welchen sich Macht offen in Glauben, später in Ideologie befestigen konnte. Das 19. Jahrhundert wird in die Geschichte eingehen als Endzeit all dieser transzendenten Staatsrechtfertigungen, aller derartigen Formen systematisierter Wahrheitsaneignung 79. Doch die bisherigen Betrachtungen zur Staatswahrheit haben bereits gezeigt, daß Staatsideologie nicht nur in solcher blockhafter Allgemeinheit auftritt, welche zugleich eine bis in die Glaubensdimension gesteigerte Intensität aufweist. Die Ideologie hat sich heute, wie schon in anderem Zusammenhang vertiefend dargelegtSO, in feinere, schwerer angreifbare Phänomene der Machtlegitimation verlagert. Hier mag dies am Beispiel des Endes des "kalten Krieges" verdeutlicht werden. Die Ideologie des marxistisch-leninistischen Staatskommunismus war ein großes System der Wahrheitsaneignung, geradezu der Wahrheitsidentifikation, seitens einer Staatsgewalt, welche sich gerade darin in eine in der bekannten Geschichte noch nie erreichte Höhe steigern konnte. Der Zusammenbruch dieser staatstragenden Ideologie wurde von ihren Gegnern gefeiert als das Ende aller politischen Ideologien; und so ist denn dieses Wort in wenigen Jahren von größter politischer Wirkmächtigkeit, von bewundertem Staatswahrheits-Gehalt - war es doch die größte jemals versuchte Staatswahrheit - zu einem Begriff verabscheuenswürdiger Volksverführung, ja Volksverdummung geworden. Keine politische Richtung möchte sich mehr identifizieren lassen mit solchen Bestrebungen der Wahrheitsappropriation; die Privatisierungswelle, welche viele bis an die Gestade eines "privaten Staates .. S1 trägt, ist vor allem Reaktion gegen diese ideologische Staatswahrheit. Doch die Ideologie kehrt durch Hintertüren zurück in ein demokratisches Haus, das sie vielleicht nie wirklich verlassen hat. Der Niedergang der kommunistischen Ideologie war ja nicht nur das Ergebnis stärkerer westlicher Marktmechanismen und aus ihnen entwickelter Technologien. Hinter all dem stand die westliche Freiheitsideologie S2 , ein Menschenbild, das der Wahrheit des Humanen und seines Wesens näherzukommen schien als der betreute, überwachte und stets dirigierte Mensch des Ostens. Im Namen punktueller, spezieller Freiheiten, also normativer Staatswahrheiten der Demokratie, wie sie sich dieser Betrachtung bereits gezeigt haben s3 , wurden Breschen gelegt in die ideologischen Mauem des Ostens, vor allem über die (Aus-)Reisefreiheit, als Ausdruck der Entfaltungsfreiheit des Indi79 Zur "transzendenten Staatsrechtfertigung" vgl. Jellinek, G., Allg. Staatslehre, 4. Nachdruck der 3. Auf!. 1922, S. 186 ff. 80 Vgl. Leisner; W, Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 176 f.; ders., Der Abwägungsstaat, 1997, S. 80 f. 81 Vgl. Leisner; W, Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 229 ff. 82 V gl. dazu oben C, VII. 83 V gl. oben C, VI.

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Leisner

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viduums 84 . Diese Vorgänge lassen sich auch deuten als Veränderungen von Staatswahrheiten, deren neue Inhalte die einst appropriierten, alten, inzwischen in Staatsbeton erstarrten Wahrheiten der kommunistischen Arbeiterbewegung aufbrachen und ersetzten. In diesem Sinne war der Fall der Mauer das Ergebnis eines Wahrheitskampfes, eine Geburt neuer Staatswahrheiten. Doch dies weist über jene historischen Ereignisse weit hinaus, es setzt sich fort in der weiterwirkenden, sich heute ständig verstärkenden Staatsideologie der Demokratien, nirgends deutlicher faßbar als in ihrem Einsatz für die "Menschenrechte,,85. Daß dies ein Ausdruck von Wahrheitsüberzeugung ist, von sektoral appropriierter politischer Wahrheit, wurde bereits dargelegt. Nur aus einer solchen, weit über alle Äußerungen politischen Willens hinausweisenden Begründung läßt sich der Bruch bisheriger, allgemein anerkannter, zentraler internationaler Spielregeln erklären, die ständige virtuelle und immer häufiger aktuelle Intervention in innere Angelegenheiten anderer Staaten 86 , welche vor allem eine Weltmacht im Namen und als Trägerin einer von ihr erkannten Wahrheit mit ihrer selbstverständlichen Staatsdoktrin 87 rechtfertigt. Wie in diesem Wort der "Doktrin", der "Lehre", stets der Anspruch wissenschaftlichen Wahrheitserkennens liegt, so wird diese Erkenntnis, mit der ganzen Naivität, deren eine junge Gesellschaft fähig ist, als eine Wahrheit durch die Welt getragen; und liegt darin nicht eine Staatsrenaissance dessen, was bereits vor zwei Jahrhunderten in jenem Land, in Frankreich und Europa, stattgefunden hat 88 ?

84 Nicht umsonst ist gerade die Ausreisefreiheit im geltenden Verfassungsrecht geradezu ein Paradebeispiel für die grundrechtliche Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit, vgl. Pemice, I., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 11, Rn. 10; Kunig, P., in: v. Münchl Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Art. 11, Rn. 1; ders., Das Grundrecht auf Freizügigkeit, Jura 1990, S. 306 ff.; Hailbronner; K., Freizügigkeit, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 131, Rn. 19 f.: "Bedingung für die freie Selbstverwirklichung des Menschen"; Pieroth, 8., Das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG), JuS 1985, S. 81. 85 Kimminich, 0., Einführung in das Völkerrecht, 6. Auf!. 1997, S. 335 ff.; Frowein, J. A., Übernationale Menschenrechtsgewährleistungen, in: HdBStR (Hg. Isensee I Kirchhof), Bd. VII, 1992, § 180, Rn. 1 ff.; Kirchhof, P., Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, ebda., § 183, Rn. 39 f.; lpsen, K., Völkerrecht, 3. Auf!. 1990, § 45, Rn. I ff. (= S. 650 ff.); Simma, 8., Souveränität und Menschenrechtsschutz nach westlichem Völkerrechtsverständis, EuGRZ 1977, S. 235 ff.; Verdross, A.lSimma, 8., Universelles Völkerrecht, 3. Auf!. 1984, §§ 1233 ff. 86 Vgl. lpsen, aaO., § 57, Rn. 50 ff. (= S. 896 ff.); Kimminich, aaO., S. 297 ff.; Beyerlin, u., Menschenrechte und Intervention, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit (Hg. Simma/Blenk-Knocke), 1979, S. 157 ff. 87 Zum Begriff der politischen "Doktrin", insbes. der Amerikaner, vgl. Beck, R., Sachwörterbuch der Politik, 1977, Stichwort Doktrin, S. 202 f.; Berber; F., Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, Allg. Friedensrecht, 2. Auf!. 1975, S. 74 ff., 175 (Monroe-Doktrin). 88 Zur Grundrechtsrenaissance als Staatsrenaissance vgl. Leisner; W, Staatsrenaissance Die Wiederkehr der "guten Staatsformen", 1987, S. 275 ff.

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So findet sich hier denn nicht nur die Selbstdarstellung der stärksten Staatsgewalt der Gegenwart, sondern eine Staatswahrheit, deren Inhalte im Namen dieses Wortes heute von fast allen, abhängigen und unabhängigen, Staaten übernommen, ihrer eigenen Selbstdarstellung zugrundegelegt werden müssen 89 . Daß dies vor allem nach außen geschieht, daß im Inneren manches durch Machtheuchelei verdeckt wird, was Menschenrechten, wie immer verstanden, Hohn spricht, ändert nichts an dem wahrhaft gewaltigen Wahrheitspathos und zugleich Wahrheitsethos mit welchem diese Staatsideologie die Fackel einer Staatswahrheit trägt; kein Wort kann pathetisch genug sein, um gerade diesen Vorgang zu beschreiben. Dieser Staatwahrheit der Menschenrechte kann nicht entgegengehalten werden, sie seien unbestimmt oder praktisch nicht zu verwirklichen. Gewiß hat der Begriff wenig mehr gemein mit der weiten Freiheitsidee der Amerikanischen und Französischen Revolution; das wichtigste Menschenrecht der damaligen und auch langer späterer Zeiten 90, das Eigentum, bleibt hier im Zwielicht, allenfalls die Tür zu ihm gerade noch offen. Doch denselben historischen Kern weisen die Menschenrechte noch immer auf, seit Jahrhunderten: die persönliche, die politische, die religiöse Freiheit. In dieser Aufzählung liegt bereits eine typisch wahrheitsgeneigte Steigerung, eine Wahrheitsannäherung des Menschenrechtsbegriffs. Er bedeutet heute Staatswahrheit durch Staatsideologie. So lehrt denn gerade die Geschichte eines Jahrhunderts, welches das Ende der Staatswahrheit als Staatsideologie einzuläuten und damit den Begriff selbst aufzuheben schien, daß sich nur die Formen der Ausübung einer Macht ändern, die sich als Wahrheit gibt - verkleidet.

b) Staatsgeschichte als historische Staatswahrheit

Aller Historie ist stets besondere Wahrheitsnähe wesentlich; sie sucht die "wirklichen Tatsachen", stellt sie als Betrachtungsgegenstand vor, als Material zur Überlegung und zur auf sie folgenden freien Entscheidung - oder sie steigert sich zur Historia Magistra, welche Erkenntnisse verbreitet; in all dem aber liegt vor allem, wenn nicht allein, Wahrheits streben. Staatsgeschichte mochte früher die Staatsgewalt schreiben, die Fürsten im Fleiß ihrer Historiographen, all dies vorbereitet in machtgehüteten Archiven. Schon zur Zeit der Aufklärung sollte in diese Gewölbe das Licht der einen, reineren Wahrheit 89 Tomusehat, Ch., Die Europäische Menschenrechtskonvention, JE! 1985, S. 264 ff.; Kokou, J., Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986; Cohen-Jonathan, G., La convention europeenne des droits de l'homme, 1989; Ipsen, K., Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, § 45, Rn. 1 ff. (= S. 650 ff.), Kimminich, 0., Einführung in das Völkerrecht, 6. Aufl. 1997, S. 341 ff. 90 Vgl. Dürig, G., Das Eigentum als Menschenrecht, ZgS 109 [1953], S. 326 ff.; Kimminich, 0., BKz. GG, Art. 14, Rn. 110; Bryde, B.-O., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Art. 14, Rn. 3. 12*

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fallen, und die großen Historiker des 19. Jahrhunderts schienen in ihren Schriften die frühere Staatsgeschichte zu allgemeinerer Historie werden zu lassen, in Wissenschaftsstreben, im Zug zu einem vor allem, was sich nun aller Politik überlagern sollte: historische Wahrheit. Doch gerade in bedeutendsten, wirkmächtigsten Erscheinungen dieses neuen Historismus, der Politik und Geistigkeit von Generationen geprägt hat, kam immer wieder die alte, unauslöschliche Staatswahrheit zurück, in Deutschland und Frankreich vor allem, den Trägem dieser Entwicklung. Von Ranke und Gregorovius bis Treitschke wurde, zu unterschiedlichen Gegenständen, aber in insgesamt einheitlicher Grundstimmung, die neue große Staatswahrheit des konservativen protestantisch-preußischen Staatsdenkens in all seiner Größe verkündet, in seinem tiefen Wahrheitsernst, zugleich aber auch seiner Wahrheitsbegeisterung 91 . Wie groß auch immer die Unterschiede der politischen Einstellung solcher Autoren im einzelnen sein mochten, gemeinsam war ihnen die Überzeugung, daß nun endlich die gesamte bekannte Geschichte, vor allem die der neuesten und gegenwärtigen Machtphänomene, in Wahrheit dargestellt und aus der Wahrheit beurteilt werden könne. Diese Grundstimmung aber erfaßte das ganze Volk, sie allein erklärt die Begeisterung, mit der eine außenpolitisch im Grunde doch saturierte Gemeinschaft zu Beginn des Ersten Weltkrieges antreten konnte - zur Verteidigung eines Reiches der Wahrheit. Doch jenseits der Vogesen hatte sich, in generationenlanger Entwicklung, bereits ebenfalls eine neue Form historisierender Staatswahrheit entwickelt, welche zur Staatsdoktrin des französischen Nationalismus werden sollte: Von Adolphe Thiers bis Henri Martin 92 , von Historikern des Bonapartismus über Vertreter des Liberalismus bis hin zu denen eines neuen Republikanismus - überall wurde Staatswahrheit als Staatsdoktrin wissenschaftlich entwickelt und in Staatsschulen fleißig verbreitet. Der Anspruch auf den Rhein, im Namen der natürlichen Grenzen Frankreichs, ist nur ein Beispiel für die Umsetzung angeblicher wissenschaftlicher, bis in die antike Geschichte zurückreichender historischer Erkenntnis in Maximen praktischer Machtpolitik. In Versailles durfte schließlich nicht so sehr französisches Machtstreben zum Erfolg geführt werden, in dem sich die Republik der Freiheitsrechte ja zurückhalten mußte, wollte sie sich nicht der Sonne ihres verhaßten fürstlichen Gegenbildes allzusehr nähern. Französische Staatswahrheiten waren es vielmehr, welche, in historischer Unbestreitbarkeit präexistent, vom Gegner bestätigt werden sollten. Staatswahrheit als Geschichte und aus ihr ist selten machtvoller - geradezu zelebriert worden.

91 Wie allgemein-literarisierende Wahrheitsdarstellung im Gemenge liegt mit politischen Aktionsmanifesten zeigt etwa die vielfach aufgelegte "deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert Heinrich von Treitschke und dessen "Zehn Jahre Deutscher Kämpfe - Schriften zur Tagespolitik", 1974. 92 Und dessen Verbreitungserfolg der "Histoire de la France populaire".

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Die Fortsetzung ließ nicht auf sich warten. In Italien wurde die historische römische Staatswahrheit zur Grundlage der faschistischen Macht, auf dem Marsch zur Staatsgröße. Aus der architektonischen Staatswirklichkeit des Colosseum sollte auf die Legionen des Duce wieder jene Geschichte herabsehen, in deren Namen bereits ein Größerer vor den Pyramiden die Staatswahrheit des künftigen Empire beschworen hatte. Es folgte die germanische Rassen- und damit Staatswahrheit, wiederum vor allem im Namen eines Verständnisses von Staatsgeschichte, und immer stärker wuchs diese Geschichte aus Historie bis in Theologie hinauf 3 . In all dem zeigt sich ein Spektrum von Staatsrechtfertigungen und Machtlegitimationen aus "Wahrheit", zunächst gar nicht als Machtwahrheit gesucht oder gar gewollt, sich dann aber zunehmend auf (behauptete) Wahrheiten hin verengend, intensivierend in sektoraler Wahrheitsaneignung, bis alle andere Wahrheit verdrängt ist, bis zur Vernichtungsbereitschaft des Nationalsozialismus. Doch nicht aus solchen Extremen heraus läßt sich das Gesamtphänomen beurteilen, verurteilen, begrenzen. Es muß in seinen Anfangsstadien erfaßt werden, mit Blick auf einen ersten Staatswahrheits-Gehalt, der dann, nach geschichtlicher Erfahrung, rasch ein Wahrheitsmonopol anstreben läßt. Auch hier betont die Gegenwart ihre Objektivität und Neutralität - und zugleich erlebt sie neue Gefährdungen aus einer solchen geschichtlichen Staatswahrheit. Der deutsche Historikerstreit über eine bis ins 19. Jahrhundert hinein zurückverfolgte neueste Vergangenheit hat eine solche Dimension der Staatswahrheits-Betrachtung. Hier soll die Entwicklung der Staatswahrheit der Deutschen in den letzten hundert Jahren herausgefunden werden, damit dadurch gegenwärtige historische Staatswahrheit geläutert werde von Elementen möglicher Machtlegitimation durch Gewalt. Die historische Berechtigung solcher Bemühungen ist hier nicht zu beurteilen. Aus der Sicht einer durch sie zu entlarvenden oder doch zu beschränkenden politisch wirkenden Staats wahrheit aber bestätigt der historische Streit, wie überhaupt alle Versuche geschichtlicher Vergangenheitsbewältigung, in denen sich bereits Generationen verzehren, nur die Wirkmacht der historischen Staatswahrheit: Gerade um die Rückkehr zu Grundlagen früherer Staatswahrheit mit allen Mitteln zu verhindern, wird eine neue, mit Blick auf Früheres negative Staatswahrheit eingesetzt. Einstigen Machtansprüchen wie ihren früheren tatsächlichen Begründungen aus nationaler Vorzüglichkeit soll, in der größeren Tatsachensicht der Historie, der Boden entzogen, die Geschichte neu geschrieben werden. Wer aber aufbricht zu solchen Zielen, der trägt eine neue Staatswahrheit im Tornister, in deren Namen er die ältere bekämpft. Daß er seine wissenschaftliche Überzeugung als Wahrheit ausgibt, ist sein gutes Recht, das ihm die Staatswahrheit nicht bestreiten kann, will er doch gerade sie in neuer Form aufrichten. Sie soll alle Machtäußerungen der neuen, friedlichen Demokratie orientieren, so wie früher die kriegerische und SiegesWahrheit alle Staatsbewegungen der deutschen Großmacht trug. Ehrlichkeit mag

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Wie dies in Alfred Rosenbergs "Mythus des Zwanzigsten Jahrhunderts" versucht wurde.

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solche Bemühungen gebieten, doch zugleich verlangt sie, daß in ihnen das Streben nach neuer Staatswahrheit, mit all ihren Gefahren, stets bewußt bleibe. Staatsgeschichte ist also Staatswahrheit, machtträchtig gerade darin, daß sie nicht von Machtträgern geschrieben wird, sondern in einer Suche reiner Wahrheit, die sich aber (nur) ein Stück von dieser aneignen will; und für welche Wahrheitssuche gilt dies nicht?

c) Gemeinschafts(fehl)leistungen

Die neue Demokratie liebt es nicht, vom Staat zu sprechen und seiner Macht94 , sie redet über die Gemeinschaft und ihre Leistungen, wie es ja auch den Führern des Volkes wohl ansteht. Doch damit wird die Staatswahrheit in ihrer politischen Wirkmächtigkeit keineswegs schwächer, sie findet nur neue Formen, welche mit bemerkenswerter Leichtigkeit, wenn auch weithin unbemerkt, übergehen in Legitimationen der Macht. Ungefährlich erscheint all dies vor allem deshalb, weil hier ja meist die politisch konzentrierende Zielrichtung fehlt; es geht vielmehr, ausschließlich wie es scheint, um die Begründung nationaler Vorzüglichkeiten, vor allem aber, wo Kritik stattfindet, nationaler Schwächen, welche es zu beseitigen gilt; darin allerdings kommt solche Staats wahrheit schon einem Aufruf zum Eingreifen der Macht näher; und Lobredner wie Kritiker wollen dasselbe: (neue) Staatswahrheiten. Staatswahrheiten lassen sich nicht auf einzelne Tatsachen einengen, diese Betrachtungen haben es immer wieder gezeigt; ebenso bedeutsam ist ihre Kraft, Staatsgrundstimmungen hervorzubringen, die sich dann überall hin verbreiten und allem staatlichen Handeln als legitimierender Hintergrund dienen, nicht zuletzt als Appell zu staatlichem Eingriff. Ein Beispiel, zugleich für wirkliche Staatsrenaissance, bieten deutsche Anstrengungen in Staat und Gesellschaft am Ende des Jahrtausends, den steigenden Gefahren eines ökonomisch-sozialen Niedergangs durch erinnernde Appelle an frühere Gemeinschaftsleistungen entgegenzuwirken. Die zweite Nachkriegszeit wird beschworen, das international bewunderte Wirtschaftswunder der Deutschen, welches sich doch wiederholen lasse. Gewiß liegt hier zunächst ein Aufruf, ein Anstoß von Willen zu Willen, der Verantwortlichen zum Volk. Doch dies wird getragen durch eine vermeintliche Erkenntnis, die Wahrheitsanspruch erhebt: Die Bürger der heutigen Gemeinschaft sind doch noch immer Deutsche wie die, welche all dies einst vollbracht haben. Warum sollten aus gleichen tatsächlichen Kräften nicht ebensolche tatsächliche Erfolge ein zweites Mal entstehen? Wenn dies einst ökonomischer und psychologischer Tatsachenwahrheit entsprochen hat, so sind alle Voraussetzungen einer Wie94 Siehe dazu Leisner, w., Demokratie - Auflösung der Staatseinheit, in: Die Einheit des Staates (Hg. Depenheuer u. a.), 1998, S. 29 ff.

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derholung gegeben, und zumindest diese Bedingungen sind einer Wahrheitserkenntnis zugänglich, in Sozialpsychologie und Wirtschaftswissenschaft. Wenn in all dem Überzeugungskraft liegt, so kommt sie gewiß nicht aus einem (partei-)politischen Willen, der heute mit wachsender Skepsis betrachtet wird 95 . Die Wahrscheinlichkeit des Erfolges bleibt entscheidend, sie aber ist zuallererst eine Kategorie der Wahrheit, nicht des Willens. Zugleich wird hier der Anschluß an die Staatsgeschichte als Staatswahrheit96 gewonnen; diese Staatsleistungen sind ihre Kulminationspunkte, ihre herausragenden Ereignisse 97 , die sie erst zur großen, staatstragenden Historie prägen. Der Rückgriff auf die bedeutende Gemeinschaftsleistung ist auch eine besondere Form der Staatswahrheitsgewinnung: einerseits erfolgt sie in einer Machtfeme, welche die Gefahr auszuschließen scheint, es könnte sich hier der Staat in Appellen selbst bestätigen, sich Eingriffsgrundlagen aus früheren Leistungen schaffen, welche nicht (allein) die seinen waren. Damit gewinnt ein solcher Leistungsappell an Demokratizität wie an politischer Unverfanglichkeit - in all dem an Wahrheitsnähe. Zum anderen aber erleichtert diese Leistungs-Auswahl aus der Vergangenheit gerade jene Sektoralisierung der Wahrheit, welche bereits als Wesen der Staatswahrheit und ihrer Gewinnung in Form der Teilaneignung erkannt wurde. Damit beläßt sie der proklamierenden Staatsgewalt eine Beliebigkeit der Auswahl, welche ihr politische Gestaltung im Namen der Staatswahrheit ermöglicht. So läßt sich denn sogar die einzelne Staatsveranstaltung, etwa eine bestimmte Gesetzgebung oder ein Vertragswerk, unschwer orientieren an solchen "Vorbildem", die es zu wiederholen gelte 98 , in einem Rückgriff auf früheres Staatshandeln; so gewinnt dann Staatswahrheitssuche sogar noch die Dimension der Traditionalität im einzelnen, nicht nur in der größeren Staatsgeschichte. Demokraten dürfen darin allerdings nicht allzuweit ungeschützt gehen, wollen sie nicht in einer Selbstbewunderung enden, die ihnen immer mehr zur Gefahr, eines Tages vielleicht zum Schicksal wird. Zur Selbstkritik bleibt die Volksherrschaft vielmehr aufgerufen, gerade darin aber gelingt ihr auch eine Erkenntnis von "Staatswahrheit aus Staatsleistungen" - im negativen Umschlag: Gemeinschaftsdefizite gilt es dann anzuprangern in Bereichen, wo immer wieder, herkömmlich, Abirrungen erfolgen von einer Staatswahrheit, die doch angeblich so nahe lag, daher von der politischen Gewalt durch ihr Eingreifen hätte zur Geltung gebracht werden müssen. Systematische Betrachtung der Staats- und Regimekritik belegt dies, aber auch der Vorwürfe und Bedenken, welche immer wieder gegen bestimmte Versäumnisse Vgl. für das BVerfG Isensee, J., BVerfG - quo vadis? JZ 1996, S. 1085 ff. Vgl. oben b. 97 V gl. Leisner, W, Der Triumph - Erfolgsdenken als Staatsgrundlage, 1985, S. 83 ff. 98 Herausragende Beispiele sind die Reformbemühungen um das Rentensystem oder die europäischen Vertragswerke als Fortsetzung der Römischen Verträge. 95

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der "Politik" der ,,staatsspitze" vorgebracht werden. Bis in Einzelheiten läßt sich dies verfolgen, von der stets wiederholten Kritik an der niederen immobiliaren Eigentumsquote in Deutschland bis hin zu den immer wieder kritisierten, angeblich "typisch deutschen" Phänomenen übersteigerter polizeilicher Eingriffshärte99 oder allgemeiner, regulativer Über-Systematik 100, die es abzubauen gelte. Darin liegt mehr als eine Feststellung politischer oder gesellschaftlicher Fehlleistungen, die nichts mit Wahrheitserkenntnis zu tun hätte. Nach Meinung der Kritiker wurden hier bestimmte sozialpsychologische Erkenntnisse nicht aufgenommen, so daß eine sektorale negative Staats wahrheit entstehen konnte; oder es wurden Grundregeln der Ökonomie verletzt, welche aber die Vertreter der Wirtschafts- und der Finanzwissenschaft als Ergebnisse sicheren Erkennens, keineswegs nur als politische Handlungsmaximen, ständig verkünden. Die Übergänge von Wahrheitserkenntnis zu Handlungsmaximen mögen dabei vielfältig und verflochten sein; bei einer Gesamtbetrachtung der Staatswahrheit muß aber klar werden, daß hier nicht nur um Nutzen gerungen wird, sondern um Wahrheit. Der Staat soll gerufen werden, nicht aber allein zu irgendeiner willentlichen, bestreitbaren und wesentlich wahrheitsfernen Machtbestätigung. Vielmehr hat hier offenbar eine durchaus mögliche erkenntnisgesteuerte Setzung von Staatswahrheiten nicht stattgefunden, bei der ja ohnehin immer noch Zweifel bleiben mögen, eben in der sektoralen Verengung der reinen Wahrheit zur Staatswahrheit. Daß jene "einfach Politik werden" kann, wird niemand annehmen. Daß aber nicht einmal die weit engere, diskutable Staatswahrheit zugrundege1egt oder doch angestrebt wurde, ist stets Hintergrund von Staats-, Regime- und Politikkritik. Damit jedoch befindet sich diese voll im Bereich der - hier angeblich nicht gelungenen oder auch nur versuchten - Appropriation der Wahrheit in Staats wahrheit. Im heutigen Staatsrecht ist Macht allzusehr reduziert auf den einzelnen Staatseingriff, der als Willensakt erscheint, welcher anderen Willen brechen soll. Dies versperrt den Blick auf die größeren Hintergründe, welche allen Machteinsatz orientieren, oft ganz konkret dirigieren. Es ist Zeit und Aufgabe dieser Betrachtung, diese Wahrheitshintergründe der Staatsgewalt aufzuhellen, gerade mit Blick auf Erscheinungen, in denen sie in ihrem Machtbewußtsein hervortritt. Darum diese Betrachtung des "Wahrheitsgehalts in den Formen grundsätzlicher Selbstdarstellung" des Staates, ja der demokratischen Gemeinschaft lO1 . 99 Vgl. dazu etwa die Fälle der "Einkesselung" von Teilnehmern einer Demonstration, va Hamburg NVwZ 1987, S. 829 ff. m. Anm. Hofmann, J., Zur Frage der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen - "Hamburger Kessel", in: NVwZ 1988, S. 224 ff.; va Berlin NVwZRR 1990, S. 188; va Mainz NVwZ-RR 1991, S. 242 f. \00 Boss, A./ Bode, E., Deregulierung in Deutschland, 1996; Lübbe-Wolf!, G., Modernisierung des Umweltordnungsrechts, 1996; Molitor, B., Deregulierung in Europa, 1996; Lienhard, A., Deregulierung - Leitmotiv im Wirtschaftsverwaltungsrecht, Diss. Bern 1995; Oberndorfer, P., Deregulierung, 1992; Deregulierungskommission (Hg.), Marktöffnung in Deutschland, 1991. 10\ Leisner, w., Der Triumph - Erfolgsdenken als Staatsgrundlage, 1985, S. 83 ff., 235 ff.; Krüger, H., Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 217 ff.

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6. Staatsmonumente, Staatsgesten: geronnene Staatswahrheit Wenn in der Selbstdarstellung des Staates zugleich ein Erkenntnisvorgang zur teilweisen Wahrheitsaneignung in Staatswahrheit stattfindet, so läßt sich dies nicht auf geistig-literarische Vorgänge oder politische Verhaltensweisen beschränken, in welchen die Macht ihren organisatorisch geordneten Ablauf zeigt. Erkenntnis ist ein Vorgang mit Ergebnis, insoweit in zeitlicher Dimension stehend. Doch Wahrheitssuche kann auch bereits in einem Fingerzeig liegen, in zeitlich geraffte Globalerkenntnis münden, bis hin zum blockhaften Einbruch der Wahrheit in die Welt des Erkennenden. Vom mühsamen, schrittweisen Prozeß bis zur Erleuchtung eines Augenblicks reicht ein bruchloses Spektrum der Wahrheitserkenntnis, und daher auch der partiellen Wahrheitsaneignung in Staatswahrheit. Der Staat als solcher denkt nicht und reflektiert wenig; diese Eigenart gibt er seinen Herrschenden mit auf ihre verschlungenen Wege. Das Phänomen eines "plötzlichen Staatserlebnisses der Wahrheitsfindung" ist also an sich schon diesem politischen Bereich eigentümlich, und solche Formen "abgekürzter Erkenntnis" bestimmen immer mehr die heutige Staats wirklichkeit. In ganz anderen Zusammenhängen werden sie meist betrachtet, so wie auch in einer früheren Untersuchung zum Monumentalstaat lO2 • Dort sollte gezeigt werden, daß das Monumentale, in seinem Zusammenklang von Größe, Beständigkeit und Appellgehalt der Entscheidungen, ein wesentliches Merkmal und zugleich eine Kraft dauernder, größerer Ordnung ist, wie sie in der Reichsidee gipfelt. Der Wahrheitsgehalt der Monumentalität stand damals nicht im Vordergrund, sie wurde als mächtig wirkendes Faktum gesehen. Hier soll dieses nun auf seine Wahrheitskraft geprüft werden, in seinen beiden Haupterscheinungen, dem Staatsmonument und der Staatsgeste.

a) Das Staatsmonument als Beweis der Staatswahrheit

Exegi monurnenturn aere perennius 103 - das Horazwort über die Macht des Monuments stellt dieses sogleich in die Dimension der zeitlichen Dauer; sie trägt bereits das Staatsmonument aus Erz, das der Dichter übertreffen wollte, als Ausprägung einer Wahrheit, die unzeitIich, überzeitlich besteht. Das Monument ist nach seinem Wesen Erinnerung an frühere, aber weiterwirkende Macht, damit Beweis gegenwärtiger Mächtigkeit; beide Zeitdimensionen faßt es zusammen und hebt sie letztlich in der Einheit seiner bildhaften Geschlossenheit auf. Das Monument ist zugleich stets machtgeneigt, die größten Denkmäler wurden der größten Macht gewidmet, von den Pyramiden bis zu den Reiterstatuen des Sonnenkönigs und seinem Regierungsmonument in Versailles. Was immer der Staat baut und errichtet 102 Leisner; W, Der Monumentalstaat, "Große Lösung" - Wesen der Staatlichkeit, 1989, S. 224 ff., 261 ff. 103 Horaz, Carmina, III, 30.

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mit monumentalem Anspruch lO4 , was er als Wächter der Freiheit geschehen läßt im Namen derselben, und damit auch letztlich zu seiner höheren politischen Freiheits-Ehre, bis hin zu den Türmen hinter der Freiheitsstatue - all dies soll Ausdruck der Staatsrnacht sein, wird als solcher empfunden, überzeugt gerade darin. Hier beeindruckt steingewordene Macht Zeitgenossen und Nachfahren, mit immer gleicher, zeitloser Machtdemonstration. Das Monument als steingewordene Macht ist ebenso unbestreitbar wie unzerstörbar. Doch darüber steht noch etwas: das Denkmal als steingewordene Wahrheit, als Erkenntnis, geronnen in einem Augenblick der Errichtung, aus ihr heraus in alle zeitlichen und örtlichen Richtungen sich verbreiternd. Eine solche Wirkung geht bereits aus von der physischen Existenz des Staatsmonuments; es ist Realität und in dieser seiner Wirklichkeit eine Tatsache, vor allem aber eine tatsachenmäßige Bestätigung der hinter ihm stehenden politischen oder gesellschaftlichen Macht. Diese zeigt es dem Betrachter, der sich dem ebensowenig entziehen kann wie der historischen Wahrheit, welche gerade darin zum Ausdruck kommt. Das Monument als historisches Dokument strahlt all jene Wahrheitskraft aus, welche im vorhergehenden Kapitel bei der bis zur Staatsideologie sich steigernden Staatsgeschichte bereits festgestellt wurde. Darin ist es auch ein besonderer, ein geronnener Ausdruck von Staatswahrheit, in ihrer gegenständlichen Unbestreitbarkeit. Doch das eigentlich Besondere liegt in der gegenständlichen Konzentration der so zum Ausdruck kommenden Staatswahrheit, die sich für den späteren Betrachter bis zu einer zeitlichen Einmaligkeit steigert: Im großen Denkmal scheint etwas wie eine Wahrheit mit einem Mal einzubrechen in die Welt des Betrachters, ihn zu vergewaltigen in seinem Erkenntnisvermögen. Mag daran Jahrhunderte gebaut worden sein, als Erkenntnisverkörperung und Erkenntnisausstrahlung bleibt das Denkmal eine Einheit wie die in ihm ausgeprägte Staatswahrheit. Die Kirchenbauten der Vergangenheit sind ein zahlloser und in seiner Mächtigkeit unübertrefflicher Beleg der Bedeutung des Denkmals für die Wahrheit und ihre Erkenntnis. Das christliche Rom ist vorstellbar nur als eine monumentale Verkörperung der katholischen Wahrheit, sie ist hier ebenso zuhöchst gesteigert wie in der Dogmatik der apostolischen Kirche. Daß darin mehr als reine theologische Erkenntniswahrheit sich abbildet, daß vielmehr Machtwahrheit, Staatswahrheit gezeigt werden soll und als Wahrheit bewiesen, ist heute historisches und allgemeingeistiges Gemeingut. An solcher kirchlicher Machtwahrheit läuft daher alle Kritik vorbei, welche den Vertreter Gottes auf Erden immer wieder auf politische Machtlosigkeit zurückwerfen wollte. Dies alles gilt nicht nur für die römische Kirche; was wir heute Denkmäler nennen, ist fast immer Ausdruck geronnener, steingewordener Wahrheit, zugleich oft von kirchlicher und staatlicher Macht-Wahrheit. 104 Vgl. Krüger; H., Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 2225 f.; Quaritsch, H., Weiteres zur Selbstdarstellung des Staates, DÖV 1993, S. 1070 ff.; Wefing, H., Parlamentsarchitektur, Diss. Freiburg 1994; Leisner; w., Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 199 f.

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Dasselbe gilt auch für den großen Rest der kleineren Monumente, jener Denkmäler, die wir als solche beachten und achten: Sie erreichen diese Höhe, welche sie heute als schutzwürdig erscheinen läßt lO5 , unbeschadet künstlerischer Qualität, meist erst dort, wo sie Ausdruck einer Macht sind, sei dies nun weltlich-kirchlicher Mächtigkeitsverbund, wie in den Schlössern und Palästen mit ihren Kirchen, oder Ausdruck der Macht der Wirtschaft und des Geldes. Immer ist auch dies letztere zugleich eine Ausprägung der Macht, denn was wäre wirtschaftliche Bonität anderes als beweisbare Wahrheit wirtschaftlicher Zahlungs- und Leistungsfähigkeit. So belegt denn das Monument, jenseits seiner ästhetischen Qualität, eine Wahrheit, der es dient, die es abbildet, die es allein schon durch seine Existenz zum Ausdruck bringt - die der Macht seines Urhebers. Monument war in der Neuzeit zuallererst ein Begriff der Archäologie. Im wiederentdeckten antiken Denkmal wurde frühere Wahrheit erkannt, Machtwahrheit; darin ist die römische Ruine noch heute Ausdruck der Staatswahrheit des gewaltigen Imperiums. Nach Jahrtausenden verkündet sie seine Macht den später Erkennenden, so wie sie dem Zeitgenossen die Macht seines Kaisers beweisen sollte. In all dem wird der steingewordene Wille zur Wahrheit, begrenzt zwar in ihrer Größe, doch gerade darin eine Teilappropriation größerer Wahrheit, im Versuch, die ganz große politische Wahrheit der Weltherrschaft wenigstens hier und jetzt erkennbar zu machen. Staatsmonumente kann nur erkennen - und gerade dies ist hier der Sinn - wer in ihnen steingewordene, geronnene Verkörperung religiös-politischer, staatlicher Wahrheit sieht, oder eine solche in sie hineinlegt, und sei es auch in nostalgischer Romantik. Denkmäler sind das Gegenteil von Fiktionen, sie sollen überhaupt nicht sein, sie sind ganz - eine Realität des nicht mehr Faßbaren, das aber immer noch weiterwirkt in seinem Wahrheitsgehalt. In diesem Sinn hat die Demokratie sicher an Kraft verloren, Staats wahrheit sich anzueignen und sich auf ihr zu festigen. In ihren Anfängen hat sie es, etwa in französischer Republik-Monumentalität, noch mit aller Macht versucht; nun machen die Staatsfinanzen der Staatswahrheit der Monumente ein Ende. Doch die wirtschaftlichen Mächte, welche dieser Staat zuläßt, deren Kräfte er sich zu eigen machen will, bringen immer weiter Denkmäler hervor, Zeugnisse einer Macht, die zuallererst eines sein will: wirtschaftliche Wahrheit im Sinne der ökonomischen Realität und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Wie man diese hohen Türme, welche menschliches Prestigebedürfnis errichtet, nicht nur wirtschaftliche Notwendigkeit, aus weiter Feme erkennt, so soll man sich der Macht einer wirtschaftlichen Staatswahrheit beugen lO6, in deren Namen die politischen Gewalten der freien Welt ihre 105 Ebert, W. / Martin, D./ Petzet, M., Bayerisches Denkrna1schutzgesetz, 5. Aufl. 1997, C Er\. Art. 1 DSchG, Rn. 1 ff.; Steinberg, R., Rechtsfragen der Denkrna1eigenschaft von neueren Funktionsbauten, BauR 1992, S. 451 ff. 106 Auch in ihrer Begrenzung und Funktionalität, wenn "Eigentum verpflichtet", Art. 153 WRV, vg\. dazu Anschütz, G., Die Verfassung des Deutschen Reiches, 12. Aufl. 1930, Art. 153 WRV (= S. 650 ff.).

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Gegenideologie geschlagen haben und sich heute unschlagbar fühlen - im Besitz der wirtschaftlichen Wahrheit. Wo immer es Monumente gibt, die diesen Namen verdienen, da ist Staatswahrheit. b) Die Staatsgeste - Staatswahrheit aus einem Augenblick

Der Wahrheitsgehalt des Monuments drückt sich häufig in einer Ehrung aus, welche es für eine Persönlichkeit darstellen soll, für eine Familie oder die anonymen Akteure eines wichtigen Vorgangs. In all dem ist das Standbild ein hervorragender Ausdruck des Monumentalen schlechthin, zugleich aber einer Staatswahrheit, die darin bewahrt und weitergegeben wird, daß etwas stattgefunden hat, in dem sich die Macht von ihrer Seite der Wahrheit her zeigen konnte, in ihrer Berechtigung nicht nur, sondern in ihrer Existenz und Kraft. So sind denn auch alle anderen Ehrungen, in denen der Staat politische Leistungen anerkennt und als Beispiele vorstellt, Ausdruck einer doppelten Staatswahrheit: zum einen als Beweis der Existenz all dieser Verdienste um die Macht oder die Gemeinschaft, zum anderen, und über die historische Existenz der Verdienste hinaus, als ein Beweis von deren Qualität; dies wird darin vor allem erkannt, daß ihre Wirkungen die Realität weitergeformt haben. Nicht umsonst heißt bei allen Ehrungen das Kemwort "Anerkennung", ein Begriff aus dem Bereich der Wahrheitserkenntnis, nicht des politischen Willens; denn anerkannt wird eine Realität, eine Wahrheit, und in der staatlichen Ehrung anerkennt der Staat nicht nur die Verdienste eines Menschen, sondern diesen als Organ seiner eigenen Staats wahrheit und damit letztlich diese selbst. In den Zusammenhang der Staatsmonumente gehört dies, macht doch die staatliche Ehrung ihren Adressaten, und sei es auch für kurze Zeit, zum Staatsmonument en miniature, verdient oder nicht - denn die Frage "Was ist Wahrheit?" bleibt ja auch hier. Ein Weiters kann nur angedeutet werden: Staatswahrheit kommt nicht allein im mächtigen, gewissermaßen abschließenden und abgeschlossenen Staatsdenkmal zum Ausdruck; ähnliche Kraft kann auch aus einer großen, kurzen Bewegung kommen, welche Macht symbolisiert und hier Staatsgeste genannt werden soll. Hier erreicht die Betrachtung das, was man "Formen staatsbarocker Staatswahrheit" nennen könnte. Wie der Staat in seinen späteren Phasen auf steinerne Monumentalität verzichten konnte, auf ewige, göttliche Wahrheit, und politische Mächtigkeit durch Allegorien und große Bewegungen ausdrückte, mit ihnen selbst einen Himmel aufriß - so kann er sich auch "in solchen Gesten seine Wahrheit aneignen", sie nicht willensmäßig setzen, sondern einbrechen lassen, in einem Augenblick besonders macht-symbolträchtiger Realität; sie mag dann in Worte gefaßt werden oder auch in Stein. Solcher großer Staatsgesten war das modeme Staatsrecht gerade in seinen Anfangen fähig, in jener Aufklärung, welche seine großen Grundrechtsformeln ge-

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prägt hat, mit einem Pathos, in dem sie sich jedoch nicht erschöpfen sollten. Bis in die niedergedrückten Monate der Entstehung der Weimarer Reichsverfassung ist dieses Pathos erhalten geblieben, in den wuchtigen Formulierungen Friedrich Naumanns, in denen noch etwas lag von den großen Staatsgesten der Französischen Revolution. Rasche, akklamatorische Verfassunggebung kann eben bereits als eine derartige Staatsgeste erscheinen, in ihren Grundrechten tritt der Wahrheitsbezug deutlich hervor. Das Gesetz als solches, mit all seiner normativen Staatswahrheit, ist Staatsgeste, gerade dann, wenn es 1ex imperfecta 107 bleibt - Geste eines Augenblicks. Die große Staatsdrohung gehört ebenso hierher wie eine Amnestie, welche Geschehenes auslöscht und damit eine neue Wahrheitslage aposteriori herstellt. Die Staatsgeste schließt insbesondere auch die scheinbar unnütze Staatsveranstaltung ein, wenn in ihr nur der versteinerte Augenblick, etwas wesentlich Irreversibles und Irrevisibles, zum Ausdruck kommt - unabänderbar, so wie es die Staatswahrheit eben ist. Weit ausholende Aktion, Generalität der Entscheidung oder der Norm als Staatsgeste - all dies hat eine deutliche Dimension der Wahrheitsappropriation in Staatswahrheit, gerade dann, wenn es nicht durchgesetzt, ja gar nicht weiter realisiert wird, weil es eben seine bleibenden Inhalte schon in sich trägt und als ein solcher versteinerter Bewegungszustand stets bewundert und beachtet wird. Alle staatliche Einmaligkeitsaktion ist zugleich Staatsgeste, der Befehl vor allem, der im Ausnahmezustand entscheidet und über ihn lO8 , ist doch der Souverän erster Träger der Staatswahrheit. In all dem kommt nicht nur Willensmacht zum Ausdruck, die Geste, wie ihr Verständnis gemeinhin es will, deutet auf etwas anderes, Höheres hin, auf Macht, Souveränität, Herrschaft überall, darin wird sie Ausdruck einer Staats wahrheit, welche in ihr, in ihrer zeigenden, symbolisierenden Bewegung erkannt werden soll. Diese Staatsgeste bedarf nicht der Durchsetzung, sie muß nicht in Organisation verewigt und verkleinert werden, weil sie mit einer großen Bewegung etwas vornimmt wie das Wegziehen eines großen Vorhangs vor der Realität der Macht, eine Entschleierung von deren Wahrheit für einen kurzen Augenblick. Hier ist nicht mehr die Angst vor dem stärkeren Willen, sondern ein Schauder vor der höheren Staatswahrheit - dies ist das Wesen einer Staatsgeste, welche mit einer großen Bewegung, einem mächtigen Schwung, in einer wahrhaft barocken Mächtigkeit den Himmel einer Staatswahrheit auf die Erde holt. Hier hat die Staatsgewalt die Spitze ihrer Aneignungskraft gegenüber der Wahrheit erreicht, die sie als solche sichtbar werden läßt, nicht als Ausdruck ihres Willens. Solang sie diese Höhen hält, die Weisheit der Staatsmonumente und Staatsge107 Zum Begriff vgl. Bierling, E. R., Juristische Prinzipienlehre, Bd. 2, 2. Neudruck der Ausgabe 1898, 1975, S. 57 Fn. 16, 289 f.; Creifelds, C. (Hg.), Rechtswörterbuch, 8. Auf!. 1986, Stichwort lex imperfecta. 108 Zur Entscheidungsgewalt im Ausnahmezustand und zum "letzten Wort" des Reichspräsidenten vgl. Schmitt, c., Verfassungslehre, 1928, S. 110 f.; ders., Die Diktatur, Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten, 4. Auf!. 1978, S. 214 ff.

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sten sich bewahrt, wird sie immer wenn nicht die stärkere, so doch die höhere sein, im Namen ihrer höheren - ihrer angeeigneten Staatswahrheit. '

11. Negative Staatswahrheit 1. Die Veränderung der "Wahrheitslage"

"Die" Wahrheit ist stets eine. Doch sie fügt sich zusammen aus zahllosen Teilwahrheiten und wächst aus diesen heraus. So gibt es bereichsspezifische Wahrheiten, und gerade um eine von diesen geht es bei der Betrachtung der Staatswahrheit. Ihre möglichen Gegenstände werden bestimmt durch das politische Interesse der Macht und die Entwicklung der Gemeinschaft, welche diese ordnet. Daher mag zwar Staatswahrheit punktuelle Inhalte aufweisen, wenn etwa eine bestimmte Erkenntis von der Macht ,,kanonisiert" wird. Doch die staatlichen Bestrebungen zur Wahrheitsaneignung, in einem Ausschnitt oder einer Mutation ,,reinerer" Wahrheit, richten sich meist auf allgemeinere Themen, jedenfalls liegt in ihnen eine Virtualität zu solcher Ausdehnung. Einer Macht, welche sich um Staatswahrheit bemüht, geht es in der Regel nicht nur um einzelne, isolierte Festlegungen, sondern, im Ergebnis wenigstens, um die Schaffung einer "Wahrheitslage". Ihr ist einerseits die erwähnte Allgemeinheit eigen, welche sich in Virtualität fortsetzt, zum anderen ist ihr Richtigkeitsanspruch nur von einer abgeschwächten Intensität, welche die politischen Unvorhersehbarkeiten der Zukunft stets ebenso berücksichtigen will wie die Unübersichtlichkeiten noch zeitlich naher Geschichte. Ein Beispiel dafür bieten vor allem die großflächigen historischen Wahrheitsaneignungen der Staats- und Gesellschaftsgeschichte, mit ihren Grundstimmungen, welche nicht selten zu wahren Staatsmythen werden, daher den typisch mythischen Wahrheitsgehalt zeigen und die Wirkkraft früherer Staatslegenden l09 . Was also für eine der Wahrheit verpflichtete Rede gilt, daß sie nämlich sei "Ja, ja - Nein, nein", daß sich also nur Wahrheit und Unwahrheit in scharfem Gegensatz gegenüberstehen, kann für eine Staatswahrheit nicht ohne weiteres gelten, welche derartige "Wahrheitslagen" hervorbringen will und gerade aus deren Allgemeinheit und Virtualität der Macht überzeugende Kräfte zuführt. Hier sind vielmehr Position und Negation, welche als solche aller Wahrheit eigen bleiben, vor allem unter einem Gesichtspunkt zu sehen: daß, nach der alten logischen Formel, der Einschluß des einen den Ausschluß des anderen bedeutet: Die Setzung einer historischen Staatswahrheit oder der Ankauf wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Weihe als Staatswahrheit bedeuten nicht nur die Sicherung dieser Erkenntnis, sondern zugleich eine Verschiebung der gesamten Wahrheitslage in dem Sinn, daß 109 An Beispielen fehlt es gerade in Deutschlands neuester Geschichte nicht, von den militärischen Taten der Befreiungskriege bis zum Widerstand nach 1933.

11. Negative Staatswahrheit

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damit die Suche anderer Wahrheiten, und damit diese selbst, relativiert, zurückgedrängt oder gar ausgeschlossen werden, wenn die auf solche Weise staatskanonisierte Wahrheit absoluten Geltungsanspruch erhebt. Nach all dem, was sich bisher zu den Besonderheiten staatlicher Wahrheitsaneignung gezeigt hat, ist der Weg kurz von dort zu einer Vereinnahmung ganzer Wahrheits lagen, aus der besonderen Autorität der wahrheitsverkündenden Instanz. Der Staat ist, in all seinen Veranstaltungen der Wahrheitssuche und Wahrheitsverkündung, nie einfach eine von vielen Erkenntnisinstanzen, ein Staatsinstitut der Wahrheitsfindung neben anderen. Immer wirken seine Anstrengungen schon deshalb "lagenverändemd", mit oft unabsehbaren erkenntnismäßigen Auswirkungen, weil die Macht des Staates, im heutigen Gemeinschaftsleben, die "Gestalterin des Allgemeinen" schlechthin ist, weil sie eine überschießende Tendenz zur Gestaltung allgemeinerer Lagen in sich trägt und von ihr auch laufend Gebrauch macht, schon da sie sich, nach ganz allgemeiner Lehre des öffentlichen Rechts, ihre Staatsaufgaben im wesentlichen selbst setzen darfllO . Hier findet der ständige Übergang von einzelnen Politiken in die allgemeine, weitere und zugleich höhere Politik statt; und dem entspricht auch noch eine laufende und höchst bedeutsame Überwirkung jeder Staatswahrheitssetzung auf Wahrheiten, welche im außerstaatlichen Bereich erkannt werden könnten. Im folgenden sollen nicht im einzelnen die vielen und schwer bestimmbaren orientierenden Einflußnahmen der Wahrheitsvereinnahmung durch staatliche Veranstaltungen und den Einsatz staatlicher Mittel untersucht werden. Vielmehr geht es um etwas, das, wie die positiven "Staatswahrheits-Auswirkungen" auf eine Gesamt-Wahrheits lage, diese Situation im ganzen verändert, indem die Wahrheitsappropriation durch die Macht in ihren Wirkungen über sich hinausreicht: die negative Staatswahrheit. Wo immer der Staat Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, drängt er damit außerstaatliche Wahrheitssuche zurück, beeinflußt mögliche Inhalte eines Erkennens, welches nicht machtorientiert ist, oder bestreitet damit überhaupt den möglichen Wahrheitsgehalt außerstaatlicher Erkenntnis. Auf diesen drei Stufen vollziehen sich die vielen, bisher aber, soweit ersichtlich, noch nicht vertiefend behandelten negativen Wirkungen der Wahrheitsaneignung durch die Macht.

110 Vgl. Sodan, H., Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, 112 ff.; Isensee, J., Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. III, 1988, § 57, Rn. 156 ff.; Grabitz, E., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 96 (1987), S. 568 (600 ff.); Schnapp, F. E., Die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, JuS 1983, S. 850 (854); Bult, H. P., Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Auf). 1977, S. 43 ff., 91 ff., 211 ff.

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D. Macht statt Wahrheit

2. Zurückdrängung privater Wahrheitssuche durch Staatsveranstaltungen der Wahrheitserkenntnis a) Die Organisationskraft der staatlichen Erkenntnisverfahren

Wahrheitssuche des einen schließt die des anderen nicht aus, sie sollte sie ermutigen. Doch die helltige Wirklichkeit zeigt es anders, auf der Entwicklungsstufe insbesondere der naturwissenschaftlich-technischen Forschung. Parallelforschungen mögen hier noch immer das Ideal sein, praktisch aber sind sie, schon wegen des erforderlichen Mitteleinsatzes, kaum mehr möglich. Die erste Frage der staatlichen Vergabegewalt, bei allen großen und kleinen Anstrengungen zu neuer Erkenntnis, richtet sich daher stets darauf, ob bereits etwas in diesem ErkenntnisSinn unternommen worden sei; und im Begriff des Forschungsvorhabens lll liegt bereits, mit der, an sich durchaus problematischen, Vorwegnahme möglicher Erkenntnisse schon im Antrag, das Bestreben, von vorneherein Doppelforschung zu verhindern: Was einem Forscher bewilligt worden ist, sperrt nun notwendig alle anderen aus, jedenfalls von staatlicher Förderung, meist von jeder Wahrheitssuche. In jeder staatlichen Wahrheitsaneignung liegt daher, schon von ihrem Beginn her, in der Auswahl der Forschungsvorhaben, ein Ausschlußeffekt anderer Wahrheitssuche und damit zugleich eine tiefgreifende verfahrensmäßige Veränderung der Wahrheitslage als solcher; denn an sich ist und bleibt diese geprägt durch ein Verfahren der Anstrengungskonkurrenz zur Erkenntnis, während die gesamte staatliche Förderungspolitik, zur Mittelschonung, demgegenüber etwas unterstellt wie ein "Einbahn-Verfahren" einer Erkenntnis, welche nicht in der Vielfalt der Lösungen und ihrer Diskussion wächst, sondern in der Einheitlichkeit früherer kirchlicher Dogmen gewonnen und meist so auch verkündet wird. Diese verfahrensmäßig geschaffene negative Staatswahrheit wirkt also über den staatsgeförderten Bereich weit hinaus. Ihrer Grundhaltung kann sich private Wahrheitssuche nur selten entziehen, welche auf ähnlichen oder benachbarten Erkenntnisbereichen tätig ist. Auch sie wird in der Regel dann überlegen, ob sie Paralleluntersuchungen unternimmt und dies nur mehr versuchen, wenn ihre Interessen es erfordern, in der Entstehung befindlichen Staatswahrheiten entgegenzutreten oder kanonisierte zu brechen. Ob dieser Rückzug privater Erkenntnisanstrengungen das Ergebnis einer Entmutigung ist, welche befürchtet, mit den Mitteln und dem Prestige der Staatsveranstaltung nicht konkurrieren zu können, oder ob bereits die staatsbestimmte Mentalität der wahrheitserforschenden Einbahn auch auf den privaten Sektor übergegriffen hat - das Ergebnis ist immer eines: Außerstaatliche Erkenntnisanstrengungen nehmen ab, man verläßt sich, mehr oder weniger notgedrungen, auf die Ergebnisse der Wahrheitsanstrengungen der Macht, selbst wenn die Problematik einer solchen Staatswahrheit erkannt wird. Wenn aber soviel Wahrheit stets nur ist, wie Anstrengungen zu ihrer Erkenntnis unternommen werIII

V gl. oben Fn. 21.

11. Negative Staatswahrheit

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den, so liegt darin eine massive Zmückdrängung aller Wahrheits anstrengungen außerhalb der Macht, durch die Effekte einer "negativen Staatswahrheit".

b) Wirkungen der Staatswahrheit auf staatsferne Wahrheitsinhalte

Im Verfahrensmäßigen erschöpfen sich die Verdrängungswirkungen der Staatswahrheit auf private Wahrheitserkenntnis nicht; negative Staatswahrheit, in einem materiellen Sinn, breitet sich dort aus, wo nun privates Erkenntnisstreben keinen Raum mehr findet oder zu haben glaubt. Wo immer Staatswahrheit erforscht, gefunden und als solche dekretiert wird, private Wahrheitssuche jedoch eben deshalb unterbleibt, ist die materielle Wahrheitslage, im vorbeschriebenen Sinn, verändert. Jedes faktische Erkenntnismonopol des Staates wird zum inhaltlichen Wahrheitsmonopol, weil ihm keine andere Erkenntnis mehr gegenübertritt. Da mag private Skepsis an den staatlichen Ergebnissen bleiben, der Verdacht des politischen Hintergrunds, der machtmäßigen Zielsetzung. Nichts ändert dies daran, daß so oft die gefundene, appropriierte Staatswahrheit, nach meist nur kurzem Zeitablauf, als Wahrheit schlechthin erscheint, schon weil kein anderer nach ihr die Hand ausstreckt. Selbst wenn es so weit nicht kommt - die Stimme der Macht ertönt unüberhörbar in jedem Konzert der Wahrheitsfindung, beim Historikerstreit über deutsche Vergangenheitsbewältigung wie in wissenschaftlichen Diskussionen über Waldsterben 112 und Tierseuchen. Der Staat ist als solcher bereits eine einzige große Monopolveranstaltung, sein Gewaltmonopolll3 setzt sich bruchlos im Monopol informellen Staatshandelns 114 fort. Auch seine Anstrengungen der Wahrheitserkenntnis haben Monopoltendenz zumindest in dem Sinne, daß er sich damit durchsetzen will gegen jede andere Erkenntnis, die in vielen Fällen dann bald zur unmaßgeblichen Meinung herabsinkt; Staatswahrheiten aber sind im Zweifel maßgeblich. In all dem liegt eine inhaltliche Veränderung der Wahrheitslage, indem die staatlichen Wahrheitsinstanzen den - großen - Restbereich, den sie noch nicht mit positiver Staatswahrheit besetzen können, mit negativer Staatswahrheit überdecken und tabuisieren, welche nur die Kehrseite des positiv Gesetzten ist: Dort findet dann eben Wahrheitssuche nicht mehr statt, dort etwa doch Gefundenes ist auch keine Wahrheit. Diese Abdrängung des Bürgers aus der Erkenntnis - und nichts anderes läuft hier ab - bedeutet selbst dann eine Gefahr für private Freiheit des Erkennens, wenn 112 Vgl. dazu Leisner; w., Waldsterben, 1983, S. 1 ff., 63 ff.; die dort angesprochenen Kausalitätsdaten sind bekanntlich nicht naturwissenschaftlich eindeutig erbracht worden, vgl. dazu auch BVerfG NJW 1983, S. 2931 ff. 113 Vgl. oben Fn. 17,33. 114 Vgl. oben Fn. 69.

13 Lei,ner

194

D. Macht statt Wahrheit

die Macht sich noch in der Rolle des "liberalen Forschers" sieht, in voller Öffnung zu machtfemen Wahrheitsinhalten. Denn auf die Dauer muß die Versuchung zur Monopolisierung und damit Manipulation der Wahrheit stärker werden, einmal wird der Forschungsstaat dem Politikstaat nicht mehr entrinnen, schon weil dieser, aus finanziellen Gründen, Vereinfachung sucht, die "abgekürzte Wahrheitssuche", Wahrheit aus Willen, nicht mehr aus komplizierten, aufwendigen Erkenntnisvorgängen. Private werden dem schon deshalb Widerstand schwerlich entgegensetzen können, weil sich ihre Erkenntnisse im ökonomischen Bereich, wo sich ihre Kräfte zusammenballen, auf bestimmte Interessen konzentrieren, ein Streben nach "reiner Wahrheit" also häufig ausgeschlossen ist. Daher werden private Instanzen den notwendigen Rückzug hinnehmen, welchen ihnen eine negative Staatswahrheit weist, der sie damit erst recht immer weitere Räume überlassen. Am Ende könnte es wohl geschehen, rechnet man diese Entwicklungen hoch, daß außerhalb der Staats wahrheit andere Erkenntnisinhalte nicht mehr zu finden sind. Dann kann sich ein entschlossener Machtträger dieses ganzen Systems, mag es auch in liberaler Bürgerunterstützung der Wahrheit aufgebaut worden sein, mit einem Mal zur Staatsdefinition dessen bedienen, was positiv (Staats-)Wahrheit ist und was, nach negativer Staatswahrheit, Wahrheit nicht sein darf. Dann wäre der Endzustand der Staatswahrheit als Machtinstrument erreicht, in einem neuen extra muros nulla salus: keine Rechtfertigung, keine Rettung außerhalb der Mauem staatlicher Erkenntnis.

3. Der wahrheitsneutrale Staat als Instanz negativer Staatswahrheit a) Religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates Wahrheitsneutralität ? Liberale Vertreter des Verfassungsstaates mögen glauben, solchen Gefahren der Staatswahrheit, ja der ganzen Diskussion um sie, unter Hinweis auf die weltanschauliche und religiöse Neutralität l15 dieser Macht entgehen zu können, in welcher doch nichts anderes liege als eine Zurückhaltung des Staates gegenüber jeder Wahrheitserkenntnis. In der Tat entspricht es dem Sinn einer "neutralen Staatlichkeit", daß diese nicht nur in religiöse Streitigkeiten nicht eingreift, welche früher das eigentliche Feld der Wahrheit und ihrer Erkenntnis waren. Über diese, wenn auch mächtige, historische Kontingenz hinaus sollte heute das Neutralitätsgebot bis zur vollen Wahrheits- und Erkenntnisneutralität tragen; denn nur sie kann ja am Ende auch die religiös-weltanschauliche Unparteilichkeit der Staatsrnacht sichern, der nie beendete Streit um die staatlichen theologischen Fakultäten 1l6 zeigt es. Vgl. oben Fn. 1. Vgl. Heckel, M., Die theologischen Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat, 1986; Hollerbach, A., Theologische Fakultäten und staatliche Pädagogische Hochschulen, 115

116

II. Negative Staatswahrheit

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Doch was nützt es, daß der Staat Religionsunterricht nicht selbst erteilt ll7 , was bedeutet seine Neutralität gegenüber theologischer Forschung - wenn er zugleich historische, geschichtsphilosophische Wahrheitserkenntnis fördert, naturwissenschaftliche und damit auch naturphilosophische oder ökonomische Anstrengungen weiter treibt? Aus all diesen Bereichen ist in der Vergangenheit bereits Weltanschauung gewonnen worden, in Atheismus und Marxismus, in deistischem Liberalismus. Religiös-weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt ist daher ein in sich widersprüchliches Konzept, wenn der Staat überhaupt noch Forschung betreibt, deren Erkenntnisse verkündet. Die Grenzen wissenschaftlicher Wahrheitserkenntnis lassen sich ebensowenig in juristischer Präzision bestimmen wie die der Kunst 118 . Dann aber darf auch die religiöse Neutralität des Staates nicht als Gebot einer Wahrheitsneutralität der Macht angesehen werden und sie vermag eine solche nicht verfassungsrechtlich zu begründen.

b) Die negativen Wahrheitswirkungen der weltanschaulichen Staatsneutralität

Der Staat zieht sich aus religiösen und weltanschaulichen Bereichen zurück, dort versucht er keine Wahrheitserkenntnis, in Räumen, welche früher deren eigentlicher Bereich waren. Die Illusion des Liberalismus liegt hier darin, daß damit Wahrheitsneutralität, Unparteilichkeit in Erkenntnissachen gewährleistet sei. Daß dies an sich schon nicht zutrifft, weil sich der weltanschauliche Bereich nicht in solcher Präzision abgrenzen 119 und daraus keine Wahrheitsneutralität sich gewinnen läßt, ist bereits deutlich geworden. Doch selbst wenn dies möglich wäre, ließen sich auch insoweit die hier nun deutlich als solche zutage tretenden Wirkungen eiHdBStKirchR (Hg. ListI/Pirson), Bd. II, 2. Aufl. 1995, § 56 m. weit. Nachw.; neuerdings Himmelsbach, R., Die Rechtsstellung der theologischen Fakultäten Trier, Paderborn, Frankfurt St. Georgen und Fulda, Diss. Freiburg 1997; Muckei, St., Die Rechtsstellung der Kirche bei der Errichtung eines theologischen Studiengangs an einer staatlichen Universität, DVBl. 1997, S. 873 ff. 117 Zum Recht der Kirchen vgl. aröschner, R., in: Dreier, GG-Komm., Bd. 1,1996, Art. 7, Rn. 53 f.; Lecheier, H., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 7, Rn. 46 ff.; Link, Chr., Religionsunterricht, in: HdBStKirchR (Hg. ListllPirson) Bd. II, 2. Aufl. 1995, § 54 C, II; BVerfGE 244 (251). 118 Zur Verfassungsproblematik des Kunstbegriffes vgl. Pemice, l., in: Dreier, GGKomm., Bd. I, 1996, Art. 5 III, Rn. 17; Bethge, H., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 5, Rn. 182 ff.; Denninger, E., Freiheit der Kunst, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 146, Rn. 1 ff.; Knies, w., Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, S. 128 ff.; BVerfGE 67, S. 213 (224 f.); 75, 369 (377). 119 Zur Schwierigkeit der Abgrenzung des Begriffs der ..Weltanschauung" vgl. Morlok, M., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 4, Rn. 22 f.; Kokott, J., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 4, Rn. 14 f.; Fleischer, Th., Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, 1989, S. 11; Badura, P., Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 36 ff., 59 ff.; v. Campenhausen, A., Religionsfreiheit, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 136, Rn. 43; Link, (Fn. 117); siehe auch C, I, 2, c. 13*

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D. Macht statt Wahrheit

ner negativen Staatswahrheit nicht ausschließen. Das Problem "Religion in der Schule" zeigt es, um welches schon früher ein Kampf über die weltanschauliche Neutralität des Staates ausgetragen worden ist 120, der neuerdings mit unerwarteter Intensität wieder beginnt l21 . Hier sind vor allem zwei Phänomene festzustellen, in denen sich wenn schon nicht eine Wahrheitsaneignung durch den Staat, so doch eine bedeutsame Wahrheitsrelativierung vollzieht, damit etwas wie eine "Entwahrheitlichung" mit den Instrumenten der Staatsmacht:

c) Religionsunterricht - staatlich garantierte Wahrheitsrelativierung

In Deutschland ist weitestgehend Religionsunterricht staatlich garantiert und damit zugleich organisiert. Eine Wahrheitsaneignung seitens der Staatsgewalt liegt nicht bereits darin, daß diese ihre jungen Bürger mit Hoheitsmacht in eine Wahrheitserkenntnis treibt, welche die Kirchen dort pflegen und verkünden. Unterstellt werden darf ja, daß in langer, ausgewogener Praxis der Staat insgesamt sein Überwachungsamt über den gesamten Schulunterricht in einer Weise ausübt, die sich jeder Wahrheits wertung enthält und verfahrens- wie inhaltsmäßig hier alles Wesentliche den Kirchen überläßt 122 ; gewisse Einflußnahmen bei der Bestimmung von Lehrmitteln 123 , Unterrichtsstunden und Unterrichtsformen können aus dieser weiteren Sicht hier wohl vernachlässigt werden. Selbst wenn es die Religionsgemeinschaften sind, die hier das Feld beherrschen, fernab von jeder Staatsmacht, und wenn unterstellt werden darf, daß sie heute nicht als verlängerter Arm des Staates wirken, trotz ihrer nicht wenigen Privilegien als 120

Vgl. Cräschner, R., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 7, Rn. 13 ff., 30; Pieroth,

B., Erziehungsauftrag und Erziehungsrnaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat,

DVBI. 1994, S. 949 (960 f.); Listl, J., Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Bonn 1971, S. 250 ff.; BVerfGE 41,29 (44); 52, 223 (251); 85, 94 f. 121 Vgl. etwa den Streit um die Kruzifixentscheidung des BVerfG (BVerfGE 93, I ff.); Neumann, J., Rechts- oder Glaubensstaat? ZRP 1995, S. 381 ff.; Heckei, M., Das Kreuz im öffentlichen Raum. Zum "Kruzifix-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts, DVBI. 1996, S. 453 ff.; Hollerbach, A./ Maier, H. (Hg.), Das Kreuz im Widerspruch, 1996; Badura, p', Das Kreuz im Schulzimmer, BayVBI. 1996, S. 33 ff.; Benda, E., Das Kruzifis-Urteil ist zu apodiktisch, ZRP 1995, S. 427; Ceis, M.-E., Geheime Offenbarung oder Offenbarungseid?, RdJB 1995, S. 373 ff.; Coerlich, H., Krieg dem Kreuz in der Schule?, NVwZ 1995, 1184 ff.; Czermak, c., Der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 3348 ff.; Link, Chr., Stat Crux? NJW 1995, S. 3353 ff.; Jestaedt, M., Das Kreuz unter dem Grundgesetz. Möglichkeiten und Grenzen für die Anbringung von Kreuzen in Unterrichtsräumen staatlicher Pflichtschulen, Journal für Rechtspolitik 3 (1995), S. 237 ff. 122 Lecheier, H., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 7, Rn. 55; Cräschner, R., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 7, Rn. 83; Link, Chr., Religionsunterricht, in: HdBStKirchR (Hg. ListIlPirson), Bd. 11, 2. Auf!. 1995, § 54 C, 11, 6. 123 Vgl. Leisner, W, Das staatliche Aufsichtsrecht über den Religionsunterricht unter besonderer Berücksichtigung der Lehrpläne und Lehrmittel, 1976, S. 79 ff.

11. Negative Staatswahrheit

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Körperschaften des öffentlichen Rechts 124 - gerade darin, daß der Staat sie alle gleichermaßen zur Erteilung von Religionsunterricht nicht nur zuläßt, sondern veranlassen, letztlich vielleicht gar zwingen muß, infolge eines Verfassungsgebots 125, liegt seit langem eine wirkmächtige Relativierung der Wahrheit, darin aber wieder negative Staatswahrheit. Zwar steht Eltern und Schülern die Wahlfreiheit des Unterrichts aus ihrem Bekenntnis heraus ZU 126 ; doch die staatliche Schulgewalt zwingt sie in einen von mehreren Religionsunterrichten, zu denen sie allerdings inhaltlich keine Stellung nimmt - wenn sie nicht Ethikunterricht wählen, den sie aber als parallele Veranstaltungen zur Suche religiöser Wahrheit ablaufen läßt. Darin wäre nun an sich gewiß noch keine Relativierung dort gesuchter und verbreiteter Wahrheit zu sehen, ist doch der wettbewerb liehe Ablauf von Erkenntnisvorgängen eher Ausdruck der Suche reiner Wahrheit als deren relativierende Behinderung. Die Besonderheit liegt jedoch beim Religionsunterricht darin, daß dieses Nebeneinander staatlich erzwungen und sanktioniert ist. Damit muß für alle Schüler, denen es hier ernst ist mit religiösem Bemühen, der Eindruck einer staatsverordneten Gleichwertigkeit entstehen. Dasselbe gilt für sämtliche Anlässe, bei denen Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften öffentlich auftreten, und damit, nicht nur durch ihre Segnungen, diesen Vorgängen die Weihe einer wahrheitbestätigenden Staatsgeste verleihen. Hier mag Ökumenismus heute in der Praxis weithin Gewissensfragen hier überlagern. Doch nachdem alles Religiöse in höchstem Maße grundsätzlich ist, bleibt es dabei: Es gibt in derselben Schule, unter demselben staatlichen Dach, in derselben staatlich erzwungenen Klassengemeinschaft, zwei Wahrheitssuchen und damit zwei Wahrheiten, zu denen sich der Staat gleichermaßen organisatorisch bekennt. Für den ernst Suchenden liegt darin, nichts führt daran vorbei, Wahrheitsrelativierung mit den Mitteln der Macht. Nathan der Weise mochte in heiterer Weise über unterschiedlichen Glauben philosophieren; dies war Theater, Fiktion, jedenfalls volle Privatheit. Gerade sein Denken sollte aber nicht einfach in Toleranz enden, sondern in Relativierung von Glaubens- und damit Wahrheitsinhalten. Als Leiter einer staatlichen Schule wäre er nicht vorstellbar - und doch unterliegt dieser einem ähnlichen Staats-Credo.

124 Hemmrich, U., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 3, 3. Auf!. 1996, Art. 140, Rn. 21 ff.; Kirchhof P., Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HdBStKirchR (Hg. ListIlPirson), Bd. I, 2. Auf!. 1994, § 22; v. Campenhausen, A., in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG-Komm., Bd. 14,3. Auf!. 1991, Art. 140, Rn. 45 ff.; Meyer-Teschendorf, K. G., Der Körperschaftsstatus der Kirchen, AöR 103 (1978), S. 289 ff.; Schmidt-Eichstaedt, G., Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts? 1975, insbes. S. 51 ff.; Smend, R., Grundsätzliche Bemerkungen zum Korporationsstatus der Kirchen, ZevKR 17 (1971), S. 241 ff. 125 Hemmrich, u., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. I, 4. Auf!. 1992, Art. 7, Rn. 23 ff.; Maunz, T., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 7, Rn. 48 ff. 126 Hemmrich, aaO., Rn. 19 f.; Maunz, aaO., Rn. 30 ff.

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D. Macht statt Wahrheit

So zeigt die Ordnung des Religionsunterrichts bei vertiefender Betrachtung, daß wirkliche Neutralität hier nicht gelingen konnte; eingetreten ist vielmehr staatserzwungene Relativierung in staatsgebotener Toleranz 127 . Doch die Suche nach der Wahrheit und diese selbst sind und bleiben immer im letzten intolerant. Toleranz gegenüber der Wahrheit kann es nicht geben, sie sei denn bereits relativiert. Wenn der Staat dies fordert, so schiebt er seine negative Staatswahrheit, die der Herabstufung weltanschaulicher Wahrheitsüberzeugungen, in diesen höchst wahrheitssensiblen Bereich. Seine Neutralität wird damit zu einer indirekten Form der Setzung von Staatswahrheit in wahrheitsabschwächender Toleranz, womit er zugleich die Religionsgemeinschaften einlädt, wenn nicht sanft zwingt, diese seine eigene Wahrheit nicht zu bekämpfen und ihre eigene Wahrheitsüberzeugung zu relativieren. Offen bleibt überdies die weitere, damit zusammenhängende Problematik, nach welchen Kriterien der Staat diese Segnungen des staatlich organisierten Religionsunterrichts gewissen religiösen Gemeinschaften vorenthalten darf. Wenn eine Ablehnung der Unterrichtserteilung nicht der Überzeugung der betreffenden ReligionsgeseIlschaften selbst entspricht, diese vielmehr staatlich organisierten Re1igionsunterricht gestalten wollen, so findet hier nicht nur Relativierung, sondern Abwertung bestimmter Wahrheiten statt 128 ; und wiederum wird sich dabei, immer mehr, die Problematik der Sekten stellen.

d) Ethikunterricht als Verbreitung von Staatswahrheiten

Religiös oder weltanschaulich nicht gebundener Unterricht, breitet sich neben den verfassungsgewährleisteten Re1igionsunterrichten aus 129 . Ob dies in gänzli127 v. Campenhausen, A., Staatskirchenrecht, 3. Auf!. 1996, S. 64 f.; Pieroth, B., Erziehungsauftrag und Erziehungsrnaßstab der Schule im Verfassungsstaat, DVBI. 1994, S. 949 (960); Listl, J., Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdBStKirchR (Hg. ListllPirson), Bd. I, 2. Auf!. 1994, § 14, Anm. I. 3.; ders., Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Bonn 1971, S. II f., 250 f.; Zippelius, R., in: BK z. GG, Art. 4, Rn. 2 ff., 74; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GGKomm., Art. 4, Rn. 20 f.; BVerfGE 52, 223 (251); Hollerbach, A., Grundfragen des Staatskirchenrechts, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 138, Rn. llO; ders., Neutralität, Pluralismus und Toleranz in der heutigen Verfassung, in: Sauer (Hg.), Zu Verhältnis von Staat und Kirche, 1976, S. 20 ff.; Krämer, A., Toleranz als Rechtsprinzip. Gedanken zu einem ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz, ZevKR 29 (1984), S. ll3 ff'; Lutz, H. (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977; Scheuner, U., Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, DÖV 1967, S. 588 (591 f.). 128 Vgl. zu den ,,Zeugen Jehova" OVG Berlin NVwZ 1996, S. 478 ff' 129 Ellinghaus, Wozu Ethikunterricht? 1996 Gottfried, A., Ethisch erziehen in der Schule, 1996; Wrege, R., Zur Einführung des Pflichtfaches "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" in Brandenburg, LKV 1996, S. 191 ff.; Lörler, S., Zur Einführung des Pflichtfaches ,,LebensgestaItung-Ethik-Religionskunde" in Brandenburg, ZRP 1996, S. 121 ff.; Leimgruber, St., Ethikunterricht än den Katholischen Gymnasien und Lehrerseminarien der Schweiz, 1989.

w.,

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chem Rückzug des Re1igionsunterrichts aus den staatlichen Schulen enden wird, läßt sich noch nicht absehen. Wenn solche Veranstaltungen zu allgemeiner Philosophielehre werden, stellt sich deutlich das Problem der "Staats wahrheit durch Staatsschule", von dem bereits die Rede war I30 in neuer, besonders intensiver Weise. Der Gegenstand solcher historischer oder dogmatischer Philosophieunterweisung lädt ja ein zur Weitergabe von gemeinschaftsrelevanten Inhalten, einer Staats-, Sozial- und Wirtschaftsphilosophie, vor allem in Formen der Geschichtsphilosophie, welche die staatliche Schulgewalt sogleich auf ihre politischen Bedürfnisse beziehen und darin "Appropriation von Wahrheit zu ihrer Staatswahrheit" in großem Stil betreiben wird. Die besondere Wahrheits-Sensibilität wird dabei diesem schulischen Bereich bleiben, aus seinen religiös-weltanschaulichen Ursprüngen heraus. Tendenzen und Gefahren einer solchen positiven, vor allem aber auch negativen Staatswahrheit werden bereits heute sichtbar. Man mag diese Veranstaltungen "Ethikunterricht" nennen - nur oberflächliche Betrachtung kann über ihre wesentlich dogmatischen, weltanschaulich-religiösen Bezüge hinwegsehen 131. Heutige Religion findet überdies ihr Zentrum gerade im moralischen Verhalten ihrer Gläubigen 132, entsprechend kirchlicher Morallehre. Für die Katholische Kirche jedenfalls war Ethik stets Ausdruck religiöser Wahrheit, was sich bereits im päpstlichen Lehramt ausdrückt, welches gleichermaßen dogmatische Erkenntnisse und grundlegende ethische Unterweisungen als Ausdruck der Wahrheit sieht. Wenn also der Staat dazu übergeht, mit eigenem Personal eigene Ethik, in erster Linie Staatsethik, in diesem Unterricht zu verbreiten, wenn er dahin seine jungen Bürger zwingt I33 , wollen sie den direkten religiösen Zwang zu einem bestimmten Bekenntnis und seinem Unterricht vermeiden, so liegt darin die Verbreitung von Staatswahrheiten, in einer hoch potenzierten Form schulischer Staatswahrheitsvermittlung.

130

Vgl. oben D, I, 1.

Gräschner, R., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 7, Rn. 82; De Wall, H., Ethik und ethische Erziehung in der Schule - rechtliche Grundlagen und Probleme, Der Evangelische Erzieher 47 (1995), S. 230 (233 ff.); ders., Verfassungsfragen des Ethikunterrichts öffentlicher Schulen, Theologische Literaturzeitung 119 (1994), S. 292 (295 ff.). 132 Isensee, J., Karitative Betätigung der Kirchen und Verfassungsstaat, in: HdBStKirchR (Hg. ListllPirson), Bd. 11, 2. Auf!. 1995, § 59 C, 11, I, b ff.; Scheuner; U., Zum Schutz der karitativen Tätigkeit nach Art. 4 GG (1967), in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 55 ff.; BVerfGE 24, 236 (247 ff.); 46, 73 (83); 70, 138 (160 f.). 133 Zum Problem vgl. Czermak, G., Das Pflicht-Ersatzfach Ethikunterricht als Problem der Religionsfreiheit und der Gleichheitsrechte, NVwZ 1996, S. 450 ff.; Link, Chr., Religionsunterricht, in: HdBStKirchR (Hg. Listl/Pirson), Bd. 11, 2. Auf!. 1995, § 54 C, I, 5, c; VG Freiburg, NVwZ 1996, S. 507 ff.; Renck, L., Nochmals: Die Rechtsstellung der Bekenntnisgemeinschaften im Schulrecht, BayVBI. 1994, S. 713 ff.; ders., Rechtsfragen des Religionsunterrichtes im bekenntnisneutralen Staat, DÖV 1994, S. 39 ff.; ders., Nochmals: Verfassungswidriger Ethikunterricht, BayVBI. 1994, S. 432 f.; Schockenhoff, M., Ist Ethikunterricht verfassungswidrig, BayVBI. 1993, S. 737 (740 f.); BayVGH BayVBI. 1990, S. 240 (245); BVerwG ZevKR 19 (1974), S. 323 ff. 131

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Doch in diesem Kapitel ist vor allem der negative Aspekt hervorzuheben, die negative Staatswahrheit, die darin liegt, wird doch positive Wahrheitssetzung dort nicht immer im Vordergrund stehen. Alles was nicht in diesem Ethikunterricht gelehrt, oder was gar in ihm skeptisch betrachtet wird, unterliegt einer bedeutsamen Wahrheits-Abwertung im Namen staatsformulierter Gemeinschaftsethik. Jedenfalls aber entsteht ein Wahrheitsgemenge, eine "Wahrheitsfusion" aus verschiedenen Quellen geschöpfter Elemente, die schon als solche eine relativierende Abwertung all jener Inhalte zur Folge haben muß, die in anderen, privat-religiösen Bereichen, in ,,reinerer", intensiverer Form, ohne Toleranz-Berührung mit fremder Wahrheit, vertreten werden. Im besten Falle mag sich hier eine Nathan-Stimmung verbreiten, welche fremde Wahrheit annimmt und ernst nimmt 134. Meist aber wird lediglich eine Grundstimmung relativierter Wahrheit entstehen, indem die staatliche Wahrheitsveranstaltung außerstaatliche Wahrheiten mehr oder weniger ignoriert. Wie aber könnte Wahrheit wirksamer negativ besetzt werden als durch Nichtbeachtung? Alle diese Vorgänge laufen schließlich in einer kaum kontrollierbaren, insgesamt geradezu nach Belieben relativierenden Vielfalt ab. Organ dieser Vermittlung positiver und negativer Staatswahrheiten ist ja jener Lehrer, der einmal seine sozialistische Grundüberzeugung als Staatswahrheit verbreiten und allem anderen ein negatives Wahrheits-Stigma aufdrücken wird, ein anderes Mal seine religiösen Überzeugungen eben doch in diese Staatsethik wird einfließen lassen, wo dann wiederum atheistischer Marxismus als Häresie erscheint. So setzt denn, auf all diesen Wegen, der moderne Staat seine negative Wahrheit zugleich auch noch als eine positive, in der Verhinderung, Ablehnung, Abwertung all dessen, was er nicht geschaffen hat oder anerkennt. 4. Staatsverbreitete Wahrheitsskepsis

Wie (eingangs von 11.) dargelegt, geht es bei der Staatswahrheit nicht nur um einzelne Wahrheiten, sondern um "Gesamtlagen der Wahrheit". Bedeutsam ist also aus der Sicht dieser Untersuchung nicht nur die einzelne Erkenntnis, welche vom Staat gesucht, verbreitet oder verhindert wird, Grundstimmungen der Staatswahrheit sind oft, gerade weil schwer faßbar, weit wirksamer, überzeugend, ja unwiderleglich; in ihnen erst herrscht der Staat in all seiner beispiellosen, allgegenwärtigen Allgemeinheit. In diesem Sinn müssen die bisher betrachteten und ähnliche Phänomene zu sammengefaßt, erweitert und hochgerechnet werden, unter dem Aspekt der negativen Staatswahrheit, zu einer Grundstimmung, die heute ebenso verbreitet ist, wie ihre staatspolitische Bedeutung selten erkannt wird: Wahrheitsskepsis ganz allgemein. 134 Link, aaO.; Leeheler, H., Die RechtssteJlung der Bekenntnisgemeinschaften im Schulrecht, BayVBI. 1994, S. 41 f. sowie die in Fn. 127, 133 Genannten.

11. Negative Staatswahrheit

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Kaum eine Grundhaltung ist heute so allgemein festzustellen, gerade in einer demokratischen Gemeinschaft, welche "politische Wahrheit" nicht anerkennen will. Religiöse Wahrheiten ziehen sich ins stille Kämmerlein zurück, oder erheben Wahrheitsanspruch nur mehr in der abgeschwächten Form kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit 135 - als Diskussionswahrheiten. Wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis hat Vertrauen gewonnen, doch ihre Rückschläge und Grenzen haben dieses immer wieder erschüttert. Eine Gesellschaft ohne Gesellschaftswahrheit mag sich immunisiert fühlen gegen die Setzung von Staatswahrheiten durch politischen Willensakt; einem anderen aber ist gerade sie weit geöffnet, mit all seinen Gefahren: jener allgemeinen Wahrheits skepsis, welche die Macht verbreitet, und unter deren Schutz sie ihre bescheideneren Teilwahrheiten setzt, oft nur mehr als Ausdruck ihres politischen Willens. Dies ist ein ganzes und ein großes politisches Programm. Die Wahrheit und ihre Erkenntnis war sicher schon früher ein bedeutsames Instrument des Staates, doch zugleich auch immer eine Waffe gegen ihn, sei es daß seine Bürger sich im Namen religiöser Wahrheiten frontal gegen seinen Willen wandten, oder daß sie ihm einfach die Gefolgschaft verweigerten, im Namen der Suche von Außerstaatlichem. Wenn es der Staatsgewalt gelingt, die bereits weit verbreitete Wahrheitsskepsis zu verstärken, so baut sie damit alle diese geistigen Widerstände ab, solche können nur mehr aus politischem Willen kommen - und willensmäßig ist und bleibt der Staat der stärkere, nicht in Erkenntnis, aber doch in Durchsetzung. Hier wird dann etwas wie eine ,,rein negative Staatswahrheit" erreicht: Macht bleibt ihren willensmäßigen Wurzeln treu, sie kann sich darin überzeugend als eine neutrale zeigen, daß sie "Wahrheit überhaupt nicht kennt", jedenfalls eine größere Wahrheitslage nicht anerkennen will, in all ihren politischen Bereichen. Die Macht wird so zum Reich der Nicht-Wahrheit, von Räumen, in denen, nach wie vor, Wahrheiten gesucht und gefunden werden dürfen; nur interessieren sie eben den wahrheitsblinden Staat nicht mehr, der Interessen verfolgt, nicht Erkenntnisse. Alle Voluntarisierungselemente der Staatsgewalt, welche die Verfassung bietet, scheinen hier nun den Aufbau eines in sich konsequenten, von allen unbeweisbaren Behauptungen und Bestreitbarkeiten gereinigten Staatsapparats zu ermöglichen. An Überzeugungskraft mag damit manches verloren sein, doch die Durchsetzungskraft nimmt zu, und sie gewinnt, geradezu als solche, Überzeugungskraft, weil dem Skeptiker eben "das Beste doch ein Befehl ist", der nie in sich Ausdruck der Wahrheit sein will. Staatswahrheit wird sich, in dieser systematischen Skepsis, ihrer selbst bewußt und sie folgt darin ihren eigenen Gesetzen der Staatswahrheitsfindung und -verl3S Im Namen des "Öffentlichkeitsanspruchs" der Kirchen, vgl. v. Campenhausen, A., Staatskirchenrecht, 3. Aufl. 1996, S. 99; Schlaich, K., Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdBStKirchR (Hg. Listl/Pirson), Bd. 11, 2. Aufl. 1995, § 44, insbes. 111; Huber; W, Kirche und Öffentlichkeit, 2. Aufl. 1991, insbes. S. 31 ff., 511 ff., 579 ff., 616 ff. m. zahlr. Nachw. aus der Literatur; Conrad, W, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 1964.

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D. Macht statt Wahrheit

breitung; viele Wege führen zu diesem Ziel. Gerade in einem liberalen Staatswesen kann die Macht "wahrheitsmäßig" über viele, punktuell gesetzte Staatswahrheiten wirken, deren Überzeugungskraft sie höher einschätzen darf als die großer, angeblicher Erkenntnisse. Eben dies aber muß, in einer naturwissenschaftlich geprägten Periode, wiederum die Skepsis verstärken, es könne etwas geben wie allgemeinere Wahrheiten. "Wahrheitslücken", in wahrheitsnormativen Geflechten oder gerichtswahrheitlicher Praxis 136 lassen sich dann eben nicht systematisch, durch höhere Wahrheiten, schließen 137 , sondern nur durch einen systemschaffenden Machtwillen, der seine Bestreitbarkeit keineswegs zu verleugnen braucht. Die punktuelle Staats wahrheit ruft also, über staatsverbreitete Wahrheitsskepsis, die voluntarisierte Macht. Staatswahrheit wird betrachtet als eine Vielzahl einzelner Herrschaftsstützen, welche aber erst der Herrschaftswille überwölbt und zu Räumen werden läßt, denen sich Menschen nicht nur nähern, sondern in denen sie sich auf Dauer aufhalten, überwacht von oben, aus den Gewölben der Macht. Ein solcher Verzicht auf ein Staatswahrheitssystem 138 geht mit Bescheidenheit einher, mit Erkenntnisverzicht, mit der Kraft jenes Understatement sogar, in welchem englische Geistigkeit und Politik ihre Stärke beweisen: "Man weiß zwar Staatswahrheiten", aber man verkündet Unwissen, ruft damit den Bürger zu Hilfe mit seinen vielen kleinen Erkenntniswahrheiten, nur damit er bald erkenne, daß auch sie nicht weiterhelfen, um sich dann der höheren, zwar prekären, aber gerade darin wirkmächtigen "Wahrheitsskepsis als Wahrheit" zu beugen. Darauf beruht die Grundrechtfertigung der Demokratie, denn diese Wahrheitsskepsis endet im Hinweis auf die Alternativlosigkeit der Staatsform wie all ihrer wichtigen Ausprägungen. Wer wollte den Nichtwissenden widerlegen, der sokratische Zweifel wird zur höchsten Staatswahrheit, die als Staatshypothese wirkt und geradezu den "Staat des als ob" in Kauf nimmt, die Staats-Fiktion. Der Staatsskepsis ist es ein Leichtes, privates, vermeintliches oder wirkliches Wahrheitsstreben zurückzudrängen oder seine Ergebnisse abzuwerten, wie dies eingangs dieses Abschnitts beschrieben wurde. Die Macht braucht sich dabei nicht einmal auf eigene Wahrheiten zu berufen, denen ja ebenfalls stets die Schwäche einer gewissen Bestreitbarkeit anhaftet, welche sich nicht immer durch Staatsprestige überdecken läßt. Einen Wahrheitskampf zwischen ihrer positiven Staatswahrheit und "privaten Wahrheiten" mag die Staatsgewalt immer wieder versuchen, doch sie könnte aus ihm auch geschwächt hervorgehen, weil ihre eigenen Themen und Thesen ebenso relativiert erscheinen wie die aller anderen Wahrheitsbeflissenen. Der Macht der großen negativen Staatswahrheit kann solches kaum widerfahren; wer könnte Skepsis noch weiter abwägen. Sie drängt Wahrheitssuche an sich schon zurück, ohne Gegenbeweise antreten zu müssen, Staatsskepsis ist die beweisfreie negative Staatswahrheit. Die staatliche Macht darf dies einsetzen, denn 136

137 138

Vgl. oben C, VI, IX. VgJ. B, III. Im Sinne von oben B, II1, das die Macht dann allerdings nicht einsetzen kann.

H. Negative Staatswahrheit

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sie wird auch über und jenseits davon existieren und sich durchsetzen. Außerstaatliche Wahrheitsanstrengung dagegen ist zur Erkenntnis verurteilt - oder sie löst sich auf. In ihr liegt daher eine Atemlosigkeit, eine Getriebenheit, welche die Staatsgewalt in der Ruhe ihrer Zeitlosigkeit nicht zu kennen braucht. Sie kann in ihrer großen Skepsis abwerten, nicht aber abgewertet werden. Absolutheitsanspruch trägt alle Wahrheit, legitimiert vor allem auch ihre machtmäßige Verwirklichung. Die hier behandelte Staatsskepsis leistet einen allgemein und auch im einzelnen bedeutsamen Absolutheitsverzicht; sie mag sogar zugeben, daß in ihren Begründungselementen Nützlichkeitserwägungen mitschwingen, weil eben gesellschaftliche Interessen in Wahrheitsanwendung verfolgt werden. Doch darin kann die Wandelbarkeit der Wahrheit 139 anerkannt werden, die wichtigste Negativ-Überzeugung der Staatsskepsis wird damit sogar noch wahrheitswirksam. Der Staatsgewalt genügt es dann, wenn sie jeweils den Kern ihrer Grundentscheidungen wahrt und als Wahrheitserkenntnis ausgibt, bei den Grundrechten ebenso wie im organisatorischen Bereich. Damit gewinnt sie an Wirklichkeitsnähe und so erneut an Wahrheitsüberzeugung für das, woran sie "doch noch" festhält im Namen positiver Staatswahrheit. In ihrer großen Wahrheitsskepsis kommt die Macht schließlich den vielen, kleinen Wahrheitsbemühungen ihrer Bürger entgegen und sie gibt offen zu, daß hier Wahrheitsappropriation stattfindet, nicht ,,reine Erkenntnis" - denn eine solche kann es in einer großen Wahrheitslage der Wahrheitsskepsis ja gar nicht geben. Die "skeptische Macht" entgeht damit auch noch dem Vorwurf der Verschleierung. Die Staatsskepsis, die große negative Staatswahrheit, scheint sich in Agnostizismus gegen den Staat selbst zu wenden, ihn in letzter Bestreitbarkeit zu gefährden. Doch diese Wette geht die Macht ein, die demokratische zumal 140 ; weil sie wahr gerade darin sein will, daß sie diskutabel bleibt, sieht sie bereits das Licht am Ende der "langen Unterführung unter die Wahrheit" in Agnostizismus. Doch es ist nicht das Licht der Wahrheit, sondern der Glanz eines stählernen Willens, der allein das Wahre ersetzen kann. So endet diese negative Staatswahrheit ganz einfach in ganz großer Voluntarisierung 141 im Namen - und am Ende - der Erkenntnis. Herrscherliehe Kraft entfaltet sich daraus 142. Dem Bürger wird klar, daß er wenig nur an Wahrheit erkennen kann in Politik und Staat, daß immer noch die Staatsgewalt die besser erkennende bleibt. Wenn er sich aber nicht mehr in Wahrheitserkenntnis entfalten darf oder will, so verliert er ein intellektuelles Selbstwertgefühl, darin wird er auch politisch kleiner und schwächer. Jeder Aufschwung zur Erkenntnis ist Ausdruck ungebrochener Entfaltungskraft l43 . Wird sie in Skepsis 139

V gl. oben B, V.

Bis hin zur "Demokratischen Anarchie", vgl. Leisner; w., Demokratie, 1998, vor allem S. 728 ff., 754 ff. 141 Darin schließt sich ein Kreis - vgl. oben A, 11, f: vom Willen zur Erkenntnis - zurück zum Willen im Namen der (Erkenntnis-)Skepsis. 142 Vgl. bereits oben B, VI, 2. 140

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D. Macht statt Wahrheit

schwächer, so wird der Bürger auch mit seinen anderen Kräften politisch weniger bewirken, nirgends mehr etwas mit dem Absolutheitsanspruch einer von ihm erkannten Wahrheit. Der wahrheitsskeptische Gewaltunterworfene, der eigentliche "Passiv-Bürger", ist also ein Ideal der Macht, wird er doch weithin das Staatswahre geschehen lassen und, darüber hinaus und ganz einfach: den Staatswillen. Der Staatswahrheit gelingt, in diesen ihren negativen Ausprägungen, nicht nur ein Divide et impera privater Erkenntnis, welche sich gegen sie auflehnen könnte, sie schwächt die Persönlichkeitskraft im gesamten privaten Bereich, welche im Namen der Wahrheit gegen sie antreten könnte. Die Demokratie muß nicht einmal den Vorwurf hinnehmen, sie habe damit Bürgerkraft gebrochen - sie öffnet ihr ja weit die Tore, wenn sie mit ihrem Willen in die Macht eingehen will. Die eigentliche Freiheit des Bürgers heißt dann eben: Herrschaftsteilhabe, nicht Wahrheitsfreiheit.

111. Macht gegen Wahrheit 1. Rechtliche Erkenntnisverbote

a) Von der faktischen Wahrheitsverdrängung zum rechtlichen Eingriffin die Erkenntnisfreiheit

Gegenstand dieses Hauptteils ist eine Macht, welche an die Stelle der Wahrheit und ihrer Erkenntnis treten will. Die höchste Steigerung dieser Macht als Wahrheitsersatz ist das offene Verbot eines bestimmten Wahrheitsstrebens und damit einer Wahrheitserkenntnis als deren Ergebnis. Es geht dabei nicht nur darum, die Verbreitung einmal erkannter, angeblicher oder wirklicher, Wahrheit unmöglich zu machen; der Schwerpunkt eines solchen Vorgehens der Macht gegen die Wahrheit liegt in der Verhinderung der Erkenntnis und damit einer Aufhebung ihrer Inhalte bereits an der Wurzel. Wahrheitsverbreitungsfreiheit und Wahrheitserkenntnisfreiheit sind die beiden Räume, in denen die Macht gegen die Wahrheit vordringt. Zunächst wurden in den vorstehenden Kapiteln Formen der Wahrheitsaneignung durch die Staatsgewalt beschrieben, welche damit Erkenntnis anderer Wahrheiten durch positive Setzung der eigenen in Entstehung wie Verbreitung behindert. Dies geschieht vor allem mit Mitteln des formlosen VerwaltungshandeIns, welches außerstaatliche Wahrheit zurückdrängt. Die Macht greift hier jedoch, wie es das Wesen des informellen Staatshandelns eben ist, faktisch, nicht aber mit rechtlichen Geboten und Verboten ein. Diese letztere Verschärfung des Staatszugriffs auf Erkenntnis ist nun Gegenstand der folgenden Betrachtungen. 143 Weshalb denn auch das ursprüngliche Verständnis der Entfaltungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. die Erstkommentierung von Günter Dürig im GG-Komm. von Maunz I Dürig, Art. 2 Abs. I, Rn. 10) den Schwerpunkt auf die nicht-ökonomische Entfaltungskraft legte.

III. Macht gegen Wahrheit

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Aus der Sicht der Grundrechte und der Kategorien der öffentlich-rechtlichen Dogmatik handelt es sich dabei um hoheitliche "Eingriffe". Ihnen mag die faktische Wahrheits verdrängung, über Durchsetzung eigener Staatswahrheiten, in der Wirkung gleichkommen, und selbst die Formen lassen sich nicht immer eindeutig unterscheiden: Wenn die Staatsgewalt durch Setzung eigener, etwa geschichtlicher Wahrheiten einen bestimmten, schulischen oder wissenschaftlichen, Bereich "besetzt", so schließt sie dort andere Wahrheitsfindung aus, und dies möglicherweise auch mit hoheitlichen Mitteln, etwa des Schulzwangs l44 . Wenn umgekehrt die Gewinnung bestimmter historischer Wahrheiten verboten wird, wovon im folgenden die Rede sein wird, so steht dahinter in der Regel eine andere, "entgegengesetzte Staatswahrheit", welche so durchgesetzt werden soll. Informelle Wahrheitsaneignung wie -verdrängung löst also ebenso den bereits mehrmals erwähnten "Wahrheitskampf' aus wie hoheitliche Erkenntnisverbote. Dennoch kommt diesen letzteren eine besondere Eigenart zu, welche ihre gesonderte Behandlung rechtfertigt: Sie erfolgen in der Regel nicht (nur) ausdrücklich im Namen einer anderen Staatswahrheit, die durchgesetzt werden soll, mag eine solche auch hinter ihnen stehen; es geht bei ihnen auch um den Schutz und die Durchsetzung anderer Gemeinschaftsgüter, etwa der allgemeinen Sicherheit und Ordnung, oder des Prestiges der Gemeinschaft im internationalen Bereich, welche als solche zur Begründung dienen, ohne Rückgriff auf eine damit verbundene eigene Staatswahrheit. Daß dann im Ergebnis der verbietende Eingriff doch eine solche schafft, rechtfertigt die Behandlung dieser Erscheinungen im Bereich der Staatswahrheit, als einer dogmatisch besonderen Form von deren Gewinnung und Verkündung. Hier wird sich übrigens auch, an praktischen Beispielen, die Besonderheit von Eingriffen, rechtlichen Geboten und Verboten, gegenüber allen Wirkungen informellen Staatshandelns zeigen. Dieses letztere muß immer, um jene Eingriffsqualität zu erreichen, welche ihm die herrschende Lehre zuerkennt 145, eine Intensität annehmen, welche für den Bürger Unentrinnbarkeit bedeutet; nur dann wirkt der faktische Zugriff als rechtlicher Eingriff. Dieser Begriff der "Unentrinnbarkeit" ist aber weder als solcher dogmatisch gesichert noch bisher, soweit ersichtlich, inhaltlich ausreichend bestimmt - eine drängende Aufgabe künftiger Untersuchungen. Verwaltung und Gerichtsbarkeit werden also, in verständlicher Zurückhaltung, dieses faktische Staatshandeln nur in Ausnahmefällen besonderer Intensität dem rechtlichen Eingriff gleichstellen 146, auf dem die gesamte Schutzdogmatik des öf144 Der Lehrplan und seine Inhalte, ja schon deren Auswahl, ist Grundlage und damit bereits Bestandteil hoheitlicher staatlicher Schulverwaltung (zu deren hoheitlichem Charakter; vgl. Heckel, H./Avenarius, H., Schulrechtskunde, 6. Auf). 1986, S. 66 ff., 177 ff.; Eiselt, G., Schulaufsicht im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 821 ff.). 145 Vgl. oben Fn. 69, 72. 146 Vgl. Pieroth, B./Schlink, B., Staatsrecht II - Grundrechte, 12. Auf). 1996, Rn. 259; Dreier, H., in; Dreier, GG-Komm., Bd. 1,1996, Vorbem. Rn. 82; Albers, M., Faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen als Schutzbereichsproblem, DVBI. 1996, S. 233 ff.; Manssen, G., Staatsrecht I, 1995, Rn. 445 ff.; Roth, W, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, S. 33 ff., 225 ff., 298 ff.; Diseher; Th., Der "mittelbare" Grundrechtseingriff, JuS 1993,

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D. Macht statt Wahrheit

fentlichen Rechts seit Jahrhunderten aufbaut. So mag denn auch die faktische Verdrängung staatsferner Erkenntnis und ihrer Wahrheit als solche noch so deutlich in Erscheinung treten, es fehlt ihr doch häufig jene Intensität, welche sie für den Bürger zum unentrinnbaren Zugriff auf seine Erkenntnisfreiheit werden läßt; damit bleiben manche der bisherigen kritischen Feststellungen eben doch staats schützender Re1ativierung geöffnet. Der offene Eingriff der Staatsmacht in die Freiheit der Erkenntnisgewinnung und -verbreitung ist derartiger Relativierung nicht zugänglich; hier zeigt die Macht ihr Gesicht, hier müßte eigentlich rechtsstaatlicher Schutz gegen sie rascher und überzeugter eingreifen als gegenüber Formen der Wahrheitsaneignung durch den Staat, der faktischen Setzung von Staatswahrheiten.

b) Das rechtliche Wahrheitsverbot als höhere Stufe der negativen Staatswahrheit

Die "negative Staatswahrheit,,147 betraf im wesentlichen einen Aspekt der Verdrängung außerstaatlicher Wahrheiten durch faktisches Staatshandeln. Der Bürger darf ja auch hier, nach wie vor, anders denken, die Gewinnung von Erkenntnissen versuchen; es handelt sich eben doch nur um die Kehrseite der positiven faktischen Wahrheitssetzung, von welcher deren negative Wirkungen ohnehin nicht immer scharf zu trennen sind. Wenn der Staat im Namen seiner Neutralität Erkenntnisabwertungen vollzieht, oder gar in der Schaffung einer Grundstimmung der Erkenntnisskepsis den Bürger in seiner Wahrheitssuche entmutigt und ihn damit seiner Herrschaft gefügig macht - selbst auf diesen Stufen negativer Staatswahrheit wird noch immer nicht offen jener rechtliche Zwang ausgeübt, um den es aber im folgenden geht: juristischer Staatszwang gegen Erkenntnis und Wahrheit. Daß Betrachtungen darüber möglich sind, ist bereits ein Alarmzeichen für die Freiheit. Die folgenden Untersuchungen sollen anschließen an die Betrachtungen zur negativen Staatswahrheit: Mit rechtlichen Mitteln wird hier ja Wahrheitsnegation betrieben, der Erkenntnisvorgang nur verboten oder erschwert, weil eine bestimmte "Wahrheit" als solche getroffen werden soll. Darin kommt es zu einer rechtlichen Entwahrheitlichung, zum negativen, durch Machteinsatz sanktionierten Staatswahrheits-Dogma, zur negativen Staatswahrheit in ihrer reinsten Form.

S. 463 ff.; Eckhoff, R., Der Grundrechtseingriff, 1992, S. 47 ff., 236 ff.; Bleckmann, A. IEckhoff, R., Der mittelbare Grundrechtseingriff, DVBI. 1988, S. 373 ff.; Lübbe-Wolff, G., Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 42 ff., 70 ff.; die Frage, wann informale/faktische Beeinträchtigungen als Eingriffe anzusehen sind, wird im Schrifttum höchst unterschiedlich beantwortet. 147 Im vorstehenden Kap. 11 beschrieben.

III. Macht gegen Wahrheit

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c) Höhere Güter als Wahrheit?

Will die Staatsgewalt Erkenntnis verbieten, so greift sie damit, ob sie sich nun gegen diesen Vorgang selbst oder die Verbreitung der Ergebnisse wendet, was im folgenden nicht durchgehend unterschieden zu werden braucht, in die geistige Freiheit des Bürgers ein. Diese wird bereits durch den Schutzbereich der allgemeinen Entfaltungsfreiheit der Persönlichkeit erfaßt und bildet, nach einer noch immer gewichtigen Lehre, sogar deren wichtigsten Bereich l48 , verglichen mit den ökonomischen Auswirkungen solcher Entfaltung. Speziellere Grundrechte haben unmittelbaren und primären Bezug auf dieses Erkennen: die Meinungsfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, die Freiheit des Glaubens und der Weltanschauung. So wie die öffentlich-rechtliche Dogmatik ein ganzes System von wirtschaftlichen Freiheiten hat errichten wollen l49 , mit mindestens gleichem Recht müßte an einem System geistiger Freiheiten ISO gearbeitet werden, dessen Kern die Freiheit der Wahrheitserkenntnis ist. Hier geht es um einen grundrechtlichen Schutzbereich, welcher Bemühungen um Wahrheit, und damit diese selbst, in ihrem Entstehen, als höchstrangiges Verfassungsgut sichert. Gewiß schließt auch dies nicht eine Abwägung gegenüber anderen GemeinsChaftsgütern l51 aus, wie bestreitbar auch immer im einzelnen ein solcher Vorgang sein mag, was sich gerade hier zeigt. Bei früherer Betrachtung ist dies bereits deut148 Vgl. oben Fn. 143 und Dreier, H., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 2 I, Rn. 50, 54; Jarass, H. D., Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Grundgesetz, NJW 1989, S. 857 ff.; Degenhart, ehr., Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 11 i.V. mit Art. 1 I GG, JuS 1992, S. 361 ff. 149 Vor allem in der Zusammenschau von Berufsfreiheit und Eigentumsgrundrecht, vgl. dazu Scholz, R., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 12, Rn. 122 ff.; Papier, H.-J., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 14, Rn. 4, 33, 220; vgJ. auch zur "Wirtschaftsfreiheit", Leisner, w., Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, 1996, S. 57 ff. m. Nachw. 150 Vgl. hier zum Freiheitsschutz bereits Oppermann, Th., Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 382 ff. (Wissenschaftsfreiheit), 260 ff. (pädagogische Freiheit des Lehrers), 436 ff. (Kunstfreiheit). 151 So insbes. in der Lehre von den ,,immanenten Schranken" vorbehaltlos garantierter Grundrechte, die vor allem (Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 3 GG) den Bereich der Erkenntnis betreffen, vgl. Sachs, M., in: Sachs, GG-Komm., 1996, vor Art. 1, Rn. 94 ff.; Kokott, J., ebda., Art. 4, Rn. 87 ff.; Pieroth, B./Schlink, 8., Staatsrecht 11 - Grundrechte, 12. Auf!. 1996, Rn. 354 ff.; ausführlich Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 493 ff., 629, 660 ff.; Kriele, M., Vorbehaltlose Grundrechte und die Rechte anderer, JA 1984, S. 629 ff.; Wipfelder, H.-J., Ungeschriebene und immanente Schranken der Grundrechte, BayVBJ. 1981, S. 417 ff., 457 ff. Die Terminologie ist uneinheitlich, zum Teil wird von immanenten oder verfassungsimmanenten, teils von verfassungsunmittelbaren oder "sich aus der Verfassung ergebenden" Schranken gesprochen. Daß die "immanenten Schranken" den Bereich der Erkenntnis betreffen, wird dann mittelbar angesprochen, wenn die Abwägung der Grundrechte bzw. Verfassungswerte behandelt wird und in diesem Zusammenhang der "Wert" der kollidierenden Grundrechte und Verfassungswerte "zu erkennen ist".

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D. Macht statt Wahrheit

lich geworden 152. Die Staatsgewalt läßt sich eben nicht in die Fesseln der Verhältnismäßigkeit legen. Dennoch kommt es hier zu einer dramatischen Zuspitzung dieser Abwägungsproblematik. Soll es wirklich höhere Güter in einer Wertordnung freiheitlicher Verfassung geben als Erkennen und Wahrheit? Müßten nicht alle politischen Richtungen, konservative, liberale und sozialistische, sich entschieden dagegen wenden, daß im Namen von ihnen getragener Politik das Wahrheitsstreben der Bürger zurückgedrängt werde? Gilt das nicht vor allem für diejenigen, welche übersteigerte Ökonomisierung im Regime der Freiheit bekämpfen, deren hohe Werte nicht in die kleine Münze des täglichen Profits wechseln lassen wo1len? Steht hier nicht alles auf dem Spiel, was sich je im politischen Bereich Humanismus nannte, mit seiner antiken Skepsis gegen die auri sacra farnes? Sind überhaupt Verfassungsgüter vorstellbar, denen ein noch höherer Rang als der Wahrheit und deren Suche zukommen könnte? Der Rückgriff auf jene "Grundlagen des Gemeinschaftslebens"153, ohne die dann eben eine freiheitliche Ordnung nicht mehr möglich sei, mag auch hier zur Begründung dienen. Läßt sich aber nachweisen, daß ein Zusammenleben nicht mehr möglich wäre, wenn man Erkenntnis nicht in bestimmten Bereichen beschränkte, müßte vielleicht gar die Staatsgewalt "im Namen der Wahrheit Wahrheit verbieten", wird ihr damit aber nicht eine probatio diabolica abverlangt? Es muß hier ausgesprochen werden: Für eine Freiheitsordnung liegt etwas Furchtbares darin, daß sie offen ihre Macht gegen die Wahrheit einsetzen - auch nur könnte. Wie kann dann "Wahrheit gottähnlich" sein, wenn der Staat als SuperGott sich gebärdet? Die Dimension des Problems gilt es zu erkennen: Nicht mehr nur, daß der Staat seine eigene Wahrheit mit all seiner Macht, mit all seinen Mittel befestigt und machtferner Wahrheit entgegenhält; hier stellt er nun die Macht, damit seinen Willen, offen über alles Erkennen - oder er will Gütern höheren Rang zuerkennen als aller Wahrheit. Den Legisten der Macht wird auch dies nicht zu denken geben, in ihrem geschlossenen System; doch Juristen stehen hier der Herausforderung eines Rechts gegenüber, das sich gegen die Wahrheit wenden will.

2. Allgemeine Wahrheits-Erkenntnisverbote?

a) Erkenntnisverbot im Namen "evidenter Wahrheit"?

In jüngster Vergangenheit hat sich die hier gestellte Frage in einem tragischen Zusammenhang gestellt: Die Leugnung von Massenvernichtungen im Zweiten Weltkrieg wurde mit Strafe bedroht, selbst wenn sie sich auf Erkenntnisbemühen Siehe Leisner; w., Der Abwägungsstaat, 1997, vor allem S. 46 ff. Vgl. v. Münch, I., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Aufl. 1992, Vorb. Art. 1 - 19, Rn. 44 ff. m. weit. Nachw. sowie die in Fn. 454 Genannten. 152 153

III. Macht gegen Wahrheit

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historischer Wahrheit berufen sollte l54 • Wo dies in der Form oder zu dem auch nur entfernten Ziel der Verharmlosung oder gar Rechtfertigung von Massenmord geschieht, ist schwere Bestrafung eine Selbstverständlichkeit. Doch hier geht es lediglich um eine Frage: Darf die Staatsgewalt unter Einsatz ihres schärfsten Mittels, des Strafrechts, "Erkenntnisbemühungen" und "Wahrheitsverkündung" verbieten, damit ihre eigene Wahrheit durch Verbot "anderer Wahrheit" durchsetzen? Die Staatsgewalt verbietet hier Erkenntnisbemühungen, weil endgültig Wahrheit bereits erkannt sei 155, sie bedroht mit schwerer Strafe denjenigen, welcher diese Wahrheit nicht annimmt. Wahrheitsverbot ist in diesem Sinne also doch nur die Folge eines Wahrheitsgebots; die Wahrheit wird zuerst durch die Staatsgewalt festgelegt, sodann die Suche anderer Wahrheit verboten, nicht an sich, sondern nur für den Fall, daß sie zu einem abweichenden Ergebnis führen könnte, etwa daß es weniger Opfer gegeben habe. Problematisch ist hier nicht eine solche Wahrheitsproklamation an sich; sie kann ja auch auf andere Weise, etwa durch offizielle Verlautbarungen, im Schul- oder Universitätsbereich, erfolgen. Entscheidend ist der besondere Aspekt eines Erkenntnisverbots durch eindeutigen und schärfsten Einsatz der Staatsrnacht. Deshalb handelt es sich hier um ein besonderes Phänomen der Staatswahrheit.

b) Erkenntnisverbot - mehr als Aktionsverbot

Der Erkenntnis der Wahrheit und ihrer Verbreitung kann der Staat immer dann entgegentreten, wenn dabei ein Übergang stattfindet von der Erkenntnis zur Aktion l56 . Dieser Grundsatz ist heute durch allgemeinen Konsens getragen. Die Abgrenzung im einzelnen mag allerdings problematisch sein, bereits aus dem Begriff der Wahrheit heraus. Wer Vincit Veritas ernst nimmt, muß doch auch, im Namen von ihm erkannter Wahrheit, diesen Sieg wollen, damit die Unterwerfung einer Gegenerkenntnis unter seine "stärkere Wahrheit". Nicht in jeder Form für die Wahrheit einzutreten, auch durch Aktion, würde ja bedeuten, den hohen Auftrag zu 154 Tröndle, H., StGB-Komm., 48. Auf!. 1996, Art. 130, Rn. 17,20 a; Huster, St., Das Verbot der ,,Auschwitzlüge", die Meinungsfreiheit und das Bundesverfassungsgericht, NJW 1996, S. 487 ff.; Beisel, D., Die Strafbarkeit der Auschwitzlüge, NJW 1995, S. 997 ff.; Bertram, G., Noch einmal: Die "Auschwitz-Lüge" - Anmerkungen zum Urteil der Großen Strafkammer des LG Mannheim vom 22. 6. 1994, NJW 1994, S. 2397 ff.; ders., Entrüstungsstürme im Medienzeitalter - der BGH und die "Auschwitzlüge", NJW 1994, S. 2002 ff. 155 AG Hamburg NJW 1995, S. 1039 ff.; LG Hamburg NStZ-RR 1996, S. 262 ff.; LG Mannheim NJW 1994, S. 2494 ff.; BGH NJW 1995, S. 340 f.; BVerfGE 90, 241 (252 ff.) m. Anm. Schulze-Fielitz, H., NJW 1993, S. 917 ff.; vgl. auch E 90, 1 (18, 19 ff.) 156 Battis, u., in: Sachs, GG-Komm., Art. 33, Rn. 32 ff.; Kunig, Ph., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 2, 3. Auf!. 1995, Art. 33, Rn. 34; Denninger E./Klein, H. H., Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, VVDStRL 37 (1979), S. 7 ff., 53 ff.; Weiler, H., Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, Diss. Bremen 1979.

14 Leisner

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D. Macht statt Wahrheit

mißachten, "der Wahrheit Zeugnis zu geben", bis hin zum Märtyrertod. Oder sollte die Weigerung, heidnische Götzen anzubeten, nur Ausdruck ruhiger Wahrheitserkenntnis des Christentums gewesen sein, nicht aber eine Aktion, welche dann eben als solche durch Staatsaktion mit dem Tode bestraft wurde? Die gesamte Aktionsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts l57 bedarf also der Vertiefung; letztlich läuft sie auf ein Revolutionsverbot hinaus, zu dem sich jede Macht legitimiert fühlt, das eine Ordnung der Freiheit aber in besonderer Weise begründen muß. Hier liegt eine unbewältigte geistige Vergangenheit der letzten Jahrzehnte, selbst wenn der Konsens über die "wehrhafte Freiheit,,158 als solcher angenommen wird. Libertät verlangt jedenfalls größte Zurückhaltung, sie rechtfertigt den Staatseingriff nur dort, wo die Form der Wahrheitsverbreitung eindeutig zeigt, daß es um politischen Willen geht, nicht um Wahrheit. Jenem darf die Staatsmacht ihren Willen entgegensetzen, und schon deshalb bleibt sie aufgerufen, jeder Vermengung von Erkenntnis und Willensakt, auch in ihrem eigenen Bereich, entschieden entgegenzutreten. Der deutschen Staatsgewalt der letzten Zeit wird man bescheinigen dürfen, daß sie derartige Zurückhaltung stets versucht hat, und daß sie ihr insgesamt auch gelungen ist. Doch hier ist nun dieser geistige Liberalismus in Pönalisierung aufgegeben worden, in einer Erweiterung des Aktionsverbots zu einem Erkenntnisverbot. Strafbar macht sich ja bereits, wer durchaus ernsthafte Versuche unternimmt, im Sinne des Wissenschaftsbegriffs der Verfassungsrechtsprechung l59 , zur Verifizierung oder Falsifizierung bestimmter geschichtlicher Vorgänge. Zu diesem letzteren Ergebnis darf er nicht kommen, und daher ist, nach Grundsätzen wissenschaftlicher Redlichkeit, eine solche Studie nicht mehr möglich, ihr historisches Wahrheits-Ergebnis wäre ihr vorgegeben; darin aber läge eine Denaturierung des Forschungsbegriffs als solchen. Soweit allerdings derartige Untersuchungen primär zur Erhärtung politischer Vorgaben und Thesen begonnen und durchgeführt werden, entfernen sie sich von der Wahrheit und ihrer Erkenntnis, sie sind von vorneherein in den Willens bereich eines Machtstrebens abgelenkt. Insoweit darf die Staatsgewalt grundsätzlich gegen sie vorgehen, müßte aber diesen Beweis im Einzelfall führen. Doch dann dürfte sich sehr vieles, was heute im Namen politischer oder anderer Wissenschaft geschieht, auf Wahrheitserkenntnis nicht mehr berufen; und dies gilt nicht nur für ein Rechtsgutachten, welches der Regierung oder einer Partei zur Untermauerung ihrer 157 BVerfGE 39, 334 (346 ff.); vgl. etwa zu Demonstrations- und Äußerungs verboten für Beamte BVerfGE 8, 1 (17); 44, 249 (264); auch BVerfGE 5, 85 (377) - Widerstandsrecht als ultima ratio. 158 Denninger, E., "Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung, in: HdBVerfR (Hg. Benda u. a.), 2. Auf!. 1994, § 16, Rn. 1 ff.; ausführlich Becker, J., Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VII, 1992, § 167, Rn. 1 ff.; Sattler, A., Die rechtliche Bedeutung und Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982; Lameyer, J., Streitbare Demokratie, 1978. 159 Vgl. BVerfGE 35, 79 (113); 47,327 (367); 90, I (12 f.).

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Thesen erstattet wird, gemeinhin aber der wissenschaftlichen Betätigung zugeordnet wird. Und ganz allgemein: Wird sich die politische Vorgabe, das politische Primärziel solcher Arbeiten, je überzeugend beweisen lassen? Politpropaganda in Wissenschaftsform konnte also immerhin auch bisher schon, in vielfacher Weise, zurückgedrängt und in einem derart tragischen Fall wie dem erwähnten gewiß auch verboten werden. Ein unglückliches, ja gänzlich ungeeignetes Kriterium war dagegen die frühere Schranke einer "Menschenwürde", welche dabei nicht verletzt werden durfte 160, deren Überschreitung allein die Reaktion des Strafrechts auslöste. In der Tat konnte damit unseriösen, pseudowissenschaftlichen, im Grunde politischen Aktionen nicht wirksam entgegengetreten werden, eine Reform war notwendig. Hier aber ist sie nun zu weit gegangen, sie trifft auch ruhiges, seriöses wissenschaftliches Bemühen. Zu hoffen bleibt, daß erkennende Gerichte sich nicht auf solchen Wegen einer wirklichen Wahrheitserforschung entgegenstellen. Doch die Gefahr für die Erkenntnisfreiheit wird damit nicht geringer: Hier werden Kategorien eingesetzt, die morgen auch in anderen Bereichen zu Wahrheitsverboten führen könnten. Sie vor allem unterliegen der Kritik.

c) " Volksverhetzung" - ein Begriff aus unbewältigter Vergangenheit Verurteilungen können hier erfolgen im Namen einer Rechtskategorie der "Volksverhetzung" 161. Sie sollte aus Strafrecht und politischem Sprachgebrauch verschwinden. In dem Wort liegt eine politische Polemik, deren sich eine freiheitliche Staatsgewalt nicht schuldig machen darf; sie ist insbesondere eines Strafrechts unwürdig, welches ein solches Agitations-Vokabular totalitären Regimen überlassen sollte. Die Vermutung liegt überdies nahe, daß der Begriff und die an ihn anschließende Pönalisierung aus Ordnungen stammen, deren Renaissance damit heute gerade verhindert werden soll: Der Volksverhetzung wurden bereits politisch mißliebige Richtungen während der Geltung der Sozialistengesetze beschuldigt; solche Vorwürfe nahm die nationalsozialistische Staatsgewalt auf und gründete darauf ihr Verbot freier Gewerkschaften und sozialistischer Parteigruppierungen. Volksverhetzung gehört in das Vokabular gerade dieser Zeit, mit ihrer "Heimtücke", ihrer

160 BGHSt. 40, 97 ff. m. Anm. Baumann, J., NStZ 1994, S. 392 f.; krit. Jakobs, G., StV 1994, S. 540 ff.; OLG Köln NJW 1981, S. 1280 f.; OLG Celle NJW 1982, S. 1545 f.; Lenckner, Th., in: Schönke! Schröder, StGB-Komm., 25. Aufl. 1997, § 185, Rn. 3; Schmidt, H. W, Aus der Rechtsprechung des BGH im Staatsschutzstrafsachen, MDR 1981, S. 972 (975 ff.). 161 Wehinger, M., Kollektivbeleidigung - Unschuldsvermutung, Diss. Tübingen 1994; Giehring, H., Pazifistische radikale Kritik als Volksverhetzung?, StV 1985, S. 30 ff.; Streng, F., Das Unrecht der Volksverhetzung, Lackner-Festschr., 1987, S. 501 ff.; Krone, G., Die VoIksverhetzung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Diss. Mainz 1979.

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"Wehrkraftzersetzung". Es ist unwürdig, daß gerade das Gedächtnis der Opfer dieses Regimes durch späten Einsatz von dessen Denkmodellen geschützt werden soll. Und es widerspricht den Grundannahmen der Demokratie. Diese geht vom mündigen Bürger aus, in all ihren grundlegenden Gesetzen, in ihrer gesamten, vor allem neuesten Entwicklung 162 • Dm preisen alle Parteien, ja sie umschmeicheln ihn als solchen. Sollte er sich nun wirklich "verhetzen" lassen, das nicht mehr als Unwahrheit erkennen können, was seit Jahrzehnten so vielfach widerlegt worden ist? Damit bescheinigt die deutsche Staatsgewalt ihrem Volk entweder schlicht Dummheit, Fehlen jedes Erkenntnisvermögens, oder eine tiefe moralische Verworfenheit, in der Anfälligkeit für eine Wiederholung solcher unglaublicher, schwerstkrimineller Vorgänge. Es fragt sich dann überhaupt, ob ein derart erkenntnis schwaches, moralisch anfälliges Volk die Qualitäten eines echten Volkssouveräns der Demokratie noch haben kann. Für überzeugte Demokraten ist daher - und dies auch aus rechtlichen Gründen - eine derart negative rechtliche Bescheinigung der Erkenntnisfähigkeit unannehmbar. Im Begriff der "Verhetzung" liegt, wird er auf ernsthaftes Erkenntnisstreben angewandt, ein Unwertgehalt: Warum aber wäre gerade hier eine gefundene Wahrheit "unwertig"? Wenn es gelänge - wofür nichts spricht - hier bisherige Wahrheitserkenntnisse zu korrigieren, so läge doch die Unwertigkeit eher bei denjenigen, welche bislang geforscht haben und sich nun dagegen wenden wollen, des Irrtums oder gar der Unwahrhaftigkeit überführt zu werden. "Volksverhetzung" läßt sich auch nicht so definieren, daß sie nur die "unmögliche Wahrheitserkenntnis" verbieten solle. Wahrheits suche darf nie von einem möglichen Erfolg her beurteilt werden, sonst würde Wahrheit nie gefunden. Hier hat der Erfolg noch weit weniger Bedeutung als in jener Politik, welche immerhin den erfolgsträchtigen Aufstand als Widerstand, den erfolglos erscheinenden als Terrorismus definieren mag. Unsinnig ist es jedenfalls, das Auffinden neuer Belege, in welchem Zusammenhang immer, von vorneherein für unmöglich zu erklären, Staatswahrheit, wie im folgenden Kapitel darzulegen sein wird, über Staatsgeheimnisse und ihre Verbote sichern zu wollen. Doch soll damit nicht nur eine "Wahrheit zum Bösen" verboten werden, die Rechtfertigung eines Regimes des Verbrechens, das im Namen einer Staatswahrheit bereits vielfach verurteilt ist? Fraglich ist bereits, ob derartige ethische Kategorien unbesehen in die Wahrheitserforschung übertragen werden dürfen. Kirche und Staat haben dies zwar stets praktiziert, doch eben immer zur Befestigung der eigenen Macht, während voraussetzungslose Wissenschaft ein "Erkennen zum Bösen" nicht kennen darf. 162 Ohne eine solche Grundannahme verlören die Grundsätze, daß alle Staatsgewalt vorn Volk ausgeht, daß der Bürger über seine Parteien an dessen Willensbildung mitwirkt, vor allem aber die Meinungsfreiheit, jeden Sinn.

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Doch selbst wenn man diese Kategorie hier, zur Begründung der "Volksverhetzung", einsetzen wollte, so muß doch ein Grundprinzip der freiheitlichen Demokratie beachtet werden: jene Rechtsstaatlichkeit, welche jede Vorverurteilung verbietet 163 und stets, gegen jede Anklage, auch gegen die schwerste, die Verteidigung und den Versuch eines Gegenbeweises, ja einer Wiederaufnahme des Verfahrens zuläßt. Selbst wer heute vor aller Augen bestialisch mordet, seine niederen Beweggründe mit aller Eindeutigkeit selbst herausstellt, hat ein Recht auf Verteidigung, und sei es auch nur, um die Pathologie seines Zustandes und seiner Persönlichkeit zu beweisen, nicht um Geschehenes zu rechtfertigen. Der Vorwurf der Volksverhetzung aber kann auch den ruhigen Betrachter treffen, der nichts anderes versucht als die Schaffung von Voraussetzungen ausgewogener Betrachtung, welche allerdings vielleicht sogar dahin führen mag, daß eine Wiederaufnahme manch rascher Verurteilungsverfahren in Betracht kommt, oder auch die Verurteilung anderer Schuldiger. Gefährlich für die Freiheit ist nicht die Anwendung der Strafnorm in diesem Fall; bedrückend ist, daß sie auch in anderen, keineswegs vergleichbaren Fällen zum Einsatz kommen könnte, nach beliebigem Willen einer Staatsgewalt, die nur zu rasch alles als Volksverhetzung anklagt, was ihren Überzeugungen oder gar nur Interessen zuwiderläuft; dies aber könnte gerade ein "Weg zurück" sein ...

d) Vom Verbrechen zum Fehler

Man fühlt sich hier an das Wort Talleyrands nach der Ermordung des Herzogs von Enghien erinnert, wenn man seinen Zynismus vergißt: Was damals geschah und heute rechtlich als Wahrheit tabuisiert werden soll, war ein Verbrechen; die Rechtsform, in der es heute weiterer Wahrheitserkenntnis entzogen werden soll, ist ein Fehler. Hier werden die Opfer herabgesetzt, ihre Leiden ins Zwielicht gestellt. Spricht die Wahrheit hier nicht für sich, haben es die Vielen, die hinter Stacheldraht und Gittern starben, auch nur entfernt nötig, daß ihr Ende durch Gefängnisse als Wahrheit geschützt werde? Wird damit auch nicht jede andere, "positive" Erkenntnis abgebrochen, welche noch Schrecklicheres zu Tage fördern könnte, überzeugend gerade darin, daß sie sich diesen Beweis nicht vornahm? Spricht denn in Deutschland wirklich diese Wahrheit nicht für sich, bedurfte es der Kriminalisierung der Wahrheits suche, eines wahrhaften juristischen monstro simile von Staatswahrheit? Es bleibt nur die Hoffnung, daß diese Norm bald im Vergessen verschwinde, dann wird die Erinnerung an diese Vergangenheit erst recht wach bleiben. Denn anderenfalls könnte sich etwas entwickeln, was leidvolle Vergangenheit

163 Kleinknecht, Th.lMeyer-Goßner; L., StPO-Komm., 43. Aufl. 1997, Art. 4, Rn. 12 ff.; Kühl, K., Unschuldsvennutung, Freispruch und Einstellung, 1983, S. 9 ff.; Lilie, H., Unschuldsvennutung und Subjektstellung, in: Vertrauen in den Rechtsstaat, Festschr. f. Remmers, 1995, S. 601 ff.

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immer wieder gezeigt hat: daß sich gerade Verbotenes nicht nur als politisch Mächtiges, sondern gar noch als "Wahrheit" durchsetzt. Die Kirche hat ihre Hexenverbrennungen und Ketzerprozesse büßen müssen. Auch damals hat manche, wenn auch mit einer Rechtfertigung der jüngsten Vergangenheit nicht vergleichbare, aber doch abscheuliche "Wahrheitsverbreitung" zum Scheiterhaufen geführt; doch allzu bald hat er dann auch andere Wahrheitssuche verbrannt. Der Autor dieser Zeilen muß hier, der Ernst des Gegenstands verlangt es, ein Bekenntnis ablegen: er will sich nicht hinter seiner späten Geburt verstecken. Er verdankt sehr viel großen Vertretern jüdischer Geistigkeit, vor allem seinem unvergessenen Lehrer Charles Eisenmann. Bewundert hat er vor allem stets das rückhaltlose Wahrheitsstreben dieses Denkens. Und so möchte er dieses Kapitel der Erinnerung an diesen seinen Lehrer widmen, der einst in einem Gespräch mit Empörung auch nur einen entfernten solchen Gedanken zurückgewiesen hat - als ob die Opfer, als ob die Wahrheit dies nötig hätten, eine solche Prostitution des Rechts zur Staatswahrheit!

3. Grenzen der Wissenschaftsfreiheit a) Abgrenzung von Aktion und Erkenntnis - keine Lösung

Der tragische Fall, in dessen Namen, wie im vorstehenden Kapitel dargelegt, die Waffe des Rechts gegen Forschung, Erkenntnis und Wahrheit im Rundumschlag eingesetzt wurde, mag ein Grenzphänomen sein; dennoch zieht er als solches Kritik an einer Staatswahrheit auf sich, die hier in besonders wahrheitsferner Weise befestigt werden sollte. Doch dies ist keine isolierte Problematik; sie setzt sich fort in den viel diskutierten Verfassungsgrenzen, welchen die Freiheit der Forschung und ihrer Lehre nach der ausdrücklichen Bestimmung des freiheitlichen Grundgesetzes l64 unterliegt. Wenn ohne Emotionen nicht gesprochen werden darf, wo so viele unschuldig sterben mußten, so erreicht hier juristische Betrachtung wieder ein ruhigeres, doch keineswegs weniger gefahrliches Feld. In einer Untersuchung zur Staatswahrheit muß es geradezu im Mittelpunkt stehen, stoßen hier doch in der Norm einer freiheitlichen Verfassung Wahrheitsstreben und politische Grundentscheidungen aufeinander. 164 Vgl. allg. Pe mice, 1., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 35; Bethge, H., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 5, Rn. 225 ff.; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 403; Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., 4. Auf!. 1992, Art. 5, Rn. 114; Oppermann, Th., Freiheit von Forschung und Lehre, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 145, Rn. 32: Badura, p., Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, DVBI. 1982, S. 861 ff.; Merten, K., Grundpflichten im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, BayVBI. 1978, S. 554 (558).

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Der Wissenschaftler, vor allem der Universitätslehrer, sieht sich rechtlich verpflichtet, die Weitergabe von Erkenntnissen höher zu stellen als die "Treue" zu einer Verfassung, ohne deren Freiheit er solche nicht hätte gewinnen können und wohl auch nicht hätte erreichen wollen. Diese "Treue" soll ersichtlich ein voluntati~es, wenn nicht gar ein emotionales Verhalten sein 165 , in dessen Namen intellektuelles Erkennen zurückgedrängt, ja aufgegeben wird. Kritik, welche darin einen ,,Maulkorb" sieht für Forschung und Lehre 166, mag auf historische Vorgänge hinweisen, in welchen immer wieder politische Gewalten den Geist mundtot machen wollten; und gewiß waren Vorgänge am Ende der Weimarer Zeit kein hinreichender Anlaß für eine derart allgemeine Verpflichtung l67 • Zur Anwendung gekommen ist die Norm ohnehin nur selten 168 und wohl meist in Fällen, welche auch ohne Rückgriff auf sie überzeugend hätten gelöst werden können. Daß dies schon fast zur obsoleten Verfassungsnorm geworden ist, ehrt ein freiheitliches Regime. Es entbindet jedoch nicht, um die Formulierung aufzunehmen, von der Treue zur Wahrheit, von der Warnung vor einer Staatswahrheit, die darin befestigt werden könnte. Die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Unterscheidung zwischen Aktion und Erkenntnis 169 kann allein das Problem nicht lösen. In der Grundgesetzbestimmung wird ja die "Aktion" gerade in jener Lehre gesehen, die doch an sich etwas völlig Unaktionistisches hat oder doch haben sollte. Eine Bewegung wollte vor einigen Jahrzehnten die Universität zu einem Aktionsraum umformen, zu einer Plattform, von der aus Aktion, bis hin zur Revolution, die gesamte Gemeinschaft erfassen sollte. Dahinter stand mehr als nur revolutionäre Arbeiter- und Studentenromantik und auch nicht allein ein Neomarxismus, der die Welt nicht nur erkennen, sondern verändern wollte. Immerhin hat diese Bewegung von 1968 dem "Maulkorbartikel" des Grundgesetzes eine späte politische Rechtfertigung beschert. Doch die heutige Hochschullehre, wie die aller ernst zu nehmenden Vergangenheit, ist in aller Regel nichts als ruhige, unpathetische, durch viele Zweifel auch noch relativierte Weitergabe einer Erkenntnis, die dort als eine besonders reine gewollt und traditionell gepflegt wird. Dann aber gibt es nur eine Alternative: entwe165 Zwirner, H., Politische Treuepflicht des Beamten, 1987, S. 55; Thieme, W, Deutsches Hochschulrecht, 2. Aufl. 1986, S. 74 f.; Stern, K., Zur Verfassungstreue des Beamten, 1974, S. 26 ff.; Oppermann, Th., Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 384 ff.; Schmitt, WO., Lehrfreiheit, Meinungsfreiheit und "Verfassungstreue", DVBI. 1966, S. 6 ff., S. 166 ff.; Tho/'TUl, R., Die Lehrfreiheit der Hochschullehrer und ihre Begrenzung durch das Bonner GG, 1952. 166 Schrader, H. H., Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst, Diss. Hamburg 1972; zur historischen Grundlage der Regelung vgl. Laqueur, W, Weimar. Die Kultur der Republik, 1976, S. 234 f. 167 Und doch hat dies hier Pate gestanden bei der Entstehung der Grundgesetzbestimmung, vgl. v. Doemmig, K. -B. / Füßlein, R. W / Matz, W, Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, JöR I (n.F. 1951), S. 89 ff. 168 OVG Berlin JZ 1973, S. 210 f.; BVerwGE 52,313 (318); BVerfGE 47,285 (368 ff.) m. weit Nachw. 169 Vgl. oben Fn. 157 ..

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der diese "typisch universitäre Lehre" rallt als solche, von vorneherein, aus dem Anwendungsbereich der Verpflichtung zur Verfassungstreue heraus - oder "alle Lehre" wird von dieser erfaßt, kann sich immer nur in ihren Schranken bewegen. In diesem letzteren Fall wären die Folgen gravierend. Die normative Staatswahrheit höchster Ordnung, die der Verfassung, welche bereits an früherer Stelle l7D beschrieben wurde und der Demokratie in besonderer Weise eigen und teuer ist, würde als Staatswahrheit, und nicht nur als Ausdruck politischen Willens, allen universitären, ja allen "machtfernen" Machtbestrebungen vorgehen. Wahrheitsprioritäten wären errichtet, nicht etwa der Fall eines Zusammenstoßes von politischem Willen und intellektueller Erkenntnis ausgleichend gelöst, den doch die Norm, bei oberflächlicher Betrachtung, im Blick zu haben scheint. Getroffen wäre durch eine solche Verpflichtung vor allem die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, aber auch historische und ökonomische Forschung, aus welcher Bedenken gegen Grundwerte der Verfassung gewonnen werden könnten. Das Gebot trägt sogar bis in naturwissenschaftliche Bereiche, man denke nur an jene Genforschung!7!, deren Verbot als Ausdruck der Menschenwürde und dessen Beachtung damit als Gebot der Verfassungstreue auszulegen wäre. Insbesondere dürfte sich eine wissenschaftliche Forschung nicht mehr damit beschäftigen, ob die Demokratie etwa doch nicht die beste aller Staatsformen wäre, die historischen, sozialen und philosophischen Begründungen, die ökonomischen Grundlagen dieser Staatsform dürften nicht hinterfragt, nicht einmal auf den Prüfstand gestellt werden. Über all dies dürfte der Forscher vielleicht in seinem nun wirklich "stillen Kämmerlein", in seiner Privatheit nachdenken, bereits als Privater sich aber wohl kaum mehr dazu öffentlich äußern, träte er doch darin, mit seinem wissenschaftlichen Namen, bereits als "Lehrender" und damit zur Verfassungstreue Verpflichteter auf. Damit käme es sogar zu etwas wie einem negativen Universitätsprivileg!72: Sicher wäre solche Verfassungstreue im organisierten Hochschulbereich gefordert, zweifelhaft könnte es bereits sein, ob der Privatgelehrte seine antidemokratischen Erkenntnisse nicht irgendwie veröffentlichen dürfte, da er damit ja nicht im Verfassungssinn einer Lehrverpflichtung nachkommt - oder vielleicht doch, wenn dies von Studenten oder gar noch anderen Wahrheits suchenden aufgenommen wird? Doch jenseits all dieser ungelösten Probleme bleibt eines: Mit der Trennung zwischen Aktion und Erkennen läßt sich die Problematik kaum lösen, die VerfasVgl. oben C, 11 ff. Elstner, M./Bayertz, K., Gentechnik, Ethik und Gesellschaft, 1997; Trute, H., Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 140 f.; Klingmüller, W./Amelung, E., Gentechnik im Widerstreit, 3. Auf!. 1994; Jarass, H. D., Europäisches Gentechnikrecht, in: Breuer, R. u. a. (Hg.), Gentechnikrecht und Umwelt, UTR 14 (1991), S. 91 ff.; Lukes, R.lScholz, R. (Hg.), Rechtsfragen der Gentechnologie, 1986. 172 Wo doch Art. 5 Abs. 3 GG unzweifelhaft in erster Linie ein positives Universitätsvorrecht sichern wollte. 170

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sungsnorm schwerlich interpretieren; denn sie bringt ja eine deutliche Vorverlegung der Aktion in den Bereich sogar der ruhigen, gänzlich aktionsfernen Lehre. Damit aber könnte die Staatswahrheit sich mit Verboten, ganz allgemein, auch dort etablieren, wo Erkenntnis völlig "passiv" bleibt. Das aber würde eine Alterierung der Inhalte der Meinungsfreiheit und damit eines Fundamentes der freiheitlichen Staatsform bedeuten 173.

b) Der Begriff .. Veifassungstreue" - eng zufassen

Der Normgehalt dieser Verfassungstreue muß einschränkend interpretiert werden. Sie kann nicht weiter reichen als der Inhalt jenes promissorischen Eides, den der beamtete Hochschullehrer ohnehin auf die Verfassung ablegen muß. Es sprechen vielmehr überwiegende Gründe dafür, wie bereits angedeutet, die "ordnungsgemäße", herkömmlichen Canones entsprechende Forschung und ihre Weitergabe in der Lehre schon begrifflich dem Gebot nicht unterfallen zu lassen; denn sein ersichtliches Ziel war es doch, Mißbräuchen entgegenzuwirken 174• Wenn der Lehrbegriff weiter gefaßt, auf alle Weitergabe von Erkenntnissen, in welcher Form immer, erstreckt würde, so könnte eine unerträgliche Entwicklung die Folge sein: zu einer großen Regimewahrheit, welche, über wahre Indizierung und Inquisition, alle politisch sensiblen Wissenschafts bereiche alsbald erfassen würde. Denn wie sollte sich der Inhalt einer derartigen Verfassungstreue zur Staatswahrheit - anderem kann der Lehrende doch wohl nicht verpflichtet sein - definieren lassen? Es müßte dann ein Staatsanwalt oder der Vertreter einer Disziplinargewalt feststellen, nach ihm der Richter, wann ein Wissenschaftler in Erforschung und Weitergabe der Wahrheit gegen die Staatswahrheit verstoßen hat, obwohl sich dort nichts mehr von Aktionismus findet. Mehr könnten sie den Forschern kaum vorwerfen als Abweichungen von einer "politischen Wahrheit", in der Sorge, daß diese intellektuell durch andere, bisher staatsferne Wahrheiten "subvertiert" wird. Schon das Präzisionsgebot der Rechtsstaatlichkeit wäre hier kaum mehr zu wahren. So spricht denn Entscheidendes dafür, die Verpflichtung der Hochschullehrer zur Verfassungstreue nicht zu einem Sieg gerichtsdekretierter Wahrheiten über 173 Vgl. dazu Schulze-Fielitz, H., in: Dreier, GG-Komm., Bd. 1,1996, Art. 5 I, 11, Rn. 31 ff.; Herzog, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5, I, 11, Rn. 5 f.; Degenhart, Chr., Meinungsund Medienfreiheit in Wirtschaft und Wettbewerb, in: Festschr. f. Lukes, 1989, S. 287 ff.; Schmitt Glaeser, W, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 113 (1988), S. 52 ff.; Starck, Chr., in: v. Mango1dt/K1ein/Starck, GG-Komm., Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 1 f.; BVerfGE 7, 198 (208); 62, 230 (247); 76, 196 (208 f.); problematisch wäre jedenfalls die Annahme, Art. 5 Abs. 1 GG, der diese Grundentscheidung bringt, sei durch die speziellere Norm des Art. 5 Abs. 3 GG regelrecht durchbrochen worden. 174 Vgl. Scholz, R., in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 5 Abs. III, Rn. 198; Oppermann, Th., KulturverwaItungsrecht, 1969, S. 385 f. m. weit. Nachw.

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wissenschaftliches Erkennen werden zu lassen, dieses daher, solange es in seinen herkömmlichen äußeren Formen abläuft, aus dem Verfassungsgebot schlechthin auszuklammern. c) Veifassungstreueein Wert über aller Wahrheitserkenntnis ?

Doch ob dies gelingen wird, ist unsicher, vor allem wenn der Begriff der "Aktion" flexibel 175 und daher die Grenzen zwischen Lehre und Aktion fließend bleiben. Verbreitet wird doch gerade heute gefordert, daß diese Lehre "lebendig", "gegenwartsbezogen", jedenfalls aber "engagiert" dargeboten werden soll- eben dann aber wird der Vortragende nur schwer den Eindruck vermeiden können, er überschreite die hier so weit vorverlegte Verfassungs grenze des Aktionismus. Die Staatsgewalt wird sich dieses Disziplinierungsinstrument gegenüber den Universitäten gerade dann nicht grundsätzlich nehmen lassen, wenn sie zunehmend zur Setzung eigener Staatswahrheiten übergeht; eben diese wird sie dann über die Durchsetzung der Verfassungstreuepflicht schützen, an der geistigen Spitze der Gemeinschaft. Kehrt man zu grundsätzlichen Erwägungen zurück, so bleibt am Ende dieses Kapitels dies: Die Verfassung stellt eine Staatswahrheit der Bürgerschaft, ja den höchsten Erkenntnisinstanzen, gewissermaßen zum Glauben vor, welche sich in dem vagen Begriff der Verfassungstreue als Regimewahrheit präsentiert. Sie ist kaum definierbar, von unfaßbarer Virtualität. Vor allem aber kommt darin zum Ausdruck, daß sich die Staatswahrheit, in ihrer höchsten Form der "verfassungsnormativen Erkenntnis", über alle anderen Wahrheiten stellt. Mögen diese nun mehr oder weniger bestreitbar bleiben, wie es das Wesen geisteswissenschaftlichen Bemühens ist, oder mag hier sichere Präzision erreicht oder doch behauptet werden, wie im naturwissenschaftlichen Bereich - immer müßte sich grundsätzlich die verfassungsferne vor der verfassungsimmanenten Erkenntnis zurückziehen, welche durch die Waffe der Verfassungstreue, mit hoheitlichem Zwang, durchgesetzt wird. Aktuelle und höchst bedenkliche Beispiele, wie dies bereits, und nun wirklich manu militari, geschieht, bieten ein Tierschutz, der wissenschaftliche Erkenntnis behindert l76 , und, noch weit mehr, die bereits erwähnten Frontstellungen gegen Dies aber legt eben doch die Aktionsrechtsprechung des BVerfG (vgl. Fn. 157) nahe. Darin aber offenbar Verfassungsschranken der Wissenschaftsfreiheit nicht begegnen sol1, vgl. Pernice, I., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 15, 39; Dicken, T., Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991, S. 443 ff.; Papier, H. J., Genehmigung von Tierversuchen, NuR 1991, S. 162 (164); Kloepfer, M., Tierversuchsbeschränkungen im Verfassungsrecht, JZ 1986, S. 205 (206 f.). Als zulässige Beschränkungen der freien wissenschaftlichen Forschung - im wesentlichen aus den Vorgaben der Präambel argumentierend (..Verantwortung vor Gott und den Menschen" als Verantwortung für die Schöpfung und damit auch für die Tiere) - sehen die Vorschriften des Tierschutzgesetzes (§ 7 ff.) an: Turner, G., Grenzen der Forschungsreicheit, ZRP 1986, S. 172 ff.; Starck, ehr., 175

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eine Gentechnik l77 , welche im Namen der Verfassung und ihrer Menschenwürde, also eben im Namen einer höchsten "Verfassungswahrheit", als Instrument der Wahrheitssuche teilweise verboten werden soll. Verfassungswahrheit gegen Genwahrheit, hier ist das Problem der direktiven Staatswahrheit in all seiner Schärfe gestellt; es darf nicht nur als ein Zusammenstoß von Nützlichkeit und Ethik behandelt werden. Hier läuft auch ein Wahrheitskampf ab, der bereits unter Einsatz der Staatsgewalt ausgetragen wird. Dahinter steht eine größere Grundentscheidung der freiheitlichen Demokratie in Deutschland: für regimesichernde Staatswahrheit, wenn nötig gegen staatsferne Forschung, Erkenntnis, Wahrheit. Ist dies bereits als eine klare Unterordnung des Erkennens unter den politischen Willen zu verstehen? Bedrückend jedenfalls bleibt eine - Erkenntnis, die sich allerdings der erwähnten Staatswahrheit beugen und daher ihre Aussagen am Ende wieder relativieren oder aufgeben muß: daß all dies möglich ist in einer Zeit, welche Galileo Galilei späte Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Oder bliebe den heutigen Forschern, gegen Demokratiegebot und Genforschungsverbot, nur eines - daß sie sich doch bewegen? 4. Hoheitliche Wahrheitsverheimlichung das Staatsgeheimnis als Wahrheitsverbot a) Arcanstaatlichkeit - Erkenntnisverbote

Geheimnisse der Macht waren immer Herrschaftsinstrumente; Arcanstaatlichkeit bedeutet ein verfeinertes Systems von Geheimnis als Macht. Seit den frühesten Zeiten religiös-politischer Herrschaft war dies das erste und wichtigste Mittel einer Macht ohne physische Gewalt: Die Priester enthielten dem einfachen Volk ihre Kultgeheimnisse vor, welche zugleich vermeintliche oder wirkliche politische Herrschaftsgeheimnisse waren; sie wurden es jedenfalls darin, daß eine Priesterkaste allein, als Stütze ihrer Gewalt oder der eines weltlichen Thrones, über ein Wissen verfügte, das ihr alsbald auch das Bildungsmonopol und damit die intellektuelle Alleinherrschaft sicherte. Damit war bereits die Brücke von Erkenntnis zu Macht, von Wahrheit zu Herrschaft geschlagen, in einer ebenso unfaßbaren wie wirkungsvollen Weise: Erkenntnisvermögen und vergeistigte Herrscherkraft fielen zusammen. Mit der Verbreiterung der Bildung traten diese Formen zurück, gegen Ende der römischen Republik bereits löste sich deren geistige Arcanstaatlichkeit auf. Doch Arcana Imperii gab es auch noch, in machtmäßig-säkularisiertem Verständnis, zu in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Komm., Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 3, Rn. 269; Dreier; H., Forschungsbegrenzung als verfassungsrechtliches Problem, DVBI. 1980, S. 471 ff.; zur Erkenntnisrelevanz ~on Tierversuchen, vgl. Trute, H. H., Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 147 f. 177 Vgl. oben Fn. 171.

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taciteischer Zeit. Mit dem Christentum einer-, dem Verfall der antiken Bildung andererseits verstärkten sich wieder die Wirkkräfte der Machtgeheimnisse; sie trugen etwa noch bis in die neueste Zeit die Formen päpstlicher Geheimdiplomatie, als politische Macht einer Wahrheitsinstanz, welcher eigene physische Gewalt nicht mehr zu Gebote stand. Das Licht der Aufklärung sollte die dunklen Gewölbe der Staats- und Kirchengeheimnisse durchdringen, nachdem bereits die Reformation die lateinische Geheimsprache im Namen einer neuen Form unmittelbarer Wahrheitserkenntnis für jedermann, für jeden bibellesenden Familienvater, zurückgedrängt hatte. Der Kampf gegen Arcanstaatlichkeit prägte ein Völkerrecht, welches die Feudal- und Fürstendiplomatie aufheben wollte, wie es gar Wilson in seine vierzehn Punkte aufnahm l78 ; in Gerichts- und Parlamentsöffentlichkeit sollten sich die letzten Schatten einer Macht als Geheimnis verlieren. Im Licht dieser neuen, nunmehr demokratischen Wahrheiten 179 schien eine große Absage an das Staatsgeheimnis unwiederbringlich diese Form einer Begrenzung von Erkenntnismöglichkeiten durch Sperre von Staatswahrheiten in finstere Vergangenheit verbannt zu haben. Geht nicht in der gläsernen Staatsform der parlamentarischen Demokratie nun die Transparenz der Wahrheit einher mit der Durchsichtigkeit des Herrschens?

b) Das moderne Staatsgeheimnis als Ausdruck der Arcanstaatlichkeit

Doch diese Formen der "gehüteten", vor Erkenntnis geschützten Staatswahrheit, damit einer Monopolisierung der Erkenntnis, ließen sich nicht verdrängen, sie wandelten nur ihr Wesen, wurden nun zu deutlicheren Formen einer Politisierung der Herrschaft. Staatsgeheimnisse 180 gibt es heute fast mehr noch als früher. Was immer nun aber der demokratische Staat als sein Geheimnis hütet, auf welcher Stufe dies auch geschieht - er versperrt mit hoheitlichen Mitteln "Unbefugten" Erkenntnismöglichkeiten und damit Wahrheiten, die er sich vorbehält: als Staatswahrheiten. Das Staatsgeheimnis, wo immer es auftritt, bringt ein Erkenntnis- und damit ein Wahrheitsverbot. Wenn der Staat seine historischen Archive der neuesten Zeit nicht jedermann öffnet zu jeder Zeit, sondern erst nach Jahrzehnten, so ist dies für das öffentliche Recht zunächst eine mögliche Grundrechtsverletzung, ein Eingriff in die Informationsfreiheit des Bürgers; doch deren Schutzbereich umfaßt dies eben nicht, handelt es sich doch nicht um "allgemein zugängliche Quellen" 181. Nicht 178 Seidl-Hohenveldem, I., Völkerrecht, 9. Aufl. 1997, Rn. 276 ff.; Verdross, A.lSimma, B., Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 739; Geck, W. K., Die Registrierung und Veröffentlichung völkerrechtlicher Verträge, ZaöRV 22 (1962), S. 113 ff. 179 180

Von denen bereits oben C, VI, IX die Rede war. Vgl. Bamert, H., Das illegale Staatsgeheimnis, Diss. Bremen 1977.

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hinreichend erkannt wird dabei, daß gerade darin eine Zugangssperre zu bestimmten Wahrheiten liegt, aus politischen Gründen ausgesprochen und aufrechterhalten. Die Staatsgewalt wendet sich hier nicht - und dies ist nun entscheidend - primär im Namen eigener, von ihr appropriierter Wahrheiten gegen die Erkenntnismöglichkeit des Bürgers oder anderer staatsferner Instanzen. Ihrem Staatsgeheimnis als Erkenntnisverbot liegt nicht einmal der Anspruch zugrunde, hier etwas wie eine ,,höhere Wahrheit" vor den Verzerrungen niederer Politik zu schützen. Das eigentliche, unmittelbare Ziel des Einsatzes der Hoheitsgewalt zum Schutz der Staatsgeheimnisse ist ein politisches, durch keinen Wahrheitsvorwand mehr gedeckt: Die Macht soll an ihrem Prestige nicht Schaden nehmen, damit als solche nicht geschwächt werden; und sie darf, in ihrem täglichen Ablauf, in ihrem "Funktionieren", nicht gestört werden. Gleichgültig bleibt dabei, ob die durch das Staatsgeheimnis gehüteten Erkenntnisse wirklich Wahrheit bringen, sekundär ist auch, ob wie wohl in aller Regel - in dem, was der Bürger nicht soll wissen dürfen, etwas seitens der politischen Gewalt angeeigneter Staatswahrheit liegt oder auch nur Ansätze dazu: Gesichert wird immer primär Macht. Diese mag hier auch nur darin stärker werden, daß dabei eben "nichts zu erkennen ist", sie also durch keinen Erkenntnisvorgang behindert werden kann. Wie immer diese verschlungenen Schutzfunktionen des Staatsgeheimnisses gegen eine bereits geschaffene oder im Entstehen befindliche Staatswahrheit, oder an aller Erkenntnis vorbei, wirken mögen - hier wendet sich in reiner Form Macht gegen Wahrheit, indem sie deren Gewinnung verhindert. c) Neue Formen der Arcanstaatlichkeit

Credo, ja Staatsideologie der parlamentarischen Demokratie mag sein, daß es in ihr Staatsgeheimnisse nur mehr punktuell, als eng umgrenzte und stets alsbald aufzulösende Ausnahmen geben darf. Die Wirklichkeit ist eine andere. Abgesehen von den begrenzten Erkenntnismöglichkeiten der breiten Masse, die als Volkssouverän ihren politischen Priestern oft ähnlich gegenübersteht wie die Fürsten früher Zeit, welche des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren - den Vielen und ihren end- und so oft fruchtlosen Diskussionen muß eben, so wird es heißen, immer mehr an Information vorenthalten werden, damit sie das viel beschworene "Funktionieren" der Staatlichkeit 182 nicht durch ihre unzähligen kleinen Erkenntnisbemühungen stören. 181 Schulze-Fielitz, H, in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5, I, H, Rn. 57 ff., 192; Wendt, R., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 1,4. Aufl. 1992, Art. 5, Rn. 25; Starck, ehr., in: v. MangoldtlKlein/Starck, GG-Komm., Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 33; Löffler, M., Der Informationsanspruch der Presse und des Rundfunks, NJW 1964, S. 2277 ff. 182 Zum Begriff des "Funktionierens" der Staatsorgantätigkeit vgl. (krit.) Lerche, p', "Funktionsfähigkeit" - Richtschnur verfassungsrechtlicher Auslegung, BayVBI. 1991, S. 517 ff.; LecheIer, H., "Funktion" als Rechtsbegriff?, NJW 1979, S. 2273.

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D. Macht statt Wahrheit

So wird denn gerade in der parlamentarischen Demokratie ein Netzwerk - hier ist der Ausdruck am Platz - von Staatsgeheimnissen geschaffen, emsig entwickelt und vervollkommnet. Fast scheint es, als nehme es proportional zu mit dem Streben nach Transparenz in Staat und Gesellschaft - als ein schweigender Selbstschutz der Macht gegen diese ihr hinderlichen Tendenzen. Es beginnt mit erstaunlicher Illiberalität bei der Öffnung politisch-historisch relevanter Archive, die etwa erst viele Jahre nach Kriegsende geöffnet werden, damit nichts erkannt werden könne, was Zorn erregen würde. Auf diese eigentümliche Weise mag immerhin eine Geschichtsbetrachtung sine ira et studio gefördert werden. In Deutschland setzt sich dies in einer Vergangenheitsbewältigung fort, welche dem Bürger den Zugang zu Unterlagen des früheren Regimes erschwert, damit er nicht durch deren Lektüre verdorben, "verhetzt" werde, obwohl sie doch seiner Kritik Nahrung geben könnten; dies gehört in den Bereich des bereits erwähnten 183 höchst problematischen Kampfes gegen "Volksverhetzung". Doch dies sind punktuelle Erkenntnisverbote, welche in der Kontingenz historischer Entwicklungen von säkularer Bedeutung ihre Rechtfertigung finden mögen. Eine ganz andere Dimension erlangt das Staatsgeheimnis dort, wo es dem Bürger gar nicht als solches bewußt ist: in dem weit gespannten Zugangsverbot zu den Akten des Staates, auf allen Ebenen der Macht. In vielen Fällen kann der Betroffene, erst recht die Allgemeinheit, mehr nicht erkennen als jeweils das Ende eines Herrschaftsvorgangs, die Entscheidung und ihre Begründung, die oft nur verschleiern soll, aposteriori. Die Vor-Vorgänge - und im "Vorgang" liegen eben die eigentlichen Entscheidungen häufig "voraus" - bleiben meist endgültig in das Dunkel der Arcanstaatlichkeit gehüllt, mag es auch gelingen, Ergebnisse an die Öffentlichkeit der Gerichte zu ziehen. Das Staatsgeheimnis schützt jedenfalls weitestgehend die Erkenntnisvorgänge des Staates, wenn es auch das so ,,Erkannte", die Staatswahrheit, nicht mehr voll abschirmt. Damit aber ist die Wahrheitsdiskussion zwischen Staat und Bürger entscheidend verkürzt, dort vor allem, wo es um eindeutige Tatsachenwahrheit geht, um die Ermittlung von Sachverhalten. In zähem Hinhalten wehrt sich die Staatsmacht dagegen, Staatstatsachen preiszugeben, die Grundlagen ihrer Staatswahrheit. Gegenüber einer verwaltungsaktlichen Hoheitstätigkeit wird es dem Bürger nur selten gelingen, in die Willensbildungsphasen der Staatsinstanzen vorzudringen, dort bereits das Staatsgeheimnis der Akten zu lüften. Der Fortschritt einer verwaltungsvertraglichen Staatstätigkeit 184 liegt gerade in deren "Transparenz von Anfang an". Vgl. oben D, III, 2, c. Allg. zu den verwaltungsrechtlichen Verträgen neuerdings Huber; P.M., Allg. Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1997, S. 220 ff.; Maurer; H., Allg. Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 14, Rn. 21 ff.; Spannowsky, w., Grenzen des Verwaltungshandelns durch Verträge und Absprachen, 1994; Lecheier; H., Verträge und Absprache zwischen der Verwaltung und Privaten, BayVBI. 1992, S. 545 ff.; Kunig, Ph., Verträge und Absprachen zwischen der Verwaltung und Privaten, DVBI. 1992, S. 1193 ff.; Scherzberg, A., Grundfragen des verwaltungsrechtlichen Vertrages, JuS 1992, S. 205 ff. 183

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III. Macht gegen Wahrheit

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Die gesamte Bürokratie ist als solche Ausdruck einer großen Arcanstaatlichkeit. Ihr Wesen steht gegen Transparenz, ihre mangelnde Durch- und Überschaubarkeit wird vor allem deshalb kritisiert, weil sie insgesamt ein einziges, großes organisationsrechtliches Erkenntnisverbot mit hoheitlichen Mitteln darstellt l85 . Nichts ist dort faßbar, kaum etwas ans Licht zu ziehen, was seine Wurzeln nicht wieder im Untergrund der unzähligen Büroräume, Dienste und Bediensteten fände, geschützt durch zwar abzubauende, gerade darin aber in neue Bürokratismen entartende Hierarchien, in denen sich die Unfaßbarkeit der überwachten Beamten fortsetzt l86 . Dort aber, wo es dem Bürger gelingen könnte, Wahrheitserkenntnis im Einzelfall zu gewinnen, schinnt der Staat diesen seinen Apparat der Wahrheitsverweigerung ab durch zahlreiche unbestimmt formulierte Rechte der Aussageverweigerung l87 . Ganze Verwaltungen werden so de facto undurchdringlich, Hüter von Tatsachen und aus ihnen gewonnener Wahrheitserkenntnis in ihren Datenbanken, welche immer strenger gegen das "unbefugte" Eindringen des Bürgers geschützt werden I88 _ 0ft nur mehr gegen sein Wahrheits streben. Hier hat die Zukunft gerade erst begonnen. Dies ist nur die allgemeine Lage der neuen Arcanstaatlichkeit der dem Bürger vom Staat vorenthaltenen Wahrheiten. In gewissen Bereichen verdichtet sich dies zum totalen Geheimnisschutz, der nun ganze Großverwaltungen, Riesenapparate des Staates abschirmt, und gerade sein politisches, machtmäßiges Zentrum. Da gilt es, die Polizei gegen Ausspähung ihrer Einsatzpläne und _formen l89 sowie ihrer Kommunikation zu schützen, da müssen die Geheimdienste 190 nicht nur den 185 Thieme, w., Einführung in die Verwaltungslehre, 1995, S. 45; ders., Verwaltungslehre, 4. Aufl. 1984, Rn. 154; Schlachter, J., Mehr Öffentlichkeit wagen, 1993; Bieber, R., Infonnationsrechte Dritter im Verwaltungsverfahren, DÖV 1991, S. 857 ff.; Schwan, A., Amtsgeheimnis und Aktenöffentlichkeit, 1984. 186 Daran wird die populäre, bereits weithin populistische, Antihierarchie-Polemik wenig ändern, insbesondere wird es kaum zu einer damit verbundenen Ausweitung der Aufsichtsund Dienstaufsichtsbeschwerden (vgl. zu diesen Schenke, W.-R., Verwaltungsprozeßrecht, 5. Aufl. 1997, Rn. 2 ff.; Hufen, F., Verwaltungsprozeßrecht, 2. Aufl. 1996, Rn 45 ff.) kommen. 18? Vgl. Kopp, F.-O., VwVfG-Komm., 6. Aufl. 1996, § 26, Rn. 18; Ziegler, u., Die Aussagegenehmigung im Beamtenrecht, 1989. 188 Auemhammer, H., BundesdatenschutzG-Komm., 3. Aufl. 1993; Gallwas, H.-V., Der allgemeine Konflikt zwischen dem Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung und der Infonnationsfreiheit, NJW 1992, S. 2785 ff. 189 Vgl. etwa gegen Warnungen vor "Radarfallen", vgl. dazu jüngst OVG Münster NJW 1997, S. 1556 ff. sowie aus früherer Zeit bereits OLG Düsseldorf JZ 1960, S. 258 ff.; OLG Hamburg DAR 1960, S. 215; OLG Köln DAR 1959, S. 247 f.; Lisken, H./Denninger, E., HdBPolizeiR, 2. Aufl. 1996, E 16; Gusy, ehr., Polizeirecht, 3. Aufl. 1996, Rn. 87. 190 Hirsch, A., Die Kontrolle der Nachrichtendienste, Diss. München 1996; Gröpl, ehr., Die Nachrichtendienste im Regelwerk der deutschen Sicherheitsverwaltung, Diss. München 1994; Becker, J., Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: HdBStR (Hg. Isensee/ Kirchhof), Bd. VII, 1992, § 167, Rn. 74 ff.; Schimpf!, Th., Die rechtliche Stellung der Nachrichtendienste, niss. Frankfurt 1990; Gusy, ehr., Richterliche Kontrolle des Verfassungsschutzes, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.), Verfassungsschutz in der Demokratie,

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D. Macht statt Wahrheit

Augen des Bürgers, sondern auch der Parlamente in Kleinkommissionen entzogen werden, da ist schließlich der gesamte Verteidigungsbereich, der noch immer durch die majestätische, absolute Hoheit des Staatsgeheimnisses abgedeckt ist 191 , weit mehr noch in der heutigen Realität des "Unsichtbaren Staates", von der in einer früheren vertiefenden Betrachtung die Rede war l92 • Je mehr der Staat sich zurückzieht aus Uniformen in tarnende Kampfanzüge, desto mehr bleibt seine gesamte hoheitliche Organisation, mit welcher er seine Macht schützt, "sein Geheimnis", und dies nun rein als "Macht gegen Wahrheit", nicht mehr im Namen einer Wahrheit gegen die andere. Letztlich wird so die gesamte Machtsituation einer bestimmten Periode verborgen, vor den Augen der Bürger wie einer Welt, welche ja morgen zum "Gegner" werden könnte, und Kritik möchte fast fragen, ob nicht auch der Bürger schon heute als virtueller Gegner dieser Macht gesehen wird ... Eine Geschichte der Spionagetätigkeit würde - dafür sprechen bekannte geschichtliche Erscheinungen - wohl zu Tage fördern, daß wahre Spionagephobien, ja -hysterien vor allem in diesem Jahrhundert mit seinen großen militärischen Auseinandersetzungen sich entwickeln konnten, während so oft früher Stärken und Schwächen, nicht ohne Noblesse, offen gezeigt wurden; und vielleicht ist es ja immer ein Zeichen allgemein niedergehender Staatsmächtigkeit, wenn nicht kultureller Dekadenz, daß dann Bücher über "Stratagemata" verlaßt werden 193 , von den Alten 194 bis hin zu den Behandlungen heutiger Intelligence Services. Dies alles ist eben ein Problem der Intelligenz, die zur Erkenntnis führen soll, zur Wahrheit; von Erkenntnissen der Geheimdienste ist denn auch, ganz unbefangen, die Rede.

1990, S. 67 ff.; Roewer, H., Nachrichtendienstrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1987; Borgs-Maciejewski, H. / Ebert, F., Das Recht der Geheimdienste, 1986; Friesenhahn, E., Die

Kontrolle der Dienste, in: BMI (Hg.), Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, S. 99 ff. 191 Dau, K., Rechtsgrundlagen für den MAD, DÖV 1991, S. 661 ff.; zum früheren Recht Gusy, ehr., Der militärische Abschinndienst, DÖV 1983, S. 60 ff. 192 Vgl. Leisner; w., Der Unsichtbare Staat, 1994, S. 195 ff. 193 Im Freund-Feind-Verhältnis Staat-Bürger; denn immerhin geht die Grundrechtlichkeit vom Staat als natürlichem Gegner der Bürgerfreiheit aus, weshalb er sich auch nicht seinerseits auf Grundrechte berufen darf, vgl. dazu die h.M.: Dreier; H., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 19 III, Rn. 38 ff. m. weit. Nachw. zur Lit.; Krüger; H., in: Sachs, GGKomm., Art. 19, Rn. 81 ff. m. Nachw. zur Rspr. des BVerfG; Krebs, w., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 1,4. Auf!. 1992, Art. 19, Rn. 41 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 1149 ff.; BVerfGE 21, 362 (369 ff.); 68, 193 (205 ff.). 194 Erinnert sei nur aus dem 1. Jahrhundert an die drei Bücher des S. Julius Frontinus "Stratagematicon", in dessen erstem die Täuschungshandlungen vor Beginn der Gefechte, mit vielen griechischen und römischen Beispielen unterlegt, dargestellt werden.

III. Macht gegen Wahrheit

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d) Erkenntnisverbot zum Schutz der Privatheit

Der Bürger hat Anspruch auf Erkenntnis und auf Wahrheit, der Staat darf sie ihm insbesondere dort nicht vorenthalten, wo sie zur Durchsetzung seiner Rechte unentbehrlich ist, wo er sie zur Ausübung seines höchstrangigen Rechts der Meinungsfreiheit unbedingt benötigt. Doch damit ist schon grundsätzlich die Wahrheitsproblematik verschoben, hin zu den Interessen, zur Nützlichkeit und ihrer Durchsetzung. Das tiefe Ethos, mit dem sich ein Bürger um Wahrheitserkenntnis bemühen dürfte, eben weil er sie sucht, ist im Geflecht der Auskunftsrechte bereits ausgeblendet. Überdies schützt sich der Staat gerade durch diesen Hinweis auf Interessen gegen die Preisgabe von Geheimnissen, die er nun nicht mehr als die seinen, sondern als die anderer Bürger zu schützen vorgibt. Die eigentliche Waffe gegen die Auskunftsrechte 195 ist die Privatheit anderer Gewaltunterworfener, hinter ihr steht die Begründungskraft der liberalen Freiheit. Wenn der Staat sich "immer mehr sagen läßt", Tatsachen- und Wahrheitserkenntnisse von seinen Bürgern einfordert, damit er Macht über sie ausübe, so ist es selbstverständlich, daß er dieses Wissen dann auch nur zur Verstärkung seiner Gewalt gebraucht, es nicht anderen überläßt, damit sich sogar private Gegen-Macht aufbaut. Mit einer wahren List der Vernunft wirkt gerade dies auch noch weiter geheimnislegitimierend zugunsten der Hoheitsgewalt: Sie darf Erkenntnisse nicht weitergeben, schon um der Grundrechte anderer Bürger Willen. Damit deckt sie ihre Akten ab, hinter grundrechtlichen Mauem ist die gesamte Bürokratie als Organ der Arcanstaatlichkeit sicher, die sich selbst nicht auf Grundrechte berufen dürfte 196 . Deshalb kann es nie gelingen, diesen Kreis zu durchbrechen, denn mit immer mehr Freiheitsstreben wird immer neue Wahrheitsverschleierung einhergehen. Letztlich bedeutet dies nur, daß die Wahrheit den Interessen zu weichen hat - den Belangen anderer; und warum dann nicht auch dem öffentlichen Interesse? Vom Schutz der Privatheit 197 führt denn auch eine sichere Brücke zur Bewahrung der Staatsgeheimnisse im öffentlichen Interesse, das ja häufig nichts ist als 195 Huber; P. M., Der datenschutzrechtliche Auskunftsanspruch, ThürVBI. 1992, S. 121 ff.; Knemeyer; F.-L., Auskunftsanspruch und behördliche Auskunftsverweigerung, JZ 1992, S. 348 ff.; Grünning, K., Auskunftsansprüche des Bürgers - Auskunftspflichten in der freien Wirtschaft und in der öffentlichen Verwaltung, VR 1991, S. 8 ff.; Bäumler; H., Der Auskunftsanspruch des Bürgers gegenüber den Nachrichtendiensten, NVwZ 1988, S. 199 ff.; Jochum, A., Auskunfts- und Hinweispflichten bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, NVwZ 1987, S. 460 ff. 196 Vgl. Fn. 193. 197 Ule, C. H./Laubinger; H.-W, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 25, Rn. 1 (7 f.); Heckel, ehr., Behördeninteme Geheimhaltung, NVwZ 1994, S. 224 ff.; Gallwas, H.-U., Der allgemeine Konflikt zwischen dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Informationsfreiheit, NJW 1992, S. 2785 ff.; Schönemann, P., Akteneinsicht und Persönlichkeitsrecht, DVBI. 1988, S. 520 ff.; v. Rienen, W, Frühformen des Datenschutzes, Diss. Bonn 1985. 15 Leisner

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D. Macht statt Wahrheit

eine mächtige Bündelung privater Belange, als eine solche jedenfalls stets ausgegeben werden kann. So werden dann selbst Staatsschutz und Landesverteidigung zum gebündelten Schutz unzähliger Privatheiten gegen einen Feind, der - vielleicht - in ihre Grundrechte einbrechen möchte, in ihre Interessen und ihre vielen kleinen Wahrheiten. Eines bleibt: die Denaturierung des Wahrheitsschutzes zur Sicherung der Interessen. Damit werden jene Grundrechte, aus denen doch vor allem die intellektuelle Entfaltungsfreiheit der Erkenntnis herauswachsen sollte, zur Begründung von deren Verbot - zum Nutzen stärkerer Macht.

e) Medien gegen Staatsgeheimnis?

Medien leben von Enthüllungen - der Wahrheit, und damit von dieser, so scheint es doch. Ist es nicht gleichgültig, aus welchen Gründen die Presse Skandale aufdeckt, mit welchem ökonomischen Hintergrund das Fernsehen irgendwelche Wahrheiten verbreitet, wenn im Ergebnis nur deren Erkenntnis gefördert, vielleicht erstmals ermöglicht wird? Einen Interessenhintergrund der Wahrheitserkenntnis wird es immer geben, er trägt diese, nimmt ihr als solcher vielleicht etwas von ihrer Reinheit - und bleibt doch nützlich, nicht nur für Interessen, sondern für Erkenntnis schlechthin. Dies ist das Ethos des bedeutenden Journalismus, und es trägt letztlich die gesamte Medientätigkeit, daß hier zwar in Verfolgung eigener und fremder Interessen gehandelt wird, dennoch aber zur größeren Ehre der Wahrheit. Doch die Realität in der heutigen Demokratie ist eine andere. Die Auskunftsrechte der Medien l98 laufen dem Staat gegenüber weithin leer, der sich auf die eben beschriebenen weiten Staatsgeheimnisse seiner Bürokratie zurückzieht. Mit juristischen Mitteln ist das Staatsgeheimnis seitens der Medien kaum zu durchbrechen. Was ihnen bleibt, wovon sie zu ihrer Wahrheitssuche Gebrauch machen müssen, ist der ständige Geheimnis- und Wahrheitshandel mit den staatlichen Instanzen, indem sie versuchen, ihre Unterstützung gegen Informationen einzutauschen. Dies aber setzt auf ihrer Seite eine grundSätzliche Achtung des Staatsgeheimnisses, in all seinen Ausprägungen voraus; wer dieses Gesetz bricht, schadet der Pressefreiheit überhaupt und wird daher von der Pressezunft ausgestoßen. Die Medien laufen eben doch letztlich ,,hinter dem Staatsgeheimnis her", sie können immer nur einen Zipfel des großen Purpurs der Macht zurückschlagen. Eifersüchtig wacht diese darüber, daß hier nicht allzuviel gefragt, gesagt und offengelegt werde. Zufrieden sind es die Medien, wenn ihnen wenigstens der Schutz ihrer Informanten gewährleistet bleibt l99 , und wenn ihre eigene Wahrheit nicht auch noch durch das Staatsgeheimnis zugedeckt wird. 198 Grundlegend dazu bereits Jerschke, H. U., Öffentlichkeitspflicht der Exekutive und Infonnationsrecht der Presse, Diss. Erlangen 1971; sowie neuerdings Ring, W.-D., Medienrecht; Löffler, M./Ricker, R., HdBPressR, 3. Aufl. 1994; Löffler, M./Wenzel, K.E./Achenbach, H., Presserecht, 4. Aufl. 1997.

III. Macht gegen Wahrheit

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Eines vor allem müssen Journalisten dabei stets beachten, wollen sie nicht, im Namen ihres eigenen Liberalismus, ohne den es Pressefreiheit nie hat geben können, von der Bürgerschaft ins Abseits gestellt werden: Die privaten Interessen, in deren Namen vor allem sie ja gegen die Staatsmacht vorgehen, dürfen sie bei ihrer Wahrheits suche nicht in einer Form verletzen, welche diese als einen Widerspruch in sich erscheinen lassen müßte. Wo sich der Staat als Schützer privater Freiheit ausgeben kann, dürfen sie sich nicht in private Erkenntnisvorgänge und Bürgerwahrheiten drängen; hier bleibt daher der Staatsgewalt höhere, weitere Erkenntnis, damit aber auch die Möglichkeit, die Medien von Erkenntnissen abzudrängen. Schwerer noch wiegt, daß sich damit die Medien grundsätzlich einer Interessenwahrung beugen müssen, in deren Namen die Wahrheit eben gegenüber der Nützlichkeit zurücktritt. Wird aber einmal die Wahrheitsfrage anders gestellt als im Sinne einer letztlich doch auf Erkenntnisreinheit gerichteten Anstrengung, so verliert sie in sich bereits die Legitimation einer "Kritik im Namen der Wahrheit", dann sind die Medien nicht mehr Wahrheitsinstanz. Ihre Censorenstellung in der Gemeinschaft schwächt sich ab, findet immer höhere Schranken an den Interessen, die eben letztlich doch stets gegen Wahrheit stehen, jedenfalls an dieser vorbei verfolgt werden. Gerade dann schließlich, wenn die Medien Erforschung und Verbreitung der Wahrheit ernst nehmen, dem Bürger deren Erkenntnis ermöglichen wollen, müssen sie sich auch all dem verpflichtet fühlen, was im Namen der von der Staatsgewalt bereits appropriierten Wahrheit zu erkennen, zu verbreiten und zu kritisieren ist. Damit aber werden die Medien aus geborenen Censoren und Kritikern der Staatswahrheit zu deren Organen und Verbreitern. Sie lassen sich auf den Staatsdialog ein, damit allein aber bereits auf das Staatsgeheimnis, welches eben die Plattform, das Forum ist, das der Staat für diesen großen Austausch geschaffen hat und bereithält. Einerseits also muß die Presse das Staatsgeheimnis achten - zum anderen muß sie den Raum, wo es gelüftet wird, als ihren primären Aktionsbereich anerkennen, ja zu ihrer Bühne machen. Damit aber gewinnt das Staatsgeheimnis erst recht öffentliche Macht, auch gegen die Wahrheit.

f) Staatsgeheimnis im Namen der FreiheitFreiheit gegen Erkenntnis

Das Staatsgeheimnis ist also keine punktuelle Erscheinung heutiger Demokratie, schon gar nicht ein kurioses Relikt früherer, längst begrabener Arcanstaatlichkeit. Mit ihm stellen sich Grundfragen nicht nur der Staatswahrheit, bis hin zu "Macht 199 Schulze-Fielitz, H., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 5 I, n, Rn. 146; Bullinger, M., Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 142, Rn. 32, 75; krit. Scheuner, U., Pressefreiheit, VVDStRL 22 (1965), S. 1 (73); BVerfGE 20,162 (176,187 ff.); 77, 65 (81 ff.).

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D. Macht statt Wahrheit

gegen Wahrheit", sondern einer Legitimation dieses Datenschutzes im weiten Sinn, welche aus den innersten Bereichen dieser selben Demokratie kommt, aus ihrer Freiheit. Hier verweigert die Staatsgewalt, dies zeigte sich soeben, den Zugang zur Erkenntnis im Namen der Privatheit, damit der Entfaltungsfreiheit des Bürgers 2oo . Die Hoheitsgewalt versperrt den Wahrheitszugang durch ihr Akten-, Bürokratieund Datenmonopol. Die Abneigung gegen den "gläsernen Bürger" und zugleich gegen einen voll transparenten Staat, der aber auch private Geheimnisse hütet, wird auch durch einen heimlichen, aber starken Widerstand gegen übersteigerte Gleichheit getragen; und sie kann sich hier auf eine schwere Gefahr für die Freiheit berufen: fremde Freiheit darf eben als solche kein Wahrheitsgegenstand werden. Freiheit kann es nur geben, solange sie noch umgeben ist von einem Geheimnis, individuell vom Bürgergeheimnis, kollektiv vom Staatsgeheimnis. Auf diesem Umweg profitiert sogar die Staatsrnacht mit ihrem Staatsgeheimnis von einer Freiheit, deren Inanspruchnahme und Begründungskraft ihr sonst verschlossen ist, eben weil sie, die Hoheitsgewalt, als "natürliche Feindin der Freiheit" erscheint201 . Hier wird dagegen Hoheitsgewalt aus Freiheit des Bürgers und bald auch aus Freiheit des Staates offen legitimiert - ein wahrhaft erstaunlicher Umweg um eines der Zentren des Grundrechtsschutzes, hin zur Macht. All dies könnte hingenommen werden, wäre gesichert, daß der Staat dieses sein höheres Wissen als Bürgergeheimnis bewahrt, es nicht machtmäßig -letztlich eben doch als seine Staatswahrheit - einsetzt oder zumindest zur Stärkung seiner Staatsinteressen. In der Steuerstaatlichkeit ist dies grundSätzlich versucht worden, wirkt die dort besonders lastende Hoheitsgewalt doch, im Namen des Steuergeheimnisses, als eine Art von Wahrheitsnotar unter Verschluß gehaltener Bürgerwahrheiten. Doch gerade hier wird all dies bereits auch zur Verstärkung der Hoheitsgewalt eingesetzt, zur Befriedigung ihrer unersättlichen finanziellen Interessen, die aber wiederum nur einem dienen: größerer Staatsrnacht. Der Staat wird also auch darin nicht, und nirgendwo sonst, allein als Bürgernotar tätig, er nimmt nicht nur Geschäfts- und andere persönliche Geheimnisse des Bürgers unter seinen Verschluß, um diesem individuell zu dienen; zugleich zieht er stets aus ihnen seine Arcangewalt und hütet sie als solche, in seinen Bürokratien und Akten. Sein Ziel ist die 200 Denn Privacy wird ja vor allem durch jenes allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt, das wieder aus dem grundrechtlichen Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG gewonnen wird, vgl. Dreier; H., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 2, I, Rn. 51; Geis, M.-E., Der Kern des Persönlichkeitsrechts, JZ 1991, S. 112 ff.; Schmitt Glaeser; W, Schutz der Privatsphäre, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. VI, 1989, § 129, Rn. I ff., 20 ff.; Wasserburg, K., Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988; Benda, E., Privatsphäre und "Persönlichkeitsprofil", in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschr. f. Geiger, 1974, S. 23 ff.; nach BVerfG NJW 1995, S. 1477 geht es um "die Abschinnung eines Bereichs für den Einzelnen, in dem er unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen verkehren kann". 201 Vgl. Fn. 193.

III. Macht gegen Wahrheit

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Hoheitsrnacht als dokumentierte, als "wahrheitsstärkere Gewalt", und sei es auch aus anonymisierten Unterlagen der Staatsstatistik. Das Gefährlichste an dieser Machtsteigerung aus Erkenntnis- und Wahrheits sperren liegt darin, daß die Wahrheitsfrage dabei nie offen gestellt wird, obwohl doch hier nichts anderes stattfindet als "Hoheitsgewalt gegen Wahrheit": Der Zugang zu ihr wird durch Staatsgeheimnisse versperrt, und dann wird diese "gesperrte" Wahrheit auch noch eingesetzt als Stärkung, als Begründung der Hoheitsgewalt, und zwar gerade wo sie, wie bei den Abgaben, eindeutig als Macht, meist nur als eine solche erscheint. Hier findet also ein entscheidender Umschlag statt von einem Wahrheitsverbot für außerstaatliche Instanzen, insbesondere für den Bürger, zu einer Wahrheitsaneignung des Staates; diese tritt nicht als solche im Staatsgeheimnis in Erscheinung, sondern auf dem Umweg über angebliche Interessenwahrung oder schiere Machtentfaltung, mithin als ein "außerwahrheitlicher" Vorgang - womit sich dann der "Staat der Wahrheitsneutralität" als solcher bewährt und doch seine Macht in seinem Geheimnis gesteigert hätte. Denn ist er dann unterwegs von der Wahrheitsverdrängung über die Wahrheitsaneignung zum wirklichen Staatswahrheitsmonopol, so schließt sich der Ring von diesem Kapitel zu dem ersten dieses Hauptteils. Wo doch Wahrheit Klarheit bringen sollte, jedenfalls aber fordert, läuft "alles ineinander hinein", Ausgesprochenes und Verbotenes, Interessen und Erkenntnis, in einer Staatswahrheit als - Verschleierung der Wahrheit. Und wäre denn nicht gerade dies deren Wesen - das Geheimnis?

5. Staatslüge a) Staatsunwahrheit - ein aktuelles Problem

Die Staatslüge als bewußt inhaltlich unrichtige, ethisch verwerfliche Äußerung oder Verbreitung von Tatsachen, hat als solche keine für das Staatsrecht bedeutsame Geschichte. Da schon die Verbindung zwischen Staat und Wahrheit, wie sie hier im Begriff der Staats wahrheit behandelt wird, als solche nicht ins juristische Bewußtsein gedrungen ist, konnte ihre Antithese, der Bruch der Wahrheit durch Verletzung der Wahrhaftigkeit, als solche kein eigentliches "Staatsphänomen" sein. Im Begriff der Lüge liegt auch von vorneherein ein moralischer Vorwurf, der, nach abendländischer religionsgeprägter Ethik, nur einer natürlichen Person gegenüber erhoben werden darf; er mag sich gegen einen Organträger der Staatsgewalt richten, der Staat als solcher ist ohne Sünde, so wie nach herkömmlichem Verständnis eine Organisation als solche weder Verbrechen begehen noch sündigen kann, da sie eben nicht handiungsfähig 202 ist. 202 Redeker, K./v. Oertzen, H.-i., VwGO-Komm., 12. Auf!. 1997, § 62, Rn. 6; Bier, W, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO-Komm., § 62, Rn. 17; Kopp, F.-O., VwGOKomm., 10. Auf!. 1994, § 62, Rn. 6.

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D. Macht statt Wahrheit

In diesen Fragen haben jedoch, in den letzten Jahrzehnten, bedeutsame Umwertungen stattgefunden. Mit der Entpersönlichung des Staates, im Zuge der Entfeudalisierung, ist der Staat zum großen Sündenbock für viele Bürger geworden, nun erscheint er der Sünde fähig. Staatliche Organisationen soll es geben, welche als solche als verbrecherisch eingestuft werden 203 , Regime, die nur mehr als organisiertes Verbrechen begriffen werden können. Hier geht es nicht um Zurechenbarkeiten zu natürlichen Personen, das als verwerflich Kritisierte liegt in der Organisation selbst, hinter welcher deren Träger zurücktreten. Das Wort vom Unrechtsstaat hat die Staatlichkeit als solche sündenfähig gemacht. In den Feudalregimen war es der Fürst, dem Macchiavelli den Rat zur Unwahrhaftigkeit gab, zum Besten seiner eigenen, höheren Macht, damit aber, nach heutigem Verständnis, im öffentlichen Interesse. Wenn er die Unwahrheit sprach und tat, geschah es zwar ad maiorem rei publicae gloriam. Noch immer aber war es sein persönliches Unrecht, seine Sünde, ihm konnte sie vergeben werden - der Unrechtsstaat, die Organisation der großen Staatslüge, der verbrecherischen Propaganda, findet keinen Beichtvater und keine göttliche Vergebung, mehr noch: seine organisierte Unwahrheit wird zur Abirrung vom innersten Wesen der Staatlichkeit, weil von den Pflichten jeder Macht. Darin mag positive Betrachtung eine fortschreitende Ethisierung der Staatsgewalt sehen, während Kritik rügen wird, daß hier der Begriff des Ethischen selbst denaturiert erscheint, abgleitet von den ursprünglichen Codierungen "Gut und Böse", andere Richtwerte aber schlechthin nicht finden kann. Überdies droht eine stillschweigende, aber immanente Tendenz zur Rechtfertigung oder doch Verhannlosung persönlichen moralischen Fehlverhaltens der Machtträger, welche sich hinter der sündigen Organisation verstecken 204 •

203 Strafverfahren gegen "verbrecherische Organisationen" als solche sind allerdings bisher den "Kriegsverbrecherprozessen" vorbehalten geblieben, vgl. Peschel-Gutzeit, L. M. (Hg.), Das Nürnberger Iuristenurteil von 1947; Seidl-Hohenveldern, I., Völkerrecht, 9. Auf!. 1997, Rn. 1874 ff.; Kimminich, 0., Einführung in das Völkerrecht, 6. Auf!. 1997, S. 508 ff.; Jung, S., Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, 1992; Ostendorf, H. / t. Veen, H., Das "Nürnberger Iuristenurteil", 1985; Berber, F., Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 11, 2. Auf!. 1969, S. 250 ff.; Heydecker, J. J./Leeb, J., Der Nürnberger Prozeß, 1958. 204 Die Strafrechtsprechung nach der Wende zu Fällen von "Staatsunrecht" beweist es eindrucksvoll, vgl. BGHSt 39, I = NJW 1993, S. 141; BGHSt 39, 168 = NJW 1993, S. 1932; krit. Polakiewicz, J., Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992, S. 177 (189 f.), (Mauerschützen); BGH NJW 1994, S. 2237 ff.; Gropp, w., Naturrecht oder Rückwirkungsverbot? - Zur Strafbarkeit der Berliner ,,Mauerschützen", NI 1996, S. 393 ff.; Wassennann, R., Schlußstrich unter die SED-Verbrechen?, NJW 1994, S. 2666 ff.; BeriVerfGH NJW 1993, S. 515 ff.; dazu Pestalozza, ehr., Der "Honecker-Besch1uß" des Berliner Verfassungsgerichtshofs, NVwZ 1993, S. 340 ff.; Schoreit, A., Absolutes Strafverfahrenshindernis und absolutes U-Haftverbot bei begrenzter Lebenserwartung des Angeklagten? NJW 1993, S. 881 ff.; Meurer, D., Der Verfassungsgerichtshof und das Kassationsverfahren, IR 1993, S. 89 ff.

III. Macht gegen Wahrheit

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Der Weg zu dieser Moralisierung des Staates ist also beschritten, er kommt aus dem Zentrum einer Demokratie, in welcher Macht nicht mehr von Menschen ausgeübt werden soll, daher aber auch als solche das Böse zu verantworten hat. Unwahrheit spielt hier die erste und wichtigste Rolle, der Staat der Folter mag ihr Endpunkt sein; er beginnt aber stets mit einer Vergewaltigung der Wahrheit, im Namen gesetzter Staats wahrheit oder negierter reinerer Wahrheit, deshalb wird dann die geglaubte oder erkannte "andere Wahrheit" verfolgt. So wird die Staatslüge zum Anfangsphänomen der Staatssünde im Unrechts staat, vom persönlichen Verhalten steigert sie sich zur Staatsorganisation. Die Rechtfertigung der Notlüge mag sie zu Zeiten finden, in außerordentlichen Lagen, nach verlorenen Schlachten oder gescheiterten Groß-Reformen. Doch sie ist nun nicht mehr durch ein persönliches Gewissen der Herrschenden und vor ihm zu verantworten, der Staat als solcher wird durch ein solches Verhalten auf den Prüfstand der Wahrheit gestellt. Aktuelle Phänomene aus letzter Zeit, von größtem politischen Gewicht, haben die Staatslüge als solche ins Blickfeld gerückt, wenn nicht in ihrer Realität, so doch in ihrer Möglichkeit, und dies in freiheitlich-demokratischen Regimen, welche sich in besonderer Weise ethischen Maßstäben verpflichtet fühlen sollten. Nur zwei Erscheinungen seien erwähnt, in denen eine solche Abweichung von der Wahrheit besonders deutlich geworden ist, weil es sich um Tatsachenwahrheiten handelt, an denen Staatsorgane immer wieder festgehalten, auf die sie sogar ihre Legitimation in wichtigen Bereichen gegründet haben. Schwerfallen mußte es ihnen daher, sich hier der Wahrheitsfrage zu entziehen, die als eine solche der Staatswahrheit dramatisch hervortrat: nicht mehr nur im allgemeinen Sinne eines Einsatzes der Macht gegen die Wahrheit, sondern als deren bewußte, aber wahrheitswidrige Negation, offen also: "Staatswahrheit zur Verheimlichung der reinen Wahrheit" - in höchster Steigerung dessen, was den Gegenstand dieses Abschnitts bildet. Die Nichtrückgabe von der sowjetischen Besatzungsmacht oder mit ihrer Billigung völkerrechtswidrig konfiszierter Verrnögensgegenstände im Osten Deutschlands 205 mag dort auch heute noch von breitem Konsens getragen sein. Dahinter steht wohl der politische Wille, einmal Zugeteiltes um jeden Preis zu behalten, auch um den der Gerechtigkeit, oder einer Weiterwirkung der jahrzehntelang gepredigten kommunistischen Eigentumsdoktrin. Für die Bevölkerung im Westen mochte dies sich aus einer bestimmten Geschichtsauffassung legitimieren, welche, 205 BVerfGE 84, 90 ff.; vgl. dazu allg. Rechberg, ehr. (Hg.), Restitutionsverbot, 1996; Graf Vitzthum, W / März, W, Restitutionsausschluß, 1995; Graf Vitzthum, w., Das Bodenrefonnurteil des Bundesverfassungsgerichts: Analyse und Kritik, in: Stern (Hg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. 11, zur Wiederherstellung der inneren Einheit, Teil 1 Vennögensfragen - Öffentlicher Dienst - Universitäten, 1992, S. 3 ff.; Wagner, J., Rückgabe und Entschädigung von konfisziertem Eigentum, Diss. Hamburg 1994; Blumenwitz, D., Die besatzungshoheitlichen Konfiskationen in der SBZ, BayVBl. 1993, S. 705 ff.; Leisner, W, Rückerwerbsrecht von Alteigentum Ost - nach Gesetz oder Verwaltungspraxis?, DVBl. 1992, S. 131 ff.; ders., Das Bodenrefonn-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1991, S. 1569 ff.

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D. Macht statt Wahrheit

im Namen der Vergangenheitsbewältigung entstanden, in diesen Konfiskationen gerechte Strafe für eine frühere Oberschicht, insbesondere die "Junker" sah, oder es einfach für unmöglich hielt, das Rad der Geschichte zurückzudrehen; und schließlich ging die ganze Problematik unter in staatlichen Sparüberlegungen, welche Vermögens werte behalten und Entschädigung gering halten wollten 206 . Doch in einer bestimmten Phase der Diskussion trat das Problem auf, ob es die von deutschen Staatsinstanzen stets behaupteten Verbote der Rückgabe seitens der früheren Sowjetunion entweder überhaupt nicht oder doch nicht in derartiger Form im Augenblick der Wiedervereinigung gegeben habe 207 . Dagegen sprachen immerhin Tatsachenindizien von erheblichem Gewicht. In diesem Zusammenhang wurde denn auch unüberhörbar der Vorwurf der Staatslüge erhoben: Die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland und eine Vielzahl verantwortlicher höchster Machtträger derselben hätten, aus staatseigensüchtigen Motiven, die Verhandlungs-Wahrheit zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung vertuscht oder gar verfälscht. Typisch war dabei, daß, im Sinne der vorstehend aufgezeigten Entwicklung, nicht so sehr diesen, als solchen ja nur bedingt interessierenden Organträgem ein Vorwurf gemacht wurde 208 , daß vielmehr die Kritik der organisierten Staatsunwahrheit nicht verstummen wollte, welche für nicht wenige den Schatten einer ethischen Staatskrise heraufbeschwören mochte. Das Bundesverfassungsgericht hat alle diese Bedenken beiseite geschoben, indem es sich im wesentlichen auf die außen- und deutschlandpolitische Einschätzungsprärogative der Exekutive berief und in Self restraint seine eigenen Prüfungsmöglichkeiten und -rechte einschränkend interpretierte 209 . Damit war die Wahrheits frage als solche umgangen, sie wurde in den unüberprüfbaren Bereich des Domaine reserve der Auswärtigen Gewalt210 verlagert. Angesichts der weitestgehenden Konvergenz fast aller politischen Kräfte, welche eine Rückgabe nicht wünschen, kommt eine politische Entscheidung des Volkssouveräns in Wahlen über die Wahrheitsfrage nicht in Betracht, ob russische Instanzen 206 Vgl. dazu u. a. Schmidt-Preuß, M., Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, NJW 1994, S. 3249 (3255 f.). 207 Siehe dazu ausdrücklich das BVerfG im Bodenreformurteil, E 84, 90 (108 f.); BVerfG NJW 1996, S. 1666 ff. (1670). 208 Sieht man von alsbald eingestellten Strafverfahren gegen den zuständigen Bundesminister und seinen Stellvertreter ab. 209 Zur außenpolitischen Prüfungs- und Entscheidungsprärogative vgl. BVerfGE 68, 1 (89, 103); 55, 349 (365 ff.); 49, 89 (124 f.); 36, 1 (14 f.); 35, 257 (262); auch Schuppert, G. F., Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 1985; Streinz, R., Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle über die deutsche Mitwirkung am Entscheidungsprozeß im Rat der Europäischen Gemeinschaften, 1990; Grewe, W G., Auswärtige Gewalt, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. 111, 1988, § 77, Rn. 89 ff. m. Nachw. zur richterlichen Kontrolle der Auswärtigen Gewalt durch das BVerfG; siehe auch BVerfG NJW 1996, S. 1666 ff. (1670). 210 Streinz, R., in: Sachs, GG-Komm., 1996, Art. 32, Rn. 3 f.; ders., Staatsrecht 111 Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, 5. Auf!. 1994, Rn. 559 ff.; Grewe, W G., Auswärtige Gewalt, in: HdBStR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. 111,1988, § 77, Rn. 1 ff.

III. Macht gegen Wahrheit

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damals wirklich den deutschen die Rückgabe verboten haben. Doch für historisches Erkennen wird sie sich auf Dauer nicht unterdrücken lassen, mag hier auch bereits eine neue Staatswahrheit im Entstehen sein, welche die Organe der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigt. Bedeutsamer als die historische Wahrheit über die wirkliche Tatsachenlage, welche vielleicht erst eine spätere Zukunft klären kann, und von staatsgrundsätzlichem Gewicht sind aber die Konsequenzen, welche die Erkenntnis einer etwaigen damals aufgebauten staatlichen Schutzbehauptung haben müßte: Wäre sie unzutreffend, so bewirkt dies, daß die Staatsorganisation als solche, über vielfache Träger, der Tatsachenunwahrheit, der wirklichen "Lüge" fähig ist - Staatslüge gegen Staatswahrheit. Aus dem gleichen moralischen Bereich kommt Kritik gegen einen auswärtigen Staat als solchen und gegen dessen zahllose, anonyme, durch Staats- und Bankgeheimnis geschützte Organwalter, welche deshalb besonders schwer wiegt, weil in jenem Land staatsethische Kategorien stets ein besonderes Gewicht hatten im Sinne einer demokratischen Staatsmoral. Der Vorwurf gegen die politisch-wirtschaftlich Verantwortlichen der Schweizer Eidgenossenschaft, im Zusammenhang mit möglichen Hilfestellungen für ein Unrechtsregime, zu Lasten von dessen Opfern, und deren langjährige Verschleierung geht über politische Kritik und ökonomische Interessenwahrung weit hinaus. Wieder stellt sich hier die Frage, ob nicht gerade ein besonders freiheitliches, moralisch orientiertes Gemeinwesen eine Staats- und Gesellschaftslüge über viele Jahrzehnte zugelassen und mit ihr die eigene Staatlichkeit finanziert, dabei zeitgeschichtliche Wahrheit verdrängt hat. Diese Fragen zu beantworten, ist nicht Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Wesentlich ist jedoch die Erkenntnis, daß sich der Begriff der Staatslüge als organisierte, regimegetragene Verdeckung von Tatsachenwahrheiten, zum finanziellen und machtmäßigen Besten der Macht, nicht mehr aus dem staatsrechtlichen kritischen Bewußtsein wird verdrängen lassen.

b) Staatsverpjlichtung zur Wahrheit?

Verläßt man diesen Boden der Zeitgeschichte und kehrt zu staatsrechtlichen Grundsatzfragen zurück, so stellt sich vor allem ein Problem: Gibt es etwas wie eine wesentliche Verpflichtung des Staates als solchen zur Wahrheit, welche sich in seinem gesamten Organisationsrecht niederschlägt, im Sinne allgemeiner Prinzipien oder gar durchgehend bis ins einzelne hinabreichender Wahrheitsgebote? Auch dies ist eine Frage der Staatswahrheit. Ein Blick auf das geltende öffentliche Recht scheint eine eindeutige Antwort zu bieten: Alle Staatsorgane unterliegen einem Verbot der Desinformation des Bürgers und anderer staatlicher Instanzen. Erhobene Tatsachen, erkannte Wahrheiten mögen sie in bestimmtem Sinne werten, ein Spielraum der Wertungs wahrheit wird

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D. Macht statt Wahrheit

ihnen stets bleiben, doch das Festgestellte, als wahr eindeutig Erkannte zu unterdrücken oder zu verfälschen, ist rechtswidrig. Die Wahrheitsfrage mag heute bei der Behandlung der Rechtsstaatlichkeit zurücktreten; daß aber eine wahrhaft transparente Selbstdarstellung der Macht, welche es dem Bürger gestattet, sich gegen diese erfolgreich zu wenden211 , gerade solche Wahrheit verlangt, Desinformation als rechtswidrig verbietet, kann kaum zweifelhaft sein. Dem Bürger gegenüber macht sich überdies eine unwahrhaftige Staatsinstanz einer Verletzung ihrer Amtspflichten 212 schuldig, welche in Amtshaftung endet; darin liegt eine deutliche rechtliche Sanktion gegen die Staatslüge, ja gegen eine wahrheitsverschleiernde Staatsorganisation als solche. Nach innerem Staatsorganisationsrecht kann nichts anderes gelten: Anderen Staatsinstanzen im weiten Sinne gegenüber gilt das Gebot einer Amtshilfe, die heute vor allem als Informationsunterstützung zu verstehen ist213 . All dies kann nur in einem Wahrheitsrahmen ablaufen, Amtshilfe ist also notwendig in voller Wahrhaftigkeit zu gewähren. Das öffentliche Recht, das Verwaltungsrecht insbesondere, kennt kein ausdrückliches Unwahrheitsprivileg für irgendein Staatsorgan, sieht man von der Wahrheitsverschleierung der "Staatsgeheimnisse" ab214 . Doch auf verfassungsrechtlicher Ebene kommt es zu Relativierungen dieser staatlichen Wahrheits verpflichtung. Da mag immer wieder die Wahrheitspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament hervorgehoben werden - eine Sanktion findet dies allenfalls im politischen Bereich, wenn etwa ein Regierungsmitglied das Vertrauen der Volksvertreter durch unwahre Aussagen erschüttert, ja sogar bei seinen politischen Freunden. Bei politischen Sanktionen gegen ihn, wie sie in jüngerer Vergangenheit erfolgt sind, steht aber letztlich nicht mehr die Wahrheitsfrage im Mittelpunkt, sondern ein politik-ethisches Urteil, das nicht so sehr auf die Wahrheit als solche, als auf Vertrauen und Verläßlichkeit blickt. Der Bereich der Staatshaftung, in welchem aus Unwahrheiten präzise rechtliche Folgerungen gezo211 Jedenfalls aus dem Gebot der - auch faktischen - Ermöglichung effizienten Rechtsschutzes läßt sich jedoch einer Unterdrückung der Wahrheit entgegenwirken, Schulze-Fielitz, H., in: Dreier, GG-Komm., Bd. I, 1996, Art. 19 IV, Rn. 26 ff., insb. Rn. 61 f.; Schmidt-Jortzig, E., Effektiver Rechtsschutz als Kernstück des Rechtsstaatsprinzips nach dem Grundgesetz, NJW 1994, S. 2569 ff.; Papier, H. J., Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, in: HdBStR (Hg. Isensee/KirchhoO, Bd. VI, § 154, Rn. 75 ff. 212 Maurer, H., Allg. Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1994, § 25, Rn. 16 ff., ,.richtige, klare, unmißverständliche und vollständige Auskunfterteilung"; Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 4. Aufl. 1992, S. 43, ,.Amtspflicht zur Erteilung richtiger Auskünfte und Belehrungen" mit Beispielen aus der Rechtsprechung; BGHZ 117, 83 (85 f.); 121, 65 (69 ff.); BGH NVwZ 1987, S. 258 ff. (Amtspflichtverletzung durch falsche Auskunft). 213 Vgl. dazu Ule, C. H./Laubinger, H.-W., Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 11, Rn. 7 ff., 39 ff. (zur Informationshilfe m. weit. Nachw.); Simitis, S., Von der Amtshilfe zur Informationshilfe, NJW 1986, S. 2795 ff.; Barbey, G., Amtshilfe durch Informationshilfe und "Gesetzesvorbehalt", in: Festsehr. zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 25 ff.; Schlink, B., Datenschutz und Amtshilfe, NVwZ 1986, S. 249 ff.; ders., Die Amtshilfe, 1982, S. 169 ff. 214 Vgl. dazu oben Fn. 46 und Fn. 180.

III. Macht gegen Wahrheit

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gen werden können, ist denn hier auch verlassen 215 , bei parlamentarischen Äußerungen greift Indemnität ein216 , und was nicht mehr monetarisiert und rechenbar ist, kann nur über die "ganz anderen Mechanismen" einer politischen Wertung sanktioniert werden. So mag denn eine Wahrheits verpflichtung politischer Instanzen untereinander, insbesondere auf Verfassungsebene, Ausdruck der heute allzuviel berufenen "politischen Kultur" sein, was eine unklare Verbindung von Moral und Erkenntnis in die Diskussion einführt. Eine Rechtsverpflichtung zur Wahrheit mit klaren Folgesanktionen wird hier noch lange auf sich warten lassen, wenn sie auf einer demokratisch-parlamentarischen Ebene überhaupt vorstellbar ist. Ein weiteres Problem stellt sich allerdings, wenn Organe der anderen Gewalten sich vor Instanzen der Judikative äußern und dort ihre Wahrheitspflicht verletzen. Ein solcher Vorwurf wurde der Bundesregierung im Zusammenhang mit den früheren Konfiskationen im Osten gemacht217 , der einer Regierungslüge vor dem obersten Gericht. Daß sich darin eine moralische Zuspitzung der eben angedeuteten politischen Problematik, eine Wahrheitsakzentuierung derselben, ergeben kann, ist nicht zweifelhaft, ebensowenig die grundsätzliche Wahrheitsverpflichtung aller staatlichen Organe, vor allen Gerichten 218 . Doch die erwähnte "Relativierung ins Politische hinein" wirkt auch hier mit Macht - zugunsten der Staatsmacht. Eine gesteigerte Wahrheitspflicht des Staates wird, soweit ersichtlich, nirgends gefordert219 • Umgekehrt können öffentliche Interessen gewisse Einschränkungen der Wahrheitsverpflichtung rechtfertigen, was vor allem in den Aussagegenehmigungsrechten des Dienstherrn zum Ausdruck kommt22o . Gewiß sollen sie nicht 215 Vgl. Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 4. Auf!. 1991, S. 86 ff.; v. Amim, H. H., Die Haftung der Bundesrepublik Deutschland für das Investitionshilfegesetz, 1986; Haverkate, G., Amtshaftung bei legislativen Unrecht und die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, NJW 1973, S. 441 ff.; BGHZ 56, 40 (44) = NJW 1971, S. 1172 m. Anm. Schwabe, J., S. 1657 f.; BGH 84, 292 (300); 87, 321 (335); 100, 136 ff.; 100,350 ff. (keine Drittbezogenheit). 216 Die h.L. lehnt einen Indemnitätsschutz für Regierungsmitglieder als solche ab, vgl. Trute, H.-H., in: v. Münch/Kunig, GG-Komm., Bd. 2, 3. Auf!. 1995, Art. 46, Rn. 7 (funktionsbezogene Abgrenzung, soweit Regierungsmitglieder gleichzeitig Abgeordnete sind); Graul, E., Indemnitätsschutz für Regierungsmitglieder, NJW 1991, S. 1717 ff.; Klein, H. H., Indemnität und Immunität, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis (Hg. Schneider I Zeh), 1989, § 17, Rn. 22; Maunz, Th., in: Maunz I Dürig, GG-Komm., Art. 46, Rn. 8,15. 217 Vgl. oben Fn. 205. 218 Auch für ihre Träger gilt das strafrechtliche Verbot der uneidlichen Falschaussage ohne Abstriche, vgl. Tröndle, H., StGB-Komm., vor § 153, Rn. 2 ff., § 153, Rn. 2 ff.; Lenckner; Th., in: Schönke/Schröder, StGB-Komm., 25. Auf!. 1997, Vorbem. §§ 153 ff., Rn. 9 ff., § 153, Rn. 4 ff. 219 Vgl. Fn. 218; daß eine gesteigerte Wahrheitspflicht staatlicher Organe nicht besteht, wird nicht ausdrücklich betont; daraus und dem Fehlen eines entsprechenden Amtsdelikts kann jedoch geschlossen werden, daß Literatur und Rechtsprechung an die Aussagen öffentlicher Bediensteter keine strengeren Anforderungen stellen, weIche dann etwa durch höhere Strafzumessung zu sanktionieren wären. 220 Vgl. Kleinknecht, Th.lMeyer-Goßner; L., StPO-Komm., 43. Auf!. 1997, § 54, Rn. 1 ff. Eigenständige Aussage-I Zeugnisverweigerungsrechte öffentlicher Bediensteter bestehen

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D. Macht statt Wahrheit

Staatslügen decken, aber sie ermöglichen dies auch. Einen verschärften strafrechtlichen Tatbestand des "Meineids im Amt", überhaupt eine besondere Sanktion "staatlicher Unwahrheit vor Gericht" gibt es nicht. Wer sich auf zu wahrende öffentliche Interessen beruft, dem werden wohl mildernde Umstände zugebilligt, gerade wenn er nicht in eigenen Interessen von der Wahrheit abweicht, sondern im altruistischen Namen des Staates; ob er es sich in Karrierevorteilen bezahlen läßt, ist kaum festzustellen.

c) Abgeschwächte Wahrheit - bis zur Staats unwahrheit ?

"Staatslüge", nun mit dem Begriff schwerer moralischer Verwerflichkeit belastet, sollte daher mit Vorsicht, verwendet werden. Von Staatsunwahrheit darf dagegen gesprochen werden, ohne daß dies als übersteigerte Polemik erschiene, während gegen den Vorwurf der Staatslüge die Macht noch immer durch die hohe Fassade des Staates als einer grundsätzlich moralischen Anstalt geschützt wird. So bleibt denn jedenfalls die Feststellung, daß es etwas gibt wie eine Wahrheitsabschwächung als Vorstadium der Staatslüge. Der Minister darf weitergehend von der Wahrheit abweichen, vor Medien oder Parlamentariern, als dies dem Sachbearbeiter einer Kommune gegenüber dem Bürger gestattet ist. Die Staatsorgane haben überdies ganz allgemein, jedes von ihnen, "ihre Wahrheit"; sie ist eine Tatsachen-, Wertungs- und Normwahrheit eigener Art, eine "politische" - eben eine Staatswahrheit, und in ihrem Namen werden auch Sünden vergeben, Staatslügen werden zu Staatsnotlügen ganz allgemein. Die Moralisierungsfrage bleibt allerdings dem Staat gestellt. Eine auch nur ethische Verurteilung des HandeIns einzelner Machtträger wird eine gewisse "Disziplinierung der Staatsgewalt als solcher zur Wahrheit" bringen. Immerhin müssen die Herrschenden auf Dauer mit Machtverlust rechnen, wenn sie den Wahrheitsbegriff geradezu aus ihrem Handeln ausklammern wollen; und eine informationssuchende Bürgerschaft wird der Politik ein Abirren von Wahrheiten, deren offene, ohne Scham vorgetragene Leugnung, nicht verzeihen. Unterschwellig wird damit schon Wahrheitsabschwächung zum Machtverlust. Doch die Kraft solcher Moralisierung darf nicht überschätzt werden. Hier erreicht die Betrachtung der Staatswahrheit einen Bereich ihrer Setzung, der oft genannt, nie jedoch als rechtliche Kategorie akzeptiert worden ist: die "Politik,,221. zwar nicht. Die Aussagepflicht/ -befugnis ist jedoch abhängig von der Erteilung der Aussagegenehmigung des Dienstherrn. 221 Krit. Hesse, K., Die Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auf!. 1995, Rn. 565 f.; Leisner, W, Der Begriff des "Polititischen" nach der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 306 ff.; lsensee, J., Verfassungsrecht als "politisches Recht", in: HdBStR (Hg. Isensee / Kirchhof), Bd. VII, 1992, § 162, Rn. I ff.; Bäckenfärde, E.-W, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: Festschr. f. Scupin, 1983, S. 317 (319 ff.); Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

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Der Frage ist nachzugehen, ob eine gewisse Wahrheitsverunklarung nicht gerade zu ihrem Wesen gehört; dann könnte sich die Staatsgewalt als solche in wahrheitsverschleiernde, wahrheitsrelativierende Politik flüchten, und die Herrschenden fanden in dem Wort von der Politik, die den Charakter verdirbt, auch noch ihre Rechtfertigung. Das Kapitel über die Staatslüge muß jedenfalls mit der resignierenden Bemerkung schließen, daß diese Gefahr zwar am Horizont auftaucht, daß sie jedoch von vielen wohl weggewischt wird mit der Bemerkung, man dürfe in der Politik "nicht allzuviel an Wahrheit verlangen", es genüge eben eine gewisse - eine Staatswahrheit.

IV. "Politik": Gemenge oder Unvereinbarkeit von Macht und Wahrheit? 1. Politik: Relativierung der Wahrheit zur Staatswahrheit

Diese Betrachtungen der Staats-Wahrheit waren staats grundsätzlicher Art; sie galten der Wahrheit als einem rechtlich relevanten, vor allem normativen Maßstab, jedenfalls als einer verbindlichen rechtlichen Orientierung, und dem Erkennen als einem Vorgang der Rechtsgewinnung. Dabei hat sich jedoch an vielen Stellen gezeigt, daß Erkennen und Wahrheit zwar rechtlichen Begrundungswert haben, daß schwerwiegende Abirrung von ihnen sogar Rechtswidrigkeit bedeuten kann. Zugleich aber stellte sich heraus, daß diese rechtliche Bedeutung der Wahrheit immer wieder in einem schwer aufzulösenden Gemenge mit anderen wesentlichen Rechtsinhalten auftritt, die vor allem das Handeln der Staatsorgane bestimmen. Im Vordergrund stehen dabei Verbindungen von Wahrheit und einer Nützlichkeit, welche sich in Interessen ausdrückt, von voluntativen und kognitiven Rechtselementen 222 , nicht zuletzt aber auch von Aktion und wesentlich passivem Denken, wie es dem Erkennenden eigen ist. "Wahrheit", ja sogar Wahrheits suche, konnte also nicht als ein ausschließlicher Rechtskanon nachgewiesen werden - und doch liegt in ihr ein höchst bedeutsamer Rechtswert, der nicht nur rechtsethische, sondern auch rechtsdogmatische Wirkungen entfaltet. Immer wieder war es dabei jedoch "die Politik", in welcher diese Synkretismen in Erscheinung traten. In ihr verbanden sich Wahrheit und Interessen, Wille und Wahrheit, Aktion und erkennende Meditation. Dieser Begriff bezeichnet etwas wie Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 13 ff.; Scheuner, u., Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen (1962), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 45 ff.; Krüger, H., Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 697 f.; Schmitt, c., Der Begriff des Politischen (Text von 1932), 1963; Leibholz, G., Der Status des Bundesverfassungsgerichts, in: Das Bundesverfassungsgericht, 1963, S. 63 ff. 222 Vgl. oben A, 11; C, XI.

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D. Macht statt Wahrheit

eine notwendige, unauflösliche Verbindung von Erkennen und Willensakt: Politik als ,,reiner Wille" endet in ungeistiger Brutalität, Politik als reine Wahrheitssuche entspricht in der Demokratie noch weit weniger den Bedürfnissen der Macht als in feudalen Regimen, in welchen zu Zeiten der Fürst an der Spitze philosophieren durfte. Im Begriff der Politik wird auch noch ein anderes Phänomen deutlich, in welchem die Wahrheit ihre Verbindung mit Wille und Aktion eingeht: die Relativierung der ,,reinen Wahrheit zur Staatswahrheit". Das Wesen dieser letzteren kann vielleicht gerade in einem "Politischen" gefunden werden, das nicht ohne Wahrheitsstreben und dessen Legitimation vorstellbar ist - andererseits aber in ausschließlicher Setzung von Erkanntem jede Wirkkraft verlöre. So könnten denn diese Betrachtungen zu einer Staatswahrheit, welche in so vielen Spielarten aufgefunden wurde, einen Beitrag leisten zur Erkenntnis des Wesens der Politik, ihres Wahrheitsgehalts, zugleich aber und eben darin auch zu dem, was an Wahrheit zur Staatswahrheit politisch relativiert wird - oder degeneriert.

a) Das Recht als" Weg der Wahrheit in die Politik"

Auszugehen ist von dem Verhältnis von ,,Recht", in jenem nonnativen Sinn, der den Begriff spätestens seit der Französischen Revolution entscheidend prägt, und einer "Politik", die seit eben dieser Periode zugleich Durchsetzung des Rechts bewirken und rechtsfreier Raum bleiben will. Denn wenn es eine Beziehung gibt zwischen einer wie immer definierten ,,reineren Wahrheit" und dem politischen Geschehen, so ist sie nur vorstellbar in Qer Fonn eines Eindringens von Wahrheitsgehalten in die Politik auf Wegen des Rechts. Rechtsblindes Wahrheits streben politischer Kräfte ist nicht vorstellbar, diese können zu einer von ihnen zu verbreitenden Wahrheit nur vordringen in Fonnen und mit den Mitteln des Rechts. Wenn im Bereich des "Politischen" ein wesentlicher Synkretismus, vor allem von willentlichen Elementen und solchen des Erkennens, wirksam ist, die ,,reine Wahrheit" zur Staatswahrheit relativiert wird, so dringt nur über diese letztere das Erkannte ein in den Handlungsraum der Politik. Die vielberufene und -diskutierte "Wahrheitsverpflichtung der Politik", jedenfalls ihre Wahrheitsneigung, ein Wahrheitsgehalt in ihr, ist nur vorstellbar, wenn sie eben etwas in sich trägt von einem Erkenntnisstreben, das sie über das Recht in sich aufnimmt, dessen Ergebnisse sie sodann als auch rechtliche Wahrheiten verbreiten will; und in diesem Vorgang der Verbindung von Recht und Politik müßten sich daher sowohl der Wahrheitsgehalt des Politischen als vor allem auch der Vorgang und die Bedeutung der Relativierung der Wahrheit im politischen Raum zeigen. Dies gerade aber war die Ausgangsfrage dieses Kapitels.

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

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b) Trennung von Recht und Politik von Politik und Wahrheit?

Die Frage nach dem Verhältnis von "Politik" und "Recht,,223 könnte, mit der neueren Systemtheorie224, dahin gestellt werden, ob sich hier zwei zu unterscheidende, in sich jeweils geschlossene Systeme gegenüberstehen, welche unterschiedlichen Codierungen folgen, oder ob beide, in vielfachen und wesentlichen Übergängen miteinander verbunden, etwas wie ein einheitliches, in sich geschlossenes System darstellen. Selbst wenn der entscheidende Code des Rechts in der Zuordnung zu den Gegensätzen Recht und Unrecht gesehen würde 225 , so wäre nicht von vorneherein auszuschließen, daß diese Ordnungsprinzipien, oder wie immer man sie bezeichnen mag, eben auch im politischen Raum wirken, diesen in das Recht einbeziehen, und sei es auch nur als einen verfahrensmäßigen Weg, als eine operationale Stufe der Setzung des Rechts. Dieses könnte mit der "Politik" auch dann in gewissen Beziehungen stehen, wenn von einer vollen Trennung der Systeme auszugehen wäre: Sie würde nicht ausschließen, daß kognitive Beziehungen226 zwischen beiden Systemen sich entwickeln, und zwar gerade in dem hier untersuchten Bereich einer "Staatswahrheit". Denn ihr und einer Übernahme ihrer Elemente ist, inhaltlich wie verfahrensmäßig gesehen, gerade jenes Erkennen eigen, in dem ein System aus dem anderen nicht Willensmächte übernimmt, in sich einfließen läßt, sondern (möglichst reine) "Tatsachenerkenntnis", wie sie eben das Wesen der Wahrheit und auch der Staatswahrheit ist. Aus der Sicht der Systemtheorie wären also, wie immer dies im einzelnen konstruiert werden mag, Übernahmen einer "Staatswahrheit" in Politik sowohl bei der Annahme einer Dualität von Systemen wie einer Systemeinheit zwischen Politik und Recht durchaus vorstellbar. In der deutschen Tradition dieses Jahrhunderts wird die Beziehung zwischen Recht und Politik mit Skepsis betrachtet. Das Ende feudaler Staatlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem Heraufkommen demokratischer Staatsgewalt in Deutschland, hat jenes tiefe Mißtrauen hervorgebracht oder doch begünstigt, mit welchem Juristen, vor allem Vertreter des öffentlichen Rechts, aller Politik seither gegenüberstehen, als ob gerade, in Abwandlung des vielzitierten Satzes, gelten könnte: ,,(Demokratische) Politik vergeht, Recht besteht"; denn dies stand hinter dem Wort Otto Mayers. Die Folge wäre dann auch eine Trennung der (Staats-) 223 Hesse, aaO.; Isensee, aaO., Rn. 19 ff., 85 ff.; Schachtschneider, K.A., Res publica res populi, 1994, S. 912 ff. m. zahlr. Nachw. zu Rspr. und Literatur; Henke, w., Staatsrecht, Politik und verfassunggebende Gewalt, in: Der Staat 19 (1980), S. 181 ff.; Häherle, P., Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 2 ff., 4; Stern, K., in: BK z. GG, Art. 93, Rn. 33 ff., 47 ff.; Kelsen, H., Allg. Staatslehre, 1966, S. 44 f., 80; Bachof, 0., Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik, in: Summum ius summa iniuria, 1963, S. 41 ff., 303; auch Leisner, w., Der Abwägungsstaat, 1997, S. 17 f. 224 Vgl. dazu Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 407 ff. 225 Luhmann, aaO., S. 165 ff. 226 Zu den kognitiven Beziehungen zwischen Systemen vgl. Luhmann, aaO., S. 79 ff.

240

D. Macht statt Wahrheit

Wahrheit von jener Politik, in welche das Erkannte nicht mehr aufrechtlichen, insbesondere normativen Wegen eindringen könnte. Nach Kelsen kann es die Frage nach einer rechtlichen Staatswahrheit in der Politik nicht geben. Alles Normative, also auch soweit es Ausdruck einer Erkenntnis ist, bleibt eingesperrt in den Elfenbeinturm des Rechts, seiner Technik und seiner Dogmatik; "Politik" ist demgegenüber eine "ganz andere Welt", ein großer Außenraum, in den nichts vom Recht und seinen etwaigen Wahrheitsgehalten übernommen werden kann. Für Kelsen gibt es Staatswahrheit als Rechtsdogmatik, und nichts außer ihr. Politik bleibt völlig jenseits seiner Betrachtung, als ein reines "Faktum", an das er die Wahrheitsfrage nicht stellt, eben weil das Recht die Wirklichkeit als eine wahre oder unwahre übernehmen mag, sie aber immer "seine Wahrheit" bleibt227 . Die deutsche Verfassungsrechtsprechung hat diese Grundstimmung übernommen. Politik ist ihr letztlich ein rechtsfreier Raum, ein Freiraum eben, unabhängig von normativen Setzungen und Zwängen, frei daher aber auch von jeder Wahrheit, bis hin zur Staatswahrheit228 . Das Bundesverfassungsgericht mag diese erkennen und anerkennen - doch dann normativiert es sie eben, meist unbewußt, übernimmt sie als Inhalt der Verfassung, alle Politik hört auch an ihren Grenzen auf. Sie aber bleibt ihrem Wesen nach rechts- und damit wahrheitsfrei, in ihren Motiven wie in ihren Zielsetzungen, in allen Ausdrucksformen. Vor ihr zieht sich das oberste Gericht, und damit das Verfassungsrecht, vollständig und überzeugt zurück, nicht ohne Sorge, daß anderenfalls seine "Erkenntnisse" zuviel "Staatswahrheiten" über das Recht in die Politik einfließen lassen könnten - und daß am Ende das richterlich Erkannte, wie die Macht der Richter, durch Politik auch wieder gebrochen werden könnten und dies noch im Namen der Verfassung. Die "Systemcodierungen,,229, trennen hier eindeutig das Recht mit seiner Erkenntnis von dem, was unrecht und was rechtens ist, von der gestaltenden Kraft der Politik, hinter welcher Effizienz- und Nützlichkeitskriterien stehen. Jener Dezisionismus, welcher die Verfassungsjudikatur mit seinem Begriff der "Grundentscheidungen" ebenfalls so wesentlich, geradezu systemschaffend, geprägt hat230, führt in dieselbe Richtung einer Trennung von Recht und Politik. Da mag diese letztere, eben in ihren Grundentscheidungen, den rechtlichen Raum ausKelsen, H., Allg. Staatslehre, 1966, S. 44 ff. Vgl. dazu vor allem Leisner (Fn. 221), S. 306 ff.; ders., Imperium in fieri, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 257 ff. sowie Schachtschneider (Fn. 223), S. 909 ff.; Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11, S. 944 ff., 956 ff.; Kriele, M., Theorie der Rechtsgewinnung. Entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Auf!. 1976, § 51, S. 191 ff.; Massing, 0., Recht als Korrelat der Macht?, in: Der CDU-Staat. Erste Analysen der Verfassungswirklichkeiten der Bundesrepublik, 1969,3. Auf!. 1972, S. 415. 229 Vgl. Luhmann (Fn. 225). 230 Vgl. etwa die "Grundentscheidungen" für die Meinungs- oder die Eigentumsfreiheit, BVerfGE 5,85 (134 f., 205); 7, 198 (208) [Meinungsfreiheit); 14,263 (277); 36, 281 (290) [Eigentumsfreiheit). 227

228

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

241

gestalten, selbst die Mittel dieser Gestaltung bereitstellen - immer bleibt es hier doch beim "Gesetz des Handeins", bei einer Politik als Aktion, welche sich mit souveräner, letztentscheidender Macht im Ausnahmezustand bewährt23 1, jenseits von allen rechtlichen Setzungen. Auch danach wieder ist, wie eben auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Politik wesentlich "Gestaltungsraum", ihr Grundwort heißt Handeln, nicht Erkennen - das Beste ist doch ein Befehl - "doch", weil eben jenseits von allem Normativen, dieses transzendierend in Handlung. Diese Kategorien sind es denn auch, welche die Politikumschreibung, mehr als definition, des Freund-Feind-Verhältnisses 232 prägen: Es ist ein Gegensatz, der sich nur im Kampf auflösen läßt, in Handlung. "Freund" und "Feind" sind keine Erkenntniskategorien, sondern solche des Hande1ns; beide werden in ihm erst "erkannt", nicht in einer "Suche von Wahrheit". So mag denn, nach all diesen Theorien und damit nach der herrschenden wenn nicht Lehre, so doch Grundstimmung in Deutschland, die Politik, mit all ihren Gehalten von Staatswahrheit, eine Form des HandeIns sein, von Dezisionen und Kämpfen - ihr Wahrheitsgehalt entscheidet nicht; bedeutsam für sie ist allenfalls eine politische Wahrheitswirkung, welche aber der Lüge und der Staatspropaganda ebenso, vielleicht noch in höherem Grade, zukommen mag als einer ,,reinen" Wahrheit, die als solche auftritt. Dann wären Wahrheiten wie Pseudowahrheiten vielleicht Kräfte und Kategorien der Politik, die jedoch nie auf den eigentlichen Wahrheitsgehalt, auf das Wahrheitsethos blickt; entscheidend bliebe in der Demokratie, wie weit man das Volk mit Pseudowahrheiten täuschen, "verführen", "verhetzen" könnte. Daß in solchen Kategorien bei Gewinnung und Einsatz von Staatswahrheiten immer wieder gedacht wird, geradezu in einem Staatswahrheits-Zynismus, haben die vorstehenden Überlegungen ergeben. Doch sie konnten auch zeigen, daß gerade hinter seriöser demokratischer Politik immer auch etwas steht wie ein echter, ethisch begründeter Wahrheits anspruch, damit aber Erkanntes, das, im Recht als Staatswahrheit gesetzt, in die Politik hineinwirken soll. Ob dies aber nach deren immanenten Systemkategorien überhaupt möglich ist, das ist eine ganz andere, hier nun zu vertiefende Frage. c) Unvereinbarkeit von politischem Handeln und Erkennen der Wahrheit

Auszugehen ist von der vorstehend dargelegten wesentlichen Politikferne des Rechts; sie liegt begründet in der primären Besonderheit von zentralen Kategorien der Politik: Gestalten und Handeln, nicht Erkennen. Nicht ihr Freiraum ist es, der 231 Vgl. Schmitt, c., Verfassungslehre, 1928, S. 110 f.; ders., Die Diktatur, Anh.: Die Diktatur des Reichspräsidenten, 4. Aufl. 1978, S. 214 ff. 232 Im Sinne von Max Weber; vgl. Leisner (Fn. 221), S. 336 f., 341 ff.

16 Lei,ner

242

D. Macht statt Wahrheit

die Politik definiert, dies wäre bereits einseitig normativ gedacht; er bestimmt sich seinerseits aus den Notwendigkeiten "freien", nicht mehr rechtsgebundenen, ja kaum noch rechtsorientierten Handeins. Nun mag man darin noch keinen absoluten Gegensatz sehen zu einem Erkenntnisstreben, welches doch "geistiges Handeln" sein kann, ein Bemühen, das nicht nur einen eigenen Freiraum voraussetzt, sondern sich diesen geradezu durch intellektuelle Aktion schafft. Folgt man kantianischen und, vielleicht noch mehr, hegelianischen Kategorien, so mag darin sogar etwas wie eine gestaltende Setzung von transzendentalen Wirklichkeiten als Gestaltung durch menschliche Erkenntnis gesehen werden. Doch auch dann ist all dies nicht wesentlich ein Handeln, ein Gestalten, sondern es drücken sich darin nur die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens aus, das eben auf das ,,Reich des Geistigen", der Wahrheit, wesentlich beschränkt ist. Nur dann, wenn man mit Hegel darin die höchste Realität erblickt, schließt sich der Kreis zur Politik, dann ist diese in ihrem Handeln eine Form des "Erkennens". Doch all diese Theoreme entsprechen nicht der heutigen demokratischen, politischen Wirklichkeit, vor allem nicht deren Selbstverständnis. Dort ist eben das Erkennen, wenn es überhaupt einen Bezug zum Politischen aufweist, diesem in einer Weise untergeordnet, in welcher sich aber die Wahrheit ihrem Wesen nach niemals unter die Aktion beugt, die sie vielmehr leiten will. Für heutige Politik spielt das Recht eine nicht vorrangige, sondern eine deutlich macht-untergeordnete Rolle, als ein Machtinstrument. Wie könnte dann eine Staatswahrheit in Rechtsform für solche Politik mehr sein als eben ein "Rechts-Instrument zur freien Gestaltung", "ganz frei einsetzbar" als Mittel, nicht als ein zu verfolgendes Ziel, als primäre Wahrheit? Ergebnis ist für die Politik: Das Recht, dessen sie sich bedient, im wahren Sinne des Wortes, mag als solches noch Erkenntnisgehalt haben, Wahrheitsstützen benötigen. Politik als solche ignoriert all dies, sie ist wesentlich Handeln, nicht Erkennen, Aktion gerade dort, wo sie sich, in politischem Wagemut oder politischer Verzweiflung, wendet gegen alle Kognition. Dieses wahrheitsferne Machtverständnis prägt alle Politik, die in diesem Sinne eben doch letztlich dezisionistisch gedacht ist, Wahrheit stets einbinden, benützen, unterordnen will in ihrem Reich der Aktionen. Damit aber muß Politik Wahrheit letztlich stets denaturieren, dies gelingt ihr schon dort, wo sie die ,,reine Wahrheit", wie hier immer wieder gezeigt, herabstuft zur politisch wirksamen Staats wahrheit. Das Wesen dieser Staatswahrheit aber läßt sich dann, wegen dieser ihrer Politiknähe, dahin beschreiben, daß sie eine aktionsgeneigte, handlungsorientierte stets sein muß, daß die politische Macht ,,reine Wahrheit" nur insoweit in sich aufnimmt und "gelten läßt", in des Wortes eigentlicher Bedeutung, als sie ihre Aktionen trägt, sie selbst weiterträgt. Darin liegt aber auch die schwere Gefahr, gerade für das Machtkonzept der Demokratie, daß hinter all deren Wahrheitsstreben, und sei dieses noch so stark ethisch fundiert, stets eine Politik lauert, welche auch Pseudowahrheiten

IV. ,,Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

243

akzeptiert, wirken sie nur effizient, und damit an der Spitze des Staates die Wahrheit instrumentalisiert, die eigentliche Wahrheits frage überhaupt nicht mehr stellt.

d) "Gestaltete Wahrheit" - ein Widerspruch

Brücken von Wahrheit zu Politik werden täglich gebaut, doch letztlich kann es hier keine Verbindung geben. Wahrheit wird nicht gestaltet, es sei denn, sie würde "gesetzt", dann aber wieder in einer, etwa richterlichen, Erkenntnis, nicht in politischer Gestaltung eines Optimums des Möglichen. Wahrheit wird erkannt, Politik wird gemacht, so drückt es untrügliche Tagessprache aus. Nicht zuletzt wegen der doch starken "Wahrheitsneigung" allen Rechts empfindet Politik dieses als ihre Fessel, für all ihr willensbestimmtes Handeln; es ist eben die Fessel des Erkennens. Für die Politik kommt alles Recht aus einer "anderen Welt", die sie nur zur Kenntnis nimmt, wenn sie mit ihren Kategorien zu erfassen ist, ihren eigenen politischen Interessen dient. Selbst Tatsachen sind dieser Politik letztlich abzuschüttelnde Fesseln, weil sie eben wesentlich "außerhalb aller Wahrheit stehen bleibt". So weit geht dieser Gegensatz, daß überall und stets politisches Mißtrauen festzustellen ist gegenüber sogar noch einer "Realität", welche das Recht als Ausdruck einer unbestreitbaren Wahrheit geltend machen möchte: Sie wird durch die einfache und durchaus politische Überlegung verdrängt, daß es Wesen und Aufgabe der Macht gerade sei, Realität nicht zu übernehmen, sondern zu gestalten, zu setzen. Daraus ergibt sich umgekehrt dann auch die grundsätzliche Ablehnung aller "Fiktionen,,233 durch eine machtbewußte Politik, welche diese Form der Staatswahrheitssetzung nicht zu benötigen glaubt, weil sie eben ihre eigene, ständig wechselnde, nicht in Fiktionen erstarrte Realität hervorbringen will. Mit all ihrem Handeln, und gerade in diesem, bleibt Politik als solche stets völlig wahrheitsblind, Aktion um der Gestaltung willen. Die Macht will "ihre Wahrheit" setzen, verfestigt in rechtlichen Formen; damit wird zwar die Staatswahrheit zu einer Erscheinung des Rechts und als solche in Politik übernommen, aber nicht in eine Politik, welche Wahrheit setzen, sondern solche umsetzen, wesentlich relativieren will: Politik ist eben wesentlich nicht einmal mehr Setzung von Wahrheit, sondern Umsetzung einer bereits machtgesetzten Staatswahrheit. Erkenntnis ist so für den Politiker einerseits Instrument seines HandeIns, andererseits Gegenstand seiner Aktionen, ihr Objekt; die Wahrheit hat keinen wesentlichen Bezug zum handelnden Subjekt, dessen Eigenschaft sie in Wahrhaftigkeit würde. Den "erkennenden, wahrhaften oder gar den wahren Politiker" gibt es als solchen nicht, all dies bleibt für die handelnde Politik unbeachtlich, wenn nicht geradezu Chimäre. Das Wesen dieser wahrheitsfernen, die Wahrheit über Staatswahrheit denaturierenden Politik liegt daher letztlich nicht einmal im politischen Willen, es ergibt sich einfach aus den Notwendigkeiten des politischen HandeIns. Nicht ein Voluntarismus 233

16*

Vgl. oben C, XII.

244

D. Macht statt Wahrheit

tritt hier gegen das Erkennen an - insoweit müssen Ausgangsthesen dieser Untersuchung präzisiert werden 234 - das Handeln kennt Erkenntnis nicht.

e) Politik als "Prognose statt Erkenntnis"

Erkenntnisstreben findet in der Zeit statt, wird in der Vergangenheit vorbereitet, läuft in Gegenwart ab und mündet in die Zukunft der Erkenntnis. Doch ihr Ergebnis, die Wahrheit, ist als solche zeitlos, nur dieser Geltungsanspruch entspricht ihrem Wesen. Erkannt werden nicht Möglichkeiten, sondern Realitäten, die Zukunft als solche läßt sich nicht erkennen, sondern nur abschätzen. Die Politik muß daher, ganz wesentlich, ein gebrochenes Verhältnis nicht nur zur Wahrheit, sondern sogar zu deren bereits durch ihre Macht relativiertem Ausdruck, zur Staatswahrheit haben. ,,staatswahrheit in fieri,,235 mag die Politik dulden, übernehmen, ja sogar als Instrument an-erkennen. Doch der Akzent liegt dabei auf jener Wahrheitsentwicklung, mit welcher bereits die Relativierung des Erkannten einhergeht. Als solche aber bleibt die Wahrheit eine, wesentlich außerhalb von Raum und Zeit, dem kann sich nicht einmal die Staatswahrheit entziehen, will die Macht noch mit dem Prestige des Erkannten wirken. Denn die Einheit der Wahrheit kommt aus ihrer Erkenntnis und daraus, daß sie absolut eine sein will wie ihr Gott, dem sie sich ähnlich fühlt. Hier hört aller fluß auf in geronnener Erkenntnis - darin aber liegt ein unüberbrückbarer Gegensatz zu aller Politik: Wenn dieser überhaupt etwas wesentlich ist, so das "überall fließende" eines wahren panta rhei. Macht in ihrem politischen Bezug ist ebenso vergangenheits- wie zukunftsgewendet, zugleich auf den Schnittpunkt der Gegenwart wesentlich bezogen. Die heute so oft beschworene "zukunftsgeöffnete", wesentlich "zukunftsgewendete" Politik eines ständigen "Fortschritts", bleibt zwar als solche Illusion, selbst aus den Grundkategorien des Politischen heraus, doch steht sie ständig "im fluß". Kernwort dieser Politik ist ebenso die Retrospektive, wie, und heute allerdings weit mehr noch und deutlicher auch vom Recht erkannt, die Prognose. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dies geradezu ein Zentralbegriff des Politischen geworden, darin erschöpft sich aber auch das Erkenntnisstreben dieser Politik, ihr Erkenntnisinteresse. Entscheidend für die Prognose 236 , welche eine typisch politische Gestaltungsfreiheit eröffnet, ist nicht die Siehe oben A, 11. Wie dies letztere schon früher als ein Wesenszug des machttragenden Öffentlichen Rechts als solchen beschrieben wurde, vgl. Leisner, W, Imperium in fieri, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 247 ff. 236 Vgl. BVerfGE 36, 1 (17) [Grundlagenvertrag - Evidenzkontrolle]; 39, 210 (225 f.) [Mühlenstrukturgesetz - Vertretbarkeitskontrolle]; 49, 89 (131 ff.) [Atomrecht]; 50, 290 (332 ff.) [Mitbestimmung - Prognose, Einschätzungsprärogative]; 79, 311 (343 ff.) [Befugnis zur Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 1 S. 2, 2. Halbs. GG]; 87, 363 (383) [Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialordnung]; vgl. auch Ossenbühl, F., Die Kontrolle von Tatsachenfest234 235

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

245

Gnosis, sondern jener Präfix eines Pro, das vorausschauen will auf Sachverhalte, welche noch nicht wirklich erkennbar sind. Im Begriff der Prognose liegt daher etwas wie eine Selbstauflösung der Erkenntnis in einem Abschätzen, welches diese ersetzt. Der Gegensatz von Wahrheit und Politik, und damit das wesentliche Streben der letzteren, alle Staatswahrheit unter sich zu beugen, darf nicht durch die Behauptung relativiert werden, daß auch Prognose, dieser Kernbereich des Politischen, noch immer Erkenntnisstreben bleibe. Entscheidend ist für sie ein wesentlicher Unsicherheitsgehalt, welcher das Wahrheits streben so weitgehend denaturiert, daß er geradezu, aus der Sicht der Wahrheit, in die Nähe eines Agnostizismus führt. Die Politik akzeptiert Staatswahrheit allenfalls noch als eine mögliche Erkenntnis, welche sich erst im Handeln zu bewähren hat, auf deren Wahrheitsgehalt es dann aber nicht mehr ankommen kann.

f) Politik - Kunst des Möglichen, nicht Erkenntnis von Wahrheit

Kehrt man nun zum Ausgangspunkt dieser Betrachtungen, zu Kategorien der Systemtheorie zurück237 , so läßt sich wohl feststellen, daß sich, aus der Sicht einer Betrachtung der Staatswahrheit, eigenartige Code-Worte des Politischen aufdrängen, welche nicht die des Rechts sind, noch weit weniger die einer Wahrheit, selbst wenn diese zur Staatswahrheit relativiert erscheint. Hier zeigt sich offenbar etwas wie ein "Handlungssystem", das kognitive Öffnung zum Recht und seinen gesetzten oder erkannten Wahrheiten zwar aufweisen mag, als solches aber gegenüber diesem Bereich systematisch abgeschlossen bleibt. Darin bewährt sich die der Machtrealität so nahekommende Beschreibung der Politik als einer "Kunst des Möglichen". Diese beiden Begriffe erfassen das Wesen der Politik gerade unter dem hier entscheidenden Gesichtspunkt ihrer Beziehung zur Staatswahrheit: als eine Kunst zunächst, welche getragen ist von der Vorstellung von etwas "bildend-Schaffendem", einer Aktion, welche vielleicht "künstlerisch politische Fakten setzen" mag, jedoch keinen nahen oder wesentlichen Bezug zur "Wahrheit" aufweist, solange noch ästhetische und Erkenntniskategorien unterschieden werden. Das "Mögliche" andererseits ist schon als Rechtskategorie problematisch, seine Definition ist dort nie eigentlich gelungen 238 , liegt doch in ihm eine überschießenstellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Festgabe f. das Bundesverfassungsgericht, 1976, Bd. I, S. 458 ff. Der Prognosebegriff ist facettenreich; die verschiedenen Aspekte werden deutlich aus den Kontrollintensitäten, die vom BVerfG unterschieden werden. 237 Vgl. Fn. 224 ff. 238 Sieht man von Randerscheinungen wie dem "Vorbehalt des Möglichen" ab, der für gewisse Staatsleistungen gelten soll, vgl. BVerfGE 33, 303 (333) [Studienplatzentscheidung) oder im Bereich der Sozialstaatlichkeit, BVerfGE 84, 90 (130 f.) [Bodenreformurteil].

246

D. Macht statt Wahrheit

de Virtualität wie eine Unbestimmtheit, welche die nonnative Festlegung meist unmöglich macht. All dies gilt auch für die Virtualität des Politischen. Das Mögliche wird überdies wesentlich in der Zukunft "erkannt", und im Grunde ist es weit mehr ein Abschätzen, das hier eingesetzt wird, als ein Erkenntnisbemühen. So zeigt sich die Politik als ein deutliches Aliud gegenüber Räumen und Bemühungen einer Wahrheitserkenntnis. Den Versuch eines Überganges vom einen zum anderen unternimmt zwar gerade das Recht mit seiner Verfestigung der Staatswahrheit. Für sie aber, welche diesen Übergang bewirken soll, ergibt sich daraus das schwere und für alle Freiheit geHihrliehe Problem einer inneren Spannung zwischen jener ethischen Nähe zu einem reinen Wahrheitsstreben, ohne den auch sie ihren Namen nicht verdient, von dem ihr also etwas bleiben muß - und dem Raum der Politik, in den sie hineinwirken will, und der sie stets und sogleich zu denaturieren versucht, eben weil er eine "ganz andere", handlungsbezogene Welt darstellt. Die Antwort auf die Überschriftsfrage dieses Kapitels müßte also heißen: Politik ist nicht ein Gemenge von Wahrheit und Macht; diese Gemengelage mag für das Recht bestehen, mit seiner Staatswahrheit; jenseits erst von ihm aber, im "reinen Handeln" beginnt die eigentliche, die große Politik, damit auch jenseits von aller Wahrheit. Diese erreicht also "die Politik" nur vielfach gebrochen, über das Recht und seine Staatswahrheit. Macht ist im wesentlichen Handeln, also Politik. Zwar ist sie mächtig nur mit guten Instrumenten, also auch und vor allem mit dem Recht und seiner Staatswahrheit; doch die Gefahr von dessen Umwertung zum Machtinstrument hat es immer gegeben und sie wird größer in einer Demokratie, welche die Spannungen zwischen wahrheitsblind-wirklichkeitsschaffender Politik und den Erkenntnissen des Rechts, der Staatswahrheit, noch wesentlich gesteigert hat. In dieser Staatsfonn wird die letzte Unvereinbarkeit von Wahrheits streben und politischem Handeln zu einer Zerreißprobe für die Macht, die diese immer wieder darin wird bestehen wollen, daß sie in Handeln ausbricht, ist sie doch getrieben von einem Volkssouverän, der oft so weit von den Möglichkeiten wirklichen Erkennens entfernt ist. Und so mag denn das Ergebnis dieses Hauptteils, Staatswahrheit nur als ein Ausschnitt aus der Wahrheit oder gar als eine Denaturierung derselben, eine letzte Erklärung finden in der Wahrheitsferne, ja der Wahrheitsflucht demokratischer Politik.

2. Machtmensch - Wahrheitspersönlichkeit: zwei Typen a) Wahrheitserkenntnis und politische Gestaltung zwei Formen menschlichen Strebens

Politik als Herrschaftsverwirklichung hat sich als wesentlich handlungsbezogen, aktionsgeprägt erwiesen. Dabei setzt sie als eines ihrer Instrumente das Recht ein,

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

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in welches wiederum auch die Kraft der Wahrheitserkenntnis eingeht. Aus der Sicht der Politik aber bleibt all dies instrumental. "Wahrheit" ist dort also "doppelt gebrochen", jedenfalls durch die Macht mediatisiert: als "Handlungsinstrument", nicht als Ziel der Aktion - wo doch eigentlich Wahrheit immer wesentlich Ziel und Ergebnis ist; und als ein Element nur des Rechts als Handlungsinstrument der Macht, nicht als dessen eigentliches Wesen. Betrachtet man die Ziele der Politik und ihre Ausdrucksformen, welche primär durch dieses ihr Wesen bestimmt sind, so steht im Mittelpunkt die Macht des Hande1ns, nicht die Erkenntnis der Wahrheit. Doch beiden scheint eines immerhin gemeinsam: ein gewisses Streben zu einem Ziel, das im einen Bereich Erkenntnis, im anderen Interessenbefriedigung durch Aktion, wenn nicht schlechthin Aktionismus an sich ist. Könnte nicht insoweit Wahrheitserkenntnis primär unter dem Aspekt des Strebens ebenfalls als ein Handeln, als Aktion des Erkennenden, betrachtet werden, gäbe es nicht etwas sogar wie eine "Erkenntnispolitik" in aller Wahrheitssuche? Die Frage ist zu verneinen, bereits aus der Sicht der unterschiedlichen Gegenstände, auf welche sich diese beiden Bestrebungen richten: einerseits auf bedürfnisbefriedigende Interessenwahrung, andererseits auf eine im letzten doch ,,reine", damit aber interessenabgelöste Erkenntnis, die es selbst in Kauf nimmt, daß ihre Ergebnisse den von ihr ebenfalls erkannten, aber eben wiederum nur unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit bewerteten Nutzen verfehlen. Noch bedeutsamer aber ist ein anderer Unterschied zwischen Politik und einer ihr dienenden oder sich sogar gegen sie richtenden Wahrheitserkenntnis, mag auch beiden ein "Streben" gemeinsam sein: Politik will gestalten. ihr Handeln ist primär auf Hervorbringung von Wirklichkeit gerichtet, nicht auf eine Maieutik, welche das Erkannte nur aus der Realität zu entbinden sucht. Der Bezug zur Wirklichkeit ist also, hier und dort, völlig unterschiedlich, und dies drückt sich nun, jenseits aller philosophischen, staatsgrundsätzlichen Theoreme, deutlich in eben dieser Wirklichkeit aus, in jenen "Männern, welche die Geschichte machen". In der Gegenüberstellung von Machtmensch und Erkenntnispersönlichkeit werden, mehr als dies eine Betrachtung des Gegenstands ihres jeweiligen Strebens zu zeigen vermöchte, gänzlich unterschiedliche "Operationen" deutlich, wieder im Sinne der neueren Systemtheorie 239, und sie vor allem prägen, in ihrem Verfahrensgehalt, das Wesen des jeweiligen Systems - der handelnden politischen Macht wie der erkannten Wahrheit. Einer solchen "Betrachtungsweise nach Operationen" darf nicht der Vorwurf gemacht werden, sie eliminiere das Menschliche; gerade in der Betrachtung der konkreten Handlungssubjekte, des Machtmenschen zuallererst, wird das Wesen dieser ganz unterschiedlichen Verfahren deutlich, und damit die Systeme, denen sie jeweils zuzuordnen sind. Am Ende mag dann in der Tat, nach solcher typologischer Erkenntnis, der einzelne Mensch hinter dieses Verfahren wieder zurücktreten, welches er nur verdeutlicht; denn so wichtig sind, auch bei historischer Betrachtung, eben jene Männer nicht, welche sich manchmal nicht 239

Vgl. dazu Luhmann (Pn. 224), S. 95 ff.

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D. Macht statt Wahrheit

nur einbilden, Geschichte zu machen, sondern Historie zu sein: Sie zeigen der Erkenntnis, der Macht und ihrer Staatswahrheit den Weg, doch bald verlieren sich ihre am Ende doch wiederum nur kleinen Gestalten im Schatten einer Geschichte, die sie - hervorgebracht hat.

b) Der Machtmensch

In der Realität, wie sie die politische Historie beschreibt, erscheint der Machtmensch, das animal politicum, als ein klar erfaßbarer Typ, geradezu als eine historische Realität und darin sogar als eine Erscheinung, welche als Staats wahrheit erkennbar wird - obwohl doch diese Gestalt in keinem Sinn primär Träger von Staatswahrheiten ist. Jeder Leser wird dabei an bestimmte Personen denken, die unsere Gegenwart durch ihr politisches Handeln und Gestalten - oder durch ihre machtbewahrende, machtsteigernde Untätigkeit geprägt haben. Bei der folgenden Beschreibung muß vereinfachend typisiert und damit immer wieder überzeichnet werden; der Gegenstand rechtfertigt dies. Der Machtmensch wirft von Anfang an und stets Erkenntnis hinter sich, sie ist nichts als ein Durchlaufposten seines gestaltenden HandeIns. Es ist fast, als wolle er an allem vorbei gehen, was ihn zur Wahrheitssuche einladen könnte. Ergebnisse der Wahrheitsfindung nimmt er zur Kenntnis, ausgerüstet mit einer Basisintelligenz, wie er sie als Gestaltender braucht. Doch nie wird er selbst nach solchen Wahrheiten suchen, allenfalls sie durch seine Umgebung, seine Hofhaltungen, verfolgen lassen, welche in heutiger Demokratie der Unterwürfigkeit des Absolutismus nicht selten nacheifern. Wahrheiten sind nicht als solche Gegenstand der Rede des Machtmenschen, und er wird nie eigentlich um und über sie streiten. Vielmehr gelingt ihm dann seine Politik, wenn er deren Interessen, gebündelt und intensiviert, zu solcher Unbestreitbarkeit emporhebt, daß sie als erkannte Wahrheiten der Zukunft erscheinen; doch von deren Wesen haben sie nichts an sich als eine äußere Hülle strahlender Begeisterung, mit der sie vertreten werden. Der Machtmensch benutzt seine Intelligenz als Instrument, wie jene Wahrheit, die er mit ihr erkennen kann; doch er sucht zugleich, sie mit einem Machtinstinkt zu überhöhen, letztlich zu verdrängen, mit dem er eine "politische Wahrheit" zu erspüren glaubt; diese ist aber, schon durch das Organ ihrer Erfassung, etwas ganz anderes als erkennbare Wahrheit. Hier wirkt der sichere Handlungstrieb, nicht der Weitblick, zuallererst ist der Augenblick wichtig, nicht der Horizont. Die Persönlichkeit der politischen Macht folgt dem großen Wort ihres größten Vertreters, der darin sogar eine Staatswahrheit, vielleicht eine historische Wahrheit schlechthin, aussprechen konnte: "En fait de guerre on s'engage et puis on voit" - der Machtmensch engagiert sich in einem Kampf, und dann "sieht er, in diesem und aus ihm heraus, alles weitere", alle Handlungs- und Gestaltungsspielräume. Denn ihm ist der ganz große Aktivismus gegeben, ein Handeln um des HandeIns Willen, der Mut des Kriegers; er geht auf etwas zu, läßt nicht zu, daß etwas sich ihm nähere.

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

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Er liebt die Schlacht und erfreut sich am Widerstand, mit dem er wächst; und ihm setzt er nicht Erkenntnis entgegen, sondern eine Gegengestaltung, die ihn brechen soll. Sein ganzes Verhalten läuft also völlig wahrheitsfern, ja geradezu wahrheitsblind ab - und doch bleiben dabei Erkenntnis und Wahrheit irgend wie in seinem, wenn auch kühl verachtenden Blick: Der Machtmensch ist, dem Bibelwort folgend, klug wie die Schlange, er windet sich an allen Wahrheiten vorbei, welche er auf seinem Weg findet und welche ihn, wie viele Bäume schwächender, sündiger Erkenntnis, in Versuchung fuhren wollen; doch von einem Baum solcher rein machtberechnender Erkenntnis wird er nicht essen - und doch will er genießen, wie es dem Erkennenden nie gelingen kann. Könnte man aber "Wahrheit genießen"? Kann Erkenntnis und Wahrheit erfreuen, lachen machen? Der Machtmensch vermag all dies, mit einem politischen Lachen, weit entfernt von aller Erkenntnis, geht er stets voran; denn er will führen, während der Erkennende immer ein Geführter seiner Wahrheit bleiben wird. Der Machtmensch ist ein Führer, kein Erkennender und Bekennender - kein Professor. Der Machtmensch der Demokratie findet seine großen Augenblicke in den Reden an sein Volk, in der bedeutenden Parlamentsrede. Nicht einmal in ihr aber liegt eigentliches Erkenntnisstreben, den Vertretern des Volkssouveräns werden nicht Wahrheiten verkündet. Politische Rhetorik kennt kein Erkenntnisstreben; sie ist nichts als wortgewordener politischer Gestaltungswillen. Selbst im Verzicht auf rhetorische Formen, ja auf die Kraft des Wortes, in einer gespielten oder echten Bescheidenheit, die dem Zögern des von Erkenntnissen Bedrängten nahezukommen scheint, kann sich noch immer etwas wie ein negatives politisches Pathos ausdrücken; in ihm will der Machtmensch seiner Umgebung beweisen, daß er ein Mann der Tat sei, nicht des Wortes und der Erkenntnis. Deutsche Kanzler haben im letzten Jahrhundert für eine solche, positive wie negative, Rhetorik des Politischen eindrucksvolle Beispiele geliefert; gemeinsam war ihnen immer eines: eine durch und durch politische, eine wahrheitsferne, nicht selten geradezu wahrheitsverachtende Grundhaltung. Wer also einem solchen Machtmenschen die Wahrheitsfrage stellen wollte, bekäme als Antwort allenfalls zu hören, was Gegenstand all dieser Betrachtungen war: eine in Politik geformte, verformte, vielleicht gebrochene - Staatswahrheit.

c) Der Wahrheitsmensch die politische Professoralität des Erkennens

In allem und jedem ist die erkenntnisorientierte Persönlichkeit das Gegenbild des Machtmenschen, daher in der Politik allenfalls sein Ratgeber, im übrigen zum Scheitern im Handeln verurteilt. Geleitet ist sie stets, ja getrieben, von einem Erkenntnisstrebtm, dem sie folgen muß, von Wahrheiten, an denen sie nie vorüberge-

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D. Macht statt Wahrheit

hen wird. Rückwärts gewendet ist sie immer, trägt sie doch schwer an der Last von ihr gekannter Geschichte, erkannter historischer Wahrheiten. Will ihr Blick die politische Zukunft überschauen, so verliert er sich rasch im Dunkel historischer Unsicherheiten. Dann setzt beim Erkenntnismenschen etwas ein, was er als Pragmatismus bezeichnet, was aber nichts ist als Gestaltungsangst, in die er durch viele kleine, gegenwärtige Wahrheiten getrieben wird. Dabei verliert er das große Ziel aus den Augen, das in der Politik eben nicht "seine Wahrheit" sein kann. Von dieser aber wird er ständig gehemmt, negativ beraten. Seit dem deutschem Idealismus steht endgültig vor jedem Erkenntnisbemühen das Wort Kritik; wie aber sollte ,,kritische Politik" jenen Schwung gewinnen, ohne den sie nichts weiterführen kann, der allein sie mitreißt? Erkenntnisse sucht eine solche politische Persönlichkeit ständig zur Begründung ihres HandeIns, doch sie stellen sich so oft nicht oder jedenfalls nicht im glücklichen Kairos ein, im Augenblick der Entscheidung, dem - entscheidenden. Kämpfe scheut der Erkenntnismensch nicht, doch er ficht sie aus für seine Wahrheiten und in ihrem Namen allein; darin will er überzeugen, doch wann wäre je ein Gegner durch Überzeugungskräfte vom Schlachtfeld vertrieben worden. Rationalisieren wird eine solche Persönlichkeit immer und alles, ihre Instinkte und Gefühle selbst wegrationalisieren, um es mit einem modemen sprachlichen Bild zu zeigen - all dies also aufheben, damit aber innerste Kräfte ihrer Persönlichkeit und am Ende diese selbst. Der Erkennende sucht die politische Rhetorik - und ist ihr doch so häufig nicht mächtig, weil ihn sein ständiges Erkenntnisbemühen um die Einfachheit bringt, mit der die Wahrheit hervortritt. So kompliziert er ihre Ausdrücke, hindert gerade damit die politische Elite, mehr noch die Vielen in der Demokratie, am Verstehen dessen, was seine eigentliche Kraft ist - der Wahrheit. In ihrem Erkennen geht ihre Verbreitung unter. Als Denkender ist der Erkenntnismensch passiv, Mut ist nicht seine Kategorie. Widerstand entwaffnet ihn sogleich, wenn er aus jenem Intellekt kommt, der Wahrheit zu erkennen vorgibt, und so wird er sich dann sogar mit einer Schnelligkeit auf die Seite des erkennensstärkeren Gegner werfen, welche ihm als politisch intellektuelle Charakterlosigkeit ausgelegt werden kann, deren sich der Machtmensch so nie schuldig machen wird. Andererseits aber wird er, aus der Überzeugung seiner Wahrheiten heraus, auf Widerstände überreagieren, die politische Klugheit vergessen, welche seinem Gegenbild so ganz natürlich ist. Dessen politische Kehrtwendungen sind eben schon vergeben, wenn sie vollzogen werden; intellektuelle Wenden aber sind Sünden gegen den Heiligen Geist der Wahrheit, welche nie verziehen werden können. Der Erkenntnismensch wird schließlich auch damit nicht zum animal politicum, daß er quer-denkt; damit mag er anstoßen, er kann darin nicht führen, bleibt stets hinter der Kampflinie des Politischen stehen. Anstöße bietet er, wo Aktion gefordert ist. Damit ist er allenfalls der unangenehme, ungeliebte Berater der Politik, nicht ihr Akteur.

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

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Mit einem Wort: Der Erkenntnismensch hat, in allem und jedem, etwas Professorales an sich; er mag Wahrheiten erkennen, sogar setzen - umsetzen wird er sie nicht; er berät Herrschende, selbst kann er nicht herrschen. Die Wahrheit zur Staatswahrheit umformen - dies läßt sein Erkenntnisgewissen schlagen, und mehr als ein schlechtes Gewissen der Macht wird bei ihm nie sein.

d) Philosophen als Könige?

Platon hat, wie kein anderer vor Kant, die politische Wahrheitsfrage gestellt, die Frage der Wahrheit im Staat, der reinen Wahrheit als Staatswahrheit. Seine Antwort auf der Höhe seiner Politeia war positiv: Philosophen sollten eigentlich regieren, als Erkennende, im Namen der Wahrheit24o • Darin lag die letzte politische Konsequenz der gesamten platonischen Philosophie, welche auf Erkennen setzt, nicht auf den Willensakt, der nur dessen Folge und Ausdruck sein darf. Das Setzen von Erkenntnissen ist dieser Philosophie eben eine Setzung von Realitäten, die nicht gesucht und gefunden, sondern im Akt des Erkennens entbunden werden. Die Wahrheit als Realität, nicht die Realität als Wahrheit steht dahinter, um die es dann Aristoteles ging. Der Staat wird zur großen moralischen Anstalt der Paideia, in welcher Erkenntnis über Bildung zur wahrheitsgelenkten Aktion wird241 • Handeln steht bei Platon unter Bildung und Wahrheit, nicht umgekehrt, wie es die vorhergehenden Kapitel als Realität heutiger Macht feststellen mußten. In all dem hat die platonische Philosophie unserem Staatsdenken nicht ein schwer erreichbares Ideal vorgegeben, sie hat das System herkömmlicher Machtausübung auf den Kopf gestellt - auf den Kopf der Erkenntnis; und deshalb schon mußte Sokrates sterben. Eine Persönlichkeit wie ihn konnte weder damals die Demokratie dulden, welche ihn zum Tode verurteilte, noch heutige Volksherrschaft, die handeln will, weitab von Erkenntnissen. Philosophenherrschaft als Professorenregierung - der größte aller Professoren, Kant, ist darin dem griechischen Philosophen nicht gefolgt, er hat gehofft, es möge nie zu einem Philosophenkönigtum kommen 242 • Platon selbst aber ist in seinem Leben und politischen Wirken an der WahrheitsZentrik gescheitert, welche er verwirklichen wollte. In Dionysos hatte er auf Sizilien den Machtmenschen gefunden, als dessen erkennender Berater er tätig war seine Ideen haben sich auch dort nicht durchsetzen lassen; und in der Freundschaft zwischen dem Tyrannen und dem Philosophen klafft, für immer verdeutlicht, der Gegensatz von Wahrheit und Politik, den man auch heute noch in Staatswahrheit vergeblich zu überbrücken sucht.

240 241 242

Platon, Politeia V, 473 ff. Klassisch beschrieben von Jaeger Wemer, Paideia, 2. Aufl. 1936 ff. Kant, Fn. 7.

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D. Macht statt Wahrheit

Platon selbst hat diese politische Schwäche der "reinen Wahrheit", aus der sein ganzes Weltbild kam, deutlich erkannt, und daraus gerade kam jene fast brutale Kehrtwendung, in welcher die Paideia zum Wachterstaat der organisierten, mit Gewalt durchgesetzten Erkenntnis wurde. Darin liegt kein Bruch des platonischen Denkens, sondern eine Wahrheitserkenntnis, von der bedrohten Schwäche der Wahrheit als Staatswahrheit. Die Gewaltsamkeit des Wächterstaates hat alle folgende Staatsphilosophie nicht etwa der Wahrheit und ihrer Erkenntnis entfremdet, sondern die Angst vor dieser als einer staatsgesetzten, staatsdurchgesetzten Staatswahrheit genährt. Der so naheliegende Umschlag vom Ideal zur Utopie - und im Grunde war die politische Wahrheit bei Platon immer nur dies letztere - entläßt den Leser der früheren platonischen Dialoge mit Leichtigkeit in heiteres Erkenntnisstreben, vielleicht gerade, weil es so fern von aller Politik, von allem Staat stattzufinden scheint. Wenn die Wahrheitssuche in seine Nähe führt, gerät sie in Todesgefahr. Und der Leser Platons wird dann im letzten auch die Wahrheiten der Gesetze nicht mehr entgegennehmen wollen, liegen sie doch zu nah bei jener Macht, die sie durchsetzen soll, sind sie doch etwas wie "reine Wahrheit als Staatswahrheit", was es aber nicht geben kann. Die platonische Philosophie hat den Stachel der Wahrheit in alle Macht gelegt. Entfernen läßt er sich nicht mehr aus ihr, nur einspinnen in immer dichtere Netze von Staatswahrheit. Wenn Philosophen-Könige ein Unglück für den Staat wären, kann dann nicht die Wahrheit als Unglück für die Macht nur vermieden werden in - Staatswahrheit?

e) Staatswahrheit als Magd der Macht - als "aufgeklärte Macht"

Die Betrachtung des Verhältnisses von Macht und Wahrheit aus der Sicht ihrer physischen Träger, des Machtmenschen wie des Erkennenden, hat, bis in die Höhen der platonischen Philosophie, die Erkenntnisse der vorhergehenden Betrachtungen gewissermaßen "subjektiv bestätigt": Macht und Wahrheit liegen an sich meilenweit auseinander. Eine Verbindung sieht hier nur philosophische Theorie, professorales Theorem. Der Machtmensch und damit die Macht nimmt reine Erkenntnis als Instrument, im übrigen wirft sie jene nicht nur achtlos weg, sie zerstört sie. In Erkenntnis dieser Gegensätzlichkeit sucht die Staatswahrheit tiefliegende Spannungen aufzulösen zwischen Macht, Recht und Wahrheit. Dies ist ihr Ort, geschichtlich zeigt er sich wohl nirgends besser als in einem jahrhundertelangen Bemühen um jenes "Aufgeklärte" an der Macht, dessen Licht nur aus einer femen und doch politik-realen Wahrheit kommen kann. Professorale Anstrengungen der Politikberatung wird es ebenso stets geben, wie sich einst Fürsten von ihren Legisten und Astronomen beraten ließen, als müsse doch irgendetwas von dieser fernen, reineren, wirklicher Erkenntnis zugänglichen Wahrheit immer wieder eindringen in tägliche Politik. Alle Gewaltunterworfenen, die unzähligen Glieder des

IV. "Politik" - Gemenge von Macht und Wahrheit?

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Volkssouveräns, leben ja eine Existenz zwischen ihrem intellektuellen Erkennen und ihrem praktischen Handeln. Wie könnte daher die Aktion des Staates vorgestellt werden ohne etwas von jener reineren Erkenntnis, sei sie noch so fern, noch so vielfach gebrochen? Das Bild von der Erleuchtung, vom erlauchten Herrschenden, zeigt hier eine ganz tiefe, wahrhaft grundlegende Staats wahrheit: Das Licht kommt aus der Wahrheit, und nur von ihr. Politik handelt in ihm, will sie sich nicht in Obskurantismus ver-irren. Doch wenn sie sich allzusehr diesen reineren Wahrheiten und ihrer Erkenntnis hingeben, der Quelle des Lichts sich nähern will, so verbrennt sie, in der Passivität des Erkennens oder in der Gewaltsarnkeit des Wächterstaats. So ist denn die Wahrheit der Erkenntnis die Magd der Macht auch heute noch, so wie sie es immer war, schon in jenen Zeiten, als das freiere Erkennen der Philosophie als Magd einer Theologie verstanden wurde, die damals nichts anderes war als zu Macht gewandelte Wahrheit. Und anders wird der demokratische Politiker den ratenden Gelehrten nie gegenüberstehen als der Kardinal der Inquisition einem Galilei.

E. Rechtswissenschaft: Wahrheitserkenntnis in der Welt der Macht Über den Kampf des Rechts gegen die Gesetze ist nachgedacht worden 1, über eine Rechtswissenschaft ohne Recht2 - nun stellt sich die Gegenfrage: Recht ohne Rechtswissenschaft?

I. Rechtswissenschaft - Geisteswissenschaft nur als Wahrheitserkenntnis Diese Betrachtungen hatten zum Gegenstand den Wahrheitsgehalt des Rechts, insbesondere des öffentlichen und seiner staatsrechtlichen Spitze. Gezeigt hat sich, daß dem Recht unausweichlich die Wahrheitsfrage gestellt bleibt, gerade auch dort, wo es zum Instrument der Macht werden soll. Die vielfachen Wege, auf denen dieses "Recht der Macht" doch eine Verbindung halten will mit den Erkenntnissen ,,reinerer", interessenabgelöster Wahrheit, sind deutlich geworden. Es waren jene Ausdrucksformen einer "Staatswahrheit", welche in den vorhergehenden Hauptteilen beschrieben worden sind. Klargeworden ist auch, daß gerade die demokratisch legitimierte Staatsmacht, ihrem ganzen Wesen nach, auf eben solche Staatslegitimation sich gründen will. Deutlich hat sich aber auch gezeicht, wie sehr dieser notwendige Zug zur Wahrheit die Freiheit gefährden kann, in einer kaum mehr faßbaren Verflechtung von übernommenen, definierten, gesetzten Wahrheiten durch die Staatsgewalt. Schließen sollen diese Betrachtungen nun mit einer anderen Überlegung, welche nicht mehr der Macht und ihrer freiheits gefährdenden Wahrheitssuche gewidmet ist, sondern die Folgerungen aus dem bisher Dargestellten für das Recht selbst zieht. Für dieses Ius muß sich eine wirkliche Schicksalsfrage hier stellen, aus der Betrachtung der Staatswahrheit: In welcher Form kann es sich noch der Wahrheitserkenntnis öffnen, als ein Kanal der Erkenntnis dienen, durch den Wahrheiten immer wieder eindringen können in die Sphären der Macht? Die Ausgangsthese dieses letzten Hauptteils lautet: Nur Rechtswissenschaft als eine Geisteswissenschaft kann das Recht und damit die Macht der Wahrheits1 Und nicht erst in der Freirechtsbewegung; vgl. auch "Gesetz und Recht" in Art. 20 Abs. 3 GG. 2

Nelson, L., 1917.

I. Rechtswissenschaft

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erkenntnis öffnen. Das oft gedankenlos wiederholte Wort von der Rechtswissenschaft als einer Geisteswissenschaft trifft nur zu, wenn im juristischen Bereich etwas von wirklicher Wissenschaft erhalten bleibt, dies aber ist nur vorstellbar in den Formen einer Geisteswissenschaft, wie sie sich seit Jahrhunderten der Wahrheitssuche verpflichtet fühlt, einer Wissenschaft, außerhalb deren es tiefere Erkenntnis nicht geben kann. Die Rechtswissenschaft soll nicht ,,historisch notabliert" werden, indem ihr Anschluß an die großen Geisteswissenschaften, Historie und Philosophie, erhalten bleibt; hier geht es um weit mehr: um den Wahrheitsgehalt in Ausprägungen der Macht, oder vielleicht nur mehr um Reste davon, die aber noch zu bewahren sich lohnt. Zuallererst ist dies ein Problem des öffentlichen, hier wiederum des Verfassungsrechts. Nur wenn sich etwas auffinden läßt wie ein "Gegenstand der Erkenntnis", der hier gesucht, der Macht vermittelt, ihr zumindest angeboten wird, ist es vorstellbar, daß dieses Macht-Recht auch das private Recht auf derselben Höhe der Erkenntnis und der Machtnähe halten kann. Denn es mag zwar das Vertrauen in das Recht und die Wissenschaft von ihm über Jahrhunderte aus dem Privatrecht gewachsen sein, und in beispielloser Verfeinerung, in nie verlorenem engen Kontakt mit der Wirklichkeit hat das Zivilrecht dieses Vertrauen stets gerechtfertigt. Doch gehalten werden muß es, in den hohen Formen der Wissenschaft, durch ein Streben nach Wahrheitserkenntnis, das weit über den zu lösenden Rechtsfall zwischen Bürgern hinausgeht. Damit gewinnt das Recht als Wissenschaft sein "Vertrauen von unten", aus dem Zivilrecht, seine "Autorität von oben", auch als Wissenschaft der Erkenntnis von Wahrheiten - wenn auch nur mehr von Staatswahrheiten; womit wieder einmal diese alte Regel politischer Staatsweisheit sich in der Rechtswissenschaft bestätigen würde. Die Frage nach dem Recht als einem Gegenstand des Erkennens, der Rechtswissenschaft als einer Geisteswissenschaft, wird heute in jener Umrißhaftigkeit allenthalben gestellt, welche eben einer politischen Diskussion eigen ist. Diese beschäftigt sich bereits unterschwellig - und bald wird es offen geschehen - mit der Frage, ob juristische Fakultäten noch einen Platz an deutschen, europäischen Universitäten haben können, ob sie nicht als Rechtsschulen zu typischer Schulwissensvermittlung umgebaut werden sollen. Die Fachhochschulen haben dieses Problem in Deutschland konkret gestellt, diese Diskussion droht belastet zu werden mit dem in der Demokratie vernichtenden Odium des universitär-intellektuellen Hochmuts. Dabei ist eines hier vorweg zu bemerken: In all dem geht es nirgends um Akademikerdünkel oder dessen institutionelle Restaurierung, durch Hochstilisieren notwendiger Rechtstechnik zur Rechtswissenschaft. Derartige Abwertung außeruniversitärer Bemühungen wäre absurd; gerade aus Handwerklichkeit ist in unserer Kulturentwicklung Großes entstanden, all das was wir "Kunst" nennen, zu Recht oder zu Unrecht mit "Können" in Verbindung bringen, jedenfalls aber nicht primär mit Erkenntnis. "Verachtet mir die Meister nicht"! hat uns einer der größten Meister zugerufen, er, der seine Kunst stets bis in die intellektualisierenden Sphären professoraler Erkenntnis hat steigern wollen. Doch es geht hier um etwas ganz

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anderes, das weit über Hochschul-, ja Bildungspolitik hinausweist: um die staatsgrundsätzliche Bedeutung einer Wahrheit, die zwar, als Staatswahrheit, Ausdruck der Macht bleibt, dennoch aber in Rechtswissenschaft "verwahrheitet" werden könnte.

11. Begründungsdetizite einer "Rechtswissenschaft" Die entscheidende Frage lautet: Kann das Recht überhaupt als solches noch Gegenstand einer Wissenschaft sein, können seine Ergebnisse, als Erkenntnisse, in wissenschaftlicher Form gewonnen und verbreitet werden, mit Wahrheitsbezug und Wahrheitsanspruch, jenseits von rein glossatorischer Handwerklichkeit? Dabei darf nun offenbleiben, ob dies in Erkenntnis ,,reiner" Wahrheit oder bereits staatsmediatisierter, eben von Staatswahrheit geschieht, immer aber doch noch mit Wahrheitsanspruch. Bedrückend ist, daß die Wahrheitsfrage als solche an das Recht, soweit ersichtlich, heute nirgends klar gestellt wird. Auf Umwegen aber bewegt sich eine aufwendige, laute politische Diskussion gerade auf diesen Problembereich des wissenschaftlichen Anspruchs des Rechts zu. Beklagt wird, und zugleich gefordert, die immer stärkere "Verschulung" des Rechtsunterrichts, und damit stellt sich bereits eine Frage der Wahrheitsfindung, solange und soweit "Schulen" stehen gegen freie Wissenschaft. Doch dies kann hier nicht vertieft werden, und es liegt darin auch sicher noch nicht bereits ein voller Verzicht auf jeden wissenschaftlichen Anspruch, wissenschaftliche Schulbindungen einer langen Vergangenheit zeigen dies deutlich. Die Wissenschaftsfrage kann nicht allein aus der Sicht mehr oder weniger verschulender Verfahren beantwortet werden. In "Verschulungen" mag sich ein Begründungsdefizit der Rechts-Wissenschaft als einer solchen insoweit zeigen, als diese Entwicklung nicht sorgfaltig und kritisch beobachtet und mit den Erfordernissen freier Wahrheitssuche in Einklang gebracht wird. Weit tiefer aber liegen andere, nun deutlich inhaltliche Begründungsdefizite für eine Behandlung des Rechts in wissenschaftlicher Form. Im Vordergrund aller Diskussion um den wissenschaftlichen Rechtsunterricht, um die wissenschaftliche Behandlung von Rechtsfragen, steht heute die Frage nach Nützlichkeit und Effizienz. Im Namen dieser Begriffe werden Grundsatzbetrachtungen, insbesondere philosophischer und historischer, aber auch dogmatischer Art, immer weiter zurückgedrängt, damit aber auch der Wahrheitserkenntnis im Recht und durch dieses eine unmißverständliche Absage erteilt. In nationalökonomischen und einzel beruflichen Nützlichkeitserwägungen geht die Begründung für eine rechtswissenschaftliche Ausbildung und die daraus folgende, sie allein rechtfertigende wissenschaftliche Vertiefungsnotwendigkeit rechtlicher Fragen heute nahezu völlig, ja wirklich grundsätzlich unter. Hier wird dann keine Wahrheitsfrage mehr gestellt, die Institutionen der Wissensverrniulung und -verbreitung werden ohne jeden Blick darauf fort- und verbildet. Der Begriff des Nutzens selbst

III. Rechtswissenschaft als Wahrheitserkenntnis

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wird immer enger gefaßt und ins Wirtschaftliche verlegt, von aller staatsgrundsätzlichen Betrachtung gelöst. Wird denn Expertenzirkeln über Studienreform die Frage gestellt, wie der Staat zur Wahrheit steht, zu ihrer Erkenntnis, und ob wissenschaftlich gebildete Juristen Erkenntnisorgane seiner Wahrheit sein müssen? Was hier noch bleibt von Wahrheitsproblemen, ist allenfalls eines: Die ganz allgemeine Begründung einer rechts-wissenschaftlichen Problembehandlung mit der Notwendigkeit, dort ein "geistiges Niveau" zu halten - juristische Fakultäten als Turnsäle für staats- und gesellschaftsrechtliche Hochtechnologie. Doch aus all dem spricht nicht mehr eine echte Sorge um wahre Wissenschaft, die nur auf Wahrheitserkenntnis gerichtet sein kann. Wenn nicht wenigstens das Bemühen um eine Staatswahrheit lebendig bleibt, ist Recht als Wissenschaft nicht mehr vorstellbar, das Rechtsstudium ist weit besser als an Universitäten aufgehoben in Repetitionskursen.

III. Rechtswissenschaft als Wahrheitserkenntnis eine Rückbesinnung Wo immer in der uns bekannten Geschichte das Recht eine wissenschaftliche Behandlung gefunden hat, welche diesen Namen verdiente, waren seine Bemühungen auf Wahrheitserkenntnis auch, wenn nicht primär gerichtet. Dies galt insbesondere für jene Hochzeiten der Jurisprudenz, in welchen sich einerseits die systematische Geschlossenheit, andererseits die dogmatische Vertiefung ihrer Bezüge durchsetzen konnte. Praktische Interessenverfolgung wurde darüber nicht vernachlässigt, sowenig wie in der Medizin wissenschaftliche Vertiefung das Streben um die Heilung des konkreten Patienten verdrängen konnte. Doch diese Verfolgung konkreter, meist wirtschaftlicher Interessen geschah eben in der Anwendung nicht nur praktischer Erfahrungen der Jurisprudenz, sondern ihrer wissenschaftlichen Wahrheitserkenntnisse. Begonnen hatte dies in jener attischen Hochzeit - wenn nicht weit früher bereits in vorderasiatischen und ägyptischen Perioden - in welcher die Behandlung rechtlicher Fragen die Höhe des eigentlich "Akademischen" erreichte, damit den Anschluß an Bemühungen grundsätzlicher, philosophischer Wahrheitserkenntnis gewann. Voran ging hier, in vollem Grundsatzbewußtsein, jenes öffentliche Recht, das mit der Staatserziehung der Sophisten3 und den großen Staatsreden der athenischen Blüte- und beginnenden Verfallszeit eine erste Hochform erreichte, die einer wirklichen Wahrheitserkenntnis als Recht und in diesem. Platons Gorgias stellt dieser sophistischen Nützlichkeitslehre im Staatsrecht der Demokratie erstmals eindeutig die Wahrheitsfrage der Erkenntnis; denn die Suche nach dem "Staatsguten" in diesen Gesprächen führt Sokrates erst über Erkenntnis 3

Vgl. dazu Jaeger; Wemer; Paideia, 1936, S. 364 ff.

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zur ethischen Qualität dessen, was dem Volk, dem Staat als Staatsrecht nahegebracht werden soll. Im römischen Recht beginnt der Aufbau des Privatrechts gewissermaßen "von unten", aus der konkreten Fallentscheidung heraus, die auf der Tatsachenermittlung durch den Iudex aufbaut. Die rechtlichen Formeln, nach denen er sodann zu judizieren hat, bietet ihm ein Prätor, der darin römisches Verfahrens-, letztlich also Staatsrecht zum Tragen bringt. Abgezogen ist dies aus den Erkenntnissen der großen römischen Staatswahrheit, welche schiedsrichterlich die Pax Romana nach innen bewahren will, längst schon bevor sich diese nach außen über die Welt ausbreiten kann. Hier sind es zunächst gewiß nicht bewußt angewendete Erkenntniskategorien, in deren Rahmen dies erfolgt; Klugheitsregeln werden angewandt, in denen sich aber etwas wie eine induktive, jngenieurhaft-technische, in ihren Ausgangspunkten durchaus handwerkliche Entscheidungskunst entfaltet; doch in all dem wird eben auch induktive Erkenntnis gewonnen, von Rechtsweisheit zu Rechtswissen fortschreitend. Der Erkenntnisgehalt dieses prätorischen Rechts darf nicht unterschätzt werden. Alsbald gewinnt aber Rom den Anschluß an die angedeutete griechische Entwicklung, vor allem in deren staatsphilosophischen "akademischen" Kategorien des Erkennens, es macht diese auch in seiner Jurisprudenz fruchtbar. Die großen Anwaltsreden eines Cicero erreichen diese Dimension des grundsätzlichen Erkennens, in seiner Verbindung mit dem interessenverhafteten Einzelfallprozeß, in einem Zusammenhang von republikanischem Staatsrecht und privater Ordnung der sich entfaltenden ökonomischen Weltmacht. Diese Wahrheits suche ist ebenso der Erkenntnis verpflichtet, wird nun advokatorisch in die rechtliche Deduktion eingebaut, wie die große Grundstimmung einer römischen Staatlichkeit, jene Staatstugend, welche sich zugleich den Erkenntnisfragen der griechischen Philosophie stellt. In dieser eigenartigen Verbindung von praktischer Klugheit und dogmatischer Wahrheitserkenntnis, vertieft bis in die Historien der römischen Vergangenheit, entfaltet sich ein Römisches Recht, das von seinen Anfängen an, aus heutiger Sicht betrachtet, etwas erhebt wie einen wissenschaftlichen Anspruch, das deshalb auch immer das wissenschaftliche Bemühen späterer Zeiten geweckt und geleitet hat. In der Sammlung schließlich all dieser Rechtswahrheiten mit ihren Erkenntnis-Grundlagen in nunmehr bereits echtem Rechtswissen, setzt enzyklopädische Wissenschaftlichkeit ein, welche sich mit politischem Ordnungsstreben verbindet. Bemühungen um die Erkenntnis dieser kodifikatorischen Wirklichkeit haben immer diesen beiden Zügen Rechnung getragen, aus welchen das Corpus Iuris entstehen sollte. In ihm findet sich, geradezu beispielhaft, jene Verbindung von aufgefundener juristischer Wahrheit, in den Digesten, mit der primär staatsgesetzten Wahrheit der kaiserlichen Erlasse, welche all dem einen Rahmen von juristischer Staatswahrheit bieten. So ist dieses Corpus Iuris zugleich Ausdruck ,,reiner" Wahrheitserkenntnis und von Staatswahrheit, schon in ersterem hat es von Anfang an das hohe Wort von der Ratio scripta verdient, denn es war weithin, und bis in seine Tiefen, ein Wahrheitsergebnis erkennender Vernunft.

III. Rechtswissenschaft als Wahrheitserkenntnis

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In der Renaissance des römischen Rechts und der gesamten Rezeptionsgeschichte4 hat sich dieser Wahrheitsgehalt der Jurisprudenz nicht nur erhalten, er ist entscheidend verstärkt worden. Gewiß waren es auch hier politische Ordnungsnotwendigkeiten, im privaten, vor allem aber auch im staatsrechtlichen Bereich, welche die Rezeption geistig legitimiert und politisch durchgesetzt haben. Doch dies geschah mit den geistigen Waffen einer steigenden Verwissenschaftlichung, in der sich eben die Überlegenheit des vernunftgeprägten römischen Rechts über jene germanischen Rechtsbräuche immer wieder durchsetzen konnte, die übrigens auch ihrerseits durchaus Ausdruck eines, aus heutiger Sicht historisch-wissenschaftlichen, Erkenntnisbemühens waren. Insgesamt kam es, gerade in den vielfachen Verschlingungen dieser beiden Rechtskomplexe 5 , bald zu einer Akademisierung des Rechts, welche im Namen der Wahrheit mit den Instrumenten ihrer Erkenntnis untrennbar verbunden blieb. Erhalten hat sich dieser große Zug des Rechts zur Wahrheit über die absolutistische Zeit und über alle Aufklärung hinweg, bis in jenes 19. Jahrhundert, in welchem daraus dann die große universitäre Rechtswissenschaft in Europa entstehen sollte. Wahrheitserkenntnis war sie nun zuallererst, in ihren pandektistischen Erkenntnisbemühungen, historische Geisteswissenschaft. Die Gefahr eines Absinkens in Rechtshandwerk schien grundsätzlich gebannt, selbst dort, wo sich in fortgesetztem postglossatorischem Bemühen nicht viel mehr ausdrückte als Handwerklichkeit auf geistig bescheidener Stufe. Nach oben geöffnet, hin zu einer höheren, einer wahrhaft juristischen Wahrheit, blieb diese ganze Zeit. Damit war das Recht Gegenstand der Wissenschaft nicht nur insoweit, als es philologische Erkenntnisse vermittelte, in denen es sich dann, schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, immer mehr verlieren sollte, sondern als Erkenntnis einer Wahrheit, welche sich nun sogar über die Politik erhob, mit ihren vielen Staatswahrheiten. Über ihnen allen blieb ja noch immer das große Staatsrecht des Römischen Reiches 6 , welches das 19. Jahrhundert in Staatsromantik wieder einfangen wollte, in reinerer Wahrheitserkenntnis, bis zum privatrechtlichen, schiedsrichterlichen Ordnen des liberalen Staates. Wissenschaftlichkeit des Rechts bewährte sich vor allem in der erstaunlichen Figur jenes "Gemeinen Rechts", in dem machtlose antike Rechts-Wahrheit, jenseits aller partikulären deutschen Staatswahrheiten, eine große Einheit in dem noch nicht geeinten Reich prästabilierte, im wahren Sinne des Wortes. Da war wirklich etwas wie "reine juristische Wahrheit", jenseits aller politischer Staatswahrheit, oder geradezu als eine solche, eine ganz große; rechtliche Erkenntnis 4 Koschaker; p', Europa und das römische Recht, 2. Auf!. 1953, S. 124, 148, 157 ff., 359 und öfter; Wieacker; F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auf!. 1967, S. 97 ff.; Kiefner; H., Rezeption (privatrechtlich), in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, 1990, S. 970 ff.; Stolleis, M., ebda., Rezeption, öffentlichrechtlich, S. 984 ff.; Kaser; M., Römisches Privatrecht, 16. Auf!. 1992, § 1 13. 5 Vgl. Wieacker; aaO., S. 124 ff.; Hübner; R., Grundzüge des deutschen Privatrechts, 2. Neudruck der 5. Auf!. 1930, 1982, S. 18 ff., 24 ff. 6 Klassisch dargestellt von Mommsen in seinem Römischen Staatsrecht, 1871-88.

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führte Politik in Deutschland. Die Rechtsfakultäten waren Tempel der Wahrheitserkenntnis, weit mehr noch als jene bereits diskutabel gewordenen theologischen Fakultäten, die immerhin in ihren staatskirchenrechtlichen Bemühungen7 an Wahrheitsfindung und Wahrheitserkenntnis der Rechtswissenschaft teilnehmen konnten; selbst im kanonischen Recht war historisches Wahrheitsstreben, jenseits von allem Glauben, selbst in der liberalen Universitätswissenschaft noch hoffähig. Daß dies alles durch die neue, von der Aufklärung geprägte öffentlich-rechtliche, weit mehr politikzugewandte Rechtswissenschaft nicht gebrochen, ja nicht einmal in seinen Grundlagen verändert werden konnte, hat sich bereits 8 gezeigt. Selbst das Staatsrecht von Republik und junger Demokratie folgte den Erleuchtungen antiker Wahrheiten, wie es ja auch, vor allem in Frankreich, den Anschluß an die Republik der Römer stets halten wollte. So führt denn ein wahrhaft mächtiger Zug der Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis von den Anfängen unserer Rechtszivilisation bis ins 20. Jahrhundert. Was zu dessen Beginn noch als "Grundlagenfächer" davon erhalten und anerkannt blieb, mochte schon Abschwächung dieser reinen Rechtswahrheits-Erkenntnis sein, die sich in Philologismus und Historismus zu verlieren begann; bis nahe zum Ende des zweiten Jahrtausends ist das Recht mit seinen Fakultäten Wissenschaft gewesen, in den letzten Jahrhunderten immer mehr geworden. Doch dann kam es zu einem entscheidenden, tiefen Einbruch, zu einer Verdrängung nicht nur von Rechtswahrheit, sondern sogar ihrer in Staatswahrheiten umgeformten Inhalte. Eine kopernikanische Wende, von der Wahrheitserkenntnis zur Nützlichkeitssuche, gefährdet den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, wenn sie ihn nicht bereits zerstört hat.

IV. Der Einbruch des Rechtspositivismus Verlust der Wahrheit im Recht Wo immer Rechtspositivismus grundsätzlich behandelt wird, endet dies in der Anerkennung seiner "technischen" Fortschritte - und zugleich in herber Kritik9 • 7 Badura, P., Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, in: HdBStKirchR (Hg. Isensee/Kirchhof), Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 6, A, I, 3; Heckel, M., Die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert, 1993; Merzbacher; F./Köbler; G. (Hg.), Recht, Staat, Kirche, 1989; Link, ehr., Die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche, in: Deutsche Verwaltungsgesichte III, 1984, S. 527 ff.; Feine, H. E., Kirchliche Rechtsgeschichte, 5. Aufl. 1972; Huber; E. R., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 1957, S. 387 ff.; Bd. 11, 1960, S. 185 ff., Bd. IV, 1969, S. 832 ff.; ders./ Huber; W, Staat und Kirche im 19. Jahrhundert, Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1,1973; Bd. 2,1976. 8 Oben C. 9 Roellecke, G./Depenheuer; O. (Hg.), Aufgeklärter Positivismus, 1995; Müller; F., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 70 ff., 153 ff., 268 ff.; Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 36 ff.; Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und

IV. Der Einbruch des Rechtspositivismus

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Soweit ersichtlich, stellt diese aber die eigentliche Kernfrage an diese Entwicklung nicht: ob sich in ihr nicht der entscheidende Abfall vollzieht von der Wahrheit und ihrer Erkenntnis in aller Jurisprudenz. Die Beschränkung rechtlicher Fallösungen auf geschriebenes Recht, dessen Anwendung ohne Rücksicht auf Historie und prinzipiengeprägte Dogmatik, bis hin zur Abneigung gegen die Entfernung von irgendeinem Wortlaut - all dies zeigt am Ende nur eines: daß die Wahrheits-, die Erkenntnisfrage überhaupt nicht mehr gestellt wird. Denn warum sollte es Gegenstand der Kritik sein, daß der Wille des Gesetzgebers, des Volkssouveräns. bis in seine letzten Verästelungen realisiert werde, warum sollte nicht dies und nur dies gelten, nicht aber ,,höhere Prinzipien", wenn doch gerade solcher Rechtspositivismus zur höchsten Steigerung, zur Rechtssicherheit und damit der Erfüllung einer Grundfunktion allen Rechts führt? Nur eines kann die Kritik am Rechtspositivismus in ihrer ganzen Schwere zum Tragen bringen: Hier kommt es zu einem Verlust der Wahrheit im Recht. Auf dem historischen Hintergrund, der vorstehend aufgezeigt wurde, wird dies besonders deutlich. Mit der Kodifikation des Gemeinen Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch des Deutschen Reiches war ein doppelter Abfall verbunden: von den Höhen eines Gemeinen deutschen Zivilrechts, das auf historisch entfalteter und erkannter Wahrheit gebaut war, und zugleich von der Staatswahrheit eines römischen Rechts, welches das Zweite Reich der Deutschen hinter sich lassen wollte. Nun ging es nicht einmal mehr um Rechtsanwendung als "Wahrheitsumsetzung in Staatswahrheit"; Jurisprudenz lief in reine Rechtsanwendung hinein, in das Fortdenken gesetzgeberischer Gedanken - nicht mehr juristischer Wahrheiten. Dieser entscheidende Übergang wurde zunächst - sieht man von der Freirechtsbewegung ab - kaum bemerkt. Die großen neuen Gesetzeswerke galt es ja erst einmal zu durchdringen - zu erkennen, und darin schien etwas wie eine neue Wahrheitssuche einzusetzen, welche sich doch auch bemühen mußte, die Kontinuität zu einer früheren, hohen geistigen Rechtsrealität zu bewahren. Noch einmal konnten daher, im 20. Jahrhundert, Generationen von Juristen in die "Rechtserkenntnis" dieser neuen Materien eingeführt werden, als handle es sich eben doch nur um neue Wahrheiten; und der zunehmend demokratisierte Gesetzgeber fügte dem immer neue Erkenntnisgegenstände in seiner lawinenhaft anwachsenden Gesetzgebung hinzu. Konnte all dies anders als in bewährter Universitätsforschung, in universitärer Erkenntnisverbreitung der Wahrheit überhaupt bewältigt werden? So hat denn die neueste Gesetzgebungsgeschichte noch einmal die juristischen Fakultäten bestätigen und über die Kritik verfehlter Nützlichkeit für Jahrzehnte hinwegretten können. Doch nun schlägt die Stunde der Wahrheit - für eine Rechtswissenschaft, welche die Wahrheit verläßt, in immer reinerem Positivismus. Anzuwenden ist immer Rechtsbegriff, 2. Auf!. 1991, S. 186 ff.; Henkel, H., Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Auf!. 1977, S. 543 ff.; Ott, W, Der Rechtspositivismus, 1976.

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mehr, zu erkennen bleibt immer weniger, und jedenfalls nur mehr anwendungsund darin primär nützlichkeitsorientiert. Wo soll hier noch nach Wahrheit gesucht werden, wo allenfalls perfekt hantierendes Können gefragt ist, wo die Wahrheitsgehalte bereits für den normerlassenden Gesetzgeber hinter purem Eudämonismus zurücktreten? Der Rechtspositivismus hat das Ende der Rechtswissenschaft als einer Geisteswissenschaft eingeläutet lO • Mühsam hält sie sich noch, gerade in den Bereichen des Grundsätzlichen, politisch Geglaubten, des seit der Aufklärung noch immer wahrheitsträchtigen öffentlichen Rechts, in dessen verfassungsrechtlichen Spitzen. Im Verfassungsrecht findet das Recht vielleicht eine wissenschaftliche Chance.

V. Verfassungsrecht die Wissenschaftschance der Jurisprudenz Das Verfassungsrecht ist als solches die jüngste Groß-Disziplin der Rechtswissenschaft; heute wird es zu ihrer Neuen Welt, zur Chance einer Rückbesinnung auf Wissenschaft, auf Wahrheitssuche im Recht. Gewiß ist der Positivismus auch in diesen Spitzenbereich der Jurisprudenz bereits eingebrochen; hier liegen die größten Gefahren einer übersteigernd sich intensivierenden Verfassungsrechtsprechung, welche Prinzipien auf den Rang der rechtstechnischen Normen herab-konkretisiert. Gewiß erfaßt positivistische Rechtstechnik auch diesen Bereich, "von unten her" in einer Art "induktiver Dogmatik", welche nicht nur einfachgesetzliche Norminhalte 11, sondern auch rechtspositivistische Rechtsanwendung ständig auf Verfassungsebene hebt. Doch noch immer widersteht das Verfassungsrecht mit zwei seiner zentralen Wesenszüge einer solchen Ver-Positivierung und Ent-Wissenschaftlichung: Einerseits fehlt hier eine Normdichte, mit welcher allein der Positivismus Rechtswahrheitssuche zurückdrängen kann. Die Vertreter des Verfassungsrechts sollten darin nicht Lücken und Defizite sehen, diese emsig aufzufüllen bestrebt sein, sondern eine große Chance, hier noch einmal Rechtswissenschaft zu betreiben. Zum anderen, und vor allem, liegt aber im Verfassungsrecht, von seinen aufklärerischen Grundlagen her, ein Zug zum Prinzipiellen, der sich der Wahrheit öffnet und ihrer Erkenntnis - und sei es auch nur der Staatswahrheit 12 •

10 Die Freirechtsbewegung hat es bereits erkannt: Damit hatte begonnen der "Kampf um die Rechtswissenschaft" (Gnäus Flavius [Kantorowicz], 1906). II Vgl. Leisner; w., Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung, in: Staat (Hg. Isensee), 1994, S. 276 ff. 12 Nicht umsonst ist gerade Verfassungsrecht aufklärerisches Staatswahrheits-Erbe, vgl. oben c.

V. Verfassungsrecht

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Aus dieser nonnverdünnten Prinzipiendichte heraus kann das Verfassungsrecht in alle Rechtsbereiche hineinwirken, diese hinaufheben in die Nähe von Wahrheiten, jedenfalls in deren Erkenntnisstreben. Damit fließt aus dem Verfassungsrecht ein wissenschaftlicher Strom ständig in alle Bereiche des Rechts. Dies hat eine Lehre mehr gefühlt als erkannt, welche immer mehr ihren vornehmsten Gegenstand in den verfassungsrechtlichen Bezügen der Einzelmaterien des Rechts findet. Zwar sollte dies gewiß geschehen in einem Bewußtsein wechselseitigen Gebens und Nehmens: aus den nonndichteren und häufig auch dogmatisch stärker perfektionierten Bereichen, vor allem des Privatrechts, kommt dem Verfassungsrecht viel von einer Operationalität, die ihm selbst fehlt. Doch andererseits trägt dieses Staatsrecht die vor allem einfachgesetzlich geordneten Materien durch seinen Wahrheitsanspruch. Denn aufgeladen werden sie ja nicht so sehr inhaltlich durch positivistisch festgelegte Nonnentscheidungen, der Verfassung, als vielmehr durch die Ergebnisse eines ständigen Bemühens um Wahrheitserkenntnis, welche bei den höchsten Nonnen stattfindet und von dort, belebend und bereichernd, alle Rechtsbereiche durchdringt. Eine weitere große, neue Chance in diesem Sinn bietet das Europäische Recht, wenn es sich - endlich - in den Fonnen eines Verfassungsrechts entwickelt, nicht nur eines positivistischen Geflechts unzähliger neuer Nonnverdichtungen auf niederer Ebene. Diese letztere Entwicklung würde den Untergang der großen europäischen Rechtswissenschaft besiegeln, ein Aufschwung zur europäischen Verfassung ihr dagegen neue Aufgaben der Wahrheitserkenntnis stellen, in Rechtssoziologie, Rechtsvergleichung, vergleichender Rechtsdogmatik. Doch die Gefahren sind deutlich, daß man sich auf dem unsicheren europäischen Boden eher an den festen Griffen des Rechtspositivismus halten will, daß eine europäische Staatswahrheit vielleicht zu spät erst gesucht wird. Aus der Sicht der Staatswahrheit, welche Gegenstand dieser Betrachtungen war, ergibt sich daraus vielleicht doch ein beruhigendes Ergebnis. Sie mag Wahrheitsaneignung durch den Staat sein, Wahrheitssetzung mit seiner Macht oder gar Verdrängung der Wahrheit durch diese, darin sicher Gefahr für eine Freiheit, die in der Wahrheit ihren Hort immer gefunden hat. Doch in all dem bleibt noch immer etwas von Wahrheits bezug und Erkenntnisstreben. Staatswahrheit wird damit zur Schranke eines vordringenden Rechtspositivismus. Und staatsappropriierte Wahrheit steht immer noch näher bei der Wissenschaft vom Recht als beim Rechtshandwerk der reinen Anwendung. So ist denn Staatswahrheit doch eine Chance der Rechtswissenschaft; und darin mögen die Legisten der Macht, ihre eifrigen Diener, sich sogar noch als Wissenschaftler des Staatsrechts bestätigt fühlen.

Ausblick Ausblicke auf die Staatswahrheit und über sie hinweg öffneten sich weit, so kann der Ausblick am Ende kurz sein. Die Wahrheitsfrage muß an das Recht, an das Staatsrecht und über dieses an die Macht gestellt bleiben. Hier findet sie eine entscheidende Dimension und eine tragende Kraft. In alle Ausdrucksformen des Rechts hinein, bis in Normen und Gerichtsentscheidungen, muß dies erweitert und verfolgt werden. Die Herrschaft der Demokratie vor allem ist nicht vorstellbar ohne ein Bekenntnis zu Staatswahrheiten in allen Spitzenbereichen des Rechts; dies vor allem hält ihre von Wahrheitsüberzeugungen getragene Macht. Kontinuität zu früherer Staatlichkeit, ohne welche sie Dauerrevolution und auf Dauer wirkungslos bliebe, kann sie nur darin finden. Die Wirklichkeit bleibt in dieser wie in allen anderen Herrschaftsformen Maßstab eines Rechts, das in seiner Fiktionskraft zwar Realität fortsetzen, aber nicht völlig und grundsätzlich ersetzen kann. Auf vielen Wegen sucht sich die Macht, vor allem die heutige in der Demokratie, ihren Zugang zur Wahrheit, welche sie aber sogleich in ihre Staatswahrheiten zu verwandeln bestrebt ist. Darin liegt eine tödliche Gefahr für die Freiheit vor allem deshalb, weil diese Entwicklungen noch kaum in Ansätzen erkannt worden, bewußt geworden sind. Zugleich bietet sich damit jedoch auch die Chance, den Zerfall der Rechtswissenschaft in reinen Positivismus aufzuhalten, ist doch Staatswahrheit noch immer besser als keine Wahrheit im Recht. Das eigentliche Thema dieser Betrachtungen war, jenseits von allem Erkenntnisstreben in der Jurisprudenz, der geistige Gehalt des Rechts und seiner Wissenschaft, ihre Bedeutung für den freien Menschen. Wenn hier seine erste Freiheit liegt, vor aller ökonomischen Entfaltung, wenn sie ihn zuhöchst in seiner Menschenwürde prägt, so kann deren Achtung nur dann die Spitzennorm des geltenden Rechts bleiben, wenn dessen intellektuelle Grundlagen tiefer liegen und höher hinaufreichen als aller politischer Voluntarismus. Darin hat das Recht und seine Wissenschaft sicher einen Begeisterungsverlust in Kauf zu nehmen, in der täglichen, so oft ermüdend-pedantischen Arbeit wie in der Vermittlung von Wahrheit an eine Jugend, welche dies zunehmend mit Nützlichkeitsstreben aufnimmt und beantwortet, nicht mit Erkenntnisfreude. Doch dem Recht muß sein Göttliches bleiben, seine Göttin, die Iustitia. Sie aber ist in der geistigen Tradition Europas nicht mehr die Blinde, welche nichts erken-

Ausblick

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nen will, nicht einmal die Wahrheit. Die Macht, deren Grundausprägungen Gegenstand dieser Betrachtungen waren, läßt sich nur begreifen als ein Abbild des Göttlichen auf Erden, das sie verdrängen und letztlich sein will: in ihrer Unsichtbarkeit, ihrer abwägenden Gerechtigkeit und hier nun in ihrer Wahrheit. Am Ende kann sie die Menschen nicht erreichen, wenn sie nicht - auch - "aus der Wahrheit ist", nur dann hören die Bürger ihre Stimme. In der Skepsis der Pilatusfrage lag bereits der Niedergang der römischen Macht. Der Gott auf Erden muß wahr sein wie sein Urbild im Jenseits. Wenn er schon nicht die eine Wahrheit findet, so mag er wenigstens seine Wahrheit suchen - die Staatswahrheit. Macht ist Wirklichkeit, erschöpft sich in ihr. Nur dort gibt es sie, wirklich, wahrhaftig, wo ihr einer ihrer bewaffneten Vertreter, ein Nachfolger des römischen Hauptmanns auf Golgotha, überzeugt bestätigen kann, hier sei menschgewordene göttliche Allmacht auf Erden wenn nicht Gottes Sohn, so doch - "wahrhaft - Gottes Bild".

Sachverzeichnis Abgeordnete 22, 49 Absolutismus 139 Abwägung 49 f, 117, 207 f. Aktion, staatsfeindliche 209 f, 215 ff. Amtshaftung 234 f. Amtshilfe 234 Analogia entis 87 Anarchie 136 Archive, Öffnung von 222 Aristokratie 62 Aristoteles 147, 159,251 Arkanstaatlichkeit 68, 219 ff. Aufklärung 40,44, 56, 61, 63, 98, 101, 108, 116 ff., 136, 188 - Staatsrenaissance der 46 - Staatswahrheit der 87 ff. Auskunftsrechte - der Medien 226 Auslegung, - objektive und subjektive 105 ff. Ausnahmezustand 189, 241 Ausreisefreiheit 177 f. Auswärtige Gewalt - Beurteilungsprärogative 232 Beamte - als Experten 162 ff. Begriffsjurisprudenz 127 Belehnung 66 f. Bestandsschutz 28 Bildung - staatliche 50 ff. - und Wahrheit 39 f, 150 ff. Bonapartismus 180 Brentano, Lujo 154 Bürokratie - und Arkanstaatlichkeit 223 Cicero 258 Clausu1a rebus sic stantibus 25 Corpus Iuris 258

Datenschutz 228 Demokratie - direkte 95 f. - und Diskutabilität 81 ff. - und Richter 127 ff. - soziale 90 - und Tradition 79 ff. - zwischen Wahrheit und Willen 61 ff. - wehrhafte 134,210 siehe auch Freiheit, Mehrheitsentscheidung, Volkssouveränität Dezisionismus 26, 115, 128,240 ff. siehe auch Schmitt, earl Diskussion - Wahrheit aus 82 f, Effizienz 22 f, 168 f. Ehe - Schutz der 54 Ehrungen 188 Eigentum 132, 137, 179 Enteignungen im Osten Deutschlands 231 ff., 235 Enzyklopädismus 108, 145,258 Erforderlichkeit 174 Ethikunterricht 197, 198 ff. Eudämonismus 132ff., 137 siehe auch Nützlichkeitsdenken Europarecht 42, 129, 164 Experten 129 ff., 158, 159 ff. - private 167 ff. - Staat als Experte 162 ff. Fiktion 26 ff. - Realitätsnähe 28 f, 41 ff., 55, 59, 187,264 - Staat des ..als ob" 202 Fichte 18 Föderalismus 120 Forschung 154 f, 192 Forschungsinstitute, staatliche 165 f. Forschungsvorhaben 156 jJ., 192

Sachverzeichnis Fortschrittsgläubigkeit 88 ff. Fraktionszwang 22 Frankreich - präsidentielles Regime 22 Französische Revolution 16, 44, 54, 63 ff., 71 fJ.. 94 f, 101, 108, 120, 123, 136, 189 Freiheit 44, 60, 95, 122, 132, 145, 173, 254f. - Einheit der 112 f. - und Gleichheit 136 fJ. - Ideologie der 177 - und Menschenrechte 179 - Ökonomisierung der 137 siehe auch Grundrechte, Meinungsfreiheit Freirecht 19 Führerwille 102 "Funktion" 138 Gefahr 172 Genforschung 216, 219 Gerichte siehe Richter Gesellschaftsvertrag 75 Gesetz - Allgemeiner Wille 48, 94 f, 138 - und Gesetzgeber 102 ff. - Kompliziertheit 107f siehe auch Norm Gesetzesanwendung - und Staatswahrheit 101 fJ. Gesetzgebungsbefehl 95 "Gesundes Volksempfinden" 127 Gewalt - reine 29 ff. Gewaltenteilung 104 Gewaltmonopol 77, 193 Gewohnheitsrecht 25 Glaube 67, 120, 144 f. - und Diskussion 84 f. - religionspolitischer 67 Gleichheit - und Freiheit 136 fJ. - als "G1aubenswahrheit" 76 f - als Staatswahrheit 120, 132 - als Wahrheit 11 0 Gott - Staat als Gott auf Erden 31 f Gottesgnadentum 66fJ.. 76, 119

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Grundrechte 20 fJ. - Änderung der 112 - Eingriffe in 116fJ.. 205 - und Staatsform 120 - Staatsrichtung der 142 - als Teilhaberechte 118 - unabänderliche 113 fJ. - ungeschriebene 150 - als Wahrheiten 108fJ., 189 - als Werte 109 fJ. - Wertesystem der 45 siehe auch Freiheit, Gleichheit, Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Menschenrechte Hegel 18,242 Heinrich IV. von Frankreich 72 Historikerstreit 181, 193 Historismus 180 Hochschule 154 f, 160, 255 Horaz 185 siehe auch Maecenas Humanismus - als Bildungsideal 152 Idealismus, philosophischer 98, 132 Ideologie - und Staat 73 Indemnität 235 In dubio pro Libertate 144 Informationsfreiheit 220 f. Informelles Verwaltungshandeln 171 ff., 193,204 ff. Institution 78 Jellinek, Georg 19 Katholische Kirche 70, 88, 186, 199 siehe auch Kirche, Protestantismus Kant 17f, 83, 88,98 f, 124,242,251 Ke1sen 19 f, 99 f, 118,240 siehe auch Reine Rechtslehre Kirche 78 ff. - und Staatswahrheit 68 fJ. siehe auch Katholische Kirche, Protestantismus Kirchensteuer 69 Kodifikationen 261

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Sachverzeichnis

Kommunismus 70, 76, 177 siehe auch Marxismus Konsens 30 Konstitutionalismus 79 Kontinuität - und Demokratie 79 f., 264 siehe auch Macht Krönung 66 f. Kunstfreiheit 195 Laienrichter 127 Lehrpläne 153 siehe auch Schule Leistungsfähigkeit 29 Liberalismus 18, 152, 180, 195 Livius 63 Locke 75 Lückenfüllung 107 Maecenas 159 Macht, passim, etwa 25, 58 f. - Kontinuität der 57 - "Machtmenschen" 248 ff. - Techniken der 30 f vgl. i. übr. Inhaltsverzeichnis Markt 29 Marxismus 45,70 f, 121, 150, 152, 195 siehe auch Kommunismus Medien - und Staatsgeheimnis 226 f. Medienfreiheit 144 Mehrheitsentscheidung 82, 138 - und Verteilung 137f - als Wahrheitsfindung 48 f si~he auch Demokratie Meinung 140 f Meinungsfreiheit 33 ff., 140 ff. - und Mehrheitsentscheidung 138 - hoher Rang 143 - und Staatswahrheit 144 ff. - und Tatsachen 24 Menschenrechte 178 f. Menschenrechtserklärung(en), amerikanische 21 Menschenrechtserklärung, universelle 94, lll, Menschenwürde 111, 114 f, 132,211,216 19*

Minderheit siehe Mehrheitsentscheidung Mißtrauensvotum - konstruktives 22 Monarchie 62, 76 Monumentalstaat 185 f. "Mutterrecht" 70 Napoleon 80 Nationalismus 134, 181,211 Naturrecht 92f, 111 f, 118 Naumann 189 Neutralität - religiöse, des Staates 33, 57, 71, 78, 148 f, 194 ff. Nietzsche 19, 104 Norm - Auslegung 105 ff. - und Tatsache 59 siehe auch Fiktion - als Wahrheit 94 ff., 117,125 - und Wille 26 ff. Normative Kraft des Faktischen 28 Nützlichkeitsdenken 152 f, 169, 237 ff., 256f. Obereigentum 62 Öffentlichkeitsarbeit, staatliche 170 ff. Offene Gesellschaft 41, 93 Offener Staat 93 Oligarchie siehe Aristokratie Opposition 57 Organisationen, kriminelle 230 Paideia 40, 251 f. Papsttum 61 Pater familias 62 Paulskirchenverfassung 21 Persönlichkeitsentfaltung, Freiheit der 207 Philosophen-Könige 15 Platon 15,60,75,122,147,251 f. Plotin 60 Plutarch 152 Politik - Begriff 240 f. - und Recht 239 ff. - und Wahrheit 34, 236 ff.

Sachverzeichnis Politische Wissenschaft 90 Politisches Recht 34 f. Polybios 133 Presse - öffentliche Aufgaben 143 Privatautonomie 115 Privatheit - Schutz der 225 ff. Privatisierung 50 f, 167 ff., 177,255 ff., 263 Privatschulen 150 f. Prognose 244 f. Promissorischer Eid 217 Protestantismus 69 siehe auch Reformation Protokolle - als Erkenntnisquellen 85 Prozeß 126 - und Meinungsbildung 141 - als Wahrheitsfindung 47f 52 f Prozeßrecht 35

Rezeption - von Norminhalten 42 f - des Römischen Rechts 259 Rhetorik, politische 249 f. Richter - und Demokratie 127 ff. - demokratische Legitimation 104 f. - und Experten 169 f. - und Mehrheit 82 - und Wahrheitsfindung 48, 78, 122 ff. siehe auch Prozeß Richterrecht 25 Risiko 172 Risorgimento 65 Römisches Recht - .als ratio scripta 15, 103, 122,258 Römisches Reich 15 Römisches Staatsrecht 15,63 f Rousseau 48,75, 82, 138 f. Russische Revolution 73

Realität 50 f, 106, 243 - und Fiktion 27f 36 ff. - Ratifikation durch Staat 145 - und Wahrheit 23 ff., 36 ff. - und Werte 109 Recht - Gesetz und 97 - ,.richtiges" 22 Rechtsanalogie 113 Rechtspositivismus 24, 260 ff. Rechtssoziologie 23 f Rechtsstaat 20,23,26,34, 120,213,234 - System normativer Staatswahrheit 96 ff. - und Vertrauen 97 Rechtsschutz 22 f. Rechtstatsachenforschung 23 f Rechtstechnik 101 Rechtsunterricht 256 f. Rechtsvergleichung 42 Rechtswissenschaft 36, 119, 254 ff., 262 f Reformation 44, 72, 87 f. siehe auch Protestantismus Regierungsgesetz 102 Reine Rechtslehre 99 f siehe auch Kelsen Religionsunterricht 195 ff. Revolution 215

Sachverständige siehe Experten Säkularisation 64 Schmitt, earl 19 Schopenhauer 18 f. Schule - Nützlichkeit der 153 - und Wahrheit 150 ff. Schulzwang 205 Schweizer Zivilgesetzbuch 107 Sekten - Warnung vor 171 f. Smend 19 Sokrates 122, 132,257 f. - Prozeß des 146 f Sollen - und Sein 36f, 98 f Soziale Gerechtigkeit 90, 137 Sozialstaat 121, 137 Spann, Othmar 20, 93 Spionage 224 Staatsaufgabe - Staatswahrheit als 77 Staatsaufgabe (n) 143 f. Staatseinheit 71 Staatsfeind 57 Staatsformen 122

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270 Staatsgeheimnis 220 ff. 228. 234 Staatsgrundsatznonnen 120 f. Staatsideologie 177ff Staatskirche 43 ff., 53 f, 68 ff Staatslegenden 190 Staatslüge 229 ff Staatsmonumente 185 ff Staatspraxis 176 Staatsrechtfertigung 32 Staatsrenaissance 20. 65, 122. 182 Staatsschutz 60. 114.131 ff. 226 "Staatssouveränität" 79 Staatstheater 174 Steuergeheimnis 228 System - juristisches 22, 26 - von Wahrheiten 43 ff. 53 f, 202 Tacitus 63, 152 Talleyrand 213 Tatsachen - und Wertungen 30 Tatsachenwahrheit 33 ff. - von Richtern festgestellt 123 ff. Technik - der Macht siehe Macht Terenz 145 Terreur 133 f. Theologie 16,38.61.67,81, 181,253 Theologische Fakultäten 194 Tierschutz 218 Toleranz 198. 200 Tradition 79 f. - und Macht 61 ff - und Wahrheit 61 ff Typisierung 22 Umweltschutz 54, 108. 157, 162 Unrechtsstaat 230 f. Unternehmer - Dispositionsfreiheit der 29 Urkunden - als Wahrheitsbeweis 64 f, 74 f. Unterricht vgl. Bildung Urteil - Wille oder Erkenntnis? 124 ff

Sachverzeichnis Verfahren - parlamentarisches 86 Verfahrensrecht - Wahrheitserkenntnis durch 46, 52 f Verfassungsänderung, 21. 119 Verfassungsgerichtsbarkeit 35, 47, 117. 123, 128 Verfassungsrecht 255 f. - und Rechtswissenschaft 262 f - als Staatswahrheit 71 ff., 95. 216 siehe auch Freiheit, Grundrechte, Rechtsstaat Verfassungsschutz siehe Staatsschutz Verfassungstreue der Wissenschaft 215 ff Vergangenheitsbewältigung 86. 170, 232 Vernunft - und Wahrheit 74 ff Verteidigung 224, 226 Vertrauen - Gesetzes- 98 - und Rechtsstaat 97 Verwaltungs praxis 104 Virtus romana 63 Völkerrecht 60, 178 - allgemeine Regeln 43 Völkerrechtsleugnung 24 Volk 139 Volkssouveränität 21.71 ff. 76,81 Volksverhetzung 170,211 ff Voluntarismus 17ff. 26 ff., 98 ff. 136. 243 f. - und Aufklärung 92 - und Auslegung 105 ff. Wagner, Adolph 154 Wahrheit, passim vgl. Inhaltsverzeichnis Werbung - und Tatsachen 39 siehe auch Öffentlichkeitsarbeit Werte - Grundrechte als 109 ff. Werturteil - und Tatsache 34 ff.• 39 ff - als Wahrheit 37 ff. 55

Sachverzeichnis Wille zur Macht 64 Wirtschaftsverfassung 46 Wissenschaft 142 - Freiheit der 151, 154 f, 195,210 f, 214 Jf. - und Wahrheit 56, 214 Jf.

Wissenschaftsförderung 50 Jf., 156 Jf. Wohlfahrtsstaat 44 Zünftewesen 154 Zyklusdenken 133

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