Die Sowjetunion 1917-1991 9783486701128, 9783486583274

Die Sowjetunion hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt wie außer ihr nur noch die USA. Auf dem Höhepunkt ihrer

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Die Sowjetunion 1917-1991
 9783486701128, 9783486583274

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OLDENBOURG GRUNDRISS DER GESCHICHTE

OLDENBOURG GRUNDRISS DER GESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON LOTHAR GALL

KARL-JOACHIM HÖLKESKAMP HERMANN JAKOBS BAND 31

DIE

SOWJETUNION 1917-1991

VON MANFRED HILDERMEIER

2.

Auflage

R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN 2007

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2007 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: primustype R. Hurler GmbH, Notzingen Druck: Grafik + Druck GmbH, München Bindung: Thomas Buchbinderei, Augsburg ISBN 978-3-486-58327-4

VORWORT DER HERAUSGEBER Die Reihe verfolgt mehrere Ziele, unter ihnen auch solche, die von vergleichbaren Unternehmungen in Deutschland bislang nicht angestrebt wurden. Einmal will sieund dies teilt sie mit anderen Reihen eine gut lesbare Darstellung des historischen

Geschehens liefern, die, von qualifizierten Fachgelehrten geschrieben, gleichzeitig eine Summe des heutigen Forschungsstandes bietet. Die Reihe umfasst die alte, mittlere und neuere Geschichte und behandelt durchgängig nicht nur die deutsche Geschichte, obwohl sie sinngemäß in manchem Band im Vordergrund steht, schließt vielmehr den europäischen und, in den späteren Bänden, den weltpolitischen Vergleich immer ein. In einer Reihe von Zusatzbänden wird die Geschichte einiger außereuropäischer Länder behandelt. Weitere Zusatzbände erweitern die Geschichte Europas und des Nahen Ostens um Byzanz und die Islamische Welt und die ältere Geschichte, die in der Grundreihe nur die griechisch-römische Zeit umfasst, um den Alten Orient und die Europäische Bronzezeit. Unsere Reihe hebt sich von andern jedoch vor allem dadurch ab, dass sie in gesonderten Abschnitten, die in der Regel ein Drittel des Gesamtumfangs ausmachen, den Forschungsstand ausführlich bespricht. Die Herausgeber gingen davon aus, dass dem nacharbeitenden Historiker, insbesondere dem Studenten und Lehrer, ein Hilfsmittel fehlt, das ihn unmittelbar an die Forschungsprobleme heranführt. Diesem Mangel kann in einem zusammenfassenden Werk, das sich an einen breiten Leserkreis wendet, weder durch erläuternde Anmerkungen noch durch eine kommentierende Bibliographie abgeholfen werden, sondern nur durch eine Darstellung und Erörterung der Forschungslage. Es versteht sich,dassdabei-schonum der wünschenswerten Vertiefung willen jeweils nur die wichtigsten Probleme vorgestellt werden können, weniger bedeutsame Fragen hintangestellt werden müssen. Schließlich erschien es den Herausgebern sinnvoll und erforderlich, dem Leser ein nicht zu knapp bemessenes Literaturverzeichnis an die Hand zu geben, durch das er, von dem Forschungsteil geleitet, tiefer in die Materie eindringen kann. Mit ihrem Ziel, sowohl Wissen zu vermittels als auch zu selbständigen Studien und zu eigenen Arbeiten anzuleiten, wendet sich die Reihe in erster Linie an Studenten und Lehrer der Geschichte. Die Autoren der Bände haben sich darüber hinaus bemüht, ihre Darstellung so zu gestalten, dass auch der Nichtfachmann, etwa der Germanist, Jurist oder Wirtschaftswissenschaftler, sie mit Gewinn benutzen kann. Die Herausgeber beabsichtigen, die Reihe stets auf dem laufenden Forschungsstand zu halten und so die Brauchbarkeit als Arbeitsinstrument über eine längere Zeit zu sichern. Deshalb sollen die einzelnen Bände von ihrem Autor oder einem anderen Fachgelehrten in gewissen Abständen überarbeitet werden. Der Zeitpunkt der Überarbeitung hängt davon ab, in welchem Ausmaß sich die allgemeine Situation der Forschung gewandelt hat. Hermann Jakobs Lothar Gall Karl-Joachim Hölkeskamp -

-

Für Gregor

INHALT

Vorwort I.

zur

2.

Auflage.

Darstellung

.

A. Revolution und

2

1. Ursachen. 2. Das Februarregime 3. Vom Oktoberumsturz zum Bürgerkrieg.

2 9 13

Konzessionen und Experimente: Die „Neue Ökonomische Politik"

(1921-1928).

22

1. Diadochenkämpfe 2. Neue Ökonomische Politik. 3. Gesellschaft. 4. Kultur. 5. Außenpolitik.

22 25 28 30 30

.

C. Revolution von oben und Vorkriegsstalinismus 1. Planwirtschaft 2. Zwangskollektivierung 3. Die Ausschaltung der „Rechten

(1929-1941)

35 ...

.

.

.

.

.

D. Großer Vaterländischer

39 40 45 47 49 53

Krieg

und Spätstalinismus (1941-1953). 1. Extremer Zentralismus und patriotische Mobilisierung 2. Wiederaufbau nach altem Muster. 3. Kriegsallianz und Nachkriegskonfrontation.

.

Reform und Stalinismuskritik unter Chruscev (1953-1964) 1. Aufstieg und Fall des Ersten Sekretärs. 2. Wirtschaftsreformen

.

.

3. Wechselhaftes

35 36

Opposition"

und das Ende aller Kritik. 4. Herrschaft, Terror und wirtschaftliche Entwicklung 5. Sozialistischer Aufbau. 6. Das kollektivierte Dorf 7. Gesellschaft und Kultur. 8. Von „kollektiver Sicherheit" zum Hitler-Stalin-Pakt

E.

1

Bürgerkrieg (1917-1921). .

B.

X

„Tauwetter"

.

57 57 62 65

69 69 73 74

VIII

Inhalt

F.

Zwischen Stabilisierung und Stagnation: Die Ära Breznev (1964-1982) 1. Die ,Herrschaft der Sekretäre'. 2. Stillstand der Wirtschaft. 3. Unzufriedene Gesellschaft, gespaltene Kultur. 4. Außenpolitik zwischen „friedlicher Koexistenz" .

und Intervention. G.

„Umbau" und Untergang (1982-1991)

H. Ein II.

neues

77 77 80 82 87

.

92

Russland? (seit 1991).

100

Grundprobleme und Tendenzen der Forschung

.

A. Ursachen der Revolution: Strukturdefizite oder

Kriegsfolgen?

103

103 .

B.

Das Schicksal des

Februarregimes: Eigenes Verschulden oder bolschewistische Skrupellosigkeit?

109 ..

C.

Bürgerkrieg: Ursachen und Preis des Sieges.

D. Das Ende der NEP: E.

Sackgasse oder willkürliche Abkehr?.

115

Vorkriegs-Stalinismus. 1. Totalitarismus, gesellschaftlicher Opportunismus

119

oder konforme Mentalität?

2. Terror: Zwischen zentraler Lenkung und Eigendynamik 3. Opfer des Terrors . 4. Glaube und Nation.

119 126 128 132

Der Zweite Weltkrieg

134

.

....

F.

112

.

1. Der Hitler-Stalin-Pakt. 2. Der deutsche Überfall. 3. Die Deportation nichtrussischer Völker. 4. 5.

Katyn

.

Stalinismus und

Krieg in der Geschichte der Sowjetunion

G. Der Aufstieg Chruscevs und die Partei

...

.

134 137 139 141 141 144

„Real existierender Sozialismus"

unter Breznev: seiner Deutung.

147

I.

Ursachen der Perestrojka und ihres Scheiterns.

156

J.

Das Ende der Sowjetunion

159

H.

Konzepte

zu

erste -

Versuche einer Bilanz.

Inhalt

III.

IX

Quellen und Literatur. A. Quellen. 1. Gesamt oder übergreifend. 2. Einzelne Epochen

163

.

163 167

Literatur.

176

1. Einführungen, Bibliographien, Handbücher, Lexika. 2. Gesamtdarstellungen und allgemeine Werke. 3. Einzelne Epochen

176 177

B.

.

163

186

Anhang. Abkürzungen.

218

Zeittafel.

220

Register

227

.

217

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE ersten Auflage ganz überwiegend Zustimmung erfahren. Aber natürlich und erfreulicherweise hat es auch, vor allem im Ausland, Kritik hervorgerufen. Was dabei hauptsächlich bemängelt wurde, scheint mir aber im gegebenen Rahmen kaum zu beheben zu sein. Deshalb sei diese zweite, unveränderte Auflage zu einer erläuternden Vorbemerkung genutzt. Man hat den Verzicht auf die Begründung eigener Positionen und generell die erörternde Abwägung von Interpretationen beklagt, desgleichen die Beschränkung auf .klassische' Deutungen umstrittener Kernprobleme und generell eine allzu starke Konzentration auf Russland zu Lasten der anderen Nationalitäten im sowjetischen Vielvölkerreich. Ich kann diese Einwände nur akzeptieren, sehe mich aber durch den Zweck und Charakter der Reihe entlastet, in der diese Darstellung erscheint. Sie soll-der Tendenz zur Kleinteiligkeit entgegenwirkend eine knappe Ubersicht über größere Themen geben und dabei das schwierige Geschäft auf sich nehmen, die wichtigen Probleme und Antworten auszuwählen. Sie ist weder eine Monographie, noch bietet sie Raum für eingehende Synthesen. Man kann die Akzente sicher anders setzen; die Entwicklung der nichtrussischen Nationalitäten ist in den letzten beiden Jahrzehnten zu Recht aus ihrer Beinahe-Vergessenheit erweckt und neu bewertet worden. Ob man aber eine Geschichte der Sowjetunion und erst recht eine so knappe von der Peripherie her entfalten kann, ist eine andere Frage. Mir hat ungeachtet des imperialen Charakters des Gesamtstaates und der unbezweifelbaren Berechtigung, ihn als essentiell zur Kenntnis zu nehmen, das Bonmot eines Kollegen stets eingeleuchtet, dass sich ein Tausendfüßler zwar durch die Zahl seiner Füße definiert, es aber ein endloses Unterfangen wäre, seine Steuerung und Funktionsweise von den Füßen her begreifen und beschreiben zu wollen. Ähnliches gilt für die Auswahl neuer Überlegungen und,Diskurse' zu Kernproblemen der sowjetischen Geschichte aus postsowjetischer Zeit. Wenn nicht alle vorgestellt werden, dann ist das weniger mangelnder Aufmerksamkeit als einer Selektion anzulasten, die angesichts des Zwangs zur Kürze im Zweifelsfall etablierten Deutungen Vorrang vor Hypothesen gegeben hat, die sich erst noch in der Diskussion behaupten müssen. Ausgelassen wurde lediglich, was sich nach bestem gegenwärtigen Wissen als falsch erwiesen hat bei durchaus, wie man weiß, fließenden Übergängen. Wer sich mehr gewünscht hätte, mag sich damit trösten, dass natürlich auch dieser Kernbestand an Wissen und Interpretationen ständigem Wandel unterworfen ist. Innovation wird zum Standard aber eben erst dann, wenn sie sich gegen Konkurrenz und prüfende Zweifel behauptet hat.

Das Buch hat in seiner -

-

-

-

-

Göttingen, im April 2007

Manfred Hildermeier

I.

Darstellung

Zur Überraschung aller (auch derjenigen, die es nachher besser wussten) hörte die Sowjetunion Ende 1991 auf zu bestehen. Ihr Niedergang war mit dem ge-

scheiterten Putsch gegen die Reformen Gorbacevs vom 19.-21. August besiegelt. Dennoch kam ihr förmliches Ende nicht nur unerwartet, sondern auch unerwartet beiläufig. Ein Staat verschwand von der politischen Landkarte, der (einschließlich seines Vorläufers in Gestalt der RSFSR) knapp 74 Jahre überdauert hatte, als erste Verwirklichung der sozialistischen Alternative zum bürgerlichen' Kapitalismus galt, nach seinem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zur zweiten Welt- und Atommacht neben den USA aufgestiegen war und in dieser Funktion: als Systemgegner und einzig ebenbürtiger militärischer Rivale die Geschichte des ,kurzen 20. Jahrhunderts' (1914/18-1989/91) besonders in seiner zweiten Hälfte maßgeblich prägte. Dies geschah ohne äußeren und inneren Krieg und in krassem Gegensatz zu seiner gewaltsamen Geburt durch den Umsturz vom Oktober 1917 und den anschließenden Bürgerkrieg von 1918-1921, beides Geschehnisse, die sich zu einer tiefgreifenden Revolution aller öffentlicher Strukturen und Lebensverhältnisse summierten. In der jüngeren europäisch-atlantischen Geschichte findet sich kein anderes Beispiel für einen derart geräuschlosen Untergang eines so bedeutenden und mächtigen Staates. Nicht zuletzt diese Jmplosion' gibt Anlass, die plötzlich abgeschlossene Geschichte des ersten sozialistischen Gemeinwesens der Welt in neuem Licht zu sehen. Die Sowjetunion ist nicht nur als eine der großen politisch-geistigen Kräfte des 20. Jahrhunderts von Interesse, sondern auch unter der Frage nach den Ursachen ihres Scheiterns. Dabei gilt allerdings, dass post hoc nicht propter hoc sein darf. Gerade in der Entwicklung der Sowjetunion, die sich aufgrund ihres Anspruchs, eine neue Erscheinung der Weltgeschichte zu sein, auch als Experiment verstand, gab es Weichenstellungen und Alternativen. Beides ist zu bedenken: neben dem Anspruch und der Wirklichkeit sowohl die Optionen als auch die ,Resultante' des tatsächlich eingeschlagenen Weges.

A. REVOLUTION UND

BÜRGERKRIEG (1917-1921)

1. Ursachen

Mit guten Gründen beginnen die meisten Darstellungen der Vorgeschichte der Sozioökonomische Revolution immer noch mit der sozioökonomischen Entwicklung. Darin spiegelt Entwicklung sjcn jje prJorität, die der zarische Staat selbst setzte. Als er nach der Niederlage im Krimkrieg (1854-56) die sog. Großen Reformen auf den Weg brachte, tat er das in erster Linie, um wirtschaftliche Stärke zu gewinnen und einer Wiederholung der Demütigung vorzubeugen. Am wichtigsten war dabei die Aufhebung der Leibeigenschaft im März 1861. Sie räumte nicht nur besitzrechtliche Barrieren und Freizügigkeitsbeschränkungen förmlich beiseite. Stärker noch wirkte sie psychologisch: als Signal für das Ende einer jahrhundertealten Wirtschafts- und Sozialordnung (aber nicht der Autokratie) und den Aufbruch in eine neue Zeit. Was damit als Fernziel am Horizont erschien, war nichts weniger als eine Industriegesellschaft, wie man sie im zeitgenössischen England oder Deutschland

beobachtete.

Wirtschafts-

Gegenwärtig nimmt die Neigung zu, die Entwicklung der russischen Wirtschaft Jahrzehnten der Monarchie als Erfolg zu werten. Wer den Anfangszustand 1861 und den Endzustand 1913 im Kontext der anderen Natio-

aufschwung jn (jen ietzten

nalökonomien Europas und der atlantischen Welt miteinander vergleicht, wird in der Tat manches beobachten, was für diese Auffassung spricht. Zu Beginn der Reformen war Russland ein Agrarland mit einer vormodernen, auf bäuerliche Hörigkeit und adeligem Grundbesitzmonopol gegründeten Sozial- und Wirtschaftsverfassung, aus der die wenigen Städte von den ganz großen Zentren wie Moskau, St. Petersburg und Kiev abgesehen weder durch einen besonderen Rechts- oder politischen Verbandscharakter noch durch auffällige gewerblichkommerzielle Tätigkeiten und kulturelle Errungenschaften herausragten. Es besaß eine große Bevölkerung, aber geringe ökonomische (und militärische) Leistungskraft und war trotz seiner enormen Ausdehnung auf dem besten Weg, den von Peter dem Großen eroberten Platz im Kreis der fünf europäischen Führungsmächte (Pentarchie) zu verlieren. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gehörte das Zarenreich nach Deutschland, England, den USA und Frankreich zu den stärksten Wirtschaftsmächten der Welt. Es war der größte Produzent und Exporteur agrarischer Erzeugnisse in Europa, verfügte aber auch über eine bedeutende Schwer- und Maschinenbauindustrie. Unternehmen und Banken von gesamteuropäischem Gewicht wie Siemens & Halske, die AEG, der Credit Lyonnais und andere mehr investierten erhebliche Summen, gründeten Filialen und transferierten ihre technologischen Kenntnisse. Das Reich verfügte über ein beachtliches Schienennetz (von 56 500 km 1901), Metropolen von einer Größe, -

-

A. Revolution und Bürgerkrieg

(1917-1921)

3

Wirtschaftskraft und kulturellen Ausstrahlung, die sich mit Berlin, Paris und London messen konnten, und war spätestens seit der Einführung des Goldstandards 1897 als Grundlage der vollen Konvertibilität seiner Währung Teil des Weltmarktes. Russland erreichte dieses Ergebnis in einer Phase stürmischer Industrialisierung 1889-1904, deren durchschnittliche Wachstumsrate aller produzierten Güter mit 3,25% pro Jahr die Vergleichsdaten für „Westeuropa" (stets im russischen Sinn einschließlich Deutschlands gebraucht) und die Vereinigten Staaten übertraf (dort 2,7%). Auch im gesamten Zeitraum zwischen 1861 und 1914 wuchs die Volkswirtschaft des Zarenreichs schneller als die britische, deutsche, norwegische und italienische, aber deutlich langsamer als die US-amerikanische, japanische oder dänische. Auf der anderen Seite lässt auch eine Neubewertung und -berechnung der traditionellen Maßzahlen keinen Zweifel daran, dass die russische Wirtschaft Mühe hatte, mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt zu halten. Der auffälligste Unterschied zu Westeuropa und Nordamerika bestand in einer deutlichen Kluft zwischen ihrer absoluten Leistungsfähigkeit und dem Pro-Kopf-Ergebnis. Erstere war aufgrund der schieren Größe des Landes erheblich, letzteres blieb niedrig. Bei allem industriellen Fortschritt hinkte das Zarenreich, an den wesentlichen ökonomischen und sozialen Indikatoren (z. B. der Mortalität) gemessen, hinter seinen europäischen Konkurrenten her. In diesem Sinn blieb es rückständig. Eine der Hauptursachen für den Untergang der Monarchie ist von Anfang an in der Agrarkrise gesehen worden. Marxistische und liberale Deutungen fanden in Agrarkrise der Auffassung zusammen, dass sich die russische Landwirtschaft in einem Teufelskreis von rapidem Bevölkerungswachstum, zunehmender Landknappheit, rückläufiger Produktivität, hoher Steuerlast und sinkendem Lebensstandard verfangen habe, dem sie trotz der Förderung eines marktorientierten Mittelbauerntums durch P. A. Stolypin seit 1906 vor dem Ersten Weltkrieg nicht zu entrinnen vermochte. Wesentliche Verantwortung für diesen Zirkel schrieb man dabei der Bestimmung des Befreiungsstatuts von 1861 zu, das bäuerliche Land nicht in Individualbesitz zu geben, sondern es der Landumverteilungsgemeinde (obscina; s.u. B.3) zu übereignen. Dies habe nicht nur die Abwanderung in die Städte behindert, sondern aufgrund der tradierten Neuvergabe des Bodens nach Familiengröße sowohl das demographische Wachstum beschleunigt als auch einer sorgsamen, an langfristigem Gewinn orientierten

Nutzung im Wege gestanden.

Forschungen weisen dagegen auf die Unstimmigkeit dieses Szenarios geltend, dass die Agrarproduktion nicht stagnierte, kein „Hungerexport" erfolgte, sondern mehr Getreide für die Ausfuhr zur Verfügung stand, Neuere

hin. Sie machen

Bauern die entstehende Arbeiterschaft faktisch in Scharen vermehrten und der Lebensstandard auf dem Dorf nicht sank. Die Landwirtschaft geriet in keinen

Strudel unaufhaltsamer Abwärtsdynamik, behinderte auch nicht die Industrialisierung durch Mobilitätsbarrieren und mangelnde Kaufkraft („Enge des

4

/.

Darstellung

Binnenmarktes"), sondern machte

Arbeiterschaft

im Gegenteil Fortschritte, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchten. Da aber das Faktum massenhafter und gewaltsamer Bauernunruhen in den Revolutionen von 1905 und 1917 bestehen bleibt, bedürfen diese einer neuen Erklärung. Vieles spricht dafür, dass sie vor allem im Verfall der staatlichen Macht und gerade umgekehrt: nicht in der Verelendung der Bauern, sondern in der Besserung der Lebensverhältnisse vieler (bei großen regionalen Unterschieden) zu suchen war. Die industrielle Entwicklung brachte notwendigerweise Veränderungen der Sozialstruktur mit sich. Zum einen entstand eine Arbeiterschaft. Vor allem sowjetmarxistische Forscher haben viel Energie darauf verwandt, ihre quantitative Größe zu bestimmen. Bei erheblichen Schwankungen in Abhängigkeit nicht zuletzt von der Definition dürften die Angaben von 3,96 Mio. bzw. 4,02 Mio. für 1860 und 17,82 Mio. bzw. 17,48 Mio. für 1913 der Wahrheit am nächsten kommen. Dabei sind allerdings Landarbeiter, die das größte Kontingent bildeten, und Bau- und Transportarbeiter, von wandernden Handwerken bis zu den Wolgatreidlern, eingeschlossen. An Industriearbeitern im engeren Sinne fand die maßgebliche statistische Studie nur 1,6 Mio. 1850 und 6,1 Mio. 1913. Gemeinsam ist allen Zählweisen das Hauptergebnis: Die Zahl der Lohnabhängigen inner- und außerhalb der Fabriken im engeren Sinne wuchs im halben Jahrhundert vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf etwa das Vierfache. Damit bildete sich eine neue Schicht, die es in der traditionalen Agrarordnung nicht gegeben hatte, die sich regional, bald besonders in den großen Städten konzentrierte und sowohl eigene materielle wie allgemeingesellschaftliche und politische Interessen geltend machte. Offen bleiben allerdings der Charakter dieser Arbeiterschaft und die Art ihrer Wünsche. Während sowjetmarxistische Historiker zumindest nach der sog. Ersten Revolution von 1905-06 immer mehr „erbliche Proletarier" entdeckten, hielten westliche Beobachter ihre sozial-kulturelle Lokalisierung „zwischen Feld und Fabrik" (von Laue) weiterhin für angemessen. Genau besehen schließen beide Auffassungen einander nicht aus, weil auch die urbanisierten Arbeiter der zweiten und dritten Generation bis zum Sturz der Monarchie an der Zuteilung eines Landstücks in den Heimatdörfern ihrer Familien festhielten, um im Alter oder bei Invalidität wenigstens darauf zurückgreifen zu können. Deshalb half die Zwitterhypothese auch in der entscheidenden Frage nach den lenkenden Faktoren ihrer politischen Orientierung nicht im erhofften Maße weiter. Denn inzwischen ist deutlich, dass die lange behauptete Korrelation zwischen Radikalismus und intensiver dörflicher Bindung auf der einen Seite und Mäßigung und ,Verstädterung' auf der anderen Seite so nicht zutrifft. Dieser Erklärungsversuch hat nicht nur den Befund gegen sich, dass die Sozialrevolutionäre Partei in gleichem Maße Arbeiter an sich zog wie die Sozialdemokratie. Darüber hinaus widerspricht sie der inzwischen unbestrittenen Beobachtung, dass es gerade die urbanisierten, am besten bezahlten und fachlich wie allgemein am höchsten qualifizierten

A. Revolution und Bürgerkrieg

(1917-1921)

5

Arbeiter waren, die mit besonderer Vehemenz politische Forderungen einschließlich des Sturzes der Monarchie erhoben. Zu einer weiteren sozialen Schicht hat man die Inhaber verschiedener Bil- Gebildete Schichten dungsqualifikationen zusammengefasst, deren die post-traditionale Übergangsgesellschaft bedurfte. Für die zahlreichen neuen Schulen auf den Dörfern brauchte man Lehrer, für die Seuchenvorbeugung und sonstige medizinische Versorgung Arzte, für die Herstellung technisch anspruchsvollerer Produkte der entstehenden Industrie Ingenieure, für die Universitäten und Fachhochschulen Professoren und Dozenten. Aus ihnen formte sich erstmals eine Intelligenz im Sinne einer Statusgruppe, die neben die intelligencija als Gesinnungs- und Habitusgemeinschaft trat und diese gleichsam überwölbte. Die Intelligenz als Verkörperung der Professionalisierung stand überwiegend in den Diensten der 1864 gegründeten Selbstverwaltungskörperschaften auf Gouvernementsebene, denen begrenzte administrative Aufgaben übertragen wurden. Als sog. „Drittes Element" dieser zemstva (Einzahl: zemstvo) bildeten sie neben dem reformorientierten Adel die zweite Säule einer liberalen Bewegung, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer lauter artikulierte. Aber auch die radikale, revolutionäre Opposition gegen die Autokratie rekrutierte vor allem ihre Führer fast ausschließlich aus der neuen Intelligenz. Schließlich konnte in der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Industrialisierung, die das Zarenreich im Zeichen der „Verwestlichung" vorantrieb, auch ein Bürgertum nicht fehlen. Gegenwärtig mehren sich die Belege dafür, dass Bürgertum es quantitativ wie qualitativ bedeutender war als in den letzten Jahrzehnten angenommen. Erste Lokalstudien über die soziale und politische Elite größerer Städte zeigen, dass hier eine neue Form interständischer Vergesellschaftung im Umfeld der Ratsversammlungen (wie sie die neue Stadtordnung von 1870 vorsah) bereits erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Die jeweilige Prägung hing naturgemäß vom Charakter der Stadt und der Region ab. In den Metropolen waren neben Unternehmern und Kaufleuten Beamte die dem persönlichen oder erblichen Adel angehörten stark vertreten, in Universitätsstädten ohne administrative Zentralfunktion oder bedeutende Industrien die aufstrebenden Akademiker. In jedem Falle zeichnet sich ab, dass eine neue Oberschicht entstand, die sich weitgehend aus den Bindungen der überkommenen Korporationen löste, durch Vereine, Klubs und nicht formalisierte Begegnungsstätten in sich ,vernetzt' war und oft auch mindestens eine protopolitische, zumeist lokal fundierte Identität entwickelte. Dass vor allem die hauptstädtische Bourgeoisie im engeren Sinne ein erhebliches Selbstbewusstsein entwickelte, lässt sich nicht zuletzt auch an ihren bislang ebenfalls unterschätzten mäzenatischen Aktivitäten ablesen. Dagegen blieb ihre politische Wirkungskraft in Verbänden und -

-

-

-

-

später auch Parteien sehr begrenzt.

-

Erhebliche Veränderungen, ohne die der Umbruch des Jahres 1917 nicht Politische denkbar ist, traten auch im politischen Leben des ausgehenden Zarenreichs ein. Veränderungen

6

/.

Darstellung

Sie lassen sich grob in Reformen der Staatsverwaltung und -Verfassung auf der einen Seite und neue Wege und Organisationen gesellschaftlicher Eigeninitiative unterteilen. Die Autokratie gab ersteren wichtige Impulse, als sie 1864 als Teil des großen Aufbruchs nach der Niederlage im Krimkrieg die zemstva ins Leben rief. Damit zog sie nicht nur, wie beabsichtigt, den Provinzadel zur Sanierung der chronisch ineffektiven Verwaltung heran, sondern schuf darüber hinaus trotz ihrer beharrlichen Weigerung, eine zentrale Versammlung von zemstvo-Vertretern zuzulassen, Kristallisationskerne und /Trainingsstätten' für allgemeingesellschaftlich-politisches Engagement. Größere Wirksamkeit als zumeist angenommen entfaltete auch die Justizreform von 1864. Über die Fixierung eines Instanzenzuges der Rechtsprechung hinaus begründete sie nach preußischem Vorbild einen unabhängigen Richterstand und die freie Advokatur. Deshalb ist der Vorschlag durchaus erwägenswert, die unbeschränkte Selbstherrschaft in Russland bereits mit diesem Datum zu Ende gehen zu lassen. Die gesellschaftliche Mobilisierung legte den Grundstein für die Herausbildung unterschiedlicher politischer Lager. Eine Wasserscheide markierte dabei der Hungerwinter von 1891/92. Er gab der Bereitschaft wacher Zeitgenossen zum öffentlichen Engagement einen enormen Schub, der nach der Jahrhundertwende in die förmliche Gründung von Parteien überging. Schon in den neunziger Jahren zeichnete sich dabei im Groben das Spektrum ab, das bis zum Oktoberumsturz Bestand hatte: eine liberale Strömung, die zunächst vom fortschrittlichen, zew?sri>o-erfahrenen Landadel, danach zunehmend auch von der Intelligenz getragen wurde; eine agrarsozialistische Strömung, die den Sturz der Monarchie mit Hilfe der Bauern als der großen Masse der Bevölkerung anstrebte, und eine marxistische Strömung, die auf das städtische Proletariat als Träger der Revolution und Wegbereiter einer sozialistischen Gesellschaft setzte. Die wichtigsten und bekanntesten Organisationen dieser Lager wurden die Partei der Konstitutionellen Demokraten (KD oder Kadetten), gegründet 1905, die Sozialrevolutionäre Partei Russlands (PSR), im Winter 1901/02 entstanden, und die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDRP), die faktisch 1903 ins Leben trat und sich sogleich in zwei, bald weitgehend selbstständige Fraktionen spaltete: die Menschewiki („Minderheitler"), geführt von Ju. O. Martov, und die Bolschewiki („Mehrheit") mit V. I. Lenin an der Spitze. Gegenüber der mittel- und westeuropäischen Parteienlandschaft, wie sie sich seit der Französischen Revolution herausgebildet hatte, war die russische gleichsam nach links verschoben: Konservativ-monarchistische und rechte Gruppierungen fehlten zunächst ganz, Parteien standen grundsätzlich in der Opposition. Einen nachhaltigen Schub, der aber ohne vorausgehende längere Mobilisierung Erste Russische der Gesellschaft kaum denkbar ist, erhielt der politische Wandel durch die sog. olution 1905/06 erste Russ;sche Revolution von 1905/06. Wie immer diese schwerste Krise der Autokratie vor dem Weltkrieg zu kennzeichnen sein mag, zumindest vier Ergebnisse prägten die verbleibenden Friedensjahre und gehören zu den not-

-

A. Revolution und Bürgerkrieg

wendigen Voraussetzungen

für die Umstürze des

Jahres

(1917-1921)

7

(1) Die zustimmen, die auch ihre Vollmachten begrenzte, aber sie behauptete sich. (2) Das ,Grundgesetz' vom „Selbstherrschaft"

musste zwar

einer Konstitution

1917.

Versprechen des Zaren vom 16. Oktober („Oktoeine bermanifest"), Volksvertretung zuzulassen. Auch wenn es dem Monarchen großzügige Rechte einschließlich der souveränen Ernennung der Minister beließ, veränderte es die praktizierte politische Verfassung grundlegend. Fortan wurde das Parlament (Duma) zum Brennpunkt der politischen Willensbildung. Parteien nun unter Einschluss monarchistisch-konservativer und rechtsradikaler im modernen Sinne eines extremen ,plebejischen' Nationalismus organisierten sich, die auch nach der willkürlichen Änderung des Wahlgesetzes durch die Monarchie am 3. Juni 1907 und der erneuten Unterdrückung revolutionärer Gruppierungen überwiegend weiter bestanden. Zugleich entfaltete sich ein Pressewesen, das erstmals im Zarenreich eine publizistische Öffentlichkeit als Forum politischer Meinungsbildung und als Kontrollinstanz von Entscheidungen begründete. (3) Die Arbeiter erkämpften durch den Generalstreik vom Oktober 1905 dank der Hilfe der liberalen Intelligenz die weitgehende Freiheit zur Gründung von Gewerkschaften, die ihre Aktivitäten seit 1907 zwar wieder in die Illegalität verlegen mussten, aber ebenfalls überlebten. (4) Die verheerenden Bauernunruhen vom Herbst 1905 veranlassten die Monarchie zu einschneidenden Agrarreformen. Die Maßnahmen Stolypins hatten jedoch keine Zeit mehr, durchgreifende Wirkungen zu entfalten. Ihr spürbarster unmittelbarer Effekt bestand darin, das Dorf zu beschäftigen und über den Krieg hinaus bis zum neuerlichen Zusammenbruch der staatlichen Autorität im Sommer 1917 ruhig zu stellen. Einen zentralen Platz in der Vorgeschichte der großen Umwälzung von 1917 (und der Debatte darüber) hat stets der Erste Weltkrieg eingenommen. Dass die zusätzliche Last dieses Konflikts vorhandene Defizite und Spannungen erheblich verschärfte, ist unbestritten. Die Lebensbedingungen vor allem der Mittel- und Unterschichten verschlechterten sich drastisch. Im dritten Kriegsjahr sank die Versorgung der Städte bis an die Hungergrenze. Arbeiter gingen zu Tausenden auf die Straße. Mit nur kurzer Unterbrechung nach dem August 1914, in der auch in Russland ein Burgfriede' zwischen allen ,Patrioten' herrschte, setzten sich die Massenstreiks fort, die im Frühjahr 1912 begonnen hatten. Unter erheblicher Ausweitung seit Herbst 1916 mündeten sie Ende Februar 1917 in jenen Aufruhr, der das alte Regime zur Abdankung zwang. Parallel dazu vollzog sich eine deutliche Machtverschiebung von der Monarchie und ihren Behörden zu den zemstva und Stadtverwaltungen einerseits und zur Duma andererseits. Das Ancien regime zeigte sich zunehmend weniger in der Lage, jene enorme Mobilisierung aller ökonomischen und personellen Ressourcen zu organisieren, die der Krieg erzwang. Faktisch dankte die alte Verwaltung ab und überließ die schwere Aufgabe den Organen der,Gesellschaft'. Davon profitierte auch das Parlament, da 26.

April

1906 erfüllte das

-

-

Erster Weltkrieg

8

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Darstellung

die Liberalen hier wie dort den Ton angaben. Im Bewusstsein seiner wachsenden Bedeutung erhob es erneut die Forderung nach einer „Regierung des gesellschaftlichen Vertrauens", beließ es aber bei verbalen Protesten, als der Zar sie wiederholt auflöste. Die Duma selbst legte keine Hand an die Monarchie, stand aber, wenn auch unwillig, als legitimiertes Repräsentativgremium der alten Ordnung für einen Transfer der höchsten Autorität im Staat bereit. Der Zar und seine Regierung blieben in diesen Jahren merkwürdig passiv. Sie hatten nach dem Krimkrieg die Initiative ergriffen und das Reich auf den Weg der Industrialisierung und Modernisierung nach westlichem Muster gebracht. Aber sie hatten dabei die Herrschaftsverfassung und Politik sorgsam ausgespart. Das Parlament, die Verfassung, die Zulassung von Parteien, Gewerkschaften und sonstiger beruflicher und sozialer Verbände sowie eine politisch diskutierende Öffentlichkeit wurden von der revolutionären Bewegung des Jahres 1905 gegen ihren Willen erzwungen. Nach der Niederschlagung des Protests hätte Nikolaus II. die Zusagen des Oktobermanifests am liebsten wieder kassiert. So weit konnte er jedoch nicht gehen. Es blieb bei der Wahlrechtsänderung vom 3. Juni 1907 und bei Verboten der revolutionären Parteien sowie der Gewerkschaften. So entfaltete sich auf dem Fundament der Verfassung eine völlig neue politische Ordnung, in der die Monarchie unterstützt vom umgestalteten Reichsrat zwar die entscheidende Kraft bildete, die aber zweifellos den Keim eines tatsächlichen Parlamentarismus in sich trug. Dass eine solche Transformation auch unter dem Druck des Krieges ausblieb, war nicht zuletzt dem Starrsinn des letzten Zaren anzulasten. Seine autokratische Gesinnung und inflexible Prinzipientreue standen selbst in den letzten Stunden der Monarchie jeder pragmatischen Konzession im Weg. Von selbst sollte sich schließlich verstehen, was in der jüngeren Forschung fraglos unterbelichtet blieb: dass der gesamte fundamentale Wandel im russischen Reich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht minder tiefgreifende geistigkulturelle Veränderungen auslöste und dadurch selbst zu einem erheblichen Teil .Verwestlichung' vorangetrieben wurde. Diese mentale ,Verwestlichung' äußerte sich in verschiedensten Bereichen, von der Verbreitung universitärer Bildung über die Professionalisierung neuer, meist akademischer Qualifikationen, das Ethos wissenschaftlicher Redlichkeit und Unabhängigkeit, ein neues marktorientiertkapitalistisches Geschäftsgebaren in modernen, als Aktiengesellschaften geführten Industrieunternehmen und Banken, die Entstehung eines Pressewesens mit modernem Journalismus bis hin zu Formen der Literatur, Architektur und anderen Künsten, die in besonderem Maße verrieten, wie sehr Russland zum integralen Bestandteil Europas geworden war. In kulturell-geistiger Hinsicht hatten vor allem die Hauptstädte zweifellos das längste Stück auf dem Weg zu -

einer Zivilgesellschaft

zurückgelegt.

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2. Das Februarregime

Was in der Rückschau als Februarrevolution in die Geschichte einging, begann am „Februarrevolution" 23. Februar 1917 (alten Stils, i.e. am 8. März neuen Stils) als eine weitere von

zahlreichen Arbeiterdemonstrationen. Ihre Besonderheit bestand höchstens, dem Anlass des Internationalen Frauentags entsprechend, im ungewöhnlich hohen Anteil weiblicher Teilnehmer. Auch die Ausweitung zum Generalstreik in den nächsten beiden Tagen und das Vordringen bis zum noblen Zentrum von St. Petersburg verlieh der Hungerrevolte noch keine wirklich neue Qualität. Erst als am 27. Februar auch die Soldaten überliefen, schlug die letzte Stunde des alten Staates. Den Aufständischen kam überdies zustatten, dass sich der Zar im Hauptquartier der Armee an der Südwestfront aufhielt. Ohne Schutz und Stütze sahen die Minister keinen anderen Ausweg, als am Abend des 27. zu demissionieren. Dieser Schritt zwang die Duma zum Handeln. Bemerkenswert unwillig erklärte sich ein Teil ihrer Mitglieder zum ,Provisorischen Komitee... zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung...'. Wenn es eine Revolution im staatsrechtlichen Sinn gab, dann ist sie in diesem Akt der Neubegründung von Legitimität zu sehen. Dabei verstanden die Abgeordneten das neue Regime als demokratisch, weil es in ihrer Gestalt nicht nur aus Wahlen (wenn auch weder aus gleichen noch aus allgemeinen) hervorgegangen war, sondern darüber hinaus nur provisorisch bis zur Einberufung einer Konstituierenden Versammlung bestehen sollte. Die Zurückhaltung der Parlamentarier hatte ihren Grund. Zumindest seit dem Ende der ersten Revolution konnte die Duma nicht mehr für die gesamte Bevölkerung sprechen. Der Liberalismus, dem sie überwiegend zuneigte, deckte auch die politischen Vorstellungen der wichtigsten Parteien und Akteure nicht mehr annähernd ab, von den sozialen nicht zu reden. Die Polarisierung, die sich daraus ergab, kam noch am selben 27. Februar konkret und wirkungsvoll in der Entstehung eines konkurrierenden Organs zum Ausdruck: des Provisorischen Exekutivkomitees des Arbeiterdeputiertenrates, mit dem seine Gründer auf ein erstes Gremium dieser Art und Bezeichnung vom Herbst 1905 zurückgriffen. Um Deputierte der Garnisonen erweitert, wurde der dann so genannte Petrograder Arbeiter- und Arbeiter- und Soldatenrat (Sowjet) zum zweiten Entscheidungszentrum der Soldatenrat „Doppelherrschaft" (P. N. Miljukov) zwischen Februar und Oktober 1917. Zunächst überließ der Sowjet die exekutive Macht der parlamentarischen Regierung allein. Gemäß der Auffassung seiner menschewistischen Mehrheit, dass die Revolution eine bürgerliche' sei, wollte er sich an ihr nicht beteiligen, sondern behielt sich lediglich eine Art Vetorecht vor. So konnte der Führer der Kadetten Pavel Miljukov am 2. März ein Kabinett vorstellen, dem unter dem Ministerpräsidenten G. E. L'vov neben ihm selbst elf weitere Mitglieder seiner Partei und zwei Mitglieder der konservativ-liberalen Oktobristen angehörten. Allerdings war der Sturz der Monarchie damit noch nicht vollendet. Der

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Schlüssel zum endgültigen Sieg lag bei der Armee. Als auch der Generalstabschef N. V. Alekseev und die Oberkommandierenden der Nord- und Südwestfront zu der Überzeugung kamen, dass Ruhe nur durch Anerkennung der neuen Regierung wiederherzustellen sei, hatte der Zar keine Wahl mehr. Am Morgen des 3. März verzichtete er für sich und seinen bluterkranken Sohn auf den Thron. Da sein Bruder die ihm angebotene Krone ebenfalls ablehnte, fand damit nicht nur die 300jährige Herrschaft der Romanovs ihr Ende, sondern auch die Monarchie. Aufgaben des neuen Die drängendsten Aufgaben des neuen Regimes lagen auf der Hand. Es hatte die Regimes politische Freiheit zu verankern, für die es stand, den Krieg zu beenden, die Wirtschaft zu stabilisieren und eine Landreform durchzuführen. Dabei stellte sich schnell heraus, dass die Demokratisierung am leichtesten zu bewerkstelligen war, sich zugleich aber als höchst ambivalent erwies. Schon Ende März war die politisch-soziale Verfassung Russlands nicht mehr wiederzuerkennen. Ständische Privilegien waren abgeschafft, gleiche Rechte für alle Bürger einschließlich der Rede-, Versammlungs-, Koalitions- und anderer liberaler Freiheiten verankert. Die Administration des Riesenreiches wurde den Stadtdumen und auf dem Lande den nach unten erweiterten zemstva übertragen. Dabei zeichnete sich aber von Anfang an ab, dass es der Regierung nicht gelingen würde, ihre Autorität auch durchzusetzen. Nationale Sezessionsbestrebungen taten ein Übriges; das Reich zerfiel. Die Demokratie erwies sich mehr und mehr als Anarchie. Dies war um so eher der Fall, als die Provisorische Regierung auch die anderen Aufgaben nicht zu lösen vermochte. Wenn man ihr letztliches Scheitern nicht ausschließlich den Bolschewiki anlasten will und diese Sicht wäre einseitig -, dann wird man in diesem Versagen die entscheidende Ursache sehen müssen. In der Haltung zum Krieg prallten die Gegensätze zuerst aufeinander. Der Sowjet teilte trotz einiger menschewistischer ,Vaterlandsverteidiger' in seiner großen Mehrheit die Friedenssehnsucht der Soldaten. Der Februarumsturz wirkte dabei als Katalysator: Nach dem Ende des Alten Regimes war den Bauern in Uniform noch weniger zu vermitteln, wofür sie kämpfen sollten. Hinzu kamen die Folgen des berühmten „Befehls Nr. 1", den Soldatendeputierte dem Sekretär des Exekutivkomitees noch in der Aufstandsnacht in die Feder diktiert haben sollen. Zwar korrigierte eine nachfolgende Order umgehend das Missverständnis, er habe die Offizierswahl durch die Regimenter verfügt. Dennoch litt die Disziplin. Die Soldaten verstanden den Text so, wie sie es wünschten: als Ende der alten Armee mit ihrer scharfen, ständischen Trennung zwischen Gemeinen und Offizieren sowie als Anfang des Friedens. Seit dem Frühjahr wurde, wenn auch zunächst noch zögernd, die ,selbstermächtigte' Demobilisierung zum Problem. Demgegenüber hielt die Regierung Zuverlässigkeit gegenüber den Alliierten für unerlässlich. Zum einen teilte sie die patriotisch-panslavistische Grundhaltung der Monarchie. So unterstützten die Oktobristen und manche Kadetten, darunter Außenminister Miljukov, sogar die expansionistischen Kriegsziele, die bis zur -

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den Händen des osmanischen aufrechten Liberalen unter ihnen waren die der Meinung, dass die Verbindung zu Großbritannien und Frankreich helfen könne, das demokratische Experiment zu stützen. Sie wussten nur allzu gut, dass dem Februarregime die Bewährung noch bevorstand. In diesem Geist akzeptierte Miljukov zwar den Wunsch des Sowjets nach einer Friedenserklärung an die Verbündeten, fügte ihr aber eine Versicherung der russischen Bündnistreue an und erhob Forderungen für die Verhandlungen, die leicht als Torpedierung des vom Sowjet verkündeten Annexionsverzichts zu deuten waren. So enthielt die Note des Außenministers vom 18. April (i.e. 1. Mai n.St.) zweifellos einigen Sprengstoff. Dieser richtete umso größeren Schaden an, als er auf die aufgewühlte Stimmung dieser Tage traf. Nicht zu Unrecht hat man gesagt, dass der Sowjet und ,seine' Demonstranten zeigten, wer die tatsächliche Macht ausübte. Miljukov musste zurücktreten und der Ministerpräsident den beiden sozialistischen Parteien, die den Sowjet beherrschten den Menschewiki und den Sozialrevolutionären eine förmliche Koalition anbieten. Die Verhandlungen führten am 5. Mai (a.St.) zur Bildung der ersten Koali- Erste tionsregierung. Zwar blieben die Liberalen stärkste Kraft und stellten in der Koalltlonsreglerung Person des hochangesehenen ehemaligen zejmfDO-Vorsitzenden L'vov auch weiterhin den Ministerpräsidenten. Dennoch markierte der Eintritt der prominentesten Politiker aus dem gemäßigten sozialistischen Lager, vor allem von M. I. Skobelev, I. G. Cereteli und V. M. Gernov, eine tiefe Zäsur: Fortan waren die Menschewiki und Sozialrevolutionäre für die Ergebnisse der Regierungsmaßnahmen (mit)verantwortlich. Sollte sich die aktive Masse der städtischen Bevölkerung von ihnen abwenden, konnte davon (weil eine Wiederherstellung der Monarchie ausschied) nur die einzig verbliebene Opposition, die radikale Linke, profitieren. Schicksalsfrage auch der neuen Regierung blieb der Krieg. Die Koalition glaubte, sie durch eine Doppelstrategie lösen zu können: den Krieg fortzusetzen, dabei aber die Friedensbemühungen zu verstärken. Freilich zeigte sich sehr schnell, dass sie die Rechnung in zweifacher Hinsicht ohne den Wirt gemacht hatte. Zum einen drängte die Allianz, besonders Frankreich, zu einem neuen Angriff, der die Westfront entlasten und die Wende des gesamten Krieges einleiten sollte. Zum anderen zeigte sich, dass die eigene Armee nicht mehr zu motivieren war. Trotz des unleugbaren agitatorischen Talents und des Einsatzes des neuen Kriegsministers A. F. Kerenskij scheiterte die nach ihm benannte Offensive vom Offensive vom 18. Juni (1. Juli n. St.) 1917 auf der ganzen Linie. Auch die fatale 18'Juni 1917

Eroberung

von

Cargrad' (Konstantinopel)

aus

Erbfeindes reichten. Zum anderen

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Wiedereinführung der Todesstrafe konnte das Blatt nicht wenden. Die Operation musste abgebrochen werden. Nicht genug damit, provozierte sie außerdem einen Gegenstoß der deutschen Armee, dem die russische Armee nicht gewachsen war. Fortan wurde Desertion zur Massenerscheinung.

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folgte das politische. Auch in den anderen Kernfragen Regierung keine glücklichere Hand. Die Agrarreform kam über die Einrichtung von Landkomitees im April nicht hinaus. Wohl gab sich Cernov alle Mühe, einen kompromissfähigen Gesetzentwurf vorzulegen. Die zunehmend Dem militärischen Debakel

Agrarreform

Arbeiter

hatte die

konservativen Liberalen vermochten aber nicht, über den Schatten der Enteignung zu springen. Als Cernov Ende August aufgab, war an eine „Umverteilung", die den Landhunger der Bauern auch nur im Entferntesten hätte stillen können, nicht mehr zu denken. Die Vertagung auf die Konstituierende Versammlung, der die Entscheidung über ein so zentrales Problem überlassen bleiben sollte, spendete den Betroffenen wenig Trost. Für sie war aufgeschoben gleich aufgehoben. So koppelte sich das Dorf weitestgehend von den Städten ab und führte, unautorisiert, seine eigene Revolution so durch, wie die Bauern sie verstanden: als Verjagung der Grundbesitzer und Übernahme ihres Landes sowie der Regelung aller sonstigen Belange durch die althergebrachte bäuerliche Selbstverwaltung in der obsäna (s. u. B.3). Anders als den Bauern brachte der Sturz der Monarchie den Arbeitern tatsächlich die Erfüllung dessen, was zumindest die Parteien, die sie zu repräsentieren beanspruchten, am nachdrücklichsten gefordert hatten: unbeschränkte Organisationsfreiheit, betriebliche Mitsprache und den Übergang zum Achtstundentag. Neben die Gewerkschaften traten nun, als Ausdruck direkter Demokratie und besondere Errungenschaft dieser Revolution, die Fabrikräte (oder -komitees). Gestützt auf den Petrograder Gesamt-Sowjet setzten sie in den ersten Monaten des neuen Regimes darüber hinaus gemeinsam erhebliche Lohnerhöhungen durch, die den gleichzeitigen Preisauftrieb im Durchschnitt übertrafen. Für die Arbeiter zahlte sich der Fall des alten Regimes, der vor allem ihr Werk war, zunächst aus. Ab etwa Juni wendete sich das Blatt jedoch. Schon die Monarchie war nicht zuletzt an der Wirtschafts- und Versorgungskrise zerbrochen, die sich im dritten Kriegsjahr dramatisch zugespitzt hatte. Die Revolution verbesserte die Lage nicht, sondern drängte sie höchstens für einige Monate aus dem Bewusstsein. Danach wurde die Krise zur Katastrophe. Immer mehr Betriebe mussten schließen, immer mehr Beschäftigte verloren Arbeit und Einkommen. Sie reagierten auf dreifache Weise. Zum einen gingen sie auf die Straße. Nach relativer Ruhe im März und April stieg die Zahl der Streikenden im Mai und Juni wieder an; zwischen Juli und August lag sie, mit einem Höhepunkt im September, über 400 000 pro Monat. Zum zweiten verstärkten die Fabrikkomitees ihren Anspruch auf Kontrolle. Diese Bewegung erreichte ebenfalls im Spätsommer ihren Höhepunkt, als eine nennenswerte Anzahl von Betrieben völlig in die Hände der Beschäftigten überging. Beides zeigt an, dass hier zumindest nicht nur „Klassenbewusstsein" und Ideologie im übrigen oft eher eine syndikalistisch-anarchistische als eine marxistische am Werk waren, sondern in gleichem Maße schiere Not und Ausweglosigkeit. Beide nährten auch die dritte Antwort auf die Krise. Immer -

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deutlicher wurde, was schon seit dem Umsturz sichtbar war und in der strukturell überflüssigen Parallelität von Gewerkschaften und Gesamtsowjet auf der einen Seite sowie den Fabrikkomitees auf der anderen Seite zum Ausdruck kam: die Kluft zwischen Führung und Masse. Den moderaten .Arbeiterführern', seit Mai zudem eingebunden in die Koalition, stand eine zunehmend radikale Basis gegenüber. Politisch bedeutete dies die Verlagerung ihrer Sympathien von den Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Bolschewiki. Dieser, wie sich zeigen sollte, historisch äußerst bedeutsame Vorgang begann Radikalisierung der Ende August. Noch Anfang Juli war der Versuch der Bolschewiki, eine Arbei- Arbeiterschaft terdemonstration zu einem Umsturzversuch zu nutzen, gescheitert. Die Regierung hatte bolschewistische Zeitungen verboten; Lenin musste nach Finnland fliehen. Die Lage änderte sich nach dem konservativen Putschversuch des Generals L. G. Kornilov schlagartig. Was genau geschah, ist bis heute unbekannt. Sympathisierende Historiker suggerieren eine Kette verhängnisvoller Missverständnisse zwischen dem Ministerpräsidenten Kerenskij (seit dem 8. Juli) und dem von ihm ernannten neuen Oberbefehlshaber. Andere gehen von einem tatsächlichen Versuch Kornilovs aus, angespornt von Ovationen während der Moskauer Staatsberatung am 12.-15. August, eine Militärdiktatur zu errichten. Unumstritten sind dagegen die Folgen des Ereignisses: Kornilov musste unverrichteter Dinge vor Petrograd kehrtmachen und die Provisorische Regierung mit ansehen, dass sie im Wesentlichen von den bolschewistischen Roten Garden verteidigt wurde. Lenins Partei musste wieder zugelassen, einige ihrer Führer, darunter L. D. Trotzki, auf freien Fuß gesetzt werden. Die „revolutionäre Demokratie" erlitt einen Autoritätsverlust, von dem sie sich nicht mehr erholte. Allerdings kam damit nur zum Ausbruch, was seit dem Frühsommer immer deutlicher wurde: dass das Land in einer wirtschaftlichen Katastrophe zu versinken drohte und sich in seine nationalen Bestandteile auflöste. Die liberalsozialistische Koalitionsregierung, Mitte Juli und Ende September unter großen Mühen erneut gebildet, war am Ende. Was kam, machten die Wahlen zum Petrograder Stadtsowjet vom 20. August deutlich: Die Bolschewiki erhöhten ihren Stimmenanteil von 13% auf 31,4%. Einen noch größeren Erdrutsch brachten die Wahlen zu den Moskauer Stadtbezirksräten am 24. September (von 11,5% auf 50,9%). Dem Sieg folgte die Krönung, als der Bolschewik Trotzki am 25. September den Menschewiken Gchejdze im Vorsitz des Petrograder Sowjets -

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ablöste.

3. Vom Oktoberumsturz

zum

Bürgerkrieg

Über die Bewertung von Lenins Handeln und Denken kann

man streiten, über nicht. nach Am einen seiner 4. Rückkehr im Tag Bedeutung April, durch hatte seine abder Parteiführer Deutschland, Waggon plombierten

deren

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wartenden Genossen mit der Botschaft zutiefst verstört, dass man der „kapitalistischen" Regierung nicht wie es der Theorie von der „bürgerlichen Revolution" entsprach die Stange halten dürfe; vielmehr müsse man sie rücksichtslos bekämpfen und so bald wie möglich stürzen, um den Übergang zur „sozialistischen Revolution" einzuleiten („Aprilthesen"). Fünf Monate später entschied Lenin erneut selbstherrlich, was die Stunde geschlagen hatte, und trieb seine Mitstreiter erstmals in Briefen vom 15. September mit allen ihm im Exil zu Gebote stehenden Mitteln an, den Aufstand auf die Tagesordnung zu setzen. Am 10. Oktober hatte er sein Ziel erreicht: In seiner Anwesenheit beschloss das oberste Parteigremium, das Februarregime zu stürzen. Als Tarnung nutzten die wichtigsten Strategen dieser Tage, allen voran Trotzki, das „Revolutionär-Militärische Komitee" (VRK), das der Sowjet selbst am Vortag ins Leben gerufen hatte, um Petrograd vor den bedrohlich naherückenden deutschen Truppen zu schützen. Dank seines Namens gelang es ihnen zwischen dem 21. und 23. Oktober, die städtischen Garnisonen auf sich zu verpflichten. Als die Regierung am 24. befahl, das VRK zu verhaften, war der Umsturz faktisch schon vollzogen. ,Sichtbar' fand dieser Putsch allerdings erst am 25. Oktober (7. November n.St.) statt> ,ragj an dem der mehrfach verschobene Zweite Allrussische Kongress der Sowjetdeputierten endlich zusammentreten sollte. In den frühen Morgenstunden besetzten bolschewistische Garnisonsregimenter und Rote Garden unter Führung des VRK die strategisch wichtigen Einrichtungen und Plätze der Stadt. Danach begann die Belagerung des Winterpalasts, in dem sich die Provisorische Regierung versammelt hatte. Um deren Kapitulation abzuwarten und die Delegierten aus ganz Russland mit dem unschätzbaren Vorteil des fait accompli konfrontieren zu können, ließ Lenin die Eröffnung des Kongresses immer wieder hinausschieben. Als dies am frühen Nachmittag nicht mehr möglich schien, verkündete Trotzki als Vorsitzender abermals das Ende einer Ära der russischen Geschichte. „Alle Macht", so die offizielle Sprachregelung, gehöre nun „dem Sowjet". Lenin, der sich erstmals wieder in der Öffentlichkeit zeigte und stürmischen Applaus erhielt, wurde noch deutlicher: Im Namen des Sozialismus habe die ,dritte russische Revolution' stattgefunden. Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki sahen dies naturgemäß anders. Sie bezichtigten die Bolschewiki zu Recht des verräterischen Komplotts und forderten sie zur Wiedereinsetzung der alten Regierung auf. Allerdings taten sie ihnen, die mit ca. 300 von 670 Delegierten keine ausreichende Mehrheit im Sowjet hatten, zugleich den Gefallen, den Saal aus Protest zu verlassen. Mit Hilfe der -

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Bolschewistischer Umsturz

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Linken Sozialrevolutionäre bildeten die Bolschewiki nun ein neues Präsidium und eine neue, bolschewistische Regierung, die sich auch einen neuen, den bean„Rat der Volks- spruchten Systemwechsel verdeutlichenden Namen gab. Die Welt sah den ersten kommissare fer Volkskommissare" (SNK). Bereits am Morgen des nächsten Tages (dem 26. Oktober) verabschiedeten die bolschewistischen Sowjetdelegierten und ihre links-sozialrevolutionären Partner auch zwei Dekrete, die ihnen die Loyalität der

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Bevölkerungsmehrheit außerhalb der Städte sicherten: die Selbstverpflichtung zum sofortigen Kriegsende „ohne Annexionen und Kontributionen" (Dekret über den Frieden) und die Anerkennung der bereits vollzogenen „Schwarzen Umverteilung" auf dem Dorf (Dekret über den Grund und Boden). Zusammen mit dem Versprechen, die „Arbeiterkontrolle" in den Fabriken einzuführen (im Gründungsmanifest des neuen Regimes), symbolisierten diese Gesetze die Essenz des bolschewistischen Umsturzes. Zugleich markierten sie seinen Abschluss. Auch die neue Sowjetregierung amtierte, sogar in einem doppelten Sinne, nur provisorisch. Zum einen saß sie alles andere als fest im Sattel. Die Gegner hatten sich nur zurückgezogen, nicht aufgegeben. Bezeichnenderweise ging dabei von der abgesetzten Regierung am wenigsten Gefahr aus. Zwar kehrte Kerenskij nicht

mit leeren Händen vom nahe gelegenen Oberkommando der Nordfront in Pskov zurück, wo er um Hilfe gebeten hatte. Aber die Verbände erwiesen sich als schwach und mussten am 30. Oktober vor Petrograd kapitulieren. Bedrohlicher war die Warnung vor einem Generalstreik durch den menschewistisch-sozialrevolutionär beherrschten Eisenbahnerbund. Auch hier fehlten indes Politiker, die aus der Not der Bolschewiki hätten Kapital schlagen können. Erst als die Linken Sozialrevolutionäre, ermuntert durch einen außerordentlichen allrussischen Kongress der Bauerndeputierten, Mitte November förmlich in die Regierung eintraten, war das Risiko, keine Mehrheit hinter sich zu haben, gebannt. Was blieb, war das Menetekel der Konstituierenden Versammlung. Auch die Konstituierende Bolschewiki mussten sie anerkennen und ihre Macht unter den Vorbehalt der Versammlung Bestätigung stellen. Tatsächlich aber lag längst auf der Hand, dass über die Zukunft Russlands alternativ zu entscheiden war: entweder für eine Demokratie nach westlichem Muster mit der Wahrscheinlichkeit einer ihr entsprechenden Sozialund Wirtschaftsstruktur oder für eine Räteverfassung und ein sozialistisches Experiment in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Mit dem Oktoberumsturz war der zweite Weg betreten worden. Insofern standen die Zeichen für den Gründungskongress der entgegengesetzten Option nicht günstig. Die Wahlen begannen am 12. November. Über das Ergebnis herrscht im Detail immer noch keine Klarheit. Die wesentlichen Ergebnisse aber sind unbestritten: Von 48,4 Mio. [541: Protasov, Ucreditel'noe sobranie, Anhang] insgesamt abgegebenen Stimmen vereinigten die Sozialrevolutionäre mit 19,1 Mio. knapp 40% auf sich; zusätzlich dürfte ihnen noch ein (nicht näher bestimmbarer) Teil der 7 Mio. (14,5%) Voten für unspezifische „Sozialisten" zuzuschlagen sein. Die Bolschewiki erhielten weniger als ein Viertel (10,9 Mio.), die Kadetten k eine 5% (2,2 Mio.), die Menschewiki gut 3% (1,5 Mio.) und die übrigen Parteien noch weniger. Allem Anschein nach gab dieses Resultat den Wählerwillen korrekt wieder. Dass der PSR viele Stimmen zugute kamen, die eigentlich der Linken galten, lässt sich nicht plausibel belegen. Somit war das allzu lange aufgeschobene Plebiszit auf der einen Seite eindeutig: Die große Mehrheit der Bevölkerung unterstützte die alten Sowjetparteien. Auf der anderen Seite zeigt seine re-

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gionale und Hauptstädte aussprachen.

soziale Aufschlüsselung, dass sich die Städte allen voran die sowie die Soldaten und Arbeiter klar zugunsten der Bolschewiki Keine Rolle dagegen spielten, auch in ihren Hochburgen, die Liberalen und die Menschewiki. So stand die Konstituierende Versammlung unter keinem guten Stern, als ihre 767

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Delegierten (davon

347

Sozialrevolutionäre)

am

5. Januar 1918

zusam-

Gleich zu Beginn machte ein Redner der Bolschewiki klar, dass die Räteverfassung nicht zur Disposition stehe. Seine Worte kamen inhaltlich schon der Auflösung gleich, die am Ende der ersten Sitzung im Morgengrauen des 6. Januar vollzogen wurde. Hinter den Abgeordneten verschlossen Rote Garden die Türen für immer. Aber nicht nur dies versetzte der Demokratie in Russland für gut siebzig Jahre den Todesstoß. Verheerender noch war, dass sich kaum Protest erhob. Die Konstituante, Herzstück der Revolution von 1905 und vom Februar 1917, blieb ohne Verteidiger. Umso leichter fiel es dem neuen Regime, seine Staatsform zu verankern. Wenige Tage nach dem Gründungsparlament trat der Dritte Allrussische Sowjetkongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten zuunter Vorsammen, der Russland endgültig zur Sowjetrepublik erklärte und der ihrer 10. förmlichen vom die Grundstrukturen Juni Verfassung wegnahme mentraten.

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Friedensschluss

politischen Ordnung festlegte. Vor allem außerhalb der großen Städte aber blieb der Krieg die Schlüsselfrage des Alltags. Vom tosenden Beifall zum Friedensdekret nachdrücklich an die Dringlichkeit gemahnt, begannen die Bolschewiki mit großer Eile, die Möglichkeit einer Verständigung mit den Kriegsgegnern zu sondieren. Der Weg zu offiziellen Verhandlungen in Brest-Litovsk wurde frei, als Aufständische auch das Hauptquartier der Armee an der Südwestfront eroberten. Zugleich wurde das Fundament für eigene Forderungen immer schwächer. Als die neue Regierung am 16. Dezember 1917 den alten syndikalistischen Wunsch nach der Übergabe der Befehlsgewalt an Soldatenräte und nach freier Kommandeurswahl erfüllte, brach die Kampffähigkeit der Truppen endgültig zusammen. Verteidigungskommissar Trotzki mochte die Gespräche abbrechen und den „deutsch-österreichischen Imperialismus" Ende Januar 1918 in berühmt gewordenen Worten vor der Weltöffentlichkeit anprangern, die deutsche Generalität ließ sich davon nicht beeindrucken und marschierte weiter. So musste das Oktoberregime am 3. (18.) März 1918 im Vertrag von Brest-Litovsk einen ganz anderen Frieden als den gewünschten akzeptieren: die faktische Kapitulation unter Verzicht auf die lebenswichtige Ukraine. Ob Gewinn und Verlust dabei in angemessenem Verhältnis standen, muss offen bleiben. Lenin erhielt die äußere Ruhe, die ihm unerlässlich schien, um freie Hand im Innern zu haben. Aber er zahlte einen hohen Preis. Im eigenen ZK setzte er sich angeführt von Nikolaj gegen vier Stimmen der „Linken Kommunisten" Bucharin nur durch, weil sich Trotzki und seine Anhänger enthielten. Vor allem aber nahmen die Linken Sozialrevolutionäre den Separatfrieden zum An-

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lass, um aus der Koalition auszutreten. Mehr noch, im Namen sowohl der „Weltrevolution", die am Ende des Krieges stehen sollte, als auch der Bauern, denen das knappe Getreide immer häufiger gewaltsam genommen wurde, begannen sie im Frühsommer mit dem spektakulären ersten Höhepunkt des den beAttentats auf den deutschen Botschafter Graf Mirbach am 6. Juli -

waffneten Kampf gegen die Verbündeten von gestern. Was nun seinen Lauf nahm, gehörte zum Oktober wie der Fluch zur bösen Tat: Der Bürgerkrieg holte die Konfrontation nach, die unmittelbar nach dem Umsturz Bürgerkrieg ausgeblieben war. In diesem unübersichtlichen Geschehen, das sich bis zum Frühjahr 1921 hinzog, lassen sich grob drei Phasen und zwei Hauptaspekte, das militärische Geschehen und die innere Entwicklung, unterscheiden. Die erste Phase dauerte ungefähr bis Ende 1918 und hatte ihr regionales Zentrum an der mittleren Wolga. In vieler Hinsicht war sie noch überwiegend politisch orientiert. Dies hatte vor allem damit zu tun, dass sich viele der ausgesperrten Delegierten der Konstituierenden Versammlung in Samara einfanden, um hier, im Herzen der russischen Provinz, ihre Bataillone zu ordnen und den Sturz der neuen Machthaber vorzubereiten. Den Ton gaben dabei die Sozialrevolutionäre an. Andere Parteien, vor allem die Liberalen, hielten sich fern. Es bedurfte erst der,Nachhilfe' Englands und Frankreichs, die im August 1918 in den russischen Bürgerkrieg eingriffen, um die im Folgemonat in Ufa tagende Allrussische Staatskonferenz zur Bildung eines von allen wichtigen politischen und militärischen Kräften getragenen Direktoriums unter dem Vorsitz von Admiral Kolcak zu bewegen. Die Zusammenkunft feierte ihren Erfolg allerdings zu früh. Noch während sie tagte, befreite sich die Rote Armee unter der ebenso brutalen wie fähigen Führung Trotzkis aus der Defensive, in die sie geraten war, und eroberte die Mittelwolga zurück. Als Samara am 7. Oktober fiel, hatte sich das Kriegsglück wie sich zeigen sollte, dauerhaft gewendet. Die zweite Kriegsphase, das Jahr 1919, war die entscheidende. An drei Fronten griffen die „weißen" Truppen an. Von Osten rückte Kolcak wieder in das Wolgabecken ein. Allerdings konnte er einer Gegenoffensive der Roten Armee nicht standhalten, die seine Verbände an der Transsibirischen Eisenbahnlinie entlang bis Irkutsk verfolgte und aufrieb. Vom Gebiet der Donkosaken im Süden ging sicher die größte Gefahr für das bolschewistische Regime aus. Hierher waren schon die Kadettenführer unmittelbar nach dem Umsturz geflohen. Hierhin zogen sich die Generäle nach dem Fall ihres Hauptquartiers zurück. Und hier entstand die größte antirevolutionäre Streitmacht aus Kosaken, den einstigen Elitesoldaten des Zaren, und Freiwilligen. Sie vermochte im Spätsommer auf direktem Wege durch die Ukraine auch am weitesten nach Zentralrussland vorzustoßen. Hinter Orel zeigte sich aber, dass ihr Oberbefehlshaber Denikin den Flankenschutz sträflich vernachlässigt hatte, so dass er überstürzt umkehren musste. Im Norden schließlich reichte die Truppenstärke nie aus, um einen ernsthaften Vorstoß auf die Hauptstadt zu wagen. -

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Die dritte Kriegsphase des Jahres 1920 glich größtenteils einem Siegeszug der Bolschewiki. Die Rote Armee rückte bis ans Schwarze Meer vor, eroberte den Kaukasus und schickte sich an, Mittelasien zu überrollen. Im Westen musste sie im Grenzkonflikt mit Polen nach überraschenden Anfangserfolgen im August zwar eine schwere Niederlage hinnehmen („Wunder an der Weichsel"). Aber der Verlust von Teilen Weißrusslands und der Ukraine an die ,wiedergeborene' polnische Republik wog weniger schwer als die Gewinne an der süd- und südöstlichen Peripherie. Hier zahlte sich auch die Nationalitätenpolitik Lenins aus, die den nichtrussischen Völkern des einstigen Imperiums temporär glaubhaft eine gleichberechtigte Kooperation anbot und zum Abschluss entsprechender Verträge führte. Wenngleich die Präsenz der Armee dem bolschewistischen Ansinnen Nachdruck verlieh, sorgte Lenin dafür, dass auch die Verfassung der offiziell 1924 neu begründeten UdSSR von diesem Grundgedanken ausging. Daher lief das territoriale Ergebnis des Bürgerkriegs im Wesentlichen auf eines hinaus: die Wiedereinsammlung der imperialen Erde' unter sowjetischer Flagge mit Ausnahme Polens, Finnlands und der seit 1920 selbstständigen baltischen

Republiken.

Die Frage, worauf der Erfolg der Bolschewiki zurückzuführen sei, ist in jüngster 2eit wieder in die Diskussion geraten. Mehrere Ursachen bieten sich an. Der schnelle Aufbau der Roten Armee (offiziell am 15. Januar 1918 gegründet) bildete zweifellos die Grundlage des Erfolges. Dabei spielte nicht nur deren zahlenmäßiges Wachstum eine Rolle (auf 1,5 Mio. Mann im Mai 1919 und 5 Mio. 1920), sondern auch die Anwerbung ehemaliger Offiziere der zarischen Armee. Sie brachten neben erstaunlich vielen eigenen Talenten wie Budennyj, Tuchacevskij oder Frunze das unentbehrliche militärstrategische Wissen mit. Die demographischen, geographisch-klimatischen und wirtschaftsstrukturellen Verhältnisse begünstigten die Bolschewiki. Der Umsturz fand im Zentrum des Riesenreiches statt. Die neuen Machthaber konnten auf die Ressourcen der Hauptstädte und des Großraums um Moskau zurückgreifen, während sich ihre Gegner von der dünn besiedelten und wirtschaftlich unterentwickelten süd- und südwestlichen Peripherie her (unter weitgehender Ausklammerung der Ukraine) in den Kern des Reiches vorkämpfen mussten. Dem Sowjetregime halfen die Fehler und die Uneinigkeit seiner Gegner. Zunächst war vor allem der Graben zwischen Sozialrevolutionären und Liberalen nicht zu überbrücken, danach die Kluft zwischen demokratischen Zivilisten (einschließlich linker Kadetten) und den Generälen. In dem Maße wie sich die Auseinandersetzung auf das Militärische verengte, gerieten die Weißen in den Ruf, für die Restauration zu stehen. Ins zarische „Völkergefängnis" unter die Herrschaft von Grundbesitzern und Beamten aber wollte kaum jemand zurück. Allerdings ist heute deutlicher zu erkennen als vor einigen Jahrzehnten, dass daneben ein weiterer, sicher wesentlicher in welchem Maße, bleibt umstritten Bolschewistische Gewaltherrschaft Faktor wirksam war: die schiere Gewalt. Sie richtete sich über kurz oder lang mit

Ursachen für den Sieg der Bolschewiki

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kaum abgestufter Intensität gegen alle nichtbolschewistischen Akteure. Früh wurden die anderen politischen Kräfte ausgeschaltet, schon Ende November 1917 die Kadetten, seit Beginn des eigentlichen Bürgerkrieges im Frühsommer 1918 die Sozialrevolutionäre spätestens seit dem Mirbach-Attentat unter Einschluss der Linken und die Menschewiki. Konservativ-monarchistische Kräfte sammelten sich um die „weißen" Generäle und gehörten zum innersten Kern der „Konterrevolution". Dasselbe Schicksal ereilte unmittelbar oder in den ersten Monaten nach dem Oktoberumsturz ,kryptopolitische' oder politisierbare Organisationen wie Berufs- und Interessenverbände oder formelle Gewerkschaften. Darüber hinaus ging das neue Regime aber mit zunehmender Heftigkeit auch gegen soziale Gruppen vor, die eigentlich zu seinen Verbündeten zählten. Erstes Opfer wurden die Bauern. Da sich die Versorgungskrise weiter zuspitzte, erklärten die Bolschewiki im Mai 1918 alles Getreide zum Staatsmonopol. Zugleich ergriffen sie anders als die Provisorische Regierung, die im Vorjahr ein ähnliches Dekret erlassen hatte Maßnahmen, um es auch durchzusetzen. Dazu dienten zum einen sog. Komitees der Dorfarmut, die den Klassenkampf auch in die Provinz tragen und die (mit den städtischen Proletariern' gleichgesetzten) Tagelöhner und armen Bauern gegen die ,Kulaken' aufhetzen sollten. Zum anderen setzte man, als dies nichts fruchtete, weil sich die Dorfgesellschaft unerwartet solidarisch verhielt, verstärkt bewaffnete Verbände ein, um Getreidebesitzern gleich welcher ,Klasse' das letzte Korn abzupressen. Im Januar 1919 folgte eine weitere Verschärfung, als auf der Grundlage ungefährer Schätzungen bestimmte Ablieferungsquoten (prodrazverstka) festgesetzt wurden. Zwangsabgabe und -requisition wurden zu Synonymen bolschewistischer Agrarpolitik im Bürger-

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krieg.

grundsätzlich besser erging es den Arbeitern. Sie mussten die bittere Erfahrung machen, dass sich die Unterstützung der Bolschewiki während der Oktobertage nicht auszahlte. Anders als die demokratischen Politiker des Februar zeigten die neuen Regenten umgehend, dass sie keine konkurrierenden Machtzentren duldeten. Sie legten die Fabrikkomitees an die Kandare, schalteten die Gewerkschaften gleich und machten ihrer vorgeblichen Klientel unmissverständlich klar, wie sie die „Sowjetmacht" verstanden: als ihre Entscheidung an der Stelle der Arbeiter. Diese präsentierten ihnen die Quittung, als sie den Menschewiki und Sozialrevolutionären bei den Wahlen zu den Stadtsowjets im Frühjahr 1918 zu einer bemerkenswerten Renaissance verhalfen. Das Verbot der Nicht

sozialistischen Rivalen sowie die Zerstreuung des proletariats' über die Dörfer, wo es immer noch mehr zu essen gab als in den Städten, entzogen dieser Form der Unmutsbekundung den Boden. Aber der Protest schwelte weiter und machte sich vor allem im Frühjahr 1921 in einer Welle von Streiks Luft. Nicht zuletzt dieses nachdrückliche Misstrauensvotum von Seiten seiner vorgeblichen ,Titularklasse' brachte das Sowjetregime zu der Einsicht, dass eine Kehrtwende geboten war, wenn es überleben wollte.

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Schließlich hatte der Bürgerkrieg auch tiefgreifende Folgen für Struktur und Charakter des Regimes selbst. Ob der Zwang zur Mobilisierung aller Kräfte dabei nur Dispositionen zum Vorschein brachte, die ohnehin angelegt waren, oder die Entfaltung von Freiheitspotentialen, wie begrenzt sie immer sein mochten, im Keim erstickt hat, erscheint dabei als zweitrangige, wenn auch heftig umstrittene Frage. Entscheidend war das Ergebnis: die Herausbildung des Einparteienstaates ohne demokratische Partizipation der Bevölkerung und ohne unabhängige jurisdiktionelle Kontrolle. Vor allem drei Entwicklungen schufen das Gerüst einer politischen und sozioökonomischen Verfassung, die in vielen Elementen tiefgreifend nur noch durch die Wende von 1929 verändert bis zur Perestrojka Bestand hatte. Zum einen trieb das neue Regime gemäß seinem sozialistischen Programm frühzeitig und machtvoll die Nationalisierung der Industrie voran. Bereits im Dezember der Nationalisierung Industrie jgj7 wurcle als Leitungsgremium der Oberste Volkswirtschaftsrat gegründet, der faktisch zum ausführenden Organ des entsprechenden Regierungsressorts wurde. Damit begann die Lenkung der Wirtschaft durch den Staat. Kennzeichen der Veränderung während des Bürgerkrieges war dabei vor allem die weitere Stärkung der Hierarchie. Zugleich fanden in wachsendem Maße „Spezialisten" aus der Zarenzeit Verwendung. „Einmannleitung" ersetzte die ursprüngliche Idee kollektiver Führung in Gestalt der Räte, und fachliche Qualifikation überstieg in ihrer Wertigkeit bloße ideologische Konformität. Zum anderen veränderte die Partei ihren Charakter grundlegend. Schon durch Partei den Oktoberumsturz, erst recht nach dem endgültigen Verbot ihrer Konkurrenz mit Beginn des Bürgerkriegs, avancierte sie zum wichtigsten, überwiegend sogar exklusiven Reservoir für die Rekrutierung fast aller Führungskader. Deshalb schlug sich der Charakterwandel auch in einem starken quantitativen Wachstum von ca. 200 000 Mitgliedern im August 1917 auf ca. 730 000 im März 1921 nieder. Wer schnell aufsteigen wollte, musste fortan der Partei angehören. Bolschewiki besetzten die Regierungsämter und sonstigen strategischen' Positionen in Staat, Militär, Wirtschaft und Gesellschaft. Drittens schließlich wurde der Bürgerkrieg zur hohen Zeit der außerorAußerordentliche Organe derltlichen Organe. Vor allem in der Wirtschaft und Staatsverwaltung zog der Zwang zur Mobilisierung auch der letzten Ressourcen die Konzentration der Befugnisse in einer Person oder in kleinen Gremien mit umfassenden, ressortüberschreitenden Vollmachten nach sich. Zur typischen Erscheinung wurde der Kommissar für besondere Aufgaben. Da die regulären Organe, die er ersetzte, zumeist kollegiale waren, verschwanden auch die Formen ihr Inhalt hatte sich ohnehin nie entfalten können für Entscheidungsteilhabe ,von unten'. Symptomatisch dafür war der Bedeutungsverlust des Allrussischen Sowjets, der zu einer ausschließlich bolschewistischen Veranstaltung wurde. Da Opposition in der Partei ebenfalls kaum mehr möglich war, wie (nach den Linken Kommunisten) 1919 auch die „Demokratischen Zentralisten" um N. Osinskij erfahren -

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förderte der Bürgerkrieg eine Staatsorganisation, die einer kollektiven Diktatur mit Lenin an der Spitze sehr nahe kam. Hinzu kam die Existenz einer Organisation, die zum Inbegriff sowohl für die extralegalen Sondergewalten während des Bürgerkriegs als auch für den Unrechtscharakter des Regimes insgesamt wurde: die Tscheka (korrekt: VCK). Bereits Anfang Dezember 1917 gegründet, erhielt sie spätestens nach dem Attentat auf Lenin durch das Dekret über den „roten Terror" vom 5. September 1918 freie Hand für unkontrollierte Verhaftungen und Erschießungen. Im Januar 1919 standen etwa 37000, im Spätsommer 1921 gut 137000 Mann in ihren Diensten. Die sachkundigste Schätzung hält für den gesamten Zeitraum ihrer Existenz bis zum Februar 1922 260 000 Opfer, sowohl durch Exekutionen Einzelner als auch durch kollektive Niederschlagung von Ungehorsam verursacht, für wahrscheinlich [589: Leggett, Cheka, 100, 233, 457]. Auch angesichts dieser terroristischen Entartung wuchs der Widerstand. Die Bauern erhoben sich gegen den Getreideraub und unzählige Grausamkeiten. Neue Quellenfunde belegen, dass ihr Protest weit mehr Regionen erfasste als die sonst zumeist genannten nordukrainischen Schwarzerdgouvernements. Als sich im Februar 1921 auch noch die Vorkämpfer der Revolution' aus den Oktobertagen, die Matrosen von Kronstadt, erhoben und eine echte Rätedemokratie anstelle bolschewistischer Parteidiktatur forderten, ließ Lenin ihren Aufstand zwar gnadenlos und blutig niederschlagen. Zugleich erkannte er aber die symptomatische Bedeutung dieser Aktion und die Gefährlichkeit der Lage. Auf seinen Vorschlag hin beschloss der 10. Parteitag der KPR (B) im März 1921 den Verzicht auf Requisitionen und ihren Ersatz durch eine Naturalsteuer. Mit diesem Signal der Umkehr ging ein dreijähriger innerer Krieg zu Ende, der 9-10 Mio. Opfer forderte davon nur 0,8 bis 1,2 Mio. Soldaten -, etwa 2 Mio. Einwohner in die Emigration trieb, das Land schlimmer verwüstete als Napoleons Feldzug 1812 und im Winter 1921/22 eine Hungersnot verursachte, die (zusätzlich) mindestens 5 Mio. Menschen das Leben kostete [371: Davies, Harrison, Wheatcroft, Economic Transformation, 62 ff.]. So musste das Sowjetregime in einem vor allem als Folge des Oktoberumsturzes völlig zerrütteten Land seine neue Gesellschaft aufbauen. mussten,

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B. KONZESSIONEN UND EXPERIMENTE: DIE „NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK" (1921-1928) Im Rückblick erscheinen die 1920er Jahre auch in der Sowjetunion als eine Art goldene Zeit. Vor allem in ihrem mittleren Drittel vereinigten sie drei Ingre-

dienzien, die zu diesem Eindruck beitrugen: die Aufbruchsstimmung nach einer Phase beispiellosen Leids, relative wirtschaftliche und geistige Freiheit sowie eine überraschend schnelle Verbesserung der Versorgung als Folge der Erholung besonders von Landwirtschaft, Handel und Kleingewerbe. Natürlich ließen sich viele Kriegsschäden in so kurzer Zeit nicht beheben. Namentlich die demographischen und sozialen Verwerfungen (Invalidität, zerstörte Familien, Kinderverwahrlosung) dauerten an. Dennoch scheint die Grundstimmung, zu neuen Ufern aufgebrochen zu sein, weit über den Kreis gesinnungsfester Bolschewiki hinaus ausgestrahlt und sehr viel breitere Inhalte als nur einen sozialistischen angenommen zu haben.

1. DlADOCHENKÄMPFE Lenins nschaft

Wie immer man den Tatbestand werten mag: Lenin hatte nicht mehr viel Zeit, um ^em Neuaufbau seinen Stempel aufzudrücken. Er setzte gegen Trotzkis Konzept der Militarisierung der Arbeit' jene begrenzte Zulassung des Marktes durch, die den Kern der NEP ausmachte (s. u. B.2). Und er fand Ende 1922 noch Zeit, seinen „letzten Kampf" (M. Lewin) gegen „großrussischen Chauvinismus" und Funk-

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tionärsarroganz zu kämpfen. Aber schon dies konnte er nach der Genesung von

einem ersten Schlaganfall Ende Mai 1922 nur noch mit halber Kraft tun. Mitte Dezember traf ihn ein zweiter Schlaganfall, der seine Aktivitäten auf mühevolle, kleine Diktate beschränkte. Der dritte Schlaganfall Anfang März 1923 lähmte ihn halbseitig und raubte ihm die Sprache. Seitdem nahm der Staatsgründer auch hinter den Kulissen nicht mehr am politischen Geschehen teil. Als er am 21. Januar des nächsten Jahres starb, waren die Würfel im großen und wie sich zeigen sollte: weltgeschichtlich bedeutsamen Spiel um seine Nachfolge schon -

gefallen.

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Marxistische Kritiker des Stalinismus haben Lenin hoch angerechnet, dass er einen nüchternen Blick für die Realität bewahrte und buchstäblich mit letzter Kraft gegen zwei Hauptübel zu Felde zog, die in den wenigen Jahren der Sowjetherrschaft schon allzu sichtbar geworden waren. Zum einen beklagte er jene Mischung aus Leerlauf und Arroganz in der Verwaltung, die in der Diktion der Akteure Bürokratismus' hieß. Als Gegenmittel schlug er vor, die verklärten

B. Die „Neue

Ökonomische Politik" (1921-1928)

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.einfachen', noch nicht durch Macht und Politik korrumpierten Leute verstärkt Kontrolle heranzuziehen. In der Tat versah

man die Arbeiter- und Baumit erweiterten Kompetenzen. Genutzt hat diese Empfehlung jedoch ebenso wenig wie der Vorschlag, das ZK personell deutlich aufzustocken. Schon mittelfristig erwiesen sich beide Rezepte vielmehr als konzur

erninspektion

traproduktiv. Auch im parallelen zweiten Streit siegte Lenin nur auf den ersten Blick. Dabei ging es um nichts weniger als die Stabilität und Lebensfähigkeit des Sowjetstaates. Nach dem Ende des Bürgerkriegs stellte sich die Aufgabe, die entlang der Grenzen

des alten Imperiums zurückeroberten Regionen im Süden und Südosten an das russisch-sozialistische Kernland zu binden. Ein erster Verfassungsentwurf für einen neuen Gesamtstaat, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), aus der Feder Josif V. Stalins als Volkskommissar für Nationalitätenfragen ex officio zuständig verriet nur allzu deutlich großrussische Hegemonialbestrebungen. Lenin beharrte dagegen auf einer tatsächlichen Gleichheit (zumindest der verbrieften Rechte) und einer realen Föderation. Formal setzte er sich durch. Die im Dezember 1922 gebilligte Verfassung gestand allen Mitgliedern neben der RSFSR zunächst nur die ukrainische, weißrussische und transkaukasische Sowjetrepublik; später folgten Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan sowie durch die Auflösung der Transkaukasischen Republik Armenien, Georgien und Azerbejdschan grundsätzliche Ebenbürtigkeit zu. Ostentativ war dieses Prinzip im neu geschaffenen, von den Unionsrepubliken und den sog. Autonomen Republiken bzw. Autonomen Regionen als Selbstverwaltungsgebieten der nichtrussischen Ethnien beschickten „Nationalitätenrat" verkörpert. Dieser bildete die zweite Kammer des Allunions-Exekutivkomitees ständiger Ausschuss des Allunionskongresses der Sowjetneben dem entsprechend der jeweiligen Bevölkerungsgröße deputierten „Unionsrat". Dennoch: von Anfang an zeigte sich, dass die gewählten dem nur auf Rechtsgleichheit Papier stand. De facto bestimmte die Moskauer in Union was der Zentralregierung, geschah. Kurz vor seinem Ausscheiden aus der Politik bat Lenin seinen engsten Mitstreiter aus der Revolutionszeit, Leo Trotzki, seine Kritik auf dem nächsten (dem 12.) Parteitag im April 1923 vorzutragen. Lenin tat dies auch, weil er den anderen führenden Bolschewiki misstraute: Lev Kamenev und Grigorij Zinov'ev, weil sie in den Oktobertagen 1917 gegen den Aufstand eingetreten waren; Bucharin (den er aber als Theoretiker hoch schätzte), weil er die Linken Kommunisten angeführt hatte; schließlich Stalin, dem er in einer nachmals viel zitierten Ergänzung zu seinem berühmten .politischen Testament' vom Dezember 1923 die charakterliche Eignung absprach, behutsam mit der Machtfülle umzugehen, die ihm sein neues Amt als Generalsekretär der Partei (seit April 1922) eintrug. Aufgrund dieser Konstellation veränderte die Kritik ihren Charakter: Sie wurde zum Medium des Ringens um die Nachfolge Lenins. -

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UdSSR

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Kampf seinen Focus weiterhin in der BüroDabei erhielt Trotzki im Oktober 1923 willkommene Unterstützung durch die „Erklärung der 46". Alte Weggefährten, vor allem aber einstige „demokratische Zentralisten", erweiterten seine Schelte zu einem Vorwurf, den die Troika an der Spitze nicht einfach ignorieren konnte. In der Tat kamen Stalin und seine Bundesgenossen Zinov'ev und Kamenev der ,linken Opposition' in den ersten Dezembertagen weiter entgegen als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt. Die Frondeure konnten diese Chance aber nicht nutzen. Als ihre Kritik Anfang Januar 1924 vom Parteirat zurückgewiesen wurde, hatte Stalin die erste Runde der Auseinandersetzung bereits gewonnen. Dieser wichtigen Vorentscheidung entsprach seine herausgehobene Rolle in der Feierstunde vor der Beisetzung Lenins wenige Wochen später: Es war kein Zufall, dass Stalin jenen liturgieähnlichen Schwur leistete, mit dem er die Erben auf die Bewahrung der Hinterlassenschaft des Staatsgründers verpflichtete und sich selbst zum ersten Sachwalter erhob. Weil sich die Kritik am herrschenden Kurs zum Streit über den rechten Weg (und die Macht, ihn zu bestimmen) zuspitzte, wechselten ihre Themen ebenso wie ihre Protagonisten. Nach Lenins Tod trat auf wirtschaftlichem Gebiet die Industrialisierungsdebatte (s. u. B.2) in den Vordergrund, in der allgemeinen Politik die Frage, ob die Sowjetunion ihr weltgeschichtlich singuläres Experiment allein fortsetzen könne oder nicht. Trotzki griff die Fehler beim kläglich gescheiterten Aufstandsversuch der deutschen Kommunisten im Spätsommer 1923 (nicht ohne Seitenhieb auf Stalins Rolle 1917) scharf an (Die Lehren des Oktober) und erweiterte eine alte These aus der ersten Revolution von 1905/06 dahingehend, dass der Sozialismus auch in Russland nur im Gleichklang mit der internationalen Entwicklung errichtet werden könne. Dieser „Theorie der permanenten RevoStalin: „Sozialismus lution" setzte Stalin die These vom Aufbau des „Sozialismus in einem Lande" in einem Land entgegen und hatte damit nicht nur die Realität auf seiner Seite, sondern auch die Mehrheit der Parteifunktionäre. Der Protest gegen die Herrschaft der Zentrale hatte einen konkreten und evidenten Grund. Die Forderung nach einer parallelen Weltrevolution dagegen war rein theoretisch, längst illusorisch geworden und den neuen, im Bürgerkrieg rekrutierten Bolschewiki fremd. So brauchte die Troika um Zustimmung nicht zu bangen, als sie im ZK mit Wirkung zum 26. Januar 1925 die Ablösung Trotzkis als Kriegskommissar der er seit 1918 war durchsetzte. Die Unterlegenen erhielten noch einmal Auftrieb, als der herrschende Dreibund im Herbst 1925 zerbrach. Auch wenn es lange dauerte, bis Zinov'ev, Kamenev und Trotzki sich zusammentaten, konnte die „Vereinigte Opposition" seit dem Frühsommer 1926 hoffen, Stalin zumindest in die Schranken zu weisen. Allerdings zeigte sich im Laufe des folgenden Jahres, dass auch die Kooperation der prominentesten Mitstreiter Lenins wenig Anklang bei der umworbenen .Basis' fand. Eine neue Plattform (Erklärung der 84 vom Mai 1927) blieb ohne Resonanz. Die letzte Nagelprobe bildete der Versuch, aus Anlass des zehnjährigen RevoluTrotzki und Stalin

Zu Lebzeiten Lenins fand dieser

kratismusrüge.

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tionsjubiläums Protestkundgebungen zu veranstalten. Stalin wusste dies im Bund mit der Geheimpolizei (OGPU) ebenso zu verhindern wie nennenswerte Sympathiebezeugungen in der Partei. Seitdem nahm endgültig seinen Lauf, was im Grunde schon seit 1923/24 entschieden war. Ein handverlesener Parteitag, der 15., schloss Trotzki und seine Anhänger aus der VKP (B) aus. Die reuigen Zinov'evisten durften bleiben, spielten aber fortan keine Rolle mehr. Stalin und sein neuer Bundesgenosse Bucharin (seit 1925) hatten gesiegt, die Linken aller Richtungen verloren. Die wahrscheinlichen Ursachen für Stalins ersten Triumph hängen naturgemäß mit Gründen für den Stalinismus allgemein zusammen und sind später zu skiz-

Ursachen für Stalins

Tnumph

zieren. Hier sei nur auf drei Faktoren verwiesen. Zum ersten half ihm das Ungeschick Trotzkis. Lenins natürlicher Erbe war ebenso gescheit wie überheblich, verachtete die Routine des Alltagsgeschäfts und machte sich mehr Feinde als Freunde. Umgekehrt beherrschte Stalin die Kunst taktischer

Schachzüge einschließlich der informellen Kommunikation bis hin zur Intrige wie kein zweiter. Zum zweiten konnte sich Stalin auf einen Generationswechsel im Parteiapparat stützen. Damit änderte sich der Typus des Bolschewiken: An die Stelle des auslandserfahrenen, aus Uberzeugung handelnden Intellektuellen trat der pragmatische Funktionär, der im Untergrund oder im Bürgerkrieg seine ersten Sporen verdient hatte und in der Partei Karriere machte. Sicher nutzte Stalin als Generalsekretär die Möglichkeit, treue Gefolgsleute in wichtige Ämter zu bringen. Aber angesichts der ineffizienten Organisation auch der Partei dürfte dieser generelle Wandel der Mitgliedschaft wichtiger gewesen sein. Zum dritten schließlich konnte Stalin die vielzitierte ,Macht des Faktischen' für sich in Anspruch nehmen. Trotzki stand für die Weltrevolution (und den Kampf gegen die Bauern), Stalin für einen »russischen Weg' zum Sozialismus. Den neuen Parteifunktionären aber war das Machbare, das ihrem durchaus vorhandenen Engagement für eine bessere Zukunft ebenso entgegenkam wie ihrem Aufstiegswillen, allemal lieber als das Zuwarten im Dienst abstrakter Theorien. 2. Neue

Ökonomische Politik

Nicht zufällig gab eine wirtschaftspolitische Weichenstellung der gesamten Epoche ihren Namen. Was der 10. Parteitag 1921 beschloss, war mehr als eine ökonomische Korrektur. Es war ein Signal an die Bevölkerung, dass die wirtschaftliche Freiheit der vorbolschewistischen Zeit wenigstens teilweise zurückkehren werde. Die Maßnahme zielte vor allem auf die Bauern, die nicht nur wachsenden Widerstand gegen den Raub ihrer Vorräte leisteten, sondern auch zur besseren Versorgung der Stadtbewohner unentbehrlich waren. Ebenso konnten andere Schichten und Wirtschaftszweige Hoffnung schöpfen. Wer den freien Verkauf von Agrarprodukten erlaubte, musste zumindest den kleinen

Mehr wirtschaftliche Fremeit

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Handel und das Kleingewerbe, die beide eng mit dem Dorf verbunden waren, einbeziehen. Umstritten bleibt dabei die Frage, für welchen Zeitraum diese partielle Zulassung des Marktes gelten sollte. Lenin legte sich nicht fest. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass sie auf Dauer gedacht war. Auch und gerade Lenin wird man nicht nachsagen können, über taktische Notwendigkeiten des Augenblicks das Ziel des Sozialismus aus dem Auge verloren zu haben. Die NEP war eine Erholungspause, keine Kehrtwende. Genau besehen machte bereits der Erfolg der ersten Maßnahme den Geburtsfehler der verstaatlichen Wirtschaft deutlich. Denn die am 21. März 1921 Festgelegte förmlich dekretierte Naturalsteuer verringerte die Abgaben nicht etwa, sondern Naturalsteuer gj-höhte sie noch. Neu und durchschlagend war lediglich ihre Fixierung: Was die Bauern über die abzuliefernde Menge hinaus produzierten, durften sie behalten oder verkaufen. Schon im Sommer 1922, wenig mehr als ein Jahr nach der verheerenden Hungersnot, berichteten Reisende von einem reichhaltigen Angebot auf Moskaus Märkten. Die schnelle Blüte war überraschend, lässt sich aber erklären: Die Bauern bauten auf erweiterter Fläche wieder an, was sie im Krieg hatten einstellen müssen, und sie konnten für den Absatz im Kern dieselben Vertriebswege benutzen wie vorher. Ähnliches geschah im Kleinhandel und -gewerbe einschließlich der traim Reprivatisierung Klemgewerbe ditionsj-gichen Wanderarbeit (otchod) und bäuerlichen Heimindustrie (kustarnicestvo). Mitte Mai 1921 wurde die Verstaatlichung eingestellt; seit dem 7. Juli desselben Jahres durfte jeder erwachsene Sowjetbürger einen Laden oder einen Betrieb eröffnen, wenn er nicht mehr als zwanzig Lohnarbeiter beschäftigte. Anfang Dezember 1921 wurden alle bereits nationalisierten Unternehmen dieser Kategorie an ihre vormaligen Besitzer zurückgegeben. Neben der Landwirtschaft waren damit auch Kleinhandel und -gewerbe weitestgehend re-

privatisiert.

Anders verfuhr man mit der Großindustrie. Gerade weil man dem gefürchteten Markt auf der unteren Ebene des Wirtschaftslebens die Tore weit geöffnet hatte, sollten die „Kommandohöhen" (Lenin) besetzt bleiben. Die Verstaatlichung der Großbetriebe wurde ausdrücklich bestätigt. Allerdings hielt man Anpassungen an das Konkurrenzprinzip für nötig. Dem diente zum einen die Zusammenfassung der Unternehmen einer Branche zu „Trusts" und ihre Herauslösung aus der Anweisungskompetenz des VSNCh, zum anderen ihre Umstellung auf „wirtschaftliche Rechnungsführung" (chozrascet). Die neu gebildeten Einheiten konnten Preise und Löhne selbst festlegen und hatten selbst für Rohstoffe und Absatz zu sorgen. Der Staat sollte lediglich die Oberaufsicht behalten. Freilich zeigte sich bald, dass regionale Interessen zu gesamtstaatlich wenig sinnvollen Entwicklungen führten. Schon im April 1923 verfügte man daher eine Rezentralisierung, die jenes Mischsystem verfestigte, das am ehesten als Inbegriff der NEP gelten kann: eine Verbindung von freier Marktwirtschaft im kleinen und staatlicher Kontrolle im großen.

B. Die „Neue

Ökonomische Politik" (1921-1928)

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Obwohl (oder weil?) Politiker und Ökonomen inner- und außerhalb der Partei Wirtschaftskrisen auf diese Weise über wirksame Hebel zur Lenkung der Volkswirtschaft verfügten, löste in den folgenden Jahren eine Krise die andere ab. Die Serie begann 1923 mit der „Scherenkrise", benannt nach der Form eines Diagramms, das Trotzki den Delegierten des 12. Parteitags im April zur Illustration der heraufziehenden Probleme vorlegte: einer wachsenden Kluft zwischen sinkenden Agrar- und steigenden Industriepreisen. Die Folgen zeigten sich im Spätsommer. Weil die Bauern keine Industriewaren mehr kaufen konnten, kam es zu Absatzeinbußen, Lohnrückständen und Entlassungen. Der Arbeiterstaat hatte seine ersten Massenstreiks in Friedenszeiten. Es folgte eine Gegensteuerung, die seit dem Sommer 1924 die beste Zeit der NEP einleitete: drei Jahre relativer Prosperität, an deren Ende die Sowjetunion die gesamtwirtschaftliche Leistungskraft des Jahres 1914 wieder erreichte. Hauptgewinner dieses Aufschwungs waren die Bauern, denen die Politik nun besondere Förderung angedeihen ließ. Auch die ,rechten' Bolschewiki taten dies jedoch nicht, weil sie ihre proletarische Orientierung aufgegeben hätten. Vielmehr kam vor allem der einstige ,Linke' Bucharin zu der Einsicht, dass die vordringlichste Aufgabe der Sowjetmacht, die industrielle Entwicklung des Landes, nur mittels ausreichender Kaufkraft auf dem Dorf zu bewältigen sei. Sein aufsehenerregender Aufruf vom Juni 1925 „Bereichert Euch" diente eben diesem Ziel: „auf dem Rükken der Bauern in den Sozialismus zu reiten" (Bucharin). Diese Strategie setzte sich im selben Maße durch, wie die Linke Opposition unterlag. Fraktionsstreit und Industrialisierungsdebatte waren 1924/25 un- Industrialiauflöslich miteinander verbunden. Prominentester Sprecher der Linken war sierungsdebatte dabei der Ökonom Evgenij A. Preobrazenskij. Auch seiner Meinung nach mussten die Bauern den industriellen Fortschritt bezahlen, aber nicht auf dem Umweg der Vergrößerung ihrer Kaufkraft, sondern umgekehrt durch staatliche Festsetzung ungleicher Tauschverhältnisse zugunsten der Industrie. Höhere Industriepreise und entsprechende Steuern sollten eine sozialistische Akkumulation so das Begriffsetikett für dieses Konzept bewirken, die Einkommen aus dem Agrarsektor zwangsweise (aber ohne Gewalt) in den „sozialistischen" Sektor umleiten würde. Es liegt auf der Hand, dass dieses Konzept klassischen marxistischen Positionen näher stand und deutlicher nach zentraler Planung verlangte als die Bucharinsche Alternative. Zugleich blieb aber die Frage offen, ob es tatsächlich allein mit friedlichen Mitteln durchsetzbar gewesen wäre. Denn auch die konziliante Strategie rief bald bäuerliche Reaktionen hervor, die -

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den Staat in Schwierigkeiten brachten und die dogmatischen Marxisten an seiner Spitze in ihrer Überzeugung bestärkten, dass der freie Markt unberechenbar und abzuschaffen sei. Die Korrektur der Preisschere erwies sich als Übersteuerung und führte zu einem ,Warenhunger' auf dem Dorf. Um diesen Kaufkraftüberhang abzubauen, senkte die Regierung 1926 die Aufkaufpreise für Getreide (immer noch lagerte der Staat Vorräte für die Versorgung der Städte ein), mit der Folge,

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dass die Bauern andere Produkte anbauten und die öffentlichen Silos leer blieben. Am Ende drohte im Winter 1927/28 der Hunger („Getreidekrise"). Zur selben Zeit musste die Linke Opposition endgültig ihre Waffen strecken. Stalin hatte freie Hand auch, um den Kurs zu wechseln. Was 1928 in mehreren Schritten begann, summierte sich zur Liquidierung des Marktes und der NEP. sta[jns Schlüsselrolle sollte dabei nicht übersehen lassen, dass die Weichen für diese Abkehr längst gestellt waren. Schon der 14. Parteitag hatte im Dezember 1925 die Notwendigkeit zentraler Planung bestätigt und den (im Februar 1921 gegründeten) Gosplan mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Zahlenwerks beauftragt. Die Koinzidenz war paradox: Derselbe nächste Parteitag, der die Linken zwei Jahre später ausschloss, nahm auch den ersten Fünfjahresplan der Sowjetunion an. -

Stalins Abkehr von der NEP

3. Gesellschaft Bauern

Klare Gewinner der NEP waren die Bauern. Nach dem Einlenken der Bolschewiki hatten sie beinahe Grund, die Erfüllung jahrhundertealter Träume zu feiern: Adel und Grundbesitzer waren vertrieben, ihre Ländereien übernommen und aufgeteilt, die Dorfgemeinden als faktische Besitzer anerkannt und jenseits einer fixierten Abgabemenge der freie Verkauf (oder Verzehr) ihrer Erzeugnisse legalisiert worden. Zwischen Bürgerkrieg und Zwangskollektivierung besaßen die russischen Bauern in höherem Maße als zuvor und danach, was sie in unzähligen Aufständen gefordert hatten Land und Freiheit. Wichtigstes Vehikel für beide war dabei die obscina. Seit dem Oktoberumsturz von der Konkurrenz des Dorfsowjets bedroht, gewann sie seit dem Ende des Bürgerkriegs die Oberhand. Der Staat machte nicht nur seinen Frieden mit der ökonomischen Tradition der Bauern, sondern auch mit ihrer politisch-sozialen: Der Agrarkodex vom Dezember 1922 erkannte die obscina ausdrücklich an. Im Gegensatz zu seiner revolutionären Rhetorik und seinem Selbstverständnis akzeptierte er damit fürs erste eine Einrichtung, die von den (relativ) wohlhabenden Bauern (bol'sak, kulak) beherrscht wurde und die umworbenen landlosen Arbeiter (batrak) häufig ausschloss. Zentrales Organ der obscina war die Dorfversammlung, der alle (männlichen) Haushaltsvorstände angehörten. Damit tat ihre Bestätigung über die Kapitalarmut und andere ökonomische Faktoren hinaus ein Übriges, um die quantitative Dominanz derjenigen Bauern zu festigen, die mit Hilfe ihrer Familie, einfachsten Geräten, einem Ochsen oder Pferd ein kleines Stück Land bearbeiteten und gegebenenfalls geringe Überschüsse auf den Märkten der Umgebung verkauften. Die Kennzeichen des russischen Dorfes der zwanziger Jahre waren die alten: die Identität von Haushalt und Wirtschaft, die Selbstverwaltung im Rahmen der Dorfgemeinde, fließende Übergänge zwischen mittleren und ,reichen' Bauern sowie ein hohes Maß an Zusammenhalt. -

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Marxistischen Puristen musste gerade diese Zählebigkeit der Tradition ein Dorn im Auge sein. Im Maße der politischen Wende wuchs auch der Druck auf die obscina. Im März 1927 wurde sie dem Dorfsowjet förmlich untergeordnet. Allerdings spricht manches dafür, dass die Wirklichkeit dem Gesetz zögerlich oder gar nicht folgte. Letztlich bedurfte es erst der gewaltsamen Unterwerfung des Dorfes, um seine jahrhundertealte soziale Organisationsform zu beseitigen. Die Arbeiter stiegen im neuen Staat nominell zum ,Hegemon' auf. Von ihrer

politischen Einflusslosigkeit abgesehen, entsprach auch die gesellschaftliche Wirklichkeit dieser exponierten Rolle nur begrenzt. Den größten Erfolg konnten sie sicher in ihrer sozialrechtlichen Absicherung verbuchen. Die alten gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Forderungen nach Achtstundentag, Arbeitslosen-, Invaliditäts- und Altersversicherung sowie nach verschiedenen Arbeitsschutzbestimmungen wurden erfüllt. Hinzu kam eine neuartige öffentliche Gesundheitsvorsorge, da sich der Arbeiterstaat für seine ureigene Klientel auch als Sozialstaat verstand. Nur bedingt konnte er dagegen das Versprechen materieller Besserstellung erfüllen. Zwar stiegen die Löhne nach der Währungsreform und dem Ende der Inflation 1924 zum Teil kräftig an. Aber der Reallohn erreichte erst 192 7/ 28 wieder den Stand von 1913. Vor allem jedoch zogen Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot das Lebensniveau der Arbeiter erheblich in Mitleidenschaft. Erstere wuchs vor allem seit der Scherenkrise stark an, von 160 000 Anfang 1922 (=100) auf 920 000 (=575) im Oktober 1925 und 1,47 Mio. im April 1927 (= 918); Mitte 1927 betrug die Arbeitslosenrate in Moskau 20%. Alle Arbeiter schließlich hatten unter der Wohnungsnot zu leiden. Nach dem Oktober 1917 waren die Adelspaläste und großbürgerlichen Beletagen beschlagnahmt und an die ehemaligen Kellermieter verteilt worden. Durch Kälte und Not im Bürgerkrieg hatten sie aber stark gelitten, so dass Wohnraum äußerst knapp wurde, als 1922 noch Millionen von Soldaten in

die Städte zurückströmten. Um das schlimmste Elend abzuwehren, mussten sogar einige Schlafkasernen der Vorkriegszeit wieder geöffnet werden. Im Vergleich zu vielen anderen konnten sich allerdings selbst jene nicht beklagen, die wieder mit einem tuchverhangenen Teil eines Raumes vorliebnehmen mussten. Die frühsowjetische Gesellschaft hatte schwer an den Folgen von Krieg, Revolution und erneutem Krieg zu tragen. Familien waren zerrissen worden oder hatten ihren Ernährer verloren. Etwa eine Million eitern- und aufsichtsloser Kinder und Jugendlicher (1924) hausten auf den Straßen vor allem der Hauptstädte und lebten von Bettelei und Diebstahl. Aber auch wohlgemeinte Reformen riefen schwerwiegende soziale Verwerfungen hervor: Als Erfüllung einer Hauptforderung der weiblichen Emanzipationsbewegung hatte das neue Ehegesetz von 1918 die Scheidung ermöglicht und nur wenige Barrieren belassen. Das Familienstatut von 1925 brachte weitere Erleichterungen. Da die Kinderbetreuung aber weiter bei den Frauen lag und es an Hilfe fehlte, vermehrte dieser Aspekt der Trennung von Kirche und Staat die ohnehin große Zahl unvollständiger und meist mittelloser Familien.

Arbeiter

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Darstellung 4. Kultur

Relative Liberalität

Gerade im Bereich von Kultur und Kunst gilt die NEP als liberale Ära. Mit Einschränkungen und im Vergleich zum Kommenden war sie das auch. Im Bildungswesen wurde nicht nur der Analphabetismus weitgehend zuletzt in Mittelasien beseitigt und ein flächendeckendes, an verschiedenen pädagogischen Reformideen orientiertes Schulwesen („Arbeits-Einheitsschule") eingeführt. Besonderes Merkmal des neuen, revolutionären Staates war die gezielte Öffnung gerade auch der Hochschulen für „Arbeiter und Bauern", darunter erstmals auch Frauen. Ein Bergmannssohn und einstiger Ziegenhirte wie Nikita S. Chruscev konnte Ende der zwanziger Jahre ein Polytechnikum besuchen. Aus Absolventen wie ihm entstand eine neue Schicht meist technisch-naturwissenschaftlich qualifizierter Akademiker, die „Sowjetintelligenz". In der Literatur, bildenden Kunst und im Filmwesen dauerten die kreativen Experimente im Geiste der .westeuropäischen' Moderne, denen der Oktoberaufstand endgültig freie Bahn geschaffen hatte, über die Dekadenmitte hinaus an. Dabei ermöglichte es die Zulassung privater Verlage auch einigen oppositionellen Künstlern, in Distanz zur offiziösen Ästhetik zu überleben. Allerdings wurde der Druck zur Befolgung der,Klassenlinie' immer stärker. In gleichem Maße zeigte sich, dass vorgeschriebene Kunst ein Widerspruch in sich ist. Als die Partei auch das geistige Leben unterworfen hatte, ging nicht nur kaum zufällig ungefähr zeitgleich mit dem Widerruf der NEP der Rest an (öffentlicher) kultureller Freiheit verloren, sondern auch das künstlerische Niveau. -

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5. aussenpolitik

Arrangement mit len Großmachten

Die auswärtigen Beziehungen des neuen Staates lassen sich für die Zeit nach dem Bürgerkrieg in einer paradoxen Formulierung zusammenfassen: Sie sollten ideologisch revolutionär sein, praktisch aber für einen modus vivendi mit den bedeutendsten Staaten der Welt sorgen. Trotz des wachsenden Gewichts der USA waren dies vor allem die alten europäischen Mächte, wenn auch in ihrer neuen, vom Ersten Weltkrieg fundamental veränderten Konstellation und Gestalt. Dabei gab Großbritannien, das als Schauplatz der Auseinandersetzungen verschont worden war, trotz beginnender Wirtschaftskrise und erster Unabhängigkeitskämpfe (Indien) den Ton an. Da es darüber hinaus geneigt war, die alte Maxime der balance of power zur Leitlinie seiner Politik zu machen, konnte auch das revolutionäre Russland bei aller ideologischen Feindschaft des kapitalistischen ,Urlandes' darauf hoffen, eine gewisse Rolle im britischen Machtkalkül zu spielen. Dagegen schied jede Erwartung an Frankreich aus. Zum einen war der einstige Alliierte vom Krieg schwer heimgesucht und wirtschaftlich stark geschwächt worden. Zum anderen schlug sich die alte Wahlverwandtschaft

B. Die „Neue

Ökonomische Politik" (1921-1928)

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zwischen Frankreich und Polen, das im Gefolge der deutschen Niederlage seine staatliche Souveränität wiedererlangt hatte, in einer nahezu exklusiven und bald vertraglich untermauerten Form nieder. Damit blieb als vielversprechendster Adressat der Kriegsverlierer. Deutschland lag zwar nicht nur militärisch und ökonomisch am Boden, sondern war auch politisch zutiefst zerrissen. Aber es befand sich auf internationaler Bühne in einer ähnlichen Situation wie das neue Russland. Dabei sollte man die gemeinsame Erfahrung einer Revolution nicht überschätzen; sie war allzu unterschiedlich, um mehr als formale Analogien zu erlauben. Deutschland stand nicht aufgrund des Novemberumsturzes am Pranger, sondern als Hauptverursacher des Weltbrandes. Außer Frage aber steht die Gemeinsamkeit, dass Deutschland wie Russland einen Weg aus der Isolation suchten und dadurch aber auch nur dadurch zu Verbündeten wurden. Es verdient Beachtung, dass eine Verständigung dennoch zuerst mit dem ärgsten Großbritannien: Feind von gestern, Großbritannien, erreicht wurde. Im Bürgerkrieg zutiefst Ar>fangserfolge verfeindet die ausländische Intervention hatte im August 1918 mit der Landung britischer Truppen in Murmansk begonnen kam es schon bald nach dem Ende der Kämpfe zu Gesprächen, weil die britische Regierung ein Interesse daran hatte, das revolutionäre Russland nicht völlig aus dem europäischen Kräftespiel auszugrenzen. Umgekehrt brauchten die Bolschewiki nichts dringender als materielle Wiederaufbauhilfe in Gestalt geregelter Handelsbeziehungen. Haupthindernis für die Einigung war dabei ein Problem, das auch mit allen anderen kapitalistischen' Staaten zu lösen war: die Frage der Entschädigung für enteigneten Besitz im ehemaligen Zarenreich. Es spricht für einen ausgeprägten Willen zur Einigung auf beiden Seiten, dass die Vereinbarung ohne Zugeständnisse in dieser Frage zustande kam. Man klammerte sie aus. Russland sagte lediglich zu, auf weitere Enteignungen zu verzichten. Darüber hinaus verpflichtete es sich vor allem mit Blick auf den mittleren Osten (Afghanistan, Persien), feindliche Manöver zu unterlassen. Der britischen Regierung genügte das, um am 16.3. 1921 ein Handelsabkommen mit der RSFSR zu schließen. Auf das Minimum beschränkt, das annähernd normale Beziehungen verlangen, ging die Bedeutung dieses Vertrages weit über seinen praktischen Inhalt hinaus. Als Signal markierte er, etwa zeitgleich mit dem grausamen Schlussakt des Bürgerkriegs in Kronstadt, eben das, was der britische Premier Lloyd George erreichen wollte: den ersten Schritt zur Rückkehr des revolutionären Russland auf die diplomatische Bühne Europas. Allerdings blieb eine andere erhoffte Wirkung aus. Der Herstellung wirtschaftlicher ,Arbeitsbeziehungen' folgte keine Verbesserung des politischen Klimas. Solange die konservative Partei stärkste Kraft in Großbritannien war, erwiesen sich die weltanschaulichen Gegensätze als unüberbrückbar. Dies änderte sich durch den Wahlsieg der Labourpartei im Dezember 1923. Auch wenn weiterhin Welten zwischen den politischen Systemen lagen und der englische Sozialismus bekanntlich besonders weit vom Leninschen Kommunismus entfernt -

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eröffnete sich über Nacht die Möglichkeit einer förmlichen Verständigung. Einschlägige Gespräche führten am 8. August 1924 zur Sensation der ersten diplomatischen Anerkennung der Sowjetunion durch eine westliche Siegermacht. Indes zeigte sich umgehend, auf welch dünnem Boden diese Vereinbarung ^hte. Gerade weil die rapide Verschlechterung der beiderseitigen Beziehungen in den folgenden Jahren vor allem in der schweren inneren Krise Großbritanniens begründet war, rechtfertigt sie eine solche Interpretation. Dabei half die sowj etische Seite höchst unklug, aber in typischer Weise mit. Sie glaubte, das Geschenk förmlicher diplomatischer Kontakte für die zweite, revolutionäre Seite ihrer Außenpolitik nutzen zu sollen und bot als Aktivität der Komintern kaschiert den englischen Gewerkschaften Hilfe an. Besonders eine Spendensammlung zugunsten der Bergleute, die am 1. Mai 1926 in einen denkwürdigen, langen Streik traten, schlug in der englischen Öffentlichkeit hohe Wellen. Sie trug maßgeblich dazu bei, dass sich in der wieder konservativ geführten Regierung die Neigung

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Verschlechterang der Beziehungen

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radikalen Schritten durchsetzte. Im Mai 1927 brach Großbritannien die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab. Damit lag auch das ohnehin bescheidene Resultat der von Außenkommissar Georgij Cicerin (1918-1930) betriebenen Rückkehr seines Landes in die europäische Politik in Trümmern. Da Frankreich (ebenso wie die Vereinigten Staaten) Distanz wahrte, blieb nur der Draht nach Berlin. Denn auch mit dem Wunschpartner Deutschland war sich das sowjetische Deutschland: Schnelle Russland inzwischen einig geworden. Dabei spielte nicht nur die äußere LeiAnnäherang eine Rolle, sondern auch die schwere Krise, die das Deutdensgenossenschaft sche Reich nach der Niederlage durchlebte. Lenin und die meisten seiner Genossen hofften noch lange nach dem Oktober auf Unterstützung durch die „Weltrevolution". Der zündende Funke dafür sollte vom Zentrum des gesamten internationalen Sozialismus ausgehen: von Deutschland. Diese doppelte Erwartung gab schon während des russischen Bürgerkriegs an dem die Weimarer Republik nicht teilnahm Anlass zu besonderer Aufmerksamkeit für die Vorgänge in Berlin. Eine Schlüsselfigur war dabei der polnisch-jüdische Revolutionär Karl Radek, der in beiden Hinsichten sondierte. Auf offizieller Ebene gab sich die Sowjetunion zunächst bescheiden. Sie strebte lediglich ein Wirtschaftsabkommen nach dem Vorbild der Vereinbarung mit Großbritannien an. Ein solcher Handelsvertrag wurde denn auch am 6. Mai 1921, knapp drei Monate nach dem -

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zu

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russisch-britischen, geschlossen.

Doch anders als im englischen Fall eröffneten sich damit tatsächlich die erhofften weitergehenden Perspektiven. Förmlichen politischen Beziehungen stand im Wesentlichen dasselbe Problem entgegen, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass auch die russische Seite einen Trumpf in der Hand hatte: den bekannten Art. 116 des Versailler Vertrages, der Russland Reparationsansprüche für den Fall der Anerkennung seiner Regierung durch die Siegermächte zusprach. Man löste den Knoten durch eine gegenseitige Verrechnung der Ansprüche: Die

B. Die „Neue

Ökonomische Politik" (1921-1928)

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Noch-RSFSR verzichtete auf den Versuch, Art. 116 zu nutzen, Deutschland auf Entschädigung. In dieser Gewissheit einer grundsätzlichen Einigungsmöglichkeit nahmen Delegationen beider Staaten im April 1922 an der ersten großen internationalen Nachkriegskonferenz in Genua teil. Als deutlich wurde, dass die Westmächte nicht bereit waren, den Art. 116 zu streichen, entschloss sich der deutsche Außenminister Walther Rathenau, sein Anliegen wenigstens in kleinem Maßstab zu sichern: Am 16. April unterzeichnete er im nahegelegenen Vertrag von Rapallo Ortchen Rapallo ein Abkommen mit Sowjetrussland, das den gegenseitigen Anspruchsverzicht, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Meistbegünstigung im Handelsaustausch festschrieb. Insgesamt wird man sagen können, dass die größeren Vorteile dieser aufsehenerregenden Liaison auf russischer Seite lagen. Cicerin erreichte sein Ziel, die internationale Achtung des ersten sozialistischen Staates der Welt zu durchbrechen. Zwar hatte nur der Unterlegene seine Hand gereicht. Aber dies bedeutete nicht nur einen ersten, wichtigen Schritt. Darüber hinaus war der Verbündete nicht irgendwer, sondern bei aller wirtschaftlichen Misere ein technologisch hoch entwickeltes Land und trotz seiner Niederlage eine gewichtige europäische Macht in spe. Offen bleibt dabei der Ertrag der Geheimabsprache zwischen Reichswehr und Roter Armee, die im Gefolge des Abkommens getroffen wurde. Die deutschen Militärs konnten die Versailler Auflagen unterlaufen, neue Flugzeuge und kriegstaugliches Gas erproben. Sowjetische Offiziere studierten die deutsche Organisation und Logistik und bemühten sich um einen Technologietransfer. Es lag aber in der Natur der Sache, dass kein Buch geführt wurde und keine direkten ,Lernprozesse' nachweisbar sind. Dem sowjetischen Interesse entsprach die Enttäuschung darüber, dass sich Deutschlands nacn Deutschland mehr und mehr nach Westen orientierte. Durchaus mit der Neben- °nentierung Westen absieht, die Frage der Ostgrenze offen zu halten, brachte der neue Außenminister Gustav Stresemann (seit Herbst 1923) jene Aussöhnung mit dem ,Erbfeind' Frankreich auf den Weg, die im Herbst 1925 in Locarno besiegelt und in multilaterale Verträge eingebettet wurde. Cicerin versuchte, sie mit großem Einsatz einschließlich einer Liebäugelei mit Polen zu torpedieren. Er erreichte auch eine Bestätigung des Rapallo-Abkommens und dessen Erweiterung durch die ausdrückliche Verpflichtung zur Neutralität. Insofern konnte die Sowjetunion dem Buchstaben nach mit dem Berliner Vertrag vom 24. April 1926 zufrieden sein. Es blieb ihr aber nicht verborgen, dass der Erfolg oberflächlich war. Was die Vertragspartner von Rapallo verbunden hatte, der Ausschluss aus der Versailler Ordnung, war nicht wiederherstellbar. Deutschlands primäres Interesse galt der Orientierung nach Westen. Die Sowj etunion erhielt nur ein Trostpflaster, aber kein Angebot zu engagierter Kooperation. Wenn es einer Bestätigung dieses Charakters bedurfte, so brachten sie die folgenden Jahre. Trotz aller kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte verödeten die Beziehungen mehr und mehr. Dazu trug der Tod des deutschen Botschafters in Moskau Graf Brockdorff-Rantzau -

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Darstellung

(1928), mit dem sich der gebildete Aristokrat Cicerin bestens verstand, nicht wenig

bei. Der Berliner Vertrag blieb bis zum Ende der Weimarer Republik und darüber hinaus in Kraft, aber ihm fehlte der Geist. Bleibt anzumerken, dass die inoffizielle Außenpolitik der Sowjetunion über die in Moskau beheimatete Komintern in all diesen Jahren nicht erfolgreicher war. Die Agitation für die Weltrevolution, die von Deutschland ausgehen sollte, erlebte im Herbst 1923 ihr Fiasko, als der Plan eines kommunistisch inspirierten Aufstands kläglich scheiterte. Danach büßte die Komintern insofern an Wirkung ein, als ihre Führung von denselben Diadochenkämpfen zerrissen wurde wie die bolschewistische Partei. Als Stalin 1927 triumphierte, brachte er auch die Komintern auf seinen fatalen Kurs, der (noch) in ,linkem' Geist vor allem gegen die Sozialdemokratie Front machte („Sozialfaschismus"). Erst nach der Machtergreifung Hitlers begriff die Moskauer Führung, welch schlimmen Irrtum man damit begangen hatte. Für den Kampf gegen den Nationalsozialismus kam die „Volksfront"-Linie von 1935 aber zu spät.

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C. REVOLUTION VON OBEN UND VORKRIEGSSTALINISMUS

(1929-1941)

Mit dem Ende der NEP begann das, was man mit einem späteren Fremdbegriff als Stalinismus bezeichnete. Dieser Anfang der Jahre 1929-1933 war gekennzeichnet durch einen gewaltsamen, maßgeblich von Stalin unter Ausschaltung aller Kritiker vorangetriebenen Kurswechsel der Parteiführung, den man wegen seiner umfassenden Auswirkungen gern als „Revolution von oben" bezeichnet. Gemeint sind damit im Wesentlichen drei tiefgreifende Veränderungen: der Übergang zur zentralen Planung und Lenkung zunächst der Industrie, dann der gesamten Wirtschaft; die Zwangskollektivierung der bäuerlichen Betriebe sowie die Zuspitzung des oligarchischen Herrschaftssystem zur personalen Diktatur Stalins. Auf dem unveränderten Fundament der Einparteienherrschaft, des sozialen Organisationsmonopols und der exklusiven ideologischen Kontrolle leiteten diese Veränderungen die leninistische Ordnung der zwanziger Jahre über in die stalinistische der dreißiger. Dabei markierte der Dekadenbeginn auch nach gegenwärtiger Forschungsmeinung eine deutliche Zäsur. Zugleich ist die ältere These eines Gegensatzes zwischen den beiden Phasen zugunsten der Vorstellung der einseitigen Zuspitzung einer Entwicklungsmög&Ä&ezf der vorangehenden Ordnung durch Stalin ganz überwiegend aufgegeben worden.

Stalinismus

1. Planwirtschaft

Die erste Neuerung wurde noch in der alten Ära auf den Weg gebracht. Allerdings darf die Kontinuität, die darin durchaus zum Ausdruck kommt, nicht überzeichnet werden. Der vom 15. Parteitag 1927 verabschiedete erste industrielle Erster industrieller Fünfjahresplan hatte mit demjenigen, der im November 1929 vom ZK gebilligt Fünfjahresplan wurde, nur noch das Prinzip gemein. Konsens bestand unter den führenden Bolschewiki in Partei, Regierung und Gosplan darüber, dass die ,Marktanarchie' endgültig beseitigt und der sozialistische Aufbau' planmäßig-rational durchgeführt werden müsse. Höchst unterschiedlich aber dachte man über das Problem, welches Tempo dabei einzuschlagen und welche Sektoren der Volkswirtschaft einzubeziehen seien. In diesem entscheidenden Streit, der unzertrennlich mit der ,Agrarfrage' verbunden war, setzte sich Stalin durch. Indem er die Verfechter einer maßvollen Transformation als unmarxistische Saboteure des Fortschritts verunglimpfte, förderte er eine regelrechte Rekordjagd um die höchsten Zuwachsraten und „Kontrollziffern". „Den Fünfjahresplan in vier Jahren" erfüllen wurde zum pflichtgemäßen Bekenntnis des linientreuen Kom-

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Darstellung

munisten. Die Experten unterlagen den Ideologen, die Anhänger einer,genetisch' am Ausgangsniveau orientierten Planung den ,Teleologen'. Noch deutlicher als ohnehin schon rückten dabei Großprojekte zur Schaffung einer industriellen Infrastruktur in den Vordergrund. Der Dnepr-Staudamm (zur Elektrizitätsgewinnung), das neue Eisenhüttenzentrum Magnitogorsk im Südural, zugleich erste industrielle Retortenstadt der Sowjetunion und Demonstrationsobjekt für das ,neue Leben', das Traktorenwerk und die Automobilfabrik in Stalingrad, die Turkmenisch-Sibirische Eisenbahnlinie all diesen Unterihren realen ein ökonomischen der kam hoher zu, Prestigewert nehmungen Nutzen nicht selten übertraf. Der erste Fünfjahresplan wurde zum Symbol des Aufbruchs und der Gleichsetzung des Sozialismus mit der Entwicklung der Schwerindustrie. Die Sowjetunion sollte, wie Stalin 1930 verkündete, in zehn Jahren nachholen, wozu (West)Europa fünfzig Jahre gebraucht habe. Probleme der Allerdings erwies sich eine solche Anstrengung bald als Überanstrengung. istnahsierung Dysfunk:tionaie Folgen stellten sich ein, die den Ertrag des ungeheuren Aufwandes erheblich minderten. Besonders deutlich traten sie in Gestalt einer unvorhergesehen starken Zunahme der Arbeiterschaft in Erscheinung. Das ganze Land verwandelte sich in eine Großbaustelle, die weit mehr Dorfbewohner anzog als geplant. Diese enorme Urbanisierung führte nicht nur zu Lohnkonkurrenz und -Steigerungen, sondern brachte auch die Notwendigkeit mit sich, die Mittel für den Konsum zu Lasten der Investitionen in den Produktionsgüterbereich zu erhöhen. Vor allem aber drückte die Hektik des ,großen Sprungs' auf die Qualität der Arbeitsleistung. Zahlreiche Berichte von Ausländern bestätigen, dass teure Importmaschinen verrosteten, Fabriken im Rohbau steckenblieben und viel Schrott produziert wurde. Zweifellos schuf Stalins neuer Kurs in kurzer Zeit wichtige Grundlagen für die Industrialisierung der Sowjetunion, aber der Preis von Hast und Zwang war hoch. -

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2. Zwangskollektivierung

Noch tiefer war der Einschnitt, den die gewaltsame Unterwerfung des Dorfes verursachte. Da die Bauern 1917 ihre eigene Revolution gemacht und die neuen Herrscher deren Ergebnis im Kern hatten anerkennen müssen, ging die Zwangskollektivierung über die Rücknahme einer notgeborenen Konzession weit hinaus: Sie holte die sozialistische', gegen das Privateigentum gerichtete Umwälzung des Oktober gleichsam nach. Mit ihr verschwand nicht nur der bäuerliche Familienbetrieb mitsamt seinem Gehäuse, der obscina und der von ihr über Jahrhunderte erzeugten Sozialorganisation und Mentalität, sondern ein ganzer „Kontinent" (L. Kopelev), das alte Russland, überhaupt. Sicher ist es immer noch sinnvoll, die „Getreidekrise" vom Winter 1927/28 als „Getreidekrise" Anfang vom Ende der NEP in der Landwirtschaft zu betrachten. Sie brachte

C. Revolution

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oben und Vorkriegsstalinismus (1929-1941)

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erstmals seit dem Bürgerkrieg deutlich zu Bewusstsein, dass die Versorgungsfrage nicht gelöst war. Man muss sich allerdings davor hüten, irgendeine Zwangsläufigkeit in die Abkehr zu legen. Die Krise zeigte, dass der Markt als solcher keine Garantie gegen Engpässe bot, mehr nicht. Wenn Stalin die lokalen Parteikomitees schon im Januar 1928 anwies, „außerordentliche Maßnahmen" zu ergreifen, und man auf repressive Methoden des Bürgerkriegs rekurrierte, um den wieder angeschwärzten „Kulaken" vorgeblich gehortetes Getreide zu entreißen, dann trat darin vor allem die Absiebt zutage, mit der NEP zu brechen. Dazu aber musste erst der Widerstand der Verteidiger des alten Kurses überwunden werden. Bis zum Winter 1928 scheint der Ausgang der neuerlichen Fraktionskämpfe, die über diese Frage ausbrachen, offen gewesen zu sein. Dann aber neigte sich die Waagschale, begünstigt durch die Wiederholung der Versorgungskrise vom Vorjahr, zugunsten Stalins und zu Lasten seines wichtigsten Gegenspielers Bucharin, der eben noch mit ihm verbündet war. In gleichem Maße nahm der Druck auf die „Kulaken" zu, denen man Sondersteuern auferlegte und hohe Strafen androhte. Zugleich wurde die „gemeinsame Wirtschaft" (kollektivnoe cbozjajstvo, Kolchoz) verstärkt als überlegene Betriebsform propagiert. War dies im Prinzip nicht neu, weil der Kollektivismus zur Substanz des marxistischen Credos gehörte, so nahm die Kampagne seit April 1929 (als die „rechte" Opposition endgültig unterlag) eine neue Qualität an: Wachsender Druck untergrub den Rest an Freiwilligkeit des Beitritts. Parallel zur Jagd nach industriellen Wachstumsrekorden übertrumpften Institutionen und Parteipolitiker einander auch mit immer höheren Zielvorgaben für die Zahl agrarischer Gemeinwirtschaften. Die förmliche Entscheidung für eine wie es nun hieß „vollständige" und damit zu erzwingende Kollektivierung, die das ZK auf einer berüchtigten Plenarsitzung im November 1929 traf, konnte nicht mehr überraschen. Um ein „wirklich rasantes" Tempo zu erreichen, beschloss man außerdem, einen Stoßtrupp von 25 000 freiwilligen Helfern aus der Arbeiterschaft zusammenzustellen. Äußerlich ließen Erfolge dieses Sturmangriffs auch nicht auf sich warten. Am 1. März 1930 meldeten die Parteibüros eine Vollzugsquote von 57,2% in der gesamten UdSSR sowie 60-70%, teilweise noch mehr, in den landwirtschaftlichen Kerngebieten an der Wolga und in der Ukraine. Allerdings: Solche Resultate standen nur auf dem Papier. Angesichts der Wintersaison und der Kürze der Zeit konnten sie keine andere Grundlage haben als rein formale, von durchreisenden Agitatoren herbeigeführte Erklärungen von Haushaltsvorständen, künftig gemeinsam wirtschaften zu wollen. Auch diese Einsicht dürfte zu Stalins bekanntem Artikel in der Pravda vom 2. März 1930 Anlass gegeben haben, der einen Realitätsverlust („Schwindel") „vor lauter Erfolgen" diagnostizierte und zur Konsolidierung mahnte. Indes währte die Atempause nicht lang. Im August wurde die Kampagne wieder aufgenommen und erst im Herbst 1931 für beendet erklärt. Am 1. Juli 1932 hatte der Anteil kollektivierter Bauernhaushalte 61,5% erreicht [749: Merl, Bauern, 215]. -

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Erste Kolchosen

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Kulakenverfolgung

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Darstellung

Begrifflich und theoretisch ist eine andere Kampagne von der Zwangskollektivierung zu trennen, die gleichwohl zeitlich und inhaltlich mit ihr verbunden war: die Kulakenverfolgung. Stalin gab vor, was eine vom Novemberplenum eingesetzte Kommission empfehlen sollte: die ,Dorfbourgeoisie' nicht, wie einige Mitglieder anregten, als Arbeitskräfte auf den neu zu bildenden Kolchosen einzusetzen, sondern sie „als Klasse" zu liquidieren'. Entsprechende Maßnahmen beschloss das Politbüro in einer Geheimsitzung am 5. Januar 1930. Demzufolge waren drei Gruppen zu bilden: „Konterrevolutionäre Aktivisten" sollten ohne jeden Besitz deportiert und bei Gegenwehr standrechtlich erschossen werden. Eine zweite Gruppe sollte in den hohen Norden verschleppt, der Rest im näheren Umkreis auf das schlechteste Land umgesiedelt werden. Diese Entscheidung wurde umgehend und mit äußerster Brutalität durchgeführt. Oh-

nehin schlimm genug, wirkte sie sich dadurch noch verheerender aus, dass die unterstellte Zahl ,kulakischer' Haushalte (ca. 974 000 mit 6,3 Mio. Personen entsprechend 3,9% aller Haushalte, eventuell sogar 1,3 1,5 Mio. Haushalte) deutlich überhöht war und die Zentrale darüber hinaus freihändig Anweisung gab, wie viele Personen abzuliefern' waren. In Verbindung mit dem ökonomischen Kernübel, das man beseitigen wollte der völligen Armut der bestehenden Kolchosen -, führte dies zu einer so weiten Ausdehnung des Kulakenbegriffs, dass auch die ,Mittelbauern' betroffen waren. „Halbkulak" konnte jeder Missliebige sein und jeder, dessen Vieh und Geräte dem Kolchos nützlich schienen. Wie viele Opfer die gesamte mörderische Unterwerfung des Dorfes kostete, der Opfer Zwangskol- jasst sjcn nur scnatzen- Dabei sollte man zwischen Betroffenen, aber am Leben lektivierung i Gebliebenen und tatsächlich Gestorbenen unterscheiden (was nicht immer geund Die Haus 1931 Hof vertriebenen von Gesamtzahl der bis Ende schieht). Familien wird auf 600 000 800 000 (mit durchschnittlich 5-6 Personen) geschätzt, von denen mindestens 350 000 in die Eiswüste des Nordens deportiert und dort ohne Ausrüstung und Saatgut sich selbst überlassen wurden. Erste archivalische Quellen beziffern die Letztgenannten auf ca. 2,1 Mio. Menschen. Weitere 400 000 450 000 Familien wurden innerhalb ihrer Heimatregion umgesiedelt. Ca. 200 000 250 000 Familien gaben vorher auf und zogen in die Städte („Selbst-Dekulakisierung"). Alles in allem traf die Zwangskollektivierung mithin mindestens 1 Mio. von insgesamt 25 Mio. Haushalten oder 5-6 Mio. Menschen. Wie viele davon umkamen, lässt sich ebenfalls nur schwer ermitteln. Die etwa 100 000 Personen, die der ersten Kategorie zugerechnet wurden, hatten besonders geringe Chancen zu überleben. Von den 2,1 Mio. Deportierten dürften infolge einer erhöhten Mortalität von 15-20% ca. 315 000 420 000 .vorfristig' gestorben sein. Zusätzliche Todesfälle auch in den folgenden Jahren eingerechnet, hat man die Gesamtzahl der Opfer der Kulakenverfolgung in diesem Sinne auf ca. 530 000 bis 600 000 Personen geschätzt [371: Davies, Harrison, Wheatcroft, Economic -

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Transformation, 68;

751:

Merl, System, 289].

C. Revolution

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oben und Vorkriegsstalinismus (1929-1941)

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sprechen dafür, dieser traurigen Bilanz noch die Opfer der Hungersnot anzufügen, die vor allem, aber nicht nur die Ukraine in den Jahren 1932-34 heimsuchte. Denn zweifellos bildete die Zwangskollektivierung eine Ihrer Ursachen. Über die Zahl der Betroffenen wird ebenso heftig diskutiert wie über die genaue Absicht und Verantwortlichkeit Stalins. Seriöse Schätzungen (aufgrund komplizierter demographischer Berechnungen) schwanken zwischen Gute Gründe

4-5 Mio. und 6 Mio. tatsächlich Verstorbener.

Bei alledem ist längst unstrittig, dass die Zwangskollektivierung auch ihr ökonomisches Ziel verfehlte. Bekannt sind die Massenschlachtungen, mit denen die Bauern der Kollektivierung ihres Viehs zuvorkommen wollten. Aber auch sonst wurde so viel Produktivkapital (Arbeitsgeräte, Stallungen u. a.) vernichtet, dass die Landwirtschaft weniger als zuvor imstande war, die Bevölkerung zu ernähren. Erst recht konnte von einem Werttransfer zugunsten der Industrialisierung keine Rede sein. Erfolg hatte Stalin nach seinen Maßstäben nur in einer Hinsicht, der aber als Motiv gewiss großes Gewicht beizumessen ist: Die politische Widerstandskraft des Dorfes war bei aller bleibenden passiven Resistenz ein für alle Mal gebrochen. -

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3. Die Ausschaltung der „Rechten Opposition" und das Ende aller Kritik

Weil die planmäßige Industrialisierung und erst recht die Kollektivierung der gesamten Landwirtschaft das Ende der NEP bedeuteten, ging der Kurswechsel mit der Niederlage ihrer Gegner einher. Deshalb bedeutete Revolution von oben' auch mehr als ,nur' eine Kehrtwende der sozioökonomischen Strategie zum „Aufbau des Sozialismus". Sie vollendete Stalins Aufstieg zur Alleinherrschaft und spitzte die oligarchische Parteiherrschaft zu einer personalen Diktatur zu, die keinerlei Kritik mehr zuließ. Anders als die ,linke' Opposition Mitte der zwanzigerJahre forderte die,rechte' am Ende der Dekade keine Korrektur von Missständen. Vielmehr plädierte sie umgekehrt dafür, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Anders auch als ihre ,linken' Vorgänger konnte sie an keine parteiinterne Tradition ,reiner' Ideologie anknüpfen. Statt dessen verteidigte sie eine Politik, die in ihrer pragmatischen Offerte an die Bauern zweifellos von der orthodoxen marxistischen Lehre abwich. Dies könnte ein Grund für ihre Niederlage gewesen sein. Der wichtigere ist aber sicher in der Person Stalins und in jenen Veränderungen in der Partei und ihrer Führungsriege zu sehen, die seiner Strategie zum Sieg verhalfen. Denn nur so lässt sich Stalins Erfolg verstehen. Als er die Getreidekrise des Winters 1927/28 mit den Methoden des Bürgerkriegs zu bekämpfen empfahl, begann er ein gewagtes Spiel. Stalin und niemand sonst verließ den Boden der ,rechten' Politik, in deren Namen und zu deren Fortsetzung er noch wenige -

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Stalins Aufstieg zur A"elnherrschaM

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zuvor die „Vereinigte Opposition" unterworfen hatte. Das ZK war zunächst auch nicht bereit, ihm zu folgen. Vielmehr bestätigte es im April und Juli 1928 den alten Kurs. Bucharin hatte gute Gründe für die Annahme, seine berühmten Anmerkungen eines Ökonomen vom Herbst des Jahres nicht umsonst geschrieben zu haben. Doch Stalin mobilisierte seine Truppen mit großem Geschick. Dabei nutzte er zum einen die Verschärfung des Generationenkonflikts in der Partei. Er bediente sich der Ungeduld des Kommunistischen Jugendbundes, um die ,rechte' Gewerkschaftsspitze mit dem langjährigen Vorsitzenden und durch Mitstreiter Bucharins Michajl P. Tomskij aus dem Amt zu drängen. KomsoUnterstützung die Jugend mol>Cy unter ihnen Lev Kopelev gehörten zu den eifrigsten Aktivisten des ersten Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung. Zum anderen ließ sich Stalin Gerüchte über Gespräche zwischen Bucharin und Kamenev Anfang 1929 nicht entgehen, um seine schärfste Waffe in Anschlag zu bringen: Wie einst seine ,linken' Gegner bezeichnete er nun auch die ,rechten' als abweichlerische .Fraktion' von der Art, die der zehnte Parteitag 1921 noch unter der Führung des unangreifbaren Lenin für alle Zeit verboten hatte. Dieser Anklage mussten sich die Wortführer der ,Rechten', neben den genannten auch Aleksej I. Rykov immerhin Vorsitzender des SNK im April 1929 beugen. Der Niederlage folgte der Ausschluss aus dem Politbüro, den dasselbe Novemberplenum ein halbes Jahr später verfügte, das die fatale Entscheidung über die Zwangskollektivierung traf. Im Unterschied zu den ,Trotzkisten' krochen die ,Bucharinisten' aber zu Kreuze und durften in weniger einflussreichen Amtern in der Partei bleiben (bis der

Monate

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Erste

Schauprozesse

„große Terror" sie verschlang). Andere erhielten weder Gelegenheit zur Reue, noch wollten sie Buße tun. Es war gewiss bezeichnend, dass parallel zur Kampagne gegen die ,rechte' Opposition erste Schauprozesse gegen Missliebige höchst verschiedener Profession und

Stellung inszeniert wurden. Mit der Diktatur Stalins verschärfte sich die Disziplinierung der Gesellschaft bis hin zu Deportationen. Die Serie begann mit dem sog. Sa.chty-Vroze.ss gegen bürgerliche Spezialisten' der Bergwerke im Donec-

becken (Sommer 1928) und setzte sich in verschiedenen Verfahren gegen moderate Ökonomen aus dem Gosplan sowie gegen ukrainische Intellektuelle 1930-31 fort. Gemeinsam war den durchweg konstruierten Vorwürfen nur eines: die Absicht, über den Kampf auf höchster Ebene hinaus jede Kritik im Lande zu ersticken. Auch deshalb erscheinen sie im Rückblick als Vorspiel zu den großen' Schauprozessen fünf Jahre später. -

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Herrschaft, Terror und wirtschaftliche Entwicklung

Als die erste Planperiode (1929-32) zu Ende ging, das Dorf kollektiviert und der Hunger in den Getreideanbaugebieten politisch folgenlos geblieben war, konnte Stalin aufatmen. Er hatte die große Umwälzung nicht nur überstanden, sondern war

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oben und

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durch sie gestärkt worden. Der Kurswechsel verband sich mit seinen Namen, ihm fielen die Früchte des (vorläufigen) Triumphes zu. Gelegenheit, sie zu ernten, bot Ende Januar 1934 der nächste (17.) Parteitag, der als „Parteitag der Sieger" in die 1934: „Parteitag Annalen einging. Weil das Schlimmste überstanden schien, kam in Stalins Umge- der s,e8er bung allem Anschein nach Versöhnungsstimmung auf. Die Risse, die Partei und Gesellschaft durchzogen, sollten gekittet werden. Abermals war eine Atempause angesagt, diesmal aber nicht als Kompromiss zur Herrschaftssicherung, sondern zur Konsolidierung der Resultate eines gewaltsamen Umbruchs. Stalin teilte diese Stimmung zumindest insofern, als auch er die Zeit für gekommen hielt, das Land auf veränderter Grundlage wieder zu ordnen. Sicher konnte ihm nicht daran gelegen sein, die Dynamik ganz und gar zu bremsen. Aber sie sollte kanalisiert und neu eingefasst werden. Nach außen hin dienten vor allem zwei Maßnahmen diesem Ziel. Zum einen trieb Stalin die Ausarbeitung einer Neue Verfassung 1936 neuen Verfassung voran. Laut offizieller Sprachregelung hatten Zwangskollektivierung und Planwirtschaft der Bourgeoisie' endgültig den Garaus gemacht. Wo es aber keine Ausbeuter mehr gab, brauchte man ihnen wie in den Verfassungen von 1918 und 1924 das Wahlrecht nicht zu entziehen oder auf andere Weise deutlich zu machen, dass sie nur noch als Residualkategorie geduldet wurden. Nach der totalen Sozialisierung aller Produktionsmittel kannte das vorgeblich sozialistische Regime nur noch gleichberechtigte Bürger. Die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Zugleich erklärte man die Notwendigkeit einer Diktatur des Proletariats für überflüssig. Stattdessen sollte uneingeschränkte Demokratie praktiziert und zugleich die föderale Struktur der Union in Gestalt einer nun eigenständigen Nationalitätenkammer im Obersten Sowjet (als Nachfolger des Allunions-Sowjets auf gesamtstaatlicher Ebene) gestärkt werden. Mit diesen Veränderungen wurde die neue, die Stalinsche Verfassung Ende November 1936 verabschiedet. Den Buchstaben zufolge erfüllte sie in der Tat alle Wünsche nach Demokratie, Menschenrechten und sozialer Sicherheit. Sie hatte nur den einen Nachteil nie auch nur ansatzweise Wirklichkeit geworden zu sein. Zum anderen hielt auch Stalin eine neue Geschlossenheit der Partei für nötig. Gleichschaltung Nur verstand er sie auf seine eigene Weise: als Sammlung Getreuer und Ausschluss der Partel derer, die ihm nicht so laut zujubelten. Dem diente zunächst eine „Säuberung" im eigentlichen Sinne der Überprüfung der registrierten Kommunisten auf die Kriterien der Mitgliedschaft einschließlich der erwünschten sozialen Herkunft (1935/36). Freilich war der Übergang zwischen dieser friedlichen' Durchleuchtung und gewaltsamem Nachdruck von Anfang an fließend. Auch deshalb sank die Zahl der Bolschewiki deutlich. Doch nicht genug damit. Am 1. Dezember 1934 wurde der Leningrader Parteichef Sergej M. Kirov erschossen. Die Umstände sind bis heute ungeklärt. Chruscev behauptete in seiner berühmten Geheimrede von 1956, Stalin habe die Fäden gezogen. Es sei in seinem Interesse gewesen, jemanden ermorden zu lassen, dem -

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der Parteitag zu Jahresbeginn Beifall gespendet und bei der Wahl mehr Stimmen gegeben habe als dem amtierenden Generalsekretär. In der Tat sprechen viele Indizien für diese Version. Aber Beweise fehlen immer noch, und wichtige Gegenargumente wurden zu wenig bedacht. Davon unberührt bleibt der Tatbestand, dass Stalin die aufwühlende Tat nutzte, um bereits anderntags Notstandsmaßnahmen zu verhängen, die den willkürlichen Zugriff auf Gegner aller Art und ihre unverzügliche Bestrafung einschließlich der Erschießung ermöglichten. Mit dem Mord an Kirov begann eine neue Terrorwelle nicht mehr im Dienste einer Ideologie oder einer ihr entsprechenden sozioökonomischen Ordnung, sondern im Dienste persönlicher diktatorischer Macht. Physische Gewalt und Gewaltandrohung als systematische Instrumente der Herrschaftssicherung nahmen in den folgenden Jahren vor allem zwei Formen Schauprozesse an. Zum einen fanden weitere Schauprozesse gegen prominente Kritiker von einst statt. Was Stalin dazu bewog, kann man nur erahnen. Vermutlich wollte er trotz seines Triumphes jede Möglichkeit neuer Rivalität beseitigen und dabei auch die gleichsam leibhaftige Erinnerung daran tilgen, dass er in der bolschewistischen ,Kampfzeit' keine herausragende Rolle gespielt hatte. Zugleich bewies er mit diesen Inszenierungen, wie er mit denjenigen umzugehen gedachte, die ihm ob beabsichtigt oder nicht im Wege standen. Diese Demonstration richtete sich an die nationale und internationale Öffentlichkeit zugleich und vermag am ehesten zu erklären, warum man an der Fiktion der Rechtmäßigkeit in Gestalt von Geständnissen und eines förmlichen Verfahrens festhielt, obwohl jeder Klarsehende wusste, dass die Selbstbeschuldigungen erpresst, die Prozesse eine Farce waren und die Strafen für die Hauptangeklagten der Tod schon vorher feststanden. In dieser Form wurden im August 1936 als Erste Zinov'ev und Kamenev zusammen mit vierzehn weiteren bekannten Bolschewiki der Verschwörung bezichtigt und hingerichtet. Im Januar 1937 folgte der Prozess gegen Georgij L. Pjatakov, Karl Radek und andere, die ebenfalls überwiegend mit dem Tode bestraft oder deportiert wurden. Im März 1938 schließlich entledigte sich Stalin im größten Schauverfahren seines von Trotzki abgesehen wohl gefährlichsten Widersachers Bucharin und weiterer ehemals hochrangiger Parteigenossen (darunter Rykov). Parallel dazu .verschwanden' in diesen Jahren viele Mitstreiter Stalins, die sich seinem Führungsstil nicht mehr unterwerfen wollten. Zwei begingen im Dissens, wie man vermutet, Selbstmord. So standen auf dem 18. Parteitag im März 1939 gerade noch sieben von fünfzehn 1934 gewählten Mitgliedern des Politbüros zur Wiederwahl an. Im ganzen Land war kaum jemand mehr übrig, der Stalin nicht laut akklamiert hätte. Daneben entfaltete sich eine zweite Form willkürlicher Gewalt, die dem Stalinismus in besonderem Maße das Verdikt eingetragen hat, neben dem Nationalsozialismus die andere moderne, totalitäre Diktatur des 20. Jahrhunderts Massenterror des gewesen zu sein: der Massenterror Er verband sich unauflöslich mit dem WirNKVD kgjj jes Volkskommissariats des Innern (NKVD), das seit 1934 die Zustän-

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für die normale Polizei, Truppen der inneren Sicherheit und den Geheimdienst aus dem Erbe der Tscheka/GPU/OGPU in sich bündelte. Auf dem Hintergrund des Fehlens einer unabhängigen Justiz, des Herrschaftsmonopols der Partei auch im Staat und der Ausnahmegesetze vom Dezember 1934 wurde dieses ,Uberministerium' zum Instrument und Exekutivorgan der Intrigen Stalins und seiner engsten Führungsclique. Freilich bedurfte es dazu auch (mindestens) noch willfähriger oberster Schreibtischmörder. Stalin fand sie in Genrich G. Jagoda sowie dessen Nachfolgern Nikolaj I. Ezov und Lavrentij P. Berija. Vor allem Ezov, der Zwerg mit den (auf einem bekannten Plakat abgebildeten) „eisernen Handschuhen" und NKVD-Chef während des „großen Terrors" (R. Conquest) 1937/38, verkörperte jenen Handlanger, der die Schmutzarbeit willfährig verrichtet und ihr danach selbst zum Opfer fiel (1939 erschossen). Uber die Frage, wie viele Menschen diese „Höllenmaschinerie" (Bucharin) insgesamt verschlang, ist seit einem halben Jahrhundert heftig diskutiert worden. Die Schätzungen schwanken in einem Maße, das dem Eingeständnis des Nichtwissens gleichkommt. Zum Teil ergab sich diese enorme Spannweite aus einem unscharfen Opferbegriff, der bei den einen jede Festnahme, bei den anderen nur tatsächlich „vorzeitig Verstorbene" meinte. Zum Teil kommt darin aber auch die Tatsache zum Ausdruck, dass alle Angaben bis zum Untergang der Sowjetunion auf Hochrechnungen beruhten. Erst seit 1990 wurden Daten aus dem Archiv des NKVD zutage gefördert. Obwohl auch deren Zuverlässigkeit in Zweifel gezogen wurde, sollte man sie zugrunde legen, solange es keine besseren gibt. Demnach lassen sich statt 7-8 Mio. Insassen aller Arbeitslager (53 im März 1940) und Arbeitskolonien (425 um dieselbe Zeit) ,nur' 2 Mio. nachweisen, die sich mit Gefängnisinsassen und den Verbannten des „Kulakenexils" auf höchstens 3,5 Mio. vor dem Kriege addieren. Statt mindestens 3,5-4,5 Mio. Verhaftungen während des „großen Terrors" der Jahre 1937/38 erlaubt die interne Buchführung des NKVD eine maximale Schätzung von 2,5 Mio. Statt einer oder mehrerer Millionen in dieser Zeit Hingerichteter lassen sich ca. 680 000 belegen. Auch wenn noch manche unregistrierte Opfer hinzuzurechnen sind, dürfte die wahre Zahl, sollte sie sich je ermitteln lassen, nicht sehr weit davon entfernt liegen. Inzwischen steht außer Frage, dass der Terror vom Politbüro und von Stalin autorisiert wurde. Eine entscheidende Wende markierte dabei offenbar das ZKPlenum vom März 1937. Listen mit Namen von ca. 340 000 zu verhaftenden und zum Teil sofort zu erschießenden Personen sind aufgetaucht, die der Diktator selbst abgezeichnet hat. Für die zentrale Verursachung spricht auch die unbezweifelbare Tatsache, dass die schlimmste Welle willkürlicher Verhaftungen und Deportationen nach einem entsprechenden Beschluss des höchsten Parteiorgans vom 18. November 1938 tatsächlich zu Ende ging. Der Massenterror hatte seine Schuldigkeit getan; auch nach Stalins Meinung war er dysfunktional geworden, weil er nicht nur die eigenen „Kader", sondern darüber hinaus die Stützen des Staates (einschließlich der Armee) und der Wirtschaft allzu empfindlich dezimiert

digkeiten

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hatte. Dessenungeachtet leuchtet auch der Hinweis darauf unmittelbar ein, dass der Terror zugleich eine erhebliche Eigendynamik entfaltete. Wo eine eigens damit beauftragte Organisation nach Saboteuren' fahndete, fand sie sie auch. Dies war umso eher der Fall, als Eigenmächtigkeiten in einem so ausgedehnten Land wie der Sowjetunion nicht kontrollierbar waren. Lokale Wünsche nach (zum Teil erheblicher) Ergänzung der erwähnten Todeslisten belegen dies. Die Motive bleiben dabei im Dunkeln. Sie dürften von vorauseilendem Gehorsam bis zur Begleichung privater Rechnungen reichen. Im übrigen hörten Willkür und Gewalt mit dem ZK-Beschluss natürlich nicht völlig auf. Vielmehr blieben sie weiterhin, als Drohung und konkrete Handlung, unentbehrliche Instrumente stalinistischer Herrschaft. Arbeitslager Von Anfang an haben die Arbeitslager große Aufmerksamkeit erregt. Sie machten die Gewalt, die zum Stalinismus gehörte wie das Feuer zur Hölle, nicht nur anschaulich und konkret. Darüber hinaus bot es sich nachgerade an, die Ungeheuerlichkeit ihrer festen Institutionalisierung in Analogie zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern als ein Merkmal für die totalitäre Qualität des Herrschaftssystemszu werten. Unbeschadet aller Unterschiede in der Art, Funktion und Zahl nicht zuletzt der Insassen verdient der Umstand zweifellos Beachtung, dass die Lager spätestens seit der Schaffung einer geGULag meinsamen Verwaltung (GULag) innerhalb der OGPU 1930 gleichsam den Status einer regulären Behörde erhielten. Sie wurden ebenso zur Normalität erklärt wie Gefängnisse. Die zeitliche Koinzidenz mit der Zwangskollektivierung und dem Beginn der Brachialindustrialisierung war dabei kein Zufall. Angebliche Kulaken und Halbkulaken bildeten die erste große Gruppe, die pauschal und massenhaft deportiert wurde. Was im Bürgerkrieg mit der Inhaftierung von Regimegegnern begonnen und die zwanziger Jahren weitgehend unverändert überdauert hatte, weitete sich nun zu jenem „Archipel" aus, dessen „künstlerische Bewältigung" Alexander Solschenizyn vierzig Jahre später die -

Zwangsemigration eintrug. Offen ist dabei die Frage geblieben,

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ob der GULag in der neuen Größe an vorderer Stelle nicht auch ökonomischen Zwecken diente und zu einem unverzichtbaren Bestandteil des sozialistischen Aufbauprogramms wurde. Vieles spricht für eine solche Annahme. Der Vergleich mit der „Manufakturleibeigenschaft" unter Peter dem Großen oder der Häftlingsarbeit im 18. und 19. Jahrhundert generell erscheint sinnvoll. Zwangsarbeit lohnte dort, wo Kapital fehlte, wo Rohstoffe mit einfachsten technischen Mitteln im Wesentlichen durch physische Kraft erschlossen oder auf diese Weise beim Bahn- und Straßenbau Grundlagen der Infrastruktur geschaffen wurden. So waren die meisten Insassen von Lagern und Kolonien gegen Ende der 1930er Jahre auf Baustellen beschäftigt (3,5 Mio.), ca. 1 Mio. arbeiteten im Bergbau einschließlich der Goldgewinnung, 0,4 Mio. fällten und zersägten Bäume, weitere 0,2 Mio. wurden in der Landwirtschaft eingesetzt. Zugleich verweist diese ungefähre Verteilung der

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Zwangsarbeit

auf die Grenzen ihres Nutzens. In fortgeschrittenen Industriebranchen fand sie kaum Verwendung. Teure Maschinen konnte man nicht Deportierten anvertrauen. Dem größten Teil der Häftlinge dürfte auch die nötige Qualifikation gefehlt haben. So erscheint eine doppelte Antwort auf die Frage nach der ökonomischen Verursachung und Funktion des GULag plausibel: Als Stalin das Land zum ,großen Sprung' antrieb und die Fundamente der Industrialisierung sozusagen mit bloßen Händen gemauert wurden, lohnte sich der Einsatz von Zwangsarbeit; mit zunehmendem technologischen Niveau des Produktionsprozesses nahm ihr Nutzen ab. 5. Sozialistischer Aufbau

Nach dem gewaltsamen Aufbruch in ein neues ökonomisches Zeitalter ergab sich die Aufgabe der nächsten Jahre von selbst: das Erreichte zu sichern und fortzusetzen. Die sozialistische Industrialisierung sollte weitergehen, übermäßige Beanspruchung der materiellen und menschlichen Ressourcen aber vermieden werden. Dem lag die Einsicht zugrunde, dass das Land und seine Bevölkerung Zeit zum Luftholen brauchten. Der zweite Fünfjahresplan (1933-37) gewährte Zweiter Fünfihnen diese Pause. In seiner Mitte lag eine Periode, der auch prinzipielle Gegner )a'lresP|an des eingeschlagenen Weges „eindrucksvolle" [790: Zaleski, Stalinist Planning, 142] Resultate attestierten. In diesen,guten Jahren' wuchs die Industrie weiterhin schnell, aber nicht mehr um den Preis des Raubbaus. Die Investitionen blieben hoch, wurden aber weniger einseitig verteilt als vorher. Die Arbeitsproduktivität, ein entscheidender Indikator, stieg spürbar. Auch die materielle Lage der Stadtbewohner entspannte sich leicht. Als Signal dafür wurde insbesondere die Aufhebung der Rationierung von Lebensmitteln zum Jahresanfang 1935 empfunden. Das Argument vermag zu überzeugen, dass sich die ungeheuren Anstrengungen der vorangegangenen Jahre in diesen Erfolgen auszahlten. Die gleichsam ,vorfinanzierten' Großprojekte wurden fertiggestellt. Die Hochöfen von Magnitogorsk nahmen den Betrieb auf und in Stalingrad liefen funktionsfähige Traktoren in erheblicher Zahl vom Band. Allerdings kam die positive Entwicklung schon im letzten Jahr des Planungszeitraums zum Erliegen. Im berüchtigten Jahr 1937 brach auch die Wirtschaft ein. Der Terror wütete nicht zuletzt unter Fabrikmanagern und Planungsspezialisten bis hinauf in die höchsten Etagen. Wo so viele Lücken gerissen wurden, geriet gerade ein zentral gesteuerter Kreislauf durcheinander. Aber vermutlich kamen weitere Ursachen hinzu. Auch die Umsetzung des dritten Fünfjahresplans (1938-42) ließ in dem Zeitraum, der bis zum deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 blieb, keine nennenswerte Besserung erkennen. Die tatsächliche Entwicklung hinkte hinter den Vorgaben her. Allzu viele Ressourcen flössen schon zu dieser Zeit, als die Kriegsgefahr in Europa wuchs und sich die

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Konfrontation mit dem Großdeutschen Reich verschärfte (Spanischer Bürgerkrieg), in die militärische Aufrüstung. In die zweite Planperiode fielen auch Beginn und Höhepunkt der StachanovStachanovKampagne Kampagne (Stachanovsäna). Was der namengebende Bergmann Ende August 1935 zuwege brachte, als er seine „Norm" um 1457% übererfüllte, erhielt auf einer Plenartagung des ZK im Dezember das offizielle Plazet. Ein neuer „sozialistischer Wettbewerb" wurde ausgerufen, der die Arbeiter anspornen sollte, mehr zu leisten und das Letzte aus sich und den Maschinen herauszuholen. Der Bezug auf den neuen Helden wurde zum Markenzeichen und ubiquitär: Von Stachanov-Zügen und -Schulen bis zum -Hurra und -Dank kündeten alle nur denkbaren Wortverbindungen zumindest vom aufopfernden Einsatz der Propagandisten und von zentraler Unterstützung. Darin kam ein bezeichnendes Merkmal der Planwirtschaft und der sozialistischen Gesellschaft insgesamt zum Ausdruck: Eine Vielzahl von „Schlachten" an allen möglichen „Fronten" sollten jenes Engagement erzeugen, das in der Marktwirtschaft letztlich von der Aussicht auf (in der Regel) materielle Vorteile hervorgebracht wird. Wo kein Geld vorhanden war, um mit höheren Löhnen zu locken, und solche Anreize auch dem Altruismus- und Egalitätsideal widersprachen, griff man auf ideologische Kampagnen zurück. Im Fall der Stachanovsäna deutet überdies viel darauf hin, dass Stalin sie auch innenpolitisch nutzte. In turbulenter Zeit versuchte er sich eine Gefolgschaft zu schaffen, die allein ihm ergeben war und sich gegen die ,Bürokratie' sowohl der Wirtschaft als auch der Partei richten ließ. Freilich ließ der ökonomische Erfolg auf sich warten. Allem Anschein nach verursachte die Kampagne mehr Schaden als Nutzen. Zum einen brachte sie sowohl die Manager und Ingenieure als auch nichtbeteiligte Arbeiter gegen sich auf. Erstere wurden zur Zielscheibe der antihierarchischen ,plebiszitären' Kritik, warf ihnen die Stachanovsäna doch durch ihre bloße Existenz vor, versagt zu haben. Letztere fürchteten angesichts der Demonstration, dass ein Vielfaches erfüllbar war, eine Erhöhung der Normen. Nicht zuletzt waren die Maschinen und Geräte dem Übereifer der Stachanovcy nicht gewachsen. Ohnehin arg strapaziert und kaum gepflegt, verschlissen sie noch schneller. So brachte die Kampagne womöglich kurzfristige Erfolge schon auf mittlere Sicht erwies sie sich aber als Raubbau an den Menschen und ihren technischen Hilfen. Ahnlich muss auch die Antwort auf die Frage nach dem Erfolg des erflächlicher Erfolg „sozialistischen Aufbaus" gespalten bleiben. Wenn man den selbstgewählten Maßstab zugrunde legt, die russische Rückständigkeit hinter sich zu lassen, -

„westliche" Wachstumsraten der industriellen Pro-Kopf-Produktion zu erreichen und den Grundstein für die Konkurrenzfähigkeit (einschließlich der militärischen) mit dem kapitalistischen Systemgegner zu legen dann wurde dieses Ziel „zumindest teilweise" verwirklicht [371: Davies, Harrison, Wheatcroft, Economic Transformation, 151]. Die Sowjetunion setzte fort, was in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts mit dem symbolträchtigen Bau -

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der Transsibirischen Eisenbahnlinie begonnen worden war. Der Eintritt in das industrielle Zeitalter gelang. Zugleich liegt auf der Hand, dass der Preis hoch war. Zu zahlen hatten ihn die einfachen Leute, neben den Bauern auch die Arbeiter. Ökonomisch trat das Missverhältnis zwischen Aufwand und materiell spürbarem Ertrag vor allem in der Vernachlässigung der Konsumgüterproduktion in Erscheinung. Der erste Fünfjahresplan hatte vor allem der Schwerindustrie und dem Aufbau einer Infrastruktur gegolten. Der zweite und in geringerem Maß auch der dritte sahen deshalb, sozusagen als Kompensation, ein gleichgewichtiges Wachstum der Herstellung von Verbrauchsgütern vor. In dieser wichtigen Hinsicht aber blieben die Pläne ein leeres Versprechen. 6. Das

kollektivierte

Dorf

Wenn der Krieg gegen das Dorf einen weiteren Sinn hatte als den der politischen Unterwerfung, dann lag er in der Hoffnung, auf diese Weise endlich das alte russische Problem zu geringer landwirtschaftlicher Ertragskraft lösen zu können. Das marxistische Rezept .rationaler' Großproduktion sollte helfen, die Wirtschaftliche Ziele Begrenztheit der Ressourcen ärmlicher Familienbetriebe zu überwinden, und Technisierung jene Leistungsfähigkeit herbeiführen, die nötig schien, um einen weiteren Industrialisierungsschub des Landes zu tragen. Dieser Effekt konnte sich nicht von heute auf morgen einstellen. Aber er sollte wenigstens mittelfristig sichtbar werden. Die ökonomische Bilanz der Kollektivierung am Ende des Jahrzehnts musste daher vor allem auf diese Frage antworten, dabei aber auch

die sozialen Schäden bedenken, die

vom

wirtschaftlichen Resultat kaum

zu

trennen waren.

steht außer Zweifel, dass der wirtschaftliche Zweck des neuerlichen Bauernkriegs auch mittelfristig nicht erreicht wurde. Im Gegenteil, um die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft stand es am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schlechter als gegen Ende der NEP. Mehrere Faktoren haben dazu in ungleicher Weise und keiner für sich allein beigetragen. Die wichtigsten seien genannt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die „vollständige" Kollektivierung entgegen ihrer Bezeichnung nicht durchgesetzt werden konnte. Als Stalin den Kompromisse in der ersten Ansturm mit seinem Pravda-Arükel vom 2. März 1930 abblies, wurde Kollektivierung zugleich ein vorläufiges Musterstatut für landwirtschaftliche Kooperative veröffentlicht. Schon dieser Entwurf war ein Kompromiss. Er gestand den Bauern das zu, wofür sie mit größerem Widerstand als bislang bekannt kämpften: Haus und Hof sowie eine kleine Privatwirtschaft. Die endgültige Unterwerfung und Stalins Gesamtsieg haben daran nichts mehr geändert. Trotz ungefährdeter Macht wagte es der Diktator nicht, die Konzession zurückzunehmen. Auch das Statut

Längst

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17. Februar 1935, das bis zum Krieg und im Kern noch Jahrzehnte darüber hinaus unverändert blieb, bestätigte den Bauern das Recht, ein Stückchen Land nunmehr auf 0,25 0,5 ha. fixiert zu bearbeiten, Kleinvieh (Hühner, Ziegen, Schafe etc.) sowie die bald berühmte Privatkuh zu halten und die Produkte von Acker und Stall auf den umliegenden Märkten frei zu verkaufen. Verboten wurde ihnen dagegen der Besitz eines Pferdes, das als Zugkraft gewertet wurde und mithin als Möglichkeit, Landwirtschaft und vor allem deren Inbegriff in staatlicher Deutung Getreideanbau in größerem Maßstab zu betreiben. Dies sollte dem Kollektiv vorbehalten bleiben. Freilich zeigte sich bald, dass dieser Kompromiss einerseits unerwünschte, anderererseits notwendige Folgen für die Bestandsfähigkeit der gesamten neuen Ordnung auf dem Dorf hatte. Beides führte die ökonomische Uridee der Kollektivierung, soweit es sie je gab, ad absurdum. Unerwünscht musste die Tatsache sein, dass die Zwangsmitglieder der neuen Gemeinwirtschaft ihren eigenen Gärten und Ställen deutlich mehr Aufmerksamkeit widmeten als dem gesellschaftlichen' Besitz. Arbeiten auf den zumeist großen Ackern des Kolchos wurden unwillig und nachlässig geleistet, die privaten Landstücke dagegen überaus intensiv bestellt. Fachleute haben diese Tätigkeit nachgerade als Musterbeispiel für außerordentliche Produktivität bei Einsatz höchst einfacher Geräte (ohne Maschinenkraft) und Materialien (ohne Kunstdünger) bei niedrigen agrotechnischen Kenntnissen bezeichnet. Umgekehrt blieb der Ertrag der Gemeinwirtschaften besonders an den eingesetzten Ressourcen gemessen deutlich hinter den Erwartungen zurück. Auch deshalb musste sich der Staat mit dem Kompromiss abfinden. Die Gesamterzeugung reichte nicht aus, um sowohl seine Bedürfnisse zu befriedigen als auch das Überleben der Bauern zu sichern. So nahm er mit dem vorlieb, was er ökonomisch am ehesten brauchte (und dessen Sicherstellung ein Motiv für die brutale Unterwerfung des Dorfe gewesen war): Zwangslieferungen der Kolchosen an den Staat. Im Gegenzug überließ er es den Produzenten, woher sie die Abgaben nahmen. Faktisch beutete er damit auch die „Nebenerwerbswirtschaft" nicht nur aus, sondern war auf sie angewiesen, weil er andernfalls zumindest teilweise auf die neue Naturalsteuer hätte verzichten müssen. Im Resultat ergab sich ein Paradox: Der Staat konnte die Abhängigkeit von marktkonformen Schwankungen des Getreideangebots nur dadurch beseitigen, dass er,Kleinkapitalismus' auf dem Dorfe duldete und Teile von dessen Ertrag in Anspruch nahm. Der „Kolchosmarkt" ernährte das Land. Entlohnungssystem Zu diesem Resultat trug ein Entlohnungssystem maßgeblich bei, das Leistung nicht gerade anspornte. Zum Teil ergaben sich die Probleme aus dem Rhythmus landwirtschaftlicher Produktion, zum Teil aus der Geringfügigkeit des Ertrags. Weil das Einkommen eines Kolchos erst bestimmt werden konnte, wenn die Ablieferung (im besten Fall zu einem symbolischen Preis) an den Staat geleistet, der nötige Selbstbehalt für die nächste Aussaat abgezogen und der Rest der Erzeugnisse verkauft worden war, wurden Arbeitsleistungen in Form von vom

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„Tagewerken" (trudoden') bis zu diesem Zeitpunkt als Anwartschaften gutgeschrieben. Erst bei der Endbilanz erhielten die Recheneinheiten einen Wert. Wenn der Kolchos wenig erwirtschaftete, blieb dieser niedrig. Da auch Verwaltungstätigkeit und sonstige Dienstleistungen (Kindergärten, Post u. a.) letztlich aus dem Ertrag zu finanzieren waren, ergab sich häufig ein solches Resultat. Für bloße ,Striche' aber wollte kaum jemand arbeiten. Angesichts dessen war es nachgerade rational, wenn ein voll einsatzfähiger kolchoznik im Jahresdurchschnitt der dreißiger Jahre kaum mehr als hundert trudodni leistete ein Fünftel sogar weniger als fünfzig und sich stattdessen seinem eigenen Land

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und Vieh widmete. Hier wusste er, wofür er arbeitete. So blieb die Gesamtbilanz der Zwangskollektivierung negativ. Wohl konnten Gesamtbilanz die unmittelbaren Schäden allmählich wieder wettgemacht werden. Um 1940 de^,Z,wangs" Kollektivierung wurde unter Berücksichtigung von Traktoren das vorherige Niveau an agrarwirtschaftlicher Zugkraft wieder erreicht. Die Fleisch- und sonstige Tierproduktion erholte sich. Die Erzeugung von Getreide und anderen Nahrungsund Industriepflanzen stieg sogar. Aber die Rekonvaleszenz verlief langsam, und vor allem: Sie hielt nicht mit dem Urbanisierungstempo Schritt. Viele Bauern betrachteten das sozialistische' Dorf als Neuauflage der Leibeigenschaft und verhielten sich wie ihre Urgroßväter: Für den Herrn taten sie wenig, für sich alles. Von den Folgen solcher .Schizophrenie' der Arbeitsmoral vermochte sich die kollektivierte Landwirtschaft nicht zu befreien. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ermöglichte sie zwar eine Produktion am Rande der Stagnation, von einer durchgreifenden Besserung konnte jedoch nicht die Rede sein. -

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7. Gesellschaft

und

Kultur

gehört zum Begriff des Stalinismus, dass die Gesellschaft in all ihren Äußerungen, kulturelle eingeschlossen, den politisch gesetzten Zielen und seinen staatlichen Agenturen unterworfen war. Dem widersprechen sowohl erfahrungs- als auch sozialgeschichtlich gestützte Hinweise auf freiwilliges Engagement für den sozialistischen Aufbau' keineswegs. Natürlich hatte der Diktator nicht nur während der großen Umwälzung zahlreiche Helfer und Bewunderer, sei es aus Berechnung oder Überzeugung. Nur war das Ergebnis dasselbe: Disziplinierung und Ausbeutung der allermeisten sozialen Gruppen und Schichten bei relativer Privilegierung weniger und öffentlicher Entmündigung Es

aller. Neben den Bauern hatten vor allem die Arbeiter als Masse der städtischen Unterschicht die Last der gewaltsamen Industrialisierung zu tragen. Dies hing aufs engste mit der enormen Mobilität und Urbanisierung zusammen, die das rasante Entwicklungstempo mit sich brachte. Das Reservoir blieb dabei dasselbe wie im 19. Jahrhundert und (mit welcher Zeitverschiebung auch immer) im Kern

Anwachsender ArDelterscha

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überall: das Dorf. Es waren zumeist überflüssige Hände' vom Land, die auf die unzähligen neuen Baustellen strömten, gleich ob in Einöden (wie Magnitogorsk) oder schon bestehenden Siedlungen. Offiziellen Angaben zufolge stieg die Zahl der Lohnabhängigen aller Branchen (bei einem sehr weiten Begriff) von 8,7 Mio. 1928 auf 23,7 Mio. 1940 und die der Industriearbeiter im engeren Sinn von 3,12 Mio. 1928 auf 8,29 Mio. 1940. Nach anderen Daten kamen in der zweiten Planperiode 1,4 Mio. Neulinge aus Fabrikschulen, 1 Mio. aus den Städten und 2,5 Mio. vom Land. Da auch erstere überwiegend bäuerlicher Herkunft waren, hatten ca. 60% der frisch rekrutierten Proletarier darunter auch für schwere körperliche Arbeit ungewöhnlich viele Frauen den Pflug gegen den Hammer -

eingetauscht. Die Folgen dieser Dynamik für das materielle Lebensniveau in den Städten liegen auf der Hand. Zwar verlangsamte sich der rapide Verfall, der im ersten Planjahrfünft zu verzeichnen war, aber er hielt an. Der Reallohn, dessen Verminderung man für die Jahre 1928-1934 auf 48% geschätzt hat, sank 1928-1937 um 36,5%. Zwar konnte man nach der Aufhebung der Rationierung Anfang 1935 Grundnahrungsmittel sogar wieder frei kaufen, aber die Preise lagen deutlich höher. Hinzu kam eine merkliche Verschlechterung der Wohnverhältnisse. Infolge des starken Zuzugs vom Lande wurde es in den Städten noch enger, als es ohnehin schon war. Erst recht konnte auf den Baustellen von menschenwürdigen Unterkünften selten die Rede sein. So spricht nichts dafür, dass man mit den oft -

verspotteten Worten Stalins vom November 1935 gesagt „besser" und „fröhlicher" lebte, sondern alles für das Gegenteil. Doch nicht Arbeiter und Bauern, mit deren Namen sich das Regime schmückte, gaben der stalinistischen Gesellschaft das charakteristische Gepräge, sondern eine Sowjetintelligenz neue Schicht: die Sowjetintelligenz. Stalin hatte schon in der Kampagne zur Durchsetzung des Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung auf die Jugend gesetzt. In der Tat enttäuschten ihn die Angehörigen dieser ersten im Sozialismus großgewordenen Generation nicht. Besonders gute Gründe dafür hatten die Qualifizierten unter ihnen. Der Gedanke vermag nach wie vor zu überzeugen, dass sie ihm durch Loyalität für die neuen, im Zarenreich undenkbaren Bildungs- und Aufstiegschancen dankten. Absolut stieg die Zahl der Schüler in den höheren Klassen der allgemeinbildenden Schulen, der Fabrik- und Werksschulen, an den sog. Arbeiter- und Bauernfakultäten sowie an den sonstigen technischen und anderen Hochschulen von ca. 775 2001926/27 auf ca. 3,3 Mio. 1938/39, darunter allein in den technischen Lehranstalten von 180 600 auf 951 900. Soziale Herkunftsanalysen zeigen, dass vor allem in den Umbruchsjahren ,Arbeiterkinder' (was immer genau darunter verstanden wurde) den größten Nutzen aus dieser starken Expansion zogen (1930 64,5%). Mit dem Ubergang zur neuen Ordnung seit 1934 ebbte diese ,Proletarisierung' zugunsten der Zunahme des Anteils von „Angestellten" ab. Die Arbeiter blieben aber überrepräsentiert. -

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Schon diese groben Daten geben die Essenz der Veränderungen in der sozialen Elite unter Stalin recht genau wieder. Der,große Sprung' brachte die vydvizency (Aufsteiger), um die sich die Partei schon während des sog. „Leninaufgebots" nach 1924 bemüht hatte, endgültig in zentrale Positionen. Danach schickten die neuen Bürokraten', die im Bürgerkrieg rekrutierten Machthaber der neuen Ordnung, erstmals ihre eigenen Kinder auf die Hochschulen. Beide bildeten unter dem Gesichtspunkt der politischen Sozialisierung ein- und dieselbe Generation: die stalinistische im engeren Sinn. Auf diese neue Elite wartete das Regime seit seiner Entstehung. Es formte sie nach seinen Wünschen: stark ingenieur- und naturwissenschaftlich orientiert, nicht intellektuell fundamental, sondern anwendungsbezogen denkend, ideologisch sattelfest oder unpolitisch, in jedem Falle loyal nicht nur gegenüber dem „Sozialismus", sondern auch gegenüber dem Diktator. Um diese Manager und Fachleute an sich zu binden, war Stalin auch zu materieller Gratifikation bereit. Entgegen aller Gleichheitsrhetorik nahm die Spannweite der Einkommensskala in den dreißiger Jahren erheblich zu. Dabei sind nichtmonetäre Privilegien (Wohnung, Versorgung) nicht einmal eingerechnet. Der „sozialistische Aufbau" schuf eine höchst ungleiche Gesellschaft und prämierte die Elite in neuem Maße. Manches deutet sogar darauf hin, dass auch der „große Terror" den Nebenzweck verfolgte, ihr die Bahn freizuschießen. Die class of '38, darunter fast alle bedeutenden Politiker der Breznev-Ära, erwies sich als dankbar: gegenüber dem Diktator und ungeachtet aller Reformen dem

System.

Stalinistische Elite

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Ähnlich lässt sich für die Kultur der Stalin-Ära ein gemeinsamer Nenner

angeben. Der totalitären Natur des Staates entsprechend hatte sie den Vorgaben des Regimes zu folgen. Sie durfte nicht pluralistisch, sondern musste uniform sein, nicht kritisch-experimentell, sondern gehorsam und dienstbar. Sie verlor ihren utopischen Charakter und wurde im besten Fall darauf verpflichtet, die gegebene Ordnung idealistisch überhöht nach Maßgabe der offiziellen Interpretation zu gestalten. Auch darin zeigte sich eine deutliche Zäsur vor allem zur ersten Hälfte der zwanzigerJahre, wobei schon deren zweite Hälfte und der,große Sprung' von

1929-32 in der Rückschau als Übergang erscheinen. Ob im Bildungswesen, in der öffentlichen Moral, in wertgeleiteten Institutionen oder in Kunst und Wissenschaft die zwanziger Jahren ließen noch deutlich erkennen, dass der bolschewistische Umsturz auch verschiedenen geistigen Erneuerungs- und Protestbewegungen zur (wie immer auch begrenzten) Artikulationsfreiheit verholten hatte. Zwar ging die Zeit des antibürgerlichen Überschwangs schon unter Lenin zu Ende. Aber die NEP begründete einen Schwebezustand, der den Konformitätsdruck von Partei und Staat milderte und seine Wirksamkeit verzögerte. Gerade kulturell leitete die stalinistische Diktatur eine neue Etappe der Sowjet-Ära ein. Die Wende war um so spürbarer, als sie im Gegensatz zur parallelen Transformation der Herrschafts- und Wirtschaftsordnung keine marxistischen Rezepte (in welch dogmatisierter Form auch immer) zu un-

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verfälschter Geltung zu bringen, sondern eher konservative Werte bis hin zum Rückgriff auf vorrevolutionäre Tugenden zu fördern suchte. Schul- und In der Schul- und Bildungspolitik hatte die revolutionäre Pädagogik eines Pavel ungspolmk p Blonskij endgültig ausgedient. Zwar wurde die polytechnische Schule als neue Einheitsschule beibehalten. Damit blieb sowohl die Integration der einst ständisch getrennten Schultypen (Elementarschule, Gymnasium) als auch die institutionelle Umsetzung der Verbindung von Kopf- und Handarbeit bestehen. Aber der Schwerpunkt der Ausbildung verschob sich merklich von der Arbeits- zur Buchschule, so wie kaum zufällig parallel die Verfügungsgewalt der jeweiligen obersten Instanzen zu Lasten der Mitbestimmung der Betroffenen gestärkt wurde. Kaum eine Maßnahme brachte den neuen Geist so sinnfällig zum Ausdruck wie die Wiedereinführung der Schuluniform 1936. Im Oktober 1940 wurde außerdem der Besuch der Oberklassen und der Universität wieder kostenpflichtig. Die neue Elite wollte unter sich sein. Vom gleichen Geist waren die Familienpolitik und die staatlich gelenkte öffentliche Moral geprägt. Der bolschewistische Umsturz hatte auch die Trennung von Staat und Kirche im Programm geführt, erstmals in Russland (damit westeuropäische liberale Errungenschaften des 19. Jahrhunderts nachholend) die Zivilehe erlaubt, Abtreibungen legalisiert und Scheidungen als Beitrag zur Emanzipation der Frau leicht gemacht. Trotz erheblicher sozialer Lasten (Kinder- und Mütterarmut) und heftiger Diskussionen war diese Regelung im Familienstatut von 1926 bestätigt worden. Die stalinistische Diktatur nahm weniger an der Not unvollständiger Familien Anstoß als am Prinzip. Individualismus und Selbstbestimmung, die das Gesetz zu verankern suchte, widersprachen grundsätzlich dem staatlichen Anspruch auf Kontrolle. Hinzu kam, verbunden mit einem erneuerten Patriotismus, die Überordnung allgemeiner Ziele, denen sich auch die Familie als Keimzelle der Gesellschaft zu fügen hatte. So hatte der Beschluss vom 27. Juni 1936, Abtreibungen wieder zu verbieten und die Ehe zu stärken, über seinen Inhalt hinaus große symbolische Bedeutung: Pars pro toto repräsentierte er die gesamte Abkehr des Stalinismus von den kulturrevolutionären Anfängen des Regimes. Auch die Kunst wurde in einem Maße einheitlichen Grundsätzen unterworfen, Kunst das trotz ihrer Vielgestaltigkeit deren Darstellung nur separat zu leisten ist eine zusammenfassende Kennzeichnung erlaubt. In allen Bereichen lassen sich (mindestens) zwei charakteristische Entwicklungen beobachten. Zum einen griffen Partei und Staat mit neuem Nachdruck in ihre Inhalte ein. Symptomatisch war die Verkündung des sozialistischen Realismus als verbindliche Gestaltungsnorm (1932). Was bis dahin zwar vielfach propagiert worden war, aber noch Auswege offen gelassen hatte, wurde nun .gebündelt' und zu einer ästhetischen Vorschrift von umfassendem Geltungsanspruch erhoben. Literatur die nicht zufällig weitgehend auf Romane einschmolz hatte sich fortan an den Leitideen Volksnähe (narodnost'), Massenverbundenheit (massovost') und Par-

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Vorkriegsstalinismus (1929-1941)

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teilichkeit für die ,Titularklassen' des Sowjetregimes (klassovost') zu orientieren. Fern aller naturalistisch-direkten Mimesis sollte sie die typischen Merkmale von Situationen und Charakteren hervorheben und die Vorbildlichkeit der Helden und Geschehnisse zeigen. Ahnliche Vorgaben legten dem sowjetischen Film der zwanziger Jahre (Eisenstein, Vertov) enge Fesseln an. Vor allem deshalb büßten beide ihre internationale Reputation weitgehend ein. Parallel zur ästhetischen Gleichschaltung wurden alle Kunstschaffenden beginnend mit den Schriftstellern 1934 in staatlichen Zwangsverbänden zusammengeschlossen. Wer außerhalb blieb, konnte nicht mehr öffentlich in Erscheinung treten, wenn ihm nichts Schlimmeres geschah. In vieler Hinsicht wurde diese Knebelung des gesamten geistigen öffentlichen Lebens durch die Verherrlichung Stalins überwölbt. Was Chruscev in seiner Personenkult um Geheimrede vor dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 als „Persönlichkeitskult" Stalln anprangerte, war nur die Zuspitzung des allgegenwärtigen Konformitätszwangs zur propagandagestützten Manipulation. Auch hier sprach die Synchronie Bände: Als alle Gegner besiegt waren und der Sturm auf das Dorf begonnen hatte, nahm mit der Feier von Stalins 50. Geburtstag im Dezember 1929 jene devote Herrscherpanegyrik ihren Anfang, die zum Inbegriff totalitärer Hirnwäsche wurde. Stalin avancierte mit diesem Ereignis offiziell zum „Führer" (void) neben Mussolini und Hitler dem dritten jener Tage. Erst recht kannten die Ovationen nach dem „großen Terror" keine Grenzen mehr. Ob aus Angst oder Verblendung, die Delegierten des 18. Parteitags 1939 überboten sich in (protokollierter) Ehrerbietung für einen Diktator, der in die Unfehlbarkeit entrückt wurde. In Schriften, Büsten, Denkmälern, Zeitungen oder Filmen war Stalin omnipräsent und über alle Kritik erhaben. Dabei nutzte auch das Sowjetregime, wenngleich auf deutlich niedrigerem Niveau, die technischen Errungenschaften der Zeit. Sicher liegt in dieser zentral inszenierten, von Zwang und Gewalt begleiteten Kontrolle und Steuerung jeder Öffentlichkeit eine auffällige Gemeinsamkeit mit der nationalsozialistischen Diktatur. Zugleich wird man einer Gleichsetzung mit der Verherrlichung Lenins zu seinen Lebzeiten mit Skepsis begegnen müssen. Zwar genoss gerade der Staatsgründer unanfechtbare Autorität; aber er wehrte sich gegen jede idolatrische Verehrung. Erst zum Stalinismus gehörte der Stalinkult wie die Haut zum Körper. -

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8. Von „kollektiver Sicherheit"

zum

Hitler-Stalin-Pakt

Es wird kein Zufall sein, dass der Abschied sowohl von weltrevolutionären Träumen als auch von der Fixierung auf die Partnerschaft von Rapallo mit zwei tiefgreifenden, äußeren wie inneren Veränderungen einherging: zum einen mit der fortschreitenden Westbindung Deutschlands, zum anderen mit dem Übergang zur Planwirtschaft, der spätestens 1927 feststand. Schon wenige Jahre nach Lenins

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Tod, noch unter der Ägide Cicerins, begann damit eine außenpolitische Wende, die

Außenpolitik sich mit dem Namen seines Stellvertreters Maxim Litvinov verband: die Politik der Litvmovs Kollektiven Sicherheit". Da Litvinov seinem Vorgesetzten Anfang 1930, als Stalin

schon zum unangefochtenen Diktator avanciert war, auch förmlich im Amt folgte, wird man von einer Ubereinstimmung der Positionen ausgehen können. Wie lange sie anhielt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Auch am Ende dieser außenpolitischen Ära standen aber markante Veränderungen, die als Ursachen in Betracht kommen: die Enttäuschung über den Ausschluss vom Münchener Abkommen im September 1938, die Probleme der Verhandlungen mit England und Frankreich und die Hinwendung zu Deutschland. Als Litvinov im Mai 1939 durch Vjaceslav M. Molotov ersetzt wurde, hatte seine Politik unabhängig von der Frage, ob er als Jude der Annäherung an Deutschland im Wege stand -

ausgedient. In gewisser Weise lässt sich die Absicht der „kollektiven Sicherheit" als ErWeiterung der Verständigung mit Deutschland verstehen. Durch jeweils bilaterale Nichtangriffs- und Neutralitätspakte mit den unmittelbaren Nachbarn suchte die Sowjetunion ein Netz an Garantien zu knüpfen, das sie davor schützte, an ihren Grenzen in militärische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Solche Vereinbarungen wurden schon 1925-1927 mit der Türkei, Afghanistan und Persien geschlossen. Einige Jahre später, 1932, ließen sich auch die miss-

Bilaterale Verträge

trauischeren nordwestlichen Nachbarn Finnland, Lettland und Estland darauf ein, die unter zarischem Zepter noch zum russischen Vielvölkerreich gehört hatten. Als es im selben Jahr noch gelang, solche Verträge mit Polen (am 25. 7.) und mit Frankreich (am 29. 11.) zu schließen, verzeichnete diese Strategie einen Erfolg, der noch wenige Jahre zuvor kaum denkbar schien. Freilich war dieser Erfolg nicht nur der vertrauensstiftenden Wirkung des sog. Litvinov-Protokolls zu verdanken, in dem sich die Sowjetunion und andere Unterzeichner darauf verständigten, einen internationalen, vom französischen Außenminister Aristide Briand und seinem amerikanischen Kollegen Frank B. Kellogg vorgeschlagenen Kriegsächtungspakt vorzeitig zu ratifizieren. Hinzu kam eine veränderte Wahrnehmung der internationalen Gesamtlage. Die meisten europäischen Mächte hatten verstanden, dass die Unterscheidung zwischen Siegern und Besiegten nicht mehr als Trennlinie auf dem diplomatischen Parkett taugte. In diesem Sinne ging die Nachkriegszeit ungefähr mit der Wende zu den dreißiger Jahren zu Ende. Vor allem die deutsch-französische Aussöhnung schuf eine völlig neue Konstellation. In gewisser Hinsicht antwortete die nicht minder überraschende Annäherung zwischen den Erzfeinden Sowjetunion und Polen, gefolgt von der sowjetischen Allianz mit Polens treuestem Verbündeten Frankreich, auf die Entente zwischen Stresemann und Briand. Europa war dabei, sich multipolar zu ordnen und wurde erst durch die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland wieder mehr und mehr zu bipolarer Lagerbildung veranlasst. -

C. Revolution

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Vorkriegsstalinismus (1929-1941)

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Die Sowjetunion wollte dabei Deutschland nicht verlieren. An den doku- Beziehungen zu mentarisch fassbaren Aktivitäten gemessen, verfolgte sie dabei einen ebenso Deutscnlana offenen wie wechselhaften Kurs. Auf der einen Seite handelte sie mit der nationalsozialistischen Regierung ein Protokoll über die Verlängerung des Berliner Vertrages aus, das im Mai 1933 vom Reichstag gebilligt wurde. Auf der anderen Seite bekundete man Wohlwollen gegenüber anderen Allianzen, deren nie verwirklichte Absicht in der Schaffung eines von Frankreich gestützten „Zwischeneuropa" als Weiterentwicklung eines ,Ost-Locarno' bestand. Selbst wenn der sowjetisch-französische Nichtangriffspakt vom Mai 1935 auch als demonstrative Reaktion auf die sensationelle deutsch-polnische Verständigung vom Januar 1934 verstanden werden muss, signalierte die Aufmerksamkeit für den Außenminister Laval, der zur Unterzeichnung eigens nach Moskau kam, mehr: die Möglichkeit einer Wiederholung des schicksalhaften renversement des alliances von 1894, das die Grundlage für die Bündniskonstellationen im Ersten Weltkrieg geschaffen hatte. Dessen ungeachtet ließ die Sowjetunion auch in diesen Jahren der ideologischen Konfrontation den Gesprächsfaden mit Berlin nicht abreißen. Es gehört zu den wichtigsten Gliedern der Indizienkette derjenigen, die im Pakt von 1939 nur den manifesten Vollzug von Anfang an gehegter und von der ideologischen Wahlverwandtschaft der totalitären Systeme geförderter Wünsche beider Diktatoren sehen, dass der Leiter der sowjetischen Handelsmission in Berlin 1935 und 1936 Verhandlungen über ein Wirtschaftsabkommen führte. Was der georgische Landsmann Stalins (ob er darüber hinaus ein Vertrauensmann war, werden die Akten noch klären müssen) zu sagen hatte, ging in dieser Interpretation weit über den Vertrag vom 29. April 1936 hinaus: das grundsätzliche Interesse auch an -

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politischen Vereinbarungen.

Die Zeit dafür reifte aber nur langsam. Katalytische Wirkung kam dabei aller Wahrscheinlichkeit nach dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 zu, in dem England, Frankreich und Italien um der Erhaltung des Friedens willen der Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich zustimmten. Abgesehen davon, dass die Sowjetunion der CSR im März desselben Jahres militärischen Beistand zugesichert hatte (die Einlösung aber wohl nie ernsthaft in Erwägung zog), sah sie sich mit guten Gründen ausgeschlossen. Sie war in München nicht dabei und von den Westmächten nicht einmal befragt worden. Wann danach Vorentscheidungen zugunsten einer Option für Deutschland fielen, bleibt im Einzelnen trotz der Öffnung der Archive weiter im Dunkeln. Verbürgt sind indes die wichtigsten Stationen der realen Entwicklung. Im März Deutsch1939 nutzte Stalin die Tribüne des 18. Parteitages, um England und Frankreich sowjetisches Abkommen 1939 unter anderem mit dem Vorwurf zu attackieren, sie wollten die Sowjetunion für ihre egoistischen Zwecke ausnutzen und sie die „Kastanien aus dem Feuer holen" lassen. Im April kam es zu einer Begegnung des deutschen und des sowjetischen Botschafters, die als Zeichen des sowjetischen Interesses gewertet wurde. Im Mai ..

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wurde Litvinov durch Molotov abgelöst. Allerdings darf nicht übersehen werden und darauf verweist die alternative Deutung zu Recht -, dass Stalin den Westmächten zur gleichen Zeit einen Dreibund anbot und offizielle Verhandlungen darüber aufgenommen wurden. Immerhin konnte in diesem Rahmen am 24. Juli ein politisches Abkommen paraphiert werden. Das Kernstück, ein militärischer Beistandspakt, blieb aber ausgeklammert. Über diese besonders schwierige Frage, die nicht zuletzt Polen betraf, sollte separat in einer weiteren Runde vom 12. August an gesprochen werden. Erst dieser Stillstand, so die Gegner der ,Affinitäts'-These, veranlasste Stalin, umzuschwenken und auf die deutsche Offerte einzugehen. In jedem Falle fanden nun neue, konkrete Gespräche statt. Der gegenwärtigen Aktenlage zufolge fiel die Entscheidung spätestens in der Politbürositzung vom 11. August. Da die deutsche Seite drängte, reiste Außenminister Joachim von Ribbentrop mit weitreichenden Vollmachten Hitlers am 23. August persönlich nach Moskau, um letzte Absprachen zu treffen. Der Nichtangriffs- und Konsultationspakt, dessen Bekanntmachung am nächsten Tag um die Welt ging, schlug ein wie eine Bombe. Denn jedermann wusste, was die abrupte Metamorphose der Sowjetunion vom Erzfeind zum Partner bedeutete: den Überfall Deutschlands auf Polen. Erst nach dem schnellen Ende dieses Feldzugs, der am 1. September begann, wurde der eigentliche Inhalt des Vertrags offenbar. Als sowjetische Truppen am 17. September Ostpolen besetzten, trat zutage, dass über den veröffentlichten Text hinaus geheime Vereinbarungen getroffen worden waren. In der Tat beruhten die verheerenden Folgen dieses Dokuments und sein Ruf als Inbegriff verbrecherischer, völkerrechtswidriger Machtpolitik vor allem auf dem Zusatzprotokoll. Was hier verabredet und von Stalin mit einem berüchtigten roten Strich quer durch die beigefügte Landkarte versinnbildlicht wurde, war nichts weniger als die Aufteilung Osteuropas zwischen zwei diktatorischen Eroberern. Demnach sollten das Baltikum nördlich von Wilna und alle Gebiete östlich einer Linie entlang der Flüsse Narev, Weichsel und San an die Sowjetunion fallen, Litauen und alle Gebiete westlich davon an das Großdeutsche Reich. In ähnlichen Zusatzprotokollen zum Grenzvertrag vom 28. September wurde diese ,Demarkationslinie' mit Ausnahme eines Gebietstauschs, der auch Litauen an die Sowjetunion abtrat, bestätigt. Sie hatte bis zum deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 Bestand.

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D. GROSSER VATERLÄNDISCHER KRIEG UND SPÄTSTALINISMUS (1941-1953) 1. Extremer Zentralismus

und patriotische

Mobilisierung

Als deutsche Flugzeuge und Panzer im Morgengrauen des 22. Juni 1941 die Deutscher Überfall Demarkationslinie zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Ein- auf die Sowjetumor flussbereich in Polen überquerten, begann der blutigste Feldzug des Zweiten Weltkriegs. Uber die Motive des Überfalls ist viel gestritten worden. Immer wieder tauchte die These auf, Hitler sei einem Angriff Stalins zuvorgekommen. Gegenüber dieser sog. Präventivkriegsthese hält die große Mehrheit der Sachkenner an der Auffassung fest, dass Hitler die zweite Front aus eigenem Entschluss eröffnete. Als Beleg dafür dient abgesehen davon, dass Hitler den Befehl zur Vorbereitung des ,Unternehmens Barbarossa' schon ein knappes Jahr zuvor (im Juli 1940) gab auf sowjetischer Seite unter anderem die völlige Überraschung der Führung. Als diese reagierte, waren schon viel Terrain und Chancen zur Gegenwehr verloren. Dennoch vermochte das sowjetische Riesenreich in den nächsten Jahren so große materielle und personelle Ressourcen zu mobilisieren, dass es den deutschen Vormarsch nicht nur anhalten, sondern sogar zur Gegenoffensive übergehen konnte. Seitdem stellt sich die große Frage, wie diese Wende mit der säkularen Folge der Entstehung des ,Ostblocks' und des Kalten Krieges zu erklären sei. Dabei wird vorausgesetzt, dass Hitler und seine Feldherren zwar gewiss Fehler begingen, aber die entscheidenden Ursachen für Sieg und Niederlage außerhalb der Kriegführung lagen. Eine knappe Skizze der militärischen Geschehnisse ist zum Verständnis den- Kriegsverlauf noch nötig, da diese naturgemäß mit den wesentlichen Etappen der innersowjetischen Entwicklung korrelierten. Die ersten fünf Monate nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa" wurden vom überaus schnellen Vormarsch der Wehrmacht geprägt. Die deutschen Truppen stießen in drei Keilen vor: im Norden in Richtung Leningrad, in der Mitte in Richtung Moskau, im Süden in Richtung Kiev. Im Norden drangen sie bis an die Tore der alten Hauptstadt vor und begannen jene schreckliche 900-tägige Belagerung, die mindestens 630 000 Opfer forderte und zum Symbol des ungeheuren Leids der sowjetischen Bevölkerung wurde. Im Süden nahmen sie Kiev und erreichten Rostov am Don. In der Mitte kamen sie über Minsk und Smolensk ebenfalls rasch voran, sahen sich in Reichweite Moskaus aber erstmals mit vehementer Gegenwehr konfrontiert, die sie angesichts eines früh einsetzenden Winters nicht zu überwinden vermochten. In November kam der deutsche Blitzkrieg' vor der Hauptstadt zum Stehen. Immer noch spricht viel für die These, dass bereits damit der Anfang vom Ende -

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begann.

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Allerdings war dies noch längst nicht absehbar. Denn auch die zweite Phase des Ostkriegs, etwa vom Beginn des Winters 1941/42, i.e. dem Kampf um Moskau, bis zum Beginn des Winters 1942/43 und der Schlacht um Stalingrad, stand im Zeichen deutscher Siege. Dabei verlagerte sich der hauptsächliche Schauplatz in den Süden,

dessen weite Ebenen den Vormarsch erleichterten. Uber Rostov am Don hinaus besetzte die Wehrmacht die nordkaukasischen Ölfelder; andere Einheiten schoben die Frontlinie bis nach Stalingrad an der Wolga vor. Die Wende brachte der sowjetische Sieg in Stalingrad, mit dem eine dritte, etwa Wende des Krieges bis zur Befreiung Leningrads im Januar 1944 dauernde Kriegsphase begann. Als es der Roten Armee Ende November 1942 gelang, die 6. Armee vom Hinterland abzuschneiden und den „Kessel" von Stalingrad zu bilden, musste allen Militärstrategen klar sein, was auf dem Spiel stand. Erst recht hatten Einwohner Moskaus gute Gründe, auf der Straße zu tanzen, als der letzte deutsche Versuch, das Heft des Handelns wiederzugewinnen, in der Panzerschlacht bei Kursk und Orel im Juli 1943 scheiterte. Danach begann, wenn auch bis zuletzt mit hohen Verlusten, der unaufhaltsame Vormarsch der sowjetischen Truppen und der Rückzug der deutschen Angreifer nach Westen. Anfang 1944 fiel die DneprFront, im Sommer die weißrussische. Im August stand die Rote Armee vor Warschau, im Januar 1945 wurde die Weichsel überschritten, und im April begann die Schlacht um Berlin, die mit der Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 endete. Opfer des Krieges Der Preis, den die Sowjetunion für den unprovozierten Angriff zu zahlen hatte, war enorm. Jüngsten Berechnungen zufolge kamen 8,7 Mio. Soldaten ums Leben, ca. 18 Mio. wurden verwundet oder verstümmelt. Besonders verheerend waren in diesem ersten ideologischen Vernichtungskrieg der Weltgeschichte die Verluste der Zivilbevölkerung. Von der Gesamtzahl sowjetischer Einwohner Mitte 1941 von ca. 196,7 Mio. blieben bis Ende 1945 nur noch 170, 5 Mio. übrig. Ca. 19 Mio. der zusätzlich Verstorbenen' waren Männer. Zu dieser demographischen Katastrophe mit bleibenden Folgen für mindestens zwei Jahrzehnte addierten sich die Verwüstungen einer Politik der verbrannten Erde. Ganze Regionen in den besetzten Gebieten glichen Trümmerfeldern; ca. 1710 Städte und 70 000 Dörfer lagen in Schutt und Asche. Sowjetischen Angaben zufolge zerstörte der deutsche Angriff etwa 30% des Werts aller Produktionsanlagen der Vorkriegsjahre (679 Mrd. -

Rubel).

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Die

Verteidigungskosten (Armee, Rüstungsproduktion) eingerechnet,

sich eine knapp dreimal höhere Summe, die ungefähr dem gesamten Einkommen der sowjetischen Vorkriegsbevölkerung in einem Zeitraum von sieben Jahren entsprach. Anschaulicher mag die andere Schätzung sein, dass die Sowjetunion durch den Krieg wirtschaftlich um etwa 8-10 Jahre zurückgeworfen wurde [800: Barber, Harrison, Soviet Homefront, 42 f.; Bonwetsch, in 266:

ergibt

Folgen des Krieges

HGR 111,911]. Wie in allen beteiligten Ländern hatte der Krieg auch in der Sowjetunion tiefgreifende innere Folgen. Die Herrschaftsordnung änderte sich dabei am

D. Grosser Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus (1941-1953)

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wenigsten: Die überall zu beobachtende Tendenz zur Stärkung der Exekutive hatte hier schon die Extremform der personalen Diktatur angenommen. Was dennoch in diese Richtung getan wurde, diente eher der besseren Umsetzung von Entscheidungen als weiterer Konzentration von Anordnungsbefugnissen. Schon am letzten Junitag 1941 wurde in Gestalt des Staatlichen Verteidigungskomitees (GKO) eine Art Kriegskabinett gebildet, in dem sich fortan alle Kompetenzen bündelten. Vermutlich darf man die wenigen Mitglieder auch als Sprecher bestimmter Großbereiche betrachten. So gesehen waren neben dem Generalsekretär als Repräsentanten des Ganzen durch Berija die Geheimpolizei, durch Molotov die Regierung, durch Georgij M. Malenkov (damals Leiter der Kaderabteilung) die Partei und durch den Verteidigungskommissar Kliment E. Vorosilov die Armee vertreten. Anfang 1942 kamen Anastas I. Mikojan, Lazar M. Kaganovic und der Wirtschaftsexperte Nikolaj A. Voznesenskij, Ende 1944 der Parteifunktionär Nikolaj A. Bulganin hinzu. Das GKO verkörperte damit eine neue kommissarovscina, so wie sie sich im Bürgerkrieg herausgebildet hatte. Abermals erwies sich der militärische Konflikt auf Leben und Tod als Katalysator zentralistisch-

autoritärer Herrschaft mit dem Unterschied freilich, dass sie ohnehin schon bestand und der Krieg ,nur' noch verschärfend wirken konnte. In jedem Falle half die Reorganisation, das schnell und wirksam zu tun, was neben der Mobilisierung von Rekruten vor allem zu leisten war: die Industrie auf militärische Bedürfnisse umzustellen und trotz enormer Gebiets- und Menschenverluste die Versorgung der Bevölkerung, auf welch niedrigem Niveau auch immer, zu sichern. Es ist unbestritten, dass beides gelang. Besonderes Lob hat dabei die Evakuierung der Industrie erhalten. Ein eigens dafür bereits am Evakuierung der kurz darauf dem GKO unterstellter 24. Juni 1941 gebildeter „Evakuie- Industrie rungsrat" leistete nicht nur ca. 16,5 Mio. Menschen Hilfe, die im Laufe des ersten Kriegsjahres vor den Deutschen nach Osten flohen. Darüber hinaus organisierte er, gestützt auf den Gosplan, den Behördenapparat der Regierung und eine Vielzahl regionaler Sonderbeauftragter, bis zum Jahresende 1941 trotz begrenzter Transportmöglichkeiten und der Ermüdung ohnehin schlechten Materials die Demontage und Verfrachtung von 1523 Unternehmen. Deren Anteil an den 32 000 Produktionsstätten des Reiches war zwar gering, ihre Bedeutung aber erheblich. In ca. 1,5 Mio. Waggons wurde allein 1941 etwa der Wert der Investitionen der ersten drei Jahre des ersten Fünfjahresplans gerettet. Im folgenden Jahr kamen etwa 150 Betriebe, darunter 40 große, hinzu. Zielgebiet der Evakuierungen waren vor allem der Ural, Südsibirien und Kazachstan. Im Großen und Ganzen scheint auch der Wiederaufbau zügig vonstatten gegangen zu sein, so dass etwa 1200 Betriebe ihre Produktion bis Mitte 1942 wiederaufnehmen konnten. Im Endeffekt sorgte die Evakuierung damit für die Kontinuität einer Entwicklung, die schon in den dreißiger Jahren begonnen hatte (und nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart hinein anhielt): der Verlagerung der Industrie nach -

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Osten.

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An den neuen Standorten setzte man die ,zerlegten' Fabriken nicht zum alten Produktionszweck zusammen, sondern rüstete sie nach Möglichkeit für miAusrichtung auf litärische Zwecke um. Nach der Evakuierung erfolgte die Konversion. Statt ulitarische Zwecke Kinderfahrräder wurden Flammenwerfer hergestellt, statt Schreibmaschinen Gewehre. Zugleich konnte die Produktion beträchtlich erhöht werden. So stiegen die Kennziffern für die gesamte Industrie (1940 100) von 1942 77 auf 1943 90 und 1944 104, die der Rüstungsbranchen sogar von 1941 140,1942 186,1943 224 auf 1944 251. Die Daten erklären sich selbst: Nach einem Tiefpunkt 1942 erholte sich gewerbliche Wirtschaft, um 1944 das Niveau von 1940 zu übertreffen. Dabei konzentrierte man alle Kräfte auf die Rüstung, deren Ausstoß vor allem 1942 und 1943 deutlich stieg. Auch in dieser Hinsicht markierte das Jahr 1943 eine Wende. Landwirtschaft Sicher litt die Landwirtschaft noch stärker als die Industrie. Zwar versuchte man, auch von ihr durch Evakuierung zu retten, was zu retten war. Vor allem im zweiten Kriegsjahr scheint dies bei Kolchosvieh (mit gut 73% bei Rindern und Schafen) in erheblichem Maße gelungen zu sein. Aber das hauptsächliche Produktionsmittel, der Boden, ließ sich nicht transportieren. Vor allem der Verlust der Ukraine, die seit alters her als Kornkammer des (groß)russischen Reiches galt, war kaum zu verkraften. Hier hatten nicht nur 45% der Gesamtbevölkerung gelebt, sondern auch 47% der Saatfläche bestanden und 45% des Großviehs geweidet. Hinzu kam der Abzug männlicher Arbeitskraft. Im Vergleich zum 1. Januar 1941 sank die Zahl der erwachsenen Männer auf dem Dorf 1944 auf 27%. Frauen, Minderjährige und Alte konnten die fehlende Arbeitskraft umso weniger ausgleichen, als auch die nichtmenschliche Zugkraft für die Bestellung der Felder weitestgehend abhanden gekommen war. Traktoren und Pferde wurden für den Krieg gebraucht. Wo die großen Flächen der Kolchosen und Sowchosen (Staatsgüter) nur noch notdürftig bestellt werden konnten, handelte der Staat sogar gegen seine Ideologie und förderte die Privatproduktion. In den Städten wurden Gemüsegärten propagiert (November 1942), auf dem Lande die Ausdehnung der Privatparzellen geduldet. Zwar stammten zwei Drittel von den 2810 Kalorien, die ein städtischer Erwachsener 1944 täglich zu sich nahm, aus Staatlichen' Lebensmitteln. Aber das dritte, über Leben oder Tod entscheidende Drittel wurde privat produziert. Kriegspropaganda Vom Krieg nicht zu trennen waren veränderte Schwerpunkte der kulturellgeistigen Mobilisierung. Stalin brauchte zwar die rätselhaften anderthalb Wochen, um den Schock des Überfalls zu verarbeiten. Aber als er am 3. Juli 1941 mit einer Rundfunkansprache wieder an die Öffentlichkeit trat, mischten sich neue Töne unter die alten. Er wandte sich nicht nur an die „Genossen", sondern auch an die „Brüder und Schwestern", und rief nicht nur dazu auf, den Sozialismus zu verteidigen, sondern auch die „Heimat". Und mit Bedacht erinnerte der Name, den die Propaganda dem Kampf gegen das „Dritte Reich" unverzüglich gab, an den erfolgreichen Widerstand gegen Napoleon: Aus dem „Vaterländischen Krieg" von 1812 wurde der „Große Vaterländische Krieg" von 1941-1945. =

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D. Grosser Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus (1941-1953)

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Noch deutlicher trat im Herbst, als die deutschen Panzer vor Moskau standen, zutage, mit welchen Parolen die Führung versuchte, die Bevölkerung hinter sich zu bringen. Bei Gelegenheit des 24. Revolutionsjubiläums nahm Stalin dazu die gesamte Geschichte und Kultur Russlands in Anspruch, nicht nur Lenin und den „Vater" des russischen Marxismus Plechanov, sondern auch Puskin und Tolstoj sowie die militärischen Helden des ,alten Russland', von Alexander Nevskij (der das Moskauer Fürstentum 1242 gegen die Deutschordensritter verteidigt hatte) bis zu Kutuzov, der Napoleon ins Leere laufen ließ. Gleichzeitig wandelte sich Stalin vom „Vater, Lehrer und Führer" zum siegreichen „Feldherrn", den keine „Stürme" schreckten. Am Ende stand der pater patriae und Generalissimus (der einzige der Sowjetgeschichte) in einem. Ungeachtet der Akzentverschiebung war beides aber nicht neu. Der Personenkult war bereits 1929 begründet worden, und die Umwertung der Werte hatte ebenfalls schon einige Jahre vor Kriegsausbruch begonnen, als aus Stalins Feinden „Volksfeinde" wurden. Schließlich steht inzwischen außer Frage, dass es eine solche Kontinuität auch in der Nationalitätenpolitik gab. Was einigen nichtrussischen Völkern während des Krieges widerfuhr, war zwar nicht von langer Hand geplant, harmonierte aber mit der Feindseligkeit der vorangegangenen Jahre. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht markierte der Aufstieg Stalins eine Wende. Offiziell ließ sich die Politik der zwanziger Jahre von der Absicht leiten, eine Art Indigenat zu beachten und die politische Führung der Sowjetrepubliken in die Hand der jeweiligen ,Titularnationen' zu legen (korenizacija). Selbst wenn inzwischen fraglich geworden ist, ob die Praxis diesem Föderalismus in nennenswertem Maße entsprach, trat insofern eine Veränderung ein, als auch die programmatische Formel aus der Selbstdarstellung des Regimes verschwand. Stattdessen war mehr und mehr vom russischen Volk und von russischer Geschichte samt ihrer Helden die Rede. Damit korrespondierte eine Politik, die durch zentrale Ernennung von Parteisekretären rigoros großrussische Interessen durchsetzte, während des Terrors gezielt einheimisch-fremdethnische Eliten liquidierte und in den Grenzregionen bereits mit der Deportation nichtrussischer Bevölkerungsgruppen begann. Dennoch verlieh der Weltkrieg solchen Maßnahmen eine neue Qualität. Schon im Juli 1941, vor der förmlichen Beseitigung der Wolgadeutschen Republik, wurden die ersten Russlanddeutschen vertrieben. Bis zum Jahresende bestrafte man auf diese Weise etwa 895 000 Personen für einen Überfall, den sie nicht zu verantworten hatten. Mochte es dafür aus der Sicht Stalins noch nachvollziehbare Gründe geben, so versagt die Ursachenforschung im Fall der Karacäer, der Kalmücken, der Cecenen und Ingusen, der Balkaren und der Krimtataren, die zwischen November 1943 und Mai 1944 von einem Tag auf den anderen in Viehwaggons verladen und in unwirtlichen Gegenden mittellos wieder ausgekippt wurden. Auch Furcht vor möglicher Kollaboration scheidet als Motiv überwiegend aus. Einzig plausibel bleibt die Vermutung, dass sich Diktatur und großrussischer Chauvinismus unter der zusätzlichen,entgrenzenden' Einwirkung

NationalitatenP° m'

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des Krieges zur wahnhaften Prävention möglicher Störungen radikalisierten. Auch dabei bleibt offen, warum solche Maßnahmen diese und nicht andere Völker trafen. ,Rational' war dagegen die weitere Exponierung Russlands. Sie gipfelte konsequent im berühmten Trinkspruch, den der georgische Diktator bei der Siegesfeier Ende Mai 1945 „vor allem auf das Wohl des russischen Volkes", die „führende Kraft der Sowjetunion", ausbrachte.

2. Wiederaufbau

nach altem

Muster

Späte Stalinzeit Die späte Stalinzeit zwischen Kriegsende und Tod des Diktators Anfang März 1953 wird zumeist als Appendix behandelt. Sie erscheint als Endphase einer längeren Ära ohne eigene Signatur. Die Vorkriegsjahre gelten als eigentlicher' Stalinismus, denen die Nachkriegsjahre obwohl kaum kürzer nur noch eine überdehnte Coda anfügten. Dies muss man nicht so sehen. Der,Spätstalinismus' könnte durchaus als ,Hochstalinismus' gesehen werden, da er manche Merkmale der Gesamtordnung in nuce zum Vorschein brachte. Nur eines fehlte ihm gewiss: die Dynamik des Umbruchs. Das Beiwort „spät" hat darin seine Berechtigung, dass es auf geringe Innovationskraft verweist. Die typische Signatur dieser Jahre bleibt davon unberührt. Herrschaftsordnung In der Herrschaftsordnung änderte sich strukturell wenig, atmosphärisch und in der Art ihrer Ausübung viel. Stalin behauptete seine unangefochtene Stellung nicht nur, sondern festigte sie noch. Zur Furcht, die er verbreitete, gesellte sich Respekt vor dem Bezwinger Hitlers, zur Macht Autorität. Zugleich entrückte der Diktator dem politischen Alltagsgeschäft weiter denn je. Mit zunehmendem Alter zog er sich immer häufiger in seine Datscha vor den Toren Moskaus zurück und traf hochwichtige Entscheidungen bei abendlichen Gelagen im Kreise der engsten Mitarbeiter. Faktisch bestand damit die Regierungsform der Kriegszeit fort: Eine Handvoll treuer und willfähriger Helfer bestimmte, was im Land geschah, und führte aus, was Stalin im Hintergrund befahl oder was sie als seine Wünsche interpretierten. Das ZK kam nur noch selten zusammen, der Parteitag nach 1939 lediglich ein einziges Mal (1952). Größere Gremien dieser Art wurden nicht einmal mehr zur Akklamation gebraucht. So gesehen trat die personale Diktatur noch unverhüllter zutage als vor dem Krieg. Zugleich legte sich eine lähmende Angst über das Land. Stalins Argwohn nahm paranoische Züge an. Auch die engsten Paladine mussten jederzeit mit bösen Überraschungen rechnen. Verschwörungen wurden erfunden (wie das sog. Ärztekomplott von 1952), die keine andere Begründung hatten als die Absicht, durch Angsterzeugung die Macht zu sichern. Alles spricht dafür, dass eine neue Terrorwelle bevorstand, als der Diktator starb. Deshalb gehörte es auch zu den Kennzeichen der spätstalinistischen Herrschaft, Verbannung nach Sibirien dass sich die sibirischen Arbeitslager und Verbanntensiedlungen nach dem -

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D. Grosser Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus

(1941-1953)

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Weltkrieg mit mehr Menschen füllten als je zuvor. Es war einer der unbegreiflichen Tatbestände dieser Jahre, dass selbst Kriegsgefangene und rückkehrende Zwangsarbeiter unter pauschalen Kollaborationsverdacht gestellt und an die GULag überwiesen wurden. Im Vergleich zum „großen Terror" der Vorkriegszeit mochten anarchische Willkür und Denunziation abgenommen haben, das Ausmaß an Verhaftungen, gewaltsamer Disziplinierung und Zwangsarbeit Zweiten

nahm aber zu. Dazu passte die Aufwertung von Partei und Ideologie. Offensichtlich kamen Aufwertung von Stalin und seine Umgebung zu der Überzeugung, dass die Zeit der Konzessionen Partel un° Ideologie vorbei sei. Zwar fanden patriotische Töne weiterhin offiziellen Segen, aber sozialistische sollten dadurch nicht länger aufgesogen werden. In allen Bereichen der Politik, von der Wirtschaft über die Gesellschaft bis zu Kultur und Wissenschaft, erhielten sowjetmarxistische Ziele und Werte wieder höchste Priorität. Dies verband sich bald mit dem Kalten Krieg, dessen inneres Pendant die Renaissance der Doktrin bildete. Die äußere Blockbildung (spätestens seit 1947) brachte eine neue Orthodoxie hervor, die unter verschiedenen Etiketten alles ablehnte, was ihr missfiel. Symbolfigur dieser neuen Knebelung wurde der Parteisekretär von Leningrad, zugleich ,Chefideologe' des Politbüro, Andrej Zdanov. Er gab vor, was Sowjetbürger öffentlich zu sagen und zu schreiben hatten. Den Anfang markierte dabei Zdanovs Rede vor Leningrader Schriftstellern am 14. August 1946, die unter anderem die berühmte Lyrikerin Anna Achmatova mit dem Bannfluch belegte. Im Jahr darauf folgte die Kampagne gegen den sog. „Kosmopolitismus", die sich in erheblichem Maße als antisemitisch entpuppte. Aber auch nach Zdanovs Absetzung und Ermordung in der „Leningrader Affäre" 1949 trat keine Besserung ein. Stalin zettelte eine seiner Säuberungen' an, um vermeintliche Nester von Sabotage und Konspiration auszuheben, aber er wollte keinen Kurswechsel. Auch in der Wirtschaftspolitik kamen die Ziele der dreißiger Jahre wieder zum Wirtschaftspolitik Vorschein, allerdings nicht sofort. Auf der Hand lag die nächste Aufgabe: die Schäden so schnell wie möglich zu beseitigen und das Niveau der Vorkriegsjahre wiederherzustellen. Dabei plädierten einflussreiche Funktionäre für eine Verschiebung der Akzente. Als Kompensation für die ungeheuren Leiden, aber auch als Dank für den Einsatz der Bevölkerung wollten sie den nächsten Fünfjahresplan vorrangig in den Dienst der Konsumgüterproduktion stellen. Den Menschen sollte es schnell und spürbar besser gehen. Doch traten solche Absichten schon 1947 in den Hintergrund. In welchem Maße die beginnende OstWest-Konfrontation dafür verantwortlich war und das überkommene einseitige Verständnis vom ,Aufbau des Sozialismus' verstärkte, muss offen bleiben. Unbestritten ist, dass die Investitionen und Ressourcen der kommenden Jahre wieder ganz überwiegend in die Schwerindustrie flössen. Die alten Ziele waren auch die neuen.

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Darstellung

Die Frage ist letztlich müßig, ob die Landwirtschaft noch mehr litt als die Industrie. In jedem Falle besaßen 40% aller Kolchosbauern 1946 nicht einmal mehr eine Kuh. Pferde gab es kaum noch, erst recht keine Traktoren, und nach wie vor herrschte Mangel an männlicher Arbeitskraft: Die große Mehrzahl der 26,6 Mio. getöteten Soldaten und Zivilisten stammte vom Dorf. Hinzu kam im Frühsommer 1946 die verheerendste Dürre seit fünfzig Jahren mit der Folge einer schlimmen Hungersnot in weiten Teilen des Landes. Danach aber schritt der Wiederaufbau voran und rief, wie in der Industrie, diejenigen erneut auf den Plan, die den sozialistischen Umbau der Vorkriegsjahre fortsetzen wollten. Denn nicht zuletzt der Krieg hatte deutlicher zutage treten lassen, dass unter dem Mantel der Kolchosordnung noch traditionelle Organisationsformen des Dorfes überlebt hatten. Kleine Arbeitskollektive (zveno) waren unschwer als Familienverbände zu erkennen und manche Kolchosen als neue Kleider der alten obscina. Agrarpolitische Ideologen, darunter Chruscev, wollten diese Überreste alter Strukturen nun durch die Zusammenlegung von Kolchosen zu größeren Einheiten mit neuen Urbanen Mittelpunkten endgültig beseitigen. Die Konzentration fand statt: Bis 1953 wurden aus 236 900 Kolchosen, die man 1940 in der UdSSR zählte, 93 300. Chruscevs Idee der Agrostädte verschwand aber ebenso schnell wieder aus der Presse, wie sie Eingang gefunden hatte. nomenklatura Dennoch waren bei all diesen Versuchen, die Nachkriegsordnung nach den Grundsätzen der Vorkriegsjahre wiederaufzubauen, auch Veränderungen zu verzeichnen. Sie wiesen gleichsam in die Zukunft und bildeten über die fortdauernden Systemmerkmale hinaus bemerkenswerte Brücken zur nachstalinistischen Ära. Zu nennen sind besonders der Aufstieg der nomenklatura und das neue Gewicht der Armee. Natürlich gab es „Funktionäre" und „Apparate" beides charakteristische Begriffe des Sowjetsystems von Anfang an. Sie entstanden als notwendige Folge des Parteimonopols, der Übernahme des Staates durch die Partei und der Verstaatlichung der Wirtschaft sowie nach und nach aller gesellschaftlichen und kulturellen Organisationen. Dennoch nahm diese Entwicklung unter Stalin eine neue Qualität an. Vor allem der Übergang zur Planwirtschaft zog den Aufbau einer riesigen Bürokratie nach sich. Symptomatisch dafür wurden eigene Industrieministerien, zu denen 1947 die große Masse der Ressorts im aufgeblähten Ministerrat zu rechnen waren. Die Besetzung der zentralen Funktionen in allen Bereichen stand dabei der Kaderabteilung der Partei zu. Auf diese Weise wurde nicht nur deren Klammerfunktion gestärkt, sondern auch eine neue, vergleichsweise homogene ,Klasse' geschaffen: ideologisch ergeben, fachlich zunehmend qualifiziert, in der Partei sozialisiert und verankert. Diese nomenklatura übte durch tagtägliche praktische Entscheidungen nicht nur Herrschaft nach unten aus, sondern gewann auch zunehmenden Einfluss auf die Zentralgewalt. Die Allmacht des greisen Diktators blieb davon noch völlig unberührt. Aber bei neuen Diadochenkämpfen stand zu erwarten, dass Apparate und Interessen eine größere Rolle spielen würden als zuvor.

Landwirtschaft

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D. Grosser Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus (1941-1953)

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die in besonderem Maße an Gewicht gewannen, Partei Armee. und Geheimpolizei hatten von Anfang an, wenn auch gehörte die zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maße, erheblichen Anteil an der Herrschaft im Staat. Die Armee konnte sich demgegenüber erst allmählich als eigener Faktor etablieren. Ihr Aufstieg fiel in die dreißiger Jahre, wurde aber durch die Liquidierung beinahe der gesamten Führung im „großen Terror" (als neun von Zu den

Organisationen,

Armee

zehn Generälen und acht von zehn Obersten ,verschwanden') wieder zunichte gemacht. Der Krieg änderte diesen Zustand von Grund auf. In klarer Erkenntnis der Gefahr demonstrierte Stalin nach Kriegsende (z. B. durch die Degradierung des Siegers und Oberkommandierenden Marschall Georgij K. Zukov), wer das Sagen hatte. Dennoch blieb die Armee eine Organisation von großer innenpolitischer Bedeutung, die weit in die Partei eindrang. Sie profitierte sowohl vom Kalten Krieg als auch vom neuen Weltmachtstatus der Sowjetunion. Nach Stalin konnte kein Staatschef mehr ohne ihre Unterstützung operieren. 3. Kriegsallianz In

gewisser Weise

wirkte der

und

Nachkriegskonfrontation

nicht

Krieg

nur

im Innern

paradox

auf den Sta-

linismus, sondern auch nach außen. Dem Ersatz des Klassenkampfes durch den ,Aufstand' der Nation entsprach die Allianz mit den Gegnern von gestern.

Buchstäblich über Nacht verkehrten sich erneut die Fronten. Nicht nur im Rückblick erscheint das Bündnis derer, die von Hitler überfallen wurden oder sich seinem Weltmachtstreben entgegenstellten, zwangsläufig. So nimmt es nicht wunder, dass ein britischer Emissär schon am 12. Juli 1941 in Moskau eintraf, um die Hilfe seines Landes persönlich zu bekunden. Und am 7. November beschlossen die Vereinigten Staaten offiziell noch nicht im Krieg -, der Sowjetunion großzügige Hilfe nach dem lend-lease-Gesetz vom März desselben Jahres zu gewähren. Dieses Tempo sollte aber nicht übersehen lassen, dass die Koalition eine äußere und eine der Not war. Sie berührte den Gegensatz der Systeme und ihrer geistig-ideologischen Grundlagen in keiner Weise. Dementsprechend hielt das Bündnis, solange gekämpft wurde. Allerdings war auch in dieser Zeit eine deutliche Verschiebung der Gewichte zu beobachten, die sich zwar nicht in Heller und Pfennig, aber in langfristig gleich wertvoller Münze auszahlte: in Einfluss und Macht. Die Stationen dieses Wandels lassen sich an den Vereinbarungen der ,Großen Drei' in Frankreich herrschten noch die Natio-

nalsozialisten und das Vichy-Regime ablesen, die ihrerseits die Wendepunkte des militärischen Geschehens spiegelten. In den ersten beiden Kriegsjahren musste die Sowjetunion froh über jedes Flugzeug sein, das die Alliierten lieferten. Als Opfer eines Angriffs, der sie hart an den Rand des Untergangs brachte, konnte sie nur bitten. Churchill und Roosevelt überhörten aber selbst das einleuchtende Drängen auf Eröffnung einer ,zweiten Front' bemerkenswert lang. Stalingrad und Kursk -

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Anti-Hitler^03imon

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Konferenz von Teheran

/.

Darstellung

verbesserten diese Lage entscheidend. Als die,Großen Drei' Ende November 1943 zum ersten Mal in Teheran zusammentrafen, konnte Stalin schon auf diese Erfolge verweisen und konkreten Ertrag mit nach Hause nehmen: die feste Zusage, die Wehrmacht im Mai 1944 von Nordwesten her anzugreifen in Italien waren amerikanische Soldaten um diese Zeit bereits gelandet -, und das grundsätzliche Einverständnis Churchills zur Westverschiebung Polens als Folge einer neuen Grenzziehung, die ungefähr der vom britischen Außenminister Lord Curzon 1919 -

Konferenz von Jalta

vorgeschlagenen Linie folgen sollte. Knapp anderthalb Jahre später, im Februar 1945, hatten sich die kühnsten Hoffnungen der Beteiligten bewahrheitet. Man traf sich bereits auf sowjetischem Boden, in Jalta. Die deutschen Truppen waren zurückgeschlagen, die Rote Armee stand an der Oder last des Krieges getragen hatte,

und Stalin, dessen Land zweifellos die Hauptdem größten Triumph seines Regimes. Dies dürfte, von der Unentschiedenheit des Krieges in Fernost abgesehen, erklären helfen, warum der Diktator mehr erreichte, als man ihm schon ein halbes Jahr später noch zugestanden hätte. Churchill und Roosevelt ließen sich nicht nur mit vagen Versprechungen in der Frage der polnischen Regierungsbildung abspeisen Aufnahme von Nichtkommunisten -, sie stimmten faktisch auch der Oder-NeißeLinie als neuer Westgrenze Polens zu. Doch damit war die Konzessionsbereitschaft der Westmächte im Wesentlichen erschöpft. Schon über der nächsten Konferenz, zu der sich die Repräsentanten der Siegermächte nach der Kapitulation des /Tausendjährigen Reichs' in der zweiten Potsdamer Julihälfte 1945 (17.7.-2.8.) in Potsdam versammelten, hing der Schatten der Konferenz EntZweiung. Als Präsident der Vereinigten Staaten saß mit Harry S. Truman ein neuer Mann am Verhandlungstisch, der nicht in die Fußstapfen seines Vorgängers treten wollte und konnte. Dabei mag im Einzelnen weiterhin offen bleiben, welche Rolle die Hoffnung auf die baldige Verfügbarkeit der Atombombe spielte (die Nachricht vom erfolgreichen Test traf während der Gespräche ein). Die Gründe für den heraufziehenden Dissens lagen tiefer in eben den politisch-weltanschaulichen Gräben einschließlich ihrer politisch-systematischen Umsetzung, die der gemeinsame Krieg nur notdürftig zugeschüttet hatte. So kam man in Potsdam über eine Bestätigung der Absprachen von Jalta, hinter die niemand zurückgehen konnte (und wohl auch nicht wollte), kaum hinaus. Die ,Großen Drei' bekräftigten die Verschiebung der polnischen Westgrenze an die Oder und Neiße und gaben der administrativen Integration der östlich davon gelegenen Gebiete ihr Plazet. Demgegenüber fiel der Vorbehalt einer völkerrechtlich verbindlichen endgültigen Festschreibung in einem noch auszuhandelnden Friedensvertrag praktisch nicht ins Gewicht bekanntlich wurde ein solcher Vertrag nicht mehr geschlossen. Stalin sicherte sich damit nicht nur einen erheblichen territorialen Gewinn, sondern gewann auch jenen weit nach Westen vorgeschobenen und von ihm kontrollierten Pufferstaat, den er als Schutz vor einer Wiederholung des deutschen Überfalls mehrfach gefordert hatte. Allerdings blieb -

vor

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D. Grosser Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus

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(1941-1953)

ihm schon der nächste Wunsch versagt: Die Verhandlungspartner setzten zwar auch die in Jalta getroffene Verabredung um, Deutschland trotz der Aufteilung in drei (später unter Einbeziehung Frankreichs vier) Besatzungszonen als Gesamtstaat zu erhalten. Aber sie vertagten die Entscheidung über den eigentlichen Wunsch der Sowjetunion, der sich hinter der Zustimmung zur Einheit verbarg: Entschädigung für die fraglos auch materiell ungeheuren Verluste aus dem gesamtdeutschen Wirtschaftsraum einschließlich des Ruhrgebiets und nicht nur aus der eigenen Zone zu erhalten. Was danach begann, war bald als „Kalter Krieg" in aller Munde. Die Konfrontation, so meinte diese überaus erfolgreiche Begriffsprägung, war ähnlich unversöhnlich wie der offene militärische Kampf, wurde aber primär mit ideologisch-politischen Mitteln und nur an der Peripherie, in der bald so genannten ,Dritten Welt', mit realen Waffen ausgetragen. Auch hier ist die Frage nach Motiven und treibenden Akteuren zwar gewiss nicht müßig. Aber abgesehen davon, dass sich die Diskussion auf eine mittlere Linie ohne Schuldzuweisung zubewegt, berührt sie die Darstellung des Hauptgeschehens nur am Rande. In Übereinstimmung mit dem gesamten Rückgriff auf ideologische Positionen für die innenpolitisch paradigmatisch die Zdanovscina stand belebte Stalin Anfang Februar 1946 die Klassenkampfrhetorik neu und betonte auch wieder den internationalen Gegensatz zwischen Sozialismus' und ,Kapitalismus'. Bereit, die verschärfte Tonlage aufzugreifen, antwortete Churchill am 5. März im amerikanischen Fulton mit der berühmten Formulierung, dass ein „eiserner Vorhang" mitten durch Europa, von Stettin bis zur Adria, gefallen sei, hinter dem die Sowjetunion herrsche und keinerlei westlichen Einfluss zulasse. Ein halbes Jahr später hatte sich die Irritation zum Konflikt verschärft. Auf deutschem Boden wiederholte der amerikanische Außenminister James F. Byrnes den Vorwurf nicht nur. Er wies in seiner Stuttgarter Rede vom 6. September 1946 auch den weiteren politischen Weg, der fortan konsequent beschritten wurde: die westlichen Zonen zusammenzuschließen und in einen eigenen, separaten Staat zu überführen. Bis heute sind die seinerzeitigen außenpolitischen Ziele der Sowjetunion im Einzelnen unklar. Man darf aber davon ausgehen, dass zwei im Vordergrund standen: in Deutschland Zugang zu Reparationen auch außerhalb der eigenen Zone zu erlangen und in Europa aus den militärisch kontrollierten Gebieten einen dauerhaften Cordon politisch gefügiger Staaten zu schaffen. Die erste Absicht scheiterte weitgehend, die zweite war überwiegend erfolgreich. Eine entscheidende Weichenstellung vollzog sich dabei im Zusammenhang mit dem europäischen Wiederaufbauprogramm, das der amerikanische Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 ankündigte. Sicher traf die sowjetische Wahrnehmung ins Schwarze, dass die Annahme der Finanzhilfe nicht nur die Beibehaltung der Marktwirtschaft nach sich zog, sondern auch westlichen politischen Einfluss. Beides lag nicht in ihrem Interesse. Als Molotov für alle befreundeten' Staaten absagte und auch die Tschechoslowakei zwang, ihre Zu-

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Kalter

Krieg

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Teilung Europas sage zurückzunehmen, war die Teilung Europas ungeachtet der kommenden Ereignisse in der CSR, in Jugoslawien und der offenen Auseinandersetzungen in Griechenland faktisch besiegelt. Damit hatten sich auch die berüchtigten Prozentformeln der Einflussnahme erübrigt, die Churchill im Oktober 1944 mit Stalin in Moskau vereinbart hatte. Zwar bestimmte die Sowjetunion tatsächlich dort, wo ihr wie in Rumänien und Bulgarien die klare Hegemonie überlassen worden war („90:10" bzw. „80: 20"). Aber von einer Restpräsenz des Westens konnte hier ebenso wenig die Rede sein wie in den Staaten, wo man sich anders arrangieren wollte (z. B. in Ungarn). Stattdessen Ostblock nahm ein „Ostblock" Gestalt an, dereine bekannte Äußerung Stalins aus den letzten Kriegstagen bestätigte: dass die Armeen diesmal auch ihre politischen Systeme und Weltanschauungen im Gepäck führten. Spätestens nach dem kommunistischen Staatsstreich in der CSR vom Februar 1948 lag zutage, dass die Sowj etunion überall dort herrschte und ihre politische, wirtschaftliche und soziale (teilweise sogar ihre kulturelle) Ordnung implantieren konnte, wo ihre Truppen standen. Die Rote Armee bestimmte auch, was in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands geschah, und konnte für den Abtransport aller zerlegbarer Industrieanlagen aus dieser Region sorgen. Darüber hinaus aber hatte sie keinen Zugriff. Als der wirtschaftliche Zusammenschluss der Westzonen durch die Währungsreform vom April 1948 abgeschlossen und die separate Staatsgründung nur noch eine Frage der Zeit war, unternahm sie mit der Blockade der Zufahrtswege nach Berlin am 24. Juni 1948 einen letzten Versuch, diese Entwicklung aufzuhalten. Die legendäre „Luftbrücke", fraglos eine logistische Meisterleistung, zwang sie indes ein knappes Jahr später, am 12. Mai 1949, zum Einlenken. Wenngleich die Sowjetunion am 7. Oktober 1949 als Reaktion auf die Gründung der Bundesrepublik die DDR aus der Taufe heben konnte (oder musste), hatte sie ihr primäres Nachkriegsziel in Deutschland verfehlt. Auch die bekannte Stalin-Note vom 10. März 1952 vermochte dieses Ergebnis nicht mehr zu ändern. Gleichviel ob die darin angebotene Wiedervereinigung in Freiheit und Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Neutralisierung des Gesamtstaats aufrichtig gemeint war oder nicht gegenwärtig spricht alles dagegen -, der Vorschlag wurde abgelehnt und brachte die Sowjetunion keinen Schritt vorwärts. Ganz ähnlich wurden die Fronten auf der anderen Seite ihres riesigen Territoriums, in Korea, eingefroren. Fast zwei Jahre nach Ende der Kampfhandlungen, schon nach Stalins Tod, legte man die Demarkationslinie zwischen Nord und Süd auf den 38. Breitengrad fest und stellte damit den Status quo ante -

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wieder her. Auch hier änderten sich die Einflusszonen nicht mehr. Die Sowjetunion hatte im Gefolge ihres säkularen und teuer erkauften Sieges über Hitler-Deutschland viel erreicht. Sie war, seit 1949 ebenfalls im Besitz der Atombombe, mächtiger als je ein anderer Staat auf ihrem Boden. Aber sie stieß mit Beginn des Kalten Krieges auch an ihre Grenzen, die im Wesentlichen diejenigen ihrer Waffen waren.

E. REFORM UND STALINISMUSKRITIK UNTER CHRUSCEV (1953-1964) Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion liegt deutlicher denn je zutage, dass Chruscev zwar die personale Diktatur stalinistischer Prägung und den Massenterror als eines ihrer zentralen Instrumente beseitigen half, aber die Grundstrukturen der überkommenen Ordnung weder veränderte noch verändern wollte. Damit kehrte er nicht nur seiner erklärten Absicht gemäß zu Lenin zurück, sondern bewahrte auch viele Stalinschen Erbschaften. Wiedas (schon 1918 errichtete) Parteimonopol standen weder die Planwirtschaft noch die Kollektivierung des Dorfes oder die Kontrolle der sozialen und kulturellen Organisationen sie alle Folgen der Umwälzung von 1929 zur Disposition. Es war Chruscevs Anliegen, die bürokratische Erstarrung eines terroristischen Kommandosozialismus einschließlich des Personenkults zu überwinden. Er wollte der Kollektivführung durch die Partei wieder zu ihrem Recht verhelfen und neues Engagement für die sozialistische Sache in der Masse fördern. Aber er wollte weder zu den ,halbherzigen' Kompromissen der zwanziger Jahre zurück, noch gar einen anderen Sozialismus aufbauen. Chruscev blieb, was er seiner politischen Sozialisation nach war: ein Kind des ersten Fünfjahresplans zwischen dem ,späten' Lenin und dem frühen' Stalin. -

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1. Aufstieg

und

Fall des Ersten Sekretärs

Nikita Chruscev gehörte zwar zur Handvoll der engsten Helfer Stalins, die das Land regierten, aber nicht zu den ersten Anwärtern auf die Nachfolge. Vom Diktator 1949 aus der Ukraine zurückgeholt (wohin er 1938 als Nachfolger des bald darauf ermordeten dortigen Parteichefs beordert worden war), war ihm sicher eine Rolle im Kräftespiel der obersten Führung zugedacht, aber keine herausragende. Als mächtigster Mann galt bei Stalins Tod der Geheimdienstchef Berija, gefolgt von Malenkov, dem nach wie vor die Personalabteilung der KPdSU unterstand. Doch beide wurden im Laufe des nächsten, entscheidenden halben Jahres ausmanövriert. Fast möchte man sagen, dass die erneuten Diadochenkämpfe dem Muster der alten folgte: Die Favoriten schieden aus, und ein Überraschungssieger setzte sich durch. Dabei ergriff Chruscev die Initiative. Er nutzte die große Angst aller Spitzengenossen vor Berija, um ein Komplott zu schmieden. Als auch Malenkov und hohe Generäle, darunter der Weltkriegsheld Zukov, gewonnen waren, hatte Stalins einstiger Henker keine Chance mehr: Am 26. Juni 1953 wurde er während einer Sitzung des Parteipräsidiums (das 1952-

Chruscev durcn

setzt

sich

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/.

Darstellung

1966 an die Stelle des Politbüros trat) festgesetzt und nach einem Geheimprozess im Dezember desselben Jahres zusammen mit sechs seiner engsten Vertrauten hingerichtet. Malenkov stand bei dieser Aktion zwar auf der siegreichen Seite, beging aber einen anderen Fehler. Er optierte bei der Neuverteilung der Amter noch im März 1953 für das Amt eines Ministerpräsidenten unter Verzicht auf einen Sitz im Sekretariat des ZK. Schon bald zeigte sich, was eigentlich evident war: dass die Macht in der Partei und nicht im Staatsapparat lag. Malenkov wurde abgedrängt und musste im Februar 1955 auch den Ministerrat verlassen. Endgültig blieb der Mann übrig, der bereits seit seiner Wahl zum Ersten Sekretär der KPdSU am 13. September 1953 den Ton angab: Chruscev. WirtschaftsDieser Aufstieg verband sich aufs engste und zu allererst mit einem Wirtprogramm

schaftSpr0gramm,

das die entscheidenden Stimmen für sich zu gewinnen verstand. Stalins Tod hatte die lähmende Stille auch darin gelöst, dass erneut über ökonomische Prioritäten diskutiert werden konnte. Der Wunsch wurde wieder laut, die kaum verminderten Versorgungsmängel mit verstärkten Anstrengungen zu beheben. Zum Sprecher der dazu nötigen Verlagerung der Investitionen auf den Konsumgütersektor machte sich Malenkov. Auch Chruscev erkannte die Popularität einer solchen Politik. Aber er sah auch die Widerstände von Seiten der Armee und Gleichgesinnter, die der Schwerindustrie und Rüstung Priorität einräumten. Mit dem Neulandprogramm unterbreitete er einen Vorschlag, der beide Anliegen miteinander zu versöhnen schien. Aus dem Entweder-Oder wurde ein Sowohl-Als-Auch. Die ungenutzte Steppe jenseits der südlichen Wolga bis nach Kazachstan unter den Pflug zu nehmen, versprach viel Getreide bei wenig Investitionen an Maschinen und Dünger. Insofern konnte das ZK der Meinung sein, beinahe eine Quadratur des Kreises erreicht zu haben, als es am 2. März 1954 den entsprechenden Beschluss fasste. Dagegen brachte Chruscev den Prozess, mit dem sich sein Name in der Entstalinisierung historischen Erinnerung am ehesten verbindet die erste Entstalinisierung erst nach seiner Inthronisierung auf den Weg. Zwar hatte es schon unmittelbar nach dem Tod des Diktators eine Amnestie gegeben, der im nächsten Jahr eine weitere folgte. Parallel dazu lösten sich die Arbeitslager, zum Teil allerdings erst nach blutigen Auseinandersetzungen, mehr und mehr auf. Gerade aus den Reihen der Partei wurden die Rufe nach Aufklärung des Schicksals prominenter Verschollener immer lauter. Chruscev konnte und wollte sich dem nicht entziehen. Die Lektüre von Dokumenten aus Berijas Panzerschrank scheint ihn in dieser Absicht entscheidend bestärkt zu haben. In jedem Falle richtete er danach eine Kommission ein, die einen entsprechenden Bericht vorbereitete. Heftig umstritten blieb allerdings, ob man ihn veröffentlichen sollte oder nicht. Gegen den Widerstand der ,alten Garde' stellte sich das Parteipräsidium wenige Tage vor dem Beginn des nächsten, 20. Parteitags (14.-25. Februar 1956) hinter den Ersten Sekretär. Damit war der Weg frei für jene ,Geheimrede' nach dem offiziellen Programm, die Stalin heftig anklagte, sofort in den Westen lanciert und im -

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E.

Reform und Stalinismuskritik unter Chruscev (1953-1964)

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übrigen auch an die Parteiorganisationen der Provinz versandt wurde und hier wie dort eine Sensation verursachte. Sie war ein Musterbeispiel für die .Flucht nach vorn' in der Absicht, den Sowjetsozialismus von den Schandflecken der unmittelbaren Vergangenheit reinzuwaschen, um neue Begeisterung für seine .wahren' Ziele zu wecken.

Allerdings war der parteiinterne Konflikt damit noch nicht beendet. Als Chruscev im Dezember desselben Jahres auch die nächste, einschneidende und umstrittene Reform, die Dezentralisierung der Wirtschaftsplanung, auf den Weg brachte, schien die Zeit zum Handeln gekommen zu sein. Den Kern der Frondeure bildeten erneut alte Stalingefährten, angeführt von Molotov, Vorosilov und Kaganovic, die ihre Vergangenheit nicht verdammt sehen wollten. Als es ihnen gelungen war, auch einen Anhänger Chruscevs, den Ministerpräsidenten Bulganin, auf ihre Seite zu ziehen, fassten sie am 18. Juni 1957 im Parteipräsidium mit der knappen Mehrheit von vier zu drei Stimmen den Beschluss, das Amt des Ersten Sekretärs abzuschaffen und dem ZK eine entsprechende Vorlage zu unterbreiten. Allerdings unterschätzten sie ihren Vormann und unterstellten in alter Gewohnheit eine Willfährigkeit des ZK, die nicht mehr gegeben war. Mit logistischer Hilfe des Verteidigungsministers Zukov und der Armee gelang es Chruscev, in kurzer Zeit so viele Anhänger aus der Provinz zur Sitzung nach Moskau zu bringen, dass das ZK den Antrag ablehnte. Die Gesamtpartei, vertreten durch ihre höchste Repräsentatiwersammlung, stützte ihn gegen die konservative Mehrheit im obersten Exekutivgremium. Es folgte, was unter den Bedingungen fehlender Regularien eines institutionalisierten Machttransfers folgen musste: der Ausschluss der nun so genannten ,anti-parteilichen' Gruppe aus dem Präsidium und ZK. Die folgenden Jahre bis zum 22. Parteitag der KPdSU im Herbst 1961 sahen Chruscev im Zenit seiner Macht. Dies kam auch äußerlich zum Ausdruck, als er nach der Ablösung Bulganins Ende März 1958 zusätzlich den Vorsitz im Ministerrat übernahm. Partei- und Staatsführung waren damit in Friedenszeiten zum ersten Mal seit Lenin (vom Mai-Juni 1941 abgesehen) wieder in einer Hand vereint. Dennoch muss offen bleiben, ob die Wirklichkeit einer solchen Kompetenzfülle entsprach. Im Rückblick spricht vieles für die Annahme, dass Skepsis und Opposition verdeckt wurden. Aber die ,Kollektivführung', die unter Chruscev zweifellos zu neuen Ehren kam, beobachtete die Reformen genau und wartete ab. Sie unterstützte oder tolerierte auch die weitere ideologische ,Entstalinisierung', die auf dem 22. Parteitag ihren Höhepunkt erreichte. Zum Symbol dafür avancierte der (sicher nicht) .spontane' Beschluss, die Mumie Stalins von ihrem Ehrenplatz im Mausoleum neben Lenin zu entfernen und an immer noch prominenter Stelle unweit davon an der Kremlmauer gewöhnlich' zu beerdigen. Zugleich verabschiedete derselbe Parteitag ein neues Parteiprogramm, das (nach der,richtigen' revolutionären Strategie als Kerninhalt des ersten Programms von 1903 und den Prinzipien des sozialistischen Aufbaus im zweiten von 1919) -

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Chruscev im Zenit seinerMacht

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Machtverfall

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nun den Weg zu den Segnungen des Kommunismus weisen sollte. Wie bekannt, wurden die vollmundigen Ankündigungen, den Kapitalismus bald an Lebensqualität übertreffen zu wollen, auch in der Sowjetunion zum Gespött. Doch danach begann der Abstieg der ersten Mannes. Die Erträge des Neulands blieben hinter den Erwartungen zurück. 1963 zog eine Dürre weitere erhebliche Ernteeinbußen nach sich. Diese wurden aber erst dadurch zur Katastrophe, dass auch Chruscevs Lieblingspflanze, der Futtermais (den er 1959 beim Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte), ihren Dienst versagte. Im trockenen Klima Südrusslands reiften die Kolben nicht, denen unersetzbare Getreideflächen hatten weichen müssen. Erstmals in seiner Geschichte musste das Sowjetreich Getreide beim internationalen ,Hauptfeind' zukaufen. Außerdem hatte es sich im Oktober des Vorjahres in der gefährlichsten Konfrontation der Atommächte seit dem Koreakrieg auch außenpolitisch demütigen lassen müssen, als seine raketenbeladenen Frachtschiffe' an der Blockadekette amerikanischer Kriegsschiffe vor Kuba abdrehten (die Konzession der Vereinigten Staaten, auf einen weiteren Invasionsversuch zu verzichten, wurde dagegen kaum wahrgenommen). Im selben unglücklichen Jahr kam der Parteivorsitzende ferner auf die fatale Idee, die Partei in zwei separate Stränge von Industrie- und Agrarorganisationen aufzuspalten, mit der Folge heilloser Kompetenzverwirrung. Als Chruscev dann auch noch Anstalten machte, die Konsumgüter zu Lasten der Investitionsgüter zu fördern, hielt die Parteiführung die Grenze des Zumutbaren für überschritten. Wie man nun weiß, bereiteten Leonid Breznev und Nikolaj Podgornyj den Umsturz von langer Hand vor. Sie sorgten auch dafür, dass sich eine unerwartete Wende wie 1957 nicht wiederholen konnte. Am 13. Oktober 1964 wurde Chruscev aus seinem Urlaubsort auf der Krim nach Moskau beordert, wo ihm das Parteipräsidium den Absetzungsbeschluss eröffnete. Am folgenden Tag trat ein handverlesenes ZK-Plenum zusammen, um die Entscheidung zu bestätigen. Immer noch verbarg man die eigentlichen Vorgänge hinter fadenscheinigen Presseverlautbarungen über Gesundheitsprobleme des soeben noch überaus Fidelen. Dennoch verlief der Putsch anders als alle vergleichbaren Machtwechsel der Sowjetgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt. Zum ersten (und letzten) Mal wurde ein Parteiführer zu seinen Lebzeiten aus dem Amt entfernt, erstmals fällte das satzungsgemäß zuständige Gremium diese Entscheidung, und vor allem: erstmals rollten keine Köpfe. Wäre er nicht selbst betroffen gewesen, Chruscev hätte mit diesem Resultat seiner,Zivilisierung' des Sowjetsystems zufrieden sein können.

E.

Reform und Stalinismuskritik unter Chruscev (1953-1964)

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2. Wirtschaftsreformen

Die Behauptung ist kaum übertrieben, dass die Landwirtschaft bis zum Ende das Landwirtschaft Menetekel der Sowjetunion blieb. In den zwanziger Jahren fand man letztlich kein Mittel, sie ohne Kollision mit den selbst gesetzten Klassengesichtspunkten zu steuern. Nach der Zwangskollektivierung reichten ihre Erträge nicht aus, um sowohl die Industrialisierung als auch ein angemessenes Lebensniveau zu garantieren. Nach dem Krieg kam sie nur schleppend in Gang, weil die Priorität unter dem zusätzlichen Druck der Konfrontation mit dem Westen erneut der Schwerindustrie galt. Chruscev erbte dieses (weit in die russische Geschichte zurückreichende) Defizit und setzte sich auch deshalb durch, weil er seit seinen ukrainischen Jahren als Landwirtschaftsspezialist galt und ein attraktives Pro-

gramm vorlegte. An den Daten gemessen deutet alles darauf hin, dass die Neulandkampagne im Ganzen erfolgreich war. Von 1953 bis 1964 wuchs die gesamte Aussaatfläche in der Sowjetunion von 157,2 Mio. ha auf 212,8 Mio., überwiegend durch Erschließungen im westlichen Südsibirien und in Kazachstan. Auch wenn nicht alle Gebiete nutzbar waren, konnte der Staat mit den Ernten des ersten Jahrfünfts (1954-58) zufrieden sein. Dank der Gunst des Wetters fuhr man 1958 sogar einen Ertrag von 11,1 Zentner pro Hektar ein, ansonsten erfreuliche 9,1 Zentner. Auch danach wurden weiterhin gute Ergebnisse erzielt, im Durchschnitt des Jahrfünfts 1959-63 10,2 Z./ha. Zugleich stagnierte aber der Bruttoertrag aus den

Neulandgebieten, der zunächst kräftig gestiegen war, und ihr Anteil an der Gesamtproduktion nahm deutlich ab. Darin trat zutage, was Sachkenner von Anfang an prophezeit hatten: dass man angesichts der klimatischen Bedingungen der Steppe ohne massive Investitionen nur eine Zeitlang mit guten

Ernten rechnen könne. Chruscev hatte das Pech, dass der Raubbau, den man faktisch trieb, nach der Dekadenwende immer deutlicher wurde, während die Anforderungen aufgrund der anhaltenden Industrialisierung und des Vergleichs mit der näherrückenden kapitalistischen Welt eher stiegen als sanken. Beides brachte ihn um die Früchte eines objektiven Erfolgs. Dagegen erwies sich die zweite programmatische Wirtschaftsreform Chruscevs Dezentralisierung in jeder Hinsicht als Fehlschlag. Zu den Lehren der Vergangenheit gehörte für den neuen Ersten Sekretär, dass allzu viel Zentralismus Eigeninitiative ersticke. Schon 1955 hatte er den Gosplan daher aufgeteilt und einem Teil die langfristige („perspektivische") Planung aufgetragen, dem Rest die Vorausberechnungen für die üblich gewordenen Fünfjahreszeiträume. Dem folgte im Februar 1957 die eigentliche Reform in Gestalt der Einrichtung regionaler Volkswirtschaftsräte mit der Aufgabe, die kurz- und mittelfristige Lenkung der Industrie zu übernehmen. Dezentralisierung sollte an die Stelle zentraler Kommandowirtschaft treten, örtliche Sachkenntnis die Gängelung ersetzen, zu der die Anweisungen aus Moskau oft genug entarteten.

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Darstellung

Allerdings brachte diese Kur keine Abhilfe. Was Skeptiker befürchtet hatten und nahe lag, trat ein: Die regionalen Wirtschaftspolitiker hatten im Wesentlichen das Wohl ihrer Regionen, aber nicht die Interessen des Gesamtstaates im Blick. Die Mängel der alten Ordnung kehrten sich gleichsam um: Wurde zuvor manche Fabrik gebaut, die auf die gesamten Bedürfnisse berechnet war und nur von ihnen getragen werden konnte, so dachten lokale Funktionäre in der Regel nicht über ihren Horizont hinaus. Schon im Sommer 1958 wurden Korrekturen nötig. Da auch die Kompetenzverteilung unklar blieb, hatte die Reform wenig Aussicht auf Erfolg. Dieser Wirrwarr verband sich zum Teil durchaus ursächlich mit dem ungewöhnlichen Scheitern des sechsten Fünfjahresplans (1956-60). Vom 20. Parteitag mit besonderen Vorschusslorbeeren als Signum der neuen Ära verabschiedet, musste sein völliger Misserfolg besonders schmerzen. Das Debakel war so offensichtlich, dass die Parteiführung das Zahlenwerk schon im September 1957 ein beispielloser Vorgang für Makulatur erklärte. An seine Stelle trat 1959, von einem Sonderparteitag verabschiedet, der erste und einzige Siebenjahresplan (1959-1965), dessen Ende Chruscev aber nicht mehr im Amt erlebte. Sein größerer Erfolg hing auch mit der Rückkehr zur alten Entscheidungsund Befehlshierarchie zusammen. Seit der Dekadenwende wurden die regionalen Volkswirtschaftsräte wieder abgeschafft und Staatskomitees eingerichtet. Die Dezentralisierung wich der Rezentralisierung, mit der auch die alten Probleme zurückkehrten. -

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3. Wechselhaftes

„Tauwetter"

Die Entstalinisierung war, soweit diese Bezeichnung gerechtfertigt ist, ein Phänomen der Ideologie und Kultur. Chruscev war Stalinist genug, um die alten Entstalinisierung in Strukturen unverändert zu lassen. Was er für nötig hielt und wovon er sich Ideologie und Kultur Heilung vom Übel der Apathie versprach, war ein neuer Geist. Enthusiasmus und individuelles Engagement aber setzten eine gewisse Denkfreiheit voraus. Schablonen sollten weichen und Spielraum für eigene Gedanken geschaffen werden, allerdings auf dem festen Boden des Sozialismus in der nach wie vor parteilich vorgegebenen Form. In der Erkenntnis dieses Zusammenhangs zwischen geistiger Freiheit und Initiative nahm Chruscev Einsichten seines letzten Nachfolgers Gorbacev vorweg. Zugleich blieb er in deutlich größerer Furcht hinter ihm zurück: allzu eng war er mit Stalin und seiner Ordnung verbunden gewesen, allzu gering auch war jedenfalls im Vergleich der Problemdruck, dem er sich gegenüber sah. So gab es zweifellos das „Tauwetter", das den geistigen Aufbruch unter Chruscev (mit dem Titel einer Erzählung Ilja Ehrenburgs von 1954) auf eine einprägsame Formel brachte. Aber es war wechselhaft und führte ganz und gar ,unorganisch' zu keinem dauerhaften Frühling. -

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E.

Reform und Stalinismuskritik unter Chruscev (1953-1964)

75

Vielmehr hielten größere Toleranz und Gängelung einander zumindest die Waage, wenn letztere nicht sogar überwog. Schon nach der ersten Freude über das Ende des Stalinschen Winters trat eine gewisse Beruhigung ein. Zum zweiten sowjetischen Schriftstellerkongress versammelten sich 1954 viel zu viele Zöglinge der alten Ordnung, als dass er mehr hätte tun wollen, als einige Rehabilitierungen vorzunehmen und neue Zeitschriften zu gründen. Zu wirklicher Kritik wurde erstmals im Umkreis des 20. Parteitages eingeladen. Kein Geringerer als der Lehrmeister des sozialistischen Realismus' (nach Maxim Gorki) Michajl §olochov beklagte auf dieser Veranstaltung die vielen ,toten Seelen' unter den knapp 3800 Verbandsmitgliedern und rief dazu auf, die „Wahrheit" zu sagen, auch wenn sie „bitter" schmecke. Dies taten Vladimir M. Dudincev in einem aufsehenerregenden Roman („Nicht nur von Brot allein") oder Daniii A. Granin in einer ebenfalls viel gelesenen Erzählung („Die eigene Meinung"), die beide in jener Zeitschrift erschienen, die bis zur glasnost' als das Sprachrohr der literarischen

Opposition galt: im Novyj mir (Neue Welt). Noch im Jahr des Parteitages, in das auch die Aufstände

von Budapest und Warschau fielen, begann sich jedoch der Wind zu drehen. Eine Affäre kündigte sich an, die im In- und Ausland als Rückfall in stalinistische Maulkorbpolitik gewertet wurde, aber vielleicht nur die stets vorhandenen Grenzen der Gedankenfreiheit' deutlicher hervorhob. Im November 1957 erschien Dr. Zivago von Boris Pasternak. Nicht nur der Inhalt des Jahrhundertwerks lief auf eine Fundamentalkritik am Sowjetsystem hinaus; auch die Drucklegung in einem Mailänder Verlag war nicht anders denn als Protest gegen die einheimische Zensur zu verstehen. Als der Verfasser im folgenden Jahr auch noch den Nobelpreis für Literatur erhielt, begann in den offiziösen Medien eine Schmutzkampagne, wie man sie nach dem 20. Parteitag nicht mehr für möglich hielt. Vom „räudigen Schaf" bis zum „Schwein" wurde kaum eine Beleidigung ausgelassen. Erst der Tod des betagten Verfassers und die Demonstration bei seinem Begräbnis am 2. Juni 1960, die zu einer Art von öffentlichem Gründungsakt des politischen Dissenses in der Sowjetunion wurde, setzten ihr ein Ende. Vor diesem Hintergrund sollte man auch die hohe Zeit der Veröffentlichungsfreiheit zwischen dem 22. Parteitag im Oktober 1961 und dem Frühjahr 1963 nicht überschätzen. Vieles spricht dafür, dass sie ins politische Kalkül des Parteivorsitzenden passte. Er wollte den Personenkult und den Terror gegen die eigene Partei erneut und verstärkt an den Pranger stellen. Stalin sollte auch symbolisch endgültig aus dem Mausoleum des Sozialismus verbannt werden. Dazu kam ihm die eindrucksvolle Schilderung des Alltagslebens im Zwangsarbeitslager, wie sie sich in Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch fand, gerade recht. Das schließt nicht aus, dass Chruscev von der Lektüre er las selbst nicht aufrichtig betroffen gewesen wäre. Dennoch verdient der Umstand gleiche Beachtung, dass weitere Werke der ,Lagerprosa' wie die Ä'o/ywa-Erzählungen von Varlam T. Salamov oder Solschenizyns nächster Ro-

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Grenzen der Freiheit

76

/.

Darstellung

man Krebsstation nicht mehr erscheinen durften. Ebenso wie viele andere kritische Werke sprengten sie offenbar den Rahmen der systemzulässigen Enthüllungen. Für eine solche ,politisch-instrumentelle' Interpretation spricht auch der Umstand, dass Chruscev für ästhetische Experimente und formale Freiheit keinerlei Verständnis hatte. Bekannt sind seine drastischen Kommentare bei der Besichtigung von Bildern Moskauer Künstler Anfang Dezember 1963. Von „Gekleckse" und ,schiefsitzenden Gehirnkästen' war da in einer Ausdrucksweise die Rede, die nur allzu deutlich den Kunstgeschmack des sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung verriet. So bleibt als Fazit, dass es unter Chruscev sicher ein höheres Maß an öffentlicher Meinungsfreiheit gab als zuvor und danach. Zugleich sollte der Kontrast aber nicht dazu führen, die Grenzen zu übersehen. Auch wenn diese erste Entstalinisierung im Rückblick als Vorschein der glasnost' gelten kann sie gehörte in höherem Maße zur alten Ordnung als Gorbacevs Perestrojka. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass sie zugleich zum Beginn einer Dissidentenbewegung wurde, die auch ohne die neue kulturelle Eiszeit unter Breznev gute Chance gehabt hätte, mit Partei und Staat in Konflikt zu geraten. -

F. ZWISCHEN STABILISIERUNG UND STAGNATION:

DIE

ÄRA BRE2NEVS (1964-1982)

Am Anfang der neuen Epoche stand ein Putsch, am Ende der Beginn einer Transformation, deren Notwendigkeit ebenso unumstritten wie ihr Ergebnis offen war. In der Ära Breznevs hatte der Sowjetsozialismus seine eigentliche

Probe im Systemvergleich mit dem kapitalistischen Westen' zu bestehen. Der Wiederaufbau war beendet, die harte Konfrontation der Blöcke am Rande des Krieges ebenfalls. Beide Lager traten in eine Phase relativ ungetrübter ökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten bei zunehmender internationaler Verflechtung ein. Die Außenpolitik stand im Zeichen der Entspannung, die Innenpolitik in dem weitgehender Normalität. Die Sowjetordnung hatte die existenzielle Bedrohung des Krieges überstanden. Mit welchen Konzessionen auch immer, hatte sie ihre Fähigkeit bewiesen, unter außerordentlichen Bedingungen ungewöhnliche Kräfte zu mobilisieren. Chruscevs historische Rolle hatte im Wesentlichen darin bestanden, den Stalinismus zu überwinden und nach neuen Wegen zu suchen. Nach seinem Scheitern standen die Erben vor der Aufgabe, eben diese Suche in veränderter Form fortzusetzen. Dabei galt es im Kern, die Leistungsfähigkeit der Gesamtordnung vor allem die ökonomische so weit zu stärken, dass nicht nur die wachsenden Bedürfnisse einer neuen, zunehmend mit westlichen Verhältnissen vertrauten Generation, sondern auch die Anforderungen befriedigt werden konnten, die sich aus der selbstgewählten Weltmacht- und Führungsrolle der Sowjetunion im ,Ostblock' ergaben. -

-

1. Die ,Herrschaft

der

Sekretäre'

Vom Sturz Chruscevs profitierten nach außen hin zunächst zwei jüngere Funktionäre: Leonid I. Breznev als Erster (seit 1966 wieder General-) Sekretär und Aleksej N. Kosygin als Vorsitzender des Ministerrates (Ministerpräsident). Die Installierung einer Doppelspitze war Programm: Sie signalisierte die feste Absicht, Doppelspitze dauerhaft mit jener Alleinherrschaft zu brechen, die Chruscev, wenn auch auf seine

Weise, wiederhergestellt hatte. Allerdings sollte sie nicht als Gleichberechtigung

Partei und Staat verstanden werden. Von Anfang an bestand kein Zweifel daran, dass der oberste Kommunist das Sagen hatte. Zugleich war sein Kompagnon nicht zufällig Repräsentant der Wirtschaftsbürokratie. Von Haus aus Textilingenieur, verkörperte er gleichsam die entscheidende Ressource der Staatsmacht einschließlich ihrer Umsetzung durch Administration. Insofern brachte der Umsturz mindestens zwei Formveränderungen des Gesamtsystems

von

78

/.

Darstellung

einen die Rückkehr zur,Kollektivführung' der Partei (im oligarchischen Sinn), zum anderen das Gewicht der ökonomischen Apparate. Wie sich herausstellte, konvergierten beide symptomatischen Aspekte des Stärkung der Putsches durchaus in einer Wirkung: Sie stärkten das Gewicht der nomennomenklatura klatura jn welchem Maße dies der Fall war, wird man inzwischen noch offener formulieren hängt doch die Antwort von der vorgängigen Entscheidung über die Interpretation des ,real existierenden Sozialismus' ab (vgl. u. Teil II). Wer die Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen den Interessen mächtiger Apparate und Akteure stärker betont ohne zwangsläufig das Entscheidungsmonopol der Spitze in Frage stellen zu müssen -, wird der administrativen Oberschicht einen Einfluss beimessen, der an Partizipation heranreicht. Wer die souveräne Entscheidungsgewalt, sei es des Generalsekretärs oder zu Beginn der Breznev-Ära einer sehr engen Führungsspitze, in den Vordergrund stellt, wird weniger von Mitwirkung als von Nutznießung sprechen. Wie auch immer, unbestreitbar ist, dass die Funktionärselite an Bedeutung gewann. Dabei kam der Partei zweifellos der Primat zu. Aber auch die anderen großen Organisationen, allen voran die Armee, die Rüstungs- und Schwerindustrie sowie der KGB, vermochten ihre Interessen wirksamer in die Waagschale zu werfen. Als Beleg für diese Umformung der Herrschaftsordnung gilt zumeist die Zuwahl des damaligen Verteidigungsministers, Marschall Andrej A. Grecko, und des Chefs des KGB Jurij V. Andropov ins Politbüro 1973. Wenn man Kosygin und andere Staatsvertreter als Sachwalter industrieller Belange betrachtet, waren damit in der Tat die bedeutendsten Organisationen und Gruppierungen des Gesamtstaates im höchsten zum

Ausdruck:

zum

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-

-

-

Führungsgremium vertreten.

Aber noch in anderer Hinsicht spricht vieles dafür, diese Kooptation als markantes Ereignis zu werten. Sie bietet sich als Auftakt der zweiten Hälfte der langen Regentschaft Breznevs an und damit als Wendepunkt zwischen Reform Wendepunkt und Erstarrung. Man sollte nicht vergessen, dass die Ära anders begann, als sie zwischen Reform endete. Breznev und Kosygin waren auch darin Zöglinge Chruscevs, dass sie seine und Erstarrung Unzufriedenheit mit den ökonomischen Mängeln der überkommenen Ordnung teilten. Allerdings wollten sie diese sozusagen geräuschlos ohne Beteiligung der Gesellschaft als Korrektur von oben und, entschiedener als ihr Mentor, im Rahmen der gegebenen Grundstrukturen beheben. So waren die Kosyginschen Vorschläge zur Vereinfachung der Produktionsvorgaben und zur Preisreform vom September 1965 zu verstehen, die eigentlich noch hätten weitergehen und materielle Belohnungen für gute Arbeit einschließen sollen. Und so waren verschiedene Sonderprogramme für die Landwirtschaft und ihre Zulieferindustrie zu deuten, die Breznev auf seine Fahnen schrieb. Indes verloren solche Initiativen an Elan. Das zentrale Planungssystem blieb im Wesentlichen unverändert; zumindest behoben die minimalen Korrekturen keine seiner evidenten Schwächen. Die Agrarinitiativen kamen ebenfalls nicht vom Fleck, weil sie von gegenläufigen Investitionsansprüchen konterkariert wurden. So summierten sich in der zweiten

F. Zwischen Stabilisierung und Stagnation: die Ära Breznevs (1964-1982)

79

Hälfte der Breznev-Ära mehrere Faktoren zu einem Ergebnis: einer wachsenden Unlust, den status quo zu verändern. Im Rückblick, aus der gewiss nicht unparteiischen Sicht der Perestrojka betrachtet, drückten sie sogar der gesamten Periode den Stempel auf, eine „Zeit des Stillstands" gewesen zu sein. Freilich gab es noch mindestens einen weiteren Grund für diese Kennzeichnung. Er kann zugleich beanspruchen, eine zentrale analytische Kategorie zur Erklärung nicht nur der Breznev-Ära, sondern auch des nachfolgenden Umbruchs bis zum Kollaps der Sowjetunion bereitzustellen: das zunehmende Vergreisung der Alter der Führungsriege und ihre generationsspezifische Sozialisation. In der Tat Fu runSsrlege war die Vergreisung nicht nur tagtäglich sichtbar, sondern ließ sich auch empirisch belegen. So wie das Dreigestirn Breznev, Kosygin und der ZK-Sekretär für Ideologiefragen Michajl A. Suslov vom Sturz Chruscevs an bis zu ihrem jeweiligen Tod (1980-82) Mitglieder des Politbüros blieben, so galt dies auch für eine Vielzahl weniger prominenter Funktionäre. Dementsprechend stieg das Durchschnittsalter der Politbüromitglieder zwischen 1965 und 1985 von 56 auf 67 Jahre. Dies war umso eher der Fall, als die Kooptation nicht nur faktisch auf Lebenszeit galt, sondern die Neuzugänge auch immer älter wurden. Der dienstälteste Außenminister vermutlich des ganzen Jahrhunderts, Andrej Gromyko, war 64 und ein weniger bekannter Parteiführer schon 76 Jahre alt, als sie in den Partei-Olymp aufgenommen wurden. Ein Vergleich mit früheren Zuständen macht das Ausmaß des Wandels deutlich, der damit eingetreten war: 1920 betrug das Durchschnittsalter des Politbüros 39, 1939 gut fünfzig Jahre. Diese Entwicklung erhielt dadurch weiteren Schub, dass die Wahlen großenteils zur Akklamation verblassten. Entsprechende Berechnungen zeigen, dass die ZKMitglieder 1952 noch 125, 1981 schon 319 in der Breznev-Ära (seit dem 23. Parteitag 1966 im Fünfjahresrhythmus bis 1981) zu gut 70% wiedergewählt wurden. Tiefere Einschnitte mit einem Neulingsanteil von über der Hälfte gab es nur 1939, 1952 und 1961. Mithin bewirkten nur der Stalinsche Terror, die Dezimierung durch den Krieg samt der fortgesetzten Gewalt danach und die eigentliche, personelle Entstalinisierung auf dem 22. Parteitag einen signifikanten Wechsel in der Führung der KPdSU. Der Putsch von 1964 dagegen tangierte das ZK kaum: Die nomenklatura konnte sich in Sicherheit wiegen, weil sie in den Personen von Breznev und Kosygin selbst an die Macht kam. Bis zum Ende der Breznev-Ära bestimmte eine Generation die Geschicke der Sowjetunion, die vor dem Ersten Weltkrieg geboren und unter Stalin in den dreißiger Jahren politisch groß geworden war. Gerontokratie, Stagnation und Konservierung des .Sozialismus' in der Gestalt, die ihm die Stalinsche ,Revolution von oben' gegeben hatte, waren unauflösbar miteinander verbunden. Dem entsprach allerdings, als Kehrseite derselben Medaille, dass sich unterhalb Veränderungen der höchsten Führunesebene durchaus erhebliche Veränderungen vollzogen. ™'erna") der ruhrungsebene Weniger deutlich, aber für aufmerksame Beobachter erkennbar, wuchs in den Regionen eine neue Generation von Parteisekretären heran, deren prägende -

-

°

,.i

80

I.

Darstellung

Erfahrungen in die Nachkriegszeit fielen. Die sowjetischen ,Präfekten' (J. Hough) der siebziger Jahre waren zumindest in Gestalt einiger markanter Persönlichkeiten anders als die Patriarchen': pragmatisch und weniger ideologisch denkend, nicht in völliger Abschottung aufgewachsen und mit anderen Staaten (und sei es nur des Ostblocks) vertraut, effizienzorientiert und deshalb reformbereit, wenn auch nicht um jeden Preis. Je länger die ,alte Garde' herrschte, desto mehr Parteimitglieder, die in frühen Erwachsenenjahren Chruscev zugejubelt hatten, brachten es in den Regionen zu Macht und Einfluss. Die Hierarchie in Partei

und Staat war zugleich eine Alterspyramide, die Kluft zwischen der höchsten Etage und den nächstfolgenden auch eine der Generationen. Dies bedeutete angesichts der autoritären Strukturen und der faktischen Unmöglichkeit der Abwahl einerseits, dass die Sklerose des Systems programmiert und bis zum Tode seiner Führer abzuwarten war. Andererseits ergab sich daraus aber auch, dass nach Breznev mit erheblicher Wahrscheinlichkeit einer der ,Präfekten' ins mächtigste Amt aufrücken würde eventuell sogar ein Gorbacev. -

2. Stillstand

der

Wirtschaft

Bei aller berechtigten Skepsis gegen einseitige Erklärungsversuche vermag die These am ehesten zu überzeugen, dass die chronischen Defizite der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit maßgeblich zur negativen Gesamtbilanz der Breznev-Ära beigetragen haben. Was ökonomisch durchaus hoffnungsvoll begann und Anfang der siebziger Jahre in der wohl besten Versorgungslage der Nachkriegszeit einen greifbaren, von der Bevölkerung dankbar akzeptierten Höhepunkt erreichte, mündete in einen veritablen Stillstand: Gegen Ende des 10. Fünfjahresplans (1976-1980) näherte sich das volkswirtschaftliche Gesamtwachstum dem Nullpunkt. Auch Mitglieder des engsten Führungskreises nahmen dies, wie Gorbacev berichtet, zur Kenntnis und stellten die Frage nach den Ursachen und Gegenmitteln. Mehrere Antworten bieten sich an. Zum einen wirkte sich nachteilig aus, dass die Kosyginschen Reformen verpufften; die wenigen wirklich durchgeführten Maßnahmen brachten nur temporäre Besserung. Zum anderen machten sich vor allem in den siebziger Jahren Entwicklungen bemerkbar, die den Lebensnerv der zentralen Planwirtschaft in der unverändert praktizierten Form (und vermutlich jedes Systems dieser Art) trafen. Westliche Ökonomen, die das wirtschaftliche Geschehen in der Sowjetunion genau beobachteten, orteten das geringste Wachstum der Beschäftigtenzahl (pro Jahr nur noch 1,4% 1979-1982), der Arbeitsproduktivität (2,3%) und der Höhe der Bruttoanlageinvestitionen (2,2%). Darin trat deutlich zutage, wo die kardinalen Schwächen des Systems lagen: bei den entscheidenden Faktoren Kapital und Arbeit.

F. Zwischen Stabilisierung und Stagnation: die Ära Breinevs (1964-1982)

81

Dass Geld knapp war, hatte in der Geschichte der russischen Wirtschaft und der Kapitalknappheit Industrialisierung gewiss Tradition. Im Rückblick drängt sich die Vermutung auf, dass die frühe Sowjetunion dieses Problem nur deshalb vorübergehend in den Griff bekam, weil sie dank der zentralen Planwirtschaft Ressourcen bündeln und auf ganz bestimmte Ziele konzentrieren konnte. Deshalb gelang der Sprung ins

Industriezeitalter sektoral, blieb aber auf die geförderten Bereiche beschränkt und entbehrte noch lange eines breiten Fundaments. Hinzu kam, dass man die Defizite beim Produktionsfaktor Kapital in all diesen Jahren durch einen Uberfluss an Arbeitskräften ausgleichen konnte. Diese stammten, wie erwähnt, vor allem vom Dorf, wo es mehr Esser gab, als wirklich ,wertschöpfende' Beschäftigung vorhanden war. Ein weiteres Reservoir bildeten die Frauen, die seit den dreißiger Jahren in den Produktionsprozess einbezogen wurden. Beide Quellen trockneten in den Nachkriegsjahrzehnten allmählich aus. Spätestens als die Sowjetunion statistisch die Grenze zum Industrieland überschritt und mehr als die Hälfte der Einwohner in den Städten lebte (Anfang der 1960-er Jahre), hatte das Dorf nichts mehr abzugeben. Zugleich war die Quote der erwerbstätigen Frauen, die Mitte der siebziger Jahre ca. 85% betrug, kaum noch zu steigern. Zum Problem wurde beides aber erst dadurch, dass das Bevölkerungswachstum insgesamt nachließ. Denn damit versiegte auch der absolute Zuwachs von Arbeitskräften. Diese Arbeitskräftemangel Verknappung eines zentralen Produktionsfaktors hätte durch seine intensivere Nutzung aufgefangen werden können. Dazu aber wären Kapital und technologische Innovation nötig gewesen. Über beides verfügte die Sowjetunion nicht. Ihre wirtschaftliche Leistungskraft hatte gerade ausgereicht, um die hauptsächlichen Erfordernisse zu erfüllen, die an sie gestellt wurden. Vorräte und Überschüsse aber gab es nicht. Bei rückläufigem Bevölkerungswachstum, Ausschöpfung aller Arbeitskraftreserven, notorischem Kapitalmangel und struktureller Unfähigkeit zur Innovation zeigten alle wirtschaftlichen Indikatoren der ausgehenden siebziger Jahre auf den drohenden Infarkt durch Stillstand. Dazu trug allerdings der Umstand nicht weniger bei, dass auch die Er- Defizitäre Lanclwlrtschaft tragssteigerung der Landwirtschaft nicht im gewünschten Maße vorankam. Dabei hatte Breznev die strategische' Bedeutung dieses Bereichs erkannt und seine ,Regierungsübernahme' mit dem Versprechen weiterer Reformen begonnen. Was offenbar alle General- bzw. Erste Sekretäre seit Stalin zu leisten hatten die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft zu überwinden wollte er 1965 mit einem Programm umfangreicher Investitionen in die Verbesserung des Bodens und die Agroindustrie erreichen. Allerdings musste er sich von Anfang an auf einen Kompromiss einlassen. Die mächtige Schwer- und Rüstungsindustrie wollte ebenfalls bedacht werden und erhielt ihren Anteil. Gegen sie konnte kein Generalsekretär (mehr?) regieren. Das aber zwang zu einer Zersplitterung der Ressourcen, die eine wirkliche Sanierung der Landwirtschaft verhinderte. -

-

82

I.

Darstellung

Es bedurfte daher kaum der Nachhilfe durch

im Winter im nächsten 1969/70, (dem 9.) Fünfjahbewegen, Parteitag resplan 1971-1975 das höchste agrarische Investitionsvolumen der Sowjetgeschichte vorzusehen. Indes sorgten zwei verheerende Missernten von 1972 und 1975 dafür, dass auch diese Anstrengung das gewünschte Ergebnis verfehlte. So standen die Parteiführer und Ökonomen 1976 zu Beginn dessen, was sich als letzte vollständige Planperiode der Breznev-Ära herausstellte, immer noch vor demselben, alten Problem. Anfangs trat im Vergleich zur schlimmen jüngsten Vergangenheit auch eine gewisse Regeneration ein. Doch dann wurde der Mangel allgegenwärtig. In den Städten verschärften sich die Versorgungsengpässe so weit, dass Breznev im Vorfeld des nächsten (26.) Parteitags Anlass sah, ein Sonderum

programm

den 24.

zur

1971

Versorgungsmängel

zu

Lebensmittelbeschaffung vorzuschlagen.

Dieser abermalige Fehlschlag, ein endemisches Defizit der sowjetischen (und schon der russischen) Wirtschaft zu beheben, hatte zu Beginn der achtziger Jahre Wachsende andere Folgen als knapp zwei Jahrzehnte zuvor. Verschiedene Veränderungen lfnedenheit waren eingetreten, die nicht ohne Wirkung blieben. Eine neue, die erste Nachkriegs-Generation war herangewachsen, die sich in ihren Ansprüchen nicht mehr wie ihre Eltern und Großeltern gezwungenermaßen seit den dreißiger Jahren am bloßen Uberleben orientierte. Dazu trug bei, dass die von Stalin um das Land gezogene Mauer im Gefolge sowohl der friedlichen Koexistenz' als auch zunehmender wirtschaftlich-kultureller Verflechtungen mit dem globalen Systemgegner abgetragen wurde. Die westlichen Staaten rückte näher und mit ihnen andere (nicht selten durchaus überzogene) Vorstellungen von einem Lebensniveau, das die sozialistische Wirtschaft offensichtlich nicht zu sichern vermochte. Eine neue Generation drängte an die Schalthebel der politischen Macht. Selbst wenn sie sich vom wachsenden Widerspruch zwischen kommunistischen' Verheißungen und der Realität weniger irritieren ließ als der Durchschnittsbürger, nahm auch sie zur Kenntnis, dass Breznevs Sonderprogramm faktisch das Eingeständnis eines abermaligen Scheiterns bedeutete. Begeisterung für einen neuen Versuch war nur nach grundlegenden Reformen zu wecken. In Industrie und Landwirtschaft trat endgültig zutage, dass die zentrale Kommandowirtschaft am Ende war. -

-

3. Unzufriedene

Gesellschaft, gespaltene Kultur

Trotz allem darf man davon ausgehen, dass es der Bevölkerung unter Breznev besser ging als je zuvor. Diese Beobachtung steht nicht im Widerspruch zum Befund der Unzufriedenheit. Zum einen verbreitete sich der Unmut allem Anschein nach erst im Laufe der siebziger Jahre auf bedrohliche Weise. Zum anderen haben Revolutionstheorien seit Tocqueville erkannt, dass Protest selten durch ein absolut niedriges Lebensniveau erzeugt wurde. Wichtiger war zumeist der relative

F. Zwischen

Stabilisierung und Stagnation: die Ära Breznevs (1964-1982)

83

Niedergang nach einem Anstieg oder das Ausbleiben einer Verbesserung angesichts günstiger Rahmenbedingungen. Als Beleg für die Brisanz eben dieser Abfolge kann auch die sowjetische Erfahrung der Breznev-Ära gelten. Denn alle Indizien, so angreifbar sie aufgrund der schwierigen Datenlage sein

mögen, deuten darauf hin, dass auch die Realeinkommen der Industriearbeiter seit

dem Ende des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich stiegen. Absolut erhöhte sich ihr Monatslohn 1955-1975 von 76,2 Rubel auf 160,9, i.e. um 110,9%. Preissteigerungen abgezogen, blieb ein Anstieg um 107,8%, nach westlichen Berechnungen von 62,8%. Selbst wenn man diese Zahlen für übertrieben hält, steht der Tatbestand außer Zweifel, dass sich der Lebensstandard eines erheblichen Teils der Stadtbewohner über zwei Jahrzehnte deutlich verbesserte. Dabei gab es natürlich große Unterschiede zwischen den Branchen und Regionen. Gesuchte Facharbeiter verdienten deutlich besser als angelernte Hilfskräfte, Bergleute erheblich mehr als vor allem Arbeitende« in der Textil- und Nahrungsmittelbranche. Auch die einfachen Angehörigen (Büroangestellte, wie in den westlichen Industrieländern kommunale Bedienstete etc.) des tertiären Sektors rangierten am unteren Ende der Einkomwachsenden menspyramide. Dennoch scheinen sie ebenfalls von der gesamten Aufwärtsentwicklung profitiert zu haben. Gleiches galt für die Bauern, denen der Stalinismus besonders übel mitgespielt hatte. In gewisser Weise versuchte Chruscev, der einstige Hirtenjunge, die materiellen Folgen der Zwangskollektivierung wettzumachen: Vor allem unter seiner Ägide begann die Angleichung der bäuerlichen Einkommen und sozialen Sicherung an die städtischen Entsprechungen. Einen Meilenstein markierte dabei die Einbeziehung der kolchozniki in die Sozial- und Rentenversicherung 1964. Damit übernahm der Staat die finanzielle Bürde krankheits- und altersbedingter Arbeitsunfähigkeit, die den ohnehin geringen Ertrag der allermeisten Kollektivwirtschaften weiter und erheblich gemindert hatte. Zwei Jahre später krönten Breznev und Kosygin diese Entwicklung auch dies ein Indiz für ihr anfängliches Bemühen, die Chruscevschen Reformen fortzusetzen durch die Abschaffung der Bezahlung nach „Tagewerken" und die Einführung des Festlohns für Kolchosbauern. Zugleich stieg nicht nur deren Nominallohn, sondern auch der Reallohn deutlich und kontinuierlich von 1950 100 auf 1976 329. Dadurch schrumpfte die Kluft zu den Industriearbeitern, gemessen am prozentualen Anteil der agrarischen Einkünfte an den industriellen mit einer besonderen Beschleunigung in den sechziger Jahren von 25% im Jahre 1950 auf ca. 65% 1980. Allerdings darf daraus nicht unbedingt auf Angleichung auch der Lebensqualität' geschlossen werden. Nicht nur verzichtete der Staat aus guten Gründen darauf, Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen auf das Dorf zu übertragen. Darüber hinaus blieb der kulturelle Abstand zwischen Stadt und Land, durchaus im materiellen Sinn von Wohnungsqualität, Schulversorgung, Freizeitmöglichkeiten u. a., erheblich.

Einkommenswacnstum

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-

-

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=

=

-

-

Bauern

84

I.

Darstellung

Diese durchaus positive Bilanz hat sich für das Regime nicht ausgezahlt. Im Aufschwung Gegenteil, gerade der Aufschwung scheint zur Destabilisierung beigetragen zu bringt politische haben_ Zum einen setzte er die Köpfe in Verbindung mit einer beispiellosen Destabilisierung Steigerung des durchschnittlichen Bildungs- und Qualifikationsniveaus für Gedanken und Wahrnehmungen frei, die über die Sorge um das bloße Überleben hinausgingen. Zum anderen schärfte er die Aufmerksamkeit für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit und Ost und West. Als es langsamer bergauf ging, wurde die unverdrossene Versicherung der Überlegenheit des sozialistischen Systems in den Augen einer neuen Generation immer schaler. Deshalb lag das Problem der letzten Breznev-Jahre, das mittelfristig die Perestrojka hervorbrachte, nicht in sinkenden Einkommen, sondern systemkonform darin, dass es immer weniger zu kaufen gab. Davon war auch eine Schicht betroffen, auf die der,entwickelte Sozialismus' mit besonderem Stolz blickte: die „ingenieur-technischen" bzw. „wissenschaftlichtechnischen Arbeiter". Zwar bereitete es durchaus Mühe, sie in die ideologische Selbstverpflichtung auf die Minderprivilegierten in Stadt und Land einzupassen. Aber diese Orientierung des Regimes war von Anfang an vom Ziel des sozialistischen Aufbaus' überwölbt worden. Industrialisierung und Modernisierung aber, auf die das Programm hinauslief, verlangten eine massive Steigerung der technischen und allgemeinen Qualifikation. Das revolutionäre Regime hat diese Notwendigkeit von Anfang an erkannt und für eine enorme Ausweitung der Bildungschancen von Arbeitern und Bauern gesorgt. Diese Entwicklung hielt im Kern an. Was in den dreißiger Jahren „SowjetAnwachsen der intelligenz" hieß und zur Säule der politischen Loyalität wurde, verwandelte sich neuen Elite m e[nen feil der breiten technisch-wissenschaftlichen und administrativen Elite, über die jede Industriegesellschaft verfügen muss. Dem Eiltempo der sowjetischen Aufholjagd entsprechend wuchs auch diese Schicht außerordentlich schnell. Nach einer Verdreifachung ihrer Zahl noch in den fünfziger Jahren war in den sechziger und siebzigerJahren immer noch eine Verdopplung zu verzeichnen, die erst in den achtziger Jahren zu einer langsameren Zunahme abflachte. Sicher fand die Konvergenztheorie der sechziger Jahre hierin eines ihrer stärksten Argumente: Ob sozialistisch' oder kapitalistisch', die Modernisierung letztlich aller gesellschaftlicher Funktionen, von der Wirtschaft über die Kultur bis zur Administration, verlangte mehr Lehrer, Wissenschaftler, Ärzte und Ingenieure, die den Löwenanteil der neuen Elite stellten. War diese Verschiebung der sozialen Pyramide selbst somit am ehesten systemneutral, so besaß sie in der Sowjetunion doch mindestens zwei charakteristische Merkmale. Zum einen zeigten sowohl der große Anteil von Ingenieuren als auch deren große Zahl unter den bedeutenden Parteipolitikern samt der propagandistischen Überhöhung dieser Berufsgruppe an, dass technischnaturwissenschaftliche Qualifikation die Funktion der vielseitig verwendbaren Generalkompetenz übernahm, die in westlichen Gesellschaften der juristischen t

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F. Zwischen

Stabilisierung und Stagnation: die Ära Breznevs (1964-1982)

85

zukommt. Lenin und Stalin waren professionelle Revolutionäre, Chruscev, Kosygin und Breznev Ingenieure. Zum anderen sonderte sich der parteipolitisch und allgemein administrativ aktive Teil dieser breiteren Schicht von Qualifizierten mehr und mehr zu einer eigenen, distinkten Gruppe ab. Zu ihr zählten die Inhaber aller strategisch bedeutenden Funktionen in Partei, Staat, Wirtschaft und Kultur, die zugleich die höchsten Gehälter bezogen. Diese nomenklatura wurde zum Signum der Herrschaftsstruktur des ,real existierenden Sozialismus' generell und der Breznev-Ära im besonderen. In einer Gesellschaft ohne Eigentum oder Standeszugehörigkeit bildete sie eine schmale Elite, die sich am ehesten dauerhafte und vererbbare Privilegien zu sichern wusste. Die nomenklatura verfügte nicht nur exklusiv über die politisch-administrative Macht und einen bevorzugten Zugriff auf alles, woran es in der Planwirtschaft fehlte (von Waren des höheren Konsums bis zu Wohnungen, Klubs und Ferienquartieren). Darüber hinaus gelang es ihr unter Breznev mehr und mehr, auch ihren Söhnen und Töchtern über exklusive Ausbildungswege den Verbleib im eigenen Ambiente zu ermöglichen. Es gehörte zu den zahlreichen Widersprüchen des Sowjetsozialismus (nicht nur) der Breznev-Ära und zu den bevorzugten Gegenständen der Kritik -, dass die nomenklatura eine deutliche Tendenz zur Selbstrekrutierung erkennen ließ und eine Elite an provozierender Sichtbarkeit gewann, die offensichtlich gleicher war als die anderen Mitglieder der vorgeblich egalitären Gesellschaft. -

Im Rückblick verbindet sich die Breznev-Ära nicht nur mit Stillstand und zunehmender Selbstabschottung der Funktionärsbürokratie. Im selben Maße gilt sie als Synonym für eine konservative Wende des öffentlichen geistig-kulturellen und politischen Lebens Es wäre überzogen, von einer Re-Stalinisierung im engeren Wortsinn zu sprechen, da es keine Rückkehr zu einer vergleichbaren Disziplinierung und ähnlich rigorosen Dogmen gab. Aber die neuen Herren sandten in Wort und Tat das klare Signal aus, dass die Kritik an der Vergangenheit einschließlich der schlimmen dreißiger Jahre ein Ende haben sollte. Öffentliche Äußerungen hatten wieder ganz und gar der Parteilinie zu folgen, Publikationen den Auflagen der Zensur. Abweichende Meinungen wurden wieder konsequent unterdrückt. Die neue Führung machte auch bald klar, dass sie in diesem Punkt hart bleiben wollte. Sie ließ zwei besonders heftige Kritiker, Jurij Daniel und Andrej Sinjavskij, die es gewagt hatten, ihre Satiren im Ausland zu veröffentlichen, verhaften und im Januar 1966 im ersten Schauprozess der nachstalinistischen Ära vor Gericht stellen. Damit wurde eine neue Front eröffnet, die erst Gorbacev wieder beseitigte: die Auseinandersetzung zwischen den „Dissidenten" ein neuer Begriff, der auf ihre prinzipielle Opposition im Gegensatz zu bloß systemimmanter verwies und dem Regime. Die Opposition im Untergrund fand auch bald ihre Symbolfiguren und Programmschriften. Nicht ohne Anregung aus dem Umfeld des ,Prager Frühlings' .

-

-

Konservative Wende

öffentlichen

Dissidenten

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I.

Darstellung

und des westlichen Reformkommunismus („Eurokommunismus") verfasste Andrej Sacharov 1968 seine Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit. Sie machten den Atomphysiker und ,Vater' der 1953 gezündeten sowjetischen Wasserstoffbombe im In- und Ausland zur führenden Persönlichkeit des moralischen Protests, dessen Autorität und Integrität auch von seinen Kritikern anerkannt wurde. Zu ihm gesellte sich spätestens 1973, als der KGB ein umfangreiches Manuskript über die stalinistischen Lager entdeckte kurz darauf im Ausland als Gulag Archipelago veröffentlicht und den Autor außer Landes bringen ließ, Alexander Solschenizyn. Der berühmte Schriftsteller und baldige Nobelpreisträger folgte zwangsweise vielen anderen, die vor ihm nicht freiwillig, aber ohne massive Gewaltanwendung in den Westen geflüchtet waren. Damit stellte sich eine Erscheinung wieder ein, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden war, in den zwanzigerJahren unter umgekehrten Vorzeichen eine neue Blüte erlebt, sich unter Chruscev aber wieder weitgehend aufgelöst hatte: die politische Emigration. Obwohl andere Dissidenten wie der Historiker Roj Medvedev in der Sowjetunion blieben, gelang es dem Regime durch Verhaftungen und Ausweisungen zwar nicht, Ruhe herzustellen; aber es vermochte den Einfluss des Dissenses im Lande in Grenzen zu halten. Wenn es ein Ereignis gab, das der Bewegung zu neuer Kraft verhalf, dann war es die Unterzeichnung des sog. ,Korb drei' der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die im Sommer 1975 in Helsinki stattfand. Um die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen zu erreichen, ließ sich Breznev auf die Verpflichtung ein, die Menschenrechte zu achten und die kulturelle Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten zu fördern. Es dauerte kein Jahr, bis eine Gruppe zur Förderung der Durchführung der Abmachungen von Helsinki in der UdSSR an die Öffentlichkeit trat. Unter Anknüpfung an eine Vorläuferin von 1969, aber nunmehr auf eine international verbindliche Unterschrift der Sowjetregierung gestützt, machte sie es sich besonders zur Aufgabe, Verstöße gegen die Menschenrechte anzuprangern. Diese und andere Dissidentenzirkel, vor allem kirchliche, haben die Sowjetunion sicher nicht ernsthaft erschüttert. Anders als verwandte polnische Gruppen haben sie keinen Massenanhang (wie die Solidarnos'c) mobilisieren können. Die sowjetische Dissidentenbewegung blieb auf die Intelligenz beschränkt und innenpolitisch ohne nennenswerte Durchschlagskraft. Dies zeigte sich unter anderem an ihrer Wehrlosigkeit, als Breznev nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 beschloss, an der inneren Front härter durchzugreifen, und Sacharov nach Gor'kij (Niznij Novgorod) verbannte. Umso größer waren ihre moralische Bedeutung und ihr internationales Echo. .Selbstverlag' (samizdat) und ,Dortverlag' (tamizdat) sorgten dafür, dass ihre Stimme im Land als moralisch-politische Alternative präsent war, während die Öffentlichkeit außerhalb des .Ostblocks' auf die Politik der westlichen Staaten, vor allem der USA, einzuwirken vermochte. Wenngleich auch diese Wirkungen -

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KSZE-Schlussakte

F. Zwischen

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des Dissenses die Krise der Sowjetunion gewiss nicht herbeigeführt haben, sind sie aus der Vielzahl der Ursachen nicht wegzudenken. Der Lebendigkeit der Kritik entsprach die neue Grabesstille der Ideologie und Wirkungsverlust der des offiziösen Geisteslebens. Getreu der Maxime, über Reformen, wenn über- ProPaganda haupt, nur noch im engsten Kreis nachzudenken, demonstrierte das Regime in der Öffentlichkeit jene ,lackierte' Harmonie, die nicht nur unglaubwürdig war, sondern die Wirklichkeit auch nicht mehr erreichte. Was laut gesagt werden konnte, geriet pauschal in Verdacht, falsch und gelenkt zu sein. So wie die Staatslenker nicht bedachten, dass auch die gute Ordnung kontraproduktiv werden könnte, übersahen sie den Verlust der Bindekraft ihrer Propaganda. Dieser Effekt war letztlich verheerender als die ,aktive' Überzeugungsfähigkeit der ,Gegengesellschaft'. Der Dissens erreichte nur eine Minderheit, die Abstumpfung gegenüber offiziellen Verlautbarungen war allgemein. Deshalb signalisierte der neue Personenkult, der in den letzten Jahren der Breznev-Ära zu beobachten war, auch keine Stärkung des Regimes, sondern eher das Gegenteil. Als der Generalsekretär im Juni 1977 auch noch Vorsitzender des Obersten Sowjets (und damit Staatspräsident') wurde und man ihn mit Orden ebenso überschüttete wie mit Lobeshymnen auf Leistungen, die er nicht erbracht hatte (etwa als Schriftsteller) da gewann kaum zufällig jene innere Auszehrung an Sichtbarkeit, die bei Breznevs Tod am 10. November 1982 jedermann zu dem Gedanken veranlasste, dass nicht nur ein Parteiführer verstorben, sondern eine ganze Epoche untergegangen sei. -

4. AUSSENPOLITIK

ZWISCHEN

„FRIEDLICHER KOEXISTENZ"

UND

INTERVENTION

So wie die Sowjetunion der Nach-Stalin-Zeit in der Herrschaftsstruktur und inneren Politik eine eigene Signatur hatte, so galt dies auch für ihre äußere Politik. In beiden Bereichen bedeutete „nach-Stalin" auch „nach-stalinistisch". Offen bleibt aber, wie der veränderte Umgang mit anderen Staaten positiv zu charakterisieren ist. Eine durchgängige Linie ist nicht zu erkennen und angesichts eines Zeitraums von drei Jahrzehnten auch kaum zu erwarten. Stattdessen wechselten Härte und Kompromissbereitschaft einander ab oder wurden je nach Gegenstand parallel verfolgt. Dennoch lassen sich zwei zunehmend beachtete Grundsätze ausmachen, die der sowjetischen Außenpolitik im Zeitalter sozusagen des .Kalten Stellungskriegs' ein eigenes Gepräge gaben. Zum einen machte die neue Supermacht (die 1953 auch eine Wasserstoffbombe zündete) nicht nur 1956 in Polen und Ungarn deutlich, dass sie kein Aufbegehren duldete, sondern auch noch 1968 in der Tschechoslowakei und mit anderen Zielen 1979 in Afghanistan. Durchgehend verlieh sie dem mit militärischen Machtmitteln Nachdruck, was nach der Niederschlagung des ,Prager Frühlings' als BreznevDoktrin bezeichnet wurde: der Sicherung sowjetischer Hegemonie in dem

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I.

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Machtbereich, den sie in der Nachkriegszeit erworben hatte und den der Westen

faktisch anerkannte. Auf der anderen Seite bemühte sich die Sowjetunion in wachsendem Maße um ein Arrangement mit der westlichen Welt. Diese Politik der „friedlichen Koexistenz" begann unter Chruscev und erlebte in den siebziger Jahren ihren Höhepunkt. In mancher Hinsicht kamen beide Leitmotive in einem Schlüsselereignis der gesamten Breznev-Ära zusammen: in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975. Durch die Schlussakte von Helsinki glaubte die Sowjetunion, endlich die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung ihres territorialen Kriegsgewinns erreicht zu haben. Jetzt erst war aus ihrer Sicht die Teilung Europas besiegelt und ihr Machtbereich konsolidiert, Es ist sicher angebracht, die Aufstände in Polen und Ungarn im Zusammenhang in Polen Ungarn mir. dem Anlauf zur Überwindung des stalinistischen Erbes zu sehen. Ende Mai 1955 war Chruscev nach Belgrad gereist, um den Bruch mit Josip Tito zu heilen. Im Februar 1956 hielt er seine berühmte Geheimrede. Solche Signale weckten auch außerhalb der Sowjetunion Erwartungen. Zwar wagten sich nirgendwo offene Gegner oder alte Feinde der regierenden Kommunisten aus der Deckung. Aber innerhalb des herrschenden Lagers fühlten sich diejenigen Kräfte ermuntert, die nationalen Belangen größeres Gewicht beimaßen oder Kritikern offener begegneten oder beides miteinander zu verbinden suchten. So war in Warschau nach dem unerwarteten Tod von Boleslaw Bierut ein Nachfolger ernannt worden, dem es aber nicht trotz, sondern aufgrund der Unterstützung aus Moskau an Popularität fehlte. Unter der zusätzlichen Einwirkung einer Versorgungskrise kam es Ende Juni zu landesweiten Streiks und blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Erst als sich Chruscev eines Besseren besann und mit seiner Hilfe im Herbst 1956 der,Nationalkommunist' Wtadyslaw Gomulka inthronisiert wurde, kehrte Ruhe ein. Der neue Mann achtete insoweit auf polnische Traditionen, als er das sowjetische Modell anders als in der DDR nicht vollständig imitierte. Aber von einem eigenen Weg oder nennenswerter Selbstständigkeit konnte unter seiner Regentschaft ebensowenig die Rede sein. In Ungarn keimte unter dem Eindruck der Entstalinisierung auch unabhängig von einem natürlichen Wechsel an der Staatsspitze die Hoffnung auf Liberalisierung auf. Im Oktober führte die Bei-

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setzung von Opfern stalinistischer Säuberungen zu einem Massenaufstand, den nur der Reformkommunist Imre Nagy beenden zu können schien. Als dieser aber, mit sowjetischer Billigung installiert, den Austritt seines Landes aus dem Warschauer Pakt ankündigte, entschloss sich Chruscev zur Intervention. Am 11. November eroberten sowjetische Panzer Budapest (wovon Warschau selbst 1981 verschont blieb, als das Regime dem Druck der Solidarnosc nicht mehr standhielt und den Ausnahmezustand verhängte) und walzten die Unbotmäßigkeit nieder. Mit Janosz Kädär wurde ebenfalls ein Mann eingesetzt, der das Plazet Moskaus besaß. In den Grenzen grundsätzlicher Bündnis- und Systemtreue führte er Ungarn allerdings auf einen Weg, der es zum Synonym für die

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größte Liberalität und Komsumorientierung im ,real existierenden Sozialismus' machte.

Der erste unbemannte Raumflug Anfang Oktober 1957, das Berlin-Ultimatum Demonstration von Herbst 1958, der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 und die Kuba- Großmachtstatus Krise im Herbst des folgenden Jahres hängen nicht nur in der retrospektiven Suche

vom

nach zeitlichen Untergliederungen zusammen.Vielmehr darf man die Ereignisse zum einen als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins werten. Es passte zum hohen Lied auf die Überlegenheit des Sozialismus, dass Chruscev nach deren vermeintlicher Dokumentation durch den Griff nach dem Mond auch außenpolitische Stärke zu zeigen versuchte und an der schwächsten Stelle des Westens in die „Offensive" (M. Görtemaker) ging. Seine Drohung vom 10. November 1958, die Kontrollrechte an die DDR zu übergeben, wenn keine Verhandlungen über eine Änderung des Viermächtestatus Berlins aufgenommen würden, verpuffte jedoch folgenlos. Umso eher scheint die Neigung gewachsen zu sein, in der eigenen Einflusszone Entschlossenheit zu demonstrieren und dem Drängen der DDR auf Abriegelung ihrer Grenzen nachzugeben. Klarer als bisher liegt inzwischen zutage, dass der entscheidende Beschluss zum Bau der Berliner Mauer im Moskauer Politbüro getroffen wurde. Indes erscheint es ebenso plausibel, auch das größte Fiasko der sowjetischen Niederlage in der Außenpolitik mit dem neuen Selbstvertrauen in Zusammenhang zu bringen. Kuba-Krise Offenbar bestärkten der tiefe Eindruck, den der Sputnik bei Freund und Feind hinterließ, und die Hinnahme des Mauerbaus durch die Westmächte Chruscev in dem Wagnis, mehr Muskeln zu zeigen, als er hatte. Jedenfalls hörte er auf jene schlechten Berater, die ihm in vollem Bewusstsein der militärischen Unterlegenheit zuredeten, auf Kuba Raketen aufzustellen und die Vereinigten Staaten vor ihrer Haustür zu bedrohen. Wie bekannt, beschloss der Kongress in Washington am 22. Oktober 1962 eine Seeblockade, der sich die sowjetischen ,Handelsschiffe' fügten. Im Zenit ihres internationalen Prestiges musste die Sowjetunion zurückweichen. Dies trug nicht nur zum Niedergang Chruscevs bei, sondern zwang auch zu neuem Nachdenken über die Außenpolitik. Dabei dürften vor allem zwei Ereignisse großen Einfluss sowohl auf das sowjetische als auch auf das amerikanische Verhalten ausgeübt haben. Die Vereinigten Staaten verstrickten sich seit 1964 immer tiefer in den Vietnamkrieg, aus dem sie erst nach elf Jahren und einer faktischen Kapitulation herausfanden. Etwa zur selben Zeit sah sich die Sowjetunion in Gestalt der Volksrepublik China mit dem ersten großen Rivalen im eigenen Lager konfrontiert, der nicht nur ihren ideologischen Monopolanspruch bestritt, sondern ihr in der ,Dritten Welt' auch militärisch Konkurrenz machte. Der Konflikt spitzte sich im selben Jahr am Grenzfluss Ussuri zu einer ,realen' bewaffneten Auseinandersetzung zu, als in den Vereinigten Staaten der Widerstand gegen den Vietnamkrieg einen ersten Höhepunkt erreichte. Man wird diese Parallelität nicht aus dem Auge verlieren w/est(jeutsche £nt dürfen, wenn man die Entspannungspolitik verstehen will, die 1969 mit der neuen spanmmgspolitik

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I.

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Ostpolitik des deutschen Kanzlers Willi Brandt und seines sozialliberalen Kabibegann. Dies war auch das Jahr, das der abermaligen militärischen Intervention der Sowjetunion in die innere Politik eines Satellitenstaates folgte. Nach der Beendigung des ,Prager Frühlings' und der Ersetzung von Alexander Dubcek netts

durch den getreuen Gustav Husäk war einerseits das Prestige der Sowjetunion auf ein Mindestmaß gesunken, andererseits hatte sie die Hände frei, um die Reparatur des Schadens in Angriff nehmen zu können. Für die Sowjetunion lag es daher aus verschiedenen Gründen nahe, auf das deutsche Verhandlungsangebot einzugehen. Hauptsächlicher Streitpunkt der Vereinbarung waren erwartungsgemäß die Grenzfrage sowie der Status Berlins. Dank des guten Willens auf beiden Seiten wurde ein Kompromiss gefunden, der die Sowjetunion vor Helsinki so nahe wie nie zuvor an eine endgültige Fixierung der wichtigsten, der deutsch-deutschen Nachkriegsgrenze brachte, andererseits eine Veränderung im Zuge einer deutschen Wiedervereinigung juristisch nicht ausschloss. Mit diesem Kerninhalt wurde am 12. August 1970 der Moskauer Vertrag über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen geschlossen. Ihm folgten ähnliche Abkommen mit Polen (7. Dezember 1970), der DDR (21. Dezember 1972) und der CSSR (11. Dezember 1973). Parallel handelten die Siegermächte eine Vereinbarung über den Status Berlins aus. Diese konnte bei bleibendem Interpretationsspielraum über „Bindungen" oder „Verbindungen" (russ. svjazi) zwischen Berlin und der Bundesrepublik gleichsam als Fundament der anderen Verträge am 3. September 1971 ebenfalls unterzeichnet werden. Der politischen Entspannung folgte die militärische. Knapp zehn Jahre nach der gefährlichsten Konfrontation des Kalten Krieges vor Kuba nahmen die SuperAbrüstungs- mächte Gespräche über die Verringerung der Anzahl ihrer Interkontiverhandlungen nentalraketen und der atomaren Sprengköpfe (SALT) sowie über eine analoge Reduktion der Zahl der Abwehrraketen (ABM) auf. Zur Unterzeichnung reiste der amerikanische Präsident Richard M. Nixon (seit 1969) Ende Mai 1972 höchstpersönlich nach Moskau. Auch wenn das verbleibende Nuklearpotenzial immer noch ausreichte, um die Welt mehrfach zu vernichten, markierte das Abkommen den Höhepunkt der gegenseitigen Verständigung. Im gleichen Geist verlief ein Jahr später der Gegenbesuch Breznevs in Washington. Und auch die Helsinki-Konferenz, durch die deutsche Ostpolitik und die übrigen Verträge vorbereitet und ,unterfüttert', sollte man in diesem Zusammenhang sehen. Aus ihrer Sicht erhielt die Sowjetunion durch die Schlussakte vom 1. August 1975 ungefähr das, was sie sich von einer Friedenskonferenz für ganz Europa versprochen hatte. der Grenzen Allerdings war der Vorrat an gemeinsamen Wünschen und umstandsloser Verhandzumindest auf Seiten der Supermächte damit auch lungsbereitschaft KompromissbereitschaftSchon die weitgehend erschöpft. Bedingung, die der amerikanische Kongress 1974 an die Zustimmung zur weiteren Meistbegünstigung für die Sowjetunion knüpfte (freie Ausreise für Juden), zeigte einen atmosphärischen Wandel an. -

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beschleunigte sich, als der neue, seit 1977 amtierende amerikanische Präsident Jimmy Carter die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu einem seiner Hauptanliegen erhob. In diesem Klima hatte die Ende 1974 vereinbarte Fortsetzung der Abrüstungsgespräche wenig Chancen. Zwar wurde SALT II fünf Jahre später noch unterzeichnet. Aber die Ratifizierung blieb aus. Genau besehen fiel sie nicht nur dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan Ende Dezember 1979 zum Opfer, sondern dem Ende der Entspannung, das faktisch schon eingetreten war. Als Breznev drei Jahre später starb, betrachtete die westliche Führungsmacht die Sowjetunion wieder in den Worten ihres Präsidenten Ronald Reagan als „Reich des Bösen". Zwar bemühten sich die westeuropäischen Staaten gemäß dem NATO-Doppelbeschluss zur Nachrüstung und fortgesetzter Abrüstungsbereitschaft vom Dezember 1979 mit moderaten Tönen darum, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Aber auch ihr Verhältnis zur Sowjetunion kühlte merklich ab.

Dieser

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G. „UMBAU" UND UNTERGANG (1982-1991) Nachfolger Breznevs In der Tat war der Einschnitt tief, aber das Neue zeigte sich nicht sofort. Vielmehr gab es eine Übergangszeit, die man im Rückblick bis zur Wahl Gorbacevs drei Jahre später datieren kann. Genau besehen, war sie gerade aufgrund des Charakters der Breznev-Ära zu erwarten. Da an deren Ende zwar verhaltener Unmut herrschte, außerhalb der Dissidentenbewegung jedoch keine Opposition sichtbar wurde, lag die Entscheidung über den Nachfolger beim Politbüro. Dessen Mitglieder waren nicht nur betagt, sondern sämtlich auch Zöglinge Breznevs. Sie taten, was unvermeidlich schien: jemanden zu bestellen, der offenkundige Missstände zu beseitigen versprach. Zugleich achteten sie aber darauf, dass der neue Besen nicht allzu gründlich kehrte und der grundsätzliche Fortbestand der alten Ordnung nicht in Zweifel gezogen wurde. Ein solcher Mann war der Geheimdienstchef Jurij Andropov, der bereits zwei Jurij Andropov Tage nach Breznevs Tod gewählt wurde. Man darf vermuten, dass an erster Stelle seine Hausmacht für ihn sprach. Denn der KGB wurde aus einem doppelten Grunde gebraucht: zum einen, um die weithin berüchtigte Vetternwirtschaft zu beseitigen, die das ohnehin vorhandene Leistungsdefizit des Systems noch vergrößerte; zum anderen, um die gegebene Ordnung bei Reformen gegen jede Art von Destabilisierung abzusichern. Hinzu kam, dass Andropov dem Politbüro lang genug angehört hatte und als einer der wenigen, die dieses Erfordernis erfüllten, nicht vom Generalsekretär abhängig war. Ihm stand der eiserne Besen zu Gebote, der nötig war, um das eigene Haus auch gegen einflussreiche .Seilschaften' auszukehren. Alles spricht dafür, dass Andropov diese Aufgabe sofort in Angriff nahm. Zum Teil wurden drakonische Strafen einschließlich der Hinrichtung verhängt. Zugleich besann sich die Parteiführung darauf, ein Repräsentativgremium zu sein, und beschloss einen Hauch von Transparenz: Fortan wurde die Tagesordnung der Politbürositzungen veröffentlicht. Freilich, alle diese Maßnahmen hatten kaum Zeit zu wirken. Der alternde Sowjetsozialismus wurde zum Opfer seiner eigenen Struktur. Andropov war schon als kranker Mann und mit 68 Jahren bei Amtsantritt als ältester Generalsekretär der Sowjetgeschichte gewählt worden. Im November 1983 wurde er ins Krankenhaus eingeliefert; er starb am 9. Februar 1984, ohne es noch einmal verlassen zu haben. Weniger ist über seinen Nachfolger zu berichten. Er war in viel höherem Maße ein Kompromisskandidat im negativen Sinn. Womöglich hatte Andropovs Kampagne aber auch schon einige Parteioberen das Fürchten gelehrt. In jedem Fall Konstantin erkoren sie mit Konstantin Cernenko nicht nur einen (mit 72 Jahren) noch Cernenko betagteren Generalsekretär, sondern auch den treuesten Paladin seines Vorvorgängers. Allerdings nutzte dieser Versuch, das Rad der Entwicklung zurück-

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G. Umbau" und „

Untergang (1982-1991)

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zudrehen, wenig. Zum einen war auch Cernenko gesundheitlich so angegriffen,

dass er schon am Ende seines ersten Amtsjahres, am 10. März 1985, das Zeitliche segnete. Zum anderen waren die Anhänger Andropovs stark genug gewesen, dem offensichtlichen Ubergangskandidaten einen Stellvertreter aus ihren Reihen an die Seite zu stellen. Dank seiner überlegenen Intelligenz und seinem taktischen Geschick darf man davon ausgehen, dass dieser Mann faktisch bereits die Fäden zog: Michail Gorbacev. Im Nachhinein drängt sich die Frage nachgerade auf, wie ein Mann zum Generalsekretär der KPdSU und wohl mächtigsten weil durch keine Instanz tatsächlich kontrollierten Mann der Welt gewählt werden konnte, der dann zum Totengräber seines Staates wurde. Die Antwort, soweit sie denn überhaupt gegeben werden kann, ist sowohl in der Person als auch in den viel zitierten Umständen zu suchen. Für den Politiker Gorbacev sprachen seine Fähigkeiten und seine relative Jugend (geb. 1931). Der neue Generalsekretär hatte eine steile Karriere hinter sich, die ihn, den Bauernsohn aus der Region Stavropol', über das Jura-Studium in Moskau, die Leitung des Komsomol in seiner Heimat, den Parteivorsitz ebenda 1979 zum ZK-Sekretär für Landwirtschaft und Kandidaten sowie 1980 zum Vollmitglied des Politbüro befördert hatte. An der Spitze der sowjetischen Machtpyramide angekommen, war Gorbacev noch keine fünfzig Jahre alt. Sicher wäre dieser ungewöhnliche Aufstieg ohne Protektion kaum möglich gewesen. Aber das wichtigste Pfund, mit dem er wuchern konnte, war doch seine ungewöhnliche Begabung in Wort und Tat, die er mit Ausstrahlung und Überzeugungskraft zu verbinden wusste. Nach Andropovs Tod konnte die Mehrheit der alten Herren im Politbüro noch auf die mangelnde Erfahrung des zweifellos schon sichtbaren Aspiranten verweisen, um noch einmal in den Schutz des alten Schlendrian zurückzukehren; nach dem frühen Tod auch Gernenkos nicht mehr. Denn diese Wiederholung einer allzu kurzen Amtszeit machte die Einsicht unabweisbar, dass sich die Ressourcen des alten Regimes erschöpft hatten. Weder war eine grundlegende Erneuerung des Staates länger aufzuschieben noch die Übergabe der Macht an die nächste Generation die erste, die nach dem Krieg oder sogar nach Stalins Tod politisch herangewachsen war. Gorbacev repräsentierte diese neue Sozialisations- und Alterskohorte, seine Wahl am 11. März 1985 den Stafettenwechsel, der sich auf regionaler Ebene großenteils schon vollzogen hatte. Allerdings rechnete keiner seiner Wähler mit der Radikalisierung der Reformen und den Turbulenzen, die sie nach und nach auslösten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wusste auch der neue Generalsekretär noch nicht, wohin er wollte. Seine Maßnahmen reagierten auf die politische Gesamtlage und nahmen eine Wendung, die man retrospektiv als Demokratisierung kennzeichnen kann. Dabei ragen einige markante Ereignisse heraus, die das, was völlig unerwartet zur Agonie des sozialistischen Mutterlandes und seiner Satellitenstaaaten wurde, in vier Etappen gliedern: vom März 1985 bis Ende 1986, von Ende 1986 bis Mitte 1988, von Mitte -

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Michail Gorbacev

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Ökonomische Reform

Notwendigkeit qualitativer Reformen

I.

Darstellung

1988 bis Mitte 1990 und von dort bis zum faktischen Ende der Sowjetunion, dem Putsch vom August 1991. Gorbacev begann kaum anders als zwanzig Jahre zuvor Kosygin und Breznev mit einer ökonomischen Reform. Wie sein Ziehvater Andropov wollte er die maroa