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German Pages [237] Year 2009
Table of contents :
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Table of Contents
Vorwort
Das Unsichtbare dieser Welt oder: Was sich dem Blick entzieht
I. DIE PHÄNOMENOLOGISCHE REDUKTION UND DER ENTZUG DES PHÄNOMENS
Epoché, flimmern und Reduktion in der Phänomenologie
Die Reduktion und das Unsichtbare
Phänomenologische und mundane Reduktion
Sind die nicht-konsituierbaren Phänomene nicht angesichtig?
ll. INTERPRETATIVE ERFAHRUNG UND DIE KATEGORIEN DES SPRACHLICHEN AUSDRUCKS
Phantasmatische Selbstaffektion als Funktion der Einbildungskraft
Husserls Lehre von den kategorialen Anschauungen
Selbstbewusstsein, Selbsttäuschung und Ausdruck
III. DIE UNSICHTBARKEIT DER ZEIT UND DAS PHÄNOMEN DER GESCHICHTE
Die Unsichtbarkeit der Zeit und die phänomenologische Methode
Methode und Metapher. Zeitanalyse bei Husserl und Merleau-Ponty
IV. DIE SICHTBARKEIT DES UNSICHTBAREN IN DER KUNST
Generativität des Sichtbaren. Phänomenologie und Kunst
Das Spiel des Sichtbaren und des Unsichtbaren im Kunstwerk
Platos Kline. Zur Urstiftung eines Kulturmodells
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren
Liste der besprochenen Werke
Bemet, Kapust (Hrsg.) . Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren
Rudolf Bemet . Antje Kapust (Hrsg.)
Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Reinle-Suter, Luzern
Abbildungsnachweis: Nicolas Poussin, Landschaft mit der Asche des Phokion (1648)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. © 2009 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4455-4
INHALTSVERZEICHNIS
Rudolf Bemet Vorwort .......................................................................................................
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Bemhard Waidenfeis Das Unsichtbare dieser Welt oder: Was sich dem Blick entzieht................
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I. DIE PHÄNOMENOLOGISCHE REDUKTION UND DER ENTZUG DES PHÄNOMENS
Mare Riehir Epoche, flimmern und Reduktion in der Phänomenologie ....................... 29 Dan Zahavi Die Reduktion und das Unsichtbare .. ....................... ............. ......................
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Sebastian Luft Phänomenologische und mundane Reduktion.............................................
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Jean-Lue Marion Sind die nicht-konsituierbaren Phänomene nicht angesichtig? ...................
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ll. INTERPRETATIVE ERFAHRUNG UND DIE KATEGORIEN DES SPRACHLICHEN AUSDRUCKS
Dieter Lohmar Phantasmatische Selbstaffektion als Funktion der Einbildungskraft...........
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Lasz16 Tengeiyi Husserls Lehre von den kategorialen Anschauungen ..... ............................. 107
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INHALTSVERZEICHNIS
Peter Poellner Selbstbewusstsein, Selbsttäuschung und Ausdruck..................................... 115
Irr. DIE UNSICHTBARKEIT DER ZEIT UND DAS PHÄNOMEN DER GESCHICHTE
Dominique lanicaud Die Unsichtbarkeit der Zeit und die phänomenologische Methode ............ 133 KarZ Mertens Methode und Metapher. Zeitanalyse bei Husserl und Merleau-Ponty ........ 149
N. DIE SICHTBARKEIT DES UNSICHTBAREN IN DER KUNST Georg Stenger Generativität des Sichtbaren. Phänomenologie und Kunst.......................... 169 lohn B. Brough Das Spiel des Sichtbaren und des Unsichtbaren im Kunstwerk .................. 191 Antje Kapust Platos Kline. Zur Urstiftung eines Kulturmodells ....................................... 213 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren......... ...... ...... ............................. 229 Liste der besprochenen Werke .................................................................... 235
RUDOLF BERNET
DIE SICHTBARKEIT DES UNSICHTBAREN Mit dem nur scheinbar verspielten oder paradoxen Titel dieses Sammelbandes wird ein Thema angesprochen, das in Wirklichkeit die phänomenologische Philosophie seit Husserls Logischen Untersuchungen und bis zum heutigen Tag ununterbrochen beschäftigt hat. Die Erweiterung der Phänomenologie über die Deskription des sinnlich Wahrnehmbaren hinaus gehörte schon immer zum phänomenologischen Programm, und die Bestimmung der Evidenz des unmittelbaren Sehens als Grundmodus des Husserlschen Philosophierens ist kaum mehr als eine üble Nachrede. Von Husserls "kategorialer Anschauung" bis zu Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, von Heideggers Hermeneutik des Daseins bis zur Ethik von Levinas hat sich die Phänomenologie geradezu vorwiegend mit dem Unsichtbaren beschäftigt, das dem augenscheinlichen Sehen verschlossen ist. Anderseits ist aber nicht zu leugnen, dass trotz der fortschreitenden Verlagerung der Forschung über das sinnlich Wahrnehmbare hinaus noch immer jeder echte Phänomenologe vor dem Programm einer Phänomenologie des Unsichtbaren zurückschreckt. Nicht dem Unsichtbaren als solchen gilt nämlich sein Interesse, sondern dessen Weisen der Offenbarung, die zu einer Revision unserer Vorurteile über das Wesen der Sichtbarkeit drängen. Wenn nun aber die Verschränkung des Unsichtbaren mit dem Sichtbaren ein Erfordernis der phänomenologischen Methode darstellt, so stellt sich unmittelbar die Frage, warum diese Methode immer wieder über die Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren hinausführt. Warum erfordert die phänomenologische Reduktion als Rückkehr "zu den Sachen selbst", dass man sich auf unsichtbare "Sachen" einlässt? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil die Sachen, welche die Phänomenologie erforscht, nicht einfach innerweltlich sichtbare und greifbare Tatsachen sind, sondern vielmehr Gegebenheiten, die diese Tatsachen in ihrem je eigenen Sinn überhaupt erst zugänglich machen. Die Phänomenologie interessiert sich so gesehen für ,,Phänomene" im Sinne dessen, die das Erscheinen von innerweltlichen Tatsachen erst ermöglichen. Wenn nun das "Unsichtbare" in diesem Sammelband eigens zum Thema einer neuen und aktuellen Arbeit an den Phänomenen avanciert, so kann damit also nicht bloß dasjenige gemeint sein, was sich der weltlichen Sichtbarkeit entzieht. Denn weltlich unsichtbar ist überhaupt alles, was erst durch die phänomenologische Reduktion zur Sichtbarkeit gelangt. Es gehörte schon immer zum gesicherten Selbstverständnis des Phänomenologen, dass er etwas sichtbar macht, was dem im weltlichen Dahinleben befangenen Menschen zumeist verborgen bleibt. Ein Anlass zu einer Erneuerung der phänomenologischen Forschung und des methodischen Selbstverständnisses ist also erst dann gegeben, wenn
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der Phänomenologe in seiner eigenen Weise des Sehens nochmals auf Unsichtbares stößt. Die Rede von der "Sichtbarkeit des Unsichtbaren" hat also einen doppelten Sinn. Es kann damit erstens jedes Phänomen im Sinne einer phänomenologischen Reduktion gemeint sein, welche das im weltlichen Sinne Unsichtbare als Grund der Möglichkeit weltlicher Sichtbarkeit sichtbar macht. Es kann aber auch zweitens gemeint sein, dass die Phänomenologie in ihrer Weise, den Ursprung weltlicher Sichtbarkeit aufzudecken, an die Grenzen des im phänomenologischen Sinne Sichtbaren rührt. Ersteres bestätigt den Phänomenologen im stolzen Bewusstsein etwas zu sehen, was anderen Menschen unzugänglich bleibt; letzteres hingegen konfrontiert ihn mit der Endlichkeit seines eigenen Sehens. Auch diese Erfahrung der Endlichkeit der phänomenologischen Erfahrung ist noch eine Sache der Verschränkung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren: Nur wer sich unaufhaltsam bemüht, die Möglichkeitsbedingungen des weltlichen Erscheinens zur phänomenologischen Erscheinung zu bringen, stößt nämlich auf ein "Uroriginäres", das sich diesem Erscheinen zumindest teilweise entzieht. Diese paradoxe Erfahrung, die auch Husserl (etwa in seiner Erforschung der Selbstzeitigung des transzendentalen Bewusstseins) nicht erspart blieb, wurde schon früh durch Heidegger und Fink auf den Begriff gebracht. Heidegger spricht bereits in seinen Marburger Vorlesungen davon, dass die phänomenologische Reduktion nur im Verein mit einer Konstruktion und einer Destruktion auftritt, und auch seine spätere Rede von einer "Phänomenologie des Unscheinbaren" verweist nachdrücklich auf den Entzug als einer wesentlichen Bestimmung des phänomenologisch verstandenen Phänomens. In gedanklicher Übereinstimmung mit Heidegger hatte Fink bereits anfangs der fünfziger Jahre gesagt, dass das Erscheinen des Seienden nicht etwas sei, das selbst erscheine. Es gibt nun aber gute Gründe für die Annahme, dass diese beiden so wesensverschiedenen Arten der Unsichtbarkeit untergründig doch irgendwie miteinander verknüpft sein müssen. Denn das weltlich Unsichtbare, das der Phänomenologe in seiner eigenen Weise des Sehens sichtbar zu machen versucht, ist schließlich doch nichts anderes als der Wesensgrund weltlicher Sichtbarkeit. Wenn es also etwas gibt, das sich selbst dem phänomenologischen Sehen entzieht, so entzieht es sich a fortiori der weltlichen Sichtbarkeit. Aber man kann auch umgekehrt davon ausgehen, dass Gegebenheiten innerweltlicher Verdeckung und Verschattung das phänomenologische Sehen ebenfalls berühren und kritisch auf die Probe stellen. Schließlich ist die phänomenologische Reduktion für Husserl ja eine Einstellungsänderung, in der nicht ganz andere Sachen zur Erscheinung gelangen, sondern weltliche Sachen ganz anders erscheinen. Die Untersuchung des im phänomenologischen Sinne Unsichtbaren kann somit auf den ,,Leitfaden" des im weltlichen Sinne Unsichtbaren nicht verzichten. Die verschiedenen Bereiche des phänomenologisch Unsichtbaren, die in der vorliegenden Sammlung angesprochen werden, gelten denn auch schon dem Selbstverständnis des innerweltlichen Lebens als Erfahrungen, die
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sich dem gewöhnlichen Sehen verweigern. Sprache, Zeit und Geschichte, Kunst und Religion werden auch in der natürlichen Einstellung bereits mit der rätselhaften Vorstellung eines Unsichtbaren verknüpft. Die Arbeit an den Phänomenen des phänomenologisch Unsichtbaren darf sich somit der Phänomene weltlicher Unsichtbarkeit nicht bloß als ein bequemer Einstieg in ihr eigenes Forschungsgebiet bedienen. Das Schlimmste, was einer Phänomenologie des Unsichtbaren passieren könnte, wäre nämlich, dass sie ein Konzept des im phänomenologischen Sinne Unsichtbaren präpariert, das den Phänomenologen für die Verwunderung über die Geheimnisse weltlicher Unsichtbarkeit und für die damit verbundene denkerische Herausforderung immun macht. Es ist im Gegenteil zu hoffen, dass die konkrete Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen weltlicher Unsichtbarkeit den Phänomenologen dazu treibt, seine eigene Art des Sehens in Frage zu stellen. Es könnte sich dabei erweisen, dass (ganz entgegen unseren anfänglichen Voraussetzungen) nicht die Unsichtbarkeit dem Phänomenologen die größte Mühe macht, sondern vielmehr die Sichtbarkeit. Es ist nämlich bereits dem natürlich lebenden Menschen geläufig, dass es verschiedene Arten des Sehens gibt und dass die meisten unter ihnen die Begegnung mit dem Unsichtbaren keineswegs ausschließen. Wir sehen meist nur, was wir bereits verstehen und da, wo wir (wie etwa in der Erfahrung mit der Kunst) Unverständliches sehen, sehen wir plötzlich ganz anders. Falls es überhaupt zulässig ist, die durch die Reduktion erlangte phänomenologische Einstellung weiterhin als die Erfahrung von etwas Sichtbarem zu bezeichnen, so stellt sich sofort die Frage nach der Art des darin implizierten Sehens. Es wäre nun doch wirklich zu beschämend, wenn der Phänomenologe den vielfältigen Formen des weltlichen Sehens nur eine einzige und dabei besonders einfältige Art des Sehens gegenüberzustellen hätte, eines Sehens nämlich, in dem ein Subjekt ein fertiges Objekt vor sich hat und wahrnimmt. Mit einer Differenzierung verschiedener Arten des phänomenologischen Sehens und ihrer noch feineren Zergliederung sowie mit einer nachdrücklicheren Bestimmung des in diesen Erfahrungen implizierten Subjekts hat es jedoch nicht sein Bewenden. Die Frage nach den Formen von Evidenz treibt notgedrungen über die Untersuchung des vielgestaltigen Wahrnehmens hinaus. Zur Diskussion steht dabei nicht bloß die problematische Angleichung des phänomenologischen Sehens an die sogenannte "innere" Wahrnehmung, sondern überhaupt die Einordnung einer Gegebenheit bzw. eines "Phänomens" in den Bereich der subjektiven Aktivität des Sehens. Vieles von dem, was weltlich unsichtbar ist, wird auch in einer phänomenologischen Gegebenheit deshalb nicht sichtbar, weil es jeglichem Sehen fremd ist. Man nennt derartiges oft ein "Ereignis". Das Thema "Die Offenbarung des Göttlichen", dem auch Beiträge dieses Buches nachgehen, umschreibt ein solches Ereignis. Aber auch in der Geschichte geht es um Ereignisse, die den Menschen geschehen und deren Sinn nicht sichtbar gemacht werden kann. Ähnliches gilt auch für die anderen
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Themenbereiche dieses Sammelbandes, nämlich für die Sprache, die Zeit und die Kunst. Die Phänomenologie kann zwar nicht darauf verzichten, die Möglichkeit der mit diesen verschiedenen Erfahrungsbereichen verknüpften Ereignisse zu befragen. Aber sie wird sich darauf besinnen müssen, ob diese Möglichkeit unabhängig von dem ausdrücklichen Bezug auf ein faktisches Geschehen verständlich gemacht werden kann, sowie insbesondere auch darauf, wie die Gegebenheit der Möglichkeit von Ereignissen näher zu bestimmen ist. Man mag sich darüber streiten, ob das Paradigma der Gabe diese Gegebenheit besser zu bestimmen vermag als etwa das Paradigma des Traumas. Sicher ist jedenfalls, dass das Subjekt, dem ein Ereignis widerfährt, sich nicht zum Herrscher über diese Gegebenheit aufwerfen kann. Das Ereignis, das in einer auf das Wesen des Ereignisses einspielenden Form der phänomenologischen Reduktion zur Gegebenheit gelangt, betrifft auch den Phänomenologen selbst noch gerade dadurch, dass es sein Vorstellungs- und Sehvermögen übertrifft. Ob dieser Phänomenologe, der dergestalt durch die Offenbarung der das weltliche Leben bestimmenden Möglichkeiten und Unmöglichkeiten getroffen wird, sich jemals wieder auf den sicheren Lehrstuhl des "unbeteiligten Zuschauers" zurückfindet, scheint dann allerdings mehr als fragwürdig.
BERNHARD WALDENFELS
DAS UNSICHTBARE DIESER WELT ODER: WAS SICH DEM BLICK ENTZIEHT "Wie seltsam, dass wir sehen müssen, um das wahrzunehmen, was wir nicht sehen können." Hannah Arendt an Martin Heidegger
Kein Zweifel, das Sehen des Auges, das in der griechischen Tradition als der vornehmste Sinn gilt und das mit Augenlicht, Augenschein oder Augenblick einen Kometenschweif visueller Motive nach sich zieht, dieses Sehen ist in Verruf geraten oder hat zumindest an Glanz eingebüßt. l Gegeninstanzen melden ihr Recht an. An erster Stelle ist die Sprache zu nennen; unter dem Druck einer Phalanx aus Hermeneutik, analytischer Philosophie und Sprachpragmatik droht das Sagen dem Sehen, das Prädikat dem Perzept den Rang abzulaufen. Andere neigen dazu, eine reine Selbstaffektion des Leibes, ein inneres Spüren gegen die Ekstatik der Sinne auszuspielen. Technische Konstrukteure behandeln Gesehenes als Konstrukt und rücken das Auge in eine Reihe mit der Camera obscura, dem Teleskop, dem Stereoskop oder dem Videogeräe Schließlich schwelt im Hintergrund der Brand einer langanhaltenden Metaphysikkritik, die sich gegen einen Dualismus von sichtbarer und unsichtbarer Welt richtet und den Überblick des Weltenbeschauers, des Kosmotheoros, als Anmaßung entlarvt. Manchmal sieht es so aus, als hätten wir mit der unsichtbaren auch die sichtbare Welt abgeschafft. Doch es fehlt nicht an Gegenstimmen, die ftir eine Aufwertung der Sinne plädieren, sei es dass die Aisthesis innerhalb des Ethos, die Macht der Bilder, die Geschichte des Blicks oder die historische Augenzeugenschaft ins Feld geftihrt wird. Eine Verwindung der Metaphysik wird mit dem Sehen nicht so schnell fertig, wie die Anwälte eines nachmetaphysischen Denkens uns glauben machen möchten. Doch das Für und Wider, das hierbei laut wird, bedeutet ftir die Phänomenologie, die sich (wie einst schon Goethe) in besonderem Maße dem Sehen verschrieben hat, dass eine Reihe von Herausforderungen auf sie zukommt. Das rapprendre a voir, das Camus als Parole ausgegeben und Merleau-Ponty aufgegriffen hae, ist keineswegs gegenstandslos geworden, sondern nur umwegiger, indirekter. Dies zeigt sich, wenn wir uns in das Sehen versenken, 2
Jay, Martin, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in the Twentieth-Century French Thought, Berkeyleyt Los Angelest London 19?4. Crary, Jonathan, Techniken des Betrachtens. Uber Sehen und Modernität im 19. Jahrhundert, Dresden! Basel 1996. Vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 18 (frz. Paris 1945, S. XVI), ähnlich: Das Sichtbare und OOS Unsichtbare, München 1986, S. 18 (frz. Paris 1964, S. 18, im Folgenden zitiert als VI für die französische Ausgabe, SV für die deutsche Ausgabe).
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statt es gegen anderes einzutauschen. Die Sichtbarkeit der Welt und die Weltoffenheit des Blicks, die Husserl dem neuzeitlichen, szientistisch gefärbten Angriff auf die leibhaftige sinnliche Erfahrung, aber auch den Verteidigern einer pietistisch getönten Innerlichkeit abgerungen hat, bleibt eine Errungenschaft. Es hätte eine gewisse Komik an sich, wenn Phänomenologen sich gerade dies erst von anderen sagen lassen würden. 4
1. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Das alte Begriffspaar der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit eröffnet ein immenses Fragefeld. Eine thematische Ein- und Ausgrenzung ist unabdingbar. Zunächst wäre zu unterscheiden zwischen einem Sehen im engeren und im weiteren Sinne. Sehen im engeren Sinne bedeutet einen spezifischen Sinn, die ö'lln~, die visio, die sich anderen Modalitäten wie dem Hören entgegenstellt und damit wichtige Fragen nach den synästhetischen Zusammenhängen aufwirft. Das Sehen im weiteren Sinne, das in alten Begriffsprägungen wie ,Augen der Seele', ,Augen des Geistes', ,Blick der Aufmerksamkeit' oder in alltäglichen Wortprägungen wie Vorsicht, Umsicht, Rücksicht, Nachsicht oder regard zum Ausdruck kommt, bedeutet sinnliche Eifahrung oder, noch weiter gefasst, anschaulich gegenwärtigende Eifahrung schlechthin. 5 Dass hierbei eine gewisse Anlehnung an das optische Sehen und eine gewisse Präferenz des Auges fortbesteht, wirft besondere Probleme auf, die ich hier nicht erörtern möchte. Die sinnliche Erfahrung bezieht ihr Prestige, das Husserl ihr so eindeutig zuerkennt, aus der Tatsache, dass in der leibhaftigen Gegenwart der Sache selbst, die wir mit eigenen Augen schauen, die Erfahrung ihren Anfang nimmt und ihr Ziel erreicht, selbst wenn Anfang und Ende sich immer wieder dem Rück- und Vorblick entziehen. Was sich von sich selbst her zeigt, lässt sich nur an sich selbst, an seinen eigenen Erfüllungs- und Erfolgsbedingungen messen; jede Anwendung äußerer Maßstäbe würde unweigerlich schon Erfahrung voraussetzen. Dies ist ein Punkt, an dem Husserl sich nicht irre machen lässt. Das Sehen kann man uns in der Tat weder einreden noch ausreden. 4
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Vgl. von Helmut Pape, Die Unsichtbarkeit der Welt. Eine visuelle Kritik neuzeitlicher Ontologie, Frankfurt am Main 1997. Der Autor bemüht sich im Gefolge von Charles S. Peirce um eine visuelle Kritik neuzeitlicher Ontologie, die sich gegen das Unsichtbarmachen der Welt in der neuzeitlichen Philosophie richtet. Vgl. schon von Ludwig Feuerbach: "Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaft ist es, "das den gemeinen Augen Unsichtbare sichtbar, d.i. gegenständlich zu machen." (in: "Grundsätze der Philosophie der Zukunft", in: Werke in sechs Bänden, Bd.. 3, Frankfurt am Main 1975, § 44, S. 308). An diese umfangreiche Bedeutung von Sehen und Sichtbarkeit hält sich auch Proust, wenn er den Musiker als "Erforscher des Unsichtbaren (explorateur de I'invisible)" bezeichnet und ihm die Kraft zuschreibt, etwas, was wir nie gesehen haben, "mit den Mitteln der Musik freizulegen, sichtbar werden zu lassen (rendre visible)" (Marcel Proust, A la recherche du temps perdu (Pleiade), Paris 1954, Bd. 1, S. 351; dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt am Main 1953 - 57, Bd. I, S. 516).
DAS UNSIClITBARE DIESER WELT ODER: WAS SICH DEM BLICK ENTZIEHT
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Fassen wir nun das Sehen im weiteren Sinne als sinnliche Erfahrung, so stellt sich die Frage, auf welche Weise die Disjunktion von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu verstehen ist. 6 Im Anschluss an Merleau-Ponty, dessen großes Nachlaßwerk den Titel Das Sichtbare und das Unsichtbare trägt, können wir einige elementare Unterscheidungen treffen (VI, S. 31Of., SU, S. 323f.). Es gibt zunächst das Unsichtbare innerhalb der Welt, ein faktisch Unsichtbares: un invisible de Jait, so etwa die Rückseite eines Gegenstandes, ein Ding, das sich hinter einem anderen verbirgt, oder vieles, das im Nebel der Unbestimmtheit verharrt. Husserl spricht in solchen Fällen von "Unsichtlichem".7 Davon zu unterscheiden ist ein Unsichtbares außerhalb oder jenseits der Welt, ein absolut Unsichtbares: un invisible absolu, das mit dem Sichtbaren nichts zu tun hätte, griechisch gesprochen wäre es ein !lT]öa!l&~ 6pat6v. Als dritte Möglichkeit bleibt das Unsichtbare dieser Welt: l'invisible de ce monde (VI, S. 198, SU, S. 198). Die Rückbindung an die Diesheit der Welt besagt, dass das Unsichtbare von Fall zu Fall mit dem verbunden bleibt, was sich zeigt, und der Genitiv bezeichnet eine entsprechende Zugehörigkeit zur Welt. Über eines lässt Merleau-Ponty keinen Zweifel: Selbst wenn wir mit einer Unsichtbarkeit im Sinne einer "unwiderruflichen Abwesenheit" zu rechnen haben, ,,müssen wir unseren Blick zuerst auf das richten, was uns augenscheinlich (apparement) gegeben ist" (VI, S. 211, SU, S. 208). Ein solches Hic Rhodus, hic salta ist als phänomenologische Bewährungsprobe unverzichtbar, was immer weiterhin geschieht. Merleau-Ponty bringt das "Unsichtbare dieser Welt" eben dort ins Spiel, wo er den Zusammenhang von Fleisch und Idee erörtert, jenes Band zwischen dem "Sichtbaren und der inneren Armatur, die es enthüllt und verhüllt" (VI, S. 195, SU, S. 195). Diese Konzeption einer leibhaftigen Idealität, die an Husserls "Logos der ästhetischen Welt" gemahnt, erläutert Merleau-Ponty unter Berufung auf Prousts eigenartigen Platonismus. Hierbei wird deutlich, welch reiche Möglichkeiten ein weit gefasstes Sehen und Nichtsehen in sich schließt. Die Fleischwerdung der Ideen betrifft nicht nur die Farben und Formen der Malerei, sondern auch musikalische Motive wie den "kleinen Satz" in Vinteuils Sonate; sie betrifft ferner physische Mächte wie Licht und Ton, das Erwachen der sinnlichen Lust, literarische Figuren wie die Princesse de Cleves und macht selbst vor wissenschaftlichen Entdeckungen eines Ampere und Lavoisier nicht halt. Ideen dieser Art sind Essenzen, die wie ein Aroma mit Sinn6
Eine solche Disjunktion wird nicht nur durch die platonische Zweiteilung in einen 't01tOe; opa'toe; und einen 't61to0'o1]'toe; nahegelegt (vgl. Politeia 508 c), sondern auch durch die paulinische Scheidung zwischen dem Sichtbarem und dem Unsichtbarem: ,,[ ...] was sichtbar (/3AEJt0I1Eva) ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig." (2. Kor. 4, 18). Vgl. dagegen die grundlegenden Überlegungen von Renaud Barbaras: "Le dedoublement de l'originaire", (in: Merleau-Ponty, Notes de cours sur ,,L'origine de la geometrie" de Husserl, suivi de Recherches sur la phenomenologie de Merleau-Ponty, Paris 1998, S. 289ff.). Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, (Hua I), hg. von Stephan Strasser, Den Haag 2. Auf!. 1963, S. 85.
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lichkeit durchtränkt sind. Das Zusammenspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem verweist zudem auf eine Sehgeschichte. Der erste Blick, der erste Kontakt, das Aufflammen der ersten Lust bedeutet keine bloße "Setzung eines inhaltes", vielmehr handelt es sich um eine Initiation (VI, S. 198, SU, S. 198), um die Eröffnung einer Dimension, um eine Stiftung, ein Schlüsselereignis, das uns nicht bloß Anderes in der Welt zu sehen gibt, sondern die Welt, uns selbst und die Anderen anders sehen lässt, in einem anderen Licht und in einer anderen Szenerie. Wenn wir ein derart ,Un-sicht-bares' ins Auge fassen, so stoßen wir auf zwei heikle Punkte. Einmal stellt sich die Frage, wie dieses Un- zu verstehen ist. Orientieren wir uns an der direkten Redeweise, dann sieht es so aus, als hätten wir es mit zwei Klassen von Gegenständen zu tun, mit sichtbaren und mit unsichtbaren, deren Attribute wechselweise einer Position und einer Negation entspringen. Das Suffix -bar legt die zusätzliche Annahme nahe, das Adjektiv ,sichtbar' sei als Dispositionsprädikat zu verstehen, vergleichbar der Löslichkeit eines Stoffes im Wasser. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit stünden sich dann wie Möglichkeit und Unmöglichkeit gegenüber. Doch was bedeutet Unmöglichkeit, wenn es nicht bloß um Möglichkeiten in der Welt und deren logische Negation geht, sondern um Möglichkeiten der Welt selber? Gibt es einen Ermöglichungsgrund und einen Ermöglichungsspielraum, der Sichtbares und Unsichtbares umfasst? Gestehen wir zu, dass die Formen der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit sich nicht auf zwei Welten verteilen, sondern dass diese Disjunktion selbst an diese unsere Welt gebunden ist, so stellt sich die Frage, wie und wo diese Differenz entspringt. Die statische oder gar klassifikatorische Unterscheidung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit geht damit in die genetische Frage nach dem Sichtbar- und Unsichtbarwerden über. Doch bei der Ausarbeitung dieser Frage verwickelt sich die Phänomenologie in eine grundlegende Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit, die auch vor MerleauPontys Formel von der "Unsichtbarkeit dieser Welt" nicht haltrnacht. 2. Welt der begrenzten Sichtbarkeit Sprechen wir als Phänomenologen von einer Welt ,der' Sichtbarkeit, so ist dieser Genitiv nicht distributiv zu verstehen, als gäbe es einen weltlichen Bereich der Sichtbarkeit neben anderen Regionen. Der Genitiv hat vielmehr eine explikative Bedeutung; er besagt: Was zur Welt gehört, ist auf irgendeine Weise sichtbar, es hat Teil an der Sichtbarkeit oder verweist auf sie. Die Sichtbarkeit bildet den Kern dieser Welt, und zwar in dem Sinne, wie Husserl von einem Kern der Gegenwart redet. Wie bei Descartes leuchtet für Husserl
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weiterhin die eine Sonne der Vernunft, und dieses Leuchten bedeutet mehr als eine platonische Reminiszenz. 8 Wenn etwas eine allgemeine Sichtbarkeit garantiert, so ist dies nicht die Anschauung als solche, die Tatsache nämlich, dass etwas (z. B. ein Sinnesdatum) da ist oder nicht da ist, vielmehr beruht die allgemeine Sichtbarkeit darauf, dass etwas als etwas erscheint (gemeint, verstanden wird), also in einem bestimmten Sinn, der das erfahrene Etwas innerlich artikuliert und es auf weitere Sinnhorizonte bezieht. Nur in dieser sinnhaften Gestalt bedeutet die Opsis eine Synopsis. Ich sehe mehr als ich sehe, ich sehe anderes mit; ich sehe im Grenzfall auch, was ich nicht sehe. Hierbei können wir zwischen implikativer, medialer und reflexiver Sichtbarkeit unterscheiden. Das implizit Sichtbare, so etwa die Horizonte der Vergangenheit, der Zukunft oder der simultanen Ferne, lässt sich durch Explikation sichtbar machen. Mediale Sichtbarkeit besteht darin, dass etwas in einem anderen, dem veranschaulichenden Bild, oder mittels eines anderen, dem auf Anschauung verweisenden Zeichen, an der Sichtbarkeit partizipiert. Die reflexive Sichtbarkeit entspringt schließlich einer Blickwende, die Gesehenes, Sehakt und Sehenden als solche thematisiert. Der Reflektierende sieht nicht mehr als vorher, aber er weiß auf explizite Weise, dass und was er sieht. In all diesen drei Fällen haben wir es mit Modifikationen zu tun, die auf einen Urmodus der Sichtbarkeit, nämlich auf die leibhaftige Gegenwart und in eins damit auf diese unsere Welt zurückverweisen. Dies alles ist jedem Husserlleser vertraut; aus dem Gesagten lässt sich aber eine entscheidende Konsequenz ziehen. Unsichtbarkeit dieser Welt bedeutet unter den genannten Voraussetzungen nichts weiter als eine begrenzte Sichtbarkeit. Das Un-sichtbare bildet keinen Gegensatz zum Sichtbaren, sondern dieses hebt sich ab von einem Hintergrund des Unsichtbaren. Die Urdifferenz von Gestalt (Etwas) und Grund (Umfeld) gehört nicht nur zum ABC der Gestalttheorie, sondern auch zur Phänomenologie der sinnlichen Erfahrung, sofern diese den Kontrast als "Urphänomen" betrachtet. 9 Etwas, das ist, was es ist, indem es sich von anderem abhebt, sperrt sich gegen eine Dialektik von Satz und Gegensatz. Ähnliches gilt für die Horizonte als Grenzlinien; sie verschieben sich, doch aufgehoben werden könnten sie nur, wenn sichtbare Dinge sich in gedachte verwandeln. Das Unsichtbare bezeichnet mithin eine vorläufige Unmöglichkeit; denn auch das, was unter einem bestimmten Blickwinkel, unter einem bestimmten Aspekt oder in einer bestimmten Einstellung unsichtbar bleibt, steht unter dem umfassenden Horizont einer potentiellen Sichtbarkeit und bezieht sich auf ein graduelles ,ich kann, wir können, man kann, es geht'. Selbst Möglichkeiten des Sehens gehören zu den praktischen Vermöglichkeiten, bis hin zu den
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Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, (Hua VI), hg. von Walter Biemel, Den Haag 2. Auf!. 1962, S. 341. Husserl, Edmund, Analysen zur passiven Synthesis, (Hua XI), hg. von Margot Fleischer, Den Haag 1966, S. 138.
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Grenzfällen des ,ich kann nicht sehen'. Noch die Ohnmacht des Nichtsehens verweist auf eine Macht des Sehens. Die Zugehörigkeit zu einer Welt der Sichtbarkeit besagt also nicht, dass alles de facto sichtbar ist, sondern dass alles irgendwie (Jt(J)~) gesehen werden kann. Was nicht sichtbar ist, wartet auf den Blick, der es aufdeckt. Als Philosophie des Sinnes berührt die Phänomenologie sich mit der Hermeneutik. So wie es für die Phänomenologie, die an Sinn und Intention orientiert ist, nichts radikal Unsichtbares gibt, so gibt es für die Hermeneutik nichts radikal Unverständliches: alles hat einen Sinn, zumindest in the long run. Phänomenologie und Hermeneutik nähern sich ferner dem Axiom der Sprechakttheorie, demzufolge es nichts radikal Unausdrückbares gibt. Hierbei macht es keinen großen Unterschied, ob der Sinn, der etwas als etwas auftreten lässt, der Intentionalität, dem Verstehen oder der Regelbefolgung entspringt. So oder so ist der Sinn, ungeachtet aller Sinngrenzen, präsumptiv lückenlos. So wie es für den Bewusstseinsphänomenologen im Bewusstseinsraum kein Loch gibt, durch das "Bewusstseinsfremdes" oder "Erfahrungsfremdes" einströmt, so gibt es für eine Philosophie des Sinnes keine Kluft, an der die Sinnauslegung stockt. \0 Das Sinngeschehen ist auf die Dauer gesehen lückenlos. 3. Die Unsichtbarkeit des Fremden Sollte es etwas geben, das aus der lückenlosen Welt universaler Sichtbarkeit herausfällt, so kann dies folglich nur etwas sein, das keinen Sinn hat und auf keinen Sinn wartet. Und wenn etwas, das gegeben ist, stets als etwas gegeben ist, so kann das Unsichtbare auch nicht als ein residuales Etwas auftreten; denn selbst ein unbestimmtes Etwas bleibt auf seine mögliche Bestimmung bezogen und erscheint insofern im Lichte einer Sehordnung, mag der Sinn auch noch so dunkel bleiben. Dennoch scheint es ,etwas' zu geben, das nicht schon ,als etwas' begegnet und das in diesem Sinne kein eigentliches Etwas ist, nämlich das Fremde. 11 Die Fremdheit wäre in diesem Falle nicht einem Erfahrungsgegenstand zuzuschreiben, der uns so oder so entgegentritt, und sie wäre nicht einer Erfahrungsregion zuzuordnen, in die sich das jeweils Erfahrene einfügt, sie beträfe vielmehr die eigentümliche Erfahrungsweise. Selbst Husserl, der ein ,Bewusstseinsfremdes' so entschieden von sich weist, setzt eine ,Fremdwelt' an, die mit der Welt koextensiv ist, so wie das ,Fremdich' den Ichcharakter als solchen durchdringt. Es gibt also nicht bloß eine Welt, die fremd ist wie etwa 10 11
Husserl, Edmund, Formale und transzendentale Logik, (Hua XVII), hg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, S. 239f. Dass ,das Fremde' in Sätzen wie diesem als Referent oder als Satzsubjekt auftaucht, ist unvermeidlich. Dagegen hilft nur ein zeigendes Reden, das es vermeidet, das, was sich zeigt, im Gesagten aufgehen zu lassen. Doch dies gilt nicht minder für Ideen wie die der Freiheit oder des Eros.
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das Ausland, und es gibt nicht nur ein Ich, das mir fremd ist wie etwa der Ausländer, sondern es gibt eine Fremdheit dieser Welt und dieses Ichs, die entsprechende Formen der Unsichtbarkeit nach sich zieht. Für Husserl, der in dieser Hinsicht radikaler denkt als die Anhänger eines linguistic oder eines pragmatic turn, bedeutet Fremdheit eine Form der genuinen Unzugänglichkeit im Gegensatz zur Eigenheit als einer Form der originalen Zugänglichkeit. Doch würden wir bei dieser Disjunktion stehenbleiben, so würden wir erneut zu einer Zwei-Welten-Theorie gelangen mitsamt ihren Ungereimtheiten, darunter die Annahme eines Fremden oder Unsichtbaren an sich. Die Unzugänglichkeit, die hier ins Spiel kommt, lässt sich nur verstehen als Unzugänglichkeit für mich bzw. für uns; sie ist in diesem Sinne relational, obwohl sie zur Sache selbst gehört und nicht als bloß relativ abzutun ist. Die Disjunktion von Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit wird in actu zusammengehalten durch die Fremderjahrung, die auf paradoxe Weise als "bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen" gekennzeichnet wird. 12 Analog könnte man von einer Sichtbarkeit des Unsichtbaren sprechen, wenn man bedenkt, dass die Unsichtbarkeit kein Defizit darstellt, sondern ebenfalls zur Sache gehört. So versichert Merleau-Ponty, ,jedes Sichtbare sei unsichtbar [... ], Sehen bedeute immer mehr sehen, als man sieht [... ]" (VI, S. 300, SU, S. 311). Ich erspare es mir und den Lesern, an dieser Stelle zum wiederholten Male die Fragwürdigkeiten und Zweideutigkeiten durchzugehen, die der Husserlschen Theorie der Fremderfahrung anhaften. Sollte eine Konstitution des Fremden mit den Mitteln des mir Eigenen möglich sein, so wäre die Fremdwelt letzten Endes ein Derivat meiner Eigenwelt und Teil unserer Gemeinwelt; damit würde sie sich auf Umwegen doch wieder der Welt der Sichtbarkeit einfügen. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob es nicht eine radikale Unsichtbarkeit des Fremden gibt, und es stellt sich die weitere Frage, was in diesem Falle "Unsichtbarkeit dieser Welt" besagen könnte.
4. Sichentziehen Wenn auszuschließen ist, dass es etwas gibt, das schlichtweg unsichtbar bleibt, so muss die Unsichtbarkeit aus der Sichtbarkeit und dem Sichtbarwerden entspringen. Beschreibungsmuster, die sich in diesem Zusammenhang anbieten, wären die Rückseite eines Blattes, die nicht mit einer Kopie zu verwechseln ist; eine Falte oder Höhlung, die kein Loch bildet, sondern differenziert und nicht etwa negiert; ein Riss, der nicht zwei Bereiche voneinander, sondern etwas von sich selbst trennt und der seinerseits zu unterscheiden ist von der Zer12
Hua I, S. 144. Sofern jede Zugänglichkeit durch Sinnstrukturen vermittelt ist, besagt Fremdheit "Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit" (Husserl, Edmund, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil: 1929-1935 (Hua XV), hg. von Iso Kern, Den Haag 1973, S. 144, S. 631).
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rissenheit eines vorausgesetzten Einen oder Ganzen; ähnlich der Spalt, der eines auf das andere bezieht, indem er beides aus-einander hält. Wenn also das ,Un-sicht-bare' kein bloßes Negat bedeutet, so bleibt die Frage nach dem Charakter des Unmöglichen, das darin zum Vorschein kommt. Gehört die Unsichtbarkeit zur Sache selbst, so auch die entsprechende Unmöglichkeit. Eine solche Unmöglichkeit lässt sich nicht reduzieren auf die Bestreitung einer möglichen Verwirklichung und auch nicht auf bloße Möglichkeitsgrenzen bei der Verwirklichung, gefordert ist eine sozusagen virulente Unmöglichkeit, die auf die Erfahrung des Unmöglichen zurückschlägt. Worin könnte eine solche Erfahrung bestehen? Einen Ansatz zur Beantwortung dieser Frage bietet die Unsichtbarkeit des Fremden, die nicht darin besteht, dass etwas in Form einer potentiellen Sichtbarkeit auf meinen Blick wartet, sondern darin, dass sich etwas meinem Blick entzieht. Ausdrücke wie ,Entzug', ,Rückzug', ,Sichentziehen', se derober, echapper, withdraw, evade, die bei den verschiedensten Autoren auftauchen, bedürften einer genaueren Untersuchung. 13 Es sind zweifellos sprechende Worte, die uns hier begegnen, und keine bloßen Benennungen. Im ,Ziehen' liegt eine Bewegung, die einer Krafteinwirkung entspringt und auf eine beharrende oder gegenläufige Kraft stößt: "Erst zog sie ihn, dann sank er hin ... " In Platons Politeia sind es die Zahlen als ideale Gebilde, von denen eine Zugkraft ausgeht, die zum Sein hinführt. 14 Im französischen Wort derober, das dem deutschen Verb ,rauben' verwandt ist, überwiegt das ,Wegziehen', das sich wie so oft mit einer militärischen Nebenbedeutung auflädt. Ich breche den sprachlichen Erkundungsgang hier ab und begnüge mich mit einer phänomenologisch, heuristisch gefassten Skizze, die sich nahe an die oben gegebene Bestimmung des Fremden hält. Etwas (jemand) entzieht sich meinem Blick (Griff, Zugriff, Begriff ... ). Es entzieht sich wohin? In die Feme, in eine Zone der Abwesenheit, in eine Position, die außer meiner Reichweite liegt. Dieses Geschehen zeigt einige hervorstechende Merkmale. (1) Sichentziehen bedeutet ein Geschehen, eine Bewegung, die sich zwischen zwei Instanzen oder Bereichen abspielt, aber weder auf eine der beiden Instanzen noch auf eine dritte Instanz zurückzuführen ist. Es handelt sich um einen unterbrochenen Bezug, der in der Unterbrechung fortdauert. Das reflexive Sich des Sichentziehens ist unabdingbar, ähnlich wie im Falle des Sichabhebens, Sichdistanzierens, Sichereignens, Sichzeigens. Ohne diese Reflexivität, die einen Eigenraum des Selbst bildet, bliebe nur die Selbigkeit von
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Dies betrifft in besonderem Maße Heideggers Denken; die Annahme eines Seinsentzugs gewinnt ihre Bedeutung aus einem Anspruch und Zuspruch des Seins, der keineswegs mit einem fremden Anspruch gleichgesetzt werden kann. Vgl. hierzu meine Ausführungen in Antwortregister, Frankfurt am Main 1994, S. 578 - 580. Vgl. das in Politeia 523 a erwähnte EAKTlKOV, das ,Hinziehende', wie Schleiermacher übersetzt.
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objektiven Fakten oder Ereignissen, die innerhalb dei Welt des Sichtbaren und Sinnhaften ihren gemäßen Platz fanden. (2) Das ,Etwas', das sich in dieser radikalen Weise entzieht, ist kein Objekt, kein Seiendes. Strenggenommen gibt es nicht etwas, das sich entzieht, sondern es gibt nur ,etwas', indem es sich entzieht. In diesem Sinne können wir mit Heidegger von einem ,,Enteignis" sprechen. 15 Hätten wir es mit einer identifizierbaren Entität zu tun, so stünden wir bereits im Bereich artikulierter und programmierbarer Bedürfnisse, die festlegen, was uns fehlt. Das ,es entzieht sich' verrät eine gewisse Verwandtschaft mit der Wiedergabe unpersönlicher Vorgänge wie ,es raschelt', ,es knistert', ,es funkelt' oder unbestimmter Regungen wie ,es hungert mich', ,es dürstet mich', deren Unbestimmtheit noch nicht durch Zielvorstellungen aufgefangen istI 6 , nur muss man sich hüten, das ,es' als Satzsubjekt aufzufassen und dem Geschehen einen Träger oder eine Ursache zu unterschieben. 17 Hinzu kommt, dass die wesenhafte Unbestimmtheit vielfach mit einer Überbestimmtheit einhergeht. Zu erinnern ist an den Hunger nach Gerechtigkeit, an den Durst nach Rache oder an das Beckettsche Warten darauf, dass überhaupt etwas geschieht. (3) Der, dem sich etwas oder jemand entzieht, steht im Dativ, einem "Adressendativ", wie Bühler dies nennt. 18 Der Kasus des Gebens unterhält wohlgemerkt zugleich einen Bezug zum Nehmen, nicht im Sinne eines durchgängigen Tauschgesetzes, demzufolge ich gebe, damit du gibst, wohl aber im Sinne einer Verstrickung von Eigenem und Fremdem, die keine reine ,Gebung' zulässt. Das dativische ,mir' steht generell im Gegensatz zum nominativischen ,ich', das heißt auch im Gegensatz zur Zentrierung des Geschehens in einem ,ich kann'. Im Entzug begegnet mir etwas, das nicht in den Spielraum meiner eigenen Möglichkeiten, in mein Blick- oder Gesichtsfeld fällt, auch nicht als Randmöglichkeit. (4) Der Blick unterliegt einer bestimmten Blickordnung, die bestimmte Sichtweisen ermöglicht, andere verunmöglicht. Was sich entzieht, kann daher nur als Außer-ordentliches gedacht werden, als etwas, das die bestehende Ordnung stört, sprengt oder unterhöhlt. Zugleich liegt darin der Keim einer anderen Ordnung. (5) Der Entzug bewegt sich zwischen Mangel und Übe1jluss, zwischen Zuwenig und Zuviel, und dies im Gegensatz zu einem Geschehen, das wie alle intentionalen Akte auf eine mehr oder weniger große Erfüllung und Sättigung 15
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Heidegger, Martin, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 23. Vgl. dazu Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, (Hua XIXlI), hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984, § 15, S. 410); Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, (Gesammelte Werke, Bd. 2), Bernl München 1966, S. 54. Husserl hat in diesem Zusammenhang Anregungen von A. Marty aufgenommen (vgl. Phänomenologische Psychologie, (Hua IX), hg. von Walter Biemel, Den Haag 1962, S. 236 ff.). In der Linguistik neigt man heute ebenfalls dazu, Impersonalien als "Verbum ohne Agens" aufzufassen, vgl. den Artikel "Impersonalien" im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Vgl. dazu Antwortregister, a.a.O., S. 589 ff.: "Reden und Handeln im Zeichen des Dativ".
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ausgeht. Was nicht zu fassen ist, bedeutet zugleich mehr, als ich fassen kann. Der bloße Mangel oder eine Leere im Sinne der Unerfülltheit würde den Blick in eine zu erfüllende und zu verwirklichende Ordnung einschließen. Das, was sich entzieht, wäre buchstäblich schon in der Ordnung vorgesehen. Umgekehrt könnte eine reine Fülle nur darin bestehen, dass man sich selbst sieht, sagt oder denkt. So ist es bei Plotin (Enn. V, 3.8) der Nus, der im Zusammenfall von öpaOL~ und opmov sich im eigenen Licht erschaut. Doch dieser visuelle Narzissmus würde mit der Fremdheit des Blicks den Ort des Blicks in einem Meer von Licht versinken lassen, das in seiner Ununterscheidbarkeit der absoluten Dunkelheit gleichkäme, ein merkwürdiges sacrificium oculi, das bis heute Schule macht. Die Selbstverleugnung des Blicks, die sich in der Selbstverleugnung der Rede verstärkt, lässt sich nur dann vermeiden, wenn das, was sich entzieht, als Übermaß, als Exzess, als Anomalie gefasst wird, also mit Hilfe relationaler Bestimmungen, die auf positive Ordnungen bezogen bleiben, ohne diese in eine positive Überfülle zu verwandeln. Hier zeigt sich eine Spannung zwischen Blindheit und Blendung, zwischen blindem Fleck und Überhelle, die seit Platons Zeiten nicht zur Ruhe kommt. Der "nächtliche Tag", an dem sich das Blickgeschehen abspielt, klärt sich niemals auf zu einem "wahren Tag des Seienden" (Politeia 521 c), weil die Blindheit zum Blick gehört wie das Schweigen zur Rede. 5. Entzug und Anziehung Der schwierigste Aspekt, den wir uns noch aufgespart haben, betrifft den Zusammenhang von Ent-zug und An-ziehung. Das Ent- verweist auf eine Bewegung von weg ... (vgl. Entschwinden, Sichentfernen, Entkommen usf.), während das adressierende An- eine Bewegung hin zu ... anzeigt (vgl. Anreiz, Anblick, Anrede, Anspruch).19 Was sich mir entzieht, das trifft, betrifft, affiziert mich, es geht mich an, so wie ich jemanden nur dann vermisse, wenn seine Abwesenheit mich schmerzt. Beim Zusammenhang von Entzug und Anziehung sind wiederum einige Aspekte zu unterscheiden. (1) In der Doppelbewegung von Entzug und Anziehung liegt eine Ambivalenz, die der binären Scheidung in Attraktion und Repulsion vorausgeht. Andernfalls würde das, was sich immer nur zeigt, indem es sich entzieht, einer Bewertung unterworfen, bevor es sich zeigt. Es wäre durch diese Einschätzung von vornherein seiner Fremdheit beraubt. 19 Fasst man diese Bewegung als "adressierende Intention" (Hua IX, S. 485), so verwischt sich der Unterschied zwischen dem Worauthln einer Intention und dem Worauf einer Antwort. Vgl. dagegen Heidegger: "Was sich uns entzieht, zieht uns dabei gerade mit, ob wir es sogleich und überhaupt merken oder nicht. Wenn wir in den Zug des Entziehens gelangen, sind wir - nur ganz anders als die Zugvögel - auf dem Zug zu dem, was uns anzieht, indem es sich entzieht." (Was heißt Denken?, Tübingen 2. Aufl. 1961, S. 5).
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(2) Die Instanz des Was bzw. Wer und die des Wem lassen sich nicht gegeneinander vertauschen wie bei einem Standortwechsel im Gespräch, sondern hier herrscht jene Asymmetrie, die uns aus der Fremderfahrung hinlänglich vertraut ist. Kehre ich die Sache um und gehe ich von dem aus, der sich entzieht, so verwandelt der Entzug sich zurück in eine Potentialität des Blicks, die der Welt der Sichtbarkeit verhaftet bleibt. (3) Die Instanz des Wem ist schließlich irreduzibel. Ohne eine Eigen- und Gegenkraft des Blicks gäbe es nichts, dem sich etwas entziehen könnte. Diese Eigenkraft geht allerdings dem Entzug nicht voraus, sondern sie bildet sich im Blick, der auf den fremden Blick antwortet. Das Selbe bildet sich in der Unterscheidung von Anderem, das Selbst dagegen bildet sich in der Scheidung von Fremdem, das nicht anders ist, sondern anderswo. Aus diesen Überlegungen folgt: Entzug und Anziehung vereinigen sich zu einem Doppelereignis, ohne dass der Spalt synthetisch überbrückt würde. Der Selbstbezuglentzug stellt sich dar als Fremdbezuglentzug und umgekehrt. Selbstentzug besagt: Ich bin mir fremd in Form einer Selbstgegenwart (presence asoi), die zugleich Selbstabwesenheit (absence de soi) besagt und mich mir selbst unsichtbar macht (VI, S. 303, SU, S. 315). Dieser Selbstentzug steht im Gegensatz zur reinen Immanenz eines Bewusstseinslebens, dem auf die Dauer nichts fremd wäre. Fremdentzug besagt: Etwas ist mir fremd. Dieser Fremdbezug widerspricht der absoluten Transzendenz eines fremden Appells, dem nichts Eigenes entgegenkäme. Gegenüber den Extremen einer absoluten Nähe oder einer absoluten Feme bedeutet der Entzug eine Feme in der Nähe. Der vielzitierte Satz, dass das Auge sich nicht sieht, der verbunden mit dem Hinweis auf einen blinden Fleck des Sehens bei Fichte, Schopenhauer, Mach und Wittgenstein, bei Bataille, Lacan, Merleau-Ponty und Derrida in verschiedenen Varianten auftaucht, betrifft das Sehgeschehen insgesamt. Er betrifft den fremden Anblick (oder Anspruch), der sich entzieht (den eigenen, antwortenden Blick, dem sich etwas entzieht) und die Ordnungen des Sehens, die selektiv eine bestimmte Sichtbarkeit gewähren, indem sie andere Möglichkeiten ausschließen. Das Unsichtbare dieser Welt entspringt somit einer Selbstverdoppelung des Sehens, einem Überschuss des Sehens im Gesehenen (der dem Überschuss des Sagens im Gesagten entspricht), einem Sehen, das sich selbst entgleitet. Der Spalt, der sich im Sehen auftut, lässt sich auch nicht schließen durch eine überschwengliche, unbedingte Erscheinung (eine reine Gebung oder einen reinen Appell), und dies nicht etwa, weil unser Blick alles bedingt und ermöglicht, sondern weil er als gleichzeitiger Zeuge und Komplize sich in das verfängt, was er zu sehen bekommt. 6. Entzugsstellen Wenn Fremdes, das sich dem Blick entzieht, einer spezifischen Erfahrungsart zuzuordnen ist und nicht einem regional zu verortenden Erfahrungsgegens-
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tand, so steht zu erwarten, dass der Entzug an den verschiedensten Stellen der Erfahrung auftaucht, also selbst im Kern des Sichtbaren, in der nächsten Nähe, die Husserl von den Schatten des Fremden zu verschonen sucht. Die entsprechende Erosion einer Philosophie der Präsenz, die bei Husserl selbst bereits einsetzt, soll hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden. Dafür werde ich exemplarisch und probeweise einige Brennpunkte markieren, an denen Entzugserscheinungen besonders prägnant hervortreten. 2o Leibliches Selbst. - Der Leib ist nicht etwas, das sich zufälligerweise nicht oder nur teilweise fassen lässt, vielmehr gehört die Unfasslichkeit zum Status der Leiblichkeit als solcher. Der Leib bedeutet kein Naturding, das sichtbar wäre, aber nicht sehend; er bedeutet ebensowenig ein Geistding, das sehend wäre, aber nicht sichtbar, als verfügten leibliche Wesen über den Ring des Gyges. Der Leib ist vielmehr sehend und sichtbar, hörend und hörbar, berührend und berührbar, und zwar beides in eins in Form einer Nicht-Koinzidenz in der Koinzidenz (VI, S. 162-171, SU, S. 162-171). Der Leib tritt auf als sein eigener Spiegel, als sein eigenes Echo, und nur deshalb gibt es Spiegelgeräte und Resonanzkörper, in denen die genuine Körpertechnik sich verstärkt. Als Leib-Körper ist unser Leib Eigenleib und Fremdkörper in eins, und letzteres schließt die Erfahrung einer körperlichen Materialität ein. Diese meldet sich in Lähmungs- oder Ermüdungserscheinungen: "Par la fatigue le ,corps' devient chose etrangere", sie bekundet sich aber auch in den ,kleinen Toden' der LUSt. 21 Eine reine Selbstaffektion, ein blick- und wortloses Spüren, das sich als reiner Selbstbezug ausgibt, gehört zu den postcartesianischen Phantasmen oder zum neuerlichen Lebenskunstgewerbe. Fremdbezüge sind unwiderruflich in den Selbstbezug des leiblichen Selbst eingezeichnet. Vergessen. - Das Vergessen entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein sperriges Phänomen, das sich jeder Philosophie des Sinnes widersetzt. Es lässt sich weder als intentionaler Akt noch als regelgeleitetes Verhalten deuten: Vergessenes hat Sinn, nicht aber der Vorgang des Vergessens, der uns übermannt. Das Vergessen beginnt mit dem Entfallen, das die Kehrseite von Einfällen und Vorfällen bildet und im Herzen der Gegenwart am Werk ist. Behalten wird nur, was zu entfallen droht und unserem "Griff' entgleitet. 22 Fallbewegungen sind Bewegungen, die nicht von uns ausgehen, uns aber bis ins Innerste treffen. Das beginnt mit der Geburt als einem Urvergessen, einer voranfanglichen Lethe, die uns schon bei Platon begegnet und die sich in verschiedenartigen Wiedergeburten fortsetzt, oftmals begleitet von entsprechenden Geburtstraumata. Das Wiederaufsuchen des Entfallenen wird seinerseits aus20
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Ausführlichere Analysen finden sich in den entsprechenden Kapiteln von Antwortregister sowie in meinen Studien zur Phänomenologie des Fremden. Valery, Paul, Cahiers, Bd. I, Paris 1973, S. 1137; deutsch: Cahiers/ Hefte, Bd. 3, Frankfurt am Main 1987, S. 325. Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (1913), (Hua III), hg. von Walter Biemel, Den Haag 1950, § 122.
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gelöst durch Weckungsereignisse, die ebenso wenig in unserer Hand liegen wie das Vergessen. In der Erinnerung antworten wir auf etwas, das uns beunruhigt, anrührt, schmerzt. In diesem Sinne sind wir berechtigt, von einer spezifischen Fremdheit der eigenen Vergangenheit zu sprechen. Antlitz und fremder Blick als Anblick. - Das Angesicht des Anderen, das uns in Anblick und Anrede entgegentritt, ist nicht bloß etwas, das einmal anwesend, das andere Mal abwesend ist, das sich nach Belieben enthüllt oder maskiert und verschleiert. Vielmehr haben wir es mit einer Anwesenheit zu tun, die sich uns versagt, die den Zugang verwehrt. Der oder die Andere ist da, indem er oder sie sich dem Zugriff entzieht. Der eigene Blick, der den fremden Blick erwidert, sieht nicht, worauf er antwortet; wenn er antwortet, so besagt dies also, dass er selbst anderswo in der Fremde beginnt. Der fremde Blick kann auch von Dingen und Bildern ausgehen, die uns in ihren Bann schlagen. Wie Merleau-Ponty unter Berufung auf Maler wie Paul Klee oder Max Ernst feststellt, sehen sich die Dinge in uns, bevor wir uns ihnen zuwenden, bevor wir sie fixieren oder beobachten. Der schauende Blick unterliegt stets einer bestimmten Faszination. Dies gilt in verstärktem Maße flir ein "sehendes Sehen" im Sinne von Max ImdahF3, weniger für ein wiedererkennendes Sehen, das sich auf den vorgezeichneten Bahnen einer Sehordnung bewegt. Der Hintergrund hat stets Züge eines Abgrundes, dem wir uns auf Fluchtlinien nähern. Schließlich entspringt auch der fremde Blick einer Art SelbstlFremdverdoppelung. Die Ursozialität besteht nicht darin, dass eine Spezies in mehreren Exemplaren vorkommt, die gemeinsame Ziele verfolgen, gemeinsamen Gesetzen unterstehen oder gegeneinander kämpfen; sie besteht in dem erstaunlichen Phänomen, dass jemand seinesgleichen hat. Der oder die Andere tritt mir als eine Art Doppelgänger entgegen. 24 Dieses Doppelgängerturn rührt daher, dass jener, der sich unterscheidet, aus der Unterscheidung entspringt und somit stets Züge dessen an sich hat, wovon er sich unterscheidet. Dies gilt f1ir das Verhältnis von Mann und Frau, von Eltern und Kindern ebenso wie flir die von langer Hand vorbereitete Scheidung von Mensch und Tier. Der Trennungsstrich ist nie endgültig gezogen, weil jeder tangiert bleibt durch das, was jenseits der Schwelle seiner Erfahrung liegt. Fremdkultur und Fremdwelt. - Auch die kollektive Konfrontation mit einer Fremdkultur oder einer Fremdwelt, ohne die es keine Eigenkultur und keine Heimwelt gäbe, beschränkt sich nicht darauf, dass mir etwas begegnet, dessen Sinn ich nicht verstehe, sie beginnt vielmehr damit, dass ich mich einer Beunruhigung ausgesetzt sehe, die gleich dem Worüber des Staunens und dem Wovor der Angst keinen Sinn hat und keiner Regel unterliegt, sondern seinerseits bestehende Regeln in Frage stellt und neuen Sinn provoziert. Das beginnt 23
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Vgl. dazu von Max Imdahl, Giotto - Arenafresken. Ikonographie - Ikonologie - Ikonik, München 1980. Merleau-Ponty, Maurice, La prose du monde, Paris 1969, S. 186; deutsch: Die Prosa der Welt, München 1984, S. 149.
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bereits mit schlichten Kippfiguren, bei denen es keine Vermittlung zwischen den verschiedenen Aspekten gibt, selbst wenn das Anderssehen seinen Überraschungscharakter verliert, nachdem wir den Trick durchschaut haben. Fremdheit besagt mehr als ein Blick-Puzzle. Hinter dem fremden Anspruch, der uns aus der Fremdwelt entgegenschlägt, steht kein Konstrukteur, dem wir auf die Schliche kommen können. In der Beunruhigung geraten wir aus der Fassung, befremdet und gebannt starren wir auf das, was sich dem Blick entzieht. Als Unsichtbares im Sichtbaren, als Unverständliches im Verständlichen, als Regelloses im Geregelten beginnt das Fremde schon im Eigenen und Vertrauten, es beginnt in der Heimlichkeit des Unheimlichen, das Freud auf neue Weise entdeckt hat.
7. Sichtbarmachen des Unsichtbaren Zu guter Letzt stellt sich die Frage, wie wir Unsichtbares sichtbar machen können, ohne ihm seine Unsichtbarkeit zu rauben. Halten wir fest an dem Verfahren der phänomenologischen Reduktion, so lautet die Frage: Reduktion worauf und Epoche wovon? Was sich dem Blick entzieht, lässt sich nicht auf den eigenen Blick zurückführen, dem es sich entzieht. Würde das Wem des Entzugs in ein Wer bzw. in ein konstituierendes, sinngebendes Bewusstsein zurückverwandelt, so würde das fragliche Phänomen verschwinden. Ähnlich steht es mit dem Wovon der Enthaltung; enthalten kann ich mich nur von dem, was in meiner Macht steht. Der Entzug ist jedoch ein Ereignis, das mir widerfährt, keine Setzung, die ich inhibieren könnte, und im Hintergrund steht keine Einstellung, die ich aufgeben könnte. Eine fragwürdige Lösung bestünde in der direkten Bezugnahme auf Unsichtbares, sei dies wie bei Michel Henry ein reines Leben, das sich selbst affiziert und sich selbst erschaut, sei dies wie bei Jean-Luc Marion25 ein reiner Appell, der von dem ausgeht, was mich affiziert und in seinem eigenen Licht erstrahlt. Auf beiderlei Weise würde die Unsichtbarkeit und Fremdheit des Entzugs ausgelöscht zugunsten einer bedingungslosen Selbstgegebenheit des Lebens, eines menschlichen oder göttlichen Antlitzes oder ähnlicher Absoluta. Michel Henry verkündet in seiner Phenomenologie materielle: ,,Jede Rede (Parole) ist Rede des Lebens selbst, das sich in dieser Rede aufweist, offenbar
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Vgl. zu Marion meine kritischen Bemerkungen im Antwortregister, a.a.O., S. 580 f. Diese Bemerkungen beziehen sich zwar auf das frühere Buch Reduction et donation (Paris 1989), doch das jüngste Buch Etant donne (Paris 1997) könnte mich lediglich dazu veranlassen, den Grundeinwand zu spezifizieren. Die reine Immanenz und die Unbedingtheit der Gebung scheint mir damit erkauft, dass der SeIbstentzug des eigenen Leibes und die Ordnungen des Sichtbaren (hier im weiteren Sinne verstanden) unterbestimmt bleiben. Das Außerordentliche des Fremden nimmt dem Neuplatonismus vergleichbar Züge eines Überschwenglichen an. Es ist bezeichnend, dass eine interdonation, an der bestimmte Andere beteiligt sind, erst ganz am Ende des Buches auftaucht.
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macht; es ist die pathische Selbstoffenbarung der absoluten Subjektivität, welche das Sagen (Dire) ist. Was sie sagt, ist sie selbst."26 Dies erinnert an Plotin: Was der Geist sieht, ist er selbst. Doch die Reduktion, die dieser rigorosen "Phänomenologie der Unsichtbarkeit" zugrunde liegt, könnte nur gelingen, wenn Redende und Sehende den Ort, von dem aus sie reden und sehen, ,vergessen', was im Übrigen ein Kennzeichen der klassischen Metaphysik wäre. Trifft der gleiche Einwand auf Levinas zu, wenn er in Totalität und Unendlichkeit von einem "Begehren des Unsichtbaren" ausgeht, das in der Epiphanie des fremden Antlitzes alle Phänomenalität hinter sich lässt? Die Antwort kann nur lauten: es kommt darauf an, wie man die Texte von Levinas liest. Betont man Momente des Überschusses wie excedant, exces, surplus sowie das Moment der Störung, des derangement, so erweist sich der fremde Anspruch als Außer-ordentliches, das bestimmte Ordnungen voraussetzt, um sie immer wieder zu überschreiten. Von einem "reinen Anruf' kann insofern nicht die Rede sein, als der fremde Appell in die allgemeine Sprache verwickelt bleibt, deren Regelungen er durchkreuzt. Dies spräche für ein Sagen im Gesagten, aber gegen ein fragwürdiges Sagen ohne Gesagtes, das wir bei Levinas ebenfalls finden. Es fragt sich dann, wie eine Alternative aussehen kann, die einerseits die lebens philosophische Verabsolutierung des Selbstbezugs, andererseits die moralisch-religiöse Verabsolutierung des Fremdbezugs vermeidet. Es fragt sich, wie wir jenen Fallstricken eines phänomenologischen Fundamentalismus entgehen können, die hinter solchen Formen der Einkehr oder der Kehre lauem. Hierzu wäre mancherlei zu sagen, so etwa, dass nicht jeder, der "autrui autrui" sagt, wie einer in der Bibel "Herr, Herr" sagt, in das Reich der Moral eingehen wird. Ich begnüge ich mit einigen knappen Schlussbemerkungen. In einer der letzten Arbeitsnotizen, in der Merleau-Ponty die Aufgabenstellung der Philosophie erörtert, schreibt er: "Was sie [die Philosophie] sagt, ihre Bedeutungen gehören nicht dem absolut Unsichtbaren an: sie macht sichtbar dadurch Worte: elle fait voir par des mots." (VI, S. 319, SU, S. 334) Dieses Bemühen gliche dem des Malers, der Farben und Linien einsetzt, um Unsichtbares als solches sichtbar zu machen. Ich denke zum Beispiel an Schreckensvisionen von Malern bei Michelangelo, Delacroix oder Goya, in denen das Entsetzliche ausgespart wird; es spiegelt sich nur in dem erschreckten Blick der Betroffenen und erfährt eben dadurch eine Steigerung, die jede direkte Darstellung an Wirkung übertrifft. 27 Was sich hier andeutet, ist ein veifremdender, schräger Blick, eine indirekte Rede, wie sie in Merleau-Pontys Forderung nach einer indirekten Ontologie und dem gleichzeitigen Hinweis auf eine
26 Michel Henry, Phenomenologie materielle, Paris 1990, S. 131, sowie S. 8, 11; Radilwle Le27
bensphänomenologie, Freiburg/ München 1992, S. 179. Vgl. etwa die Radierung Yo 10 vi ("Ich sah es") aus Goyas Desastres de la guerra, auf die ich durch eine eindringliche Vortrags studie von Reinhold Göriing aufmerksam wurde.
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indirekte Malerei zum Ausdruck kommt. 28 Was sich anbietet, ist ein Zitieren, das (wie Michail Bachtin zeigt) nicht als bloße Wiedergabe einer anderen Rede, sondern als Rede in der Rede und als Rede von der fremden Rede her zu verstehen ist. Das Zeigen geht niemals auf in einem reinen Sichzeigen, das uns der Gewalt der Sprachlosigkeit ausliefern würde, und das Zeigen ist auch keine Leiter, die man nach der Benutzung wegwirft. Das Zeigen, das sich nicht an Gesagtes und Gesehenes anklammert, könnte man als eine Reduktion vom Gesehenen auf das Sehen fassen, ähnlich wie Levinas eine Reduktion vom Gesagten auf das Sagen vorschlägt. Das Sehen wäre stets mehr als das Gesehene, aber es wäre nur im Gesehenen sichtbar, ähnlich wie das Sagen nur im Gesagten auftritt. Das Sehen bliebe gleich dem Sagen stets kontaminiert durch die Ordnungen, die es durchbricht. Was sich dem Blick entzieht, ist immer nur indirekt sichtbar, als blinder Fleck, der sich dem Sehen selbst einschreibt, ohne darin seinen gemäßen Ort zu finden. Um ein bekanntes Motto abzuwandeln: Le regard est ailleurs, der Blick ist woanders.
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Vgl. Maurice Merleau-Ponty, L'adl et ['esprit, Paris 1964, S. 75; dt.: Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 308.
I. DIE PHÄNOMENOLOGISCHE REDUKTION UND DER ENTZUG DES PHÄNOMENS
MARCRICHIR
EpOCHE, FLIMMERN UND REDUKTION IN DER PHÄNOMENOLOGIE
1. Die Husserlsche Konzeption der Epoche und ihre Aporie: Das ontologische Simulakrum Vielleicht sind wir aus der zeitlichen Distanz heraus zur Aussage befähigt, dass einer der originellsten Beiträge der Phänomenologie Husserls zur Philosophie darin bestanden hat, die Rolle der Doxa (und zwar eher in ihrem griechischen denn in ihrem Husserlschen Sinne, d.h. in dem Sinn, in dem sie in jeder Apperzeption von etwas impliziert ist) und ihrer unterschiedlichen Typen hervorzuheben, durch die wir uns auf Gegenstände beziehen: gegenwärtige Wahrnehmungsgegenstände, vergangene Erinnerungsgegenstände, nichtgegenwärtige Gegenstände der Phantasie, allzeitliche Gegenstände der idealisierenden Intention usw., und an diesen doxischen Typen das hervorzuheben, was in der sogenannten "natürlichen Einstellung" immer verborgen oder unterdrückt bleibt wie etwa der Seinssinn ("wahrgenommen", "wiedererinnert", "phantasiert", "gedacht" usw.) und der Sinngehalt des Soseins dieses oder jenes Gegenstandes. Es ist bekannt, dass die Einklammerung, die Ausschaltung oder die Epoche von der Wirklichkeit der Gegenstände und der blinden Bindung der damit verbundenen Typen der Doxa gleichzeitig die Entdeckung und Enthüllung der Intentionen (Noesen), die die Gegenstände als diese oder jene intendieren, und des Sinns des Seins und des Soseins (intentionaler, noematischer Sinn) erlaubt, der die Intention zur Intention, zum intentionalen Gegenstand und zum immer mit Sinn versehenen Gegenstand macht. Daher entdeckt oder enthüllt sich in der statischen noetisch-noematischen Korrelation dasjenige, was jedes Mal die komplexe Struktur der intentionalen Beziehung zwischen Intention und Intendiertem ausmacht, aber auch weitergehend die noch komplexere Stufung und Verflechtung (intentionale Implikationen) der intentionalen Akte und der Sinnschichten im Bewusstsein. Die statische Phänomenologie zeigt bereits hier, dass sie allgemeinhin keine einfache Struktur hat, sondern dass sie in der Erfahrung, die sie von den Dingen und von der Welt macht, vielmehr ein außerordentlich durchwirktes Gewebe solcher Beziehungen ist. Wenn wir daher von Beginn an bis hin zu den differenzierten Strukturen eher von der Doxa als von der intentionalen Beziehung sprechen, dann geschieht dies einerseits, um die erstaunliche "Selbstverlorenheit" oder "Selbst-
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vergessenheit" zu unterstreichen, die in der natürlichen (alltäglichen) Einstellung vorliegt, aufgrund derer wir gegen unseren Willen immer schon von demjenigen eingenommen [pris] sind, zu dem wir eine Beziehung einnehmen, und zwar in unserer Voreingenommenheit wie auch in unserer Rolle als Teilnehmer [parti pris/parti prenante]. Andererseits geschieht dies um anzuzeigen, dass in dieser Vor-eingenommenheit, die uns jedes Mal bindet, weit mehr steckt, als es eine Bezugnahme klassischen Typs auf die Struktur der "Subjekt-Objekt-Vorstellung" anzeigen könnte. Auf dieser ersten Stufe wird der Idealismus wie auch der Realismus ausgeschaltet, und Husserl hat den Implikationen der noetisch-noematischen Strukturen zusehends eine außerordentliche Aufmerksamkeit zukommen lassen, hat sich also, seinen eigenen Worten zufolge, den Stellungnahmen unter Einbeziehung der phantasia (Phantasie) zugewendet. Der intentionale Sinn des Seins und des Soseins ist im Allgemeinen nicht der der Idealität und der theoria, denn die "Stiftung", die durch ihren Akt den Sinn stiftet, der sich mit seinen Habitualitäten sedimentiert, ist im Allgemeinen keine Stiftung einer Idealität (er ist es lediglich in jenen bestimmten Fällen, wo es eine Idealisierung gibt). Für Husserl, der von einem Unternehmen der Erkenntniskritik ausgegangen war, besteht sogar ein großes Problem darin, in der Stufung (auf dem Wege der "Fundierung") und Verflechtung Intentionalitäten zu entwirren, was zur Wissenschaft führen könnte. Schließlich wird er diesbezüglich den Umweg über die genetische Phänome~ nologie, das heißt den Umweg über die (individuelle und kollektive) Geschichte der "Stiftungen" und ihrer Verkettungen einschlagen müssen. In dieser Kontextualisierung besteht die originellste (und revolutionärste) Bewegung der Husserlschen Phänomenologie sicherlich darin, die unterschiedlichen Strukturtypen der Doxa durch Epoche von der Doxa zutage zu fördern: Man kann seine wiederholten Äußerungen bezüglich dessen, was in den Klammem nach erfolgter Einklammerung "verbleibt", nur dann verstehen, wenn man begreift, dass die Ausschaltung aus einer Art für die natürliche Einstellung konstitutivem Urschlaf oder Urvergessen "erweckt", und dass sie auf diese Weise enthüllt, wie das Bewusstsein in der Beziehung naiv in einem Schlaf oder einem Vergessen begriffen war, wenn man also gerade die Weise versteht, in der das Bewusstsein von dem voreingenommen war, was es im Innern der Struktur und im Sinn der Beziehung zu ergreifen glaubte. In der Welt hat sich durch die Epoche, die keine ,,magische" Operation ist, nichts verändert, außer dass ich mich durch die Ausübung der Epoche zunächst aktiv (wenn auch gegen meinen Willen) als gebunden und als in die Konstitution desjenigen verwickelt erfahre, das ich als gegeben vorzufinden glaube, wie auch desjenigen, zu dem ich in Beziehung stehe, wenn ich "selbstverloren" bin. Und es ist bekannt, dass das Ich, das sich in der intentionalen Einbindung als aktiv enthüllt, schon nicht mehr das Ich ist, das sich naiv vorzufmden glaubt. Das konstituierende transzendentale Ich, das hinter dem weltlichen Ich verborgen ist, findet sich unter den Dingen vor (allgemein gesprochen: den Gegenständen), und es ist letztlich sogar das Ich als konkretes Substrat (ent-
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standen aus Sinn- und Habitussedimentierungen) des reinen Ich, das aufgrund seiner Strukturalität abstrakt ist - ein Pol erster statischer und noetischnoematischer Analysen. In all dem findet man noch nicht (es sei denn, man wollte es wie Heidegger willentlich finden) etwas von einer "spekulativen" Struktur, die einer "Subjektmetaphysik" oder einer "Philosophie der Repräsentation" zugehörte, zu deren ersten Zerstörern Husserl entgegen einer weit verbreiteten Meinung gehört: Als solches genommen ist das Noema bereits keine "Vorstellung" mehr, sondern gerade Sinn, der auf die komplexen Verbindungen der Noesen verweist, wobei diese im Allgemeinen nicht notwendigerweise mit intuitiven "Darstellungen" "erfüllt" sind. Gleichwohl gibt es in Husserls Konzeption der Epoche (zumindest in dem Maße, wie wir sie seit der Veröffentlichung der Husserliana des Husserl-Archivs kennen) so etwas wie eine "Substruktion", die jedoch für die Phänomenologie weder lebensnotwendig noch wesentlich ist. Im Endeffekt besteht die Husserlsche Epoche als methodischer Ausgangspunkt darin, für einen Moment den Gang der Erfahrung (der Dinge, der Welt) zu suspendieren, um den zeitlichen Verlauf im Vollzug sowohl auf Seiten der noetischen Intentionen als auch des sich konstituierenden noematischen Sinns wiederzugewinnen. Diese "erweckende" und enthüllende Wiedergewinnung vollzieht sich in den Retentionen des gegenwärtigen Augenblicks der Ausschaltung, der soeben vergangen ist. Das setzt einerseits voraus, dass der Gang der Erfahrung überhaupt im kontinuierlichen Fließen der lebendigen Gegenwart verläuft, die mit ihren Retentionen und Protentionen versehen ist, das heißt im kontinuierlichen Zeitfluss (der seinerseits strenggenommen "absolute Subjektivität" ist). Andererseits setzt dies voraus, dass dieser Erfahrungsgang jedes Mal durch eine "Ur-Stiftung" "gestiftet" ist, die jedes Mal sowohl Stiftung der Kontinuität ihres zeitlichen Verlaufs (ausgehend von einer "Urimpression" oder "Urempfindung") als auch Stiftung der Einheit der Zeit ist, die sowohl um eine lebendige Gegenwart zentriert ist als auch für den intentionalen Sinn konstitutiv ist und die sich im Gefolge dessen im Bewusstsein mit den ihr entsprechenden Habitualitäten sedimentiert. Dies sind die Anlagen des Bewusstseins, um den fraglichen intentionalen Sinn durch "Nach stiftung" reaktivieren zu können. Durch diese Fähigkeit, den kontinuierlichen Gang der Erfahrung suspendieren zu können, kann die "Selbstverlorenheit" oder "Selbstvergessenheit" des transzendentalen "Selbst" jederzeit zurückgenommen werden. Diese Zurücknahme geschieht in dem, was sich wie ein transzendentales Cogito ereignet, wo das Bewusstsein sich dabei überrascht, wie es (um mit Descartes zu sprechen) der Erfahrung "Kredit" gibt. Gerade hierdurch unterscheidet sich die transzendentale Reflexion, die von dieser Ausschaltung (die überrascht und sich überrascht) eröffnet wird, von der natürlichen Reflexion, in der die verschiedenen Strukturen der Doxa wieder blind ins Spiel gebracht werden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die "Substruktion" daher rührt, dass bei Husserl meistens (wenn auch nicht immer) die zeitliche Konti-
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nuität des Erfahrungsgangs (dessen Beschreibung vollkommen auf jenen Typ der "Stiftung" passt, der derjenige der Apperzeption der inneren und äußeren Wahrnehmung ist) unberechtigt verallgemeinert und auf die gesamte Lebendigkeit des Bewusstseins ausgeweitet wird. Dies gilt auch, um ins Detail zu gehen, rur Husserls These (was über die sogenannte ,,Metaphysik der Präsenz" bereits hinausgeht), dass der zeitliche Fluss in Richtung auf die Vergangenheit und die Zukunft unendlich ist, also auch "unbewusst" und in weiten Teilen nicht gegenwärtig ist. Anders gesagt: die "Substruktion" ist hinsichtlich ihrer Ausweitung nicht durch das Wahrnehmungs"modell" gerechtfertigt, sie beruht auf einer nicht kritisierten symbolischen Prägnanz der "Stiftung" der wahrnehmungsmäßigen Apperzeption, die angeblich jede Erfahrung, welche auch immer es sei, regeln soll. Was uns zu diesem Einwand bringt (wie auch zu der Einsicht, dass das Schicksal der Phänomenologie nicht von dessen Triftigkeit abhängt), ist die aufmerksame Untersuchung, die Husserl der Phantasie zuteil werden lässt. I Man könnte auch die ganze Problematik der intersubjektiven Appräsentation hinzuziehen, die wir hier aus Platzmangel nicht untersuchen werden. Bei dieser Gelegenheit gelangt Husserl in der Tat praktisch zur Aporie, wenn er in der 44. Vorlesung der Ersten Philosophie II bezüglich der Epoche in der Phantasie von einer Quasi-Epoche spricht. 2 Fassen wir das Argument zusammen, das in seinen Details höchst komplex ist, indem wir sogleich darauf hinweisen, dass die Phantasie nicht die Imagination ist, sei diese nun ein Bildbewusstsein, das durch einen materiellen Träger gestützt wird, oder das Bewusstsein eines entworfenen oder einen Augenblick festhaltendes Bildes, von dem aus Husserl die ,,Phantasieerscheinung" beschreibt. Das Wesentliche der Husserlschen Analysen der Phantasie lässt sich in einem Bündel korrelativer Elemente zusammenfassen. Zunächst ist das "Selbst" des phantasierenden Subjekts in der Phantasie verloren oder in einer "Selbstverlorenheit" oder "Selbstvergessenheit" vergessen, die zunächst von gleicher Art zu sein scheint wie diejenige, die wir im Allgemeinen in der natürlichen Einstellung am Werk gesehen haben, was sie jedoch tatsächlich gar nicht ist. Wenn man die Analysen der Vorlesung von 1904/05 zur Hand nimmt, so liegen die spezifischen Charakterzüge der Phantasieerscheinungen in ihrem proteusartigen, mehr oder weniger dunklen Aspekt, in ihrer Flüchtigkeit und ihrer Wechselhaftigkeit, in ihrem blitzhaften Aufscheinen und schließlich in ihrer Unregelmäßigkeit, die einen Bruch mit all dem darstellt, was die Kontinuität der Zeit ausmachen würde, nämlich die kontinuierliche Übertragung von Erscheinung zu Erscheinung im Gang der Wahrnehmung (Hua xxm, S. 58-63). Wenn man hinzunimmt, dass die wahrgenommenen "Gegenstände" in der I 2
Husserl, Edmund, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung (1898-1925), (Hua XXIII), hg. von Eduard Marbach, Den Haag 1980. Husserl, Edmund, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phiinomenologisehen Reduktion, (Hua VIII), hg. von RudolfBoehm, Den Haag 1959.
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Phantasie nicht gegenwärtig sind, obwohl sie dort im Erscheinen begriffen sind, und dass die phantasmata (q,av'taoJHl'ta), die "sinnlichen Anteile" der Phantasieerscheinungen, gleichfalls nicht gegenwärtig sind (wie dies die aisthemata (atcr9J,1a'ta), die Empfindungen, sind), versteht man, dass das "Ordnungssystem [regime]" der Verzeitlichung der Phantasie sich stark von demjenigen der wahrnehmungsmäßigen Apperzeption unterscheidet. Dieser Unterschied geht so weit, dass (Husserl sagt dies mehrmals) der in der Phantasie aufgefasste "Gegenstand" keinen bestimmten zeitlichen Ort im Zeitstrom hat (Hua XXIII, S. 551f). Man muss also in Anbetracht der Tatsache, dass es gleichwohl ein "phantasierendes" Subjekt gibt, das sich ausweist, zugeben (und zwar jenseits dessen, was Husserl selbst gedacht hat), dass die Verzeitlichung der Phantasie diejenige einer Anwesenheit ist, oder besser gesagt eine Verzeitlichung in Anwesenheit, ohne eine anders als durch Abstraktion zuschreibbare Gegenwart, und dass die Phantasieerscheinungen immer schon ursprünglich in Retentionen und Protentionen in (und nicht von) der Anwesenheit sind, ohne jemals gegenwärtig zu sein oder sein zu müssen. 3 Anwesenheit ohne Gegenwart, also eine Anwesenheit, die sich schafft, indem sie ihre Zeit schafft, die von nun an gerade nicht kontinuierlich ist, die nicht mehr auf die lebendige Gegenwart zentriert ist, die sich unwillkürlich unterbricht, um nach dem Belieben nicht eines Aktes, sondern einer Handlung, einer Aktivität, wieder aufzubrechen, die in sich selbst wechselhaft und unregelmäßig ist. Man fragt sich demgemäß, was für sie die Epoche bedeuten kann, wenn diese an einem Zeitpunk die Kontinuität des Fließens des Zeitstroms unterbrechen soll. Die Glanzleistung Husserls besteht darin, trotzdem in der angeführten Vorlesung der Ersten Philosophie etwas gewagt zu haben. Zunächst zeigt er, dass das "phantasierende" Subjekt nicht gänzlich in der Phantasie verloren oder vergessen ist, insofern deren Räumlichkeit die intentionale Einbindung eines Phantasieleibs als Nullpunkt der Orientierung und dadurch die Einbindung eines Phantasie-Ichs bezeugt, das von dem in die wirkliche Welt eingebundenen Ich unterschieden ist. Doch dieser "Phantasieleib" ist ebenso wie das "Phantasie-Ich" unbestimmt, und es ist natürlich nicht möglich, ihn wiederholt als solchen zu erfassen, denn das hieße, ihn zu verformen, indem er vom "Körperleib" aus wiederbestimmt würde, der in die wahrnehmungsmäßigen Apperzeptionen eingebunden ist (Hua XXIII, S. 301). Daher erstellt Husserl, um die Epoche bis in die Phantasie auszuweiten, gewissermaßen ein Simulakrum: Er fingiert die Fiktion eines Phantasie-Ichs, das jenes Ich darstellen würde, das niemals weder (sich selbst) gegenwärtig war noch sein wird, das gelebt hätte, wenn es die Selbstverlorenheit nicht gegeben hätte. Letztere wäre jene Aktivität der Phantasie als ein Akt der Wahrnehmung (eine Quasi-Wahrnehmung: Wahrnehmung des "phantasierten Gegenstandes", als ob er gegenwärtig ge3
Vergleiche die Stellen, an denen Husserl in Bezug auf das, was phantasiert wird, von einem Erscheinenden im Partizip Präsens und nicht im Präsens spricht (Hua XXIII, S. 68, 84, 86).
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wesen wäre), deren kontinuierlichen Gang (den es nie gab und nie geben wird) das Ich mittels der Epoche hätte unterbrechen können (was es angesichts jener der Phantasie eigenen Verzeitlichung nicht tun konnte). Es handelt sich also um eine Quasi-Epoche, jedoch nicht in der Phantasie, da dort nichts erscheint, sondern im "Fingieren" oder in der Fiktion, im Simulakrum. Und dieses Simulakrum (wahrhaftes eidolon (EtÖroAOV) des "phantasierenden" Bewusstseins) ist in dem Sinne ontologisch, dass es jenes mittels Verformung vorbestimmt. Das Simulakrum gestaltet die Phantasie in eine Quasi-Wahrnehmung um, vorbestimmt sie, indem es sie seinerseits nach dem Modell der wahrnehmungsmäßigen Apperzeption verformt, die ein prägnantes und universales Modell geworden ist, eine Matrize eines jeden Phänomens und einer jeden Phänomenalisierung durch die Epoche oder die Quasi-Epoche. Im Gegensatz zu den Aussagen Husserls verformt diese Fiktion, die dem ,,Phantastischen" die Einbildung [imaginaire] hinzufügt, jenes mittels einer anderen Struktur intentionaler Beziehung. Und die "Substruktion" wird zur Aporie, wenn man daran denkt, dass die Husserlsche Darstellung der Epoche die einzig mögliche ist. Dem ist jedoch nicht so, wenn man daran denkt, dass die Analysen der Phantasie und jene der intentionalen Einbindung des Phantasieleibs und des Phantasie-Ichs in die Phantasie bemerkenswerte phänomenologische Analysen sind (sie gehören zu den bemerkenswertesten, die Husserl uns gegeben hat) und dass sie offensichtlich nicht über jene "Simulation", sondern über eine wahrhafte Ausschaltung einer jeden intentionalen Wahrnehmungs struktur verlaufen. Dies stellte Husserl im Übrigen vor enorme Schwierigkeiten und stürzte ihn in die Zweideutigkeit der Quasi-Wahrnehmung (als ob der "phantasierte" Gegenstand gegenwärtig wäre, wobei das "als ob" dann die Dunkelheit einer "Modifikation" hat, sei sie auch ebenso ursprünglich wie die Nichtmodifikation der Wahrnehmung). Wo ist also in diesen Analysen die Epoche hingeraten? Worin besteht zumindest ihr impliziter phänomenologischer Status? Wenn man daran denkt, dass sie gerade dem Phänomenologen erlaubt, sich des Siegels der Stiftung der wahrnehmungsmäßigen Apperzeption und ihrer Struktur (bis hin zum Eintauchen in eine zumindest scheinbare Aporie) zu entledigen, muss man sagen, dass die Epoche nicht von dieser Stiftung abhängt, sondern sie mittels anderer Typen der Verzeitlichung überschreitet, insofern die Epoche sich anderen Stiftungstypen zu öffnen vermag, das heißt also anderen Typen intentionaler Strukturen. Wenn dem so ist, dann deshalb, weil die auf diese Weise des Abdrucks entbundene Epoche (letztlich diejenige des absoluten Zeitstroms als absoluter Subjektivität, die einem ontologischen Simulakrum als transzendentaler Matrize jeder Erscheinung und jedem Phänomen zugehört) sich in Wirklichkeit auch auf die intentionale Beziehung selbst beziehen kann, um die Erscheinungen und die Erscheinenden so aufzufassen, dass sie in unterschiedlichen Typen von Stiftungen, das heißt in Typen des Sinns und der intentionalen Strukturen, aufgenommen [pris] werden können. Das impliziert jedoch, dass die phänomenologische Reduktion ihren ganzen
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Sinn erhält: Reduktion auf das Phänomen als Nichts-als-Phänomen - mit der Aufgabe für uns, zu präzisieren, was darunter zu verstehen ist. 2. Die hyperbolische phänomenologische Epoche und das phänomenologische Flimmern der Phänomene Während die klassische phänomenologische (oder "Standard-") Epoche von Husserl darin besteht, die unterschiedlichen Typen der Doxa, wie sie sich mit den Gegenständen geben, auszuschalten und zu überraschen, um ihre Strukturen zu analysieren, besteht die phänomenologische (,,Nicht-Standard-") Epoche, die wir vorschlagen, und die wir aus Gründen, die sich noch zeigen werden, "hyperbolische phänomenologische Epoche" nennen, darin, bereits in den Erscheinungen und den Erscheinenden die intentionalen Strukturen selbst auszuschalten und zu überraschen, um jedes Mal einerseits offenzulegen, was der ihnen eigene Typ der Stiftung ist, und um andererseits zugleich zu dem vorzustoßen, was wir das ,,Phänomen als Nichts-als-Phänomen" nennen. Indem wir dies tun, sind wir uns bewusst, dass wir eine regelrechte Umgestaltung des Husserlschen Denkens vorschlagen, die jedoch immer noch Phänomenologie bleibt, wobei sie die Implikationen seiner Analysen und seiner Umsetzung der phänomenologischen Epoche radikaler als Husserl selbst vorantreibt. Wie Husserl immer wieder gefordert hat, muss man die Phänomenologie nicht als Lehre auffassen, sondern als ein Problem- und Fragenkomplex, dessen Befragung man methodisch verfolgen muss. Das Praktizieren der phänomenologischen Epoche und ihre Ausweitung auf die intentionalen Beziehungen und Strukturen bedeutet zugleich: I) In Betracht ziehen, dass alle Erscheinungen, die bei Husserl immer schon in Beziehungen, Strukturen und intentionalem Sinn (Wahrnehmung, Erinnerung, Vorwegnahme, Phantasie, Einfüh1ung usw.) eingebettet sind, ihrer primitivsten architektonischen Ebene äquivalent sind, wo sie nicht mehr apriori als Erscheinungen [apparitions] von diesem oder jenem Erscheinenden [apparaissant], sondern als Schein [apparence] und nichts als Schein erscheinen, wie in einer Art archaischer phänomenologischer Hyle, die nicht apriori kontinuierlich, sondern ursprünglich zersprungen ist und die an sich auf nichts anderes als auf sich selbst verweist. Es handelt sich um eine hyperbolische Epoche mit Bezug auf den hyperbolischen Zweifel von Descartes (der sehr wenig Beachtung durch Husserl erfährt), der, indem er alles ausschaltet, was sich von selbst zu verstehen scheint, in einer Art ursprünglicher Täuschung alles, was erscheint, als eine Art mehr oder weniger kohärenten Traum betrachtet, der dem "Ordnungs system" der "wilden" und "ungezügelten" Phantasie näher ist als dem Bildbewusstsein, das bereits einem Typ der Stiftung zugehört. Scheinbar enden wir mit dieser Täuschung, die nicht jene der Husserlschen Vernichtung der Welt ist (wo gleichwohl die Täuschung gestreift wird), in der
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Inkonsistenz, im Schatten des Nichtseins. Das Fingieren wird eher als Verstellung denn als "Imagination" verstanden, und es steht dem Husserlschen Fingieren konträr gegenüber. 2) Zugleich in Betracht ziehen, dass sich in all diesem Schein nichts findet, das apriori zu mir selbst gehört, zu uns selbst, zur wahrgenommenen, erinnerten, vorweggenommenen, phantasierten usw. Welt. Daraus folgt also, dass das Vorhaben, den Schein mit einem transzendentalen Bewusstsein (Husserl) oder einem Dasein (Heidegger) in Beziehung zu bringen, bedeutet, in die Eigenstruktur eines ontologischen Simulakrums einzutreten, das (durch seine Simulakrenstruktur (transzendentale Illusion), durch die intentionalen Strukturen oder auf einer zweiten Ebene durch die Strukturen der Sorge) dem Schein ein Sein (oder Nichtsein) und zunächst sich selbst Sein (oder eine Verortung in seiner Selbstdifferenz als ek-statische Öffnung zum Sein) zuzuschreiben scheint. Es bedeutet also, jede Ontologie, und sei sie "fundamental" im Sinne Heideggers, auf dieser architektonischen Ebene phänomenologischer ,,Primitivität" als ,,Effekt" eines Simulakrums aufzufassen, an das sich gewissermaßen die Stiftung des Subjekts als Individuiertes (folglich hier als individuelles philosophierendes Subjekt) anschließt. Man könnte sagen, dass diese Art einer hyperbolischen ursprünglichen Täuschung nur eine Fiktion produziert. Bei Descartes ist es die Fiktion des listigen Geistes, demgegenüber die Täuschung sich allerdings in einem Cogito auffangt, das die faktische Gewissheit zu existieren für denjenigen sichert, der vortäuscht (was man zumeist nicht gesehen hat). Doch dies sichert nicht nur (wie bei Descartes) das Cogito des phänomenologisierenden Subjekts und den Ort in der Faktizität abseits der reinen Fiktion ohne inhaltliche Bestimmung seiner Existenz. Es lässt vielmehr den Schein (apparences ) zwischen seinem Status möglicher Erscheinungen (apparitions), die durch eine Vermittlung in diese oder jene intentionale Struktur oder in diese oder jene Stiftung eines intentionalen Sinns aufgenommen [prises] werden können, und seinem Status als Schein, der sich anders zusammensetzen [se disposer] kann, und zwar nach anderen ,,Regeln" (prinzipiell sind dies jene der passiven Synthesis oder der Assoziation), wie ein Schein aus anderen Welten als der wirklich gestifteten Welt schweben, oder vielmehr ein Schein von Phänomenen als Nichts und als "Nichts-als-Phänomene". Diese sind also nicht Phänomene von etwas anderem als ihnen selbst, von Dingen, Gegenständen oder bereits an ihrem Platz befindlichen Ordnungen, sondern sie transzendieren das Wirkliche, das Phantastische, das Wirkmächtige, obwohl sie im selben Augenblick das alles zugleich zu sein scheinen, dies jedoch inchoativ (nach dem Vorbild der cartesischen Cogitationes) und in einer "Wildheit", die architektonisch jeder Stiftung von Sinn und von intentionalem Sinn vorausgeht. Diese Situation, auf die sich die hyperbolische phänomenologische Epoche öffnet, nennen wir "das
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phänomenologische Flimmern"\ worin unseres Erachtens wesentlich die phänomenologische Reduktion besteht (Reduktion auf das Phänomen, das zwischen seiner Erscheinung und seinem Verschwinden flimmert). Demgemäß beginnen die Erscheinungen unter sich Verbindungen zu knüpfen, auf der Rückseite jeder Stiftung, die durch Verzeitlichung und Verräurnlichung des intentionalen Sinns bestimmt ist. Daher neigen sie dazu, sich instabil, flüchtig und wechselhaft auf das eigentliche Feld der Phänomene als Nichts-alsPhänomene zurückzubeziehen, aus denen sie jedes Mal in einer ursprünglichen Mannigfaltigkeit wie sichtbare Fetzen der Phänomenalität erscheinen: Der Schein erscheint (wenn man sich metaphorisch auf das Flimmern eines Sterns beziehen mag) wie eine Art Licht ohne existierenden Träger; aber andererseits und dazu korrelativ ist der Schein nach Maßgabe dieser Instabilität immer im Begriff, von der einen oder anderen intentionalen Struktur eingenommen und dadurch in Erscheinungen zerschnitten zu werden, die intuitiv diesen oder jenen bereits gestifteten intentionalen Sinn erfüllen, der sehr wohl in den Klammem der Einklammerung verbleibt. Geht man also zum Status der Erscheinungen über (und bleibt man beim metaphorischen Bezug auf das Flimmern eines Sterns), scheint das "Licht" der Schein-Erscheinungen durch eine existierende Quelle ausgesandt zu sein - die Quelle der Stiftung, in der sie ihren Sinn finden. Allerdings scheint diese Bewegung unter dem Ordnungssystem der hyperbolischen Epoche ebenso instabil wie die erste zu sein, weswegen es sich gerade um ein Flimmern zwischen zwei Extrempolen handelt, das in seinem Zentrum von dem unbeherrschbaren Umschlag von einem Pol zum anderen bewohnt wird, der in allem der exaiphnes zu ähneln scheint, dem Platonischen Augenblicklichen des Parmenides, das bei Platon das Eine instabil zwischen der Bewegung und der Ruhe umschlagen lässt [vgl. I 56d--e]. Daraus resultiert auch, dass dieser augenblickliche Umschlag ohne Zeit, der folglich apriori von einer lebendigen Gegenwart, die sich mit ihren Retentionen und Protentionen verzeitlicht (dies war die Husserlsche Annahme oder "Substruktion"), abgekoppelt ist, das Zentrum der hyperbolischen Epoche darstellt. In dieser Epoche stürzt alles um, versteht sich nichts mehr von selbst, entwurzeln die Erscheinungen sich aus jeder vorgefertigten (bereits gestifteten) Wirklichkeit, gibt es aber immerhin noch etwas, z.B. das Zittern der Blätter in den Bäumen im Frühlingswind, das Rimbaud "das mit der Sonne entschwundene Meer" nannte, aber auch die Ewigkeit, die nicht metaphysisch, sondern das Außer-Zeitliche und Außer-Anekdotische des phänomenologischen Flimmerns als Phänomenalisierung der Phänomene ist. Diesen Moment kennen wir alle, ohne dafür Phänomenologen sein zu müssen, aber dies sind Momente, von der die Phänomenologie, so wie wir sie im Auge haben, mittels ["Ciignoternent" meint zunächst "Blinzeln", aber auch "Blinken", so beispielsweise im Fall elektrischer Leuchten. Da hier aber "clignoter" im Sinne eines wechselnden Aufblitzens zwischen zwei Punkten verwendet wird, wurde die weniger gebräuchliche Bedeutung "Flimmern" gewählt, die sich durch den mehrmaligen Bezug auf das "Flimmern" und "Glitzern" der Sterne gestützt sieht. Anm. von Th. Bedorf].
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einer eigenständigen (willentlichen) Anamnese methodischen Gebrauch machen muss. Das bedeutet trotz des Schwindels, der uns insbesondere angesichts des Bezugs auf den Parmenides von Platon ergreifen könnte, dass der (unbeherrschbare und ungreifbare) Umschlag, von dem wir sprechen, nicht einmalig sein kann, sondern ursprünglich vielfaItig ist, und dass folglich das von diesem Umschlag bewohnte Flimmern nicht im Singular, sondern im Plural zu konjugieren ist, also zugleich das Flimmern des Scheins auf seinen Scheinstatus hin und eben dieses Flimmern auf seinen Erscheinungsstatus hin meint. 5 Wenn nun der Schein, beständig wie "in Staub" zerfallen, vielfaItig auf seinen Scheinstatus hin flimmert, so darum, weil einerseits das Phänomen selbst, als dessen Phänomenalitätsfetzen sie erscheinen, auch (was wir soeben stillschweigend unterstellt haben) notwendigerweise am Ursprung ist, ein Ursprung, der eine inchoative und wahrhaftige Mannigfaltigkeit der Phänomene und nicht Eines darstellt; und weil andererseits die "Spiele" der augenblicklichen Umschlagsbewegungen der flüchtigen Versammlungen und Zerstreuungen des Scheins, die nach dem Belieben der Phänomenalisierung (aus architektonischer Sicht) noch archaischer nach dem Belieben der protoverräumlichenden und proto-verzeitlichenden Schemen der Phänomenalisierung auftreten. Diese Schemen führen dazu, dass sich die Scheinmodi6 nicht kongruent mit der Weise der Disziplinierung und der Trennung der Erscheinungen durch die intentionale Stiftung "zusammenfinden [associer]". Doch diese "Assoziationen", diese "passiven Synthesen", die von einer von Husserl nicht geahnten Tiefe sind, weil diese "Passivität" nur für das gestiftete Bewusstsein eine Passivität und daher im wörtlichen Sinne unbewusst ist (zumindest für seinen größten Teil), sind das stets flüchtige, instabile und wechselhafte Resultat der Mobilität der Schemen der Phänomenalisierung (weil sie augenblicklich anhalten können, um ebenso augenblicklich wieder "aufzubrechen"), die selbst wiederum wahrhaft phänomenologisch sind, weil sie im Prinzip von jeder Stiftung entbunden sind. Am anderen Pol des Flimmerns (dem der Scheinmodi hin auf ihren Erscheinungsstatus, die in intentionale Strukturen eingebunden werden) flimmern wie ebensolche Möglichkeiten diese Strukturen selbst, die jedoch dieses Mal als verschiedene apriorische Stiftungsstrukturen von intentionalem Sinn aufgefasst werden. Es eröffnet sich dadurch also die Möglichkeit, dieses Mal (indem das, was Husserl unter "genetischer Phänomenologie" verstand, über die zugleich eidetische und historische Verkettung der Stiftungen hinausgetrieben wird) die Genese der unterschiedlichen Typen der intentionalen Stiftungen selbst als Genese der fixierten Modi ins Auge zu fassen. Dies ist das Rätsel der Stiftung oder dessen, was wir 5
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[Was im Deutschen nicht ohne weiteres mitzuvollziehen ist; daher wird der Plural "clignotements" im Folgenden mit "Flimmerbewegungen" übersetzt. Anm. von Tb. Bedorf]. [Beim Plural von "Schein" "apparences" tritt ein ähnliches Problem auf, das mittels der Umschreibung "Scheinmodi" behelfsweise gelöst wird. Anm. von Th. Bedorf].
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unter "symbolischer Stiftung" der Verzeitlichung und der Verräumlichung der intentionalen Sinninhalte7 verstehen, die uns in eine intentionale Beziehung mit den stabilen "Gegenständen" stellen: Man versteht, dass der Übergang von der architektonischen Ebene des Scheins (die dazu neigt, sich im Flimmern zu den Phänomenen als "Nichts-als-Phänomenen" in Beziehung zu setzen) zur architektonischen Ebene der Erscheinungen (die durch einen Typ der Stiftung zum intentionalen Sinn in Beziehung gesetzt sind) eine Verformung ist, die wir eine "architektonische Umgestaltung" nennen, insofern sie auch ein Übergang im Hiatus ist, wo es von einer Ebene zur anderen keinerlei logischeidetische "Deduktion" oder mögliche inhaltliche Ableitung gibt. Dieser architektonischen Umgestaltung, die sich selbst gegenüber stets blind, anonym oder in Husserls Worten fungierend ist, entspricht dasjenige, was wir die "architektonische Reduktion" nennen: Diese besteht darin, die spezifische phänomenologische "Nahrung" der Stiftung zu erfassen, das heißt dasjenige, was in Husserls Worten in der intentionalen Beziehung immer im Überschuß und im unbestimmten Überschuss über sie besteht, und das daher durch die Umgestaltung wie von hinten oder von unten den stets dunklen Teil des Sinns ausmacht, das ihm [dem Sinn] noch etwas vom Lebendigen [a-vif] oder der Lebendigkeit der Phänomene verleiht. Die hyperbolische phänomenologische Epoche ist in der Tat so beschaffen, dass außer in der Abstraktion ein Pol des Blinkens sich niemals im anderen aufuebt, weil sie immer gemeinsam aufleuchten - der eine im anderen und der eine außerhalb des anderen. Gewiss muss die phänomenologische Analyse (wie bei Husserl) bis zu einen bestimmten Punkt mittels Fixierung in der Abstraktion vorgehen, doch ist sie nur dann phänomenologisch, wenn dieser Stillstand (der nicht in einer lebendigen Gegenwart, sondem in dem außerzeitlichen Augenblicklichen des Umschlags anhält) sogleich wieder in Bewegung versetzt wird in der Mannigfaltigkeit der Flimmerbewegungen mit ihren verschiedenen Stilen der Verzeitlichung und der Verräumlichung, die inchoativ apriori außerhalb der Logik und der Eidetik mittels der Proto-Verzeitlichungen und Proto-Verräumlichungen der Phänomene in Gang gesetzt werden. Aus all dem folgt, dass die Phänomene als "Nichts-als-Phänomene" unseren Sinnen und unserem Denken in gängiger Auffassung unzugänglich erscheinen. Aus diesem Grunde haben wir sie manchmal als "blanke Phänomene" bezeichnet: Im herkömmlichen Sinne sind sie unsichtbar, unsinnlich und undenkbar, mit einem Wort nicht erscheinend als solche, und die Phänomenologie strictu sensu als phänomenalisierendes Schema der Phänomene scheint sich wie bei Heidegger in eine Phänomenologie des Nichterscheinenden zu verwandeln. Jedoch gibt es in dieser Konzeption im Gegensatz zum Heideggerschen Seinsmonismus" nichts, was die Phänomene apriori zu einem EinsSein verdichten könnte: Nicht nur gibt es nichts Bestimmendes im Sein - die 7
[Ebenso ist die Übersetzung mit "Sinninhalte" der Versuch, die Schwierigkeit des Plurals "les sens" zu beheben. Anm. von Th. Bedorf].
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Stiftung löst sich ohne phänomenologischen Grund, aber nicht ohne phänomenologischen Ursprung von sich selbst ab; es gibt auch nichts apriori Bestimmendes in dem, was immer die unbestimmte und inchoative Mannigfaltigkeit der Phänomene ist, die sich im Innern ihrer selbst auf unbestimmte Weise als unbewusster, unbestimmter Bestand verl>reitet, der aber auch durch dasjenige verdunkelt und verdeckt wird, wodurch das Bewusstsein im Laufe seiner diskontinuierlichen oder unterbrochenen Genesen aufgrund seiner verschiedenen Typen der Stiftung gestiftet wird. In diesem Sinne sind die Phänomene "utopisch", denn sie selbst haben, im Verhältnis zu den Orten der Welt, an denen wir sind, keinen zuschreibbaren "Ort": Es ist keine "Topologie" ihrer schematischen Verkettungen möglich, weil es in ihnen weder Punkt (Zentrum) noch Nachbarschaft gibt'. selbst wenn das, was sich jedes Mal in ihnen, in ihrer Phänomenalisierung eröffnet, jedes Mal das Bevorstehen einer Welt ist, jedoch einer anderen Welt als derjenigen, in der wir uns immer schon befinden. Man kann sich also nun mit Recht fragen, inwiefern diese Phänomenologie noch eine ist, weil die Ausweisung durch die Erfahrung, die Husserl wichtig war, problematisch wird, zumindest am eigentlich phänomenologischen Pol des Blinkens. Wenn es in dieser Konzeption einer Umarbeitung der Phänomenologie eine "Ausweisung", eine ,,Bezeugung" gibt, so kann sie nur indirekt sein, und wir möchten hier, um zum Schluss zu kommen, ihre Möglichkeit in zwei Richtungen aufzeigen: 1. Die erste bringt uns über einen Umweg zur Phänomenologie der Phantasie zurück. Zunächst bewegt die hyperbolische Epoche, deren Zentrum die augenblickliche außerzeitliche Ausschaltung jeder habituellen intentionalen Beziehung ist, neben ihrer Funktion, die Husserlsche Epoche von ihrer kontinuistischen Konzeption der Zeitlichkeit zu entwurzeln, sich selbst im Flimmern und "erweckt" dadurch sozusagen das Flimmern des Scheins in den Phänomenen. Das bedeutet, die hyperbolische Epoche "erweckt" in der exaiphnes die augenblicklichen und mannigfaltigen Umschlagbewegungen der Scheinmodi zu den Phänomenen und der Phänomene zu den Scheinmodi als sichtbare Konkretisierungen ihrer Phänomenalität: Die Scheinmodi trennen sich von den Erscheinungen ab, und ihr vielfältiges Flimmern in Staubteilchen stellt (in der Phänomenalisierung, in der sie sich schematisieren, indem sie sich vergänglich und flüchtig gruppieren) das Schillern der Phänomene in ihrer Phänomenalität dar. Die hyperbolische Epoche ist von daher selbst instabil, selbst wenn sie in Anamnese einer unbeherrschbaren (insofern sie immer schon auf phänomenologisch primordiale Weise stattgefunden hat) hyperbolischen Epoche (und in Erinnerung an sie) methodisch praktiziert wird: Die Methode erlaubt uns nicht, uns auf Dauer stabil in ihr "einzurichten", um zu "sehen" (gecopetv), was geschieht, sondern sie zielt darauf ab, einen Habitus für einen bestimmten schwebenden Blick, den phänomenologischen Blick, zu stiften, 8
Diese wichtige Beobachtung verdanken wir J. T. Desanti.
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der den Schein hinter den Erscheinungen schweben lässt, ohne ihn fixieren zu können. Seine Fixierung würde ihn unmittelbar und blind in (sinnliche, phantastische, denkbare usw.) Erscheinungen umgestalten. Wie dem auch sei, etwas von diesen unbeherrschbaren und unverhofften "Spielen" der Scheinmodi untereinander schwebt irgendwo im Hintergrund der scheinbar ungezügelten Spiele der Phantasie und des Traums, das heißt der "Assoziationen", die dort im Einfall von jeder intentionalen Ausrichtung frei zu sein scheinen. Gewiss gibt es immer eine Doxa in der Phantasie, die gerade glaubt, immer etwas mehr oder weniger Bestimmtes wahrzunehmen. Doch abgesehen davon, dass diese "Bestimmung", wie bereits erwähnt, angesichts des proteusartigen, flüchtigen, wechselhaften, blitzhaften und unregelmäßigen Charakters der Phantasie stets problematisch ist (das präzise Ausmachen der darin enthaltenen intuitiven Darstellung wird praktisch unmöglich), und abgesehen von der Tatsache, dass die "Synthesen", die dort beispielsweise im Traum erfolgen, mit den Synthesen des Wachzustandes nicht kongruent sind, gibt es jene irreduzible Distanz der Phantasiewelt zur realen Welt, auf der Husserl ohne Unterlass insistiert hat, die die Phantasiewelt auf die Seite der Irrealität der zu den Phänomenen hin flimmernden Scheinmodi zieht. Wir interpretieren diese Distanz als das im Bewusstsein bestehende Echo auf die noch weitere Distanz, die zwischen dem eigentlich phänomenologischen Pol des Blinkens und seinem von der Stiftung bewohnten Pol besteht. Die Phantasiewelt ist sozusagen dem Feld des Scheins und der Phänomene als "Nichts-als-Phänomene" am nächsten, deren phänomenologische Wirklichkeit sie bezeugt. In dieser Hinsicht ist die Phantasiewelt eine indirekte Bezeugung dessen, was wir das wilde oder archaische phänomenologische Feld nennen, noch vor der Stiftung, die hier zunächst diejenige des Bildes ist, das gerade in einem Augenblick, der sich als Gegenwart in einem Strom bringen kann, die Phantasieerscheinung als Erscheinung von etwas (von einem erkennbaren "Gegenstand") fixiert. Und die hyperbolische Epoche müßte hier den Schein in seiner grundlegenden Unbestimmtheit spielen und schweben lassen, bevor er fixiert, aufgeteilt und als Bild, das die intentionale Struktur des Bildbewusstseins trägt, bestimmt wird. Wie wir in einer Wolke sofort die Figur eines Drachens zu erkennen glauben, muss man die Wolke als ,,Nichts-als-Wolke" schweben lassen, und damit zusammen das Flimmern anderer Formen und anderer Verbindungen in ihr. Das bedeutet, dass die phantasiai (q,av'tamat) und die Träume durch ihre schnellen, beweglichen, flüchtigen, wechselhaften, plötzlichen und unregelmäßigen Spiele eine indirekte, aber privilegierte Ausweisung des phänomenologischen Feldes in seiner archaischsten architektonischen Dimension darstellen. Das bedeutet auch, dass Husserl sich eher durch das implizite EinfUhren der hyperbolischen Epoche als durch eine Quasi-Epoche des Simulakrums oder des eidölon (€tÖOlAOV) des phantasierenden Bewusstseins seiner überaus erstaunlichen und feinsinnigen Phänomenologie der Phantasie geöffnet hat. 2. Die zweite Richtung ist gewagter, denn sie bezieht sich auf das, was eigentlich in den Schemen der Phänomenalisierung im Spiel ist. Sie bilden den
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Unterbau und das Gerüst der Phänomene als ,,Nichts-als-Phänomene" nur, indem sie eine Proto-Zeit und einen Proto-Raum als mannigfaltige ,,zeiten" vor der Zeit und als mannigfaltige ,,Räume" vor dem Raum in dem flimmernden Schema der augenblicklichen Umschlagbewegung im Zentrum der Flimmerbewegungen schaffen. Das bedeutet, dass es nicht zuvor bereits Anwesenheit (eine sich in Anwesenheit verzeitlichende Zeit, die zunächst keine zuschreibbare Gegenwart hat) und Umwelt als simul all dessen gibt, was da ist, in der zur selben Zeit oder der selben Zeit der Anwesenheit, die mit dem Raum des "alles zugleich" koextensiv ist. Das bedeutet einerseits, dass sich die Phänomene als "Nichts-als-Phänomene" in ihrer ursprünglichen Mannigfaltigkeit verketten, sich aber auch durch ihre Ununterschiedenheit überdecken, insofern ihre Unterscheidung nur augenblicklich und nur für uns sichtbar ist, in diesem oder jenen ebenso schwindelerregend schnellem wie erschreckend flüchtigem augenblicklichen Schillern. Es bedeutet andererseits, dass es durch diese unbestimmte Überdeckung niemals ein Phänomen gibt, das sich in seiner eigenen Phänomenalität reflektiert, um "seine" Fetzen der Phänomenalität als "seine" eigenen Scheinmodi erscheinen zu lassen, dass es also kein "PhänomenIndividuum( -Atom)" gibt, das die Grundlage oder das hypokeimenon "seiner" phänomenalen Eigenschaften abgäbe. Diese zutiefst paradoxe Situation bewirkt, dass jeder Schein, jeder sichtbare Fetzen der Phänomenalität ununterschieden die Spur einer Mannigfaltigkeit der Phänomene trägt, die in ihre Proto-Verzeitlichungen und Proto-Verräumlichungen verwickelt sind, ohne dass allerdings diese Mannigfaltigkeit als solche hätte in dem vorgefunden oder erkannt werden müssen, was die Anwesenheit eines Bewusstseins gewesen wäre und das insofern wiedererinnert werden könnte (das Augenblickliche hat keine Vergangenheit). Parallel dazu kann diese selbe Mannigfaltigkeit (sie selbst "unvordenklich" in den Worten Schellings oder "überschreitbar" in den Worten Maldineys) als solche nicht in dem vorweggenommen werden, was die Anwesenheit eines Bewusstseins im Zentrum einer vorhersehbaren Zukunft sein könnte (das Augenblickliche hat keine Zukunft). Und weil uns auf dieser architektonischen Ebene, wo nur von der Proto-Verzeitlichung und ProtoVerräumlichung des Augenblicklichen in ihm selbst außerhalb der Zeit der Umschlagbewegungen die Rede sein kann, der Rückgriff auf die Husserlsche mit Protentionen und Retentionen ausgestattete Gegenwart versagt ist, muss die Proto-Verzeitlichung gleichwohl in den transzendentalen Zeithorizonten ohne Voraussetzung einer Gegenwart sowie ohne Voraussetzung einer Anwesenheit liegen, die in sich immer schon, wenn auch ohne zuschreibbare Gegenwart, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft enthielte. Es braucht also Zeithorizonte auf derselben architektonischen Ebene wie das Augenblickliche, das heißt solche, die nicht als seine Eigenschaften (oder seine Horizonte) aufgefasst oder vorgestellt werden können: Es können nur solche einer transzendentalen (immer und für immer unvordenklichen) Vergangenheit von Phänomenen sein, die zumindest apriori nie anwesend gewesen sind, sowie solche einer transzendentalen (f\ir alle Zeit unentwickelten) Zukunft von Phänomenen,
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die zumindest apriori nie anwesend sein dürfen. Der den Scheinmodi als Nichts-als-Schein eigene phänomenologische Charakter (als sichtbare Fetzen der Phänomenalität einer apriori unbestimmten Mannigfaltigkeit der Phänomene, die immer schon in ihren proto-verzeitlichenden und protoverräumlichenden Schemen befangen sind) muss von daher zugleich als transzendentale Wiedererinnerung jener transzendentalen Vergangenheit wie als transzendentale Vorahnung jener transzendentalen Zukunft erscheinen, das heißt zugleich für immer unvordenklich, weil sie von weiter her als jede Erinnerung kommen, und für immer unreif, weil sie weiter gehen als jede Vorwegnahme. Dies ist für uns im Lichte der Erfahrung die proto-verzeitlichte Version des Augenblicklichen, die wie die Rimbaudsche Ewigkeit aussieht, hier aber phänomenologisch transzendentale Ewigkeit ist: Sie bewirkt, dass gelegentlich jene Farbe (nach dem Vorbild des Gelben von Bergotte), jene "Stimmung", jene Landschaft usw. uns vom Nirgendwo mit Blick aufs Nirgendwo aufzutauchen scheint, uns auf rätselhafte Weise bis in unsere innersten Tiefen umwendet, uns wie eine "göttlichen Überraschung" rührt, uns unserem Alter und den Kontingenzen des Lebens entreißt, indem sie uns den Eindruck verschafft, wir seien niemals gealtert und würden niemals altem müssen, wie in einer Art Sehnsucht des Unerreichbaren, woraus der Tod, aber auch die Geburt und das Leben in ihrem ganzen Profil heraustreten, als ob wir dadurch noch und immer noch erst am Saum der Welt oder der mannigfaltigen Welten wären, die wir lediglich erahnen. Dies ist gewiss eine privilegierte Erfahrung einiger Künstler, die aber gleichwohl einen eigenen phänomenologischen Status hat, nämlich denjenigen, von der Proto-Verzeitlichung und ProtoVerräumlichung der Phänomene zu zeugen, sowie davon, dass diese nicht nur eine schlichte spekulative Konstruktion ist, was Husserl und Fink so treffend als eine "phänomenologische Rekonstruktion" bezeichneten. Was die außerzeitliche, im Augenblicklichen befindliche Ausschaltung der Epoche und derjenigen Epoche anbelangt, die wir die hyperbolische phänomenologische Epoche genannt haben, so ist dies ohne Zweifel eines der unergründlichsten Rätsel unserer conditio humana, derer wir fähig sind: Diese Weise, Abstand nehmen zu können, und sei es nur für Augenblicke (und weiter weg als von der Zeit oder der ursprünglichen Verzeitlichung), Abstand nehmen zu können im Verhältnis zur Welt, zu den Dingen und zur Zeit, diese Art, nicht ganz davon eingenommen zu sein, ist ohne Zweifel dasjenige, was uns am stärksten von den Tieren unterscheidet, und keine Notwendigkeit, welcher Art und welcher Kraft sie auch sei, wird dies erklären oder aufheben können. Es im Sein zu installieren (und sei es im Sein als Sein), würde bedeuten, es unwiderruflich erstarren zu lassen. Aus dem Französischen von Thomas Bedoif, Antje Kapust und Rudolf Bernet
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DIE REDUKTION UND DAS UNSICHTBARE Setzt die Phänomenologie die transzendentale Reduktion voraus, oder ist diese Reduktion unphänomenologisch? Ist die Reduktion unentbehrlich oder gehört sie in Wirklichkeit zum traditionellen metaphysischen Ballast, den die Phänomenologie möglichst schnell abwerfen sollte? Welche Verbindung besteht zwischen der Reduktion und dem Unsichtbaren? Kann Erstere uns zum Letzteren führen? Ich möchte nachfolgend diese Fragen diskutieren. 1. Die transzendentale Reduktion Es geht also zunächst darum, inwiefern die Phänomenologie ohne die Reduktion auskommen kann. Für Husserl selbst war die Sache ganz eindeutig. Wie er mehrfach betonte, z.B. in den Ideen I und den Ideen III, verfehlt man völlig den Sinn der Phänomenologie, wenn man die transzendentale Reduktion als eine irrelevante Sonderlichkeit betrachtet. Das Wort mag man benutzen, die Sache aber hat man nicht. l Nichtsdestoweniger ist oft behauptet worden, dass die späteren Phänomenologen die Reduktion fallen lassen haben, und zwar weil sie im Grunde genommen unphänomenologisch sei. Betrachten wir diese Kritik, die man u.a. bei Hubert Dreyfus finden kann, ein bissehen näher. Dreyfus behauptet, dass man Husserls Reduktion als den Versuch, ein apodiktisches Fundament der Wissenschaften zu etablieren, einschätzen muss. Husserl zufolge solle das Fundament nämlich im transzendentalen Bewusstsein gefunden werden, und um dieses in seiner Reinheit ergreifen zu können, bedürfe es eines Prozesses der Reinigung, der alle externen oder transzendenten Bestandteile vom Bewusstsein beseitigen müsse. Dreyfus interpretiert die Reduktion als eine Einstellungsänderung. Statt weiterhin den weltlichen Gegenständen oder unseren psychologischen Erlebnissen Aufmerksamkeit zu schenken, sollen wir uns auf diejenigen mentalen Repräsentationen richten, welche die Intentionalität ermöglichen. 2 Dreyfus zufolge ist Husserls Intentionalitätstheorie somit eine Analyse der Weise, wie ein selbstgenügsames und weltloses Bewusstsein sich durch mentale Repräsentationen auf eine externe Welt richten kann, und er definiert Husserls Phänomenologie deshalb
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Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen phie lll, (Hua V), hg. von Marly Biemel, Den Haag 1971, S. 155; Husserl, Edmund, einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, (Hua II1, 1 von Karl Schuhmann, Den Haag 1976, S. 200. Dreyfus, Hubert L.I Hall, Harrison (Hg.), Husserl, Intentionality and Cognitive Cambridgel London 1982, S. 6.
PhilosoIdeen zu - 2), hg. Science,
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als eine Untersuchung, die sich ausschließlich für die nach der Reduktion zurückbleibenden "mentalen Repräsentationen" interessiert. 3 Vor diesem Hintergrund ist es leicht, Husserl zu kritisieren. Man kann ohne weiteres feststellen, dass Husserl naiv eine unüberbrückbare Subjekt-Objekt Spaltung von der Tradition übernommen hat, was ihn mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten konfrontierte. Durch die Trennung von Bewusstsein und Welt verliert Husserl nämlich nicht nur die Welt aus dem Blick, um sie dann niemals, trotz seiner gegenteiligen Behauptungen, wiederzugewinnen. Auch die Intersubjektivität und die konkrete leibliche Subjektivität können durch dieses Verfahren nie angemessen behandelt werden. Wenn die Phänomenologie aber grundsätzlich dazu verpflichtet ist, die Vielfalt der Phänomene zu respektieren und adäquat zu beschreiben, das heißt, wenn die Phänomenologie ausgesprochen anti-reduktionistisch sein möchte, muss diese reduktionistische Reduktion eben als anti-phänomenologisch bezeichnet und deshalb konsequenterweise abgelehnt werden. Eine derartige Charakteristik der Husserlschen Reduktion ist leider nicht aussergewöhnlich, aber es geht um eine Karikatur. Niemand wird wohl bestreiten, dass man bei Husserl cartesianische Elemente finden kann. Dass sein Begriff der Reduktion mit diesem Cartesianismus untrennbar verbunden ist, muss aber bestritten werden. Es ist weder wahr, dass das Ziel der Reduktion darin besteht, den Inhalt einer reinen weltlosen Subjektivität darzulegen. Noch ist es wahr, dass Husserls Phänomenologie wegen der Reduktion sich ausschließlich mit den Mechanismen des intentionalen Bezugs beschäftigte und sich keineswegs mit metaphysischen oder ontologischen Fragestellungen befasste. Husserl behauptet zwar, dass wir (um illegitime Vorurteile bezüglich des ontologischen Status der Welt zu vermeiden) eine radikale Reduktion auf das phänomenologisch Gegebene vornehmen müssen. Aber diese Reduktion impliziert nicht eine Aufhebung oder Ausschaltung der transzendenten Welt. Ganz im Gegenteil. Sie ist nicht eine Methode, die Welt preiszugeben, sondern sie wird vollzogen, um die Welt verständlich zu machen, d.h. sie ist eine Methode, sich so zur Welt zu verhalten, dass sie ihren eigenen Sinn enthüllt. 4 Und jetzt vom Sinn zu sprechen impliziert nicht, dass das wirkliche Sein und Sosein der Welt aus dem phänomenologischen Forschungsgebiet irgendwie ausgeschaltet ist. Eigentlich ist es, wie Husserl in Erste Philosophie II schreibt, besser, die Rede von der "Ausschaltung der Welt" ganz zu vermeiden, insofern als sie eben leicht zu der Meinung verfuhrt, die Welt sei kein Thema der Phänomenologie. In Wirklichkeit umspannt die transzendentale Forschung "in ihrem Thema auch die Welt selbst, nach all ihrem wahren Sein" (Hua VIII, S. 432). Wie es auch in der Krisis heißt: "Es gilt insbesondere und vor allem, zu 3
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Dreyfus, Hubert L., Being-in-the-World, Cambridgel London 1991, S. 50, 74. Husserl, Edmund, Erste Philosophie II (1923-24), (Hua VIII), hg. von Rudolf Boehm, Den Haag, 1959,S.457.
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zeigen, dass sich dem Philosophierenden durch die Epoche eine neue Art des Erfahrens, des Denkens, des Theoretisierens eröffnet, in der er, über sein natürliches Sein und über die natürliche Welt gestellt, nichts von ihrem Sein und ihren objektiven Wahrheiten verliert [ ... ]."5 Um es anders zu formulieren: Allmählich bezieht die Phänomenologie wieder alles ein, was sie am Anfang aus methodologischen Gründen ausgeschaltet hat: "Die Ausschaltung hat zugleich den Charakter einer umwertenden Vorzeichenänderung, und mit dieser ordnet sich das Umgewertete wieder der phänomenologischen Sphäre ein. Bildlich gesprochen: Das Eingeklammerte ist nicht von der phänomenologischen Tafel weggewischt, sondern eben nur eingeklammert und dadurch mit einem Index versehen. Mit diesem aber ist es im Hauptthema der Forschung." (Hua III, S. 107, 159; Hua VI, S. 155, 184) Die Ausschaltung der Welt ist genau besehen die Ausschaltung eines naiven Vorurteils bezüglich des ontologischen Status der Welt: "Nicht ist die reale Wirklichkeit ,umgedeutet' oder gar geleugnet, sondern eine widersinnige Deutung derselben, die also ihrem eigenen, einsichtig geklärten Sinne widerspricht, ist beseitigt." (Hua III, S. 120, Hua VIII, S. 465) Die Epoche und die Reduktion implizieren somit keinen Verlust; sie zu vollziehen heißt keineswegs, unsere AufmerksaInkeit von der Wirklichkeit abzuwenden, sondern ermöglicht uns im Gegenteil, sie auf eine neue Weise zu untersuchen, nämlich in ihrer BedeutsaInkeit und Manifestation für die Subjektivität. Die Epoche und die Reduktion zu vollziehen heißt eine Änderung der Einstellung durchzufuhren, die eine fundamentale Entdeckung und dadurch Erweiterung unserer Erfahrungssphäre ermöglicht. 6 Hierzu heißt es: ",Die' Welt ist nicht verloren gegangen durch die Epoche, sie ist nicht überhaupt Enthaltung hinsichtlich des Seins der Welt und jedes Urteils über sie, sondern sie ist der Weg der Aufdeckung der Korrelationsurteile, der Reduktion aller Seinseinheiten auf mich selbst und meine sinnhabende und sinngebende Subjektivität mit ihren Vermöglichkeiten. "7 Husserl spricht in § 32 der Krisis deshalb auch von der Dimensionserweiterung , die durch die Epoche und die Reduktion zustande gebracht wird, eine Erweiterung, die mit dem Übergang vom zweidimensionalen zum dreidimensionalen Leben verglichen werden kann (Hua VI, S. 120). Plötzlich enthüllt sich die ständig leistende, aber bis dahin verborgene, transzendentale Subjektivität als die unentbehrliche konstitutive Dimension. Die Epoche zu vollziehen, heißt die Welt bzw. ihre Gegenstände weiterhin nur als Geltungskorrelate zu erwägen. Das heißt, sie dürfen nur in ihrem Erinnert-, Wahrgenommen-, Vorgestellt-, Beurteilt-, Bewertetwerden etc. untersucht werden, also in ihrer 5 6
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Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, (Hua VI), hg. von Walter Biemel, Den Haag 1962, S. 154 - 155. Siehe Hua VI, S. 154, auch: Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, (Hua I), hg. von Stephan Strasser, Den Haag 2. Aufl. 1963, S. 66. Husserl, Edmund, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, (Hua XV), hg. von Iso Kern, Den Haag 1973, S. 366.
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Korrelation zu einer Erinnerung, Wahrnehmung, Vorstellung, Beurteilung, Bewertung etc. Somit wird die Subjektivität, die sie erfährt, indirekt zum Thema gemacht, da der phänomenologische Zugang zur Welt notwendigerweise über ihre Erscheinung für die Subjektivität geht (Hua VIII, S. 263). Dieser Vorgang tritt besonders deutlich in Husserls sogenanntem ontologischen Weg zur Reduktion zum Vorschein. Dort hebt er nämlich hervor, wie die phänomenologisch-konstitutive Forschung stets in zweiseitigen (sich dabei wechselweise bestimmenden) Schritten vorgeht. Die Aufklärung einer bestimmten ontologischen Region, die dann als transzendentaler Leitfaden bezeichnet wird, führt systematisch auf das sie konstituierende Bewusstsein zurück, wobei die Objektivitäten als Leistungen der korrelativen Strukturen des Bewusstseinslebens nach Sinn und Sein verständlich gemacht werden. 8 Die Explikation der konstitutiven Subjektivität steht also in einem untrennbaren Zusammenhang mit einer philosophischen Erforschung der Welt. Um Klaus Held zu zitieren: "Die phänomenologische Reduktion ist keine ,reduktionistische ' Verkürzung. Den Glauben der natürlichen Einstellung an die Bewusstseinsunabhängigkeit des Seins der Gegenstände nicht mitmachen bedeutet nicht: den Gegenständen keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Im Gegenteil: Nur durch Reflexion lässt sich der Gehalt der Gegenstände so analysieren, wie er sich unverkürzt originär dem Bewusstsein darbietet, und erst durch Epoche und phänomenologische Reduktion öffnet sich die Reflexion vorbehaltlos der Analyse der originären Gegebenheitsweisen. Die transzendentale Phänomenologie sieht nicht von der Welt ab zugunsten des Bewusstseins, sondern ihr Interesse gilt gerade in der Durchleuchtung der Bewusstseinsphänomene der Welt. Letztlich interessiert den Transzendentalphänomenologen das Bewusstsein nur als Ort des Erscheinens der Welt. "9 Da Husserls Bewusstseinsanalyse mit einer philosophischen Erforschung der Welt Hand in Hand geht, sollte es eigentlich klar sein, dass Husserls Interesse keineswegs einer weltlosen und isolierten Subjektivität gilt. Daher kann er z.B. in Cartesianische Meditationen und in Erste Philosophie II auch schreiben, dass es verfehlt ist, Phänomenologie und Ontologie scharf trennen zu wollen. Die voll entwickelte transzendentale Phänomenologie ist nämlich eo ipso die wahre und echte Ontologie (Hua I, S. 138; Hua VIII, S. 215). Zu behaupten, dass Husserls Phänomenologie ohne ontologische oder metaphysische Implikationen ist, beinhaltet auch das Missverstehen seiner Intentionalitätstheorie und des transzendentalphilosophischen Charakter seines Denkens. Somit lehnt Husserl denn auch jede anti-metaphysische Interpretation seiner Phänomenologie ganz explizit ab: "Schließlich möchte ich, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, darauf hinweisen, dass durch die Phänomeno-
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Husserl, Edmund, Formale und transzendentale Logik, (Hua XVII), hg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, S. 270; Vgl. auch Hua VI, S. 175. Vergleiche hierzu die Einleitung von Klaus Held in: Husserl, Edmund, Die phänomenologische Methode: Ausgewählte Texte I, Stuttgart 1985, S. 5 - 51, hier S. 41.
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logie nur jede naive und mit widersinnigen Dingen an sich operierende Metaphysik ausgeschlossen wird, nicht aber Metaphysik überhaupt." (Hua I, S. 38f.) Ebenso gibt er zu verstehen: ,,Die Phänomenologie ist anti-metaphysisch, sofern sie jede in leer formalen Substruktionen sich bewegende Metaphysik ablehnt. Aber wie alle echten philosophischen Probleme kehren alle metaphysischen auf phänomenologischem Boden wieder und finden hier ihre echte aus der Intuition geschöpfte transzendentale Gestalt und Methode. "10 Eine ähnliche Interpretation wird von Husserls beiden langjährigen Assistenten vertreten. Während Landgrebe behauptet, dass die Reduktion Husserls Zugangsweg zu den Grundfragen der Metaphysik ist ll , schreibt Fink in einem Aufsatz von 1939, dass nur ein fundamentales Verkennen der Phänomenologie zu dem fast unausrottbaren Irrtum des immer wieder angeführten Einwands führen kann, die Phänomenologie Husserls sei an der ,Realitätsfrage' und am Seinsproblem uninteressiert, sie habe das Seiende nur als subjektives Meinungsgebilde, als Sinnmoment des intentionalen Bewusstseinslebens zum Thema. 12 Vor diesem Hintergrund möchte ich behaupten, dass die Kritik von Dreyfus sich auf eine Reihe von Missverständnissen gründet und dass eine recht verstandene Reduktion tatsächlich für die Phänomenologie unentbehrlich ist. Die Reduktion soll weder als der Versuch, eine voraussetzungslose apodiktische Grundlage zu etablieren, verstanden werden, noch als der Versuch, ein reines weltloses Ich zu isolieren, sondern vielmehr als ein Versuch, die Prinzipien und Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens zu enthüllen. Genau besehen ist die Phänomenologie weder eine genaue Beschreibung von den erscheinenden Gegenständen noch eine sorgfaItige Untersuchung verschiedener Phänomene, sondern eine Erforschung der Phänomenalität oder der Offenbarung der Phänomene und eine Analyse ihrer Möglichkeitsbedingungen. 13 Wenn man die Phänomenologie von diesem transzendentalen Unternehmen trennt, so besteht die Gefahr, dass man die phänomenologischen Analysen mit psychologischen oder anthropologischen Beschreibungen verwechselt. Die These von der Unentbehrlichkeit der Reduktion wird natürlich mit einem entscheidenden Problem konfrontiert. Die späteren Phänomenologen sprechen nicht gerade häufig von der Epoche und Reduktion, und wie schon erwähnt, ist diese Tatsache oft so interpretiert worden, dass sie grundSätzlich Husserls Instrumentarium abgelehnt haben. Falls die Reduktion aber für die Phänomenologie unentbehrlich 10 11
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Husserl, Edmund, Phänomenologische Psychologie, (Hua IX), hg. von Walter Biemel, Den Haag 1962, S. 253. Landgrebe, Ludwig, Der Weg der Phänomenologie. Das Problem der ursprünglichen Erfahrung, Gütersloh 1963, S. 26. Fink, Eugen, "Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls,", in: Revue International de Philosophie 1, (1939), S. 226 - 270, hier S. 257. Henry, Michel, L'essence de la manifestation, Paris 1963, S. 14, 32, 64, 67; Henry, Michel, "Le concept d'äme a-t-il un sens?", in: Revue philosophique de Louvain 64, (1966), S. 5 - 33, hier S. 5.
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ist, und falls die späteren Phänomenologen keinen Gebrauch davon machen, heißt das dann, dass Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty etc. in Wirklichkeit keine Phänomenologie betreiben und deshalb auch keine Phänomenologen sind? Lässt diese problematische Folgerung sich vermeiden, ohne die oben erwähnte These aufzugeben? In der Tat, denn ohne in diesem Kontext weiter darauf eingehen zu können, möchte ich behaupten, dass man in Wirklichkeit auch bei den späteren Phänomenologen eine Variante der Reduktion finden kann. Sie hat zwar nicht dieselbe zentrale methodologische Rolle wie bei Husserl, aber sie ist nichtsdestoweniger im Spiel. Und wenn einige der Phänomenologen sich explizit gegen die Epoche und die Reduktion geäussert haben, hat das u.a. damit zu tun, dass sie, wie so viele andere, sich gegen Husserls cartesianischen Weg zur Reduktion wenden. Diese These lässt sich im Rahmen dieses Beitrages nicht bis ins Detail unterbauen, aber ich möchte wenigstens einen Hinweis geben und wähle als Beispiel Heidegger, da seine Analyse vom In-der-Welt-sein des Daseins oft so interpretiert worden ist, als ob sie die Epoche und Reduktion erübrige würde. Ist das aber wirklich wahr oder setzt Heideggers Analyse, wie schon MerleauPonty behauptet hat l 4, im Gegenteil die Reduktion voraus? In den Ideen I beschreibt Husserl die natürliche Einstellung und behauptet, dass die Grundstruktur unseres Weltverhältnisses wie auch die Eigenart unserer Subjektivität verhüllt bleiben, solange wir naiv in dieser vorphilosophischen Einstellung leben (Hua III, §§ 27-33). Um zu entdecken, dass unsere Subjektivität nicht einfach ein weiterer Gegenstand in der Welt ist, bedarf es eines Bruchs mit der natürlichen Einstellung. Diese muss suspendiert werden. Bewegen wir uns nun von Ideen I zu Sein und Zeit. Heidegger schreibt: ,,Das verfallende Sein beim Nächstbesorgten der ,Welt' rtihrt die alltägliche Daseinsauslegung und verdeckt ontisch das eigentliche Sein des Daseins, um damit der auf dieses Seiende gerichteten Ontologie die angemessene Basis zu versagen. "15 Deshalb ist die ursprüngliche phänomenale Vorgabe dieses Seienden nichts weniger als selbstverständlich, wenn auch die Ontologie zunächst dem Zuge der alltäglichen Daseinsauslegung folgt: ,,Die Freilegung des ursprünglichen Seins des Daseins muss ihm vielmehr im Gegenzug zur verfallenden ontischontologischen Auslegungstendenz abgerungen werden [... ]. Die Seinsart des Daseins fordert daher von einer ontologischen Interpretation, die sich die Ursprünglichkeit der phänomenalen Aufweisung zum Ziel gesetzt hat, dass sie sich das Sein dieses Seienden gegen seine eigene Verdeckungstendenz erobert. Die existenziale Analyse hat daher für die Ansprüche bzw. die Genügsamkeit und beruhigte Selbstverständlichkeit der alltäglichen Auslegung ständig den Charakter einer Gewaltsamkeit"."16 Der Ausgangspunkt von Heideggers Analyse von Dasein ist zwar die Alltäglichkeit des Daseins, aber es gehört nicht zu 14
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Merleau-Ponty, Maurice, Phenominologie de la perception, Paris 1945, S. ix. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 16. Aufl. 1986, § 63, S. 311. Heidegger, ebd., S. 311.
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dieser Alltäglichkeit, dass sie sich selbst analysiert. Wenn wir die Alltäglichkeit thematisieren möchten, wenn wir ihre Grundstruktur explizieren möchten, können wir nicht einfach weiterhin alltäglich leben. Wir müssen im Gegenteil ihre Verdeckungstendenz bekämpfen, um ihr dadurch ihre Eigenart abzuringen. Diese Art von Überlegung wird einem Husserlianer nicht gerade unbekannt erscheinen. Darüber hinaus kann Z.B. darauf hingewiesen werden, dass Heidegger selbst gelegentlich vom Begriff der Reduktion Gebrauch gemacht hat. So schreibt er: ,,Das Grundstück der phänomenologischen Methode im Sinne der Rückführung des untersuchenden Blicks vom naiv erfassten Seienden zum Sein bezeichnen wir als phänomenologische Reduktion. ,m 2. Die Phänomenologie des Unsichtbaren Nach dieser kurzen Darstellung möchte ich zum zweiten Teil meines Beitrags übergehen. Die Frage ist jetzt, wie die Reduktion sich zur Phänomenologie des Unsichtbaren verhält. Ist Letztgenannte das Ergebnis einer radikalisierten Reduktion oder impliziert sie im Gegenteil eine Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Projekt und seine Überwindung? In seinem Buch Le tournant theologique de la phenomenologie fran~aise hat Dominique Janicaud jüngst eine neue Wendung in der französischen Phänomenologie kritisiert. Michel Henry, Emmanuel Uvinas und Jean-Luc Marion haben die Phänomenologie zu radikalisieren versucht, indem sie das, was man als eine Oberflächenphänomenologie bezeichnen kann, überschritten haben. Keiner von ihnen gab sich mit bloßen Analysen von Objekterscheinungen oder Aktintentionalität zufrieden, vielmehr haben sie alle versucht, eine tiefere und ursprünglichere Dimension zu enthüllen - sei es der radikal Andere, die reine Immanenz oder Gott. Janicaud fragt nun, ob man diese Wendung überhaupt noch als phänomenologisch bezeichnen kann oder ob man sie nicht eher als metaphysisch oder theologisch betrachten soll. Ist es nicht paradoxal, ein Denken, das die Präzision und Klarheit des Sichtbaren verlässt, als phänomenologisch zu charakterisieren, um in die dunklen Regionen des Unsichtbaren zu versinken? Ist es letztendlich nicht einfach sinnlos, von einer Phänomenologie des Unsichtbaren zu sprechen? Ich glaube, man kann hier mit Vorteil zwischen zwei Fragen unterscheiden. Die erste ist, inwiefern die Wendung vom Sichtbaren zum Unsichtbaren phänomenologisch motiviert ist. Die zweite, inwiefern diese Untersuchung des Unsichtbaren noch als phänomenologisch bezeichnet werden kann. 17
Heidegger, Martin, Grundprobleme der Phänomenologie, 1989, S. 29. Für weitere Überlegungen zu Heideggers Verhältnis zur Epoche und Reduktion verweise ich auf Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (Berlin 1970, S. 262 - 264); auf lohn D. Caputo, "The question of being and transcendental phenomenology: reflections on Heidegger's re1ationship to Husserl" (in: Martin Heidegger - Critical Assessments I, hg. von C. Macann, London 1992, S. 326 - 344), und Courtine, Jean-Fran~ois, Heidegger et la phinomenologie, Paris 1990, S. 207 - 247.
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Als Antwort darauf (und gegen die Annahme, dass die Phänomenologie des Unsichtbaren nur ein neuer modischer Einfall ist) muss zunächst hervorgehoben werden, dass die Überschreitung der Oberflächen-Phänomenologie in der Tat so alt ist wie die Phänomenologie selbst. 1. Fangen wir mit Husserl an: Er hat seine eigene Untersuchung des inneren Zeitbewusstseins oft als eine Analyse der (phänomenologisch gesprochen) absoluten Dimension bezeichnet. In den Ideen I beschränkte Husserl sich noch auf eine Analyse der Beziehung zwischen den konstituierten Gegenständen und dem konstituierenden Bewusstsein. Er legte dar, wie die Gegebenheit von Gegenständen durch die Subjektivität bedingt ist, betonte ansonsten aber lediglich, dass Erlebnisse nicht in derselben (perspektivischen) Weise gegeben sind wie Gegenstände, ohne die Frage nach der Gegebenheitsweise der Subjektivität selbst weiter zu verfolgen. Vom phänomenologischen Standpunkt aus war ein solches Schweigen jedoch nicht akzeptabel. Jede Analyse der bedingten Erscheinung von Gegenständen entbehrt notwendigerweise solange einer Fundierung, wie die Gegebenheitsweise der subjektiven Bedingung im Dunkeln bleibt. 18 Husserl war sich dessen sehr wohl bewusst und gibt ausdrücklich zu, dass er in den Ideen I die wichtigsten Probleme unbearbeitet gelassen habe, gerade diejenigen nämlich, die mit dem inneren Zeitbewusstsein zusammenhängen. Nur eine Analyse des Zeitbewusstseins, so fügt er hinzu, könne das wahrhaft Absolute enthüllen (Hua III, S. 182). Eben deshalb erwies es sich auch als notwendig, diejenigen Ergebnisse, die die Reduktion freigelegt hat, nochmals zu untersuchen; d.h. um die Bedingungen der Sichtbarkeit zu enthüllen, musste man eigentlich eine noch radikalere Reduktion innerhalb der transzendentalen Reduktion durchführen. 19 Der Grund dafür, dass Husserl vom Absoluten spricht und der Analyse der Zeitlichkeit solch immense Bedeutung beimisst (sie macht rur ihn den wahren Kern der Phänomenologie aus), ist darin zu sehen, dass er sie nicht nur als bloße Untersuchung der zeitlichen Gegebenheit von Gegenständen versteht sondern letztendlich als eine Untersuchung der Bedingungen von Gegebenheit als solcher. Eine Analyse der Zeitlichkeit klärt nicht nur die Frage, wie es möglich ist, ein Bewusstsein von Gegenständen mit zeitlicher Ausdehnung zu haben (d.h. etwa von Gegenständen wie Melodien, die nicht mit einem Schlag erscheinen können, sondern sich nur in der Zeit entfalten), sondern sie ist letztlich auch eine Theorie der Selbstgegebenheit des Bewusstseins.20 18
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Sicher könnte man in Anlehnung an Kant die These vertreten, dass die transzendentale Bedingung selbst nicht gegeben und damit selbst kein Phänomen ist. Da aber eine solche Folgerung die Möglichkeit einer phänomenologischen Untersuchung der transzendentalen Subjektivität ausschlösse, ist sie keine akzeptable Lösung für einen Phänomenologen. Siehe die Manuskripte C 2 8a, C 7 14b, LI 17 9a. Ich möchte dem Direktor des HusserlArchivs in Leuven, Prof. Rudolf Bemet, für die Erlaubnis danken, Husserls unveröffentlichte Manuskripte einsehen zu dürfen. Zahavi, Dan, "The fracture in self-awareness", in: ders.: Self-awareness, temporality and alterity, Dordrecht 1998, S. 21 - 40; Zahavi, Dan, "Brentano and Husserl on Self-awareness",
DIE REDUKTION UND DAS UNSICHTBARE
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Husserl wusste sehr wohl, dass eine Beschreibung dieser passiv und anonym fungierenden konstitutiven Ebene mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, besonders weil die uns zur Verfügung stehende Begrifflichkeit aus unserem Umgang mit innerzeitlichen und innerweltlichen Gegenständen stammt. 21 Das Problem war somit, ob es überhaupt möglich ist, die Fundamentalbedingungen der Erscheinung zu beschreiben, ohne sie verfalschend als Gegenstände zu behandeln. Husserls Einsicht in die Schwierigkeit einer Untersuchung der fungierenden Subjektivität kommt deutlich in der folgenden Passage aus den Bernauer Manuskripten zum Ausdruck: "In diesem Sinn ist es also nicht ,Seiendes', sondern Gegenstück für alles Seiende, nicht ein Gegenstand, sondern Urstand für alle Gegenständlichkeit. Das Ich sollte eigentlich nicht das Ich heißen, und überhaupt nicht heißen, da es dann schon gegenständlich geworden ist. Es ist das Namenlose über allem Fassbaren, [das] über allem nicht Stehende, nicht Schwebende, nicht Seiende, sondern ,Fungierende', als fassend, als wertend usw.'