Die Seele: Eine Kulturgeschichte [1 ed.] 9783412509958, 9783412508975

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Die Seele: Eine Kulturgeschichte [1 ed.]
 9783412509958, 9783412508975

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»Ein großes Werk über das Schicksal der Seele.« Aftenposten, Jan-Erik Ebbestad Hansen

»Es ist befreiend, wenn ein Akademiker seine Kenntnis so unangestrengt […] wie Høystad vermittelt.« Dagbladet, Fredrik Wandrup

Die Seele Die meisten Menschen glauben, dass sie eine Seele haben, die wenigsten aber können erklären, was sie ist. Sie steht für etwas Innerliches und Persönliches, das schwer in Worte zu fassen ist. Ole Martin Høystad hat sich der Frage nach der Bedeutung der Seele angenommen und versucht, ihre tiefen, diffusen, mystischen sowie unauslöschlichen Seiten zu klären. Sein Buch zeichnet ihre Wirkungsgeschichte in den Werken bedeutender Philosophen und Literaten von der Antike bis in die Gegenwart nach. Es erzählt von der Entwicklung und den Verwicklungen der Seele, von ihrem Einfluss und ihrer Beeinflussung, von ihren historischen Verwandlungen sowie ihren Deutungen und Umdeutungen.

ISBN 978-3-412-50897-5 | W W W.BOEHL AU-V ERL AG.COM

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Ole Martin Høystad

Ole Martin Høystad ist Professor em. für Interdisziplinäre Kulturwissenschaften am University College of Southeast Norway – Bø in Telemark.

Die Seele Ole Martin Høystad Eine Kulturgeschichte

In der gesamten Menschheitsgeschichte war die Seele das Prisma, durch welches der Mensch und das Menschenleben betrachtet und erklärt wurden. Sokrates' Appell an die Athener Mitbürger, sich um ihre Seele zu sorgen, und die christliche Heilsbotschaft über die Bewahrung der Seele sind wesentliche Grundlagen für das Menschenbild der westlichen Kultur. Im Buddhismus und im Islam spielt das Schicksal der Seele in diesem und im nächsten Leben eine wichtige Rolle. Ole Martin Høystads neues Buch bietet ein umfassendes kulturhistorisches Panorama über das Phänomen der menschlichen Seele in Literatur, Kunst, Religion und Philosophie, das bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat und dessen Geschichte kontinuierlich fortgeschrieben wird.

28.08.17 11:27

Ole Martin Høystad

Die Seele Eine Kulturgeschichte Aus dem Norwegischen von Frank Zuber

2017 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Die Übersetzung und Veröffentlichung wurden mit der finanziellen Unterstützung von NORLA (Norwegian Literature Abroad) und des Research Council of Norway ermöglicht. Copyright © Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo, 2016. Norwegian edition published by Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo. Published by agreement with Hagen Agency, Oslo.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz und Reproduktionen: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50897-5

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 DAS DRAMA DER SEELE IN DER ANTIKE Die Mutter aller Seelen – Homers mythische Schatten . . . . . . . . . . . . Das Innere als Arena verschiedener Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Seele und das Schicksal. Der Mythos der Heimkehr . . . . . . . Psyches letzte Reise – Friede und Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . .

19 23 26 32

Die Erfindung der tiefsinnigen Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Alles fließt – Heraklits psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die Seele wird unsterblich – Orphiker und Pythagoreer . . . . . . . 40 Platons psyche erobert den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Der Lenker und der Zweispänner der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Dualismus, die Unsterblichkeit der Seele und ihre Bestimmung . 48 Der erste Psychologe – Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Die Seele wird zur Mode – Plotin und die Spätantike . . . . . . . . . . . . . 63 Unio mystica – Plotins Mystizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 DAS MITTELALTER Die sündige Seele im Christentum – Erlösung oder Verdammnis? . . Die ursprüngliche Bedeutung in der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus’ reuige anima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlösung durch stellvertretendes Leid und Nächstenliebe . . . . . .

77 80 86 93

Lasst alle Hoffnung fahren! – Dante und die Todesreiche des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die letzten Dinge – Eschatologie und Scholastik . . . . . . . . . . . . . . Ein existenzielles Seelendrama über jedermann . . . . . . . . . . . . . . . Francesca und die schicksalsschwere Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Purgatorium, Paradies und die Erlösung der Seele . . . . . . . . . . . .

97 101 104 108 111

Inhalt

5

DIE RENAISSANCE Der Zweifel ist mir lieb! – Der Skeptiker Montaigne . . . . . . . . . . . . . . . Ein leeres Inneres? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schrift und Beichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Seele als Abdruck des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ars vivendi – ars moriendi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117 119 121 126 130

Descartes’ denkende Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die anatomische Jagd auf die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Von anima zu ratio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 DIE AUFGEKLÄRTE SEELE Gott, Natur oder Vernunft – in der besten oder schlechtesten Welt . Body & mind – neues Begriffspaar und eine empirische Seele . . . Der Geist in der Maschine und die französischen Materialisten . Humes Seele: ein Bündel aus Eindrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145 148 155 157 161

Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant . . . . . . . . . 165 Kants leere Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Die Seele als regulatives Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die Aufhebung der Seele – Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Die Seele in einem anthropologischen System . . . . . . . . . . . . . . . . 182 DIE ROMANTIK Die empfindsame und ausdrucksvolle Seele der Romantik . . . . . . . . 189 Rousseaus natürliche Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Die Sprache des Expressivismus und der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Goethes strebende Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Leidenschaften des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Natur und die Bestimmung der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faust – die Wette um die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Liebestragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faust II – Schuft oder Held oder etwas anderes? . . . . . . . . . . . . . .

197 199 201 206 209 214

Kierkegaard zwischen Seele und Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Der Vater, die Psyche und die Erbsünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Regine und die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6Inhalt

»Das ist es, wonach meine Seele dürstet« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Kierkegaard als Psychologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Die Unsterblichkeit der Seele und der letzte Kampf – »Grüß alle Menschen!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 DIE SEELE IN DER WISSENSCHAFT Darwin und die Evolution – eine natürliche Seele oder seelenlose Natur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Die Evolution – eine Theorie über Herkunft und  Entwicklung ohne Endziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Ist die Seele Natur oder Kultur? Gene und Gentechnik . . . . . . . . 260 Die Seele wird zur Psyche – und geht zu Freud in die Therapie . . . . 269 Freuds unbewusste, irrationale und komplexe Psyche . . . . . . . . . . 275 Die Bedeutung Freuds und der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . 279 DIE RESTAURATION Der Psychologiephilosoph Nietzsche: »Eine der ehrwürdigsten Hypothesen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Umwertung des Verhältnisses von Körper und Seele . . . . . . . Die neue Seele und ihre anthropologische Bedeutung . . . . . . . . . Die unwillkürliche Biografie einer Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287 293 297 303

Die Literatur als Bühne der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce’ Ulysses . . . . . . . . . . . . . . 311 Leopold und Odysseus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Einfache und ganze Seelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Die verborgene Seele – Kafka und Der Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Der Prozess als Lebensbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 »Dieser Eingang war nur für dich bestimmt« . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles ist Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Psychologiephilosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Bildern gefangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

341 343 348 351

7

DIE SEELE IN ANDEREN KULTUREN UND IN UNSERER GEGENWART Das extreme Ziel des Buddhismus: Die Auflösung der Seele . . . . . . . Veda und die altindische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siddharta Gautama wird Buddha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ursachen und das Ende des Leidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nirwana und anatman – die endgültige Auflösung der Seele . . .

359 360 365 367 374

Die gefährdete Seele des Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Mohammed und die Grundlage der islamischen Seelenlehre . . . 382 Die Seele – nafs und rūh – im Koran und  der islamischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Eine kollektive Seele? Die Sorge um sich selbst und andere . . . . . . . . Hannah Arendt – das Individuum und die Gruppe . . . . . . . . . . . . Der Durchschnittsmensch Adolf Eichmann und das Böse . . . . . . Hatte Eichmann eine Seele? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

399 400 404 411

Schlusswort. Ein persönliches Palimpsest und eine Quelle der Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

8Inhalt

VORWORT

Damit der Leser sich besser in die Bedeutung der Seele in unserer Kultur hineinversetzen kann, nehmen Primärtexte von der Antike bis in unsere Zeit einen zentralen Platz in diesem Buch ein. So kommen die historischen Perioden durch ihre Dichter und Denker mit ihren eigenen Stimmen zu Wort. Viele andere Stimmen hätten hier zitiert werden können und sollen, aber aus Rücksicht auf den verfügbaren Platz und um die historischen Umbrüche zu betonen, habe ich mich nur in die repräsentativsten Quellen vertieft, anstatt zu sehr in die Breite zu gehen. Auf diese Weise ist eine Kulturgeschichte entstanden, da die Seele in vieler Hinsicht den Kern des europäischen Menschenbildes ausmacht. Auch die Bedeutung der Seele in der buddhistischen und arabischen Kultur wird berücksichtigt. Um sich selbst in einer multikulturellen Zeit zu verstehen, muss man auch »die Anderen« verstehen. Der Dialog mit den Giganten der Vergangenheit ist eine übermütige Aufgabe, aber der Drang, ein grundlegendes historisches und aktuelles Phänomen zu erklären, hat ihre Durchführung möglich gemacht. Und ich hatte viele gute Helfer unterwegs; dänische und norwegische Kollegen haben Kapitel durchgesehen, die ihre jeweiligen Fachbereiche betreffen, wofür ich ihnen herzlich danke. Denn dies ist ein interdisziplinäres Werk. Für Fehler und Mängel bin jedoch ausschließlich ich verantwortlich. Es gibt mehrere Werke, insbesondere Anthologien, über die Seele und ihre Geschichte. In der Regel behandeln sie die Seele in ihren jeweiligen Spezialdisziplinen: Theologie, Psychologie, Philosophie oder Ideengeschichte. Mein Ziel war es hingegen, eine ganzheitliche und zusammenhängende Darstellung der Seele zu geben, wie sie in einer Kultur aufgefasst wird. Dazu gehören auch literarische Werke aus dem Kanon dieser Kultur. Dieser Vorwort

9

Ansatz hat ein Buch hervorgebracht, das meines Wissens auch international einzigartig ist. Meine Absicht war, nicht nur eine Geschichte wiederzugeben, sondern die historischen Quellen hier und jetzt zum Sprechen zu bringen, damit sie uns zeigen, welche Bedeutung die Seele noch immer für uns hat, auch in einer Zeit, in der sie im Westen scheinbar tabu wird, auch im religiösen Zusammenhang. Es ist mir eine besondere Freude, dass der Böhlau Verlag das Buch im deutschsprachigen Kulturraum herausgibt. Ich danke dem Lektor Harald S. Liehr für sein persönliches Engagement und die präzise Durchführung des Projekts. Ein besonderer Dank geht an meinen deutschen Übersetzer Frank Zuber für die sprachlich und fachlich kompetente Übersetzung. Er hat bereits mein letztes bei Böhlau erschienenes Buch, Kulturgeschichte des Herzens (2006), übersetzt, was dazu beigetragen hat, dass es in weitere 14 Sprachen übersetzt wurde. Ich hoffe, dass dieses Buch seine Leser dazu inspiriert, den Dialog der Seele mit sich selbst weiterzuführen. Bø, Telemark, Juni 2017 Ole Martin Høystad

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Vorwort

Was hülffs den Menschen / so er die gantze Welt gewünne /  Vnd neme doch schaden an seiner Seele? (Matthäus 16,26, Übers. Martin Luther 1545) Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, »die Seele« selbst dabei los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten. (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse) Eine liebende Frau, in Liebe schwelgend; eine Katze auf dem Dach, jammernd; komplexe Proteine, die im Blut wirbeln und machen, dass die Sexualorgane schwellen, die Handflächen schwitzen und die Stimme heiser wird, während die Seele ihr Verlangen in den Himmel schleudert. (J. M. Coetzee, Schande)

EINLEITUNG Die meisten glauben, dass sie eine haben, die wenigsten können erklären, was sie ist. Die Seele ist ein Faszinosum. Sie steht für etwas Innerliches und Persönliches, das schwer in Worte zu fassen ist, weshalb wir uns mit Bildern und Symbolen behelfen, um es auszudrücken – und mit Musik, um es anzusprechen. Es ist kein Zufall, dass der Soul als Musikgenre aus der Verzweiflung und Erniedrigung der Afroamerikaner entstanden ist, deren einziges Eigentum ihre Seele war. Allein sie konnte nicht versklavt werden, wovon die Lieder zeugen, die sie in der Hoffnung auf Freiheit sangen. Die Diskrepanz zwischen der unklaren Definition der Seele und dem Verständnis, das die meisten Menschen von ihr haben, spiegelt sich in unserer Sprache. Wir reden von guten und aufrichtigen Seelen, von Seelenheil und seelischer Tiefe. Wir fühlen etwas tief in der Seele, werden in der Seele getroffen und haben Angst, seelischen Schaden zu nehmen. Viele dieser Ausdrücke bezeichnen persönliche und moralische Qualitäten. Es gibt starke und schwache Seelen, freie und verschlossene. Die Seele ist der Hort des Persönlichen, sowohl der Stärke als auch der Verletzlichkeit. Manche haben eine zarte Seele, andere eine wankelmütige. Wir leiden unter körperlichen und seelischen Krankheiten und streben nach Seelenruhe, denn die Seele kann unstet sein, oft schlagen sogar zwei Seelen in einer Brust. Sind dies alles nur Metaphern für persönliche Eigenschaften oder bezeichnet das Wort ›Seele‹ eine wirkliche und wichtige Dimension im Menschen, die auf einer Linie mit Vernunft und Emotionen liegt? Dieser Frage möchte dieses Buch nachgehen. Einleitung

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In der gesamten Menschheitsgeschichte war die Seele das Prisma, durch welches der Mensch und das Menschenleben betrachtet und erklärt werden. Sokrates’ Appell an die Athener Mitbürger, sich um ihre Seele zu sorgen, und die christliche Heilsbotschaft über die Bewahrung der Seele sind wesentliche Grundlagen für das Menschenbild der westlichen Kultur. Die Seele wird als Ausdruck der Persönlichkeit eines Individuums begriffen, als das Selbst einer Person. Alles, was die Person in Gedanken, Worten oder Taten betrifft, betrifft auch die Seele. Sie wurde zum Maßstab aller Dinge, für die ein Individuum Verantwortung trägt – und für die es zur Verantwortung gezogen werden kann. Vielleicht ist es die Seele, die den Menschen zum Menschen macht. Sie ist sein Adelsmal – oder sein Kainsmal. Entstanden ist die Seele wahrscheinlich als Antwort auf das Mysterium des Todes. Schon die Neandertaler hatten Begräbnisrituale. Die Art und Weise, wie sie ihre Toten bestatteten, lässt darauf schließen, dass sie an ein Leben nach dem Tod glaubten. Während der Tod das einzig Sichere im Leben eines Menschen ist, kann niemand genau wissen, ob es etwas Persönliches im Inneren gibt, das den Tod überdauert. Die Antwort auf diese Frage war zu allen Zeiten und in allen Kulturen und Religionen gleich, nämlich dass die Seele in irgendeiner Form im Jenseits fortlebt. Heute können wir uns kaum vorstellen, welche Seelenqualen die Menschen im christlichen Mittelalter und der Frühen Neuzeit litten, weil sie aufgrund echter oder eingebildeter Sünden das ewige Höllenfeuer fürchteten. Der Stellenwert der Seele in der europäischen Kultur änderte sich erst mit der Renaissance, aber vor allem mit der Aufklärung und deren Anspruch auf rationale Begründung und wissenschaftliche Beweise. Weil ihre Substanz nicht wissenschaftlich nachweisbar ist, wird die Seele oft als religiöser Begriff und Glaubensfrage abgetan. Für manche ist sie gewissermaßen out of date. Wir möchten untersuchen, ob dies stimmt, und den Status der Seele im 21. Jahrhundert auf der Grundlage ihrer Geschichte klären. Da wir in einer globalen, multikulturellen Welt leben, werden wir auch auf das Seelenverständnis in einigen nichtwestlichen Kulturen und Religionen eingehen. Um sich selbst zu verstehen, muss man auch das Andere, Fremde kennen. Deshalb werden wir die Auffassung der Seele im Buddhismus und im Islam betrachten. In beiden Religionen spielt das Schicksal der Seele in diesem und im nächsten Leben eine wichtige Rolle. Im Islam kann die Erlösung der Seele sogar ein politisch motivierender Faktor sein, denn einige Muslime glauben, sie könnten ein paradiesisches Leben im Jenseits erlangen, wenn sie ihr Leben dem Dschihad opfern. Aus diesem 12

Einleitung

Anlass werden wir genauer untersuchen, was im Koran wirklich über nafs, die Seele, steht und was ihre Erlösung im Islam bewirkt. Im Lauf der Zeit hat sich das Verständnis der Seele geändert. Deshalb fragen wir: Ist die Seele Stoff oder Gedanke, Vernunft oder Gefühl, Form oder Inhalt, Hypothese oder Wirklichkeit? Ist sie rein individuell oder steht sie über dem Individuum? Ist sie ganz oder zusammengesetzt, einheitlich oder heterogen? Der Begriff ›Seele‹ bezeichnet etwas, das schwer zu identifizieren ist, es fehlt ein greifbares Gegenstück. Vielleicht ist die Seele überhaupt nicht »etwas«, sondern eine Fiktion, eine künstliche Konstruktion? Ein bloßer Begriff oder ein Bild? In diesem Fall wäre sie zumindest eine sehr alte Konstruktion, die kontinuierlich dekonstruiert und rekonstruiert wird – vielleicht weil sie eine notwendige Konstruktion ist? Damit kommen wir zu einer entscheidenden Frage, was die Existenz der Seele angeht: Ist sie uns gegeben, angeboren oder wird sie erschaffen, zum Beispiel durch Erziehung und Bildung? Hier hilft uns die Geschichte weiter, vor allem wenn wir uns ins antike Griechenland begeben, psyches Heimat. Die alten Griechen entdeckten den Geist und die Vernunft als höhere Instanz, an welcher der Mensch nur teilnimmt, die Seele hingegen erfanden sie. Wenn die Seele eine Erfindung ist, lautet die entscheidende Frage, warum sie geschaffen wurde und ständig neu geschaffen wird, welche Funktion sie hat und welche Bedürfnisse sie erfüllt. Auch haben wir Grund zu fragen, ob wir überhaupt einen Seelenbegriff brauchen, um bestimmte persönliche Qualitäten zu entwickeln und sie in ein Ganzes einzuordnen. Vielleicht sind andere anthropologische Begriffe viel deutlicher und brauchbarer, um das innere Leben des Menschen zu erklären? Die Eigenschaften der Seele und das Schicksal werden in den meisten Kulturen als Konsequenz der Lebensweise eines Individuums verstanden. Das Hauptaugenmerk liegt somit auf dem gelebten Leben und darauf, wie der Einzelmensch seine persönlichen und seelischen Qualitäten entwickelt und seine Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen erfüllt. Dies ist vielleicht die wichtigste Seite der Seele in der heutigen Zeit. Obwohl die Seele streng individuell ist, ist sie durch das Verhältnis zu anderen bedingt. Ohne Rücksicht auf andere kann man sich nicht um sich selbst sorgen. Deshalb steht die Seele auf dem Spiel, wenn das Individuum sich an kollektive Bewegungen ausliefert, wie Hannah Arendt nüchtern feststellte. Welche Konsequenzen dies für den Einzelnen und die jeweils Betroffenen hat, lehrt uns die Geschichte von Massenbewegungen der Vergangenheit (wie Kommunismus oder Faschismus) und Gegenwart (wie aggressiver Einleitung

13

Nationalismus oder Islamismus). Dasselbe kann geschehen, wenn man sich Gewohnheitsdenken, Massenmedien, Marktkräften oder politischem Machtmissbrauch blind ergibt. Ein Grund für die Wandelbarkeit der Seele ist sicher die Tatsache, dass der Mensch nicht voll entwickelt zur Welt kommt, sondern als formbares Wesen. Er muss sich bilden, was durch die Aneignung überlieferter Kenntnisse und Erkenntnisse geschieht. Die Seele ist das reichhaltigste Sinnbild aller Antworten auf die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Überliefert werden diese Erkenntnisse durch die Sprache, weshalb wir als Angehörige einer Kultur und Sprachgemeinschaft automatisch daran teilhaben. Doch wenn die Seele heute immer weniger zum kulturellen Erbe gehört, das wir im Lauf unserer Sozialisierung annehmen, wird es immer mehr zur Aufgabe des Individuums, Ordnung im eigenen Inneren zu schaffen. Nicht jeder möchte eine solche »Inlandreise«, wie Søren Kierkegaard sie beschrieb, unternehmen. Die Neudefinition oder der Verlust der Seele haben anthropologisch betrachtet ein Vakuum hinterlassen, wie es Franz Kafka schildert. Dies erklärt, warum alternative Lebensstil-Bewegungen seit dem Flower Power der Sechzigerjahre großen Zulauf haben und warum besonders fernöstliche Seelenauffassungen auch im Westen Verbreitung finden – seien es buddhistische Philosophie, Yoga oder andere kontemplative und meditative Methoden. Die Regale der Buchhandlungen sind voll mit Büchern über Religionen, Philosophie und Lebensstile aus Fernost. Eine der neuesten Strömungen heißt Mindfulness (Achtsamkeit). Alternative Weltbilder, New Age und andere Subkulturen fungieren in der spätmodernen, materialistischen Gesellschaft als Kompensation für Verlust, Sehnsucht oder nicht zufriedengestellte geistige Bedürfnisse. Auch die sogenannte »Engelschule« Astarte der norwegischen Prinzessin Märtha Louise und moderne Formen des Spiritismus werden vor diesem Hintergrund verständlich. Viele dieser Bewegungen drehen sich um die Seele, geistige Kräfte, Reinkarnation, Seelenwanderung und außerkörperliche Erfahrung. Auch in der Populär- und Fantasyliteratur sind diese Motive sehr beliebt. Bestseller wie Harry Potter oder Der Herr der Ringe geben den Seelen und der geistigen Magie eine große Bühne, was vermuten lässt, dass die rätselhafte Seele noch immer eine Rolle im Bewusstsein der Menschen spielt, ja zu ihren Bedürfnissen zählt. Was die Seele nicht an wissenschaftlicher Bestätigung bekommt, holt sie sich heimlich wieder, und zwar in alternativen Bewegungen, der Populärkultur und der Fantasiewelt von Literatur und Film. 14

Einleitung

Die Wissenschaft hat die Seele nicht vergessen, sondern sie zur Psyche uminterpretiert und in die Psychologie integriert. Damit wurde sie zum Gegenstand der Therapie, was sie jedoch reduziert, denn alle Seiten des Inneren, die nicht in den Rahmen der Psychologie fallen, wurden sich selbst überlassen. Dies gilt besonders für die persönliche, ethische und existenzielle Seite des Seelenlebens sowie die religiöse Dimension, die ignoriert oder tabuisiert wird. Die immer stärker verbreiteten psychischen Leiden unserer Zeit, insbesondere unter Jugendlichen, sind vielleicht das Symptom einer unmenschlichen Gesellschaft, in der die Seele zu sehr reduziert worden ist. In Wirklichkeit bewirkt sie mehr als Angst und Depression, Persönlichkeitsspaltung und Wahnvorstellungen. Sie ist auch eine schöpferische Kraft, die das Gemüt mit Begeisterung und Liebe, Empathie und Mitleid erfüllt und uns das Gefühl gibt, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Wird dies also ein Werk über Aufstieg und Fall der Seele? Nein. Dieses Werk existiert übrigens schon: The Rise and Fall of Soul and Self von Raymond Martin und John Barresi (2006). Ein solcher Titel baut auf einem linearen Geschichtsverständnis auf, das mentalen Phänomenen wie der Seele nicht gerecht wird, weil sie Vergangenheit und Gegenwart mit Zukunftserwartungen vereinen. Die Wirkungsgeschichte der Seele hält an, auch im Hier und Jetzt. Unser Buch erzählt keine lineare Geschichte, sondern von der Entwicklung und den Verwicklungen der Seele, von ihrem Einfluss und ihrer Beeinflussung, von ihren historischen Verwandlungen, davon, wie sie gedeutet und umgedeutet wurde, als Bild und Symbol beschrieben und umgeschrieben wurde, wie sie unser Gemüt buchstäblich geprägt und dort Spuren hinterlassen hat, die wir als unauslöschliches Erbe und Inspirationsquelle mit uns tragen. So gesehen ist die Seele ein wahres Palimpsest. Ein Palimpsest ist ein altes Manuskript, das durch Waschen oder Abschaben gereinigt und dann wieder verwendet wurde. Auf diese Weise sparte man im Mittelalter kostbares Pergament. Ältere Texte fielen dem Palimpsestieren zum Opfer, hinterließen aber lesbare Spuren. Ebenso erging es der Seele. Sie wurde beschrieben, umgeschrieben und überschrieben, aber man kann die überschriebenen Geschichten noch Schicht für Schicht aufdecken. Es sind Wandergeschichten, die in unserem Selbstverständnis ineinandergreifen. So können wir unsere archäologischen Studien der Seele betreiben und klären, inwiefern wir noch immer Teil ihrer Geschichte sind – und wie wir das Palimpsest weiter beschreiben. Einleitung

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Weil der Mensch ein form- und veränderbares Wesen ist, kann »Seele« auch ein zweckmäßiger oder notwendiger Teil eines anthropologischen oder philosophischen Systems sein. Verschiedene Philosophen von Platon und Aristoteles in der Antike bis Nietzsche und Wittgenstein in der modernen Zeit arbeiten mit den unterschiedlichsten Seelenbegriffen. Der Konflikt zwischen einer philosophischen und einer religiösen Erklärung der Seele hat das Menschenbild in der europäischen Kultur bis in unsere Tage hinein geprägt. Zusammenfassend können wir sagen, dass es fünf mögliche Antworten auf die Frage gibt, welche Bedeutung die Seele heute hat: 1) Sie ist ein theoretischer Begriff in einem philosophischen System oder einer Anthropologie. 2) Sie ist ein religiöser Begriff, verbunden mit dem Glauben an etwas, das den Tod überlebt. 3) Sie ist ein psychologischer Begriff für das unbewusste und oft irrationale innere Gefühlsleben in Form der Psyche, wie sie die wissenschaftliche Disziplin der Psychologie versteht. 4) Sie ist lediglich eine Metapher für das Innere des Menschen und seine persönlichen und moralischen Qualitäten. 5) Elemente dieser vier Auffassungen gehen in einen allgemeinen Seelenbegriff ein, der sich auf eine notwendige (konstituierende) und eine wirkliche (ontologische) Dimension im Menschen bezieht, die persönliche, existenzielle und moralische Bedeutung im Leben hat. Ein solcher allgemeiner Seelenbegriff liegt diesem Buch zugrunde. Welche Gültigkeit er hat, wollen wir feststellen, indem wir den Konflikten zwischen unterschiedlichen Auffassungen der Seele durch die Ideenund Kulturgeschichte folgen und die Darstellung der Seele in der Literatur untersuchen. Die Dichtung gibt der Seele und ihrer Bedeutung zu allen Zeiten Fleisch und Blut. Hier steht die Seele für die Summe aller tieferen Gefühle und Überzeugungen, für unseren Willen und für das, was unsere Persönlichkeit ausmacht. Die meisten glauben zu wissen, was »Seele« bedeutet, finden es jedoch schwer, sie zu definieren. So verhält es sich mit vielen alten Begriffen, die noch gebraucht werden. Im Grunde lassen sie sich nicht definieren, meint Nietzsche. Sie sind Teil unseres kulturellen Erbes. So verhält es sich auch mit der Seele. Die folgenden Kapitel wollen dazu beitragen, ihre tiefen, diffusen, mystischen und unauslöschlichen Seiten zu klären.

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Einleitung

DAS DRAMA DER SEELE IN DER ANTIKE

Es setzten für jedes ein Maß die unsterblichen Götter Für die sterblichen Menschen auf nahrungsspendender Erde. (Homer, Odyssee XIX, 592 f.)

DIE MUTTER ALLER SEELEN – HOMERS MYTHISCHE SCHATTEN

Die Geschichte der Seele wird für alle Zeiten mit Homer und der griechischen Antike verbunden sein. Wir benutzen noch immer dasselbe Wort für die Seele wie Homer auf Altgriechisch: psyche (ψυχή). Dieses Wort hat das Menschenbild westlicher Kulturen entscheidend geprägt. Denkt man die psyche fort, verschwindet auch der Mensch. Homer hat uns den bildlichen und mythischen Grundstock zum Verständnis der Seele gegeben. Um den Ursprung der Seele zu verstehen, müssen wir zunächst die Etymologie des altgriechischen psyche untersuchen. Es ist abgeleitet von dem Verb psychein (atmen) und wird deshalb in der Regel mit »Atem«, »Lebensatem« oder ganz einfach »Leben« übersetzt. Die Seele ist also ursprünglich etwas Konkretes und nicht abstrakt geistig (noematisch) wie in späteren philosophischen Definitionen. Um diese ursprüngliche Bedeutung von der modernen Psyche im psychologischen Sinne zu unterscheiden, benutzen wir für sie die lateinische Transliteration in Kursivschrift, während ›Seele‹ in diesem Kapitel für die allgemeine, übergeordnete Bedeutung in unserer historischen Perspektive steht. Homers Epen Ilias und Odyssee (beide ca. 800 v. Chr.) drehen sich auf verschiedene Weise um die Seele, denn alles, was Achilleus, Odysseus und die anderen Helden tun, geschieht mit dem Gedanken an ihren Tod, genauer gesagt ihren Nachruhm. Folglich spielen die Seelen der Toten eine wichtige Rolle, was schon den ersten Zeilen des älteren Epos, der Ilias, zum Ausdruck kommt. Göttin, singe mir nun des Peleussohnes Achilleus Unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß Die Mutter aller Seelen – Homer

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Der Heroen, sie selbst zur Beute machte den Hunden Und den Vögeln zum Fraß.

Die einleitenden Verse verraten bereits viel über die Bedeutung der psyche und das homerische Menschenbild. Von Anfang an betont der Dichter, was auf dem Spiel steht. Der Zorn (pathos) der Hauptfigur Achilleus ist entscheidend für dessen Rolle im Kampf und die Ursache dafür, dass viele Krieger ihr Leben verlieren. Beim Tod eines Kriegers verlässt die Seele den Körper und kommt in den Hades. Der Körper hingegen bleibt auf dem Schlachtfeld liegen. Auf Grundlage der vielen Todesschilderungen in Homers Epen wissen wir, dass sich die psyche eines Menschen erst im Tode manifestiert. Körper (soma) und Seele werden im Augenblick des Todes getrennt und die psyche verlässt die sterbliche Hülle als Atemzug (Ilias XXII, 467). Zum Beispiel als Menelaos, der Gatte der schönen Helena, seine Lanze in die Eingeweide eines Gegners sticht: »und aus der gestoßenen Wunde enteilte / Rasch die Seele, und Dunkel umhüllte die Augen, die beiden« (XIV, 518 ff.; alle Homer-Übersetzungen R. Hampe, wenn nicht anders angegeben). Oder als Achilleus’ Freund Patroklos den Fuß auf die Brust eines gefällten Feindes stellt und den Speer herauszieht: »Gestemmt nun die Fers’ auf die Brust ihm, / Zog er die Lanz’ aus dem Leib; es folgt’ ihr die Hülle des Herzens; / Also die Seele zugleich« (XVI, 503 ff., Übers. Voß). Im Hades manifestiert sich die psyche als Schatten des verstorbenen Körpers, aber bei Homer stellt sie keine Dimension im lebenden Menschen dar. Doch auch der Körper ist vor dem Tod keine selbständige Einheit. Soma bedeutet auf Altgriechisch »Leiche«. Soma und psyche existieren demnach nicht selbständig, ehe Letztere gezwungen wird, den Körper als Lebensatem zu verlassen. Erst dann wird der Körper zum soma, zur Leiche. Vielleicht vermag das Englische diesen Gedanken zu erhellen, denn dort bedeutet body auch Leiche. Vor Eintritt des Todes bilden soma und psyche ein Ganzes, für das es kein anderes Wort als ›Mensch‹ oder ›Person‹ gibt. Dies wird aus den vielen Todesszenen der Ilias klar. Auf dieser Grundlage lassen sich zwei Hauptbedeutungen von psyche ableiten: zum einen die Lebensseele, die den Körper am Leben hält, zum anderen die Todesseele, die vom Körper gelöst im Hades weilt. Daraus entwickelt sich später die Vorstellung der freien Seele. Eine Seele, die wir in der Ilias besonders gut kennenlernen, ist die von Achilleus’ Waffen- und Ziehbruder Patroklos. Der Wendepunkt im Kampf 20

Die Mutter aller Seelen – Homer

um Troja tritt ein, als Patroklos in Achilleus’ Rüstung auf das Schlachtfeld tritt. Achilleus hat sich zehn Jahre lang geweigert, am Kampf teilzunehmen (und ihn somit zu entscheiden), weil König Agamemnon ihm seine Kriegsbeute, die schöne Briseis, weggenommen hat. Patroklos wendet für eine Weile das Kriegsglück der Achaier, für die es vorher schlecht aussah, doch im Kampf gegen Trojas großen Helden Hektor fällt er. Dadurch wird Achilleus’ Zorn doppelt geweckt. Er will seinen Freund rächen und stürzt mit einem Schmerzensschrei aufs Schlachtfeld. Der Schrei versetzt die trojanischen Krieger in Todesangst und schlägt ihre Pferde in die Flucht. Bevor Patroklos stirbt, sagt er Hektors Tod voraus. Patroklos’ Tod und seine Bestattung werden ausführlich geschildert: Als er so sprach, umfing ihn bereits das Ende des Todes; Und die Seele den Gliedern entflog zum Hause des Hades, Klagend über ihr Los, verlassend Mannheit und Jugend. (XVI, 855 ff.)

Später besucht Patroklos’ psyche Achilleus im Schlaf. Der Grund für den Besuch ist, dass Patroklos noch nicht ordentlich bestattet ist und deshalb nicht ins Reich der Toten eingehen kann: Du schläfst zwar, mich aber hast du vergessen, Achilleus; Wohl um den Lebenden warst du besorgt, doch nicht um den Toten, Jetzt begrabe mich schnell, dass ich Hades’ Tore durchschreite. Denn mich verscheuchen die Seelen, die Schattenbilder der Toten, Und sie lassen mich über dem Strom mit ihnen nicht treffen. (XXIII, 70 ff.)

Eine wichtige Frage in der Geschichte der Seele ist, ob sie für das Leben oder den Tod bestimmt ist. In allen Religionen ist der Tod der entscheidende Punkt für die Seele, der kritische Übergang von einem Zustand zum anderen, sei es ein in neues Leben oder nicht. Dies kommt im Psalm 121 zum Ausdruck, wo es heißt: »Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang!« Der Ausgang des Lebens muss in allen Kulturen seine rituelle Ordnung haben. Bei Homer ist dieser Übergang eine Reise über den Fluss Styx, die schon an sich eine Probe ist, wie Patroklos’ Worte bezeugen. In der griechischen Mythologie bringt der Fährmann Charon die Seelen der Toten über den Styx. Auch wenn er nicht als Richter auftritt, wie in jüngeren Darstellungen, ist der Tote abhängig von ihm, um nicht im Lethe, dem Fluss des Vergessens, zu versinken. Als die verführerische Zauberin Die Mutter aller Seelen – Homer 

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Kirke Odysseus verrät, wie man in den Hades gelangt, beschreibt sie eine schwierige Bootsreise am Rand der Welt, vorbei an gefährlichen Küsten. Wie später Dante gehört Odysseus zu den wenigen Lebenden, die das Reich der Toten betreten. Bei Dante ist Charon schon zum brutalen Wächter geworden und anstelle des Hades bewacht er den Weg zur Hölle. Mit seinem Ruder hält er die unwürdigen Toten auf Abstand. Bei Homer gibt es noch einen zweiten Begleiter, nämlich den geflügelten Götterboten Hermes. Er ist ein Vermittler zwischen dem Olymp, den Menschen und der Unterwelt und begleitet die Seelen der Verstorbenen in den Hades, zum Beispiel die von Penelopes Freiern, an denen Odysseus sich nach seiner Heimkehr grausam gerächt hat. Als Bote hat Hermes auch die Aufgabe, die göttlichen Botschaften für die irdischen Empfänger verständlich zu machen, das heißt, er übersetzt sie. Den Sterblichen tritt er mit Fragen gegenüber. Als er Odysseus auf dem Weg zu Kirkes Palast sieht, fragt er: »Wohin gehst du, Unseliger?« (X, 281) Odysseus, der sein Schicksal erfahren will, wird dieses göttliche quo vadis nie vergessen. Als Bote aus dem Jenseits ist Hermes selbst eine rätselhafte Gestalt, genau wie seine Botschaften, die man erst interpretieren muss. Die Hermeneutik hat ihren Namen von dem Götterboten. Odysseus gelangt schließlich lebendig in den Hades, wo er sein Schicksal von der Seele des Sehers Teiresias erfahren will. Dort macht er eine ähnliche Erfahrung wie Achilleus mit dem toten Patroklos. Er trifft den Schatten seiner Mutter, die aus Kummer über ihren vermissten Sohn gestorben ist: »Sondern die Sehnsucht nach dir und die Sorge, hehrer Odysseus, / Und die Liebe zu dir, das nahm mir das Leben, das süße« (XI, 202 f.). Voll Wiedersehensfreude will Odysseus den Schatten (psyche) der Mutter umarmen, doch sie schlüpft ihm wie ein Traum oder ein Schatten (skiê) durch die Finger. Er fragt, ob sie nur ein Trugbild (eidolon) sei, worauf sie antwortet: Sondern dasselbe Los trifft alle, welche da sterben. Nicht mehr halten die Sehnen das Fleisch und die Knochen zusammen, Sondern des lodernden Feuers mächtige Stärke vernichtet Alles, sobald das Leben verlässt die weißen Gebeine, Und die Seele entschwebt und fliegt umher wie ein Traumbild. (XI, 218 ff.)

Die Schattenseele ist ein getreues Abbild des verstorbenen Körpers, sozusagen ein Doppelgänger. Aber sie plagt niemals die Lebenden und kehrt nie in deren Welt zurück. Bei Homer tritt die psyche nie als Gespenst auf. 22

Die Mutter aller Seelen – Homer

In seiner Welt existieren die Seelen nur im Hades, außer wenn der zugehörige Körper nicht ordentlich bestattet ist. Die psyche als Abbild ist für uns von besonderem Interesse, da sie nach dem Tod die Identität des Verstorbenen repräsentiert, das Selbst (autos), das bei Homer sonst der Körper ist. Wie wir gesehen haben, zeigt die homerische Seele im Ansatz bereits Aspekte, die über den bloßen Schatten hinausgehen. Sie ist auch eine Lebenskraft im irdischen Leben. Aus dieser Doppelfunktion entsteht die neue Deutung des Verhältnisses zwischen Körper und Seele in den Jahrhunderten nach Homer. Die psyche der alten Griechen repräsentiert von Anfang an auch das individuelle Schicksal, sie drückt nicht nur aus, wie man den Menschen sah, sondern auch, welche Ideale er erstreben sollte.

Das Innere als Arena verschiedener Kräfte In Homers Menschen findet ein bemerkenswerter Konflikt zwischen verschiedenen Kraftzentren statt, mit denen das Ich im Dialog steht. Dem thymos (Wille/Gemüt) stehen noos (Vernunft, später nous geschrieben), phrenes (Zwerchfell) und verschiedene Glieder (melea) gegenüber. Besonders wichtig ist der Dialog mit dem Herzen, für das Homer verschiedene Wörter benutzt: ker, etor und kradiē (später kardia, daher »Kardiologie«). Jeder dieser Begriffe drückt bestimmte mentale und emotionale Funktionen aus, die später dem allgemeinen Seelenleben zugeschrieben wurden. Besonders wichtig ist thymos, der oft gleichwertig mit psyche gebraucht wird. Der Unterschied liegt darin, dass psyche eine Funktion nach dem Tod hat, was bei thymos nicht der Fall ist. Die anderen Seelenorgane haben im Gegensatz zur psyche nur eine Funktion im Leben vor dem Tod, sie lösen sich auf, wenn der Mensch stirbt. Von dieser Regel gibt es bei Homer nur eine Ausnahme: Der Seher Teiresias hat seine Vernunft (noos) auch nach dem Tod behalten. Er wurde geblendet, weil er es gewagt hatte, einen Streit zwischen Zeus und Hera zu entscheiden. Es ging um die Frage, wer beim Geschlechtsverkehr mehr Freude habe, der Mann oder die Frau. Teiresias hatte behauptet, es sei die Frau, was Hera so sehr erzürnte, dass sie ihn seines Augenlichts beraubte. Zum Ausgleich gab Zeus ihm die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Teiresias ist also ein blinder Seher. Kraft seiner Weisheit und Vernunft (noos) ist er Wahrsager. Noos als Geisteskraft, die bei Auserwählten den Tod überleben kann, deutet bereits auf ein neueres Menschenbild hin. Ebenso die Gespräche, die Odysseus mit sich selbst Das Innere als Arena verschiedener Kräfte

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führt, das heißt mit seinen inneren Seelenorganen, insbesondere dem Herzen (kradiē). Die psyche jedoch ist bei Homer noch nicht das Zentrum im Inneren eines Menschen, zu dem sie später wird. Der homerische Mensch hat kein inneres Zentrum, kein zentrales Organ und die oben genannten Kraftzentren und Organe sind in keiner Weise mit der Seele verbunden und können nicht als Synonyme betrachtet werden. Dazu kommt es erst später, als psyche zur zentralen »Psyche« wird. Die meisten Elemente des hochklassischen Menschenbildes der Antike sind bei Homer schon vorhanden, doch ihre Funktion und Rangordnung ist anders. Homer gibt dem Körperlichen und Diesseitigen klaren Vorrang vor dem Seelischen und Jenseitigen, wie Achilleus in der Odyssee deutlich sagt: Tröste mich nicht, Odysseus, strahlender, über den Tod weg. Lieber wollt ich als Tagelöhner den Acker bestellen Bei einem armen Mann, der nicht viel hat an Besitztum, Als über alle die Toten, die hingeschwundenen, herrschen. (XI, 488 ff.)

Achilleus hat zwei Möglichkeiten: entweder ehrenvoll im Kampf zu sterben oder nach Hause zu fahren und ein bequemes Leben im Wohlstand zu führen. Dann jedoch würde er ohne Nachruhm sterben. Dem zieht der Held letztlich einen frühen, aber ruhmreichen Tod im Kampf vor, durch den er unsterbliche Erinnerung, kleos aphthiton, erlangt. Die Erinnerung ist gewissermaßen das Fortleben der psyche auf Erden, doch sie ist nicht dasselbe wie die Unsterblichkeit der Seele. Das Schlimmste, was dem homerischen Menschen geschehen kann, ist ein Tod in Vergessenheit, ein »unbedeutender« Tod, bei dem die Psyche im Lethe, dem Fluss des Vergessens, ertrinkt. Aber sind Ehre und Heldentod alles, was in der homerischen Welt zählt? Schließlich handelt es sich um ein Heldenepos. Doch in den Eröffnungsversen steht nichts von Ruhm und Ehre. Stattdessen wird die Muse aufgefordert, vom Zorn (pathos) des Helden zu singen, der ihn erfüllte, als Agamemnon ihm seine Kriegsbeute, die schöne Briseis, wegnahm und ihn dadurch demütigte. Dieser Zorn führt dazu, dass zehn Jahre lang massenweise Griechen und Trojaner sterben müssen, ehe Achilleus einen neuen Grund, das heißt eine neue Leidenschaft, findet, um wieder am Kampf teilzunehmen und die Entscheidung herbeizuführen. Um die frühe griechische Kultur zu verstehen, muss man verstehen, dass Homer vor allem 24

Die Mutter aller Seelen – Homer

von menschlichem Zorn und den Folgen zügelloser Leidenschaft (pathos) berichtet. Das bedeutet nicht, dass man alle Leidenschaften unterdrücken sollte, sondern dass man sich ihrer Macht bewusst sein soll. Auch sollte man den Anteil der traditionellen mündlichen Volkskultur in Homer nicht überschätzen.Vielmehr bricht der Dichter mit der häufigen Wiederholung und zyklischen Mustern, welche die mündliche Dichtung prägen. Er will kurz und gut nicht, dass die Wiederholung sich wiederholt. Deshalb erzählt er sein Epos über das zerstörerische pathos, das der Ehrenkultur zugrunde liegt. Es steht der Vernunft entgegen, dem Ideal noos, das Odysseus verkörpert. Er ist ein kluger und verschlagener Held, der »vielgewandte«, wie es im ersten Vers heißt. Zu Beginn beider Epen ruft Homer die Musen an und bittet sie um Inspiration für eine wichtige Erzählung. Der Dichter wollte zwei Epen von zwei sehr unterschiedlichen Helden erzählen, die im Grunde Gegensätze verkörpern. Das erste, die Ilias, handelt davon, wie Achilleus zuerst dem Kampf fernbleibt, aber schließlich doch eingreift und das Blatt zugunsten der Griechen wendet. Hier werden der Zorn und die Leidenschaft besungen. In der Odyssee hingegen geht es um einen listigen Helden und dessen Verstand. Es war nicht Achilleus, sondern Odysseus, der die List des Trojanischen Pferdes ersann und somit den endgültigen Sieg herbeiführte. Das Werk handelt von seiner Heimfahrt aus Troja, die zehn Jahre dauerte und auf der er unzählige Proben zu bestehen hatte. Aufgrund seiner Klugheit kehrt er als Einziger seiner Mannschaft lebendig zurück: Um sein Leben bemüht und die Heimkehr seiner Gefährten. Aber auch so hielt er sie nicht ab, wie sehr er es wünschte; Denn sie gingen durch eigene Freveltaten zu Grunde, Toren, des Hypérionsohnes, des Helios, Rinder Aßen; der aber nahm ihnen weg den Tag ihrer Heimkehr (I, 5 ff.)

Die »Toren« befinden sich in der Gewalt ihrer Leidenschaften, nur Odysseus, der »göttergleiche«, hat Vernunft, das heißt einen Verstand, den er benutzt, um die Leidenschaft in Schach zu halten und die Proben zu bestehen. Dass er damit auch die Grundlage für ein neues Menschenbild bereitet, ist fast ein Nebeneffekt und dennoch Odysseus’ wichtigste kulturgeschichtliche Funktion. Die psyche spielt dabei weiterhin nur eine Nebenrolle, primär geht es darum, vernünftig zu handeln. Odysseus versucht, die Zusammenhänge zu erkennen, er analysiert seine Situation und Das Innere als Arena verschiedener Kräfte

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ist offen für neue Möglichkeiten. Er ist ein Pragmatiker, Homer nennt ihn schlau und durchtrieben – Eigenschaften, die Achilleus offen verachtet. Der Held des älteren Epos wählt stattdessen den offenen, ehrlichen Kampf und den frühen Tod: Kehre ich aber zurück zum lieben Lande der Väter, Wird mein Ruhm verloren, doch lang wird die Dauer des Lebens. (IX, 414 f.)

So betrachtet ist er ein Gegenpol zu Odysseus, dessen oberstes Ziel die Heimkehr ist. So möchte er seine psyche retten, das heißt sein Leben. Seine psyche ist einem anderen Mythos untergeordnet als die von Achilleus.

Die Seele und das Schicksal. Der Mythos der Heimkehr Um die homerische psyche zu verstehen, müssen wir zuerst den homerischen Körper verstehen. Friedrich Nietzsche hat in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) als Erster hervorgehoben, dass die griechische Kultur – vor Platon – eine Körperkultur war, deren Wurzeln im Dionysischen liegen, das Nietzsche als Gegenpol zum apollinischen Ordnungsprinzip in der griechischen Kultur aufstellt. Homer ist Letzterem zuzuordnen. Das Dionysische steht für die Urkraft des Körperlichen, den unbewussten Trieb, die Vitalität und den Lebenswillen, den wir moderne Menschen hauptsächlich im Sexualtrieb wähnen, obwohl er viel mehr umfasst. Zum Beispiel entspringt das Musische auch dem Dionysischen, wie die gesamte Kunst und Dichtung. Dies gilt besonders für die Komödie und die Lyrik – die zum Spiel der Lyra vorgetragen wird. Auch die Seele hat ihren Ursprung im Dionysischen, weshalb Nietzsche schreibt: »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!« Bei den Dionysien, den Festspielen zu Ehren des Gottes, galt der Rausch als Mittel zum Erreichen der Ekstase, in der das Selbst aus der Haut fährt und seine Urinstinkte erkennt, aber auch von höheren geistigen Kräften erfüllt wird. Aus dionysischer Sicht ist also der Körper der Weg zum Geist. Der Körper ist fest mit dem Schicksal einer Person verbunden, er ist dessen Träger. Nietzsches zweideutige Formel amor fati – Liebe des Schicksals oder Liebe zum Schicksal, mit anderen Worten: »liebe dein Schicksal und es wird dich lieben« – ist in der griechischen »Psychologie« wichtiger 26

Die Mutter aller Seelen – Homer

als die Erlösung der Seele in einem dogmatisch bestimmten Jenseits. Odysseus folgt genau dieser Devise. Sein Vertrauen auf das Schicksal lässt ihn alle Prüfungen bestehen, weshalb das Schicksal seinerseits ihm hold ist. Er begibt sich bewusst in Gefahren, aus denen ihn die Götter als Repräsentanten des Schicksals nur retten können. Odysseus beherrscht die Kunst, das Schicksal nicht über die Maßen herauszufordern, sondern es nach seinen eigenen Prämissen zu überwinden. Er ist sein eigenes Schicksal und formt es, indem er sein oberstes telos (Ziel) verfolgt, nämlich die Heimkehr. Er möchte sein Leben in Würde abschließen, indem er es so führt, dass es seines Schicksals würdig ist. Deshalb bringt er sich in äußerste Gefahr, als er den Meeresgott Poseidon kränkt. Als Konsequenz darf er nicht heimkehren, ehe er sich mit dem Meer versöhnt hat. Die Versöhnung wird erst nach der Heimkehr besiegelt, indem er weit vom Meer entfernt ein Ruder (sic!) in die Erde steckt – eine Episode, auf die wir noch zurückkommen werden. Odysseus’ mythische Seele ist fest mit seiner Heimkehr verbunden. Es ist fragwürdig, ob der Ependichter Homer auch ein mythischer Denker war. Er erzählt und benutzt die Mythen der Griechen und ist in vieler Hinsicht die reichhaltigste Quelle dazu. Gleichzeitig aber zeigt er ein Bewusstsein, das über die mythische Denkweise hinausgeht. Mit anderen Worten: Er benutzt den Mythos, um den Mythos zu überwinden. Die Funktion des Mythos ist intentional. Er gibt das, was wir wollen, in verdichteter und erhöhter Form wieder. Auch der Begriff »Seele« ist bis heute intentional, er drückt aus, was die Menschen mit ihrem Leben anfangen wollen. In seinem mythischen Epos zeigt Homer auf, dass es Unglück bringt, nur der Leidenschaft zu folgen. Die Alternative besteht darin, seinen Zorn durch Besonnenheit (später sophrosyne) zu zügeln und der Vernunft zu folgen, um seine Bestimmung zu erreichen, in Odysseus’ Fall die Heimkehr nach Ithaka zu seiner geliebten Penelope und seinem Sohn Telemachos. Doch die Heimkehr an sich ist auch eine allgemeingültige mythische Struktur. Alle wollen »heim«, egal ob es sich dabei um den Geburtsort handelt. Im Christentum bedeutete es »heim zu Gott«, in der Moderne suchte man seine Wurzeln, heute heißt es, man habe sowohl roots als auch routes – mit dem Effekt, dass wir auf Kosten der Umwelt durch die Welt reisen, ohne je heimzukommen. Dagegen empfiehlt sich die Lektüre der Odyssee, die von einer einzigen, langen Heimkehr handelt. Doch die Heimkunft geschieht nicht um ihrer selbst willen. Man sollte zu etwas heimkehren, nicht bloß etwas Verlorenes oder Versäumtes wiederfinden, sondern etwas vollenden. Odysseus hat in Ithaka ein Erbe zu Die Seele und das Schicksal

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verwalten, bei dem es nicht nur um seine Position als Herrscher geht, sondern auch um seine Liebe zu Penelope und Telemachos. Er ist Werten verpflichtet, auf denen seine Integrität aufbaut. Am meisten fühlt er sich Penelope verpflichtet. Seine Liebe zu ihr ist nicht abstrakt oder platonisch, sondern körperlich und erotisch. Dass er am Ende sein Bett wieder mit Penelope teilt, ist besonders wichtig. Auch in dieser Hinsicht ist die Odyssee ein Gegenstück zur Ilias, in der die untreue Helena den Trojanischen Krieg auslöst. Die treue Penelope hingegen wartet 20 Jahre lang auf die Rückkehr ihres Mannes und Liebhabers, obwohl sie nicht weiß, was mit ihm geschehen ist. Entsprechend hält Odysseus stets an seinem Ziel fest. Die Vollendung der Reise bedeutet für ihn, sein Leben und sein Schicksal zu erfüllen, und diese Beständigkeit macht seine Lebenspsyche zum Vorbild für die Nachwelt. Schon in den ersten Versen wird konkret gesagt, dass es hier um das Schicksal der Seele geht und dass dies fest mit Odysseus’ Heimkehr verbunden ist: Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach Wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte. Vieler Menschen Siedlungen sah er und lernte ihr Wesen Kennen und litt auf dem Meer viel Schmerzen in seinem Gemüte, Um sein Leben [psyche] bemüht und die Heimkehr [nostos] seiner Gefährten.

Um nach Hause zu kommen, muss er jedoch die Spielregeln befolgen, manche Fertigkeit (areté) beweisen und zu mancher Einsicht gelangen. Selbst in der Stunde der größten Not, als Poseidons Zorn sein Schiff getroffen hat und er sich an den gebrochenen Mast klammert, braucht er neben Stärke und Ausdauer auch seinen Verstand, um sich zu retten, wohl wissend, dass er gnadenlos bestraft wird, wenn er gegen die Grundprinzipien des Daseins verstößt. In unserem Zusammenhang ist die Bedeutung von nostos, wie sie Anna Törngren (2008) untersucht hat, besonders wichtig. Alles in der Odyssee dreht sich um die Rückkehr nach Ithaka. Als Odysseus den Seher Teiresias im Hades besucht, um zu erfahren, ob er je nach Hause kommen wird, liest dieser Odysseus’ Gedanken: Heimkehr, honigsüße, Odysseus, strahlender, wünschst du. Doch die wird dir erschweren ein Gott. (XI, 100 f.)

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Die Mutter aller Seelen – Homer

Dennoch kämet ihr wohl noch heim, wenn auch Schlimmes erleidend, Falls du deinen Mut und den der Gefährten zurückhältst. (XI, 104 f.)

Was den Mut der Gefährten angeht, gelingt dies nicht, sie schlachten die Rinder des Sonnengottes Helios und verspeisen sie, weshalb Teiresias vorhersagt:      Und magst du auch selber entrinnen, Kehrst du spät und schlecht nach Verlust all deiner Gefährten Heim auf fremdem Schiff und triffst zu Hause noch Unheil. (XI, 113 ff.)

Odysseus wird als Einziger heimkehren, weil er sein Begehren zügeln kann und an einem höheren Ziel festhält. Er kennt sein Schicksal, weil er besonnen ist. Dies ist das Los der Menschen zu allen Zeiten: suchen, erkennen und damit ihrem Schicksal folgen. Deshalb hält er seine Begierde in Schach, zügelt seinen Zorn und gibt sich der Leidenschaft nicht hin – wie seine Schutzgöttin Athene ihm geraten hat. Deshalb greift er nicht sofort zur Waffe, als er inkognito in seinen Palast zurückkehrt und sieht, wie die schamlosen Freier sich gebärden und seinen Sohn Telemachos verhöhnen: Gegen die Brust sich schlagend, schalt er das Herz mit den Worten: »Halte noch aus, mein Herz! Noch hündischer war’s, was du aushieltst […]« Also sprach er zu seinem Herzen mit scheltenden Worten. (XX, 17–22)

Odysseus besinnt sich, kurz bevor er die Kontrolle verliert. Er tadelt seine Leidenschaft, seinen Rachedurst und seinen Zorn, indem er an sein Herz appelliert, das in jüngeren Vorstellungen zum Sitz der psyche wird. Dieser Appell gibt Homer als einzigem Dichter einen Platz in Platons Idealstaat. Schon Platons Lehrer Sokrates hatte den Begriff sophrosyne (Besonnenheit und Gelassenheit) zum Ideal erhoben. Erreichen kann man dieses Ideal nur mithilfe der Vernunft (noos). Die Heimkehr (nostos) ist eine Heimkehr mit und zur Vernunft. Noos und nostos haben dieselbe Wurzel, beide sind von dem Verb neomai, »heimkehren«, abgeleitet, das ursprünglich »aus der Dunkelheit zurückkehren« bedeutete (Frame 1978). Die Vernunft zu suchen bedeutet, das Licht zu suchen, das Gegenteil der Dunkelheit, die im Totenreich Hades herrscht. Die Odyssee handelt vom Gegensatz zwischen Licht und Dunkel, Verstand und Unverstand, Tugend und Untugend. Jedes Mal, wenn Odysseus im Finsteren landet, steht sein Leben auf Die Seele und das Schicksal

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dem Spiel. Die Höhle des Zyklopen ist ein Bild für das Reich der Dunkelheit, ebenso alle anderen Höhlen, in denen Odysseus gefangen wird. Sie machen ihn zum »Niemand«, outis. Odysseus’ Kampf mit dem Zyklopen Polyphemos enthält einen Mythos über die Bedeutung des Namens. Individuum sein bedeutet, einen Namen zu haben. Man identifiziert sich durch seinen Namen und wird durch ihn identifiziert. Keinen Namen zu haben oder ihn weggenommen zu bekommen bedroht die persönliche Identität. Genau dies kann geschehen, wenn man stirbt. Es geschah zum Beispiel, wie Hannah Arendt betont, mit Millionen Juden, die in den Vernichtungslagern der Nazis anonym ermordet, verbrannt oder in Massengräber geworfen wurden. Es ist schlimm, vergessen zu werden, weil die Seele dadurch ihre Identität verliert und zur NichtSeele wird. Odysseus’ Kampf mit dem Zyklopen bringt dies auf mythische Weise zum Ausdruck. Der Held wird in der Höhle des Riesen gefangen, einer Höhle des Todes. Nur mit List kann er wieder ans Licht kommen. Er sagt dem Einäugigen, sein Name sei Outis, »Niemand«. Dann flößt er ihm starken Wein ein und blendet ihn im Schlaf. Polyphemos ruft laut um Hilfe. Die anderen Zyklopen der Insel fragen von außen, was los sei, und er antwortet, Niemand versuche ihn zu töten, weshalb er keine Hilfe bekommt. Der Name ist ein Wortspiel, denn Outis ist auch eine Kurzform von Odysseus. Homer illustriert damit, wie haarfein der Unterschied ist, jemand zu sein oder niemand zu sein. Obwohl er sich und seine Mannschaft damit in Gefahr bringt, will Odysseus sich nach dem Kampf zu erkennen geben. Er ruft dem geblendeten Riesen seinen wahren (oder ganzen) Namen zu, worauf dieser riesige Felsbrocken in die Richtung schleudert, aus welcher der Ruf kommt, und das Schiff nur knapp verfehlt. Tat und Name sind in Homers Welt eins und fest mit der Integrität und dem Ruhm (kleos) einer Person verbunden. Ein namenloser oder nicht namentlich bekannter Mensch kann auch kein Schicksal haben. Deshalb war es im christlichen Mittelalter so wichtig, ein krankes Kind zu taufen, bevor es starb. Der Name eines Menschen ist auch der Name seiner Seele. Deshalb will Dante die Namen aller Seelen erfahren, die er im Inferno trifft. Bei Odysseus’ Besuch im Hades erfahren wir viel über den Tod. Odysseus ist der einzige Mensch, der je den Hades lebendig verlässt. Mit anderen Worten: Er überwindet den Tod. Er rettet sein Leben, psyche, wie es in den einleitenden Versen heißt. Niemand in Homers Welt kümmert sich um das Schicksal der Seele nach dem Tod, solange sie in den Hades 30

Die Mutter aller Seelen – Homer

gelangt. In der Odyssee zählt das Leben im Tageslicht, das irdische Glück. Indem er seiner Vernunft und seinen Gedanken folgt, entkommt Odysseus auch den Verführungskünsten der Zauberin Kirke und kann später aus dem verborgenen Atlantis der Phäaken heimsegeln. Sie rüsten ihn mit einem höchst eigentümlichen Schiff aus, das keine Mannschaft braucht. Stattdessen richten sie ihm ein bequemes Lager auf Deck ein, auf dem er schlafen kann, während seine Gedanken ihn nach Hause führen. Das Schiff ist der Gedanke selbst: Denn nicht Steuerleute haben phäakische Schiffe Und nicht Steuerruder, wie andere Schiffe sie haben, Sondern sie wissen von selbst die Gedankengänge der Männer. (VIII, 557 ff.)

Athene, Odysseus’ Schutzgöttin, die ihn mit Verstand ausgerüstet hat, führt ihn inkognito zum König der Phäaken. Dabei beschreibt sie die Schiffe und Odysseus’ Aufgabe, nämlich eins mit dem Gedanken zu werden: »Ihre Schiffe sind schnell wie Flügel oder Gedanken« (noémata kai phrenas, VII, 36). Im Schlaf kann die psyche den Körper verlassen, mit den Gedanken eins werden und sich dort hinbegeben, wohin die Gedanken sie führen. So gelangt Odysseus, der sein Leben (psyche) gerettet hat, kraft seiner Gedanken, das heißt seiner Vernunft, endlich nach Hause. Nachdem seine Seele den Tod überwunden hat, ist sie zum Gedanken, noémata, geworden. Das Wort hat den gleichen Stamm wie noos, und das Schiff, das die Seele nach Hause bringt, ist der Körper, der die Seele beherbergt und befördert. Das Phrenes (Zwerchfell) ist ein Teil der Vernunft, denn was wäre die Seele ohne den Körper? Er gibt der Seele Substanz, setzt sie in Bewegung, damit sie selbst aus ihrer Hülle fahren kann, frei wie ein Vogel wird und sich kraft der Gedanken bewegen kann. In dieser Hinsicht nimmt Odysseus sogar Descartes um viele Jahrhunderte vorweg. Deshalb gebührt Homer ein zentraler Platz in der Genese der Seele. Er formt Odysseus’ Leben zu einem zusammenhängenden Ganzen, er gibt ihm Integrität. Diese Integrität ist intakt, weil Odysseus seiner Bestimmung treu bleibt und sich am Ende mit den Mächten versöhnt, die über dem Individuum stehen, nämlich den Göttern der Elemente. Im Geiste des mythischen Zeitalters zollt er den kosmischen Elementen, die das Leben aufrechterhalten, Respekt, denn wer sie kränkt, wird mit nemesis bestraft.

Die Seele und das Schicksal

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Psyches letzte Reise – Friede und Versöhnung Die meisten betrachten Odysseus’ Rache an den Freiern, deren Weg in den Hades unter Hermes’ Führung und die Versöhnung mit ihren Hinterbliebenen als Schluss der Odyssee. Doch was Odysseus angeht, ist die Geschichte damit nicht zu Ende. Er muss noch ein ganz besonderes und individuelles Opferritual vollbringen, bei dem er den Göttern Ochsen und andere Tiere darbringt. Es ist das Ritual, das der Seher Teiresias ihm im Hades vorgeschrieben hat. Nur dadurch kann er sich mit Poseidon versöhnen, den er auf seiner Fahrt gekränkt hat. Nur wenige haben dem Bedeutung beigemessen, da Odysseus’ letzte Schicksalstat nur mitten im Epos in Form einer Weissagung geschildert wird. Dabei ist sie ein entscheidender Schritt in der Genealogie der Seele. Die Weissagung ist so rätselhaft, dass es kaum Interpretationen gibt. Die Art und Weise, wie Odysseus seinen Frieden sucht, ist ein mythos der Seele. Sie zeigt, dass ein Mensch sein Leben auf seine Weise abschließen muss, um sich mit allem zu versöhnen, was geschehen ist – sowohl mit Dingen, die er selbst zu verantworten hat, als auch mit Ereignissen, an denen er ohne eigenes Zutun teilhatte. Doch um seinen Ausgang ordentlich zu regeln, muss man wissen, was man will, und sein Lebenswerk auf qualifizierte Weise abschließen. Später, in christlicher Zeit, wird man diesen Zustand »Seelenheil« nennen, eine Metapher, die auch außerhalb der Religion Bestand hat. Odysseus bereitet seinen Ausgang mit einer mythisch-rituellen Handlung vor, die ausschließlich seinem Tod und dem Ausgang seiner psyche gilt. Er erfüllt damit Teiresias’ Weissagung. Der blinde Seher war so klug, dass nicht nur Helden, sondern sogar Götter bei ihm Rat suchten. Nach seiner Heimkehr muss sich Odysseus mit Poseidon versöhnen, weil der Zyklop Polyphemos dessen Sohn ist. Teiresias hat ihm gesagt, wie er den Zorn des Gottes besänftigen kann, damit sein Selbst, sein autos, ebenfalls Ruhe finden kann. In dieser Hinsicht gleicht Odysseus den christlichen Helden, die uns zum Beispiel bei Dante begegnen werden. Er muss sich mit einem Gott versöhnen, gegen den er gefrevelt hat. Er begleicht seine Rechnung mit den Göttern, als Dank dafür, dass sie eine schützende Hand über ihn gehalten und ihm heim zu seinen Liebsten geholfen haben, und gleichzeitig erfüllt er das Schicksal, das ein Mensch ihm vorausgesagt hat, dessen Klugheit den Göttern ebenbürtig war. Hier geht es um Odysseus’ Integrität, um sein autos, dessen Abbild die Seele einmal wird. Die rituelle Versöhnung 32

Die Mutter aller Seelen – Homer

gilt wohlgemerkt nicht Odysseus’ Körper (soma). Eine intakte Integrität bedeutet, dass die kosmische Ganzheit, zu der man gehört, intakt sein muss und sich alle Teile am richtigen Ort befinden müssen. Jeder Bruch dieser Ganzheit muss geheilt werden und darin liegt Odysseus’ Ziel. Der Rat, den ihm Teiresias gibt, ist ebenso konkret wie rätselhaft: Doch nachdem du die Freier in deinen Hallen getötet, Sei es durch List oder offenen Kampf mit der Schärfe des Erzes, Wandere dann über Land, ein handliches Ruder ergreifend, Bis du zu solchen Leuten gelangst, die vom Meere nichts wissen Und die keine mit Salz gewürzte Speise verzehren; Denen auch nicht bekannt die purpurwangigen Schiffe Noch die handlichen Ruder, die Flügel sind für die Schiffe. Nun aber sage ich dir noch ein unverkennbares Zeichen: Wenn dir des Wegs ein anderer Wandrer begegnet und sagt dir, Dass eine Worflerschaufel du trägst auf schimmernder Schulter, Dann stoß fest hinein in die Erde das handliche Ruder, Und bring heilige Opfer dar dem Herrscher Poseidon, Einen Widder und Stier und saubespringenden Eber. Kehre sodann nach Haus und bring den unsterblichen Göttern, Die den Himmel bewohnen, heilige Festhekatomben, Allen der Reihe nach, und es wird dir ferne dem Meere Dann recht sanft sich nahen der Tod; du wirst ihm erliegen, Schon von stattlichem Alter gebeugt. Die Völker um dich her Werden glücklich sein. Das künde ich dir untrüglich. (XI, 119–137)

Odysseus erwidert nur: »Das, Teiresias, haben die Götter wohl selbst so gesponnen.« Er wird sein Schicksal erfüllen, den Göttern opfern und sich mit ihnen versöhnen. In unserem Zusammenhang ist es besonders wichtig, dass er sich auf seinen Tod vorbereitet, einen Tod in Versöhnung, in dem auch seine psyche Frieden findet und nicht rastlos umherirren muss. Dies gelingt ihm durch ein Ritual, das für ihn allein erdacht ist. Jeder Mensch muss sein passendes Ende finden und seinen Ausgang entsprechend regeln. Odysseus steht in der westlichen Kultur für den ersten Menschen, der Selbstbesinnung und Sorge um seine psyche zeigt, was ihm buchstäblich den ersten Platz in unserer Geschichte der Seele gibt.

Psyches letzte Reise

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Die Grenzen der Seele wirst du nicht finden, auch wenn du alle Wege durchwanderst. So tiefen Grund hat sie. (Heraklit)

DIE ERFINDUNG DER TIEFSINNIGEN PSYCHE

Obwohl die homerische Seele nur ein Schatten ist – ein Schatten ihrer selbst, im Nachhinein betrachtet –, bildet sie trotzdem die Grundlage für die Geschichte der Seele aus heutiger Sicht. Die entscheidende Veränderung in der Zeit nach Homer ist der Übergang von mythos zu logos, von einer mythisch-bildlichen zu einer rational-begrifflichen Erklärung. Dieser Wandel wird den Stellenwert der Seele nach und nach erhöhen. Er beginnt im 6. und 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung mit den ersten Philosophen, den sogenannten Naturphilosophen, allen voran Heraklit. Wie wir gesehen haben, manifestiert sich die homerische psyche erst nach dem Tod. Während Körper und Geist als objektiv gegeben gelten, scheint die psyche vom Menschen selbst geschaffen zu werden. Nach Bruno Snells Die Entdeckung des Geistes (1946) wurde der Geist entdeckt und die psyche erfunden. Die Entdeckung der objektiven Macht des Geistes ist der Hintergrund für das Aufkommen der Philosophie im antiken Griechenland. Dabei wird der Mythos schrittweise durch den Begriff der Vernunft (logos) als Erklärungsprinzip abgelöst. Am Anfang dieses Prozesses steht die Erfindung der psyche, um den Menschen in Balance mit sich selbst und der Welt zu bringen und eine Antwort auf die Frage zu finden, was nach dem Tod geschieht. Die psyche steht somit zwischen dem Gegebenen und dem, was der Mensch selbst schafft – indem er sich selbst formt. Gleichzeitig ist sie ein Medium zur Überschreitung des menschlichen Selbst. Die griechische Kultur war ein guter Nährgrund für neue Ideen und gedankliche Experimente. Ihr größtes Experiment war weder die Wissenschaft noch die Kunst oder die Philosophie, sondern der Mensch selbst. Dass die Vernunft den Menschen sozusagen überfällt (nous thyraton), bedeutet, dass er etwas Stärkerem unterliegt. Vor diesem Hintergrund Die Erfindung der tiefsinnigen Psyche

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nennt Nietzsche den Geist die »kleine Vernunft«, während der (erkennende) Körper als Vermittler von Dingen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, die »große Vernunft« ist. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne. […] Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst. […] Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. (Also sprach Zarathustra)

Nietzsche nahm seinen Ausgangspunkt im Dionysos-Kult, in dem der Körper als Medium benutzt wird, um Erkenntnisse jenseits des Verstandes zu erlangen. Die ekstatische Verzückung wird dort als eine Art göttliche Offenbarung erlebt. Wie Nietzsches Freund Erwin Rohde (1845–1898) in seinem Werk über die psyche der Antike darlegt, schafft das Zusammenspiel zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen eine Sehnsucht nach der Unendlichkeit sowie die Vorstellung einer göttlichen und damit unsterblichen Seele. In der Zeit nach Homer wird diese Rolle der psyche zugeschrieben. Die vorsokratischen Naturphilosophen versuchten, die Welt und den Menschen auf einen Urstoff (arché) zurückzuführen: Erde, Luft, Wasser oder Feuer. Dies beeinflusste auch das Verständnis der psyche. Wenn Feuer der Urstoff der Welt ist, sieht die Seele entsprechend aus. Heraklit fasst sie als ein glühendes Element im Menschen auf. Er argumentiert ähnlich wie Anaxagoras, der ein Vernunftsprinzip, nous, als Kern aller Dinge sieht. Heraklit nannte es logos und nahm damit Platons Vernunftslehre vorweg, in der »das Eine« (hen) Grundprinzip der Wirklichkeit ist. Im Gegensatz dazu steht Anaximanders Arché-Prinzip apeiron, das »Unendliche« oder »Unbegrenzte«, welches auch mit »Leere« oder »Nichts« übersetzt wird. Damit sind bereits in der Antike beide Extreme für das Schicksal der Seele vorgegeben: entweder die Auflösung im Nichts oder die Vereinigung mit dem Einen, mit der Einheit oder mit Gott. Große Bedeutung für die Nachwelt hatten die späteren Atomisten Leukipp (5. Jh. v. Chr.) und Demokrit, sein Schüler, die behaupteten, die Welt – auch die Seele – sei aus unteilbaren Partikeln zusammengesetzt (gr. atomos, »unteilbar«). Von allen vorsokratischen Philosophen befasste sich Heraklit am meisten mit der Seele. 36

Die Erfindung der tiefsinnigen Psyche

Alles fließt – Heraklits psyche Heraklit (535–475 v. Chr.), der für seine rätselhaften Aphorismen bekannt ist, repräsentiert in vieler Hinsicht ein Zwischenstadium zwischen Homer und Platon, doch er nimmt auch die große Bedeutung der psyche in Platons Welt- und Menschenbild voraus. Heraklit war der Erste, der eine Philosophie über das Selbst und die psyche erdachte. Bei ihm gehört psyche dem göttlichen Feuer und dem Äther an. Heraklits Werke sind nur fragmentarisch als Zitate aus späteren Werken überliefert, welche die Philologen Diels und Kranz (fortan DK, gefolgt von der Fragment-Nummer) zusammengetragen haben. Er gilt als einer der unergründlichsten Denker der Antike, seine Aphorismen und geheimnisvollen Sentenzen erlauben unterschiedliche Auslegungen und brachten ihm den Beinamen »der Dunkle« ein. Aristoteles gibt ihm in Peri psychés (»Über die Seele«) eine wichtige Rolle: »Aber auch Heraklit sagt, der Urgrund sei Seele, nämlich die Aufdünstung, aus der er das Übrige entstehen lässt, sie sei aber auch das Unkörperlichste und in dauerndem Fluss« (405a). Heraklit ist der Erste, der logos und psyche verknüpft: »Die Grenzen der Seele [psyche] wirst du nicht finden, auch wenn du alle Wege durchwanderst. So tiefen Grund [logos] hat sie« (DK B45). Laut dem Naturphilosophen befindet sich alles – sowohl Menschen als auch Elemente – in ständiger Bewegung und Veränderung, was es noch schwieriger macht, die Welt zu begreifen. »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen« (DK B91/B12) lautet einer seiner bekanntesten Aphorismen. Damit führt er das Paradox ein, dass sich etwas verändern und doch dasselbe bleiben kann, ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die psyche und die persönliche Identität. Leben heißt Veränderung; pantha rei (»alles fließt«) lautet der Sinnspruch, den die Nachwelt für immer mit Heraklit verbinden wird. Ganz nach dem Motto des Apollotempels von Delphi, gnothi seauton (»Erkenne dich selbst«), betont Heraklit, dass die Götter nicht verkünden, sondern lediglich deuten. Wohin sie deuten, müssen wir selbst herausfinden. Heraklit deutet nach innen, in die unergründlichen Tiefen des Selbst, in die keiner zu schauen wagt, und auf die höchsten Sphären, wo ganze Welten liegen, die die Abgründe spiegeln. Diese erforscht Heraklit im eigenen Gemüt. Geradezu arrogant konstatiert er, dass er als Einziger der heiligen Aufforderung am Apollotempel von Delphi gefolgt sei: »Ich beriet mich bei mir selbst« (DK B101). Was er im delphischen Wort gehört hat, erfahren wir nicht, denn er sah es nicht als seine Aufgabe an, andere mit Alles fließt – Heraklits psyche

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seinen Erkenntnissen zu belehren. Den Ruhm und die Ehre, nach denen die homerischen Helden strebten, verachtete er. Er vermied den Lärm der agora (Markt- und Versammlungsplatz) und zog sich lieber in die Säulengänge eines Tempels oder die Berge der Umgebung zurück. Er glich der »Natur, die sich zu verstecken pflegt« (DK B123). Psyche gehört zu den häufigsten Substantiven in Heraklits Vokabular, in den kurzen B-Fragmenten kommt sie zehn Mal vor. Heraklit verbindet sie mit den Elementen Luft, Wasser und Feuer, insbesondere mit Letzterem. Die Seele entsteht aus Wasser, wird jedoch durch rechten Lebenswandel im Lauf der Zeit trocken. »Die trockene psyche ist die weiseste und beste« (DK B118). Das Feuer der Seele ist ihre Klugheit, es kann durch Faktoren wie Schlaf, Alkohol oder Zorn reduziert werden. Eine feuchte Seele ist eine törichte Seele, und wenn sie zu nass wird, geht sie unter. Wird sie hingegen vom Feuer getrocknet und angefacht, überlebt sie. Das Feuer wird mit dem logos verbunden – ein weiterer Lieblingsbegriff Heraklits. Er war kein spekulativer Theoretiker, sondern suchte Antworten auf die praktischen Rätsel des Lebens. Die Glut im eigenen Herzen erklärte er als etwas von außen Gegebenes, als universelles Prinzip. In Heraklits Seelenbegriff treffen also also zwei gegensätzliche Elemente aufeinander. »Für Seelen bedeutet es Tod, dass Wasser entsteht; […] aus Erde aber entsteht Wasser, aus Wasser Seele« (DK B36). Die psyche wechselt ihren Charakter je nach dem Anteil der beiden Elemente, und dieser Zustand hängt unter anderem davon ab, ob eine Person wach ist oder schläft, ob sie am Leben oder tot ist. Die moralischen und intellektuellen Qualitäten eines Menschen, sein logos, haben also Einfluss auf den Zustand und das Schicksal der Seele. Heraklit stellt sich auch vor, dass die Seele nach dem Tod in einer höheren Form weiterexistiert – ein großer Sprung im Verhältnis zu Homers Schattenseele. Er behauptet sogar, die Seele habe ihren eigenen Verstand (DK B115). Leben (bios) und Tod (thanatos) sind bei Heraklit keine Gegensätze. Manche Bestandteile des Körpers sterben ständig und werden wieder neu geschaffen. Doch das Ziel steht fest: »Der Name des Bogens ist Leben, sein Sehnen jedoch ist gespannt auf den Tod« (DK B48). Psyche ist der Pfeil, der sein Ziel im Flug sucht. Auch sie ändert ihren Charakter im Zusammenspiel mit den gegensätzlichen Elementen. Es gibt ein dynamisches Zusammenspiel zwischen psyche, Feuer und Wasser sowie den anderen Elementen. Die Gegensätze ergeben ein Ganzes, jedoch keine Harmonie der Elemente wie im antiken Kosmos. Das Schicksal der psyche wird 38

Die Erfindung der tiefsinnigen Psyche

von Dike, der Göttin der Gerechtigkeit, und vom logos der Gerechtigkeit bestimmt. Darin unterscheidet sich die psyche von der Vernunft, nous, die keine feste Substanz hat und eher Luft als Feuer ist. Die Seele hingegen braucht Nahrung, wie das Feuer Brennstoff braucht. Wie die Seele den restlichen Körper nährt und der Vernunft Brennstoff gibt, nährt auch das Wasser das Feuer. Das Feuer wiederum nährt die Seele, indem es Wasser verdampfen lässt. Eine Seele ohne Glut ist eine tote Seele. Heraklit sperrt die Seele nicht ein, er kann als Vertreter der dionysischen Weisheit betrachtet werden, in welcher die vorbewussten Schöpferkräfte noch gelten. Sie setzen voraus, dass etwas Altes untergehen muss, damit Neues entstehen kann, ein kosmisches Spiel, bei dem die Götter mit den Sternen spielen wie Kinder mit Steinen. Gott, die Kunst oder das Spiel und das Kind waren für Heraklit drei Seiten derselben Sache. Er liebte es, vor dem Artemistempel in Ephesos mit Kindern Würfel zu spielen. Der notorische Misanthrop fand das Kinderspiel vernünftiger als die Politik, obwohl er auch der erste Philosoph war, der überhaupt Interesse am Leben in der polis zeigte. Er verglich die weltenformende Schöpferkraft mit einem Kind, das im Spiel Steine aufeinandertürmt, Sandburgen baut und sie wieder zerstört. Die Welt ist Entstehung und Bewegung (kinesis) und kein statisches Verweilen (stasis). Sie ist konstante Veränderung: pantha rei, »alles fließt«. Heraklits Überschuss an Freiheit war so groß, dass er sogar mit seinem Tod spielen und ihn als Farce inszenieren konnte. Doch sein Spiel und sein tiefsinniges Gelächter hatten einen Beigeschmack, die ihm den Beinamen »der weinende Philosoph« einbrachten. Mit seiner illusionslosen Erkenntnis steht Heraklit in einer antiken Tradition, die durch viele Varianten ausgedrückt wird: Das Beste ist, nie geboren zu sein, nicht zu existieren. Das Zweitbeste ist, jung zu sterben und zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren. Heraklit begründet seine Misanthropie damit, dass die Menschen die Welt nicht verstünden. Sie nähmen das delphische Wort nicht ernst und würden aggressiv, wenn sie Worte des Verstandes (logos) hören (DK B87). Deshalb seufzte er larmoyant: »Einer gilt mir wie Unzählige, wenn er der Beste ist« (DK B49). Eines der bekanntesten Heraklit-Zitate sagt viel über die Funktion der Seele zu allen Zeiten: »Schlechte Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, wenn sie barbarische Seelen haben« (DK B107). Es bedeutet nicht, dass Heraklit Sinneserfahrungen ablehnt, sondern dass sie im Einvernehmen mit dem logos verstanden werden müssen. Die bloße Sinneserfahrung lehnt er ab, weil sie die Dinge zeigt, als wären sie bleibend und Alles fließt – Heraklits psyche

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einheitlich, obwohl sich doch alles im Fluss befindet. Aus diesem Grund vergleicht Heraklit die Seele mit einer Spinne, die in der Mitte ihres Netzes sitzt und es repariert, sobald es beschädigt wird. Heraklit verbindet auch Seele und Weisheit, psyche und sophia. Er stellt die Seele insofern als »psychologisch« dar, als sie Ausdruck von Tiefe, Spontaneität und persönlichen Charakterzügen ist, die der Introspektion unterliegen (vgl. DK B115 und B45). Heraklits soma wird von einem daimon begleitet, der »Reisen« zum Vorteil der psyche unternehmen kann. Diese Reisen gehen nicht ins Äußere, sondern ins Innere, wie in der schamanistischen Tradition. Sokrates’ berühmter daimon, die innere Stimme, hat also einen Vorläufer in Heraklit, der deshalb als würdiger Vertreter der Vorsokratiker hier steht. Mit seinem Verständnis des logos nimmt er das spätere Verständnis der psyche voraus, insbesondere das von Sokrates und Platon, die der Spaltung des Menschen durch ihren Dualismus beschuldigt werden. Doch Platon war nicht der Erste, der den Dualismus einführte.

Die Seele wird unsterblich – Orphiker und Pythagoreer Neben Heraklit spielen die Pythagoreer und Orphiker, deren Traditionen weit in die Vergangenheit reichen, eine wichtige Rolle für das Verständnis der psyche in der Zeit nach Homer. Auch sie gelten als verantwortlich für die Einführung des Dualismus zwischen Körper und Seele in der griechischen Philosophie. Was die Seele angeht, hatten beide Bewegungen viele Gemeinsamkeiten, unter anderem einen starken Einschlag von Mystizismus. Dieser wird oft mit dem Einfluss östlicher schamanistischer Traditionen erklärt. Kennzeichnend für den Schamanismus ist, dass die Seele den Körper verlassen kann und eine geistige Existenz außerhalb des Körpers führt. Die Orphik ist ein Mysterienkult, der seinen Namen von dem mythischen Sänger Orpheus (6. Jh. v. Chr.) hat. Er gilt als volkstümlicher Brauch, der auch gewöhnlichen Menschen Gutes verspricht – im nächsten Leben. In den orphischen Mysterienspielen wird der psyche ein göttlicher Charakter zugeschrieben, sie ist unsterblich. Diese religiöse Vorstellung vom nächsten Leben der Seele beeinflusste auch die Platoniker. Pythagoras (ca. 570–500 v. Chr.) soll selbst eine Art Schamanismus oder einen esoterischen Mystizismus praktiziert haben, der es seinen Anhängern verbot, ihre auf Zahlenmystik und Astrologie beruhenden Erkennt40

Die Erfindung der tiefsinnigen Psyche

nisse publik zu machen. Er hatte großen Einfluss auf das spätere Verständnis des Selbst und der psyche. Der Vorsokratiker war sowohl in der kultischen Tradition als auch in der erstarkenden Philosophie und der Wissenschaft bewandert. Noch heute lernt jedes Schulkind in Mathematik den Satz des Pythagoras a² + b² = c². Als Philosoph war er einer der Ersten, die zwischen Körper und Seele unterschieden und damit ein dualistisches Menschenbild schufen. Er soll auch als Erster behauptet haben, dass die Seele im Gehirn des Menschen sitze. Seine Lehre sollte großen Einfluss auf Platon haben, der in seinem Phaidon die Seele mit einem Pythagoreer diskutieren lässt. Deshalb ist es ungerecht, Platon allein zum »Sündenbock« für den Dualismus zwischen Körper und Seele in der griechischen und späteren europäischen Kultur zu machen. Sowohl die Orphiker als auch die Pythagoreer glaubten an die Seelenwanderung, was möglicherweise von Kontakten zur indischen Kultur ihrer Zeit zeugt. Pythagoras meinte, die Seele könne nach dem Tod in anderen Lebewesen wohnen. Es heißt, dass er einmal in Tränen ausbrach, als er einen Hund jaulen hörte, der geprügelt wurde. Er glaubte, die Stimme eines verstorbenen Freundes im Jaulen des Hundes zu erkennen. Die Pythagoreer betonten, dass die Eigenschaften der Seele die Persönlichkeit und die moralischen Qualitäten des Individuums spiegelten. Ihre Theorie von der Unsterblichkeit der Seele führte bald zu einer Abwertung des diesseitigen Lebens und des Körpers, der als das Gefängnis oder Grab der Seele bezeichnet wurde, und einer entsprechenden Aufwertung des Jenseitigen, wo die Seele ihre göttliche Bestimmung findet. Körper und Seele wurden fortan strenger voneinander abgegrenzt. Die in der frühen griechischen Kultur weit verbreiteten Mysterienkulte trugen wesentlich zu dieser Entwicklung bei. Weil die Pythagoreer der orphischen Tradition nahestehen, spricht man auch von der orphisch-pythagoreischen Tradition. Ihre Auffassung der Seele stimmt in wesentlichen Punkten mit der Platons überein, wodurch sie allmählich dominant wird. In seiner Politeia kommentiert Platon die orphische Lehre, wobei er besonders die Sühne, die Reinigung und das Opfer (die Orphiker lehnten das Tieropfer ab) sowie das Leben nach dem Tod betont (363c). In den Mysterienkulten tritt der Mensch durch Ekstase in Kontakt mit dem Göttlichen, wenn die Seele vorübergehend den Körper verlässt. Die psyche wird von einer Leben spendenden Leibesseele zu etwas Geistigem, das sich vom Körper befreien soll. Gleichzeitig werden die »objektiven« Kräfte, die in der Brust von Homers Figuren rumorten, Orphiker und Pythagoreer

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zu inneren, persönlichen Angelegenheiten. Das Äußere wird innerlich und das Innere wird Gegenstand der Introspektion und damit Selbstreflexion – es wird zu jener Achse, um die sich das griechische Menschenbild für die restliche Zeit der Antike drehen wird. Dadurch wird die Anthropologie, die Lehre vom Menschen (antropos) zur zentralen philosophischen Disziplin. Die ersten Philosophen hatten versucht zu erklären, wie die Welt aus natürlichen Elementen zusammengesetzt ist: Erde, Luft, Wasser und Feuer. Nach den Naturphilosophen wird das Verhältnis zwischen Vernunft und Körper, logos oder nous und psyche zur zentralen Frage. Allmählich nimmt die psyche auch die Vernunft (nous) in sich auf. Die Polyphonie im Körper des homerischen Menschen wird durch die Hegemonie der psyche im Bündnis mit nous ersetzt. Der Mensch versucht, Kontrolle über Impulse zu erlangen, die ihn von außen erreichen, das heißt von seinem Körper oder in Form von göttlicher Eingebung im homerischen Sinn. Begehren und Leidenschaft sollen beherrscht werden und in diesem Kampf wird die psyche eine führende Rolle spielen. Nietzsche hat treffend beschrieben, was in dieser Phase geschieht und was dies für die Seele bedeutet: Alle Instinkte, welche sich nicht nach Außen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maße auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Außen gehemmt worden ist. (Zur Genealogie der Moral [GM] II-16)

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Die Erfindung der tiefsinnigen Psyche

Die Musik ist ein moralisches Gesetz. Sie schenkt unseren Herzen eine Seele, verleiht den Gedanken Flügel, lässt die Phantasie erblühen. (Platon)

PLATONS PSYCHE EROBERT DEN MENSCHEN

Der Schritt von Homer zu Platon (427–ca. 347 v. Chr.) ist wie der Eintritt in eine neue Welt. Zum einen markiert er den Übergang von mythos zu logos, von einer mythischen Denkweise zu rationaler Reflexion mit definierten Begriffen, zum anderen den Übergang von Körper zu Seele, von soma zu psyche. Bei Homer war der Körper das Selbst, bei Platon ist die psyche Zentrum des Menschen und sein Selbst (autos). Der Mensch ist keine zusammengesetzte Ganzheit aus Körper und Seele, er ist seine psyche, die mit dem Körper im Konflikt steht. Mit anderen Worten: Wir stehen vor einem anderen Menschentyp und nicht zuletzt einer neuen Moral mit anderen Tugenden (aretai). In Platons Augen (in der Politeia) findet nur ein einziger Satz Homers Gnade, nämlich die oben zitierte Verszeile, in der Odysseus an sein Herz appelliert, sich zu zügeln: »Halte noch aus, mein Herz! Noch hündischer war’s, was du aushieltst.« Darum geht es in Platons Menschenbild: pathos und Begehren zu zügeln, sich zu besinnen und die Vernunft regieren zu lassen. Das philosophische Erbe und der philosophische Diskurs zu Platons Zeiten waren ein einziges Chaos unterschiedlicher Ideen über die Natur des Menschen und die Bedeutung des Menschseins. Die Naturphilosophen und Vorsokratiker hielten verschiedene Erklärungen der Seele bereit und die materialistischen Atomisten reduzierten den Menschen zu einem Produkt von Naturprozessen. Platon hingegen behauptete, der Mensch mit seiner Vernunftseele habe eine Sonderstellung. Besonders die Sophisten waren ihm ein Dorn im Auge, denn deren Konsequenz aus der Vielfalt der Stimmen war die Verkündung eines Relativismus, den Platon nur als »anything goes« ansehen konnte. Für ihn war dies inakzeptabel. In vielen seiner Dialoge argumentiert er gegen den Relativismus der Sophisten. Platons psyche erobert den Menschen

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Es musste doch eine Wahrheit über den Menschen geben, eine Wahrheit anstelle unzähliger Auslegungen! Dies galt besonders für die psyche, denn der Weg zum Wahren geht über sie. Um Platons Kampf um die Seele zu verstehen, müssen wir ihn im Licht seiner Vorgänger und seiner Gegenwart betrachten. Kultur- und ideengeschichtlich betrachtet hat Platon gewonnen, doch für ihn war es ein harter Streit. Den Zeitgenossen war keineswegs klar, das die psyche zum Zentrum des Menschen werden sollte, wie die großen Tragödiendichter Sophokles (496–406 v. Chr.) und Euripides (480–406) zeigen. In den Protagonisten von Antigone, König Ödipus, Medea und Elektra geht nach wie vor derselbe Streit zwischen objektiven inneren Kräften vor sich, den wir aus Homer kennen. Es ist der alte Streit zwischen phren, nous, thymos und kardia. Phren(es), das Zwerchfell, kommt dabei am häufigsten vor. Noch immer gibt es kein zentrales Selbst, das diese Kräfte und die Leidenschaften, für die sie stehen, steuern könnte. Medea tötet grausam ihre eigenen Kinder, wie Klytaimnestra ihren Ehemann; beide sind von Rachedurst und innerlichen Leidenschaften gesteuert. Das Drama, das sich zwischen diesen inneren Mächten abspielt, ist der Grund, warum uns die griechischen Tragödien noch heute ansprechen. Nicht ohne Grund benutzte Freud die Figur des Ödipus, um seine psychologischen Theorien zu illustrieren. Doch im 5. Jahrhundert v. Chr. ändern sich die Dinge. Wie wir schon bei Heraklit gesehen haben, ist die psyche nun ebenfalls zu einer treibenden Kraft im lebendigen Menschen geworden und steht auf einer Linie mit phren, nous, thymos und kardia (vgl. Sullivan 1999, Kap. 7). Sie ist zum Träger von Gefühlen, Gedanken und moralischen Qualen geworden. Diese Entwicklung wird mit Platon vollendet, der die psyche zur wichtigsten Instanz im Inneren des Menschen macht. Laut Platon soll die psyche die Leidenschaften und Begierden des Körpers bekämpfen, das pathos, das die Kontrolle über das Individuum an sich reißt und es in die Irre führt. Platons vernünftige psyche ist sowohl der Zweck als auch das Mittel, um diese Leidenschaften zu zügeln. In diesem Kampf ist Platons Lehrer Sokrates sein erster Wappenträger. Er tritt in Platons fiktiven Dialogen als Sprachrohr seines Schülers auf. Mit dem Aufruf zur Besonnenheit leistet Sokrates auch einen eigenen Beitrag zu der Frage, wie man seine Seele zu Lebzeiten hütet und seinen Tod zur rechten Zeit stirbt. Sokrates ist eine »anthropologische Innovation«, ein neuer Menschentyp (Böhme 1988, S. 32). Die sokratische Besonnenheit, sophrosyne, ist der zentrale Punkt in Platons Menschenbild. Um sich zu besinnen, muss man sich selbst kennen – 44Platons psyche erobert den Menschen

gnothi seauton, was Sokrates zum Motto einer ganzen Kultur macht. Um sich wiederum selbst zu kennen, muss man sich selbst zum Gegenstand der Reflexion machen und sich um sich selbst sorgen (epimeleia eauton). Das Selbst des Menschen präzisiert Sokrates als psyche. Des Menschen wichtigste Aufgabe ist deshalb, sich um seine Seele zu kümmern, sie zu »pflegen« (epimeleia tes psyches).1 Sokrates’ Definition der Seele ist erstaunlich »modern«: Sie ist keine gegebene Einheit, sondern etwas Reflexives, das durch den Verstand entsteht, indem der Mensch über sich selbst und andere nachdenkt. Selbsterkenntnis wird durch das erreicht, was Platon den »Dialog der Seele mit sich selbst« nennt – was man nicht zu wörtlich verstehen darf, denn Sokrates erlangt die Selbsterkenntnis nur im Dialog mit anderen, mit seinen Mitbürgern. Mit seinen Fragen zwingt er die Gesprächspartner, selbst zu denken und ihre Standpunkte und Vorurteile zu überprüfen. Platons und Sokrates’ »Seelsorge« ist also nicht so individualistisch, wie sie oft dargestellt wird. Sokrates holt die Philosophie vom himmlischen Kosmos auf die Erde, er will ein besseres Leben schaffen, indem er die Menschen zur Selbsterkenntnis zwingt. So wird die Reflexion und Selbstreflexion oder die Sorge um die Seele zur obersten Aufgabe der Philosophie und bleibt es bis ins 20. Jahrhundert. Die Seele als Sitz der Vernunft wird zum Subjekt und zum Objekt der Gedanken. Doch Selbsterkenntnis hat auch ein praktisches, soziales Ziel, nämlich Gelüste, Leidenschaften und Begierden mithilfe der Vernunft zu kontrollieren. Darüber hinaus – und mit lang andauernden Konsequenzen für die europäische Kultur – wird der Mensch mit einer Moral ausgestattet. Es entsteht ein pädagogischer Anspruch, den Menschen nach gegebenen und hierarchisch geordneten Normen zu formen, wobei »die ewigen Ideen«, das Gute, das Schöne und das Wahre, an der Spitze der Hierarchie stehen. Das Besondere am platonischen Menschen ist nicht nur seine Fähigkeit zur Reflexion und Besonnenheit, sondern auch, dass die Impulse, die den homerischen Menschen von außen erreichten und sich lediglich im Körper abspielten, nach Platons Ansicht Kräfte und Impulse sind, die sich von Anfang an im Inneren des Menschen abspielen, nämlich in der Seele. Der Mensch muss zu sich selbst Stellung beziehen und im Streit, der in seinem Inneren vorgeht, Partei ergreifen. Dies ist mit Verinner1

Epimeleia und zugehörige Verben werden leicht unterschiedlich interpretiert und übersetzt. Egil A. Wyller übersetzt »Pflege« und »die Seele pflegen«. Der Grundgedanke bleibt jedoch die aktive Sorge um die Seele und die Entwicklung seelischer Fähigkeiten.

Platons psyche erobert den Menschen

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lichung oder Internalisierung gemeint. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Platon zwischen Körper und Seele und macht den Körper mit seinen Leidenschaften und Affekten zum Gegenspieler der vernünftigen Seele. Platons idealer Mensch ist selbstbestimmt, autonom, er ist Herr im eigenen Haus, weil er weiß, welche Kräfte die Selbstbeherrschung bedrohen. Platon macht die psyche zum Sitz der Vernunft und zum Zentrum des Menschen, um das sich alles dreht.

Der Lenker und der Zweispänner der Seele Im bekannten Gleichnis vom Zweispänner der Seele (Phaidros 246a–b) erklärt Platon seine Seelenlehre. In seinem Hauptwerk Politeia (»Der Staat«, 4. Buch, 436b–441c) entwickelt er sie mit der Lehre von den drei Teilen der Seele weiter. Diese sind das Überlegungsvermögen (logistikon), das Muthafte (thymoeides) und das Begehrungsvermögen (epithymetikon). Für Ersteres, den Vernunftsteil der Seele, benutzt Platon mehrere Begriffe: nous, noeton, logos, logistikon. Der sprachbewusste Leser hat bereits bemerkt, dass die beiden »Gefühlsteile« Varianten von thymos sind. Beide hängen mit dem menschlichen Willen – und Wollen – zusammen. Thymoeides wird meist als »Mut« oder »Wille« übersetzt, im Grunde eine positive Eigenschaft, die aber auch mit Ehrgeiz und Prestige zu tun hat. Hingegen ist epithymetikon eher negativ belegt und wird als Ungeheuer dargestellt, ein Sack voller Affekte und Begierden. Um diese Dreiteilung zu illustrieren, benutzt Platon das Bild des Zweispänners mit Wagenlenker. Letzterer steht für die Vernunft. Sein Wagen wird von einem guten und einem schlechten Pferd gezogen, die er versucht in Einklang zu bringen. Dafür braucht er thymos, das gute, weiße Pferd im Gespann. Gemeinsam mit ihm zügelt er den schwarzen, ungestümen Hengst. Das weiße Pferd strebt nach oben in die Sphären der Ideen, das schwarze zieht es hinab zum Irdisch-Sinnlichen: [Die Seele] gleiche daher der zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Gespannes und seines Führers. […] Nun lasst uns die Ursach von dem Verlust des Gefieders, warum es der Seele ausfällt, betrachten. Es ist aber diese: Die Kraft des Gefieders besteht darin, das schwere emporhebend hinaufzuführen, wo das Geschlecht der Götter wohnt. Auch teilt es vorzüglich der Seele mit von dem was des göttlichen Leibes ist. Das Göttliche nämlich ist das Schöne, Weise, Gute und was dem ähnlich ist. Hievon also nährt sich und wächst vornehmlich das Gefieder der Seele, durch

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das missgestalte aber, das böse und was sonst jenem entgegengesetzt ist, zehrt es ab und vergeht (246be).

Wenn der Wagenlenker seine Pferde gut erzogen hat und richtig steuert, kann er so hoch in den Himmel gelangen, dass er an die Grenzen des Kosmos stößt und sein Kopf – wo der vernünftige Teil der Seele wohnt – über den Horizont hinausschaut. Er bekommt Einsicht in die göttliche Welt, wo die ewigen Ideen herrschen. Den Sitz der drei Seelenteile lokalisiert Platon im Dialog des Timaios: das unsterbliche logistikon im Kopf, den Mut in der Brust (Herz) und das Begehren im Bauch (69c–70a). Doch obwohl alles Menschliche nun dem Körper innewohnt, wird es zum Gegenstand einer Hierarchisierung, bei der das »Niedrige« und Körperliche dem höher gelegenen, bewussten Vernunftsteil untergeordnet wird. So wird die Entdeckung des Geistes allmählich zu einer Unterdrückung oder einer Verdrängung des Körpers (Schmitz 1965, S. 336). Im Dialog Symposion wird die neue Art der »Seelsorge« im Verhältnis zu den ewigen Ideen diskutiert. Dort benutzt Sokrates die Seherin Diotima als Sprachrohr für seine Ansichten über die wahre Liebe. Sie verknüpft Eros und Erkenntnis mit der Seele. Das Ziel ist die Liebe (eros) zur Wahrheit. Diotima meint, dass sowohl der Körper als auch die Seele nach etwas Höherem streben (206c), nach den ewigen Ideen und »dem Einen«. Nicht schöne Knaben sind das höchste Glück, ermahnt sie Sokrates, sondern schöne Seelen und das Glück der Wahrheit (eudaimonia), welches die vernünftige Seele durch Vertiefung in sich selbst erreicht. Dort nämlich liegt die latente Erinnerung an die ewigen Wahrheiten (die Ideen des Guten, des Schönen und des Wahren), die dem Menschen angeboren ist. Die Erkenntnis des Wahren ist deshalb eine Art Wiedererkenntnis (anamesis) dessen, was die Seele schon im Jenseits – das heißt vor der Geburt – gesehen hat. Wer sich in sich selbst vertieft, kann die Wahrheit in seinem Inneren erkennen. Diese Vertiefung ist gleichzeitig ein Aufstieg auf eine höhere Ebene der Erkenntnis, wie Platon sie in seinem Liniengleichnis darstellt. Dort stehen die ewigen Ideen und das Eine (Gott) an der Spitze der Hierarchie. Nur der Vernunftsteil der Seele kann sie erkennen, was den eigentlichen Zweck der Seele ausmacht. Für eine solche Erkenntnis müssen wir wieder werden, was wir einmal waren: göttergleich. Diese Transzendenz, die Fähigkeit, über sich selbst hinauszugehen, ist Sinn und Zweck des Daseins. Die Folge der rechten Erkenntnis ist letztendlich nicht nur eine gute und schöne Seele, sondern auch ein richtiges Leben und richtiges Handeln. Der Lenker und der Zweispänner der Seele

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Dualismus, die Unsterblichkeit der Seele und ihre Bestimmung Die Zügelung der Leidenschaften, Begierden und Triebe gehört zu Platons Strategie der Befreiung, »denn auch Kriege und Unruhen und Schlachten erregt uns nichts anders als der Leib und seine Begierden«, wie es im Dialog Phaidon (66c) heißt. Deshalb muss die Seele sich vom Körper distanzieren und ein gegensätzliches Wesen annehmen. Diese Unterscheidung endet schließlich in einem Dualismus zwischen Körper und Seele, bei dem der Stellenwert des Körpers herabgewürdigt wird. Der Körper geht mit dem Tod zugrunde, während die Seele weiterlebt. Dieser platonische Substanz-Dualismus sollte im gesamten Mittelalter, bis hin zu Descartes, das Bild der Seele in der westlichen Kultur bestimmen. Im Phaidon und in der Apologie des Sokrates erfahren wir mehr über den Endzweck der Seele. Ihre Unabhängigkeit zeigt sich in der Fähigkeit, sich vom Körper zu befreien, der für Platon nur das Grab der Seele ist. Erst durch den Tod wird sie aus diesem Grab befreit. Bevor Sokrates den Schierlingsbecher leert, verkündet er, er werde nicht im Grab liegen, sondern seinen Körper verlassen und als unsterbliche Seele weiterleben (Phaidon 115de). Sokrates legt großen Wert darauf, dass die Seele nicht nur unsterblich, sondern auch unvergänglich ist. Sie kann vernachlässigt oder besudelt, nicht aber vernichtet werden. Stattdessen existiert sie in irgendeiner anderen Form auf ewig weiter. Die Seele ist unsterblich, weil sie mit der Ideenwelt der Vernunft verwandt ist, die göttlicher Herkunft und ebenfalls ewig ist – im Gegensatz zur materiellen, sinnlich erfassbaren Welt. Sokrates fasst das Gespräch mit seinem Freund zusammen und fragt, ob daraus nicht folge, dass dem göttlichen, unsterblichen, vernünftigen, eingestaltigen, unauflöslichen, und immer einerlei und sich selbst gleich sich verhaltenden am ähnlichsten ist die Seele, dem menschlichen und sterblichen und unvernünftigen und vielgestaltigen und auflöslichen und nie einerlei und sich selbst gleich bleibenden diesem wiederum der Leib am ähnlichsten ist. (80ab)

Dank der späteren christlichen Theologen wurde die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele zum bleibenden Erbe aus Platons Werk. Das erste Argument, das Platon dafür vorbringt, ist die Integration der Seele im Zyklischen (vgl. 70d–72e). Alles entsteht aus seinem Gegenteil. Wie man 48Platons psyche erobert den Menschen

vom wachen Zustand in den Schlaf übergeht und aus dem Schlaf wieder aufwacht, geht man auch vom Leben in den Tod, aus dem die Seele aufwacht, um ihre Existenz im Jenseits fortzusetzen. Ein weiteres Argument Platons ist die oben erwähnte Erinnerung an die ewigen Wahrheiten, mit der jeder Mensch geboren wird (vgl. 72e–77a). Das einzig Dauerhafte und Unveränderliche sind also die Ideen, mit denen die Seele verwandt ist. Diese Verwandtschaft ist Platons Hauptargument für die Unsterblichkeit der Seele (77b–84b). Er beruft sich auf den Grundsatz »Gleiches erkennt Gleiches«. Nur die Seele ist imstande, das Reich der Ideen zu erkennen und zu erreichen – nach dem Tod, nachdem sie von allem Sinnlichen und Irdischen befreit ist. Dennoch legt Platon großen Wert darauf, dass die Seele auch ein Lebensprinzip ist (vgl. 103c–107b). Sie gibt dem Körper und allem anderen Leben. Niemand kann ohne Seele leben. Und wenn Gegenstände bestimmte Eigenschaften haben, ist dies so, weil sie mit Ideen über entsprechende Eigenschaften verbunden werden. Die Seele wird mit den Eigenschaften des Lebens und der Idee »Leben« verbunden. Alles sinnlich Erfassbare ist nur ein Abbild des ursprünglichen Urbildes, das die Ideen repräsentieren. In der Apologie lesen wir, warum Sokrates ein Angebot zur Flucht ausschlägt. Man hat ihn zum Tode verurteilt, weil er die »Jugend irregeführt« habe, aber er hat keine Angst vorm Sterben. Sokrates lässt keinen Zweifel daran, dass die Sorge um die Seele die wichtigste Aufgabe im Leben ist: Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, dass diese aufs beste gedeihe, zeigend, wie nicht aus dem Reichtum die Tugend entsteht, sondern aus der Tugend der Reichtum und alle andern menschlichen Güter insgesamt, eigentümliche und gemeinschaftliche (30ab).

In seiner Verteidigungsrede beschäftigt sich Sokrates weniger mit der Frage, was nach dem Tod mit der Seele geschieht. Anders im Phaidon, wo es unter anderem einen erstaunlichen Passus gibt (81cd), in dem Sokrates schildert, was mit Menschen geschieht, deren Schwerpunkt im Leben zu niedrig lag. Wenn sie sterben, kann sich ihre Seele nicht ganz vom Körper befreien und schwebt wie ein Geist über dem Grab des Verstorbenen. Hier schließt Sokrates die Seelenwanderung keineswegs aus, man ahnt den Einfluss indischer Kultur und der Pythagoreer. Schwache Seelen, die Dualismus, die Unsterblichkeit der Seele und ihre Bestimmung 

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sich an den Körper klammern, können sich nicht befreien, »z. B. die sich ohne alle Scheu der Völlerei und des Übermuts und Trunkes befleißigten, solche begeben sich wohl natürlich in Esel und ähnliche Arten von Tieren.« (81e) Dies klingt beinahe wie ein Echo Buddhas, der ungefähr zur gleichen Zeit lebte und wirkte. Der Tod des Körpers, wenn seine Zeit erfüllt ist, wird zum Glück der Seele. »Heißt aber dies nicht Tod: Erlösung und Absonderung der Seele von dem Leibe?« (67d) Im Phaidon vertieft Sokrates diesen Gedanken, als sein Freund Kriton ihn fragt, wo sie ihn begraben sollen: »Wie ihr wollt, sprach er, wenn ihr mich nur wirklich haben werdet und ich euch nicht entwischt bin. Dabei lächelte er ganz ruhig.« (115c) Dann erklärt er, dass er selbst in Gestalt seiner psyche den Leib verlassen haben wird: »dass wenn ich den Trank genommen habe, ich dann nicht länger bei euch bleiben, sondern fortgehen werde zu irgendwelchen Herrlichkeiten der Seligen« (115d). Es ist ihm gleichgültig, wo sein Körper begraben wird, weil sein Selbst – autos, das heißt psyche – nicht mehr darin weilt. So weit hat der Grieche sich von Homers körperlichem autos entfernt. Sokrates geht zuversichtlich in den Tod, weil er sich im Leben um seine Seele gekümmert, die Wahrheit gesucht und an den ewigen Ideen teilgehabt hat. Wenn die Lebensweise und der moralische Standard eines Menschen keine Auswirkungen auf das Schicksal der Seele hätten, wäre der Tod auch für böse Menschen, die Unrecht begangen und anderen Leid zugefügt haben, ein Glück und eine Befreiung. Doch nein, das Leben nach dem Tod hängt davon ab, wie man das Leben vor dem Tod geführt hat: Und so ist denn dieses, ihr Männer, wohl wert, bemerkt zu werden, dass, wenn die Seele unsterblich ist, sie auch der Sorgfalt bedarf, nicht für diese Zeit allein, welche wir das Leben nennen, sondern für die ganze Zeit, und das Wagnis zeigt sich nun eben erst recht furchtbar, wenn jemand sie vernachlässigen wollte. […] Nun aber diese sich als unsterblich zeigt, kann es ja für sie keine Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil als nur, wenn sie so gut und vernünftig geworden ist als möglich. (107cd)

Der Glaube bedeutet nichts, nur die rechte Einsicht und richtiges Handeln. Deshalb hat Sokrates keine Angst vor dem Tod. Er ist so weit gekommen, dass er ein Teil der puren Ideenwelt geworden ist. Deshalb nimmt er in aller Ruhe ein Bad, schließt in Gedanken und Gesprächen rituell mit dem Leben ab und verabschiedet sich frohen Mutes von seinen Freunden, ehe er den Giftbecher leert. Der Ausgang des Lebens muss seine Ordnung 50Platons psyche erobert den Menschen

haben. Die bekanntesten Worte aus Sokrates’ Apologie sind die Schlussworte an seine Richter: Also müsst auch ihr, Richter, gute Hoffnung haben in Absicht des Todes und dies eine Richtige im Gemüt halten, dass es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode, noch dass je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden. Auch die meinigen haben jetzt nicht von ohngefähr diesen Ausgang genommen: sondern mir ist deutlich – dass sterben und aller Mühen entledigt werden schon das Beste für mich war. […] Jedoch – es ist Zeit, dass wir gehen: ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.

Sokrates fürchtet sich nicht, denn wenn der Tod unangenehm wäre, hätte sein daimon ihn gewarnt. Entweder wird er einfach aufhören zu existieren, in einen ewigen Schlaf fallen oder seine Seele wird dorthin kommen, wo Homer und dessen Helden wohnten, und dort Gesprächspartner und weise Richter finden. Ganz besonders freute sich Sokrates auf ein mögliches Treffen mit alten Helden, die wie er durch ungerechte Urteile den Tod fanden. Der 70-Jährige geht nicht bloß mit Seelenfrieden in den Tod, er freut sich geradezu darauf, weil er findet, dass seine Zeit gekommen ist und er seinen eigenen Tod sterben darf. Und die Geschichte gab ihm recht. Sein Tod wurde seine glanzvollste Tat, das leuchtende Beispiel seiner Besonnenheit und Seelenstärke. Er hat ihm jene Unsterblichkeit zuteil werden lassen, die er – wie man hört – in seinen letzten Reden zu beweisen trachtete. (Böhme 1988, S. 203)

Sokrates hat also das gleiche Ziel wie Achilleus, die Unsterblichkeit, doch er erlangt sie nicht durch physische Kraft. Gemeinsam ist den beiden der Mut. Sokrates wird unsterblich kraft der moralischen Überlegenheit gegenüber seinen Richtern, seinen Mitbürgern, die sich des Justizmordes schuldig machen. Er setzt den Standard für die Nachwelt: Es ist besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu begehen. Deshalb antwortet er seinen verzweifelten Freunden: »Wäre es euch lieber, wenn ich schuldig wäre?« Der Angeklagte klagt selbst seine Ankläger an, die sich nicht wehren können. Einige von ihnen sollen sich vor Verzweiflung über das Unrecht, an dem sie beteiligt waren, das Leben genommen haben. Sokrates hingegen darf den Tod sterben, auf den er sich als Philosoph vorbereitet hat. Sein Leben Dualismus, die Unsterblichkeit der Seele und ihre Bestimmung 

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war ein »Sein zum Tode«, wie der Philosoph Martin Heidegger 2000 Jahre später die sokratische Sorge um die Seele nannte. Man bemerke, dass diese »Sorge« auch die Mitmenschen betrifft. Um sich selbst zu verstehen, muss man sich in anderen spiegeln. Sokrates nimmt dies wortwörtlich, er sieht sein Spiegelbild in den Augen seiner Gesprächspartner. Sogar den Augenblick seines Todes macht er zur dialogischen Reflexion. Er verweist den Tod dorthin, wo er hingehört, in das Nahe, Irdische. Und er will schuldlos davongehen, auch im trivialen Sinne. Als Letztes versichert er sich, dass sein Freund eine Opfergabe für ihn übernehmen wird: »O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht.« Asklepios war der Gott der Heilkunde, es war üblich, ihm einen Hahn zu opfern, wenn eine Kur gewirkt hatte. In Sokrates’ Fall hatte sie gewirkt – er durfte seinen eigenen, vom ihm selbst inszenierten Tod sterben.

* Obwohl Platons Lehre durch seine Schriften und seine Schule in Athen hoch angesehen war, war sie auch umstritten. Umso größeren Einfluss hatte er auf die Nachwelt. In der Geschichte der Seele nimmt Platon einen besonderen Platz ein. Unser Menschenbild ist auch nach über zwei Jahrtausenden noch immer von seiner Seelenlehre geprägt. Gewissermaßen sind wir alle Platoniker. Gemeinsam mit Sokrates und Aristoteles repräsentiert er die Spitze der griechischen Philosophie und begründet eine philosophische Metaphysik, die bis zu Nietzsches und Heideggers Abrechnung mit der Metaphysik gilt. Bis hin zu Kants Kritiken gilt Platons Seelenlehre als Norm. Selbst Freuds empirische Psychologie mit ihrer Dreiteilung der Psyche in Es, Ich und Über-Ich greift auf Platons dreigeteilte psyche zurück. Zu Platons Lebzeiten jedoch war seine Seelenlehre nicht allein gültig. Er näherte sich der Seele und anderen philosophischen Themen durch ein sokratisch fragendes »Was meinst du damit?« Einem ganz anderen Ansatz begegnen wir bei Aristoteles. Er war Systematiker und Platons ebenbürtiger Konkurrent – und der Erste, der eine eigene Psychologie erdachte.

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Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern. (Aristoteles)

DER ERSTE PSYCHOLOGE – ARISTOTELES

Aristoteles (384–322 v. Chr.) ist der erste Philosoph, der der Seele ein ganzes Werk widmet: Peri psychés, am besten unter dem latinisierten Titel De anima (»Über die Seele«) bekannt. Das Werk war zu allen Zeiten hoch geschätzt. Hegel, der die Philosophie des 19. Jahrhunderts dominierte, fand, Aristoteles habe das einzige Buch über die Seele geschrieben, das noch immer lesenswert sei. Weil es dies heute noch ist, wird ihm hier ein ganzes Kapitel gewidmet. Die psyche war eine große Herausforderung für Aristoteles, einen Mann der Wissenschaft. Er war der führende Forscher, Wissenschaftstheoretiker und Logiker seiner Zeit. Durch seine Einführungen in verschiedene Disziplinen von Rhetorik und Poetik bis zu verschiedenen Naturwissenschaften gilt er als Begründer etlicher Fächer. In erster Linie ist er ein Naturwissenschaftler, der sich mit der toten, physischen (physis) und der lebendigen, organischen Natur (bios) befasst, zu welcher der Mensch gehört. Weil der Mensch Teil der Natur und selbst ein Tier (zoon politikon) ist, widersprach Aristoteles Platons Idealismus, der Loslösung der Seele von Natur und Körper und dem daraus resultierenden Dualismus. Aristoteles bestand darauf, dass die Natur eine Ganzheit bildet, ebenso der Mensch als integraler Bestandteil der Natur. Dies ist einer der Gründe, warum er über 2000 Jahre später zu einem Vorbild für Goethe wurde. Auch seine Psychologie integriert Aristoteles in die Naturwissenschaft, genau wie es im 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Und die biologische Forschung der letzten Jahrhunderte hat ihm zunehmend recht gegeben: Der Mensch ist ein Tier, denn selbst Gefühle und der Intellekt lassen sich zum größten Teil biologisch erklären. Aristoteles betont, dass man wissen müsse, wie der Mensch funktioniert, um die Seele zu verstehen. Nicht zuletzt müsse Der erste Psychologe – Aristoteles

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man den Menschen im Verhältnis zu anderen Lebewesen und der übrigen Welt sehen. Für Aristoteles ist Welterkenntnis gleich Selbsterkenntnis – ein Gedanke, der heute noch gilt. Besonders dringend war für ihn die Frage, ob die Seele etwas Wirkliches ist, ob sie überhaupt etwas ist und was. Gleich auf der ersten Seite stellt er »die Frage nach dem Wesen, dem Was-es-ist« (Peri psychés 402a). Im Fall der Seele ist jedoch besonders schwer auszumachen, ob sie Substanz oder substanzlos ist, Stoff oder Gedanke, sterblich oder unsterblich, geteilt oder ungeteilt, ob sie zum Körper gehört oder von ihm getrennt ist. Daher der einleitende Seufzer: »In jeder Hinsicht gehört es zum Schwierigsten, irgendeine Gewissheit über sie zu erlangen.« Doch die ebenso unklare wie unabdingbare Seele spornt Aristoteles an, der vor allem Wissen sucht, das einen »guten und staunenswerten« Zweck erfüllt. Dies trifft auf die Seele zu, da sie bestimmt, welche Art von Wesen der Mensch ist und wo er in der Spanne zwischen primitivem Leben und Göttlichem steht. Deshalb möchte Aristoteles »der Erforschung der Seele […] den Vorrang einräumen.« Sein erkenntniskritischer Ausgangspunkt war durch Platons »überwirkliches« und idealistisches Verständnis der Seele als jenseitig und transzendent provoziert. Dies verstößt gegen Aristoteles’ Grundsatz, dass es nur eine natürliche Welt gibt. Die Natur wiederum ist hierarchisch geordnet, vom Physischen zum Biologischen, von anorganischen Stoffen über einfache Pflanzen bis zu komplexen, hoch entwickelten Lebensformen. An der Spitze der Hierarchie steht der Mensch. Für Aristoteles stellt sich die Frage, welchen Platz – im Menschen und in der Natur – psyche nun einnimmt, »ist doch die Seele gewissermaßen das Prinzip der Lebewesen.« Manche Eigenschaften sind »der Seele eigentümlich«, während andere auch den Tieren zukommen, heißt es in der Einleitung. Hinter dieser Aussage steht der Streit mit den Platonikern, denen Aristoteles Pragmatismus entgegensetzt. Das Menschenbild beider Schulen unterscheidet sich vor allem im Hinblick auf die Seele. Deshalb beginnt Aristoteles Peri psychés mit einem kritischen Überblick über die Ansichten seiner Vorgänger, insbesondere Platons. Wie in vielen anderen Bereichen seiner Philosophie distanziert Aristoteles sich auch in der Psychologie von seinem früheren Lehrer. Wo Platon zum Jenseitigen und Abstrakten neigt, bevorzugt er das Diesseitige und Konkrete. Er tut dies nicht aus bloßer Opposition, sondern leistet einen eigenen Beitrag auf Augenhöhe mit seinem Lehrer. Ideengeschichtlich 54

Der erste Psychologe – Aristoteles

ist Aristoteles’ Seelenleere eine so eigenständige Alternative zu Platons, dass man als Seelenforscher noch heute entweder von der einen oder der anderen ausgeht. Zunächst fasst Aristoteles die Grundgedanken seiner Vorgänger zusammen. Sie versuchen die Seele hauptsächlich durch drei Eigenschaften zu definieren: Bewegung, Sinneswahrnehmung und Unkörperlichkeit, die alle auf stoffliche Grundprinzipien zurückgeführt werden. Die Atomisten Demokrit und Leukipp hielten die Atome der Seele für besonders beweglich, glatt und rund. Deshalb könnten sie alles durchdringen und »den Lebewesen die Bewegung verleihen« (404a). Diese Idee erinnert an die »feinere Substanz«, die viele Christen später als Grundstoff der Seele annahmen. Die Atome interagieren nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip, dem Aristoteles kritisch gegenüberstand. In der Zeit nach Aristoteles bekamen die Atomisten mit Epikur (341– 270 v. Chr.) einen einflussreichen Nachfolger. Zusammen mit den Atomisten gilt er als Begründer des Materialismus. Epikur erklärt die ganze Welt als eine unendliche Anzahl materieller Atome, die zufällig aufeinandertreffen und so die Natur formen, das heißt ohne jegliche Steuerung und ohne Ziel. Auch die Seele entsteht nach seiner Theorie auf diese Weise und löst sich deshalb auch wieder auf, wenn der Mensch stirbt. Sie ist nicht unsterblich. Sogar das Denken betrachtete Epikur als Resultat bestimmter Atombewegungen. Sein materialistisches System braucht keine Götter, um die Welt und das Leben zu erklären. Epikur lehnte jedoch den Determinismus der früheren Atomisten ab. Der Mensch muss selbst die Verantwortung für sein Schicksal übernehmen, anstatt sich auf die Götter zu verlassen. Sie kümmern sich nicht um die Menschen, weshalb sie diese weder bestrafen noch belohnen. Weil er die Religion auf diese Weise überflüssig machte (obwohl er die Existenz der Götter in ihrer eigenen Welt nicht abstritt), bekam Epikur viele Anhänger zu späteren Zeiten, insbesondere während der Aufklärung, als viele der materialistischen Aufklärungsphilosophen des Epikureismus angeklagt wurden. Auch unter den römischen Philosophen hatten die Atomisten bedeutende Nachfolger; Epikur war ein Vorbild der Stoiker. Dennoch war es Aristoteles, der jene Fragen über die Seele gestellt hat, die zum Ausgangspunkt all seiner Nachfolger wurden, zum Beispiel für den römischen Dichterphilosophen Lukrez (ca. 98–55 v. Chr.), der ebenfalls Epikureer und Materialist war: Die Seele gehört dem natürlichen Menschen wie der Körper und die Sinne. Lukrez’ De rerum naturae (»Über die Natur der Dinge«) verDer erste Psychologe – Aristoteles

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bleibt in vieler Hinsicht ein rätselhaftes Werk. Seine Verse über das Wesen der Seele könnten auch als Einleitung zu Aristoteles’ Abhandlung stehen: Denn man weiß ja doch nichts von dem Wesen der Seele; man weiß nicht, Ob sie schon mit der Geburt in uns eingeht oder ob dann erst Sie entsteht und im Tod mit dem Leibe zusammen sich auflöst; Ob sie im Orkus verschwindet und seinen geräumigen Schlüften Oder ob Götterbefehl sie in andre Geschöpfe verbannet. (1, 112–116)

Auch Aristoteles sagt, die Seele sei im Grunde unmöglich zu greifen und begreifen – sie ist unser Innerstes (»die Mitte«) und durchströmt alles Leben. Aber genau deshalb, weil sie das Wesen des Menschen ausmacht, muss er trotzdem versuchen, sie in Begriffe zu fassen. Diese holt er sich bei seinen Vorgängern, womit er deren Standpunkte gleichzeitig für die Nachwelt überliefert und sie zu übertreffen versucht. Aristoteles’ Grundgedanke ist, dass die Seele der Natur Leben (bios/ zoé) gibt und sie am Leben erhält. Nicht nur der Mensch hat eine Seele, sondern auch Pflanzen und Tiere. Alles Leben ist beseelt. »Die Seele aber ist in erster Linie das, wodurch wir leben, wahrnehmen und denken« (414a). Aristoteles versteht die Natur und die Welt als ein zusammenhängendes Ganzes, ein Kontinuum, in dem das Kleine das Große spiegelt und der Mensch als Mikrokosmos denselben Gesetzen unterworfen ist wie der Makrokosmos. Aber ist es überhaupt möglich, die Seele als einheitlich zu bezeichnen? Dies findet Aristoteles ebenso problematisch wie Platon. Die Seele ist nicht harmonisch, sondern befindet sich oft in einem inneren Streit zwischen verschiedenen Neigungen und Teilen ihrer selbst. Ein zweiter Grundgedanke (neben der beseelten Natur) ist, dass Körper und Seele nicht dualistisch voneinander getrennt werden können. Auch sie bilden ein unteilbares Ganzes. Eine Seite kann nicht ohne die andere existieren. Die Seele gibt dem Körper Leben und der Körper gibt der Seele ihren Stoff. »Es ist also nun völlig klar, dass die Seele […] nicht vom Körper abtrennbar [ist]« (413a). Fragen wir Aristoteles, was den Menschen als denkendes Wesen ausmacht, lautet die Antwort: ›die Seele‹. Fragen wir, was die Seele möglich macht, lautet die Antwort: ›der lebendige Körper‹. Alles beruht auf Gegenseitigkeit. Der Körper an sich trägt potenzielles Leben in sich, wird aber erst durch die Seele als integraler Bestandteil wirklich lebendig. Die Seele »ist zwar nicht Körper, aber doch Sache des 56

Der erste Psychologe – Aristoteles

Körpers« (414a) – ein Satz, den wir über 2000 Jahre später fast wörtlich bei Nietzsche und Wittgenstein wiederfinden. Nach Aristoteles’ Theorie über das komplementäre Verhältnis von Materie (hyle) und Form (eidos) gibt die Seele dem Körper erst seine Form. Der Körper ist die Materie, die Seele ein immaterielles Formprinzip. Als Form des Körpers ist sie untrennbar mit ihm verbunden. Dies ist nicht gleichbedeutend mit »das Äußere spiegelt das Innere«; die Seele ist nicht nur innerlich, nicht »des Pudels Kern«, sondern als Form im gesamten Körper. Sie zu pflegen und zu formen bedeutet auch, den Körper zu pflegen und zu formen – und umgekehrt. In unserer körperfixierten Zeit scheint dies leicht zu verstehen, aber die aristotelische Seelenpflege lässt sich nicht auf Fitness und Wellness reduzieren. Das Geistige und die Perfektionierung des Gedankens zählen ebenso. Die Form der Seele und des Körpers hängt von den Möglichkeiten ab, welche die Materie bietet. Wie Körper und Seele geformt werden, lässt sich mithilfe des aristotelischen Begriffspaars actus et potentia erklären. Potentia (gr. dynamis) bezeichnet die Möglichkeit, actus (gr. energeia) die Verwirklichung. Jede Materie hat inhärente Möglichkeiten, die verwirklicht werden können. Aus Holz kann man Axtschäfte und Häuser machen, jedoch keine Fenster oder Brillen, da Glas aus Sand hergestellt wird. Entwicklung bedeutet, einem Stoff die bestmögliche Form zu geben. Aus Gold lässt sich der schönste Schmuck herstellen, aber es ist zu weich, um Werkzeuge daraus zu machen. Aus einem Samenkorn kann eine schöne Blume werden. Entsprechend hat der Körper das Potenzial zum Leben und einer schönen Beschaffenheit – sofern die Seele ihn formt. Die am meisten vollendete Form, die ein Stoff annehmen kann, nennt Aristoteles entelecheia (Formvollendung, Verwirklichung, auch als »vollendete Wirklichkeit« übersetzt). Eine solche Form ist der Zweck der Seele, auch im Hinblick auf die Funktionen des Körpers. Aristoteles definiert die Seele als »die erste vollendete Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt« (412a). Die Seele gibt auch dem Gedanken Form, und umgekehrt. Deshalb sucht eine gute Seele die Wahrheit und wird formvollendet, indem sie die Welt und sich selbst erkennt. Bei Aristoteles (wie auch bei Platon und allen anderen Denkern nach ihnen) hängen deshalb Ethik und Psychologie zusammen. Um perfekt zu werden, muss die Seele durch Lehre, Ausbildung und Erkenntnis geformt werden, und durch das Nachleben einiger grundlegender Lebensprinzipien. Wer wahre Erkenntnis sucht, erfährt auch das Glück (eudaimonia). Sinn des Lebens ist das Glück, welches die Der erste Psychologe – Aristoteles

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Erkenntnis der Wahrheit gibt. In diesem Punkt stimmen Platon und Aristoteles überein. Nicht die rechte Gesinnung oder der rechte Glaube, sondern das Wissen macht die antike Seele erst selig. Ohne Seele zerfällt der Körper und löst sich auf. Ebenso wichtig ist aus unserer historischen Perspektive, dass die Seele mit ihrem Körper stirbt. Sie ist nicht unsterblich. Sie ist auch nicht göttlich, und keineswegs göttlicher als der Körper. Hier weicht Aristoteles wieder von Platon ab, obwohl er nicht ganz eindeutig ist, was die Seele als Gedankenkraft angeht. Dabei geht es jedoch um Gedanken, die sich gewissermaßen von allem Menschlichen losgelöst haben, sowohl vom Körper als auch von der Seele. Denn es gibt zwei Arten der Vernunft, eine aktive und eine passive. Die passive wird biologisch übertragen und stirbt mit der Seele, wenn der Körper stirbt. Die aktive kommt von außen in den Menschen, sie ist überindividuell und lässt sich vom Menschen aneignen. Es ist die Vernunft, die die griechische Philosophie entdeckt hat, und diese aktive Vernunft ist unvergänglich. Auf diese Weise unterscheidet sich die Vernunft von der Seele. Die Vernunft repräsentiert etwas Allgemeines und Überindividuelles, das nicht an die Seele gebunden ist. Philosophie und Mathematik und die Prinzipien, auf denen sie aufbauen, gehen schließlich nicht zugrunde, wenn der Philosoph oder Mathematiker stirbt. Die Unabhängigkeit der aktiven Vernunft vom Körper kontrastiert Aristoteles mit der sinnlichen Wahrnehmung, die an den Körper gebunden ist. Die Vernunft hingegen kann sich Dinge denken, die nicht konkret veranschaulicht werden müssen. Im Gegensatz zu Platon, der herausfinden wollte, was mit der Seele geschieht, wenn sie sich vom Körper befreit, will Aristoteles herausfinden, wie sie auf den lebendigen Körper wirkt. So stellt er Platons Seele auf den Kopf, als Teil eines Körpers, der mit beiden Beinen auf der Erde steht. Er ist kein Dualist, sondern Monist (gr. monos, »einzig«), was in unserer historischen Perspektive besonders wichtig ist, denn wir werden sehen, welch große Bedeutung der Dualismus in der europäischen Kultur durch den Einfluss des Platonismus und des Christentums erlangt. Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, wie Aristoteles alle Teile zu einem Ganzen zusammenfügt, sowohl im Menschen als auch in der Natur. Weil der Mensch ein Teil der Natur und selbst Natur ist, sieht er die Erforschung des Menschen und der Natur als zwei Seiten derselben Sache. Wer den Makrokosmos versteht, versteht auch den Mikrokosmos, den Menschen, der ebenfalls eine Einheit in sich selbst bildet. Diese Einheit ist die Person, die spürt, erlebt und denkt, nicht die Seele allein. Das Selbst besteht nicht 58

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nur aus der Seele (wie bei Platon), sondern aus der ganzen Person. Deshalb erklärt Aristoteles alle unterschiedlichen Teile und Funktionen der Seele. Und er will herausfinden, was alle Seelen in der Natur, also Pflanzen, Tiere und Menschen, gemeinsam haben. Erst dann kann er unterscheiden, was typisch für den Menschen und dessen Seele ist. Dass die Seele Leben gibt und den Organismus am Leben hält, erinnert an Homers Lebensseele. Aber Aristoteles wendet ein wesentlich komplizierteres System an. Er unterteilt das Seelenleben in ein vegetatives, ein animalisches und ein menschliches Niveau und differenziert zwischen den Dreien. Die vegetative Fähigkeit der Seele zu Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung ist allen Lebensformen eigen. Sinnliche Wahrnehmung, Bewegung und Streben, Verlangen und Begehren ist den Menschen und Tieren eigen. Auch Tiere haben Gefühle! Eines jedoch hat der Mensch den Pflanzen und Tieren voraus, denn er allein kann denken – und besitzt kraft dessen Vernunft (nous). Die Menschenseele trägt nous als potenziellen Intellekt in sich. Doch selbst die Vernunft existiert nicht unabhängig vom Körper, obwohl sie bei besonders Begabten aus eigener Kraft bestehen kann. Die Vernunft ist die einzige Instanz, der Aristoteles eine Haltbarkeit über den sterblichen Körper hinaus zuerkennt. Sie kommt, wie gesagt, von außen in den Menschen und macht so das Potenzial des Denkens zur Wirklichkeit. So entsteht die menschliche Gedankenseele (noetike psyche), die alle Formen in sich aufnehmen kann. Die Vernunftseele gewinnt Erkenntnis durch den Gebrauch der fünf Sinne, denen Aristoteles jeweils ein Kapitel widmet. Die menschliche Erkenntnis ist also kein Produkt des Wiedererkennens gegebener, ewiger Ideen (wie bei Platon), sondern wird auf der Grundlage von Abstraktion oder Verallgemeinerung konkreter Sinneseindrücke erlangt. Die Sinne sind ein wichtiger Teil der Seele, der Sinnesseele (to aisthētikón). Aristoteles’ Seelenlehre scheint beinahe eine Art Perzeptionspsychologie zu sein. Doch dies ist ein voreiliger Schluss, da aber das Erkennen, das Wahrnehmen, das Vermuten, ferner aber auch das Begehren, Wollen und überhaupt das Streben zur Seele gehören. (411a)

Diese Charakterisierung der Seele kann noch heute gelten. Ihre besondere Bedeutung zeigt sich darin, dass sie die Kraft und Fähigkeit hat zu bewegen, im doppelten Sinn, während sie selbst unbewegt (von anderen Kräften) ist. Im Christentum des Mittelalters wird dieser Gedanke auf Gott als »erster Beweger«, der selbst unbewegt bleibt, überführt. Weil aber Bewegung ein Der erste Psychologe – Aristoteles

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natürliches Phänomen ist, legt Aristoteles Wert darauf, sie physisch zu verstehen, ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang zwischen dem Physischen und dem Psychischen. Bewegung hängt von einer Ursache ab. Was löst Bewegung aus? Bei Aristoteles hat sie sowohl äußere als auch innere Ursachen. Seine Ursachenlehre ist weder kausalistisch noch deterministisch. In ihr ist die causa efficiens (wie es in der latinisierten Tradition heißt), die wirkende Ursache oder Bewegungsursache, nur eine von vieren. Eine weitere liegt sogar in der Zukunft, nämlich die causa finalis (gr. telos), die Ziel- oder Zweckursache. Der Zweck einer Handlung wird hier zur Motivation, welche die Handlung auslöst. Das Telos-Denken gehört zum bleibenden Erbe Aristoteles’. Es ist am einfachsten zu verstehen und gilt vor allem im Verhältnis zu organischem Leben. Das bekannteste Beispiel ist das Verhältnis zwischen Samen und Pflanze. Ziel und Zweck des Samens ist eine ausgewachsene Pflanze mit Blüten und neuen Samen oder Früchten. Mit anderen Worten: Der Samen trägt sein telos bereits in sich und wird sich in diese Richtung entwickeln. So verhält es sich auch mit der Seele, die bereits im Samen sitzt und durch Fortpflanzung weitergeführt wird. Die Seele ist die Zweckursache des Körpers. Der Körper soll das Ziel verwirklichen und die Form annehmen, die als Potenzial in der Seele liegt. Solche teleologischen Erklärungen können jedoch leicht missverstanden und missbraucht werden, wenn man annimmt, dass ein göttliches Ziel im Menschen und der Schöpfung schlummert, wie die Kreationisten heute behaupten. Denn das Ziel als Möglichkeit entsteht erst, wenn es verwirklicht wird. Aristoteles’ Ursachentheorie wich stark von der kausalistisch-materialistischen ab. Auch die Form war für ihn eine Ursache (causa formalis), nämlich für die Beschaffenheit eines Dings. Eine Tasse und eine Schale sind unterschiedlich, auch wenn sie beide aus Porzellan sind. Dieses Formprinzip gilt auch für die Seele im Verhältnis zur Vernunft, die die Begrenzungen des Körpers sprengt. Die Seele wird in höherer Instanz wirklich, zuerst indem sie ihre Form der Vernunft findet, psyche logike oder psyche noetike, oder als reine Form, forma formarum (»Form der Form«), als Vollendung der Seele (Entelechie). Jedes Ding und jede Substanz streben danach, das ihnen innewohnende Potenzial so gut wie möglich zu verwirklichen. Das gilt besonders für den Menschen und seine Seele, die ihre bestmögliche Form – die beste, schönste und wahrste – selbst finden muss. Dieses erreicht sie als reine Vernunftsform, forma formarum, die sich aus eigener Kraft bewegt, ohne äußere Ursache oder Beweger. Letztendlich 60

Der erste Psychologe – Aristoteles

jedoch ist es das Individuum, die Person als Ganzheit, die ihre Tugend (areté) und Fertigkeiten entwickelt, durch die sie die Seele gestalten und ihr die vollkommene Form geben kann. Aristoteles vertritt also ein ganz anderes, dynamisches Schöpfungsund Formungsprinzip als Platon und die Atomisten. Sowohl die Ästhetik als auch die Psychologie beruhen auf poiesis (Schöpfung), nicht nur auf der mimesis (Nachahmung) gegebener Dinge. Dies gibt Aristoteles eine Sonderstellung in der Geschichte der Seele. Während die Seele bei Platon ein Abbild ist, eine bleiche Kopie der ewigen Idee »Seele«, wird sie bei Aristoteles erschaffen, indem sie ihre eigene Form findet, die jeweils vom Potenzial eines Lebewesens abhängt. Auf diese Weise gibt Aristoteles der Seele mehr Raum für Einmaligkeit und Individualität. Sie hat die Möglichkeit, Formen anzunehmen, die Aristoteles in Peri psychés selbst beschreibt, und diese weiterzuentwickeln. Somit ist die erste Monografie über die Seele auch schon ein historisches Palimpsest der Seele. Was ist nun die höchste Form der Seele, ihre absolute Entelechie, ihr telos? Aristoteles spricht ihr die Fähigkeit zu, die Reflexionsgabe des Menschen so weit zu entwickeln, dass dessen Gedanken eine eigene Existenz bekommen, unabhängig von den Sinnen und Gefühlen des Körpers. Während die Sinne an bestimmte Organe gebunden sind, wie der Sehsinn an die Augen, hat die Vernunft kein eigenes Organ, auch wenn ihre Erkenntnis auf einzelnen Sinneserfahrungen beruht. Die Sinneserfahrungen werden jedoch abstrahiert und in Begriffe gefasst, die wiederum (durch die Vernunft) zum Werkzeug der Seele werden, um sich selbst zu verstehen: »Die [sinnliche] Wahrnehmung erfasst in ihrer Verwirklichung das Einzelne, das Wissen aber das Allgemeine. Letzteres aber befindet sich irgendwie in der Seele selbst« (417b). Dieses aristotelische Erkenntnisprinzip lebt in einer bekannten lateinischen Formel weiter, welche die englischen Empiristen später übernahmen: Nihil est in intellectu, quod non prius in sensu – »Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war«. Vom heutigen Standpunkt aus, im Zeitalter der sinnlichen Überreizung, ist es bemerkenswert, dass schon Aristoteles wiederholt warnt: »Die Wahrnehmung versagt bei allzu heftigen Sinneseindrücken« (429a). Dadurch unterscheidet sie sich von der Vernunft: »Wenn sich hingegen der Geist mit einem schweren Gedankenproblem beschäftigt hat, so denkt er deswegen das Leichtere nicht weniger gut, sondern sogar noch besser« (429b). Viele Gedanken schaffen neue Gedanken, während zu viele sinnliche Impulse Verwirrung stiften. Der erste Psychologe – Aristoteles

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Der Seele erste Aufgabe und Werkzeug ist somit die Vernunft, die gleichzeitig die bestmögliche Form der Seele repräsentiert. Während Platon die Vernunft in der Seele verortet und sie als Teil der Seele sieht, kommt Aristoteles zu dem Schluss, dass Vernunft und Seele zwei selbständige Größen sind, die jedoch interagieren. Die Seele kann sich in Richtung des nous entwickeln und die (höchste) Vernunft kann sich von der Seele losreißen (ähnlich wie Platons »Ideen«). Dieser Gegensatz generiert entscheidende Fragen im ideengeschichtlichen Kampf um die Seele: Strebt sie einem Ziel entgegen, das ihr bereits innewohnt, weil es ein Gott eingegeben hat, oder bestimmt sie ihr Ziel selbst? Liegt ihre Bestimmung im Diesseits oder im Jenseits? Existiert sie nach dem Tod des Individuums weiter, stirbt sie mit dem Körper oder kann sie vielleicht durch ihre Entelechie doch in eine andere Sphäre erhoben werden? Aristoteles räumt der denkenden Seele eine solche Möglichkeit ein. Wenn sie ihr Bestes gibt, kann sie zum reinen, vollendeten Gedanken werden, der als solcher jenseits des Möglichen (potentia/dynamis) steht und reine Verwirklichung (actus/energeia) ist. Nur das Göttliche hat diese Form der Existenz. »Der Geist aber ist wohl etwas Göttlicheres und leidensunfähig« (408b). Weil der reine Geist, die reine Vernunft, zur reinen Form werden kann, besteht darin auch eine Möglichkeit für den Menschen, da der Geist unabhängig vom Organischen und nicht vom Tod betroffen ist. Daraus leitet Aristoteles jedoch keine mögliche Unsterblichkeit des Individuums ab. Es ist der Geist, die überindividuelle Vernunft, die bestehen kann, nicht die individuelle. Mit seinem Monismus und der Gleichstellung des Körpers im Verhältnis zur Seele hat Aristoteles eine eigene Tradition geschaffen, die von der Antike bis in unsere Zeit als Alternative zum platonistischen Dualismus bestehen bleibt. Sie zieht sich wie eine ungebrochene Unterströmung durch die Kulturgeschichte, von Aristoteles’ Zeitgenossen Diogenes, dem Kyniker in der Tonne, über den Renaissanceschriftsteller Rabelais und den Essayisten Montaigne, die Philosophen Leibniz und Nietzsche bis zum Karnevalsdenker Michail Bachtin. Doch zwischen Antike und Renaissance dominiert die Abwertung des Körpers. Sie wird verstärkt durch die asketischen Bewegungen der Spätantike, zu denen auch der Neuplatoniker Plotin gehört.

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Der erste Psychologe – Aristoteles

DEM UNBEKANNTEN GOTT Ich will dich kennen, Unbekannter, du tief in meine Seele Greifender, mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender, du Unfaßbarer, mir Verwandter! Ich will dich kennen, selbst dir dienen. (Nietzsche)

DIE SEELE WIRD ZUR MODE – PLOTIN UND DIE SPÄTANTIKE

Kein anderer Philosoph der hellenistischen Zeit und der Spätantike schenkt der Seele mehr Beachtung als Plotin (204/205–270 n. Chr.), weshalb er in der Geschichte der Seele einen Höhepunkt zwischen Antike und Mittelalter darstellt. In seinem Menschenbild dreht sich alles um die Seele, denn durch die Seele hat der Mensch die Chance, selbst etwas zu tun. Darauf beruht Plotins Optimismus, der philosophisch betrachtet zu einer Grundlage für die Elite des Römischen Reiches wurde, in der die Pflege des Selbst und die Seele zur Mode wurden. Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurden die griechischen Ideale der Selbstsorge durch den Hellenismus zum Teil der Kultur, wie Michel Foucault in Die Sorge um sich (Band 3 seines großen Werks Sexualität und Wahrheit, 1986) beschreibt. Foucault zeigt auf, wie die sokratische Sorge um die Seele in dieser Zeit weitergedacht wurde, nicht nur von Philosophen, sondern auch von der herrschenden Klasse: In der langen Entwicklung der Lebenskunst im Zeichen der Sorge um sich können die beiden ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit als Scheitelpunkt einer Kurve angesehen werden: eine Art Goldenes Zeitalter in der Kultur seiner selber […]. (S. 62)

Diese Kultivierung des Selbst gilt besonders der Seele und der Regulierung der Sexualität. Ihr Ziel ist die Lebenskunst und die Erlangung des Glücks in Form von Gelassenheit. Besonders die Stoiker in der Tradition Zenons von Kition, die Epikureer und die Neuplatoniker vertraten diese Selbstkultivierung. Philosophie war nicht nur eine akademische Disziplin, sondern eine lebenslange Aufgabe mit klarem Ziel, wie es der Schriftsteller und Philosoph Apuleius ausdrückt: »Wer jung ist, soll nicht zögern zu Die Seele wird zur Mode – Plotin

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philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh, und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern« (zitiert nach Foucault 1986, S. 63). Die Selbstkultivierung war in Teilen der römischen Elite verbreitet und erreichte bald auch den kaiserlichen Hof. Zum Beispiel hatte der Stoiker Epiktet (ca. 55–135 n. Chr.) großen Einfluss auf den Philosophenkaiser Marcus Aurelius. Auch Plotin war ein Anhänger dieser Kultur, auch er hatte Verbindungen zum kaiserlichen Hof. Viele Menschen, die nach geistigen Werten strebten, empfanden die gesellschaftlichen Veränderungen im Römischen Imperium als moralischen Verfall. Sie zogen sich deshalb aus der Welt zurück und lebten als Asketen oder Anhänger anderer geistiger Bewegungen. Nie zuvor hatte es so viele Weltanschauungsgemeinschaften gegeben wie in der römischen Spätantike, was ein wenig an unsere Gegenwart erinnert. Es herrschte ein reichhaltiges Angebot an alternativen Lebensanschauungen, vom Manichäismus und Gnostizismus über griechische, römische und ägyptische Kulte bis hin zu östlichen esoterischen Gemeinschaften. Auch das Christentum bekam mehr und mehr Anhänger und wurde als Alternativbewegung zu einer Herausforderung für den römischen Staat. Doch es war nicht nur die Zeit der Asketen und Einsiedler, sondern auch der Epikureer, philosophischen Hedonisten und Kyniker – drei materialistisch und körperlich orientierte Schulen. Insgesamt hatten die Stoiker und Platons Lehre den größten Zulauf in der Philosophie. Im Platonismus gab es die Vorstellung einer jenseitigen Welt als Erklärung der diesseitigen. Viele Ideen des Platonismus schlugen sich in anderen geistigen Bewegungen nieder, besonders in Manichäismus, Gnostizismus und Christentum. Unter den Platonikern war Plotin der erfolgreichste. Sein Neuplatonismus dominierte vom 3. bis ins 7. Jahrhundert und hatte großen Einfluss auf die westliche Philosophie und die christliche Theologie, ebenso auf die islamische Theologie und Mystik sowie auf Kunst und Dichtung bis weit in die Romantik. Plotin war keine weltfremder Mystiker. Heute würde man ihn wohl einen Globalisten nennen. Er kannte das römische Imperium besser als viele andere. Geboren wurde er in Ägypten, wo er aufwuchs, weshalb er auf Griechisch schrieb, obwohl er die letzten 25 Jahre seines Lebens in Rom verbrachte. In Ägypten meldete er sich als Söldner und nahm an einem Feldzug nach Persien teil. Sein Ziel war Indien, wo mystische und spiritistische Bewegungen das Geistesleben bestimmten. Aber der Kaiser starb unterwegs und Plotin endete auf dem Rückzug in Rom. Doch 64

Die Seele wird zur Mode – Plotin

die Reise nach Persien hatte Spuren hinterlassen. Plotins Mystizismus ist offenbar von indischen Ideen beeinflusst, die zu seiner Zeit auch im Mittelosten verbreitet waren. In Rom begründete Plotin eine Schule auf der Grundlage des Platonismus. Er war ein geachteter Lehrer, der sich gut um seine Schüler kümmerte. Seine Lehre war persönlich und das, was wir heute existenzialistisch nennen würden. Es geht vor allem darum, seinen Weg zu finden – und seinen Ausweg. In Plotins Fall hieß dieser »Weg von hier!«, weg vom Körper und der sinnlichen Welt. Seine Methode war die Vertiefung, und zwar so extrem, dass sie visionäre und mystische Erlebnisse auslöste. Seine Schüler baten ihn, diese aufzuschreiben, was er zuerst nicht wollte; doch er ließ sich überreden und schrieb eine Reihe »Bücher«, die wir heute eher Artikel nennen würden. Sein bester Schüler Porphyrius redigierte sie und gab sie nach Plotins Tod heraus. Er ordnete sie in sechs Bücher mit jeweils neun Kapiteln, weshalb sie Enneaden heißen (gr. ennea, neun). Das vierte Buch handelt von der Seele, das fünfte davon, wie man in »Graden« aufsteigt und höhere Bewusstseinsformen und eine rein geistige Welt erreicht. Die wichtigsten existenziellen Fragen Plotins lauteten etwa wie folgt: Wie kann man leben, ohne von all dem Sinnlichen in dieser Welt gefangen zu werden und in und von seinem Körper gefesselt zu sein? Was im Menschen kann man überhaupt von der sinnlichen Welt befreien?

Die Antwort lautet: »Die Seele«. Sie kann durch Entwicklung eine andere, übersinnliche Welt erreichen. Die Seele ist der plastischste und am meisten beeinflussbare Teil des Menschen und gleichzeitig ein Teil, den er selbst verändern kann. Sie ist Eigentum des Individuums und ein Medium, durch das es sich erheben kann – oder mit dem man fällt, wenn man es vernachlässigt. Denn weil die Seele leicht zu beeinflussen ist, wird sie auch rasch primitiv, wenn sie nicht zielbewusst und qualifiziert gebildet wird. Plotins Methode zur Formung der Seele war intellektuell und rational: Reflexion und vernünftige Erkenntnis, Konzentration und Wahrheitssuche, um die höchsten Sphären des Verstandes zu erreichen und an der reinen Welt des Geistes teilzuhaben. Entsprechend systematisch war Plotins hierarchisch geordnetes Weltbild, das auf Platons Ideenlehre mit dem oben erwähnten Liniengleichnis zurückgeht. In diesem System spielt die Seele eine zentrale Rolle. In der Hierarchie steht sie in der Mitte, über dem Körper und der Materie, Die Seele wird zur Mode – Plotin

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aber unter dem Intellekt oder Geist. Ganz oben steht das Eine (oder »der Eine«), das auch als das Gute, das Schöne (gelegentlich auch das Wahre) oder Gott bezeichnet wird. Darunter steht nous, gewöhnlich mit ›Vernunft‹ oder ›Intellekt‹ übersetzt und gleichbedeutend mit ›Geist‹. Dieses Vernunftsprinzip wird auch als das Sein bezeichnet. Für die Äußerungen des Verstands gebraucht Plotin auch den Begriff logos. Damit greift er nicht nur auf Platon und Aristoteles, sondern auch auf Heraklits logos und Empedokles’ nous zurück, die bei beiden als schöpferisches Prinzip (arché) galten. Unter der Vernunft und entsprungen aus ihr steht die Seele, psyche, die Teil der Weltseele ist. Folglich ist der Mensch eine vernünftige Seele (und nicht nur eine animalische wie die Tiere). Dass die Seele geistig sein kann, zeigt sich am Begriff der Emanation (Ausfluss). Der Geist hat seine Quelle in der Weltseele des Einen, die alles unter ihr durchströmt. Je nach Abstand von der Quelle gelangt mehr oder weniger davon in die jeweiligen Ebenen. So ist auch die Seele eine Emanation der Weltseele, die bis in die untere Ebene der physischen Materie (hyle, »Stoff«) und des Körpers – also in die Welt der Sinne – strömt, wenn auch in geringerem Maß. Die einzelnen Niveaus dieser Hierarchie heißen auch Hypostasen, was eine mögliche Aufwärtsbewegung im System impliziert. Jedes Niveau bildet eine Einheit, ist aber zugleich ein Teil der höchsten Einheit, des Einen, Unteilbaren, des Ursprungs aller Dinge. Dies gibt der Seele die Möglichkeit zum Aufstieg. Es ist ihr Ziel, sich über sich selbst zu erheben und selbst zu Geist zu werden – ein Zustand, den Plotin als Seligkeit bezeichnet: [Das Eine] erzeugt die Schönheit, die Gerechtigkeit, die Tugend; denn damit geht die gotterfüllte Seele schwanger und dies ist für sie Prinzip und Ziel; Prinzip, weil sie von dorther stammt, Ziel, weil das Gute dort ist und weil sie dort angelangt selbst auch wird was sie war. (VI, 9.9)

Dieser Seelenzustand ist eine Art Erwachen. Das Ziel wird erreicht, indem die Seele sich auf ihren intelligenten Teil und ihre Gedankenkraft besinnt. Denn sie ist nicht einheitlich, sondern zusammengesetzt aus einem körperlichen, sinnlichen Teil und einem Vernunftsteil. Um aufzusteigen, muss sie sich vom sinnlichen Leib befreien und Gedanke oder Vernunft werden. Plotins Sicht auf den Körper ist nicht ganz so negativ wie Platons, denn nach seinem Weltbild sind auch die Materie (hyle) und der Körper der Vernunft entsprungen, tragen etwas von ihr in sich und können deshalb 66

Die Seele wird zur Mode – Plotin

nie seelenloses Material werden. Die Seele ist also auch schöpferisch, ein wichtiger, positiver Gedanke bei Plotin. Doch sie ist geteilt (wie bei Platon): Ein Teil ist immer dem Verstand zugeneigt, einer dem Irdischen, ein dritter bleibt in der Mitte. Dadurch kann sie nie ganz zu Boden gezogen werden und nie reine Materie werden (vgl. I, 1.11). Bei Plotin kommt der Körper eher der Seele entgegen als umgekehrt. Alles im Menschen strebt nach oben, aber alle Teile werden gebraucht. Ohne den Körper könnte die Seele nicht fühlen und wäre reine Abstraktion. Umgekehrt ist der Körper als Emanation der Seele letztendlich ebenfalls aus der Weltseele entsprungen. Weil alles aus dem Einen entspringt, ist das Eine in allen Teilen vorhanden. Weil die Seele auch Vernunft in sich trägt, kann sie nicht nur ahnen, woher sie kommt, sondern es auch schauen (wie es bei Plotin heißt) und darüber hinaus wissen, wohin sie zurückkehren soll. Letzteres ist die besondere Herausforderung der Seele. Damit hat sie einen »Doppelmodus«: Einerseits ist sie an den Körper gebunden, in dem sie existiert, andererseits soll sie sich vom Körperlichen befreien, zur Vernunft zurückkehren und in Richtung des Einen aufsteigen. Der Körper ist also nicht bloß ein Gefängnis für die Seele (wie bei Platon), sondern auch ihr Medium: »Wenn es keinen Körper gibt, so kann auch keine Seele hervortreten, da es ja auch keinen andern Ort gibt, wo sie ihrer Natur nach sein kann. Will sie hervortreten, so wird sie sich einen Ort erzeugen, folglich auch einen Körper« (IV, 3.9). Die Seele benutzt den Körper als eine Art Plattform, wenn sie sich erhebt, um zu ihrem geistigen Ursprung zurückzukehren. Auch den logos als wirksame Kraft im Individuum trägt die Seele in sich. Logos wird meist mit ›Vernunft‹, ›Sprache‹ oder ›Begriff‹ übersetzt, aber er ist auch das Sprachvermögen an sich und somit die Quelle der Weisheit: »Wie der sich nach außen entfaltende Begriff ein Produkt des Begriffs in der Seele ist, so ist auch sie selbst ein Begriff der Vernunft und ganz Energie wie das Leben, das sie in eine andere Daseinsform entsendet« (V, 1.3). Logos in Form von Sprache und Begriffen ist absolut notwendig, um das Eine durch intellektuelle Erkenntnis und meditative Reflexion zu erreichen. Die Begriffe sind das Medium der Ideen in dieser Welt. Eine Besonderheit der Seele nach Plotin ist, dass sie nicht voll und ganz dem Körper innewohnt (wie aus christlicher Sicht), sondern nur einen Teil von sich in ihn eingehen lässt. Ihr Vernunftsteil hat weiterhin Kontakt mit den höheren, geistigen Sphären. So kann sie sich leichter vom Körper befreien: Man muss nur den Blick nach innen auf die eigene Vernunft richten, um das Verhältnis zum göttlichen Einen wiederherzustellen, Die Seele wird zur Mode – Plotin

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denn Inhalt und Form der Seele kommen von der Vernunft (nous). Weil der Körper auch Vernunft in sich trägt, ist er nicht nur schlecht. Außerdem lernen wir durch den Körper und seine Sinne etwas über die Welt, die für Plotin kein Chaos ist, sondern Vielfalt in einem Ganzen, weil sie ebenfalls eine Emanation des Geistes ist. Bei Plotin strömt der Geist in beide Richtungen, hin und her, hinauf und herab. Der Körper ist nicht nur von der Seele erzeugt, er kommuniziert auch mit der Seele, die aufgrund ihrer Position zwischen Körper und Geist die Vielfalt einer Person repräsentiert. Alle Teile der Seele hängen sowohl mit der allumfassenden Weltseele als auch mit der umfassenden Materie zusammen, ohne dass sie ganz in der Materie verschwinden können (vgl. I, 1.11). Diese Dynamik und Vielfalt ist in Plotins Wirkungsgeschichte oft übersehen worden, denn er wurde meist linear platonisch verstanden oder zu einem größeren Geistesmystiker gemacht, als er war. Doch obwohl er nie seinen geistigen Ursprung und sein geistiges Ziel vergaß, war er in vieler Hinsicht lebensnah und pragmatisch. Plotin wurde im Lauf der Zeit sehr unterschiedlich ausgelegt. Manche halten ihn für einen Dualisten, weil er die Materie als minderwertig und moralisch schwach bezeichnet, andere bestreiten dies, weil in seiner Theorie alle Teile der Welt miteinander verwickelt sind und alles vom lebensspendenden Prinzip der Seele durchströmt ist, das seinerseits Kraft aus der Vernunft (nous) schöpft. So gesehen ist Plotin ein Monist. Es gibt nur eine Welt. Und es gibt eine Parallele zwischen seinem Weltbild (Ontologie) und seinem Menschenbild (Anthropologie): Der Mensch ist in eine Welt eingebunden, die denselben Ursprung wie er hat, und ein und dieselbe Kraft durchströmt alles und erhält es aufrecht. Doch gleichzeitig ist die Welt in verschiedene Niveaus eingeteilt, und auch die Menschen befinden sich auf unterschiedlichen Ebenen, je nachdem, wie sehr sie an die materielle Welt gebunden sind und sinnliche Befriedigung suchen oder wie sehr sie zur Vernunft streben. Moralisch betrachtet kann man Plotin demnach als Dualisten bezeichnen. Die meisten hierarchischen Systeme neigen zum Dualismus zwischen dem Hohen und dem Niedrigen, Gut und Böse, Geist und Materie, wobei das Böse Letzterer zugeordnet wird. Plotin zufolge hat das Böse keine selbständige Existenz, aber es ist eine Realität, die die Menschen an Materie und Körper bindet. Deshalb fragt er, warum das Böse überhaupt existiert und ob der Demiurg recht getan hat, die Seele in die Welt zu setzen (IV, 8.2–5), wenn das Ziel sowieso lautet, zu seinem Ursprung zurückzukehren. »Die geringeren Wirkungen kommen 68

Die Seele wird zur Mode – Plotin

anderswoher [als von dem Einen und der Vernunft] und sind Affektionen [Erkrankungen] einer solchen Seele« (V, 1.3). Plotin verurteilt das Böse nicht auf moralistische Weise, sondern beschreibt es ontologisch. Er gibt lediglich existenziellen Rat, wie man sich dem Bösen gegenüber verhält, um nicht davon gebunden zu werden. Erkrankungen der Seele und das moralisch Böse betreffen nur den niederen Menschen. Die erhabene Seele ist ohne Sünde. In diesem Punkt unterscheidet sich Plotin deutlich vom gleichzeitig aufstrebenden Christentum, welches das Böse in Form der Erbsünde als unvermeidlichen Teil des Daseins und der menschlichen Natur betrachtet. Deshalb wird der Kampf um die Seele, die zwischen Gut und Böse hin- und hergerissen wird, im Christentum so intensiv. Für Plotin ist das Böse immerhin ein Grund, sich der Welt zu entziehen: »Da das Böse hienieden ist und um diesen Ort wandelt mit Notwendigkeit, die Seele aber das Böse fliehen will, so fliehe man von hier« (I, 2.1). Plotin lehnte das Christentum ausdrücklich ab, insbesondere dessen zentrales Dogma der Erlösung durch das stellvertretende Leiden Christi. Eine solche Abhängigkeit von anderen in entscheidenden persönlichen Fragen war ihm fremd, Befreiung und Erlösung lagen für ihn in der Hand des Individuums und waren eine Frage des Ziels, der Methode und der Fertigkeiten (areté), eine persönliche Arbeit, die jeder so gut wie möglich ausführen musste. Erlösung oder Gnade sind keine Themen bei Plotin. Sein Gott erlöst denjenigen, der sich selbst erlöst – ein ganz und gar unchristlicher Gedanke, den er über ein Jahrhundert bevor das Christentum Staatsreligion des Römischen Reichs wurde, noch offen aussprechen konnte. In den Jahrhunderten nach Plotins Tod wurde sein System jedoch missbraucht, um einige christliche Vorstellungen zu legitimieren. Er hat auch die christliche Mystik inspiriert und wurde zitiert, um religiöse Erfahrungen mystischer Art zu erklären.

Unio mystica – Plotins Mystizismus Der Grund für die Niederschrift der Enneaden war, dass Plotins Schüler ihn drängten, er möge seine mystischen Erfahrungen der Nachwelt überliefern. Nur widerwillig ließ der Meister sich überreden und beschrieb den Weg und die Methode, die Einheit mit dem Einen, die unio mystica zu erlangen. In den sechs Jahren, die sein Übermittler Porphyrius mit ihm verbrachte, soll er vier solcher Erlebnisse gehabt haben. Wieder dreht sich Plotins Mystizismus

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dabei alles um die Seele und wie sie sich vom Leib befreien und in einer grenzüberschreitenden Offenbarung auflösen kann. Im achten Buch der vierten Enneade, »Über das Herabsteigen der Seele in den Körper«, wird ein solches Erlebnis beschrieben (IV, 8.1): Oft wenn ich aus dem Schlummer des Leibes zu mir selbst erwache und aus der Außenwelt heraustretend bei mir selber Einkehr halte, schaue ich eine wundersame Schönheit: ich glaube dann am festesten an meine Zugehörigkeit zu einer bessern und höheren Welt, wirke kräftig in mir das herrlichste Leben und bin mit der Gottheit eins geworden.

Das Erlebnis hat den Charakter einer Erleuchtung, wie den Körper zu verlassen, über die sinnliche Welt erhaben und Teil des Einen zu werden. Um eine solche Einheit einzugehen, müssen das Ich und die individuelle Seele in der alles durchströmenden Kraft des Geistes aufgelöst werden. Er lässt sein Ich mit Körper und Sinnen hinter sich, damit die Seele sich ausweiten, dem Einen entgegenkommen und endlich in dem Einen aufgehen kann, das alles durchströmt. So kommt er »weg von hier«. Die Weisheit ist das Denken in seiner Wegwendung von der Welt hier unten, das Denken, welches die Seele zu dem Höheren emporführt. Ist nun die Seele geläutert, so wird sie zur Idee, zur reinen Vernunft, schlechthin unkörperlich, geistig und ganz vom Göttlichen durchdrungen, von wo aus die Quelle des Schönen kommt und alles dessen, was mit ihm verwandt ist. Emporgeführt zur Vernunft, ist die Seele schön in möglichster Vollkommenheit. Vernunft und was von der Vernunft ausgeht, ist die der Seele ursprüngliche, eigene Schönheit, die nicht als etwas Fremdes an sie herantritt, weil die Seele dies allein in Wahrheit ist.

Wenn die Seele auf diese Weise schön geworden ist, kann sie selbst alles verschönern, womit sie in Kontakt tritt – auch den Körper. Auch der Körper und andere schöne Dinge haben teil an der Ausstrahlung der Ideen und des Einen, ein wichtiger Punkt bei Plotin. Eine Seele, die die wahre Schönheit gesehen und eine unio mystica erlebt hat, wird dies nie vergessen und sich stets zur Einheit zurücksehnen. Sie wird die Augen schließen (myein, vgl. I, 6.8), um die Schönheit mit ihrem inneren Blick zu schauen: Nie hätte das Auge jemals die Sonne gesehen, wenn es nicht selber sonnenhaft wäre; so kann auch eine Seele das Schöne nicht sehen, wenn sie nicht selbst schön ist.

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Die Seele wird zur Mode – Plotin

Darum werde jeder zuerst gottähnlich und schön, wenn er das Gute und Schöne sehen will. (I, 6.9)

Nach dem Motto »Gleiches erkennt Gleiches« ließ Goethe sich direkt von diesem Zitat inspirieren: Wär nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt es nie erblicken; Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?

Nachdem sie das Schöne geschaut und Teil von ihm geworden ist, ist es umso verwunderlicher, dass die Seele auch wieder hinabstürzen und Teil des Leibes und der sinnlichen Welt werden kann. Plotin fragt sich, »wie die Seele überhaupt in meinen Körper gekommen ist«, da sie ja eigentlich einer anderen Existenzform angehört. Ein Aufstieg kann nur unter bestimmten Bedingungen geschehen. Die erste ist die Konzentration der Gedanken, nicht auf irgendetwas, sondern auf das Schöne und Gute, dem man im Umgang mit anderen Menschen begegnet ist (I, 6.9). Der nächste Schritt besteht darin, sich selbst im Licht des Guten und Schönen zu untersuchen. Dadurch wird das nächste Stadium vorbereitet, in dem die Vernunft (nous) sich öffnet, um der Seele den Blick auf die vollkommene Schönheit freizugeben. Nun denkt nicht mehr das Subjekt, sondern die Vernunft übernimmt und denkt in sich selbst, die Seele nimmt nur entgegen und wird vom Gedanken erhoben. In diesem Moment kommt die Erleuchtung: »Von derselben Woge gleichsam des Intellekts und emporgehoben von ihrem Schwall schaut er sogleich und sieht nicht wie, sondern das Schauen füllt die Augen mit Licht und lässt sie nicht ein anderes sehen, sondern das Licht selbst ist das Objekt des Schauens« (VI, 7.36). Dieses mystische Erlebnis entspricht dem Anblick, den man hat, wenn man überhaupt nicht schaut, das heißt, wenn man die Augen schließt und ins Dunkle starrt, bis sich das darin Versteckte offenbart. Nur bestimmte Personen haben diese seherische Fähigkeit, nämlich wer von Natur aus mit Eros begabt ist, dem inneren Erkenntnisdrang, und im wahrsten Sinne des Wortes philo-sophos ist, ein Freund der Weisheit, »wer von Natur ein Liebhaber und seinem Wesen nach ursprünglich ein Philosoph ist: indem dieser als Liebhaber schmerzlich um das Schöne sich müht, es aber bei der körperlichen Schönheit nicht aushält, sondern von dort emporeilt zu den Plotins Mystizismus

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seelischen Schönheiten, nämlich zu den Tugenden und Wissenschaften und Beschäftigungen und Gesetzen« (V, 9.2). Plotin setzte den Standard für alle Mystiker, Schwärmer und Ekstatiker bis hin zu den Romantikern, die ebenfalls von Plotins schauender, den Geist suchender Seele fasziniert sind. Sein Mystizismus ist seine Essenz, seine Lehre versteht nur, wer auch die Mystik begreift. Alle westlichen Mystiker von Augustinus bis zu Hildegard von Bingen und Meister Eckhart sind von Plotin beeinflusst. Insgesamt jedoch hatte die Kirche im gesamten Mittelalter und der Frühen Neuzeit ein negatives Verhältnis zu Mystikern (wie später der Islam zu den Sufis). Viele wurden als Ketzer verfolgt, selbst der große Meister Eckhart entging nur mit Mühe und Not dem Scheiterhaufen, genauer gesagt starb er während des Häresie-Prozesses. Das Hauptanliegen aller Mystiker war die Befreiung und Vergeistigung der Seele, damit sie mit der Weltseele oder dem göttlichen Licht des Geistes eins werde. Vielleicht hat Plotin als Mystiker am meisten Einfluss auf die Nachwelt gehabt, nicht zuletzt auf islamische Mystiker, insbesondere die Sufis. Zum Beispiel vermittelt der große islamische Dichter Rumi einen Mystizismus, der ganz auf Plotins Linie liegt. Plotins Mystizismus war sein eigener. Er schloss sich keiner bestimmten Richtung oder Glaubensgemeinschaft an, sondern suchte als selbständiger Geist seinen Weg. Man kann sagen, dass sein Mystizismus seiner Haltung als Geistesmensch entspricht. Durch tiefe Reflexion und Introspektion presste er den Geist bis zum Äußersten, um ihm Geheimnisse abzuringen. Die mystische Erfahrung ist eine Art »In-spiration«, eine Eingebung von Geist, eine unbedingte Hingabe, bei der die Seele das empfangende Medium für etwas Überindividuelles ist, das einen unabhängig vom Willen ergreift. Deshalb werden solche Erlebnisse auch göttliche Offenbarung oder Theophanie genannt: »Da also die Seele etwas so wertvolles und göttliches ist, so halte dich überzeugt, dass du durch ein solches Vehikel einem Gott nachjagest, und steige mit Hilfe einer solchen Ursache auf zu jenem« (V, 1.3). In unserer Zeit herrschen indessen schlechte Bedingungen für den Mystizismus, der Interesse für das innere Gedankenleben voraussetzt, für das Esoterische im Gegensatz zum Exoterischen, das in der sicht- und greifbaren äußeren Welt geschieht. Das Esoterische gehörte zu Plotins Zeit, der Mystizismus war ein möglicher Weg für Wahrheitssucher in der Spätantike und dem Mittelalter. Von der Renaissance an wird das Innere nach außen gekehrt, womit das Esoterische gezwungenermaßen exoterisch 72

Die Seele wird zur Mode – Plotin

wird. Das Ziel des Mystikers ist die Einheit. Sein Problem ist die Vielfalt, die Spaltung zwischen Vernunft und Materie, zwischen Körper und Seele, und die Heimatlosigkeit des Geistes in einer Welt aus unzähligen einzelnen Dingen und sinnlichen Phänomenen. Prinzipiell gibt es zwei Auswege aus dem kakophonischen Chaos. Die Dinge und Phänomene können noch weiter verteilt werden, bis zu ihrer totalen Auflösung, oder sie können zu einer Einheit konzentriert werden. Darüber belehrt uns die Physik. Die Kosmologie kennt zwei Möglichkeiten: Entweder die Welt löst sich in der Unendlichkeit auf – was mit dem expandierenden Universum der Fall zu sein scheint – oder das Universum fällt in sich zusammen und wird zu einer absoluten Einheit (einem schwarzen Loch) konzentriert. Mystiker und Gläubige nennen die Einheit, in der alles zusammenfällt, Gott. In beiden Fällen wird jede Individualität aufgelöst – im Alles oder in der Einheit. Im Unterschied zu Plotin leben wir definitiv in der Zeit der äußerlichen Vielfalt. Die Einheit als Norm gilt für das Mittelalter.

Plotins Mystizismus

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DAS MITTELALTER

Wo aber, wo in so später Zeit und aus welcher tiefen und doch so hohen Verborgenheit ward im Augenblick mein freier Wille hervorgerufen, dass ich meinen Nacken unter dein sanftes Joch beugte und meine Schultern unter deine leichte Bürde, Jesus Christus, mein Helfer und mein Versöhner? (Augustinus, Bekenntnisse IX, 1)

DIE SÜNDIGE SEELE IM CHRISTENTUM – ERLÖSUNG ODER VERDAMMNIS?

Der Übergang von der Antike zum Mittelalter ist eine ebenso kritische wie dramatische Phase in der Entwicklung der Seele. In der Spätantike kämpfen unzählige Lebensanschauungen und Glaubensrichtungen um die Vormachtstellung. Auch im frühen Christentum gibt es interne Konflikte über die Rolle der Seele. Die radikalste Veränderung ist jedoch der Übergang von einer philosophischen, rational begründeten Sicht zu einem religiösen Verständnis, das auf Glaube und Offenbarung beruht. Dies betrifft nicht nur die Seele, sondern das gesamte Weltbild und den Alltag der Menschen. In unserem Zusammenhang ist es entscheidend, dass gleichzeitig ein Übergang von einer Kultur zur anderen stattfindet, nämlich von der griechisch-römischen Antike zu einer europäischen Kultur, die sich Schritt für Schritt manifestiert. Ihre Ausbreitung fällt mit der Befestigung des Christentums und der Kirche als gesellschaftstragende Institution (gemeinsam mit dem Kaisertum) zusammen. Die Religion wird damit zur Kultur schaffenden Kraft, und das Christentum bestimmt die Vorstellungswelt der Menschen in immer stärkerem Grad, bis es zur alleinherrschenden, totalisierenden Ideologie des europäischen Mittelalters wird. Darin spielt die christliche Seelenlehre eine wesentliche Rolle. Sie erschafft eine Mentalität, die wir als Europäer noch heute in uns tragen. Unter anderem deshalb geben wir die Vorstellung von der Seele nicht einfach auf. Sie ist Teil unseres Menschenbildes geworden, und zwar hauptsächlich in Form des Individualismus, der die europäische Kultur von anderen unterscheidet. Der Individualismus ist ein Produkt der christlich-mittelalterlichen Seelenpflege, die der individuellen Seele und der Erlösung des Einzelnen gilt. Das christliche Mittelalter ist die Glanzperiode der Seele, in der sie mehr denn je umschwärmt war. Alle wollten sie gewinnen, nicht nur der Die sündige Seele im Christentum

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Klerus – vom Gemeindepriester bis zur Inquisition. Der Teufel persönlich stand an jedem Sterbebett, um seine Klauen in die Seele zu schlagen, sobald sie den Leib des Sterbenden mit dessen letztem Atemzug verließ, ein beliebtes Motiv in mittelalterlichen Illustrationen. Der Triumph des Christentums ist auch der Sieg des Monotheismus über die Vielgötterei, die, außer im heimatlosen Judentum, in den Hochkulturen der Spätantike rund ums Mittelmeer herrschte. Sie befanden sich in der Auflösung, auch in moralischer Hinsicht, und der Polytheismus galt fortan als Aberglaube und Abgötterei. Die Zeit war reif für den Monotheismus. Am Anfang war das Christentum die Religion und Moral der Sklaven. Wer nichts hatte, dem wurde trotzdem ein Platz im paradiesischen Himmelreich versprochen, und die Armen hatten Jesu antimaterialistisches Ideal der Genügsamkeit auf ihrer Seite. Die puristischen und asketischen Ideale waren ein wichtiges Element der Alten Kirche, die noch vom Manichäismus und Gnostizismus beeinflusst war. Der kulturelle Verfall setzte sich zu Augustinus’ Zeit (354–430) fort, die von religiöser Verwirrung geprägt war, eine Art Interregnum. Nach der Plünderung Roms durch die Westgoten im Jahr 410 war das Weströmische Reich faktisch am Ende. Es waren die sogenannten Barbaren, germanische Stämme wie die Vandalen, Ost- und Westgoten oder Franken, die das christliche Europa auf den Ruinen des Weströmischen Reichs erschufen, während Konstantinopel das christliche Reich im Osten verteidigte und die Muslime ab dem 7. Jahrhundert den Nahen und Mittleren Osten eroberten. Auch die christlichen Gebiete in Augustinus’ Nordafrika und der Süden Spaniens gingen verloren. Doch bis dahin hatte Augustinus längst sowohl die theologischen als auch die institutionellen Grundsteine des europäischen Christentums gelegt. Er vollendete die Arbeit der frühen Kirchenväter. Die Zeit von 150 bis 430 n. Chr. gilt als die Zeit der Kirchenväter. Diese versuchten, die großen Glaubensfragen zu klären. Sie wussten, was auf dem Spiel stand, und bemühten ihre geistigen Kräfte bis zum Äußersten. Es sollten noch viele Jahrhunderte vergehen, ehe die christliche Theologie in der Scholastik des Hochmittelalters (1100–1340) wieder ein den Kirchenvätern ebenbürtiges Niveau erreichte. Zu den großen Glaubensfragen zählte unter anderem die Frage, was mit Körper und Seele nach dem Tod geschieht. Die Evangelien sprechen sich darüber nicht eindeutig aus, besonders im Hinblick auf das Zwischenstadium, die Wartezeit zwischen dem physischen Tod und der Wiederauferstehung am Jüngsten Tag. Die Kirchenväter boten unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Irenäus 78

Die sündige Seele im Christentum

(ca. 130–203) behauptete, der materielle Körper einer Person würde natürlich sterben und sich auflösen, jedoch bei der Auferstehung rekonstituiert und mit der unsterblichen Seele wiedervereint werden. Tertullian (geb. ca. 150) war der erste christliche Theologe, der eine eindeutige Lehre über die Unsterblichkeit der Seele vertrat. Origenes von Alexandrien (ca. 185–254), Plotins Zeitgenosse und der einflussreichste Theologe vor Augustinus, meinte, die Seele existiere schon vor der Geburt eines Individuums in reiner, unverdorbener Form. Ihre späteren Eigenschaften sind das Ergebnis persönlicher Entscheidungen. Im Fall falscher Entscheidungen, das heißt der Sünde, fällt die Seele und wird zur Strafe an einen irdischen Körper gebunden. Die irdische Welt gibt es, damit die gefallenen Seelen einen Ort haben, an dem sie sich reinigen und rehabilitieren können, um nach dem Tod des Körpers wieder als reine, geistige Wesen zu existieren. Manche Personen sind besser als andere, weil sie in ihrem vorigen Leben Gutes getan haben. Origenes glaubt also an eine Art Karma und an Seelenwanderung, was die Kirche sonst ablehnte. Seine Theorie ist nicht dasselbe wie Augustinus’ Prädestinationslehre. Der spätere Pelagius (ca. 350–418), Augustinus’ Zeitgenosse, lehnte nicht nur die Prädestinationslehre ab, sondern auch die Erbsünde, was viel Aufsehen erregte. Pelagius war ein Verfechter des freien Willens und der Fähigkeit, sich selbst durch Haltung und Handlung zu erlösen. Deshalb wurde er beschuldigt, besonders von Augustinus, er wolle Gottes Gnade überflüssig machen. Nach einem langen Streit – Pelagius hatte viele Anhänger – wurde seine Lehre für häretisch erklärt. Der Ausgang des Streits hatte weitreichende Auswirkungen auf das Menschenbild und das Verständnis der Seele in den folgenden Jahrhunderten. Pelagius’ positive, bodenständige Anthropologie stand gegen Augustinus’ kompromisslose Erlösung durch Gottes Gnade allein, die zur offiziellen Lehre der Kirche wurde und eine Tradition begründete, die mit Thomas von Aquin in der Scholastik ihren Höhepunkt fand und das Bild der Seele in der westlichen Kultur bis heute mitbestimmt. Die Seele war ein Lieblingsthema der Kirchenväter. Sie ist von Gott gegeben, aber der Mensch ist selbst für sein Schicksal verantwortlich. Erlösung ist erklärtermaßen die Erlösung der individuellen Seele. Deshalb ist das Christentum das Fundament des westlichen Individualismus, wie er sich – in theozentrischem Rahmen – im Hochmittelalter durch die exzessive Beschäftigung mit der Sünde des Individuums und der persönlichen Schuld entwickelt. Diese Fixierung entwickelt sich besonders durch die Die sündige Seele im Christentum

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christliche Bekenntniskultur, die im 12. und 13. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt. Im Jahr 1215 schreibt die Kirche vor, dass jeder Gläubige mindestens einmal im Jahr persönlich Beichte ablegen und seine Sünden bekennen soll. Durch die Beichtpflicht wird der Mensch des Mittelalters gezwungen, ständig »ich« und »mein« zu sagen: Es ist meine Schuld (mea culpa), meine sündigen Gedanken brauchen die Erkenntnis meiner selbst, um Friede und Erlösung für meine Seele zu finden usw. Dies schafft ein neues, subjektives Selbstverständnis und verstärkt die Individualisierung der europäischen Mentalität. Das ist neu in der Kulturgeschichte, doch die Grundlagen dazu schuf Augustinus bereits um das Jahr 400. Bevor wir uns näher mit ihm befassen, wollen wir klären, was in der Bibel selbst über die Seele steht.

Die ursprüngliche Bedeutung in der Bibel Wir haben alle eine Vorstellung davon, was die Seele im Christentum bedeutet, und jeder weiß, welche Schreckensszenarien über die Verdammnis der Seele und ewige Höllenqualen im Mittelalter erdacht wurden – eine Furcht, die noch immer in vielen Glaubensgemeinschaften fortlebt. Doch was sagt die Bibel eigentlich über die Seele? Und was bedeutet das hebräische Wort für Seele? Im Alten Testament (AT) gibt es mehrere Wörter, aus denen sich der christliche Seelenbegriff entwickelt hat. Die wichtigsten sind ruach, nefesh, neshamah und lev (Herz). Im Neuen Testament (NT) steht hauptsächlich das griechische psyché für die Seele. Es nimmt mehrere Bedeutungen der alten Begriffe in sich auf, insbesondere aber die von nefesh. Auch anthropologisch betrachtet gibt es einen Unterschied zwischen dem alt- und dem neutestamentlichen Seelenbegriff. Im AT ist ruach (auch ruah) am wichtigsten. Es wird in der Regel mit »Geist«, aber auch mit »Intellekt« oder »Kraft« übersetzt, darunter auch Lebenskraft und Seelenkraft. In NT wird es mit gr. pneuma (Atem, aber auch Geist) übersetzt. Es ist der göttliche Odem, der Geist Gottes, den Jesus bei der Taufe empfängt (Matthäus 3,13 ff.) und den er an Pfingsten als Heiligen Geist (pneuma hagion, Matthäus 3,11) an seine Jünger weitergibt. Der göttliche ruach gibt den Menschen Gerechtigkeit und Liebe ein, Recht und Barmherzigkeit. Die Propheten und Jesus tragen ihn in die Welt. Ruach wird auf sehr ähnliche Wiese wie neshamah oder nefesh (arabisch nafs) benutzt. Alle drei bezeichnen den Atem als Lebenskraft. Die konkrete 80

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Grundlage allen Geistes ist also körperlicher Atem. In Hesekiel (13,17 ff.) ist die Vorstellung überliefert, dass nefesh im Schlaf aus den Nasenlöchern oder anderen Körperöffnungen entweichen kann. Die Grundbedeutungen lesen wir in 1. Mose 2,7: »Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und blies ihm ein den lebendigen Odem [neshama] in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele [nefesh].« Der Lebensatem ist Gottes Atem und Gottes Geist, ruah. In der griechischen Übersetzung steht hier ebenfalls pneuma. Deshalb ist das Judentum eine pneumatische oder geistige Religion – der Geist ist wichtiger als die Seele, denn er ist Gottes Geist, der dem Menschen gegeben wird, und die Seele ist sein Träger. Weil der Geist Gottes in ihr wohnt, ist sie unsterblich. Das Christentum übernimmt die Schöpfungsgeschichte aus dem AT. Ursprünglich gab es dort keinen Körper-Seele-Dualismus, denn das AT fasst den Menschen noch als Einheit von Körper und Seele auf, noch mehr aber als Einheit von Geist und Seele. Im NT ist der Mensch eine Triade aus Geist, Seele und Körper, wie es Paulus im 1. Thessalonicherbrief (5,23) ausdrückt: »Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unsträflich auf die Zukunft unsers Herrn Jesu Christi.« Der Hauptunterschied besteht hier zwischen dem Geist (pneuma) und dem Körper oder Fleisch (sarks), wie Paulus im Römerbrief (8,13) betont: »Denn wo ihr nach dem Fleisch lebet, so werdet ihr sterben müssen; wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tötet, so werdet ihr leben.« Der Körper stirbt, aber die geistige Seele ist unsterblich. In der griechischen Bibelübersetzung steht für nefesh das Wort psyche (psykhé), das folglich auch im NT zum Seelenbegriff wird. Das Wort zieht die griechische Semantik in voller Breite mit sich, auch die Bedeutungen »Leben« und den Zusammenhang mit dem Selbst einer Person. Im AT kommt nefesh ganze 750 Mal vor und zeigt in der Bedeutung »Lebensatem« deutliche Parallelen zu Homers lebensspendender psyche, deren Sitz in der Brust liegt. Nefesh umfasst auch Gefühle und Bedürfnisse wie Hunger und Durst. Es ist eng verbunden mit dem Herzen (lev), das im Mittelalter mit der Seele verbunden wird. In der Bibel steht, dass der Geist beim Tod eines Menschen zu Gott zurückgeht (vgl. Prediger 12,7). Der Lebensatem, das Prinzip, das den Menschen erst lebendig macht, gehört Gott. Kein bewusster Teil des Menschen ist mit ihm verbunden. Das Leben oder »die Kraft, die lebendig macht«, ist Gottes Eigentum, nicht des Menschen. Deshalb kann nefesh/psyche nicht von anderen Menschen zerDie ursprüngliche Bedeutung in der Bibel

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stört werden, sondern nur von Gott (vgl. Matthäus 10,28). Während das Judentum mehr Gewicht auf den Geist (ruach) legt, konzentriert sich das christliche Mittelalter auf die Seele. Aus psyche wird in der lateinischen Übersetzung anima, das die gleiche Etymologie aufweist (vgl. gr. anemos, »Lufthauch, Wind«, dt. atmen, norw. ande/ånde). Der Schwerpunkt des seelenfixierten Christentums liegt zwischen Geist und Körper, das heißt zwischen dem Immateriellen und dem sinnlich Erfassbaren – ein scheinbarer Widerspruch. Die Seele ist das Bindeglied zwischen Geist und Körper. Man darf nicht vergessen, dass die Dreiteilung zwischen Geist, Seele und Körper biblisch ist und dass der Geist das Ziel der Seele ist. Der Körper stirbt, aber die Seele bindet sich ewig an den Geist, sie ist eine geistige Seele göttlichen Ursprungs. Es ist nicht unproblematisch, nesfesh einheitlich mit psyche zu übersetzen. Bei insgesamt 1700 Nennungen in der Bibel ergibt sich die Vieldeutigkeit von selbst. So ist die biblische psyche nicht automatisch mit dem Zustand der Unsterblichkeit verknüpft. Gott allein ist unsterblich, wie Paulus betont (1. Timotheus 6,16). In vielen Bibelstellen steht explizit, dass die Seele sterben kann, wobei die Wörter »Seele«, »Individuum« oder »Mensch« oft synonym gebraucht werden (vgl. 4. Mose 23,10; Psalm 56,14; Johannes 5,21). In Matthäus 10,28 spricht Jesus vom Tod des Leibes (dem physischen Tod) und dem Tod der Seele (hier: Sinn, Gedanke, Gefühl, also Teile des inneren Menschen): »Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die Seele nicht können töten; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.« Leib und Seele lassen sich also trennen und die Seele überlebt den Körper. Auch hier ist das Gegensatzpaar eher Geist und Fleisch (pneuma und sarks, vgl. Johannes 3,5–8 und 4,24). Jesus ist der Vermittler zwischen dem Menschen als körperliches/fleischliches Wesen und Gott als Geist. Das Ziel lautet, sich vom Fleisch zu befreien und Geist zu werden. Das NT lässt keinen Zweifel bezüglich der existenziellen Wichtigkeit der Seele: Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse? Denn es wird geschehen, dass des Menschen Sohn komme in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln; und alsdann wird er einem jeglichen vergelten nach seinen Werken. Wahrlich ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis das sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich. (Matthäus 16,26–28, vgl. Markus 8,36)

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Die sündige Seele im Christentum

Um neu geboren zu werden, wie es im NT heißt, muss man zuerst sterben. Man muss bereit sein, die äußeren Werte und Besitztümer dieser Welt aufzugeben. »Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten« (Lukas 9,24). Die Unsterblichkeit der Seele und was mit Körper und Seele nach dem Tod geschieht, sind die problematischsten und theologisch am heftigsten umstrittenen Fragen im Christentum. In keinem anderen Punkt liegen die Deutungen und konfessionellen Unterschiede so weit auseinander. Manche glauben, die Seele sterbe zunächst mit dem Körper und werde bis zur Auferstehung »aufbewahrt«. Im 1. Korintherbrief stellt Paulus fest, dass der Mensch bei der Rückkehr Jesu (am Jüngsten Tag) unsterblich wird: »So aber Christus gepredigt wird, dass er sei von den Toten auferstanden, wie sagen denn etliche unter euch, die Auferstehung der Toten sei nichts? Ist die Auferstehung der Toten nichts, so ist auch Christus nicht auferstanden« (5,12 f.). Manche jedoch zitieren Paulus im umgekehrten Sinn, wie er selbst sagt: »So die Toten nicht auferstehen, ›lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!‹« (15,32). Oder das Leben genießen – Après nous le déluge! – Nach uns die Sintflut! Auch der Körper wird von Jesus Christus erlöst und neu geschaffen: »Unser Wandel aber ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilands Jesu Christi, des Herrn, welcher unsern nichtigen Leib verklären wird, dass er ähnlich werde seinem verklärten Leibe nach der Wirkung, mit der er kann auch alle Dinge sich untertänig machen« (Philipper 3,20 f.). So wird der Tod überwunden – durch Jesu Auferstehung und sein stellvertretendes Leiden, damit jedem, der an ihn glaubt, ewiges Leben gegönnt sei: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. (Johannes 5,24)

Die Zerrissenheit des Menschen zwischen Körper und geistiger Seele, zwischen Diesseits und Jenseits, bestimmt alles in der christlichen Welt. Die Unsterblichkeit der Seele ist für die meisten leichter zu verstehen und akzeptieren als die Unsterblichkeit des Körpers, zu der sich ein Christ durch den Glauben an die Auferstehung des Fleisches bekennt. Der auferstehende Körper ist jedoch ein verwandelter, ein geistiger Körper. Dass es zwei Tode und zwei Auferstehungen gibt, macht die Sache nicht leichter. Zuerst kommt der physische Tod und dann, am Jüngsten Tag, der endgülDie ursprüngliche Bedeutung in der Bibel

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tige Tod in Form von Verdammnis – oder die Erlösung und ewiges Leben. Viele theologische und scholastische Diskussionen drehten sich um die Frage, was dazwischen geschieht, in der »Wartezeit« zwischen körperlichem Tod und dem Tod am Ende der Zeiten, wenn Jesus wiederkehrt, um die Verdammten von den Rechtgläubigen zu trennen und Letztere in »seiner Herrlichkeit« zu erlösen. Die meisten werden zustimmen, dass der Körper zumindest im Leben das Ego oder Alter Ego des Menschen ist, doch dass Körper und Seele im Jenseits wiedervereint und als Ganzheit »rekonstruiert« werden, können sich viele nicht vorstellen, egal wie »geistig« der Körper geworden ist. Selbst die Bibel ist nicht eindeutig in diesem Punkt. Glauben wir dem Theologen Paulus, ist völlig klar, dass der Körper beim Übergang ins Jenseits verwandelt wird. Paulus sieht ebenfalls klare Unterschiede im Niveau zwischen Körper, Seele und Geist. Im 1. Korintherbrief klingt er beinahe wie ein Platoniker: Also auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich, und wird auferstehen unverweslich. […] Es wird gesät ein natürlicher Leib, und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Ist ein natürlicher Leib, so ist auch ein geistlicher Leib. Wie es geschrieben steht: der erste Mensch, Adam, »ward zu einer lebendigen Seele«, und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht. (15,42 u. 15,44)

Der Geist, der Leben gibt – das ewige Leben der Seele als Geist –, ist Jesus Christus. Dies ist die wichtigste Grundlage der christlichen Seelenlehre. So antwortete Paulus, als er gefragt wurde, wie die Toten auferstehen und welchen Körper sie haben (15,35). Er räumt mit der Vorstellung auf, dass wir mit demselben Körper auferstehen, den wir auf Erden hatten. Dies tut er als naiv und unreif ab. Das sage ich aber, liebe Brüder, dass Fleisch und Blut nicht können das Reich Gottes ererben; auch wird das Verwesliche nicht erben das Unverwesliche. Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden. (15,50)

Wenn der Tod überwunden wird, kann Paulus mit seiner berühmten rhetorischen Frage triumphieren: »Tod, wo ist dein Stachel?« (15,55) Doch der Apostel hält die Rute hinter dem Rücken versteckt: »Aber der Stachel des Todes ist die Sünde«, heißt es im nächsten Vers, eine Umkehrung von 84

Die sündige Seele im Christentum

»Denn der Tod ist der Sünde Sold« (Römer 6,23). Die Sünde führt in den ewigen, endgültigen Tod. Damit sind wir am Jüngsten Tag angelangt, wie er in der Offenbarung des Johannes geschildert wird. An ihm wird entschieden, welche Seelen in den Himmel kommen und welche in die Hölle. Doch noch immer ist die Frage nicht geklärt, wo die Seelen sich in der Zwischenzeit aufgehalten haben. Im frühen Christentum meinte man, die Seelen würden bis zum Jüngsten Gericht schlafen, weshalb auf den Grabsteinen in den römischen Katakomben dormit in pace (Schlaft in Frieden) steht. »Ruhe in Frieden« wird noch heute als Grabinschrift und Wunsch an Verstorbene benutzt, auch wenn uns nicht mehr bewusst ist, dass damit ursprünglich ein vorübergehender »Schlaf« gemeint war. Konventionell ist die Vorstellung, dass die Seelen unmittelbar nach dem Tod in der Hölle oder im Paradies landen, jedoch nur bis zum Jüngsten Tag, an dem ihr endgültiges Schicksal bestimmt wird (vgl. Lukas 23,43 u. 16,19 ff., vom reichen Mann und armen Lazarus). Dies lässt Raum für das Purgatorium als Zwischenstadium, ein reinigendes Leiden im Todesreich, das weniger schlimmen Sündern die Möglichkeit einräumt, am Jüngsten Tag trotzdem selig zu werden. Nach den Vorstellungen des klassischen Judentums kamen die Seelen nach dem Tod in den Scheol, eine Art Nicht-Welt, wo sie jedoch unter Gottes Fürsorge blieben, weil dessen Allmacht auch im Todesreich gilt. In der griechischen Übersetzung und im NT wird der eher neutrale Scheol durch den Tod (thanatos), Hades (haides) und später differenzierter durch die Hölle oder das Paradies ersetzt. Der Begriff der Hölle kommt vom alttestamentlichen Gehenna, einer Schlucht außerhalb Jerusalems, die als Nekropole und zur Abfallbeseitigung benutzt wurde. Im Lauf der Zeit wurde Gehenna zu einem Ort, an den die Seelen der Bösen verbannt wurden. Dieser Ort hat im gesamten Mittelalter die Fantasie der Menschen angeregt, die – jenseits aller Science-Fiction – jene Schrecken einjagenden Bilder der Hölle schuf, die wir aus Kunst und Literatur dieser Zeit kennen. Heute übt eine jenseitige Hölle nicht mehr die gleiche Faszination aus, und unter Christen ist es eher politisch unkorrekt, über die Hölle zu reden. Doch die Vorstellung vom Jüngsten Tag ist absolut christlich. An diesem Tag wird das endgültige Schicksal einer Person und ihrer Seele entschieden, und zwar von Jesus persönlich: Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Ich bin hungrig Die ursprüngliche Bedeutung in der Bibel

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gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Da werden sie ihm antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig oder als einen Gast oder nackt oder krank oder gefangen und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben. (Matthäus 25,41–46)

Dies wird im Christentum des Mittelalters zum Maß aller Dinge. Doch was mit der Seele nach dem Tod geschieht, lassen wir später einen Experten auf diesem Gebiet erzählen, nämlich Dante. Zunächst wollen wir näher untersuchen, wie die christliche Seelenlehre auf der oben skizzierten biblischen Grundlage weiterentwickelt wird. Dabei kommen wir nicht um Augustinus herum, der die Seele, anima, mehr als jeder andere zu einem Hauptthema des christlichen Mittelalters machte. Die Augen des Menschen sind die Fenster der Seele Hildegard von Bingen (1098–1179)

Augustinus’ reuige anima Augustinus’ Bedeutung für das Christentum kann kaum überschätzt werden. Kaum eine andere historische Person hat die christliche Lehre mehr beeinflusst und das Bild der Seele in der europäischen Kultur mehr geprägt als er. Alle bedeutenden Theologen beriefen sich auf ihn, nicht zuletzt Martin Luther, der augustinischer Mönch war. Sogar eine moderne Denkerin wie Hannah Arendt begann ihre akademische Laufbahn mit einer Abhandlung über Augustinus’ Begriff der Liebe, caritas. Indem er die individuelle Seele als persönliche Verantwortung des Individuums betrachtet, leistet Augustinus den positivsten Beitrag des Christentums zur Geschichte der Seele. Im Streit mit anderen Theologen drehte er die christliche Lehre in eine bestimmte Richtung. Ein kontrafaktisches Beispiel: Was wäre geschehen, wenn sein Gegenspieler Pelagius sich durchgesetzt hätte, der die Erbsünde abstritt und deshalb behauptete, der Mensch könne sich selbst durch gute Taten erlösen? Doch Augustinus’ Meinung hat sich durchgesetzt – im entscheidenden Punkt, nämlich der Erlösung der Seele, auch im Protestantismus. 86

Die sündige Seele im Christentum

Aurelius Augustinus wurde 354 im nordafrikanischen Tagaste geboren und starb 430 als Bischof von Hippo. Seine Theologie baut auf persönlichen Erfahrungen auf, wie aus seinen autobiografischen Confessiones (»Bekenntnisse«) aus den Jahr 400 ersichtlich ist. Mit diesem Werk begründet er das Genre der Bekenntnisliteratur, die im Lauf der Geschichte in immer neuen Formen auftritt. Die Bekenntnisse sind nicht nur eine öffentliche Beichte, sondern präsentieren einen neuen Menschentypus, für den das Innere zählt, die Selbstreflexion und die Entwicklung der individuellen Psyche. Damit legt er den Grundstein für den Konflikt der Seele im Mittelalter, bei dem der Mensch gegen sich selbst, seinen sündigen Körper und seine sündigen Gedanken kämpft, weil er ewige Verdammnis und Höllenqualen fürchtet. Alles dreht sich um anima, die Seele. Sie ist das innere Zentrum des Menschen. Doch bei Augustinus ist sie keine einzelne Größe, sondern zusammengesetzt und verschiedenen Impulsen und Neigungen – guten wie bösen, rationalen wie irrationalen  – ausgesetzt. Anthropologisch betrachtet ist er ein Religionspsychologe, der eine neue Seele erschafft, die ihr eigenes Leben in »diesem Leben« hat. Alle Wegweiser in Augustinus’ Reflexionen zeigen nach innen, auf die Seele, und von dort nach oben, in Richtung des Göttlichen, das ebenfalls erforscht werden soll. Die Reise zu Gott verläuft über die Seele, die sowohl Subjekt als auch Objekt der Seelenreise und der Selbstreflexion wird. Augustinus etabliert die Verinnerlichung oder Introversion, die Platon begonnen hat. Das Innere des Menschen, seine Seele – anima oder mens – ist ein eigenes Universum. Es ist eine Parallele zu Platons universeller Vernunft, aber auch irrational und bisweilen betrügerisch oder selbstbetrügerisch. Es gibt keine Analogie zwischen den Inneren und dem Äußeren wie bei Platon oder Plotin. In dieser Hinsicht ist Augustinus sogar der erste Psychoanalytiker, der viele Gedanken von Nietzsche und Freud antizipiert. Nicht ohne Grund wurden die Bekenntnisse auch die »Odyssee und Ilias des inneren Menschen in einem« genannt. Sie schildern eine geistige Entwicklung, einen inneren Kampf und eine Selbsterkenntnis, die bis dahin ohnegleichen war. Und nicht zuletzt: Augustinus war nach Paulus der erste Theologe, der den Glauben zur Grundlage nicht nur der Existenz, sondern auch der Erkenntnis machte. Augustinus führte einen lebenslangen Kampf mit seinem Körper und in zunehmendem Grad gegen ihn, sowohl philosophisch als auch physisch. Er wusste, worüber er schrieb, denn er begann sein Leben im griechischen Augustinus’ reuige anima

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Kulturkreis, einer lebensbejahenden Körperkultur, und lebte 15 Jahre lang mit einer Konkubine zusammen. Sie gebar ihm einen Sohn, den er hoch schätzte, bis er sich auf Druck seiner Mutter Monika von der Geliebten trennte und sie nach Afrika zurückschickte, nur um sie bitter zu vermissen. Eine Zeit lang versuchte er vergeblich, den Verlust mit einer anderen Frau auszugleichen, dann erklärte er sich selbst und seinem Körper den Krieg und wurde Mönch – die typische 180-Grad-Wendung eines Konvertiten. Das Verhältnis zwischen Körper und Seele erklärt Augustinus mit dem Unterschied zwischen dem Äußerlichen und dem Innerlichen (fortis und intus). Der Körper gehört dem Äußerlichen (homo exterior), das im Idealfall vom Innerlichen (homo interior) gesteuert werden soll, nämlich der Seele. Das Werkzeug dazu ist der Wille. Neben einem neuen Verständnis des inneren Seelenlebens ist der Wille Augustinus’ zweiter anthropologischer Beitrag. Mit dem freien Willen will er die Frage beantworten, die viel später als Theodizee bekannt wurde (»Warum lässt Gott das Böse zu, wo er doch allmächtig ist?«). Augustinus macht den Menschen moralisch für sein eigenes Schicksal und damit für seine mögliche Erlösung verantwortlich. In De libero arbitrio (Über den freien Willen, 387) stellt er die immer noch aktuelle Frage, ob der Wille des Menschen den determinierenden Kräften der Welt trotzen könne. Der Wille und die freie Entscheidung werden bei ihm zur Voraussetzung für die Moralität des Menschen. Damit macht er den Menschen nicht nur für seine Taten, sondern auch für seine Gedanken, Vorstellungen, Gefühle und nicht zuletzt seine Triebe selbst verantwortlich. Schon der Gedanke an das Unreine und Sinnliche wird somit zur Sünde, weil er ebenfalls dem Willen unterliegt, und kann zu Strafe und Verdammnis führen. Letztendlich werden durch diese Denkweise alle natürlichen Impulse im Menschen sündig. Und »der Tod ist der Sünde Sold«, laut Paulus (Römer 6,23). Für Augustinus war es sowohl ein theologisches als auch ein persönliches Dilemma, dass im Körper etwas existierte, das scheinbar unabhängig vom Willen war. Er fühlte sich von sexuellen Träumen verfolgt, die seinem Willen nicht gehorchen wollten. Offenbar ist der Wille doch nicht ganz frei, woraus Augustinus schließt, dass der Mensch letztendlich nur von Gottes Gnade durch die Liebe (die unbedingte caritas, gr. agape, im Gegensatz zum bedingten eros) erlöst werden kann. Luther übernahm diesen Gedanken, als er den Glauben als entscheidendes Kriterium für die Erlösung bezeichnete – vor guten Taten, der Vernunft und dem Willen. (Luther zufolge ist der Wille nur Eigenwille, der sich egoistisch um 88

Die sündige Seele im Christentum

sich selbst dreht, incurvatus in se.) Eigenwille und Egozentrik sind die eigentliche Sünde. Dass der freie Wille nicht immer ein Segen ist, hat der englische Baptist Charles Spurgeon in einer seiner Predigten (Fifth Series, 1859) treffend augustinisch ausgedrückt: »Free will has carried many souls to hell, but never a soul to heaven yet.« Die Seele kann nicht durch bewusste und vernünftige Erkenntnis erleuchtet werden, sondern muss sich auf die Sakramente des Glaubens verlassen: »Damit du mich segnetest in dir, meine Seele wandelnd durch Glauben und dein Sakrament« (Bekenntnisse X, 3). Denn »mein Gutes ist dein Werk und Geschenk, mein Böses ist mein Vergehen und dein Gericht« (X, 4). Der Mensch sitzt in der Zwickmühle, denn selbst wenn er kraft seines freien Willens die Kontrolle über alle Gedanken, Haltungen und Handlungen gewänne, wäre er doch aufgrund der Erbsünde verloren. Auf diese Weise versklavt Augustinus den menschlichen Willen und schiebt ihn auf die Seite des Bösen. Der Wille ist sowohl frei als auch gebunden. Augustinus meinte, die Lust habe sich beim Sündenfall vom Willen losgerissen. Augustinus scheint zu glauben, dass die Erbsünde durch die sündige Lust des Geschlechtsverkehrs auf das gesamte Menschengeschlecht übertragen wird. Somit betrachtet er die Sexualität an sich als Ansteckungsquelle. (Eriksen 2000, S. 217)

Die pathologische Metaphorik ist augustinisch: Aufgrund der Erbsünde ist die Sexualität als sexuell übertragbare Krankheit zu betrachten. Die Lust ist ein Seuchenherd und Gottes Strafe für Adams und Evas Sünde. Bei Augustinus’ geistiger Entwicklung und Bekehrung spielt seine Mutter, die fromme Monika, eine wichtige Rolle. Sie war seine erste Seelsorgerin und hegte ehrgeizige Pläne für die geistliche Karriere ihres Sohnes, was unvermeidlich auch dessen Liebhaberinnen betraf. Seine Bekehrung findet in ihrer Gesellschaft statt. Gemeinsam erleben sie den mystischen Augenblick, in dem ihre Seelen nach plotinischem Vorbild aufsteigen, eine Art unio mystica mit Gott – der einzige Augenblick in Augustinus’ Leben, in dem sein unruhiges Herz (cor inquietum) ruhig war. Das bahnbrechende Erlebnis findet kurz vor Monikas Tod in der schönen Gegend von Ostia an der Mündung des Tiber statt, wo sie auf die Überfahrt nach Afrika warten. Als nun unsere Rede dahin gelangte, dass auch die höchste sinnliche Freude, wie sie das leibliche Auge zu schauen vermag, vor der Wonne jenes Lebens keiner VergleiAugustinus’ reuige anima

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chung, geschweige denn Erwähnung wert schien, uns in glühender Sehnsucht zu ihm selbst erhebend, durchwandelten wir im Geiste stufenweise alles Sinnliche, ja selbst den Himmel, von welchem Sonne, Mond und Sterne auf die Erde herabglänzen. Dann drangen wir weiter empor im Bedenken, Besprechen und Bewundern deiner Werke und kamen auf unsern Geist, und auch darüber schritten wir hinaus, um das Gebiet unvergänglicher Fülle zu erreichen, wo du Israel weidest reichlich mit der Nahrung der Wahrheit und wo Weisheit das Leben ist, durch welches alles entsteht, Vergangenes und Zukünftiges; sie selbst aber wird nicht, sie ist, wie sie war, und wird immer so sein, denn Vergangenheit und Zukunft sind nicht in ihr, sondern allein das Sein, weil sie ewig ist; gewesen sein und sein werden ist aber nicht ewig. Und während wir so redeten und uns nach ihr sehnten, da berührten wir sie leise mit dem vollen Schlage des Herzens, seufzten und ließen dort gebunden die Erstlinge unseres Geistes zurück und kehrten uns wieder zum Laut unseres Mundes, wo das Wort beginnt und endet. (Bekenntnisse IX, 10)

Ein Echo dieses Gespräches und dieselbe Vorstellungswelt finden wir in Dantes Wanderung durch das paradiesische Todesreich, eine Reise, die zuerst durch die Hölle führt und ebenfalls am Ufer des Tiber beginnt. Dort ist es Beatrice, die Dante durch die paradiesischen Sphären führt, in die Augustinus hier versetzt wird. Dort ist es Fiktion, hier ein persönliches Erlebnis. Die Metaphorik ist leicht als neuplatonisch zu erkennen: Die erlöste Seele geht in eine Hierarchie ein, an deren Spitze der Geist und schließlich das Eine, Gott, stehen. Augustinus macht eine eigentümliche Reise zum Ideal. Sie führt nicht nur nach innen, sondern auch zurück zu Gott (reditus ad Deum), zum Ursprung. Der Gang (iter) zurück ist gleichzeitig ein Aufstieg (ascensus), wodurch die Reise zu einer Pilgerfahrt wird, einer Reise der Sühne an heilige Orte, wo Heilige als Vermittler zwischen dem Pilger und Gott dienen. Die Pilgerreise wird zum Ideal des Mittelalters und der Pilger oder Büßer, der eine schmerzliche Wanderung zu Fuß durch das Jammertal auf Erden unternimmt, um im Jenseits das gelobte Land erreichen zu können, wird zum festen Bestandteil der christlich-mittelalterlichen Kultur. Einige von Augustinus’ philosophischen Schriften handeln speziell von der Seele, unter anderen Von der Unsterblichkeit der Seele und Die Größe der Seele. In Selbstgespräche konstatiert er, dass es nur zwei Dinge gebe, die er kennenlernen wolle, nämlich Gott und die Seele. Theologie und Psychologie sind also seine Hauptdisziplinen und beide versucht er philosophisch zu begründen. Nach Augustinus werden mehrere lateinische 90

Die sündige Seele im Christentum

Begriffe für den inneren, seelischen Raum benutzt: anima oder animus (Seele), intellectus oder ratio (Vernunft) und besonders mens (Geist). Die Grenzen bleiben weiterhin zumindest teilweise fließend. Interessant ist, dass anima auch in der männlichen Form animus vorkommt. Augustinus benutzt diese für den denkenden Teil der Seele, der oft als »Bewusstsein« übersetzt und als Voraussetzung für das Leben verstanden wird. »Und Leben, das Vernunft besitzt, kann nur in einer Seele existieren.« So gesehen wird anima zu unserem objektiven Ich, über das Gott regiert – unsere Seele. Animus hingegen ist unser subjektives Ich, was bereits Descartes’ Seelenbild vorausnimmt. Auf dieser Grundlage argumentiert Augustinus für die Unsterblichkeit der Seele: »Wenn die Seele nur lebend Seele sein kann und wenn in ihr die Vernunft nicht ohne Leben sein kann, die Vernunft aber unsterblich ist, dann ist die Seele unsterblich.« (5.9) Das Bewusstsein (animus) kann sich mit der Vernunft oder dem Geist (mens) verbinden und damit die Seele (anima) beatmen, die unsterblich wird, weil Vernunft/Geist göttlichen und damit unsterblichen Ursprungs ist. Deshalb kann die Seele durch die Vernunft zu Gott, der Quelle der Vernunft, zurückfinden, obwohl Wille und Vernunft allein nicht ausreichen, sondern der Gnade Gottes bedürfen. Augustinus unterscheidet weiter zwischen der vernünftigen Seele (anima rationalis) als Sitz des Geistes (mens) und des Willens (voluntas) und der nichtvernünftigen Seele (anima irrationalis), als Sitz der Triebe (Sing. appetitus) und Sinne (Sing. sensus). Wie Platon gibt er dem Gedächtnis (memoria) eine wichtige anthropologische Bedeutung als Teil des Geistes, also auch der Seele: »Das ist vielmehr wunderbar, dass der Geist das Gedächtnis selbst ist« (Bekenntnisse X, 14). Und weiter: »Eine große Kraft ist das Gedächtnis, ich weiß nicht was, das mir einen heiligen Schauder erregt, mein Gott, eine tiefe und unbegrenzte Vielheit, und so ist meine Seele, und so bin ich selbst« (ibd., X, 17). Anima und animus sind also zwei Seiten derselben Sache, der Sammelbegriff für die Seele, das Ich. Er umfasst Perzeption, Kognition, Wille, Erinnerung und Imagination, das Vegetative und Affektive. Trotzdem kann er vom Körperlichen unterschieden werden und gehört in die intelligible und intellektuelle Welt, welcher er entstammt. Somit befestigt auch Augustinus eine dualistische Anthropologie. In Augustinus’ Religionspsychologie ist die Menschenseele ein Spiegelbild der göttlichen Dreieinigkeit, in der Vater, Sohn und Heiliger Geist für den einen, ewigen und unveränderlichen Gott stehen (vgl. Augustinus’ De trinitate). Wir erinnern uns an die aristotelische Trias logos – ethos – Augustinus’ reuige anima

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pathos, die eine Grundlage für Augustinus’ psychologische Dreieinigkeit aus Gedächtnis, Vernunft und Wille (memoria – intellegentia – voluntas) oder auch Geist, Liebe und Erkenntnis (mens – amor – notitia) bot. Augustinus legt sogar mehr Gewicht auf den menschlichen Verstand (mens humana) als auf das göttliche Wissen, weil dies für den Menschen sowieso unerreichbar ist. Der Mensch muss sich damit zufriedengeben, dass er nur ein Abbild Gottes (imago Dei) ist. Augustinus legt den Grundstein dafür, dass die Seele in der europäischen Kultur zum Selbst und zum Zentrum des Menschen wird. Er zieht die Konsequenz aus den oben zitierten Bibelversen »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?« (Matthäus 16,26) Doch es wird noch bis ins Hochmittelalter dauern, bis diese Mentalität der seelischen Verinnerlichung sich kulturell durchsetzt. Mit seinem psychologischen Verständnis des subjektiven Seelenlebens war er (im wahrsten Sinne des Wortes) ein Rufer in der Wüste. Die Philosophie der inneren Selbsterkenntnis, die wir von Odysseus über Sokrates, Platon und Plotin bis zu Augustinus verfolgt haben, gerät für etliche Jahrhunderte in Vergessenheit. Erst nach 1050, als Reue (contritio), Beichte und Bekenntnis zu wichtigen Begriffen für das Seelenheil werden, wird wieder mehr Wert auf das Innere gelegt. Wir fassen zusammen: Augustinus ist nach Paulus (der ebenfalls reuiger Sünder und übereifriger Konvertit war) die Einzelperson in der westlichen Kultur, die am stärksten dazu beigetragen hat, dass der christliche Glaube im Mittelalter und darüber hinaus eine Frage der Erlösung oder der Verdammnis wurde. In diesem Dualismus waren Reue und schlechtes Gewissen ausschlaggebend für die Wahl zwischen Sünde und Seligkeit, das heißt zwischen »Himmel« und »Hölle«, den zwei Metaphern, die ein Großteil der Christenheit noch heute buchstäblich versteht. Nietzsche zufolge hat Augustinus »das gute Gewissen vergiftet« und es zu einem permanent schlechten Gewissen pervertiert, indem er alle Gedanken und Handlungen, die mit dem Geschlecht zu tun haben, für sündig erklärt. Er habe bewirkt, dass Generationen von Europäern Angst vor ihrer »kraftvollen Natur« hatten und ihr den Krieg erklärten. Eine weitere Folge der christlichen Verknüpfung der Seele mit der unheimlichen Trias Sünde – Strafe – Sex, die Augustinus umkreist, war die Inquisition, die sich in erster Linie gegen Häretiker richtete. Neben »Irrlehren« wurden auch andere Formen unchristlichen Verhaltens bestraft. Da der Teufel nicht zuletzt auch in sexueller Hinsicht als der Versucher 92

Die sündige Seele im Christentum

galt, war die Kirche besonders darauf bedacht, Verstöße gegen die geltende Sexualmoral und »sexuellen Umgang mit dem Teufel« zu ahnden. Dies traf besonders Frauen, die als Hexen verbrannt wurden. Selbst Luther unterstützte die Hexenverfolgung, eines der dunkelsten Kapitel der Kirchengeschichte. Im Zeitalter der sexuellen Befreiung können wir uns kaum vorstellen, welche Angst und welche Seelenqualen die von Augustinus mit initiierte Verdammung der Sexualität Millionen von Europäern zugefügt hat. Doch wieder müssen wir uns den Ausgangspunkt ins Gedächtnis rufen, nämlich den moralischen Verfall im späten Römischen Reich und Augustinus’ persönlichen, höchst reellen Kampf gegen die Lust des Fleisches. Die Zügelung und Sublimierung des Sexualtriebes gehört zu den Dingen, die den Menschen über das Tier erheben. In jeder zivilisierten Gesellschaft gibt es moralische Sperren gegen das hemmungslose Ausleben sexueller Begierde. Die Frage, was geschieht, wenn die christlichen Normen zur Regulierung des Sexuallebens ganz wegfallen und die Hemmschwelle, den »natürlichen« Trieben zu folgen, immer niedriger wird, ist durchaus berechtigt. Vielleicht gibt es dann erneut Grund, sich an das Gesetz zu erinnern, »das in unsere Herzen eingraviert ist«. Die positive Seite von Augustinus ist, dass er zur Entwicklung einer moralischen Sensibilität für das Wohlergehen anderer Menschen beigetragen hat.

Erlösung durch stellvertretendes Leid und Nächstenliebe Das Kreuz symbolisiert das wichtigste Dogma des Christentums, die Erlösung durch stellvertretendes Leid. Das Johannesevangelium (auch »Evangelium im Evangelium« genannt) drückt dies wie folgt aus: »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.« (Johannes 3,16; vgl. 1. Petrus 1,3) Hier geht es um die Erlösung der Seele. Jesu Leid und sein Tod am Kreuz werden zum Opfer, nicht für die gesamte Menschheit, sondern für alle, die an ihn glauben. Es gibt also eine Bedingung dafür, dass man durch stellvertretendes Leid erlöst werden kann. Das Konzept der Erlösung ist im Christentum jedoch weniger eindeutig, als es scheint. Der Konflikt in der Seele und der Kampf um dieselbe war bisweilen hart und voller Gegensätze, sowohl in der Theorie als auch Erlösung durch stellvertretendes Leid und Nächstenliebe 

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in der Praxis. Bei den Katholiken haben gute Taten eine größere Bedeutung für die Erlösung als bei den Protestanten, die sich an Luthers Lehre sola fide (»nur der Glaube«) halten. Natürlich ist auch im Katholizismus der Glaube Bedingung, aber er reicht nicht aus. Ein Katholik muss auch in der Praxis aus Barmherzigkeit und Liebe zu Gott handeln. Dieser Unterschied bedingt unterschiedliche Meinungen über das Schicksal der Seele nach dem Tod. Das »katholische Todesreich« ist differenzierter als das protestantische. Luther hatte keine ganzheitliche Auffassung der Hölle und seine Aussagen über das Jenseits sind widersprüchlich. Den Glauben an Hexen und den Teufel behielt er, aber das Zwischenstadium des Fegefeuers lehnte er als Aberglaube und »Teufelsgespinst« ab. Ob eine Seele erlöst oder verdammt wird, wird nach konventionell protestantischer Vorstellung in der Stunde des Todes entschieden. Die Zeit der Buße geht nicht über den Tod hinaus. Und die Seele des Verstorbenen verbleibt ohne körperliche Hülle bis zur Auferstehung, bei der sie mit ihrem vergeistigten Leib wiedervereint wird. Luther hält definitiv am Jüngsten Tag fest. Die Schritte, welche die Einheitskirche zur Buße einer Sünde vorschrieb, entsprechen allgemeingültigen ethischen Strukturen, unabhängig von der Religion eines Menschen. Wer dem Recht oder seinem Gewissen folgt, bittet für seine Fehler um Entschuldigung oder Vergebung und versucht, sie wiedergutzumachen oder zu büßen. Gerechtigkeit ist ein Grundpfeiler der Bibel, doch im Christentum liegt die Schuld noch tiefer. Wer Schuld auf sich lädt, sündigt auch. Die Sünde steht wie ein Keil zwischen Gott und den Menschen. Wer sündigt, bricht die Gemeinschaft mit Gott, die Integrität. Auf säkularer Ebene gilt dies auch für die Gemeinschaft mit anderen Menschen. Beide müssen auf qualifizierte Weise, in festgelegten Etappen wiederhergestellt werden. Für einen wahren Christen sind dies folgende Schritte, auf gut Latein: contritio (Reue), confessio (Bekenntnis), absolutio (Vergebung) und satisfactio (Zufriedenstellung oder Versöhnung). Die bloße Bitte um Vergebung und anschließende Vergebung wäre »Christentum light« und reicht nicht aus. Endziel ist die Wiederherstellung der Integrität nach vollendeter Sühne. Versöhnung ist sowohl im religiösen als auch im sozialen und politischen Sinn eine der schwierigsten menschlichen Aufgaben. Man denke nur an die ethnischen Konflikte auf dem Balkan oder im Mittleren Osten. Selbst wenn der Krieg vorüber ist, ist noch lange keine Versöhnung in den Gemütern und im Alltag der Menschen erreicht. Versöhnung ist ein langer und anspruchsvoller Prozess. Erst wenn alle genannten Schritte voll94

Die sündige Seele im Christentum

zogen sind, kann dem Schuldigen und Reuigen vergeben und die gebrochene Gemeinschaft wiederhergestellt werden. Erst dann wird satisfactio Wirklichkeit. Im religiösen Sinn ist Versöhnung dasselbe wie Seelenfrieden oder Erlösung. Hinter all dem steht das Faktum, dass Irren menschlich ist. »Es irrt der Mensch so lang er strebt«, heißt es in Goethes Faust. Im Mittelalter unterschied man zwischen Sünden, die man wiedergutmachen konnte, sogenannten lässlichen Sünden (peccata venialia), und Todsünden (peccata mortalia). Letztere führten zum Verlust von Gottes Gnade, wenn sie nicht durch Absolution getilgt wurden. Deshalb war es wichtig, seine Sünden zu bekennen und die Sakramente der Gnade zu empfangen, bevor der Tod eintrat. Wenn der Mensch trotz seiner Fehler und Sünden erlöst werden kann, geschieht dies aus Gnade, aus Gottes Liebe. Das Christentum ist bekanntlich die Religion der Liebe und der Nächstenliebe. Auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot antwortet Jesus: »Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften. Das ist das vornehmste Gebot. Und das andere ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer denn diese.« (Markus 12,30 f.) Dies wird zur Basis der humanitären Grundhaltung und des Solidaritätsgedankens in der westlichen Kultur. Gebot ist hier gleichbedeutend mit Gesetz: Man muss es erfüllen, um seine Seele zu erlösen. Aber kann man seinen Nächsten wirklich lieben, egal wer er oder sie ist? Dieser Anspruch erfordert Mitleid mit den Nächsten, insbesondere mit allen, die wirklich leiden, wie Jesus in der Bergpredigt und andernorts betont: »Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« (Matthäus 25,40) Nimmt man die Erlösung durch stellvertretendes Leid an, so nimmt man auch die Moral des Mitleids an, denn das stellvertretende Leid ist die Konsequenz aus Jesu Mitleid mit der Menschheit, die Grundlage und das Exempel für die Nächstenliebe, die aus Gottes Liebe entspringt. Die Humanität als Kennzeichen der westlichen Kultur steht historisch betrachtet im Zeichen der Nächstenliebe. Als soziale Haltung hat sie dazu geführt, dass der Westen die Gewaltspirale des Rachedenkens durchbrochen hat, die viele Gesellschaften bestimmte. Wenn Jesus das Prinzip der Vergeltung »Auge für Auge, Zahn für Zahn« abweist und stattdessen die andere Wange hinhält, wird es möglich, Unrecht hinter sich zu bringen und neu zu beginnen. Die Nächstenliebe ist ein Altruismus, durch sie Erlösung durch stellvertretendes Leid und Nächstenliebe 

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stellt man die Interessen der Gemeinschaft vor die eigenen und ist bereit, Opfer zu bringen. Man mag fragen, ob die Nächstenliebe letztendlich nicht eine sublimierte Form des Egoismus ist, ähnlich wie die Liebe. Oder ob ihre Ablehnung automatisch zu Misanthropie und Zynismus führt – oder zu Realismus, der auch eine Grundlage der Moral sein kann. Vielleicht ist der Zynismus gar nicht so zynisch, wie man denkt? Er fragt nach Resultaten und nicht danach, ob etwas gut gemeint ist. Viele Philosophen standen dem Mitleid kritisch gegenüber, zum Beispiel Nietzsche, der aufdecken will, dass die Moral des Mitleids und der Nächstenliebe nur eine Form des Egoismus ist, dem er huldigt. Nietzsche hat die christliche Moral an ihrem wichtigsten – und moralphilosophisch schwächsten – Punkt getroffen. Wer Mitleid hat, leidet nicht mit, sondern distanziert sich von dem Leidenden. »Der Arme, er tut mir so leid«, sagt man dem Objekt seines Mitleids nicht ins Gesicht. »Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Principe!« (Die fröhliche Wissenschaft I, § 21) Doch es gibt einen Unterschied zwischen überheblichem »leidtun« (engl. pity) und echtem Mitgefühl (engl. compassion) und Barmherzigkeit. Nietzsche, betrachtet das Christentum kritisch von außen, Dante betrachtet es von innen, nach dessen eigenen Prämissen.

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Die sündige Seele im Christentum

Furcht hegen soll man nur vor solchen Dingen, Die Schaden uns zu tun, die Macht besitzen; Vor andren nicht, weil nichts an ihnen furchtbar. (Dante, Die Hölle II, 88 ff.)

LASST ALLE HOFFNUNG FAHREN! – DANTE UND DIE TODESREICHE DES MITTELALTERS

Es ist ein großer Sprung von Augustinus’ Bekenntnissen zu Dantes Göttlicher Komödie, deren Handlung der Dichter in das Jahr 1300 legt. Eine neue Phase in der Entwicklung der Seele beginnt erst, nachdem Europa sich als eigenständiger Kulturraum gefestigt hat. Das 12. und 13. Jahrhundert ist geradezu eine Glanzzeit der Seele. Augustinus wird erneut aktuell und die Seele wird zur existenziellen und moralischen Angelegenheit einer gesamten Kultur. Deshalb bekommt das Hochmittelalter ein eigenes Kapitel, repräsentiert durch das literarische Hauptwerk der Zeit, die Göttliche Komödie, die als verdichteter Ausdruck des Seelenbildes gelten kann, das die Scholastiker und die Kirche im Hochmittelalter entwickelten. Dante Alighieri wurde 1265 in Florenz geboren, das damals Italiens größte Handelsstadt und Europas finanzielle Hauptstadt war. Im reichen Kultur- und Geistesleben der Stadt spielte Dante als Dichter, Rhetoriker und Politiker eine wichtige Rolle. Doch die Stadt war auch gespalten, es gab innen- und außenpolitische Konflikte, was für Dante schwerwiegende Konsequenzen haben sollte. Die kaisertreuen Ghibellinen und die papsttreuen Guelfen stritten um die Macht, was noch schlimmer wurde, als Letztere sich in Weiße und Schwarze Guelfen spalteten. Dante gehörte den Guelfen an und war 1301 einer von sechs Prioren, die die Stadt regierten. Als Weißer Welfe trat er für einen Kompromiss mit dem Kaiser ein, aber seine Fraktion verlor und 1302 wurde er aus Florenz verbannt. Er verbrachte den Rest seines Lebens im Exil und litt unter dem Verlust seiner geliebten Heimatstadt, in der er fest verwurzelt blieb. Dante starb 1321 in Ravenna. Auch wenn das Exil für ihn und seine Familie eine Tragödie war, machte es ihn doch zum größten Dichter seiner Zeit, denn er verDante und die Todesreiche des Mittelalters

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tiefte sich in das Studium von Philosophie, Theologie und Wissenschaft und fand seinen Ruf als Poet. Auch innerhalb der Kirche gab es Intrigen und Machtkämpfe, Korruption und Gier. Dante hat dem Papst nie vergeben, dass er ihn und Florenz im Stich gelassen hatte. In der Hölle des Dichters sind Verrat und Vertrauensbruch die am härtesten bestraften Sünden. Gleichzeitig jedoch war die Kirche ein Ort echter Religiosität, Pietät und geistiger Vertiefung. Franz von Assisis Franziskanerorden war in Florenz stark vertreten, und im benachbarten Siena wirkte die heilige Katharina, die später Italiens Schutzpatronin wurde. Kirchen und Klöster boten so viel Raum zu Gebet und Meditation wie nie zuvor in der europäischen Kultur. Dante war von Kindesbeinen an von dieser geistigen Dimension fasziniert. Indessen war es ein anderes Erlebnis, das seine tiefsten Träume und Leidenschaften beflügelte und zur Inspirationsquelle seines Lebenswerks wurde, nämlich die Bekanntschaft mit der reinen, erhabenen Beatrice, die er zum ersten Mal als Neunjähriger traf. Er war auf der Stelle von ihrem Charisma und ihrer Schönheit verzaubert, wie er in dem autobiografischen Werk Vita nuova (Neues Leben) von 1295 berichtet. Er sieht sie ein paar Mal wieder, dann vergehen neun Jahre, ehe sie sich wieder auf der Straße begegnen. Sie begrüßt ihn mit einem Lächeln, das sein Herz wie eine göttliche Offenbarung trifft. Er erlebt es als eine Art Weihe und Einweihung in die Kraft der Liebe. Beatrice heiratet später einen Kaufmann. Für Dante wird sie zum irdischen Ausdruck der göttlichen und menschlichen Liebe, die ihn selbst dem Ursprung aller Liebe, Gott und Christus, näherbringt. Er schenkt ihr sein Herz und weiht sein Leben allem, was Beatrice durch ihre Tugend repräsentiert. Als sie jung stirbt, wird sie wirklich zum himmlischen Ideal des Dichters, zum Ziel und Maß aller Dinge. Dantes Liebe zu Beatrice ist die Geschichte einer Sublimierung ohnegleichen, ein platonisches Ideal, aber vor allem ein Symbol, das ihm ungeheure Kraft verleiht. In vieler Hinsicht verweltlicht und vermenschlicht Beatrice die Grundgedanken des Christentums. Dante beendet Vita nuova mit dem Versprechen, dass er so schön wie nie ein Mensch zuvor einer Frau lobsingen will. Das Resultat dieses Versprechens ist ein Hauptwerk der Weltliteratur, die Göttliche Komödie, in der Dante die Wanderung der Seelen durch die drei Reiche des Jenseits schildert. Sie endet damit, dass Beatrice als literarische Figur Dante zur Versöhnung und Erlösung führt, die das Ziel jedes Christen sein soll. Die göttliche Komödie ist jedoch mehr als ein Lehrbuch über das Schicksal der Seele als Konsequenz aus der christlichen oder unchristlichen 98

Dante und die Todesreiche des Mittelalters

Lebensweise ihres Besitzers. Sie ist auch Seelenforschung, denn sie lotet die inneren Motive aus. Im ersten Teil, Inferno, beschreibt Dante nicht nur die Folgen der Sünde, sondern auch, was die Menschen zur Sünde treibt. Im zweiten Teil, Purgatorio, erforscht er, wie sich eine Seele durch Bekenntnis, Reue und Sühne reinigen und wieder aufrichten kann. Im dritten Teil schließlich, Paradiso, wird die göttliche Schönheit und Seligkeit vermittelt. Eine Voraussetzung für die Gedanken des Werks ist die Selbsterkenntnis und das Bekenntnis des Autors, das wir aus Vita nuova kennen, wo er in die Tiefen seiner eigenen Seele blickt und seine eigenen Motive erforscht. In dieser Hinsicht steht Dantes Werk auf einer Linie mit Augustinus’ Bekenntnissen. Mit ihrem epischen Erzählstil kann die Göttliche Komödie auch als erster Ich-Roman der Literaturgeschichte gelten. Die Erzählstruktur ist indessen komplex. Es gibt einen Erzähler alias Dante, während der Protagonist der Pilger (Dante) ist. Hinter beiden steht der historische Autor Dante Alighieri, der Erzähler und Pilger zu seinem Alter Ego macht. Das gesamte imaginäre Universum ist sein Werk. Die eigentliche Hauptperson ist nicht Dante, sondern die Seele, das Selbst der Person. Ihre Aussicht auf Erlösung oder Verdammnis spiegelt sich in den Seelen, die er als körperähnliche Schatten in den drei Todesreichen trifft. Das Werk schildert die wochenlange Wanderung des Pilgers durch das Todesreich an Ostern im Jahr 1300, unter Führung des römischen Dichters Vergil (70–19 v. Chr.), der das römische Nationalepos Aeneis verfasste. Dantes Todesreich hat eine spezielle Struktur, die auf astronomischen, philosophischen und theologischen Modellen seiner Zeit aufbaut. Die Hölle ist ein Schacht, der sich nach unten verengt und im eiskalten Mittelpunkt der Erde mündet, wo Satan, der gefallene Engel Luzifer, im Eis festgefroren sitzt. Der Schacht ist in neun Terrassen oder Kreise eingeteilt. Die mittelalterliche Hölle ist demnach differenziert, im Gegensatz zu Luthers späterer Vorstellung. In der protestantischen Hölle sind alle gleich, überall ist es dunkel, eiskalt und glühend heiß zugleich, egal wie schwer eine Seele gesündigt hat. Auch gibt es dort kein Fegefeuer, durch das noch Hoffnung auf Erlösung bestünde. Dantes Hölle hat auch einen Vorhof, wo diejenigen warten, die im Kampf zwischen Gut und Böse keine Partei ergriffen haben. Zwischen dem Vorhof und dem ersten Kreis fließt der Acheron, über den der Fährmann Charon die Seelen zur Hölle übersetzt. Der erste Kreis ist der Limbus, der als existenzielles und moralisches Niemandsland in unsere Kultur eingegangen ist. Dort weilen keine Sünder, sondern jene, die zu Lebzeiten Dante und die Todesreiche des Mittelalters

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nie von Jesus gehört und deshalb keinen Anteil an der frohen Botschaft haben, das heißt ungetaufte Kinder und edle Heiden – unter anderen Sokrates und Platon. Sie leiden keine Qualen, sondern nur Sehnsucht nach Gott. Die nächsten Kreise sind für verschiedene Sünder und solche, die Todsünden begangen haben, reserviert: Wollüstige, die sich in der Gewalt ihrer sexuellen Leidenschaft befanden und nun vom Höllensturm umhergewirbelt werden, Gefräßige, Geizige, Verschwender und Zornige. Zwischen dem fünften und sechsten Kreis fließt der Styx, in dessen Fluten die Seelen der Choleriker unablässig gegeneinander kämpfen. Auch die Faulen und Hochmütigen weilen im fünften Kreis. Hochmut wurde als direkte Sünde gegen Gott angesehen, insbesondere wenn jemand glaubte, er könne mit eigener Kraft etwas ausrichten, ohne Gottes Hilfe und Gnade. Am anderen Ufer steht die Höllenstadt Dis. Die Festung riegelt den sechsten Kreis ab, wo die Ketzer in flammenden Särgen liegen. Der siebte Kreis beherbergt die Gewalttätigen. Im Christentum soll man Gewalt nicht mit Gewalt erwidern, sondern die andere Wange hinhalten. Nur so kann die Gewaltspirale gebrochen werden. Da es verschiedene Arten von Gewalt gibt (gegen den Nächsten, gegen sich selbst und gegen Gott), ist der Kreis in drei Ringe unterteilt. Weiter geht es in die inneren und grauenvollsten Kreise der Hölle. In den zehn Gräben des achten Kreises werden Betrüger aller Art auf verschiedene Weise gemartert. Dort trifft Dante viele seiner politischen Feinde aus Florenz und etliche verlogene Geistliche aus der Gegenwart und nahen Vergangenheit. Im neunten und letzten Kreis, vor den heidnischen Giganten und den gefallenen Engeln persönlich, leiden die Verräter. Der schlimmste Verrat ist der persönliche Vertrauensbruch und der Verrat an der Liebe. Insgesamt gibt es einen markanten Unterschied zwischen den ersten fünf und den letzten vier Kreisen, die das eigentliche Inferno ausmachen. Die Insassen der oberen Kreise haben nur Versuchungen nachgegeben und ihre Leidenschaften nicht kontrolliert, sodass das Böse sie mitreißen konnte. Jenseits des Styx jedoch sind die Seelen derjenigen gefangen, die aktiv und bewusst Unrecht oder Böses getan haben. Sie werden am härtesten bestraft und schmoren im wahrsten Sinne des Wortes am Grund der Hölle. Nachdem Dante und sein Führer den Boden der Hölle erreicht haben, wo Satan im Eis festsitzt (weil er unschädlich gemacht wurde), entdecken sie hinter dem Höllenfürsten eine schmale Öffnung. Es ist ein Tunnel, der ins nächste Todesreich führt, das Purgatorium oder Fegefeuer. Durch ihn gelangen sie wieder an die Erdoberfläche, ins Weltmeer auf der Südhalb100

Dante und die Todesreiche des Mittelalters

kugel der Erde. Hinter dem Strand erhebt sich der Berg des Fegefeuers. Das Fegefeuer ist eine der seltsamsten Ideen des christlichen Mittelalters. Es ist eine Zwischenstation, in der sich die Seelen bis zum Jüngsten Tag aufhalten und von der Sünde reinigen können. Bei Dante hat es die umgekehrte Form der Hölle, es steigt kegelförmig auf und hat sieben Ebenen oder Terrassen für die unterschiedlichen Sünden, die auf den Gipfel der Läuterung zulaufen. Nachdem sie das Tor zum Fegefeuer durchschritten haben, treffen Dante und sein Führer nacheinander die Stolzen, die Neider, die Zornigen, die Trägen, die Habsüchtigen und Verschwender, die Maßlosen und schließlich die Wollüstigen. Im Gegensatz zu den entsprechenden Sündern in den oberen Kreisen der Hölle sind diese zu Reue und Buße bereit und haben ihre Sünden bekannt, bevor sie starben. Je höher die beiden steigen, desto heller wird das Licht, und schließlich erreichen sie das irdische Paradies auf dem Gipfel des Berges. Dort steht Beatrice im Strahlenkranz und erwartet den Pilger. Sie wird ihn durch das himmlische Paradies führen, weil dies dem Nicht-Christen Vergil nicht zusteht. Die himmlischen Sphären sind nach dem damals geltenden ptolemäischen Weltbild geordnet, in dem die Planeten und die Sonne um die Erde kreisen. Über der Sphäre des Saturn liegt der Fixsternhimmel, darüber der Kristallhimmel und schließlich das Empyreum, der göttliche Himmel, die Wohnung Gottes, aller Engel und Heiligen. Mit Beatrices Hilfe erlebt Dante eine visio beatifica (Gottesschau), die sonst nur Engeln und Seligen vorbehalten ist – ein Vorgeschmack auf die höchste Stufe der Seligkeit, die eine erlöste Seele erreichen kann.

Die letzten Dinge – Eschatologie und Scholastik Die Menschen des Mittelalters hatten einen anderen Zeit- und Erwartungshorizont als wir. Während wir uns größtenteils auf die Existenz konzentrieren, war ihr Leben auch auf die Postexistenz ausgerichtet. Besonders wichtig war dabei die Eschatologie, die »Lehre von den vier letzten Dingen«, nämlich Tod, Gericht, Himmel und Hölle. Die Eschatologie überträgt die Vorstellung der Apokalypse auf das Individuum. Sie beruht auf der Offenbarung des Johannes, die die unheimlichsten Schreckensvisionen sowie ein eigenes literarisches Genre inspirierte. Ein schönes Beispiel aus Norwegen ist das Draumkvedet (Traumlied), dessen Protagonist im Eschatologie und Scholastik

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Traum Himmel, Hölle, Fegefeuer und das Jüngste Gericht sieht. Die Vorstellung vom Jüngsten Tag ist ein Grundpfeiler des christlichen Glaubens, wie das apostolische Glaubensbekenntnis bezeugt: Jesus Christus »sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.« Auch Dantes Werk ist eine Vertiefung der christlichen Eschatologie, die mit der damaligen Theologie, der Scholastik, auf einer Linie lag. Die Seelen, die Dante im Todesreich trifft, haben eine körperähnliche Form, an der man die historischen Personen erkennt. Damit nimmt er Stellung zu einer der meistdiskutierten Fragen der Scholastik: Bleibt der Körper im Jenseits bestehen und in welcher Form, und was bedeutet eigentlich die leibliche Auferstehung? Wie ist das Verhältnis zwischen Körper und Seele nach dem Tod? Die Scholastik des 12. und 13. Jahrhunderts markiert einen Höhepunkt in der christlichen Genealogie der Seele. An ihrer Spitze stehen philosophisch orientierte Theologen wie Albertus Magnus (1206–1280) und dessen Schüler Thomas von Aquin (1225–1274), Bonaventura (1217–1274) sowie etwas später Johannes Duns Scotus (1265–1308) und Wilhelm von Ockham (1285–1349). Von diesen war der Aristoteliker Thomas von Aquin der einflussreichste. Er vereinte Vernunft und Offenbarung in einem ganzheitlichen System, das als »Thomismus« schnell zur offiziellen Theologie wurde. Im Seelenbild des Hochmittelalters wurde der Platonismus schrittweise zugunsten einer aristotelischen Sichtweise verdrängt. Der Dualismus verlor an Einfluss und ein diesseitiger, anthropologischer Seelenbegriff konnte entstehen. Dies kommt besonders im Nominalismus des Petrus Abaelardus (1079–1142) zum Ausdruck, der in starkem Gegensatz zu dem asketischen Universalisten und Kreuzzugprediger Bernhard von Clairvaux (1090–1153) stand. Der Gründer des Zisterzienserordens sorgte dafür, dass Abaelard für seinen realistischen Nominalismus und Rationalismus verurteilt wurde. In Dantes himmlischem Paradies sind Bernhard, der Apostel der Demut und Liebe (humilitas et caritas), Franz von Assisi (1182–1226) und der heilige Dominikus (1170–1221) diejenigen, die dem göttlichen Licht am nächsten kommen. Sie thronen dort neben der Jungfrau Maria. Um der Vielfalt der Seelenbilder im Hochmittelalter gerecht zu werden, sollten wir noch die Benediktineräbtissin Hildegard von Bingen (1098– 1179) erwähnen. Sie war Mystikerin, prophetische Visionärin, Politikerin, Dichterin und Komponistin und gilt noch heute als eine Art feministische und ökologische Galionsfigur und holistische Psychotherapeutin. 102

Dante und die Todesreiche des Mittelalters

Ihre tabulose Darstellung von Geschlechtlichem und Sexualität ist wie ein Gegenpol zu Augustinus, unberührt von Scham und schlechtem Gewissen, und wird als Ausdruck von Gottes Liebe und der Spiritualität des Lebens interpretiert. Für sie waren Körper und Seele nicht dualistisch getrennt, sondern bildeten eine Einheit, wie sie im Motto der Benediktiner zum Ausdruck kommt: mens sana in corpore sano (»Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper«). Ihre Werke befassen sich intensiv mit der Seele, jedoch mehr mit der Seele des lebendigen Menschen als mit der Seele im Jenseits. »Die Augen des Menschen sind die Fenster der Seele« ist eines ihrer bekanntesten Zitate. Die philosophische Debatte der Zeit galt besonders der Form der Seele, ihrer möglichen Substanz und ihrem Wesen. Die Frage nach der Substanz bleibt bis zu Kant aktuell. Im Hochmittelalter ging die Tendenz zu einer »realistischen«, also aristotelischen Erklärung nach Thomas von Aquin. Er betont, dass die Seele eine Einheit sei, weist aber den Bestandteilen unterschiedliche Grade zu. In aufsteigender Reihenfolge sind dies der vegetative, der sinnliche und der rationale oder geistige Teil. Letzterer ist substanziell und kann die anderen Teile beeinflussen und je nach Entwicklung der Person in sich aufnehmen. Nur die höhere, geistige Form kann am Göttlichen teilhaben. Nur Gott ist reine Form. Die Seele ist sowohl Substanz (Essenz) als auch Existenz und deshalb veränderlich, während Gott ewig und unveränderlich ist; er ist der erste und oberste Beweger. Die Form verleiht der Seele ihre Einheit. Thomas von Aquin zufolge ist die Seele die substanzielle Form des Menschen: »Anima est forma substantialis hominis« (Summa theologica). Eine Seele ohne Substanz ist im theologisch begründeten Menschenbild undenkbar. Die Seele gibt auch dem Körper Form.

* Wie die Seele nach dem Tod des Körpers weiterexistiert, lässt Dante im 25. Gesang des Purgatoriums den römischen Dichter Statius erklären. Beim Tod des Körpers befreien sich die Seelen vom irdischen Staub und gehen in der Hölle oder im Purgatorium in eine neue Form der Existenz über, bevor die Auserwählten am Jüngsten Tag geläutert und unbefleckt wiederauferstehen und ins himmlische Paradies eingehen. Ob eine Seele in die Hölle oder ins Purgatorium kommt, wird sofort nach dem Verlassen des Körpers entschieden. Auch im Jenseits besitzen die Seelen alle EigenEschatologie und Scholastik

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schaften, die ein Individuum menschlich machen, und alles Göttliche, das dem Menschen gegeben ist. Die Seele eines Verstorbenen hat deshalb, wie die Pilger erfahren, sowohl eine Erinnerung als auch Wille und Verstand. Darüber hinaus besitzt sie trotz ihrer schattenhaften Existenz Eigenschaften, die den Sinnen des lebendigen Menschen entsprechen. Auch die Konturen der Person bleiben erhalten. Und wie die Luft, wenn sie des Regens voll ist, Durch fremde Strahlen, welche sie zurückwirft, Geschmückt wird mit gar mannigfachen Farben, So bildet hier die nachbarliche Luft Zu der Gestalt sich, die durch geist’ge Kraft Die Seele, die dort weilet, in ihr ausprägt. Und ähnlich, wie die Flamme stets dem Feuer, Wie sehr dies auch den Ort vertausche, nachfolgt, So folgt dem Geiste seine neue Form. Und weil er nur durch sie Erscheinung hat, Wird Schatten sie genannt. (91 ff.)

Weil die Seele eine schattenhafte Kopie des Körpers ist, erkennt Dante viele der Seelen, die er im Todesreich trifft. Sie erinnern an die Schatten, denen Odysseus im Hades begegnet. Mithilfe der Schatten können die Toten sprechen, weinen, seufzen und alle möglichen Gefühle zeigen. Obwohl sie keinen Körper haben, leiden sie Sehnsucht, Schmerz, Durst, Verbrennung, Erfrieren oder andere Qualen. Ohne dies würde die Hölle ihren Sinn verlieren. Die Toten sind den Lebenden also in allem gleich, außer dass sie keinen materiellen Körper haben.

Ein existenzielles Seelendrama über jedermann Die Göttliche Komödie ist von Anfang an ein existenzielles Drama. Dante, der Pilger, hat sich »in seines Lebensweges Mitte« in einem dunklen Wald verlaufen und kann sich nicht entscheiden, welchen Weg er nehmen soll. Er hat erkannt, dass er in einer verwirrenden Zeit voller Versuchungen und Gefahren lebt, welche durch drei Raubtiere repräsentiert werden, die ihn in dem Wald bedrohen. Da taucht Vergil auf, den Beatrice zu seiner Rettung geschickt hat, weil sie aus dem Himmel sieht, in welch großer 104

Dante und die Todesreiche des Mittelalters

Gefahr sich Dantes Seele befindet. Sie bittet den Dichter, Dante durch die Hölle hindurch zu ihr zu führen. Wie wichtig es ist, die richtigen Entscheidungen im Leben zu treffen und im Kampf des Guten gegen das Böse Partei zu ergreifen, zeigt die Sündergruppe, die Dante und Vergil gleich hinter dem Tor der Hölle treffen. Es sind die Halbherzigen und Wankelmütigen, die dem Kampf passiv zugeschaut haben. Dante verurteilt ihre Gleichgültigkeit mit klaren Worten. Wem alles egal ist, der steht schon mit einem Fuß in der Hölle – was die Geschichte uns lehrt. Deshalb rief Elie Wiesel zum Kampf gegen die Gleichgültigkeit auf, als er 1986 den Friedensnobelpreis bekam. Der Holocaust konnte stattfinden, weil eine Mehrheit der Judenverfolgung gleichgültig gegenüberstand und nicht gegen die Übergriffe protestierte. Dante lässt die Gleichgültigen durch ihre eigene Sünde bestrafen: Sie landen an einem Ort, wo alles egal ist und nichts Bedeutung hat, wo die ultimative Langeweile in alle Ewigkeit herrscht. Die Seelen der Gleichgültigen langweilen sich sprichwörtlich zu Tode, sie sehnen sich nach irgendetwas von Bedeutung, egal ob gut oder böse, Hauptsache, sie entkommen ihrer totalen existenziellen Leere. Im Grunde zollt Dante den Sündern in der echten Hölle mehr Respekt als den ewig wartenden Feiglingen, denn Erstere haben wenigstens eine Entscheidung getroffen. Unterlassung kann fatale Folge haben. Die Freiheit ist das Adelsmal des Menschen, doch ihr Preis ist das Böse. Dante weiß, dass das Individuum den freien Willen bekommen hat, um selbst zwischen Gut und Böse wählen zu können. Die Folgen dieser Entscheidung sind irreversibel. Die Strafe für eine falsche Entscheidung ist erbarmungslos, Gebete helfen nicht mehr, wenn die Seelen nach dem Tod sortiert werden. Dies bekommen die beiden Wanderer mit eigenen Augen zu sehen, als sie die Vorhölle passiert haben und den Grenzfluss Acheron erreichen, wo der Fährmann Charon die Seelen der Verstorbenen ins Todesreich übersetzt. Die Vorstellung, dass das Totenreich von einem Wasserlauf umgeben ist, finden wir in vielen Kulturen und Religionen, sogar im Buddhismus, wo sie eine paradoxe Auslegung erfährt. Der Fährmann ist eine Metapher dafür, dass man von der Hilfe anderer abhängig ist, um ins Jenseits zu gelangen, und dass gewisse Bedingungen vor der Überfahrt erfüllt werden müssen. Nur wer dazu qualifiziert und bereit ist, kann die Reise ins Totenreich antreten. Als Christ muss man mit seinem Gewissen im Reinen sein, als Katholik gebeichtet und die Sakramente empfangen haben. Ein existenzielles Seelendrama über jedermann

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In der griechischen Mythologie ist Charon ein Helfer und Vermittler, bei Dante ist er zum Dämon mit glühenden Augen geworden, der die Seelen schlägt und sie »in ew’ge Finsternis, in Frost und Hitze« hinüberbringt. Mit feur’gen Augen sammelt Teufel Charon Gebieterischen Wink’s die Seelen alle, Schlägt mit dem Ruder jeden, der da zaudert. (III, 109 ff.)

Auf dem Weg zur Hölle gibt es keine freundlichen Helfer, keine Linderung, nur Plagegeister und Folterwerkzeuge, die dafür sorgen, dass jeder seine angemessene Strafe bekommt. Die Inschrift am Eingang zu Dantes Inferno lässt keine Zweifel darüber, was einen hier erwartet. Der Eingang bin ich zu der Stadt der Schmerzen, Der Eingang bin ich zu den ew’gen Qualen, Der Eingang bin ich zum verlor’nen Volke. Gerechtigkeit bestimmte meinen Schöpfer, Geschaffen ward ich durch die Allmacht Gottes, Durch höchste Weisheit und durch erste Liebe. Vor mir entstand nichts, als was ewig währet, Und ew’ge Dauer ward auch mir beschieden; Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren. (III, 1 ff.)

Dass die Hölle und ihre Qualen durch Liebe erschaffen sein sollen, klingt widersprüchlich, ist jedoch mittelalterliche Theologie. Eine Theodizee (gr. theo-dike, Gottes Gerechtigkeit/Rechtfertigung) ist der Versuch, die Existenz von Bosheit und Leid zu rechtfertigen. Warum lässt Gott es zu, wo er doch allmächtig ist? Die Antwort lautet: Weil der Mensch von Gott den freien Willen bekommen hat, um sich selbst zwischen Gut und Böse zu entscheiden, zwischen Wahrheit und Lüge, Himmel und Hölle. Gott ist trotzdem allmächtig, während das Böse und Satan Formen des Verfalls sind, der aus falschen Entscheidungen resultiert. So lautet die Erklärung von Thomas von Aquin, auf der auch sein Monismus beruht. Die Sünder in der Hölle sind abschreckende Beispiele, man soll sich an sie und ihre Taten erinnern – wozu Dante eloquent beiträgt. So gesehen ist die Hölle ein höchst menschliches Phänomen, das aus sozialen Normen, also diesseitigen Verhältnissen, entsteht. Die Hölle ist ein kultureller Ausdruck für die Kehrseite der menschlichen Existenz. Sie drückt nicht 106

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nur das Bedürfnis nach Gerechtigkeit aus, sondern auch den Drang nach Rache, der tief in der menschlichen Natur liegt. Der schwedische Schriftsteller und Dante-Experte Olof Lagercrantz drückt dies wie folgt aus: Wir haben auch unsere Hölle, die ebenso rigoros wie die des Mittelalters organisiert ist. Bloß haben wir keinen Namen dafür. »Öffentliche Meinung, Abteilung Verdammnis« wäre ein passender Name. In den unterschiedlichen Sphären der Verdammnis dieser Hölle bringen wir unsere Mitmenschen gemäß unseren Moralvorstellungen, Vorurteilen und Konventionen unter. (Lagercrantz 1965, S. 43)

Als Publizist kannte Lagercrantz die teuflische Dynamik, mit der die Medien die öffentliche Meinung und Sündenböcke schaffen. Auch er interpretiert die Göttliche Komödie als existenzielles Seelendrama. Er fragt nicht, ob die eschatologische christliche Seelenleere wahr oder korrekt ist, sondern was sie ausdrückt und ob Dantes Seelenschilderung auch heute noch relevant ist. Dantes Ausgangspunkt gilt noch heute: Die Grundlage eines »Urteils« ist meist allgemeingültig. Alle Menschen sind persönlich betroffen, wenn sie gegen Normen oder Gesetze verstoßen, wenn Unrecht begangen wird oder sie fälschlich beschuldigt werden. Alles, was wir tun, hat Folgen, ob wir wollen oder nicht. Man kann die Göttliche Komödie nicht nur in einem dogmatisch religiösen Rahmen interpretieren, sondern auch historisch und allgemein menschlich, als aktuelles Symboldrama mit einer existenziellen, ethischen und psychologischen Perspektive, aus der die Seele ein Kampfplatz widersprüchlicher Impulse und Emotionen ist. Sie prägen alle die Seele, weshalb sie nicht ausschließlich »gut« oder »böse« ist, sondern heterogen zusammengesetzt ist. Genau dies bereitet Dante Schwierigkeiten, denn er sieht durchaus sympathische Züge an den Seelen seiner Sünder. Das Ergebnis ist eine komplexe Geschichte mit vielen Bedeutungsebenen, die über die christliche Moral hinausgehen. Denn der Autor, der Erzähler und der Pilger sind nicht immer einer Meinung. Dies kommt bereits im ersten Treffen des Pilgers mit namentlich bekannten Seelen zum Ausdruck. Francesca da Rimini und ihr Liebhaber Paolo problematisieren das Schicksal, das sie in der Hölle erleiden.

Ein existenzielles Seelendrama über jedermann

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Francesca und die schicksalsschwere Liebe Die Schicksale und Qualen der Seelen, die Dante in der Hölle trifft, setzen dem Pilger bisweilen schwer zu. Einmal fällt er in Ohnmacht, als er sieht, welche Schmerzen den Sündern zugefügt werden. Er fragt seinen Führer, ob das Urteil über diese Seelen nicht zu hart sei. Das Thema ist wichtig für die Entwicklung des Pilgers, denn noch hat er es nicht geschafft, Kopf und Herz zu vereinen. Als er Francesca da Rimini und ihren Schwager Paolo – eines der bekanntesten Liebespaare der Geschichte – sieht, fällt er erneut in Ohnmacht. Die Seelen der beiden werden im zweiten Kreis der Hölle gequält, »weil die Vernunft dem Trieb sie unterworfen« (V, 38). Unter den vielen Opfern der Liebe wählt der Pilger jene zwei aus, die eng umschlungen auf ewig vom Höllensturm umhergewirbelt werden. Er möchte wissen, wer sie sind und wofür sie so hart bestraft wurden. Francesca erzählt bereitwillig, warum sie und ihr Liebhaber in der Hölle gelandet sind. Dante selbst kannte natürlich den Gesellschaftsskandal, der sich 1285 zutrug und in seiner Wirkung durchaus mit dem Unfalltod von Prinzessin Diana und ihrem Liebhaber im Jahr 1997 verglichen werden kann. Die junge, hübsche Francesca wurde aus politischen Gründen mit dem Herrscher von Rimini, Giancotto Malatesta, verheiratet, der ein hässlicher Krüppel war. Verständlich, dass sich Francesca in dessen jüngeren Bruder Paolo verliebte, der die Heirat im besten Tristan-und-Isolde-Stil für seinen Bruder arrangiert hatte. Als der Ehemann die Liebenden erwischte, tötete er beide – wofür er nun wesentlich tiefer in der Hölle schmort als das Liebespaar. Dante lässt keinen Zweifel, wo seine Sympathien liegen. Als die Untat geschah, war er 21 und selbst leidenschaftlich verliebt. Es scheint, als nähmen die moralischen Proben, auf welche die Liebe und die Erotik den Menschen stellen, eine Sonderstellung in Dantes Welt ein. Er steht der Fleischeslust offenbar versöhnlicher gegenüber als der bekehrte Augustinus, auch wenn er die christliche Sexualmoral nicht anzweifelt. Dass die unglückliche Francesca die erste namentlich genannte Seele in Dantes Inferno ist, sagt viel über seine persönlichen Werte. Die Worte, die er ihr in den Mund legt, betonen seine Auffassung der Liebe und das moralische Dilemma, für das Francesca steht. Ihre Liebe zu Paolo ist tief und echt, ein wahres Ideal der Romantik. Aber war es zu ihrer Zeit eine akzeptable Entschuldigung, dass sie jung war und zur Ehe mit einem ungeliebten Mann gezwungen wurde? Hatten die Frauen im Hochmittelalter keine andere Möglichkeit, ihrem Herzen zu folgen, als Untreue 108

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und heimliche Affären? Letzteres war sogar ein Ideal der Zeit, das Troubadoure und Minnesänger in den »ersten Popsongs der Welt« besangen. Ihre Dichtung erreichte im 13. Jahrhundert einen Höhepunkt und war im gesamten europäischen Kulturkreis und darüber hinaus bekannt. Die italienische Ausprägung war der dolce stil nuovo, der »neue, süße Stil«, den Dante selbst vertrat, insbesondere in Vita nuova, wo er der sinnlich mitreißenden Liebe mit pathetischen Worten huldigte. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass der Dichter nun wissen möchte, was Francescas und Paolos Seelen ins Unglück getrieben hat. Sie antwortet ihm im Geiste der ritterlichen Dichtung, mit Worten, die wie ein Echo ihrer berühmten Vorgängerin Héloïse klingen, die in den Dichter und Scholastiker Abélard verliebt war: »Kein Schmerz ist größer, / Als sich der Zeit des Glückes zu erinnern, / Wenn man in Elend ist« (V, 121). Wie Héloïse im 12. Jahrhundert bereut auch Francesca ihre Entscheidung nicht. Indem sie ihrem Geliebten lieber an »glühend heiße Orte« folgt, als ihrer Liebe zu entsagen, setzt sie Héloïses Worte in die Tat um. Dantes Schilderung ist wie eine Apologie für die Untreuen, die in Treue zur Liebe sündigen. Francescas und Paolos Schicksal zeigt, wie zeit- und kulturbedingt, wie menschengeschaffen Religion und Moral sind und wie problematisch es ist, zu verurteilen, wenn die Liebe mit äußeren Normen oder Konventionen in Konflikt gerät. Francesca erzählt bereitwillig, wie alles geschah. Ihre Versuchung wurde von dem romantischen Liebesideal motiviert, das Chrétien de Troyes (ca. 1140–1190) in seinen höfischen Romanen verbreitet. Der Verführer ist das Buch, nicht Paolo. Francesca und Paolo lasen zusammen über König Artus’ Ritter Lancelot. Das ging so lange gut, bis sie an die Stelle kamen, als Lancelot die heimlich geliebte Königin Guinevere küsst. Denn als wir, wie das langersehnte Lächeln Von solchem Liebenden geküsst ward, lasen, Da küsste, dem vereint ich ewig bleibe, Am ganzen Leibe zitternd, mir den Mund. Zum Kuppler ward das Buch und der’s geschrieben. An jenem Tage lasen wir nicht weiter. (V, 133 ff.)

In diesem Moment fällt Dante aus Mitleid mit dem verurteilten Paar in Ohnmacht. Ihm ist bewusst, dass er, wie jedermann, an ihrer Stelle sein könnte. »Es hätte mich treffen können!« – dieser Satz hindert denkende Francesca und die schicksalsschwere Liebe

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Menschen daran, andere vorschnell zu verurteilen. Die Liebe, die Francesca erfüllt, ist dieselbe, die er zu Beatrice fühlt. Das nächste Mal wird er in Ohnmacht fallen, wenn er Beatrice am Gipfel des Fegefeuerbergs sieht und reuig seine Sünde bekennen muss, die Francesca auf zweideutige Weise verkörpert. Beatrice hingegen ist die Versöhnerin. Dante tut es Francesca gleich, er geht für seine Liebe in die Hölle, doch im Gegensatz zu ihr bleibt er nicht dort, sondern geht sprichwörtlich für Beatrice durch die Hölle, getragen von derselben, bedingungslosen Liebe wie Francesca. Wie kann Dante sich damit abfinden, dass Francesca zu ewiger Pein verdammt ist, wenn seine Liebe zu Beatrice doch die Motivation für das gesamte Werk ist? Und was unterscheidet Francesca von Piccarda Donati, die der Pilger später im Paradies trifft? Auch Piccarda wurde zu einer verhassten Ehe gezwungen. Sie versuchte dem durch die Flucht ins Kloster zu entkommen, wurde jedoch herausgeschleppt und wie Francesca verheiratet. Kann die Liebe trotzdem nicht alles vergeben? Die Reise durch alle drei Todesreiche soll darauf eine Antwort geben. Vermittelt wird die Antwort durch die Führer des Pilgers, zuerst durch Vergil und dann durch Beatrice. Vergil weist Dantes emotionale Reaktion auf Francescas Schicksal entschieden zurück. Mitleid sollen nur diejenigen bekommen, die es auch verdienen und nicht gegen moralische Normen verstoßen haben. Selbst der Seher Teiresias, der einst Odysseus den Weg wies, hat laut Vergil seine Strafe verdient, weil nur Gott in die Zukunft schauen darf. Teiresias’ Kopf wird zur Strafe nach hinten gedreht, denn er hat Gott ins Handwerk gepfuscht. Auch darüber bricht Dante in Tränen aus, aber Vergil weist ihn zurecht: »Bist auch du der Toren einer? / Fromm ist hier der, in dem das Mitleid tot ist; / Wer frevelt ärger wohl, als wer in Mitleid / Sich auflehnt gegen göttliches Gericht?« (XX, 27 ff.) Bedenkt man, welchen Rang das Mitleid in Form von Nächstenliebe im Christentum hat, klingt diese Zurechtweisung überraschend. Für uns stellt sich die Frage, was diese Liebesgeschichten mit der Erlösung der Seele zu tun haben. Alles, könnte man antworten. Es geht um die Bedingungen der Liebe. Es fällt auf, dass in der Weltliteratur – und vielleicht nicht nur dort – oft die Figuren mit der größten Liebesbegabung in der Hölle landen: von Héloïse über Francesca und Ophelia bis zu Gretchen. Doch wer landet im Himmel? Diejenigen, deren Liebe im Leben nicht erfüllt wird, die nicht zu leben wagen, nicht die Fähigkeit zur bedingungslosen Hingabe besitzen oder den Gesetzen blind folgen. Francesca steht für das Los der Menschen und der Liebe unter etlichen Regimes. 110

Dante und die Todesreiche des Mittelalters

Die Liebe folgt keinen sozialen, kulturellen und religiösen Normen. Sie ist unvorhersehbar und schlägt zufällig ein wie der Blitz. Sie ist gefährlich, weil sie jederzeit einen Menschen treffen kann, den man aus sozialen, religiösen, politischen oder kulturellen Gründen nicht lieben darf. Deshalb trägt sie ihre eigene Strafe in sich. Die Strafe ist keine Konsequenz, sondern ein Zustand. Francescas Geschichte aus dem Jenseits zeigt uns, wie es den Menschen im Diesseits ergeht. Dies ist die Botschaft der Göttlichen Komödie. Die Hölle ist eine Projektion lebendiger Menschen und gelebter Leben. Dante gibt die Seelen namentlich zu erkennen, um aufzuzeigen, welche Schicksale und Qualen zum Leben gehören.

Purgatorium, Paradies und die Erlösung der Seele Von jeher hat der erste Teil der Göttlichen Komödie, das Inferno, die Leser und Literaturwissenschaftler am meisten gefesselt. Um das Fegefeuer und das Paradies wurde weniger Aufsehen gemacht, denn ihr Stoff ist weniger dramatisch und stimmt im Großen und Ganzen mit der zeitgenössischen Glaubenslehre überein. Aus existenzieller Perspektive ist jedoch das Purgatorium entscheidend. Dort werden die Bedingungen und Chancen für die Erlösung der Seele geklärt. Dort besteht noch Hoffnung, der Schrecken des Inferno wird gewissermaßen relativiert, was gleich in der Anfangsszene deutlich wird. Am Strand vor dem Berg des Fegefeuers werden die Pilger von dem römischen Senator Cato dem Jüngeren (95–46 v. Chr.) empfangen, der das Tor zum Vorhof des Purgatoriums bewacht. Als Heide müsste sich Cato eigentlich im Limbo befinden. Außerdem war er Selbstmörder, was ihn von vornherein für die Hölle qualifiziert. Doch Dante lässt hier Gnade vor Recht ergehen, denn Cato war für seine absolute Unbestechlichkeit, Kompromisslosigkeit und Integrität bekannt. Er ist ein strahlendes Exempel der Gerechtigkeit, ein Grundprinzip von Gottes Wesen und Wirken. Deshalb kann er im Sinne der Bergpredigt erlöst werden: »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich!« (Matthäus 5,10) Wenn es für Cato Hoffnung gibt, gilt dies auch für andere Gerechte, die ihre Schuld erkannt und gebüßt haben. Die Hoffnung wird dadurch betont, dass die Pilger am Ostermorgen, dem Tag der Auferstehung Jesu, aus dem Todesreich der Hölle herausPurgatorium, Paradies und die Erlösung der Seele 

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klettern. Der Kampf gegen das Reich des Bösen kann gewonnen werden. Doch noch ist der Pilger nicht erlöst. Seine Erlösung hängt davon ab, ob er die Bedingungen für die Vergebung seiner Sünden erfüllt, die auf den verschiedenen Ebenen des Läuterungsberges gestellt werden. Jede dieser Ebenen ist ein Kreis der Buße und Reinigung. Purgatorium bedeutet Reinigung. Sie geschieht durch leidvolle Sühne, durch das reinigende Fegefeuer. Auch dort ist es heiß. Die Seelen müssen schwitzen, um die Sünde abzuwaschen. Bevor der Pilger eingelassen wird, ritzt der Engel, der das Tor bewacht, mit dem Schwert sieben P in dessen Stirn. Sie stehen für lateinisch peccatum, ein P für jede Todsünde, die Ebene für Ebene abgewaschen wird. Der Aufstieg ist der bildliche Ausdruck für die wachsende Erkenntnis des Pilgers, die gleichzeitig ein Bekenntnis der eigenen Schuld und der eigenen Sünden ist. Im siebten Kreis wird das letzte P abgewaschen, wo sich die bußfertigen Wollüstigen befinden, reumütige Heteround Homosexuelle, die sich von ihren Lüsten verführen ließen. Wohlgemerkt können auch Homosexuelle erlöst werden, sie müssen jedoch ihren »Fehltritt« bekennen und bereuen. Vom siebten Bußkreis klettert der Pilger schließlich auf den Gipfel des Läuterungsberges, wo der Heide Vergil umkehren muss, nicht jedoch ohne den Pilger Dante, der nun zum echten Büßer geworden ist, »zu seinem eigenen Herren« zu krönen. Das erste Stadium und Voraussetzung für die Erlösung ist die Reue. Der Pilger bereut aufrichtig, er spiegelt sich in den bußfertigen Seelen, die er und Virgil auf dem Weg zum Gipfel treffen. Von Ebene zu Ebene wird der Pilger demütiger. Sein Hochmut und seine Rachelust fallen Schritt für Schritt von ihm ab, er beginnt die Tadelsucht als unchristlich zu sehen und ersetzt sie durch Barmherzigkeit, bis er sogar erkennt, dass der Hochmut seine größte Sünde ist, »denn das Gerichtamt ist Gottes« (5. Mose 1,17). Dieses Bibelwort wird Dante von einem Adler erklärt, den die Seelen der Gerechten in der Sphäre des Jupiter formen, als der Dichter durch die Himmel ins Paradies aufsteigt: Ihr Sterblichen indes, enthaltet euch Zu richten, denn selbst wir, die Gott wir schauen, Wir kennen doch nicht all’ die Auserwählten. (Paradiso XX, 135)

In der Hölle gilt die Vergeltung, im Purgatorium und im Paradies gelten Sühne, Vergebung und Versöhnung. Von dort aus gesehen ändert sich auch die Funktion der Hölle. Beatrice hat Dante durch die Hölle geschickt, 112

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damit er ein Spiegelbild seiner selbst in den Sünden der anderen zu sehen bekommt, denn früher beschäftigten ihn irdische Dinge wie Politik, soziale Macht und Ehre ebenso wie sie die Sünder beschäftigten, deren Seelen er in der Hölle traf. Solange er dies nicht erkennt, kann er nicht erlöst werden: »Ein hohes, göttliches Verhängnis würde / Gebrochen sein, wenn ohne ein’gen Zoll / Der Reu’, die Tränen auspresst, solche Frucht / Gekostet würd’ und Lethe überschritten.« (Purgatorio XXX, 142 ff.) Er bereut und bekennt unter Tränen seine Sünden vor Beatrice, die in einem allegorischen Triumphwagen aus biblischen Figuren und kirchlichen Symbolen vorfährt. Sie übernimmt nun die Rolle als Führerin, um ihn ins letzte der drei Todesreiche zu geleiten, durch die ptolemäischen Himmelssphären bis ins himmlische Paradies. Dante ist so überwältigt von Beatrices göttlicher Gegenwart und ihrer Schönheit, dass er wieder in Ohnmacht fällt, diesmal vor Scham über seine Sünde. Da brannte mich so sehr der Reue Nessel, Dass mir, welch’ andres Ding zur Lieb’ am meisten Mich je gelockt, das feindlichste nun wurde. So brannt’ in meinem Herzen Schuldbewusstsein, Dass ich bewältigt niedersank, – und sie, Die das bewirkte, weiß in welchem Zustand. (Purgatorio XXXI, 85–90)

Die Episode erinnert an seine vorige Ohnmacht beim Treffen mit Francesca da Rimini, deren Liebe in Beatrices erhabener Liebe eine Art Sublimation erfährt. Durch die sublime Liebe vergibt Beatrice dem reuigen Pilger. Er hat bereut, bekannt und mit Sorgen und Schmerzen gesühnt. Im Christentum ist das Leid reinigend. Die Reinigung im Fegefeuer wird durch die »Taufe« des Pilgers im Fluss Lethe vollendet, der den Berg der Läuterung hinabfließt und über den er zu Beatrice gebracht wird. Endlich ist er erlöst und selig. Seine Sünden werden nicht bloß abgewaschen, sondern auch vergessen. Sie versinken im Lethe, dem Fluss des Vergessens. Erst dann ist er würdig, Beatrice von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Sie öffnet ihren Schleier, und er sieht das Lächeln auf ihren Lippen als eine Art Bekräftigung des verliebten Lächelns, das sie ihm als 18-Jährigem in Florenz schenkte. Er erkennt, dass ihre Schönheit weit mehr als oberflächlich ist – sie ist die Inkarnation des Wahren, Schönen und Guten. Sie ist eine christusähnliche Gestalt, seine Erlöserin und Schutzheilige, die immer eine schützende Hand über ihn gehalten hat, damit er seine göttPurgatorium, Paradies und die Erlösung der Seele 

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liche Aufgabe vollenden kann, nämlich darüber zu berichten, was ihm in den drei Todesreichen offenbart wurde, der Menschheit zu Nutze und Gott zur Ehre. Und nicht zuletzt: Dante zu Ehren – das eigentliche Motiv für die Niederschrift der Göttlichen Komödie. Die Größe von Dantes Werk besteht unter anderem darin, dass wir das Leid und die Qualen, die es ausmalt, als allgemeingültig und existenziell wichtig empfinden. Im Grunde dementiert Dante dadurch die Jenseitslehre seines Werks und platziert das Jenseits fest auf Erden, wie Arthur Schopenhauer in seiner Ablehnung der christlichen Theodizee feststellt: »Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen, als aus dieser unserer wirklichen Welt?« (Die Welt als Wille und Vorstellung I, 4. Buch, § 59) Himmel und Hölle werden in der Göttlichen Komödie nicht als jenseitig empfunden, sondern haben im Hier und Jetzt Geltung, wo wir Menschen zusammenleben, reüssieren oder scheitern, einander verstehen, verzeihen oder hassen. Deshalb lesen wir das Werk immer wieder gern, als Spiegel unserer eigenen Seele und von Dantes beseelendem Geist. Mal spricht es uns als Projektion unserer Ängste an, mal als Ausdruck unserer Hoffnung, dass die Gerechtigkeit am Ende doch siegen wird. Dante zeigt uns, dass es nicht gleichgültig ist, wie wir unser Leben leben, und dass alles, was wir tun, Folgen für unsere Seele hat – wie immer man deren Erlösung oder Verdammnis versteht.

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Dante und die Todesreiche des Mittelalters

DIE RENAISSANCE

My soul grows sad with troubles; Sing, and disperse ’em, if thou canst. (Shakespeare, King Henry VIII)

DER ZWEIFEL IST MIR LIEB! – DER SKEPTIKER MONTAIGNE

Wer im Zweifel über den Zusammenhang zwischen persönlichen und seelischen Eigenschaften ist, sollte die Essays von Michel de Montaigne (1533–1592) lesen, die davon handeln, was es heißt, ein Mensch zu sein und welche Eigenschaften und Fertigkeiten man in verschiedenen Lebenslagen benötigt, um auf einen würdigen Tod vorbereitet zu sein. Essay bedeutet »Versuch«, und für Montaigne ist der Tod der letzte Essay, gegen den alle anderen Versuche aufgewogen werden. Indem er sie schreibt, übt er sich im Sterben, er schreibt sich frei von allem, was die Seele beschwert und sie daran hindert, den letzten Entwurf zu fertigen, der alle anderen Entwürfe verwirft. Das eigentliche Meisterwerk ist das Leben, denn man stirbt, wie man gelebt hat. Körper und Seele hängen zusammen und leisten einander gute Dienste, wie Montaigne es wunderbar ausdrückt. Diese lebensbejahende Gegenseitigkeit demonstriert, wie weit er sich bereits vom Mittelalter entfernt hatte. Montaigne war definitiv ein Mensch der Renaissance. Zusammen mit René Descartes gilt er als Wegbereiter des modernen Subjekts und er hat ein neues Literaturgenre begründet. Die drei Bände Essais erschienen 1580 und 1588 (2., revidierte Ausgabe). Montaignes Menschenbild hängt unmittelbar mit seiner Schreibweise zusammen, er erkennt als einer der Ersten, dass Form und Inhalt eins sind. Indem er darauf hinweist, dass der Inhalt nicht vor oder unabhängig von der Form gegeben ist, lehnt er auch die Vorstellung ab, dass der Mensch ein gegebenes, festgelegtes Wesen habe. Auch dieses muss geformt und geschaffen werden. Das Genre des Essays hat seinen Namen nach der Methode, die Montaignes Selbstreflexionen zugrunde liegt. Wenn er schreibt, gibt er sich mehr oder weniger dem Zufall und spontanen Einfällen hin und lässt seiDer Skeptiker Montaigne

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nen Gedanken und Assoziationen freien Lauf. So wird jeder Essay zum Versuch im wahrsten Sinne des Wortes. Ziel seiner Essays war herauszufinden, wer er ist: »Dies hier sind lediglich Versuche, meine natürlichen Fähigkeiten zu erproben […] Dies hier sind vielmehr meine persönlichen Überlegungen, durch die ich nicht die Kenntnis von Dingen zu vermitteln suche, sondern von mir.« (Essais II. Buch, Kapitel 10) Beim Schreiben macht Montaigne die überraschende Entdeckung, dass die Erkenntnis, die er in seinen essayistischen Entwürfen formuliert, ihn selbst als Menschen formt. Das gilt besonders einer angeblich nicht formbaren Sache wie der Seele. Das Schreiben und die Schrift formen den Schreiber. Vieles deutet darauf hin, dass auch Montaigne sein essayistisches Erkenntnisprojekt mit der klassischen Vorstellung begann, das Wesen (oder das Selbst) des Menschen sei fest und gegeben und könne durch sprachliche Abklärung und begriffliche Bestimmung erkannt werden. Doch sobald er glaubt, er habe das Wesen des Menschen sprachlich erfasst und Begriffe gefunden, die seine Substanz erklären, entgleitet es ihm erneut im Prozess der Formulierung, der ständig neue Formen annimmt. Es gelingt ihm nicht, das Wesentliche am Menschen mit seinen Begriffen zu fassen. Sprache hat die Eigenschaft, dass jede sprachliche Bestimmung einen Widerspruch impliziert, der ebenfalls definiert werden muss – ein endloser Kreislauf. Weil sein Ausgangspunkt die Existenz ist, kann die Essenz des Menschen nicht fest vorgegeben sein. Existenz ist Veränderung und Bewegung: »Zu sein ist Bewegung und Tun. So lebt jeder auch in dem, was er werkt« (II, 8). Oder: »Unser Leben ist pure Bewegung« (III, 13). Dieses Verständnis ist nach Jean Starobinski (1989, frz. Originaltitel: Montaigne en mouvement) die Grundlage für die neue Identität, die Montaigne sucht. Alles Menschliche befindet sich in stetem Wandel, folglich kann auch die Seele nicht mit ewigen Eigenschaften geboren sein. Sie ist demnach keine gottgegebene, unveränderliche Substanz. Bei Montaigne ist die Seele nicht nur veränderlich, nein, sie wird sogar erschaffen, sie ist ein Werk, ein Opus. Um der persönlichen Instabilität entgegenzuwirken, die dies mit sich führt, schreibt Montaigne seine Essays. In der Schrift kann er festhalten, was sich im echten Leben nicht festhalten lässt, und Gegensätze auf dynamische Weise versöhnen – daran glaubt er auf jeden Fall, wenn er zu schreiben beginnt.

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Der Skeptiker Montaigne

Ein leeres Inneres? Bei der Lektüre der Essais mit all ihren klassischen Verweisen fällt auf, dass das Mittelalter so gut wie abwesend ist. Es ist gewissermaßen schweigend vorhanden, als schlechtes Beispiel für alles, was Montaigne überwinden will. Deshalb übergeht er es und greift auf die Antike zurück, auf die griechische und insbesondere die römische Literatur. Seine Helden sind unter anderen Cato, Horaz und Cicero. Das mittelalterliche Seelenbild lehnt Montaigne ab. Für ihn ist die Seele keine einheitliche, gegebene Substanz, wie die mittelalterlichen Theologen behaupteten. Sie ist sogar überhaupt keine Substanz. Darin liegt der große Sprung vom Mittelalter zu Montaigne und zu dem jüngeren Descartes, die beide ein neues Bild der Seele begründen. Montaigne löst die Substanz der Seele auf und verbindet sie mit der Substanz des Körpers, Descartes verbindet sie mit dem Bewusstsein und der Vernunft. Beide tun den entscheidenden Schritt fort vom Verständnis der Seele als substanzielles Zentrum des Menschen mit Sitz im Herzen, wie Dante es schildert. Der eine geht nach unten und nach außen, der andere nach innen und nach oben, der eine in eine konkrete, der andere in eine abstrakte Richtung. Montaigne verbindet die Seele mit dem Körper und seinen Sinnen; der Körper wird gewissermaßen zum Organ der Seele. Descartes hingegen – mehr über ihn später – verknüpft sie mit der Vernunft und dem Denkvermögen, mit der menschlichen Fähigkeit zur rationalen Reflexion und mit dem Bewusstsein. Doch bleibt bei dieser zweifachen Bewegung nach außen nicht ein Vakuum in der Mitte des Menschen? Die Seele wird sozusagen ihrer Substanz entleert, obwohl Descartes dies bestreitet. Die beiden Philosophen und ihre unterschiedlichen Richtungen demonstrieren, dass die Seele ein historisches Phänomen ist. Die Psyche wurde in der Antike erfunden, ihre Funktion wurde zeitweilig von Platon und Aristoteles bestimmt. Im Mittelalter bekam sie einen neuen Inhalt und eine neue Funktion, sie wird mit Substanz gefüllt, die Montaigne wieder »ausleert«. Wenn er über sich selbst reflektiert und sein Inneres, das heißt seine Seele, zu begreifen versucht, merkt er, dass er ins Leere greift. Das Innere ist leer, es hat kein festes Wesen: »Die ganze Natur des Menschen bleibt immerdar […] ein Schatten und ein ungewisses, vages Wähnen. Und setzt ihr euch einmal in den Kopf, ihr Wesen zu fassen, ergeht es euch nicht viel anders als einem, der Wasser in der Hand halten will.« (II, 12) Immer wieder richtet er den Blick nach innen, um sein Innerstes zu fassen, aber jedes Mal merkt er, dass es sich nicht Ein leeres Inneres?

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fassen lässt. Es ist leer. Montaigne bleibt mit dem Ich zurück, dem Selbst, der Person, die herauszufinden versucht, was ihr Identität und Integrität verleiht. »Und da ich nun allen anderen Stoffes völlig ermangelte, machte ich mein Selbst zum Gegenstand und Thema meines Buchs.« (II, 8) Montaignes Identitätsstifter sind nicht die Gedanken, denn diese sind für ihn (anders als für Descartes) ebenso flüchtig wie Luft, sondern der Körper. Dennoch muss er zunächst von seinen Gedanken ausgehen: »Nun, ich stelle hauptsächlich meine Denkbewegungen dar: etwas Unausgeformtes, das sich nicht in Werktätigkeit niederschlagen kann. Allerhöchstens vermag ich ihm die Luftgestalt des Wortes zu geben.« (II, 6) Wenn das Innere leer ist und auch Gedanken kaum festzuhalten sind, darf man fragen, wie Montaigne die Seele erklärt oder ob sie in seiner Vorstellung überhaupt existiert. Er erklärt die Seele teils historisch und teils phänomenologisch. Historisch untersucht er, ob die Denker der Antike ihm eine brauchbare Lösung anbieten, phänomenologisch betrachtet er die seelischen Erfahrungen, die er als körperliches Wesen macht. Der historische Durchgang der antiken Seelengeschichte – von Heraklit bis zu Aristoteles und zu Montaignes Favoriten, den Stoikern – findet sich in Montaignes längstem Essay, der fast schon eine Abhandlung ist, nämlich in der Apologie für Raymond Sebond (II, 12). Sebonds Werk heißt bezeichnenderweise Die Theologie der Natur oder Das Buch der Geschöpfe (1484) und bietet eine Alternative zur dogmatischen Theologie der Kirche. Ein gemeinsames Vorbild beider Autoren ist Lukrez mit seiner oben erwähnten großen Naturdichtung De rerum naturae. Mit diesem »natürlichen« Ausgangspunkt steht Montaigne den meisten Seelenauffassungen der Antike ebenfalls kritisch gegenüber. Manche bezeichnet er als reine Hirngespinste ohne Verankerung in der Wirklichkeit. Deshalb schließt er zunächst mit Cicero: »Welche unter all diesen Meinungen die richtige sei, möge irgendein Gott entscheiden«, und mit Heraklit: »Man käme niemals so weit, die menschliche Seele zu erkennen, derart tief sei ihr Innerstes gegründet« (II, 12). Dennoch kann es Montaigne nicht lassen, diese Tiefen auszuloten, weil die Seele ein wichtiger Teil des Menschen und zudem eine äußerst interessante Mischung aus Natürlichem und künstlich Erschaffenem ist. Und wieder antwortet er auf der Grundlage seiner persönlichen Erfahrung, die er ganz pragmatisch mit jenen philosophischen Erklärungen der Seele vereint, die er am vernünftigsten findet. Aus dem historischen Abriss heraus fasst er zusammen und definiert die Seele auf der Höhe seiner Zeit: 120

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Die wahrscheinlich schlüssigste Ansicht der Philosophen ist, dass es sich stets um die eine Seele handelt, die kraft ihres Vermögens Überlegungen anstellt und sich erinnert, versteht und urteilt, begehrt und all ihre andren Verrichtungen mittels verschiedener Körperteile tätigt: so wie der Kapitän sein Schiff kraft seiner Erfahrung befehligt und bald ein Tau spannen oder lockern, bald ein Segel setzen oder das Ruder herumwerfen lässt und folglich die einzige Ursache für so viele Wirkungen bildet, schlüssig scheint deshalb auch die Ansicht, dass die Seele ihren Sitz im Gehirn hat – was man schon daraus sieht, wie Verletzungen und Schädigungen dieses Körperteils sogleich alles Vermögen der Seele in Mitleidenschaft ziehn. Es leuchtet daher ein, dass es ebendas Gehirn ist, von dem aus sich ihre Wirkungskraft über den ganzen Körper verteilt. (II, 12)

Dies ist ein Seelenbild, dem viele noch heute zustimmen werden. Besonders modern daran ist, dass Montaigne die Seele nicht im Herzen, sondern (wie Descartes und Leonardo) im Gehirn lokalisiert, dem Organ der Vernunft. Zudem begründet er dies mit medizinischen Observationen: Ein Gehirnschaden kann nicht nur logische Fähigkeiten wie die Sprache und den Intellekt einschränken, sondern auch seelische Schäden oder Veränderungen der Persönlichkeit bewirken. Allerdings verknüpft Montaigne die Seele nicht so fest mit dem Bewusstsein und dem Intellekt wie später Descartes. Über das Gehirn hält er an ihrer Verankerung mit dem Körper fest: Dort sitzt nicht nur die Denkfähigkeit, sondern auch die Leidenschaft und Emotionen. Auch die Begierde gehört zur Domäne der Seele. Wer etwas begehrt, will etwas. Deshalb gehören der Wille und letztendlich auch die Handlungskraft ebenfalls zur Seele. Alles, was das Individuum selbst verantwortet und kontrollieren kann, wird der Seele zugeschrieben.

Schrift und Beichte Wenn das Innere leer ist, kann es auch gefüllt werden. Genau dies versucht Montaigne, denn er füllt es mit Schrift. Das Ergebnis ist eine Art Beichte, ehrliche Bekenntnisse und Erkenntnisse über alles, was er in seinem Inneren findet und in Worte zu fassen versucht. Damit sind wir bei seinem Medium angelangt, der Schrift und dem Schreiben. Die Gemütsbewegungen seiner Seele sind Bewegungen der Schrift und umgekehrt. Deshalb sind sein Medium und seine Schreibweise so wichtig. Das Medium ist für ihn bereits in hohem Grad Botschaft, weshalb er es auf besondere Weise Schrift und Beichte

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behandelt. Wenn er schreibt, gibt er sich mehr oder weniger spontanen Einfällen oder dem Zufall hin. Seine Feder folgt ihrer eigenen Logik, ihre Worte sind unvorhersehbar. Auf diese Weise erfasst er wie nebenbei viele wichtige Dinge – vorläufig. Letzteres macht das Genre des Essays aus. Man könnte die Versuche auch Exempel nennen, denn sie sind so gut gelungen, dass sie exemplarisch werden. Der Essay wird oft mit freiem Gedankenfluss und assoziativem Schreiben ohne Ziel und Schlussfolgerung verbunden, was in Montaignes Fall jedoch ungerecht ist, denn seine Essais sind auf ihre Weise zielgerichtet. Ihr jeweiliges Thema ist ihr Fokus, und Montaigne erforscht es aus verschiedenen Perspektiven und auf verschiedene Weisen. Seine Darstellung ist nicht linear, sondern im wahrsten Sinne des Wortes diskursiv. Sie springt hin und her, ohne den Punkt aus den Augen zu verlieren. Das Ergebnis ist, dass die Sache von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. Montaigne erforscht das wahre Leben mit all seinen Widersprüchen und in all seiner Vielfalt. So spiegelt er auch das Seelenleben, das in sich selbst heterogen, zusammengesetzt und mehrdeutig ist. Trotzdem fühlt man, dass das Leben ein Ziel und eine Richtung hat, die in Montaignes Essays geklärt wird – ähnlich wie die Seele eine Bestimmung in einer unbekannten Zukunft hat. Aber es braucht ein ganzes Leben, um diese Bestimmung zu erkennen, und viele Versuche, die Lösung zu finden – und die Erlösung. Dafür ist der Essay eine geeignete Form. Die Sorge um die Seele ist ein solches Versuchsgebiet, und das Ziel besteht darin, einen Entwurf mit gelungenem Ausgang zu finden. Die Seele zu jagen ist dasselbe, wie unterwegs eine Wahrheit aufzufangen, genauer gesagt eine von vielen kleinen Wahrheiten. Man kann sich unendlich viele Ziele vorstellen. Betrachten wir zunächst die Extrempunkte: Auch die Seele muss sich zu anderen Dingen irgendwie verhalten, entweder zu etwas Bestimmtem (der Einheit oder dem Einen, Gott) oder zum unbestimmten Leerraum (Nichts) oder zu allem, was sie umgibt. Alles oder nichts – wenn es dazwischen nichts gibt, zum Beispiel ein Erdenleben. Dieses Problem muss in der Praxis gelöst werden. Obwohl Montaigne am liebsten den goldenen Mittelweg geht, weiß er auch, dass die Seele unter großer Anspannung ihre Grenzen überschreiten und die Schwerkraft aufheben kann. Die Erfahrung zeigt mir, dass zwischen den flüchtigen Aufschwüngen der Seele und einer aus Gewohnheit beharrlich gleichbleibenden Lebensführung ein großer Unterschied besteht; und ich sehe durchaus, dass wir aller erdenklichen Dinge fähig sind –

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ja, dass wir, wie einer sagte, selbst der Gottheit manchmal den Rang abzulaufen vermögen. […] Sogar wir, die wir lediglich Wechselbälge von Menschen sind, erleben ja manchmal, dass unsre Seele, von den Worten oder Beispielen andrer erweckt, sich hoch über ihren alltäglichen Zustand aufschwingt. Doch hier handelt es sich nur um eine Art Leidenschaft, die sie treibt und mitreißt und gleichsam sich selbst entrückt. (II, 29)

Näher kann man der Lösung – und der Auflösung – der Seele kaum kommen. Montaigne weiß, dass er an diesem Punkt eine Erfahrung präsentiert, die kaum nachzuerleben ist. Der Seelenflug, den er hier schildert, kann auch das Ziel der Seele sein, was er bereits ahnt, wenn die Inspiration und der Gedankenflug ihn packen. Was Montaigne hier als Ausnahme bezeichnet, ist für die Seele das Ziel. Das Ziel ist eine Ausnahme, wie Kierkegaard später behauptet. Und es genügt, wenn der Seelenflug einmal gelingt, wenn man nur eine Chance bekommt. Die Seele soll das Unmögliche fertigbringen und sich durch eigene Kraft dem Göttlichen annähern, nicht nur durch das Beispiel anderer. Montaigne will die Wahrheit, die er erfahren hat, jedoch nicht ausposaunen und lässt die Seele auf ihr »natürliches Lager« zurückfallen. Die Leidenschaft, die sie anspornt, will er in Schach halten, während andere sie als Antrieb für den grenzüberschreitenden Seelenflug benutzen, denn dieser Wille und diese Leidenschaft sind die Seele und die Voraussetzung für den Sprung. Montaignes Glaube an eigene Erfahrungen und die Vernunft machen ihn zu einem echten Renaissancemenschen auf einer Linie mit Pico della Mirandola und Ficino, die den Menschen ebenfalls als Zentrum des Kosmos ansahen. Kaum ein anderer illustriert die buchstäbliche Bedeutung der »Renaissance« (Wiedergeburt) der Antike direkter als Montaigne. Die drei Bände der Essais wirken wie ein zwar sprunghafter, aber doch zusammenhängender Durchgang klassischer griechischer und römischer Quellen, von Heraklit und Sokrates bis Horaz, Cicero und Cato, wobei die römischen Dichter, insbesondere Lukrez, Vergil und Ovid, mehr präsent sind. (Viele der griechischen Klassiker waren zu Montaignes Zeit nicht einmal ins Lateinische übersetzt.) Wenn er ein seltenes Mal mittelalterliche Dichter wie Dante zitiert, tut er dies, um den Zweifel an seinem Glauben zu betonen, zum Beispiel mit Inferno 11, 93, wo Dante bekräftigt, »dass Wissen mir nicht lieber ist als Zweifeln«. Denn »nur Narren sind sich immer sicher und ein für alle Mal festgelegt«, repliziert Montaigne (I, 26). Trotzdem versucht er, sich bis zur Klärung einer Sache durchzuschreiben. Alles Leben soll beschrieben und umgeschrieben werden, auf dass Schrift und Beichte

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die Schrift gelebtes Leben werde und umgekehrt. Auf diese Weise setzt Montaigne Augustinus’ und Dantes autobiografische Tradition fort, ganz nach dem bereits zitierten Motto, dass jeder in seinen Werken lebt (II, 8). »All meine Bemühungen dienten dem Ziel, mein Leben zu gestalten: Das ist mein Metier, das ist es, woran ich arbeite.« (II, 37) Durch die Schrift und mit der Schrift formt Montaigne ein Bild seiner Seele, das sie in einen Zusammenhang setzt. Er erschafft eine essayistische Erzählung über die Seele und ordnet den Menschen in einen Gesamtzusammenhang ein, indem er ihm eine sprachliche Form gibt. Montaigne schafft ein neues, sprachliches Selbst, eine narrative Identität. Ganz neu ist Montaignes Seelenbild jedoch nicht. Auch nach Ansicht der griechischen Sophisten musste das Wesen des Menschen geformt und aktiv ausgedrückt werden. Montaigne schließt sich dieser Tradition der Selbstdarstellung an. Die Sophisten waren aufgrund ihres relativen Wahrheitsbegriffs seit über 2000 Jahren in der Philosophie verrufen, wofür vor allem Platon und dessen Glaube an die eine, ewige Wahrheit verantwortlich waren. Dabei hatten die Sophisten in ihrer Eigenschaft als reisende Lehrer bloß früh erkannt, dass die Wahrheit kulturabhängig ist. Sie hatten mit eigenen Augen gesehen, dass es im Mittelmeerraum unterschiedliche Normen und Glaubensvorstellungen gab. Nach Platon lag die sophistische Tradition der Selbstdarstellung lange Zeit brach, erst Montaigne erneuerte sie, Herder führte sie mit seinem Expressivismus weiter, Nietzsche brachte sie zu einem Höhepunkt. In dieser Tradition ist die Lebenskunst wichtiger als die theoretische Bestimmung des Bewusstseins oder angebliche universale Gesetze. Lebenskunst ist keine egoistische Selbstbestätigung, sondern ein Versuch, gegensätzliche Kräfte auf zweckmäßige Art zu einer Integrität zu versöhnen und zu vereinen, damit das Ich Herr im eigenen Haus wird – jedoch auf konstruktive, spielerische Art und Weise. Das gilt Montaigne zufolge auch für die Seele. Ich will meinen Geist formen, nicht ihn möblieren; ich will ihn weiten, nicht vollstopfen. Es gibt, je nachdem, wie er beschaffen ist, keine seichtere und keine tiefer schürfende Beschäftigung als die mit den eignen Gedanken. Die größten Geister machen sie zu ihrem Daseinszweck, denn leben heißt für sie denken. (III, 3)

Der Ballast, den Montaigne auf Geist und Seele fürchtet, besteht aus Worten, die wie Wind sind, aus leeren Worten. Womit aber füllt er sein leeres Inneres? Mit sich selbst und Gedanken über sich selbst, um sich selbst zu 124

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verstehen und ein Bild von sich selbst, dem ganzen Menschen, zu zeichnen. Dafür hat er nichts anderes zur Verfügung als Wörter, die Werkzeuge der Gedanken. Über sich selbst zu reden oder zu schreiben füllt den Leerraum im Innern. Doch das Bild soll eine Vollfigur werden, für die der Autor voll und ganz persönlich einstehen kann. Ihm allein ist geschuldet, wer und wie er ist und sein wird. Viele reflektieren besonnen und umsichtig über ihr Leben, aber Montaigne will so leben, dass es sich lohnt, darüber zu schreiben, und umgekehrt. Er will sich durch Selbsterkenntnis formen, sich selbst seinem Werk widmen. »Die Anderen« und der Nächste kommen erst in zweiter oder dritter Reihe: »Ich bin heilfroh, mich nicht mehr um andrer Leute Angelegenheiten kümmern zu müssen, sondern der Verantwortung dafür ledig zu sein.« (III, 2) Geheuchelte christliche Nächstenliebe ist Montaigne fremd. Und weil Gefühle, von denen sich alle mitreißen lassen, uns oft aus dem Gleichgewicht bringen, meint er in demselben Essay: »Wie die lasterhaften Seelen oft durch irgendeinen äußren Anstoß zu guten Taten getrieben werden, so die tugendhaften zu bösen. Man muss daher beide nach ihrem gewohnten Zustand beurteilen, wenn sie bei sich sind (so das je der Fall ist), zumindest aber nach der Verfassung, die ihrem natürlichen Zustand der Ruhe am nächsten kommt.« Und weil die Gefühle wechseln, muss man seine Urteilskraft üben: »Mögen meine Gefühle sich ändern, mein Urteil tut es nicht […] Auf die Unbestechlichkeit meines Urteils achte ich derart eifersüchtig, dass ich mich auch durch die heftigsten Leidenschaften schwerlich hiervon abbringen lasse.« (II, 17) Montaigne stimmt nur den starken und disziplinierten Seelen zu, wobei er sich auf Seneca beruft: »Sie [die Leidenschaften] lassen sich eher der Seele entziehn als mäßigen.« (III, 10). Dies bedeutet nicht, dass er kein Verhältnis zu anderen und der sozialen Gemeinschaft hat, sondern lediglich, dass es unvernünftig ist, dem Herdendrang zu folgen. »Wer einem anderen blindlings folgt, folgt nichts. Er findet nichts – ja, er sucht nichts.« (I, 26) Seine sozialen Pflichten nimmt Montaigne durchaus ernst, schließlich war er Bürgermeister und hatte an den Hugenottenkriegen teilgenommen. Zum Soldatenwesen schreibt er: »Das sollte jedoch nur leihweise geschehn, von Fall zu Fall, auf dass der Geist seine Ruhe und Gesundheit bewahre: nicht in Untätigkeit, doch frei von Verstörung und Leidenschaft.« (III, 10) Montaigne lässt keine Zweifel an seinen Prioritäten und am Verhältnis zwischen Zweck und Mittel. Während andere ihre Aufmerksamkeit nach außen richten, um Ruhm und Ehre zu erlangen, kehrt er den Blick nach innen: Schrift und Beichte

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Alle Welt richtet den Blick aufs Gegenüber, ich jedoch nach innen; dort halte ich ihn dauerhaft beschäftigt. Jeder schaut vor sich, ich in mich. Nur mit mir habe ich es zu tun. Ich beobachte mich ohne Unterlass, prüfe mich, verkoste mich. […] Ich hingegen kreise in mir selbst. Diese wie auch immer beschaffne Fähigkeit, die Wahrheit herauszusieben, und diese freie Sinnesart, meinen Glauben nicht leicht unterjochen zu lassen, verdanke ich hauptsächlich mir selbst. […] Und jene, mit denen ich aufgrund meines Standes am häufigsten verkehre, sind meistens Leute, die sich wenig um die Seelenkultur kümmern. (II, 17)

Mit Worten wie »sich selbst verkosten« oder »in sich selbst kreisen« unterstreicht Montaigne das körperlich-sinnliche Fundament der Seelenkultur.

Die Seele als Abdruck des Körpers Das Körperbild der Renaissance resultiert in einem neuen Menschenbild, einem deutlichen Paradigmenwechsel (wie es heute heißt) im Verhältnis zum Mittelalter. Während das Mittelalter den Blick auf das Übernatürliche und in eine andere Welt richtete, schaut die Renaissance auf das Natürliche, auf diese Welt, was auch die Menschennatur – also den Körper – betrifft. Der größte Unterschied zum Mittelalter liegt in der Konzentration auf das Diesseitige und dem Unwillen gegen das Transzendente, das heißt einen jenseitigen Himmel oder eine jenseitige Hölle. Montaigne tut als Philosoph dasselbe wie die Naturforscher in der Wissenschaft, nämlich den natürlichen Menschen untersuchen. Wo das Mittelalter spekulativ bleibt, ist die Renaissance empirisch und experimentell, ihr Wissen basiert auf Experimenten und Erfahrung, auf Observation. Die Naturwissenschaftler untersuchen, wie die Natur sich verhält und welche allgemeinen Gesetze in ihr gelten; Montaigne untersucht seinen natürlichen, aber höchst individuellen Körper und was für den Menschen natürlich ist: essen und arbeiten, lieben und schlafen, träumen und grübeln. Er weiß auch, dass er die (Menschen-)Natur kultiviert, indem er sie formt und zum Teil seiner seelischen Entwicklung macht. Er macht die Natur künstlich und gleichzeitig macht er die Kunst natürlich. Sich selbst zu kennen, Montaignes oberstes Ziel, heißt, sich selbst als körperliche Existenz zu erkennen. Das klassische metaphysische Ideal (der Geist) wird in ein physisches, körperliches Ideal verwandelt: »Ich studiere mich mehr als irgend etwas andres – das ist meine Metaphysik, das 126

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ist meine Physik.« (III, 13) Physik wird Metaphysik und umgekehrt. Der Kosmos des Körpers ist der große Kosmos im Mikroformat. Deshalb wird die Erkenntnis der Welt dasselbe wie die Erkenntnis des Körpers mithilfe der Sinne. Erst wenn Montaigne seinen Körper spürt, erkennt er auch die Welt, im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen, die die sinnliche Wahrnehmung durch abstraktes Räsonnement verkomplizieren. Montaigne verschiebt die Erkenntnisperspektive vom Wissen zum Fühlen. Erkennen bedeutet für ihn ebenso konkretes sinnliches Erfassen. Damit gibt er den Erlebnissen und Sinnen den primären Zugang zur Welt zurück. Wenn er den Blick nach innen richtet, sieht er nicht die Seele, die ja leer ist, sondern den Körper als Träger von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen. Vielleicht war es dieses implizierte sentio ergo sum (ich fühle, also bin ich), das Descartes zu seinem berühmten cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) provozierte. Denn Montaigne stellt das rationale Denken auf eine Stufe mit der sinnlichen Wahrnehmung, er beurteilt sich selbst nur nach wirklichen Sinneseindrücken und Erfahrungen, nicht nach allgemeinen Begriffen und Theorien. Er will das Geistige (die Fähigkeiten der Seele) nicht vom Körperlichen trennen, das er am besten kennt: »Was aber die körperliche Gesundheit angeht, vermag niemand mit in der Tat nützlicheren Erfahrungen aufzuwarten als ich, da ich sie rein und durch keinerlei Vorbedacht und Vorurteil getrübt oder entstellt unterbreite.« (III, 13) Montaigne gibt dem Körper nicht nur erkenntnistheoretisch und anthropologisch den Vorrang, sondern auch ästhetisch. Im Unterschied zur modernen Naturwissenschaft, die den Körper der seelischen Dimension beraubt, will er dem Körper seine rechtmäßige poetische Funktion bei der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Menschen wiedergeben. Der sinnliche Körper ist das metaphorische Repertoire, das es uns ermöglicht, unsere Gefühle und Gedanken auszudrücken. Im Grunde gleicht Montaignes Schreibprojekt der rhetorischen Figur des Chiasmus: Der Text des Körpers wird in seinen essayistischen Metamorphosen zum Körper des Textes. Dem Körper Ausdruck zu verleihen heißt, zur Quelle zurückzukehren. Fast alles, was sich sagen lässt, lässt sich auch durch den Körper ausdrücken. Bei so viel Körperlichkeit und so wenig Seelischem darf man fragen, ob die Seele nicht ganz im Körper aufgeht – und folglich auch mit ihm stirbt. Diese Frage bleibt bei Montaigne unbeantwortet. Vielleicht hat er sie bewusst übergangen, weil er fürchtete, dabei in christliche Denkmuster zu verfallen. Doch nicht alles, was bei Montaigne den Weg des Körpers Die Seele als Abdruck des Körpers

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geht, geht auch den Weg des Fleisches. Alle seine Entwürfe lassen sich als Entwürfe und Projektionen seines eigenen Körpers lesen, sie sind Aussonderungen körperlicher Erkenntnis: »Dies hier sind nun, wenn auch etwas dezenter dargeboten, die Exkremente eines vergreisten Geistes: mal hart, mal weich, und stets unverdaut.« (III, 9) Doch ohne die Hilfe des Intellekts hätten diese Absonderungen nie eine so schöne Form wie seine Essays annehmen können. Deshalb preist Montaigne auch die Gegenseitigkeit von Körper und Seele und die guten Dienste, die Leben und Lehre einander leisten. Es sei notwendig, beide zu veredeln, betont er. Den Dualismus lehnt er ab: »Und könnten wir nicht sagen, dass es während dieser irdischen Gefangenschaft nichts rein Körperliches und nichts rein Geistiges in uns gibt und wir daher einen lebendigen Menschen zu Unrecht auseinanderreißen?« (III, 5) Mit anderen Worten: Der Körper ist beseelt. Dass das Leben in all seiner Vielfalt – anthropologisch und existenziell betrachtet – auf »gegenseitigen Diensten«, unter anderem von Körper und Seele, beruht, gehört zu den ansprechendsten Ideen in Montaignes Werk. Er denkt nicht »entweder – oder«, sondern »sowohl … als auch«, um am Ende oft noch eine dritte Möglichkeit zu wählen. Es ist unmöglich, die Gefühle des Menschen zu erfassen, ohne die Körperteile zu nennen, die sie behausen, oder ohne die körperlichen Bewegungen zu nennen, die sie auslösen. Technisch betrachtet sind die Bilder, die man für Gefühle und Ideen benutzt, oft Metonymien, in denen ein Teil für ein Ganzes steht oder ein Körperteil für das, was er beinhaltet oder vermittelt. So figurierten die Körperteile für den homerischen Menschen. Zum Beispiel wird die Seele mit dem Herzen verknüpft, weil es symptomatisch reagiert, wenn seelische Werte auf dem Spiel stehen. Bei Montaigne ist der Körper ein metonymischer Ausdruck für die Seele. Es stellt sich heraus – und dies ist noch immer eine von Montaignes einmaligen Erkenntnissen –, dass die Wörter und Bilder, die er benutzt, um von seinem Körper und seiner Seele zu erzählen, auf das Erleben des Körpers und die Eigenschaften der Seele zurückwirken. Wenn die Sprache im wahrsten Sinne des Wortes Körper angenommen hat, wirken die Worte wiederum auf den Körper und formen die Gefühle, die der Körper beherbergt und ausdrückt. Die Sprache, insbesondere die Kunstsprache, löst körperlich gebundene Gefühle aus, die den Körper auf eine Weise in Bewegung bringen, die wiederum nur durch neue sprachliche Bilder und Begriffe erfasst, kanalisiert und gesteuert werden kann. Man könnte dies durchaus Dialektik nennen oder in Montaignes Worten gegenseitige Dienste. Sowohl Spra128

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che als auch Gefühle werden zu einem sich stetig veränderndem Strom, in dem Entstehung und Verwandlung eins sind. Die Bilder sind ebenso mehrdeutig wie die Gefühle fließend sind. Dies ist die Sprache der Seele, deren ständige Verwandlung nicht eindeutig zu fassen ist. Doch das ist nicht alles. Der Körper ist viel grundlegender als die Sprache, die Gefühle und die Seele. Er kommt vor der Sprache und der Seele. Der Körper unterliegt dem physischen Erbe, er trägt Erbgut in sich, während die Seele erst nach der Geburt schrittweise geformt wird. Vererbung ist für Montaigne ein Potenzial im biologischen Körper, der im Übrigen fest zum großen Kreislauf gehört. Außerdem ist der Körper die biologische Gemeinsamkeit aller Menschen als körperlicher Existenzen. Wir begegnen uns als Körper und erleben einander als Körper. Der Körper kommt uns immer zuvor und verrät, wer wir sind. Man fragt sich erneut: Wenn der Körper älter als die Seele ist und die Seele erst schrittweise durch Erziehung und Erfahrung im Lauf eines Lebens künstlich erschaffen wird, kann sie dann den Körper überleben? Die Antwort könnte durchaus »nein« lauten. Jedenfalls leben die körperlichen Gene nach unserem Tod in unseren Nachkommen weiter, nicht nur in unseren Söhnen und Töchtern, sondern auch in anderen Verwandten. Sie werden in Form eines gemeinsamen Genpools weitergegeben, solange die Menschheit besteht. Da die Seele künstlich entstanden ist, ist sie durch den kulturellen Gencode bedingt. Als kulturell bedingte Konstruktion kann sie demnach ebenso überleben. Sie ist nicht unsterblich oder göttlich im religiösen Sinn. Montaigne versteht die Seele als etwas Persönliches, als formbares Selbst, als ein Bündel persönlicher Eigenschaften und Haltungen, Denkweisen und Vorstellungen. Das Maß, in dem diese Eigenschaften zusammenhängen, gibt einer Person Integrität, was für Montaigne weitaus wichtiger für die Seele ist als Identität. Begrifflich deutet Identität etwas Festes oder Gegebenes an, es ist abgeleitet von lateinisch idem, ein und derselbe, im Sinne von »identisch mit sich selbst«. Der Begriff Integrität hingegen deutet an, dass die verschiedenen seelischen Eigenschaften einer Person gemeinsam ein Kraftzentrum bilden, das etwas Bestimmtes will. »Man erzieht nicht eine Seele, man erzieht nicht einen Körper – man erzieht einen Menschen. Daraus darf man nicht zwei machen.« (I, 26) Dass Montaigne sich vor allem mit dem lebendigen Körper befasst, bedeutet nicht, dass er den Tod und dessen Konsequenzen für die Seele verdrängt. Im Gegenteil, der Tod spielt in seinen Essais eine wichtigere Rolle, als man glauben sollte. Die Seele als Abdruck des Körpers

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Ars vivendi – ars moriendi Montaignes Antwort auf das Mysterium des Todes ist nicht konventionell, sondern individuell. Ob die Seele mit dem Körper stirbt und den Weg allen Fleisches geht oder ob sie den Quantensprung vollziehen und sich an etwas Bleibendes, Geistiges binden kann, hängt von der Kunst des Sterbens (ars moriendi) ab, die Montaigne in seinen Essays zu meistern versucht. Er versucht nicht nur, sich selbst zu finden, sondern auch den »Ausgang« und den »Eingang« seiner Seele (in etwas anderes oder ins Nichts). Mit anderen Worten: Er übt sich im Sterben. Aus dieser Perspektive kann man alle Essais als Vorbereitung auf den Tod lesen, den er den »letzten Essay« nennt und somit als aktive Handlung betrachtet. Alle, die die Kunst der Improvisation beherrschen, wissen, dass auch Improvisation Übung braucht. Dies gilt auch für den Tod, der nur einmal eintritt. Deshalb muss man Montaigne zufolge das Sterben üben. Niemand kennt die Umstände seines eigenen Todes, weshalb man auf alles vorbereitet und in der Lage sein sollte, den Sprung unter allen erdenklichen Bedingungen und jederzeit vollführen zu können. Die Leere des Inneren erklärt vielleicht, warum der Skeptiker Montaigne seine Essays als »Übung zum Sterben« schreibt. Im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, darunter die Gelehrten der Kirche, ist seine Sicht auf den Tod einmalig. Der Renaissance-Karnevalist Rabelais stellt den Tod als soziales Phänomen dar, der das Individuelle im Kollektiven auflöst, während der Christ Blaise Pascal die individuelle Erlösung im Hinblick auf die Ewigkeit sieht. Nach Pascal gibt sich der Sterbende an etwas absolut Überindividuelles und Transzendentes hin, nämlich an die Einheit in Gott (nur Gott ist eins, ohne Gegensätze). Montaigne nimmt eine paradoxe Zwischenstellung ein, denn bei ihm wird der Tod zum exklusiven, diesseitigen und individuellen Werk mit sozialer Bedeutung für den Verstorbenen. Das gesellschaftliche Ziel ist ein schöner, würdiger Tod. Um es zu erreichen, muss eine Integrität von Leben und Lehre sowie eine klare Erkenntnis des Endes bestehen. Vor diesem Hintergrund sind ars vivendi und ars moriendi zwei Seiten derselben Sache: »Wer die Menschen sterben lehrte, würde sie leben lehren.« (I, 20) Sterben bedeutet, sich von allen Bindungen dieser Welt zu befreien, durch einen spontanen, offenen Ausgang. »Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt.« (I, 20) Der letzte Einfall ist der spontane Ausgang der Seele, aufgelöst im Alles oder im Nichts, in etwas Materiellem (Körperlichen) oder Geistigem (der uni130

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versalen Vernunft). Der Tod ist der letzte Essay, vorbereitet durch alle vorhergehenden: »Dem Tod stelle ich deshalb die Bewertung der Frucht meines Sinnens und Trachtens anheim. Dann wird sich zeigen, ob meine Worte nur Lippenbekenntnisse sind oder mir aus dem Herzen kommen.« (I, 19) Am Ende des Lebens reicht die Sprache nicht mehr aus. Sich wegzureden ist eine Kunst der Unmöglichkeit, das letzte, große Stück Lebenskunst – ein Machtwort, das jede Macht auflöst. Und hier gibt Montaigne dem Herzen, dem Symptomträger der Seele, eine entscheidende Rolle. Im Tod sind die Eigenschaften des Herzens entscheidend. Die Sprache hat das Ihrige durch alle Reden und alle Gedanken getan – sie hat die Seele geformt, damit sie sich vom Körper abkoppeln und von der Substanz befreien kann. Montaigne fühlt sich selbst in der Lage, sich zu erlösen: »Noch nie hat ein Mensch sich resoluter und rückhaltloser auf das Verlassen der Welt vorbereitet und ihr vollkommener entsagt, als ich es zu tun gedenke. Die totesten Tode sind die heilsamsten.« (I, 20) Montaignes größte Leistung besteht darin, dass er die Seele zum Kunstwerk macht, zu einer stilistischen Herausforderung, mit deren Hilfe er einen leichten und beglückten modus vivendi findet – ohne die Last der Leidenschaften, der Reue und des schlechten Gewissens. Nach ihm (im Reich der freien Geister) geht es ausschließlich um die Würde des Menschen, de dignitate hominis, und um einen würdigen Tod. Das Herz ist das Organ des Lebens und der Maßstab des Todes. Doch bei Montaigne ist das Herz auch eine Funktion der Seele, das durch seine Reaktionen die moralischen Eigenschaften eines Individuums verrät. Wer sein Leben lang den spontanen Ausdruck des Herzens (und somit des Bewusstseins und des Gewissens) unterdrückt hat, steht im Tode schlecht da. Dann ist es zu spät für Spontaneität und Treue zum Herzen. Wer hier noch an Mittel zum Zweck denkt, hat verloren, denn keiner kann den Tod betrügen, keiner kann sich im letzten Akt der Komödie verstellen. In diesem Moment muss man man selbst sein, was sich nicht zuletzt an der Sprache zeigt: In diesem letzten Auftritt jedoch zwischen dem Tod und uns ist es aus mit dem schönen Schein; jetzt gilt es, die Dinge beim Namen zu nennen, jetzt gilt es, vorzuzeigen, was sich an Gutem und Purem auf dem Boden des Topfes befindet. […] Darum bildet diese Szene den Prüfstein, an dem sich alle Handlungen unsres Lebens messen lassen müssen. Sie ist der Tag der Tage, der Richttag aller andern. (I, 19)

Ars vivendi – ars moriendi

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Deshalb beurteilt Montaigne ein Menschenleben nach dessen Ende – und erst an dessen Ende. Der Tod ist der letzte Essay, der in doppeltem Verstand letzte Entwurf, die Vollendung einer schönen Seele als pure Form. Der Tod wird zur Krone des Meisterwerks, welches das Leben nach Montaigne sein sollte: Das Ziel unserer Laufbahn ist der Tod – auf ihn sind unweigerlich unsre Blicke gerichtet. Wie können wir, wenn er uns Angst und Schrecken einjagt, auch nur einen Schritt ohne Schaudern nach vorne tun? Der Notbehelf des gemeinen Volks besteht darin, nicht an ihn zu denken. Aber zeugt eine solche Selbstblendung nicht von tierischer Dummheit? Es muss doch den Esel am Schwanz aufzäumen, wenn es wähnt, am besten komme man im Rückwärtsgehn voran. (I, 20)

Sterben ist sowohl transitiv als auch intransitiv, ein aktives und passives Verb für Montaigne. Bis zum Tod und in den Tod hinein führt er die unauflösliche Dialektik zwischen Körper und Seele, zwischen Handlung und Reflexion, zwischen aktivem Ergreifen und passiver Ergriffenheit, dem Herzschlag des Lebens. Das Leben ist einerseits, was uns gegeben ist, was vor jedem Bewusstsein und vor jedem Handeln in uns steckt. Andererseits ist das Leben unser Handeln und das Werk aller Werke, ein Zweck, der alle anderen Handlungen und Werke übertrifft. In der mittelalterlichen Theologie war das Ziel des Menschen die Erlösung der Seele in ein jenseitiges, paradiesisches Dasein, Montaigne hingegen besteht auf dem Vorrang des Lebens als Maßstab aller Dinge. Obwohl er sich durch seine Essays auf das Sterben vorbereitet, ist er bis in den Tod hinein ein lebensbejahender Mensch, der nach dem Motto handelt: Sei, was du bist, sei es voll und ganz, folge deinem Willen und deiner Vernunft, erkenne dich selbst und habe Vertrauen zur Natur, die dich so geschaffen hat!

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Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt. (Blaise Pascal)

DESCARTES’ DENKENDE SEELE

Descartes markiert einen entscheidenden Wandel in der Geschichte der Philosophie. Mit ihm beginnt die moderne Philosophie und damit auch eine neue Ära in der Geschichte der Seele. Nietzsche zufolge war er der Auslöser späterer Veränderungen: »Seit Descartes – und zwar mehr aus Trotz gegen ihn als auf Grund seines Vorgangs – macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff« (Jenseits von Gut und Böse § 54). Der neue Status der Seele hängt mit Descartes’ Einführung des Subjekts zusammen, mit dem »Ich der Gedanken«, das den alten Seelenbegriff der Philosophie auf vielerlei Weise ersetzt. Der Franzose René Descartes wurde 1596 geboren und starb 1650 als Privatlehrer Königin Christinas von Schweden in Stockholm, wo er sich in der Winterkälte eine Lungenentzündung zugezogen hatte. Seine Familie gehörte dem niederen Adel an, was ihn sein Leben lang versorgte. Als er acht Jahre alt war, wurde sein Vater Witwer und schickte ihn auf ein Internat, die bekannte Jesuitenschule La Flèche. Die Jesuiten waren zwar autoritär und dogmatisch (Descartes zerstritt sich bald mit ihnen), doch sie verstanden die Bedeutung guter Bildung für die Entwicklung eines Kindes. Descartes lernte, ebenso gut auf Latein wie in seiner Muttersprache zu schreiben. Das einzige Fach, das er wirklich schätzte, war jedoch die Mathematik, der er sein Leben lang treu blieb. Er wurde selbst ein großer Mathematiker und gilt als Mitbegründer der analytischen Geometrie. Auf der Jesuitenschule studierte er auch scholastische Philosophie, in welcher – wie wir uns erinnern – die Eigenschaften der Seele eine wichtige Rolle spielten. Die philosophische Seelenforschung beschäftigte ihn ebenfalls für den Rest seines Lebens. Nach La Flèche studierte Descartes Jura, doch er wurde nie praktizierender Jurist. Stattdessen reiste er als Söldner durch ganz Europa – wir Descartes’ denkende Seele

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befinden uns im Dreißigjährigen Krieg – und traf viele bedeutende Denker. Später ließ er sich in den protestantischen Niederlanden nieder, die damals die freisinnigste Nation Europas waren. Auch die jüdische Familie des etwas jüngeren Spinoza hatte dieses Land gewählt, nachdem sie wenige Generationen zuvor von der Inquisition aus Spanien vertrieben worden war. René bekam eine Tochter mit einem Dienstmädchen, die er bei sich aufnahm. Im Alter von fünf Jahren starb sie in den Armen ihres Vaters, ohne dass er etwas für sie tun konnte. Der Tod der Tochter brachte Descartes zu dem Schluss, dass man im Leben auf alle Zufälle vorbereitet sein musste. Was Descartes zum Begründer der modernen Philosophie macht, ist sein Beschluss, nur sicheres Wissen zu suchen und dessen Grundlagen zu erforschen. Je mehr er die Grundlagen des etablierten Wissens erforschte, desto klarer wurde ihm, dass es auf Gewohnheitsdenken, Glauben und Konventionen beruhte. Im Geist der Zeit versuchte man, den großen Denker der Antike, Aristoteles, mit christlicher Theologie zu vereinen, doch daraus entstand kein neues Wissen; das Ergebnis war quasi vorgegeben. Descartes hingegen folgte seiner intellektuellen Neigung und wollte die Prinzipien und Methoden finden, durch die man sicheres Wissen erlangt, das auf logischer und kausaler Notwendigkeit aufbaut. Um nicht ein weiteres Luftschloss zu bauen, wählte Descartes den radikalen Zweifel als Ausgangspunkt: Er zweifelte alles an, was man nicht sicher wissen konnte, de omnibus dubitandum. Das Problem wurde als sogenannter kartesianischer Zweifel bekannt: »Ich zweifle«, dubito. Dass ich zweifle, kann jedoch kaum bezweifelt werden, ohne sich selbst zu widersprechen. Außerdem benötigt der Zweifel das Denken, welches grundlegender als der Zweifel ist. So überwindet Descartes den Skeptizismus mit den Mitteln des Skeptizismus und gelangt zur Grundlage sicheren Wissens: »Ich denke«, cogito. Diese eine Gewissheit kann selbst der Gedanke nicht aufheben. Deshalb kann Descartes auch mit Sicherheit schließen: ergo sum, »also bin ich«. Der Denkende ist immer ein Ich. In seinem ersten Buch Discours de la méthode von 1637 heißt der Leitspruch auf Französisch: Je pense, donc je suis. Er wurde zu Descartes’ archimedischem Punkt, von dem aus er die europäische Philosophie in Bewegung brachte. Von diesem allgemeingültigen Grundprinzip aus, meinte Descartes, könne man über alles in der Welt Schritt für Schritt seine Schlüsse ziehen, solange man keine logischen Fehler beginge. Die deduktive Methode wurde zur 134

Descartes’ denkende Seele

Grundlage der modernen Wissenschaft, insbesondere der Mathematik und der neuen Naturwissenschaften.

* Im historischen Drama der Seele spielt Descartes eine ebenso entscheidende Rolle wie Platon oder Augustinus. Er steht für den Übergang von der unsterblichen, gottgegebenen Seele des Mittelalters zur abstrakt denkenden Seele als Synonym für das moderne Selbst, das Subjekt mit Bewusstsein. Gemeinsam mit Montaigne, den er gründlich studiert hatte, und Shakespeare kann er als »Erfinder« des modernen Menschen gelten. Im Bund mit anderen Denkern der Renaissance markiert dieses Trio den Beginn der Auflösung der christlichen Seele, auch wenn dies keineswegs Descartes’ Absicht war. Er wollte keinen Konflikt mit der Kirche und suchte deshalb eine neue Synthese aus Philosophie, Wissenschaft und Theologie. Bei Montaigne ist die Seele leer, bei Shakespeare ist sie durch komplexe psychologische Motive und leidenschaftliche Begierden ersetzt. Auch Descartes richtet den Blick nach innen, doch er intellektualisiert die Seele, indem er Augustinus umdeutet: in interiore homine habitat veritas (»Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit«, De vera religione 39. 72). Wo Montaigne ewig »in sich selbst kreist« und Leben und Natur akzeptiert, wie sie sind, wendet Descartes dem äußeren, empirischen Leben den Rücken zu und richtet den Blick auf das innere Gedankenleben und die Vernunft des Subjekts. Bei ihm wird das Bewusstsein zum Objekt der Seelenlehre und die Introspektion zu ihrer Methode. Die Seele wird zum Medium des Gedankens, ja zum Gedanken selbst. Im Folgenden erklärt er, wie er zu seinem Leitsatz kam: Ich forschte nun, Wer ich sei. Ich fand, dass ich mir einbilden konnte, keinen Körper zu haben, und dass es keine Welt und keinen Ort gäbe, wo ich wäre; aber nicht, dass ich selbst nicht bestände; vielmehr ergab sich selbst aus meinen Zweifeln an den anderen Dingen offenbar, dass ich selbst sein müsste; während, wenn ich aufgehört hätte zu denken, alles Andere, was ich sonst für wahr gehalten hatte, mir keinen Grund für die Annahme meines Daseins abgab. Hieraus erkannte ich, dass ich eine Substanz war, deren ganze Natur oder Wesen nur im Denken besteht, und die zu ihrem Bestand weder eines Ortes noch einer körperlichen Sache bedarf; in der Weise, dass dieses Ich, d. h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, vom Körper ganz verschieden und selbst leichter als dieser zu erkennen ist; ja selbst wenn dieDescartes’ denkende Seele

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ser nicht wäre, würde die Seele nicht aufhören, das zu sein, was sie ist (Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen Vierter Abschnitt).

Mit dieser Aussage betont Descartes, dass die Seele, obwohl sie immateriell ist, Substanz hat und den Körper überleben kann. Die substanzielle Seele des Mittelalters scheint weiter zu existieren, doch sie hat eine Metamorphose durchgemacht. Obwohl Descartes hier das Wort âme (Seele) benutzt, umfasst es für ihn auch esprit (Geist). Auch auf Latein benutzt er sowohl mens als auch spiritus als Synonyme für anima. In den 1641 erschienenen Meditationes vertieft er seinen Standpunkt: Ich lasse jetzt nur das zu, was nothwendig wahr ist. Ich bin also genau nur ein denkendes Ding (res cogitans), d. h. eine Seele oder ein Geist oder ein Verstand oder eine Vernunft, Worte von einer mir früher unbekannten Bedeutung; aber ich bin ein wirkliches Ding, was wahrhaft bestellt. – Aber welches Ding? – Ich habe gesagt: ein denkendes. (Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie II, § 6).

So bereitet Descartes den Boden für die Identifikation der Seele mit der Vernunft und dem Selbstbewusstsein, mit dem Gedankensubjekt. In seiner Welt fungiert das Bewusstsein als Seele. Das Denken konstituiert die anima als das Wesen oder die Substanz einer Person. Damit reißt er die Seele vom Körper los. Viele betrachten dies als größten Fehler in Descartes’ philosophischem System, der zu einer dualistischen Unterscheidung zwischen Körper und Seele führe. Descartes trennt die beiden nicht bloß, sondern wertet die Seele als Denkfähigkeit auf und reduziert den Körper zur physischen Materie. Jedoch wertet er den Körper nicht nach mittelalterlichem Muster moralisch ab, sondern gibt ihm seinen Platz entsprechend der Naturwissenschaft der neuen Zeit, die sein Wahrheitsideal war. Weil der Körper Materie ist, kann er auch kausal erklärt werden. Auf dieser Basis versteht Descartes den Körper mechanisch, wie ein Uhrwerk. In seinem Weltbild ist die ganze Natur eine große Maschine. Das mechanische Körperverständnis machte Schule und wurde von einigen Philosophen der Aufklärung weitergeführt, unter anderen von dem Franzosen J. O. de La Mettrie, der sich in seinem viel zitierten Werk L’Homme Machine (Der Mensch als Maschine) direkt auf Descartes’ Traité de l’homme (Abhandlung über den Menschen) aus dem Jahr 1633 bezieht. Abgeschreckt von Galileis Schicksal, hatte Descartes die Abhandlung seinerzeit nicht veröffentlicht. 136

Descartes’ denkende Seele

Wenn Descartes sowohl dem Körper als auch der Seele Substanz zuerkennt, resultiert dies in einer Zwei-Substanzen-Welt, eine problematische Lösung, die die Nachwelt überwinden musste, besonders was die Vorstellung einer immateriellen seelischen Substanz angeht. Außerdem trennte Descartes die Seele auch vom empirischen Leben, um sie ausschließlich mit dem Verstand zu verknüpfen. Sein Natur- und Körperbild hat ihn zum Prügelknaben der Romantiker, Naturliebhaber und Öko-Holisten gemacht, die für den kartesianischen Geistesmenschen keinen Sinn haben. Doch zu Descartes’ Zeit war die Biologie noch keine Wissenschaft. Die Physik dominierte, und die Anatomie war im Begriff, den Menschen umzudefinieren.

Die anatomische Jagd auf die Seele Die naturwissenschaftliche Revolution der Renaissance beruht hauptsächlich auf der exakten Beobachtung der Wirklichkeit. Wer Zusammenhänge erforschen wollte, musste nachsehen. Genau dies taten die damaligen Anatomen von Andreas Vesalius (1514–1564) bis William Harvey (1578– 1657). Sie bezogen ihr Wissen über den menschlichen Körper aus der Sektion von Leichen, die sie zum Teil noch heimlich durchführen mussten. Häufig waren dies die Leichen Hingerichteter, da die Anatomen nur so an »frisches Material« kamen. Noch war die Sektion verrufen und vielerorts verboten. Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs (1628), musste die meisten Untersuchungen an Tierkörpern vornehmen. Die alten Dogmen bestimmten weiterhin die Schulmedizin und die meisten inneren Krankheiten wurden noch immer mit Galens spätantiker Lehre der vier Körpersäfte erklärt. Entsprechend bestand die »Psychologie« noch immer aus der Temperamentenlehre, die bis auf Hippokrates zurückgeht. Descartes kannte die neuen Prinzipien der Anatomie, er nahm persönlich an Sektionen teil, um herauszufinden, wie der Mensch zusammengesetzt ist und was sich im Inneren seines Körpers verbirgt. Er wusste von Harveys Entdeckung, erkannte sie jedoch nicht voll an. Seine anatomischen Studien hatten ein anderes Ziel: Er wollte herausfinden, wo die Seele liegt! So gesehen war er eine Art mittelalterlicher Scholastiker, der sich der modernen Naturwissenschaft bedient, um die Existenz der Seele zu beweisen. Descartes glaubte, deren Sitz im Gehirn gefunden zu haben, und zwar in der Zirbeldrüse (glandula pinealis). Da die Zirbeldrüse im Die anatomische Jagd auf die Seele

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Zwischenhirn zwischen den beiden Gehirnhälften sitzt, meinte Descartes, sie verbinde die beiden, ebenso wie sie Körper und Seele verbinde. Fälschlicherweise nahm er an, dass nur der Mensch dieses Organ besitze, was beweise, das nur der Mensch eine Seele habe. Den Schmerz und die möglichen Gefühle der Tiere erklärte er als rein mechanische Reaktion, weshalb er keine Skrupel hatte, Tiere bei lebendigem Leib zu sezieren. In unserem Zusammenhang ist es besonders wichtig, dass die Seele nun im Gehirn gesucht wird. Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel, denn vor der Renaissance vermutete man sie im Herzen, das diesen Ehrenplatz innehatte, seit Aristoteles den Streit zwischen Hirn und Herz als Zentrum des Menschen zugunsten des Herzens entschieden hatte. Das Herz galt nicht nur als Wohnung der Seele, sondern war zu allen Zeiten das Kriterium für Leben oder Tod gewesen. Dass der Tod im Lauf des 20. Jahrhunderts nicht mehr über die Funktion des Herzens, sondern über die des Gehirns definiert wird, zeigt, wie sehr sich das Menschenbild mit dem Fortschritt des medizinischen Wissens verändert hat. Descartes war nicht der Erste, der die Seele mithilfe der Anatomie zu lokalisieren versuchte. Schon Leonardo da Vinci (1452–1519) hatte viele anatomische Zeichnungen nach Sektionen angefertigt und wollte die Seele über ein sinnreiches Koordinatensystem im Gehirn orten. Andere standen solchen Versuchen skeptisch gegenüber. Vesalius zum Beispiel ließ sich auf keine Spekulationen ein, sondern hielt sich an die Observation als Grundlage alles Wissens. Doch die anatomisch-medizinische Jagd auf die Seele hatte spätestens mit Leonardo begonnen und Descartes führte sie weiter. Noch im Jahr 1901 fand eines der obskursten Experimente in dieser Tradition statt. In einer Klinik in Massachusetts wollte der Arzt MacDougall herausfinden, wie viel die Seele wiegt (Fisher 2004). Denn wenn sie existiert und Substanz hat, müsste sie auch ein Gewicht haben. Der Arzt ging davon aus, dass die Seele den Körper überlebt und ihn beim Tod verlässt, also wog er sterbende Patienten vor und nach deren Tod. Er rüstete Sterbebetten mit Präzisionswaagen aus und kam nach etlichen Durchgängen zu dem verblüffenden Schluss, dass die Seele genau 21 Gramm wiege. Angeblich achtete der Arzt peinlich genau auf Unsicherheitsfaktoren und mögliche Fehlerquellen wie Flüssigkeitsverlust oder veränderte Körperfunktionen. Er glaubte, die Existenz und Materialität der Seele durch den plötzlichen Gewichtsverlust bei Eintritt des Todes bewiesen zu haben. Seine Ergebnisse wurden in zwei anerkannten medizinischen Fachzeitschriften publiziert und noch heute kursiert der Mythos. Doch solche phy138

Descartes’ denkende Seele

sischen Nachweise psychischer oder paranormaler Phänomene gehören in die Randzone zwischen Wissenschaft und Volksglauben. Sie werden stets ihr Publikum finden, weil sie ein Bedürfnis erfüllen.

Von anima zu ratio In der Geistesgeschichte wird René Descartes immer seinen Platz als Begründer des Rationalismus behalten. Er bediente sich der Wissenschaft seiner Zeit, um seine Philosophie und die Trennung von Körper und Seele zu begründen. Sein mechanistisches Körperbild wirkt noch heute nach, zum Beispiel in der Körperfixiertheit unserer Zeit und der Fitnessindustrie, wo alles von Lungenkapazität und Sauerstoffaufnahme über Puls und Blutdruck bis zu Gehirnaktivitäten gemessen und gewogen wird. Das Verhältnis zwischen Körper und Seele ist gewissermaßen auf den Kopf gestellt. »Der Körper ist die neue Seele«, behauptet der norwegische Psychiater Finn Skårderud. »Der Körper hat die Rolle der Seele als Objekt der Erlösung übernommen« (Aftenposten 28. Dezember 2013). So gesehen wird die Seele noch immer gewogen, sei es bei anorektischen Mädchen oder übergewichtigen Menschen oder Narzissten, die Pillen schlucken und sich beim Gewichte­ stemmen an Messgeräte anschließen. Descartes versuchte ebenfalls, seine Gehirnaktivitäten zu messen. Ihm war klar, dass das Gehirn – und nicht das Herz – den Körper steuerte: »Ich bemerke ferner, dass die Seele nicht von allen Theilen des Körpers unmittelbar erregt wird, sondern nur von dem Gehirn« (Untersuchungen VI, § 20). Er wusste genau, dass Körper und Seele in gegenseitiger Wechselwirkung (Interaktion) auch ein Ganzes bildeten, und versuchte, dies auf nichtdualistische Weise zu begründen: Auch lehrt mich die Natur durch jene Gefühle des Schmerzes, des Hungers, des Durstes u.s.w., dass ich nicht bloß, wie der Schiffer in dem Schiffe, in meinem Körper gegenwärtig bin, sondern dass ich mit ihm auf das Engste verbunden und gleichsam gemischt (permixtum) bin, so dass ich eine Einheit mit ihm bilde. […] Denn offenbar sind diese Empfindungen des Durstes, Hungers, Schmerzes nur gewisse verworrene Arten des Denkens, welche von der Einheit und gleichsam Vermischung der Seele mit dem Körper herkommen. (ibd., § 13)

Descartes verwahrte sich immer mehr gegen den Dualismus und bezeichnet das Verhältnis zwischen Körper und Seele als permixtum – was nicht Von anima zu ratio

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zuletzt als Antwort an seine Kritiker zu verstehen ist. Nachdem er 1644 in Die Prinzipien der Philosophie die Trennung zwischen Körper und Seele beschrieben hatte, befasste er sich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts verstärkt mit dem Zusammenspiel der beiden. Auch auf die Kritik an seinen metaphysischen Untersuchungen (Meditationes) erwiderte er, dass der von ihm beschriebene Körper ganz konkret sein Körper sei. Körper und Seele seien sogar substanziell vereint. Descartes’ Verständnis des Körpers als Maschine ist vielleicht weniger schlimm, als viele denken. Sowohl Körper als auch Seele werden metaphorisch beschrieben, jeder auf seine Weise. »Maschine« ist eine ähnliche Metapher für den Körper wie »Pumpe« für das Herz. Beide stellen wichtige Funktionen von Körper und Herz dar. Harvey hat den Blutkreislauf zu derselben Zeit entdeckt, in der Pumpen und Schläuche als technische Neuerungen der Menschheit den Alltag erleichterten, zum Beispiel bei der Brandbekämpfung. Das Herz als Pumpe und Adern als Schläuche sind analoge Metaphern zu dieser technischen Revolution. Descartes sieht ein, dass es die Ganzheit aus Körper und Seele ist, die einen Menschen ausmacht. Dies zeigt sich unter anderem in den Gefühlen. Sie sind an den Körper gebunden, werden aber auch seelisch erlebt. Diese Wechselwirkung versucht Descartes in Les Passions de l’âme (Die Leidenschaften der Seele, 1649) zu erklären, doch dabei bekommt er Probleme mit seiner eigenen Variante des Dualismus. Weil die Seele mit der Denkfähigkeit verbunden ist, will er verhindern, dass die Vernunft von den Gefühlen verwirrt wird. Deshalb betrachtet er die Gefühle als Einfluss körperlicher Leidenschaften und Begierden auf die Seele und als Bedrohung für das sichere, theoretische Wissen, das die Vernunft liefert. Wie sich gezeigt hat, war dies einer der schwächsten Punkte in Descartes’ Lehre. Erkenntnis lässt sich nicht unabhängig vom Körper und den Gefühlen erlangen. Dies fühlte Descartes’ jüngerer Zeitgenosse Blaise Pascal intuitiv, als er die berühmten Worte äußerte: »Das Herz hat seine Gründe (raisons), die die Vernunft (raison) nicht kennt.« Pascal fand im Übrigen, die Religion könne eine Wahrheit vermitteln, die tiefer ist als jene Wahrheiten, die Descartes der Vernunft und der Mathematik zuspricht. Was wäre die Liebe, wenn sie nicht auch eine Leidenschaft wäre, die dem Leben Sinn und Richtung gibt – eine Richtung, die Descartes’ abstrakte Vernunft nicht geben kann. Der Einwand, dass Descartes die Philosophie vom Sein (der Wirklichkeit) zur Methode und dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit lenkte, ist berechtigt und trifft gleichzeitig den wichtigsten Punkt seiner Philosophie. 140

Descartes’ denkende Seele

Wenn nicht plötzlich jemand nach der Grundlage des Wissens geforscht und die Gültigkeit bestimmter Gedankengänge hinterfragt hätte, wären wir nie aus dem Mittelalter herausgekommen. Ein weiterer Einwand gegen Descartes’ Seelenbegriff lautet, dass die Seele, deren Existenz er deduktiv zu beweisen versucht, eine abstrakte, allgemeine Seele ist, und keine konkrete, individuelle. Vielleicht hat er am falschen Ende begonnen. Sein Prinzip kann nicht der persönlichen Seele gelten, denn um diese zu erforschen, muss man induktiv vorgehen und vom Individuellen aus abstrahieren (wie es die englischen Empiristen später taten). Dennoch lässt Descartes der Seele Spielraum für persönlichen Inhalt, indem er sie mit dem Bewusstsein des Individuums verknüpft. Durch die Verbindung mit der menschlichen Denkfähigkeit befreit er die Seele von dogmatischer Moral. Jesus erwähnt er kein einziges Mal, das heißt, er befreit sie auch vom Dogma ihrer Erlösung durch das Opfer anderer oder stellvertretendes Leiden. Im Mittelalter war festgelegt, was die Seele, anima, war. Dies ändert sich mit Descartes, denn wie wir gesehen haben, benutzt er verschiedenen Begriffe für die Seele: auf Latein mens, ratio und anima, auf Französisch esprit, raison und âme. Hinzu kommen intellectus und cogitatio/ pensée (Gedanke). Anima benutzt er mit der Bedeutung »denkende Seele« – der Teil, der im Mittelalter seit Augustinus mit dem Maskulinum animus bedacht wird. Bemerkenswerterweise verschwindet diese Form, nachdem mens und esprit ihre Bedeutung übernommen haben und das französische raison (Vernunft) auf dem Vormarsch ist. Dass Descartes verschiedene Wörter für die Seele benutzt, bedeutet, dass er damit nicht dieselbe Seele wie früher meint, sondern ein differenziertes geistiges oder intellektuelles Inneres. Sein Gebrauch der unterschiedlichen Begriffe untergräbt die Behauptung, die Seele habe eine einheitliche Substanz. Diesen Ansatz greifen die schottischen und englischen Philosophen später auf, um sein Erbe fortzuführen.

Von anima zu ratio

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DIE AUFGEKLÄRTE SEELE

Nature and Nature’s laws lay hid in night: God said, Let Newton be! And all was light. (Alexander Pope)

GOTT, NATUR ODER VERNUNFT – IN DER BESTEN ODER SCHLECHTESTEN WELT

Kann die Seele eine Zeit überleben, deren Wirklichkeitsbild nur auf Vernunft, logisch-rationaler Argumentation und wissenschaftlichen Beweisen beruht? Diese Frage beherrscht den Diskurs über die Seele im gesamten 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung und des Rationalismus, besonders in der zweiten Hälfte. Wenn die Wissenschaft erklären kann, was im Universum und in der physischen Natur geschieht, wird Gottes Existenz und Allmacht fast automatisch infrage gestellt. »Ich brauche diese Hypothese nicht«, antwortete der französische Mathematiker und Philosoph Laplace, als Napoleon fragte, wo in seinem System sich Gott befinde. Brauchte man da noch eine göttliche und unsterbliche Seele, um die Natur des Menschen zu erklären? Das Gewohnheitsrecht der Seele als Zentrum des Menschen und Maßstab des Lebens stand auf dem Spiel. Ebenso ließ sich der Mensch als ein Stück Natur erklären, das sich nach den physikalischen Naturgesetzen verhält. Diese Diskussion hatte bereits im 17. Jahrhundert begonnen, weshalb wir ihr im Kielwasser von Descartes’ radikalem Zweifel und seiner neuen Variante des Dualismus folgen. Mit der wissenschaftlichen Revolution wurde es für die Seele zum Problem, dass sie weder eindeutig identifizierbar noch wissenschaftlich nachweisbar war. Dass Descartes mit dem Seziermesser nach ihr suchte, bestätigt nur die Krise der Seele in der Neuzeit. Der Dualismus zwischen Körper und Seele als zwei selbständigen Substanzen, welcher Descartes’ modernem Menschenbild zugrunde liegt, verstärkt diese Krise nur. Um die Seele und die Einheit des Menschen zu retten, versuchen die Denker nach Descartes, den schon zu seinen Lebzeiten kritisierten Dualismus wieder zu überwinden. Gott, Natur oder Vernunft

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Eine Möglichkeit schlug der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677) vor. Er erdachte eine ganzheitliche Lösung in Form eines Naturalismus oder Pantheismus. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) verbreitete einen neuen Monismus, eine Einheitslehre. Eine dritte Lösung wurde als Okkasionalismus bekannt und vor allem von dem Franzosen Nicolas Malebranche (1638–1715) verfochten. Sie blieb bei Körper und Seele als getrennten Bereichen und setzte Gott als Vermittler zwischen den beiden ein. Ein Beispiel: Wenn man sich in den Finger sticht, schickt der »Sinnesapparat« des Fingers ein Signal an Gott, der die Information an die Vernunft und das Bewusstsein weitergibt, die wiederum dem Finger befehlen, wie er reagieren soll. Die Theorie war ein Versuch, die neuen Wissenschaften mit dem Glauben zu vereinen, indem man Gott zur Quelle der Naturgesetze erklärte. Obwohl der Okkasionalismus eine Kuriosität in der Geschichte der Seele darstellt, ist diese Spielart des Deismus typisch für den Übergang von einer religiösen zu einer wissenschaftlichen Weltanschauung während der Aufklärung. Sogar heute spielt sie noch eine Rolle – man denke nur an das Stichwort intelligent design als Erklärung der Schöpfung. Spinozas Antwort auf den Dualismus erwies sich als wesentlich langlebiger. Die Romantiker, insbesondere Goethe, waren von seinem pantheistischen Ganzheitsdenken begeistert: Mensch und Natur werden von demselben Prinzip durchströmt. Spinoza hatte große Bedeutung für die Aufklärung, insbesondere für die französischen Materialisten, denn für ihn sind »Gott« und »Natur« Synonyme: Deus sive natura, Gott oder Natur. Diese Worte wurden umgedeutet zu: »Natur anstelle von Gott«. Noch heute wirkt Spinozas Philosophie nach, zum Beispiel bei Ökophilosophen wie dem Norweger Arne Næss. Hegel ging so weit, zu sagen: »Wenn man anfängt zu philosophieren, so muss man zuerst Spinozist sein.« (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 165) Spinoza betrachtete Seele/Bewusstsein und Materie/Natur als zwei Seiten ein und derselben Sache, was er in seinem damals ketzerischen Hauptwerk Ethik (1677) darlegt. Darin geht es nicht um Ethik im moralischen Verstand, sondern um die Erkenntnis. Der Mensch ist zum Wissen verpflichtet. Spinoza gelangt zu der Erkenntnis, dass es nur eine Substanz gibt, nämlich die Natur, die jedoch zwei Formen der Existenz hat. Die eine (Natur/Materie) hat »Ausdehnung«, die andere (Denken/Geist) nicht. Spinoza lehnte die Vorstellung einer persönlichen Gottheit ab und sah das Göttliche in den Gesetzmäßigkeiten der Natur, denen auch der Mensch unterliegt. Die Seele macht dabei keine Ausnahme. Wenn sie, wie alles 146

Gott, Natur oder Vernunft

andere in der Natur, danach strebt, das ihr innewohnende Wesen zu verwirklichen, verliert sie jedoch die individuellen Züge, die ihr für gewöhnlich zugeschrieben werden. Denn ihr Ziel ist es, im Prinzip der »kosmischen Notwendigkeit« aufzugehen, das über allem steht. Leibniz sah die Welt als integrierte Ganzheit, die aus vielen unteilbaren und unvergänglichen Substanzen zusammengesetzt ist, die er Monaden nannte. Seine pluralistische Idee erinnert an die antike Theorie der Atome, doch die menschlichen Monaden sind gleichzeitig individuelle Seelen mit inneren Prozessen und einer eigenen Perzeption, die ihren Platz und ihr Ziel in der universalen Hierarchie durch ihre jeweilige Eigenart bestimmen. Die menschlichen Monaden sind frei und zur Selbstreflexion fähig, die Seele ist ihr formgebendes Prinzip. Wir können uns gut vorstellen, welches Dilemma es für eine fortschreitend aufgeklärte Gesellschaft bedeutete, dass die wissenschaftliche Erklärung der Welt zwar Schritt für Schritt akzeptiert, aber noch nicht auf die mentalen und seelischen Seiten des Lebens angewendet wurde. Die vielen Paradoxe und Widersprüche, die sich mit dem wissenschaftlichen Fortschritt ergaben, machten es auf Dauer unmöglich, ein religiös begründetes Welt- und Seelenbild aufrechtzuerhalten. Wie könne Gott so viel Leid und Bosheit zulassen, fragt der französische Skeptiker Pierre Bayle, wenn er gut und allmächtig sei. Als Antwort auf diese Frage veröffentlicht Leibniz 1710 seine Essais de Théodicée, eine Rechtfertigung von Gottes Allmacht und Weisheit. Seine Schlussfolgerung lautet, dass wir trotz allem in der besten aller möglichen Welten leben, in der die Freiheit des Menschen eine wesentliche Bedingung ist. Voltaire widersprach Leibniz’ Theodizee auf das Heftigste (in Candide, 1759) und führte das verheerende Erdbeben in Lissabon 1755 als Beweis gegen Gottes Güte und Allmacht an, denn wie könnte Gott zulassen, dass viele Tausend Unschuldige getötet oder verstümmelt wurden, unabhängig von ihrem Glauben oder Lebenswandel. Arthur Schopenhauer behauptete 100 Jahre später das genaue Gegenteil von Leibniz, nämlich dass wir in der schlimmsten aller möglichen Welten leben. Er sah die Welt kurz vor dem Zusammenbruch und lehnte den philanthropischen und religiösen Optimismus als »wahrhaft ruchlose Denkungsart« und »bitteren Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit« ab (Die Welt als Wille und Vorstellung § 59). Und wenn man den verstocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarethe und chirurgische Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern Gott, Natur oder Vernunft

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und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finstern Behausungen des Elends, wo es sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnen und zum Schluss ihn in den Hungerthurm des Ugolino blicken lassen wollte; so würde sicherlich auch er zuletzt einsehn, welcher Art dieser meilleur des mondes possibles ist. (ibd.)

So weist Schopenhauer den Fortschrittsglauben der Aufklärung zurück und schließt sich Hobbes’ misanthropischem Menschenbild an. Entscheidend für diese Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, in deren Zug Wunder bezweifelt und die gottgegebene Seele als Zentrum des Menschen abgelehnt wird, sind die Beiträge englischer und schottischer Philosophen. Sie vertreten eine neue Denkweise, welche die spekulative Metaphysik ablehnte, die Schopenhauer »Schreibtischphilosophie« nannte.

Body & mind – neues Begriffspaar und eine empirische Seele Der größte Beitrag der englischsprachigen Welt zur Philosophie ist der Empirismus, die Erfahrungsphilosophie, die John Locke und Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert begründeten und die David Hume im 18. Jahrhundert vollendete. Erfahrung wird darin hauptsächlich als Sinneserfahrung definiert (daher auch Sensualismus), doch sie schließt auch Fakten ein, die durch Observation bewiesen werden. Mit anderen Worten: Man soll nur an das glauben, was man sinnlich erfassen kann oder was nachweisbar geschehen ist. Was geschieht dann mit der Seele? Ist sie sinnlich erfassbar oder kann sie selbst fühlen? Wenn sie sinnlich ist, ist sie dann auch materiell? So jedenfalls lautete Hobbes’ These und Lockes Hypothese. Dies widerspricht der früheren Auffassung, dass die Seele per definitionem immateriell sei. Und wenn sie materiell ist, stirbt sie folglich auch mit dem Körper? Was soll man mit ihr anfangen, wenn sie dem Menschen nicht helfen kann, den Tod zu überwinden? Der Zweifel der Empiriker an der Seele provozierte die Öffentlichkeit des 17. Jahrhunderts und so wurde der Protestant Hobbes für mindestens 100 Jahre zum Sündenbock der Verteidiger eines christlichen Menschenbildes. Thomas Hobbes’ (1588–1679) Menschen- und Gesellschaftsbild war eine wichtige Voraussetzung für Locke und Hume. Er war ein Zeitgenosse Descartes’, mit dem er einen kritischen Briefwechsel pflegte. In seinen 148

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Objections blies er zum Angriff gegen Descartes’ strikte Trennung von Körper und Seele und behauptete, die Seele könne nur körperlich sein, sofern sie existiere. Hobbes befasste sich mit dem Zusammenspiel von Körper und Geist, womit er den Weg für ein neues Verständnis des Psychosomatischen bahnte. Der Denkende ist ein körperliches Subjekt, eine Person und keine immaterielle Seele. Hobbes’ Körperbild ist materialistisch (oder naturalistisch) und mechanistisch, weshalb Descartes ihn einen Plagiator nannte. Er behauptete, alle Wesen existierten als körperliche Wesen (bodies) – auch Gott, der seiner Meinung nach einen ätherischen Körper hatte (und deshalb sterblich war). Body (Körper) und Substanz waren für ihn eins; die Existenz einer immateriellen Substanz bezeichnete er als Hirngespinst. Natürlich geriet er mit dieser Ansicht in Konflikt mit den christlichen Lagern Englands, die selbst miteinander im Krieg lagen. Es war die Zeit des Englischen Bürgerkriegs, die Zeit Cromwells. Republikaner kämpften gegen Royalisten, Anglikaner gegen Katholiken, König Karl I. wurde enthauptet. Der Krieg zwang Hobbes ins Exil nach Frankreich, wo er sich auf Staats- und Rechtsphilosophie konzentrierte. Sein Interesse richtete sich vermehrt auf dieses Leben, nicht das jenseitige. Die wichtigste Frage dabei war, wie man den Krieg, das größte Übel, vermeiden und Frieden bewahren konnte. »Friede ist nicht das Beste, sondern dass man etwas will!«, proklamierte der norwegische Nobelpreisträger Bjørnstjerne Bjørnson in einem Gedicht. Doch genau dies sei das Problem, meint Hobbes, dass der Mensch einen Eigenwillen in Form von Machtwillen habe, der erst mit dem Menschen selbst sterbe. Deshalb brauche es starke Kräfte, um den Egoismus des Menschen zu zügeln und das Wohl aller, das commonwealth, zu fördern. Letzteres wurde zum Kernbegriff in Hobbes’ politischer Philosophie, die er in seinem Hauptwerk Leviathan (1651) darlegte. Hobbes war der Erste, der das Verhältnis zwischen Regierten und Regierung als Vertragsverhältnis begriff, das auf einem Gesellschaftsvertrag beruht. Er machte sich keine Illusionen über die menschliche Natur. Man müsse davon ausgehen, wie die Dinge stehen, und nicht, wie sie im moralischen Idealfall stehen sollten. Im Naturzustand ist der Mensch des Menschen Wolf: homo homini lupus oder jeder gegen jeden, bellum omnium contra omnes (De Cive, 1642). Hobbes’ desillusionierte Beschreibung des gesetzlosen Naturzustands (alias Bürgerkrieg) ist in unser kulturelles Vokabular eingegangen: »Das Leben des Menschen ist einsam, arm, elend, nicht besser als das eines Tieres und kurz« (and the life of man, soliBody & mind

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tary, poor, nasty, brutish, and short) (Leviathan Kap. 13). Denn der Mensch ist unverbesserlich egoistisch. Vor diesem destruktiven Naturzustand retten ihn nur drei Mächte, die dem Menschen ebenfalls innewohnen: Furcht, Hoffnung und Vernunft (nicht Glaube, Liebe, Hoffnung!). Die Vernunft spornt ihn an, friedliche Lösungen zu seinem Besten zu finden. Die Furcht vor anderen veranlasst ihn, freiwillig Macht an einen Souverän abzugeben. Deshalb sollte die Gesellschaft einen starken (legitimen) Anführer haben, einen Alleinherrscher, der seinen Untertanen im Gegenzug Sicherheit für Leben, Eigentum und Handel garantiert. Diesen Souverän sollten die Menschen mehr als Gott fürchten, um ein besseres Leben zu genießen. Auch innerhalb des Individuums finden Kämpfe statt. Als Instanz der Vernunft hat die Seele die Aufgabe, die Affekte zu beherrschen und somit das Gleichgewicht im Körper zu bewahren. Entsprechend benutzt Hobbes den Begriff soul (soule) auch analog für den Herrscher (König), der die Seele des zivilen Staates ist. Es wird wenig beachtet, dass das »religiöse Problem« eine Grundlage des Leviathan ist, dessen am häufigsten übersehene Teile III und IV von der Religion, das heißt dem Christentum handeln. Davon zeugt schon der volle Titel des Werks: Leviathan Or the Matter, Forme and Power of A Commonwealth Ecclesiasticall and Civil (Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens). In den besagten Teilen analysiert Hobbes die Grundlagen zur Errichtung des »Königreichs Gottes« auf Erden: »the kingdom of God is to be on earth« (Kap. 38). Das alarmierende Gegenstück nennt er »kingdom of darkness« (Reich der Dunkelheit). In Wirklichkeit jedoch diskutiert er die Grundlagen eines rein weltlichen Staates, in dem Religion und Politik getrennt sind (vgl. Dumouchel 2000). Hobbes’ Idealgesellschaft beruht auf der Vernunft und dem Naturrecht. So greift er Spinoza, den französischen Philosophen der Aufklärung und sogar Max Weber voraus, der 1904 die »Entzauberung« der säkularen Gesellschaft schilderte. In diesem Zusammenhang äußert Hobbes einen Gedanken über die Unsterblichkeit der Seele, der zu seiner Zeit nur als ketzerisch gelten konnte. Er bezeichnet sie als Fehlinterpretation der Bibel, die ins Reich der Dunkelheit führt. Indem man das Ziel des Menschen im Jenseits und der Unsterblichkeit der Seele sah, wurde der Blick von einem guten irdischen Leben im Einklang mit dem Evangelium abgelenkt. Die körperliche Existenz mit allen fünf Sinnen (engl. sense = Vernunft!) ist jedoch wichtiger als die Unsterblichkeit der Seele. Deshalb lehnt Hobbes die Vorstellung vom »zweiten Tod« der Seele am 150

Gott, Natur oder Vernunft

Jüngsten Tag, der zu ewiger Pein führt, entschieden ab. Nach seiner Vorstellung lösen sich die Seelen der Verlorenen rasch auf, wie beim körperlichen Tod. Nicht die Seele allein ersteht nach dem Schlaf des Todes wieder auf, sondern der ganze Mensch als Körper und Seele. Hobbes glaubt an »the ressurrection of the body, that is to say, the immortality of the man« (Kap. 38). Hobbes starb 1679, hoch geachtet von den europäischen Philosophen seiner Zeit und in hohem Alter, »glad to find a hole to creep out of the world at« (nach Schneider 1958, S. ix). Angeblich waren seine letzten Worte: »A great leap in the dark« – ein großer Sprung in die Dunkelheit, ins Nichts. John Locke (1632–1704) ist der eigentliche Begründer des Empirismus. Er war jedoch kein waschechter Empirist, da sein Denken auch stark rationalistische Züge aufweist, wie aus seinem Hauptwerk An Essay Concerning Human Understanding (Versuch über den menschlichen Verstand, 1689) hervorgeht. Das Buch ist kein Essay, sondern eine dicke Abhandlung, die zunächst in Frankreich erschien, wo Locke sich, wie Hobbes, im Exil befand. Aufgrund wechselnder Bündnisse in England musste Locke sogar zwei Mal dorthin fliehen. Vielleicht rief er deshalb (im Gegensatz zu Hobbes) zur Verteilung der Macht und zu mehr Toleranz auf. Locke litt an Asthma und war seelisch hypersensibel, was vielleicht dazu beitrug, dass er sich von Hobbes’ beinahe machiavellistischer Politik der Furcht distanzierte. Durch seinen Brief über Toleranz – der heute nicht weniger aktuell ist als 1689 – machte er sich zum Sprecher für die Glaubens- und Meinungsfreiheit und damit zum Vorbild französischer Aufklärungsphilosophen sowie der Verfassung der Vereinigten Staaten. Er war ein antiautoritärer und antispekulativer Skeptiker, der jede »Wahrheit« ablehnte, die nicht auf Erfahrungswerten beruhte oder keiner verständigen Reflexion oder Argumentation standhielt. Dies betraf sowohl spekulative Metaphysik als auch die Religion. In unserem Zusammenhang sind vor allem Lockes Menschenbild und seine Erkenntnistheorie interessant, denn sie finden sich in der modernen Seelenlehre wieder. Locke war ein hingebungsvoller Christ, doch durch seinen Zweifel und die Hinterfragung des christlichen Begriffs von Seele, Tod und Leben nach dem Tod trug er dazu bei, dass die Seele an Bedeutung verlor. Unter dem Einfluss seines Freundes Isaac Newton bezweifelte er auch die Trinität Gottes und trat stattdessen für den Unitarismus (Einheitslehre) ein. Bei seiner Suche nach sicherem Wissen stützt Locke, der auch studierter Mediziner Body & mind

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war, seine Menschenkenntnis auf Dinge, die leichter verifizierbar sind als die Seele, zum Beispiel das Gemüt (mind). Schon Hobbes benutzte diesen Begriff für die Vernunft, behielt aber auch die Seele (soule) bei: »By spirit is understood the mind« (Leviathan Kap. 40). Locke benutzt mind durchgehend für Vernunft und Rationalität, nicht soul. Das Gemüt hat zwei Haupteigenschaften: die Denkfähigkeit und den Willen (wie früher die Seele). Mit Locke und den englisch-schottischen Empiristen ändert sich der Sprachgebrauch von anima oder soul(e) zu mind. Besonders er prägt das neue Begriffspaar body & mind. Damit wird die Seele in der englischsprachigen Welt nach und nach zu einem überwiegend religiösen Phänomen und einem theoretischen Begriff. Heute ist ihr Status durch die moderne Hirnforschung, die den Menschen als Body & brain-Ganzheit ansieht, noch tiefer gesunken. Im Gegensatz zu Descartes und den Platonikern seiner Zeit (die besonders in Oxford vertreten waren) war Locke der Meinung, dass unsere Ideen weder gegeben noch angeboren seien. Deshalb glaubte er ebenso wenig, dass irgendwelche Wahrheiten in die Seele eingraviert seien. Überhaupt verneinte er die Existenz eines archimedischen Punkts, von dem aus man sicheres Wissen deduzieren könnte. Unsere Erkenntnis beruht auf Perzeption, also auf sinnlicher Wahrnehmung und Reflexion. Lockes Verständnis der Perzeption ist jedoch nicht rein empirisch, weil die Perzeption durch Ideen strukturiert wird. Ideas gehören demnach zur empirischen Wahrnehmung und zur Reflexion. »Having ideas and perception [are] the same thing« (Essay Buch II, Kap. 1, § 9). Er legt die Vernunft dem Verständnis zugrunde, fordert aber jeden auf, von Tatsachen auszugehen, die man beobachten kann, das heißt empirisch vorzugehen. Was die Immaterialität der Seele und ihr Leben nach dem Tod angeht, gibt sich Locke agnostisch. Im IV. Buch seines Essay behauptet er, es sei vom religiösen Standpunkt her kaum entscheidend, ob die Seele mit dem Körper sterbe, da der Schöpfer uns mit allen Sinnen in einer anderen Welt auferstehen lasse (»restore us to the like state of sensibility in another world«, IV, 3). Er diskutiert ausführlich, ob man die Seele als pures Denken definieren kann. Und wenn die Seele Gedanke ist, wo befindet sie sich dann im Schlaf? Im Schlaf denkt die Seele nicht, weshalb das Denken nicht ausschließlich mit ihr verbunden ist, sondern auch mit dem Körper sowie mit verschiedenen denkenden Wesen. Locke schockierte seine Zeitgenossen mit der Behauptung, dieselbe Seele und derselbe bewusste Gedanke könnten sich in zwei verschiedenen Menschen einnisten. Denn wenn das 152

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Denken den Menschen kennzeichnet, folgt die Seele der gedanklichen Aktivität, und wenn diese ruht, begibt sie sich zu anderen, die denken. So hegt Locke Zweifel an der Substanz der Seele, da Letztere nicht die ganze Zeit denken kann (wie Descartes behauptete). Eine immaterielle Substanz ist für ihn ein Widerspruch. Auch ist er sich nicht sicher, ob der Unterschied zwischen Materiellem und Immateriellem so groß ist, wie Descartes’ Anhänger und die Platoniker seiner Zeit behaupteten. Wieder schockierte er seine Zeitgenossen, indem er fragte, ob nicht auch die Natur und die Materie denken könnten, und fand, dass Gott dies zulassen würde (IV, 3, § 6). Locke wurde deshalb für einen Materialisten gehalten, doch eigentlich drückt seine Frage eher Skeptizismus aus: Man soll die Dinge nicht als selbstverständlich hinnehmen, am wenigsten wenn es um etwas so Diffuses wie die Seele geht. Anthropologisch betrachtet ist die Seele zu Lockes Zeit längst nicht mehr das angeborene, unsterbliche Juwel, das Descartes zu ergründen suchte. Locke zufolge ist das Innere des Menschen ein unbeschriebenes Blatt, eine tabula rasa, und wird erst durch Erfahrungen geformt. Dieses Postulat ist heute im Übrigen widerlegt, sowohl von der Kultur- als auch von der Naturwissenschaft. Die neuere Genforschung hat bewiesen, dass wir mit einem genetischen Erbe zur Welt kommen, das viele unserer Charakterzüge und seelischen Dispositionen vorausbestimmt. Wenn der Mensch als leeres Blatt geboren wird, bleibt bei Locke dieselbe Frage wie bei Montaigne: Wird er das leere Innere füllen, und womit? Lockes Lösung ist erstaunlich fruchtbar, denn er füllt es mit Begriffen, die wir noch heute für die Persönlichkeit eines Menschen benutzen: Bewusstsein (consciousness) und Identität (identity). Er benutzt sie zur Beschreibung des Selbst (the self) und gibt den Wörtern »Person« und »Mensch« (man und human) eine neue Bedeutung, indem er zwischen beiden unterscheidet. Die Person ist das fühlende und denkende Ich, das Selbst mit seinem Bewusstsein. Kurz: Locke vergrößert das sprachliche Repertoire für das Innere des Menschen und befreit das Seelenleben aus dem dogmatisch-theologischen Rahmen. Er ahnte wohl kaum, wie revolutionär der Begriff »Identität« als individuelles und kulturelles Definitionskriterium für den Menschen werden sollte. Die Identität wird gewissermaßen zu einem Schlüsselbegriff des 20. und des zunehmend multikulturellen und globalisierten 21. Jahrhunderts – unter anderem im Namen des Multikulturalismus. Das zweite Buch von Lockes Essay enthält das Kapitel »On Identity and Diversity« Body & mind

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(Kap. XXVII). Dort behauptet er, die persönliche Identität oder das Selbst hänge vom Bewusstsein ab, nicht von der Substanz (»depends on consciousness, not on substance«) – also weder von der Seele noch vom Körper. Bis einschließlich Descartes wurde die Seele als einheitliche, unteilbare und immaterielle Substanz aufgefasst. Beginnend mit Hobbes verliert sie ihre Substanz und wird zu einem Kompositum aus mentalen und materiellen (sinnlich-körperlichen) Bestandteilen. Sie wird zusammengesetzt, ist relativ und veränderlich, nicht einheitlich, angeboren oder gottgegeben. Vor allem muss sie durch bewusste Handlungen und erfahrungsbedingte Begriffe erschaffen werden. Lockes neuer Gebrauch des Begriffs »Identität« schafft eine empirisch brauchbare Definition des Menschen. Gleichzeitig löst sie ein Problem, das durch die Auflösung der seelischen Substanz entstanden war. Solange der Seele Substanz zugesprochen wurde, hatte die Person einen festen und haltbaren Persönlichkeitskern. Doch wie kann man wissen, ob ein Mensch über Jahre hinweg derselbe ist, wenn diese Einheit verschwindet? Der Leerraum wird mit der Identität gefüllt, die das Bewusstsein gibt. Wenn ich mich an meine Eigenschaften und Handlungen erinnere und mir bewusst ist, dass es meine waren, sind und bleiben, bin ich weiterhin identisch mit der Person, die ich früher war. Ich bin derselbe, auf Latein idem. Um aufzuzeigen, wie das Selbst entsteht und dass eine Person dieselbe bleibt, auch wenn das Individuum sich ändert, unterscheidet Locke zwischen man (Person) und human (Mensch). Damit geht er von einem metaphysischen Menschenbegriff zu einem anthropologischen und juristischen Persönlichkeitsbegriff über. Im Gegensatz zu dem allgemeinen Menschen (einer besonderen Tierart) ist die Person ein Vernunftwesen, das sich dank seines Bewusstseins und seiner Erinnerung (memory) selbst erkennt. Indem man sich seiner selbst als Persönlichkeit bewusst ist, übernimmt man Verantwortung für seine Taten, denn es ist dasselbe Ich, das sie ausgeführt hat. Dies ist zum modernen Rechtsprinzip geworden, das zum Beispiel in der rechtspsychiatrischen Feststellung der Zurechnungsfähigkeit Ausdruck findet. Weil es das Bewusstsein ist, das dem Menschen seine Identität gibt, kommt Locke mit einem ketzerischen Gedanken über die Auferstehung. Er meint, dass man am Jüngsten Tag nur für die Taten verantwortlich gemacht werden kann, an die man sich erinnert, weil nur diese zum Bewusstsein der Person gehören (II, XXVII, § 26). In diesem Fall spielt es keine Rolle, in welchem Körper die Seele aufersteht, denn es geht um die Person und 154

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das Bewusstsein, das die bleibende Identität und persönliche Integrität ausmacht. Als Beispiel nennt er die Seele eines edlen Prinzen, der am Jüngsten Tag im Körper eines unmoralischen Kupplers aufersteht. Es macht ihm jedoch nichts aus, denn das Bewusstsein der Seele mit ihrer Erinnerung ist dasselbe, wodurch dieselbe edle Person wie früher entsteht. Ist sich die Person ihrer Taten nicht mehr bewusst, hat sie auch nicht mehr dieselbe Identität. Diese Hypothese brauche ich nicht. (Laplace über Gott)

Der Geist in der Maschine und die französischen Materialisten Das Umdefinieren der Seele durch die Philosophen der Aufklärung war eine logische Konsequenz des neuen wissenschaftlichen Verständnisses des menschlichen Körpers. Viele schlossen sich Descartes’ Sichtweise des Körpers als Maschine oder Uhrwerk an, die dualistisch von der Seele getrennt wird. Doch wenn die Seele trotz dieser Trennung den Körper steuert, muss sie eine Art Geist sein, der die Maschine betreibt – a ghost in the machine, wie Gilbert Ryle (1949) Descartes’ Dualismus charakterisiert. Seit Galilei die gesamte Natur als physische Materie und Gegenstand quantitativer mathematischer Berechnungen definierte, wurde auch der Körper strikt als Materie verstanden. Auch Spinoza galt als Materialist, weil er Körper und Seele als Teile ein und derselben Substanz ansah. Der Körper unterliegt ebenfalls den Gesetzen und Notwendigkeiten der Natur. Sowohl der mechanistische als auch der natürlich-materialistische Naturbegriff wurden von den französischen Aufklärungsphilosophen weiterentwickelt: Die Seele ist ein Teil der physischen oder materiellen Natur. Deshalb nannte man die betreffenden Philosophen Materialisten – und beschuldigte sie des Epikureismus, da Epikur als Begründer des Materialismus gilt. In einer religiös geprägten Gesellschaft war dies eine ernsthafte Anklage, denn wenn die Seele ein Teil der Natur ist, löst sie sich beim Tod auf. Viele Materialisten bezeichneten sogar das Denken als ein Produkt der Natur. (Locke behauptete, Gott könne – allmächtig wie er sei – auch die Materie zum Denken bringen, wenn er dies für gut befände!) Wenn die Seele nicht unsterblich wäre, bräuchte man sich nicht vor der Hölle zu fürchten. Selbst Gott würde überflüssig, wenn die Natur sich allein nach Der Geist in der Maschine und die französischen Materialisten

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universellen Naturgesetzen bewegte. Und wenn Gott überflüssig und die Seele sterblich wären, würde auch die Religion überflüssig. Genau deshalb vertraten viele Denker des 18. Jahrhunderts, insbesondere französische Philosophen der Aufklärung, eine materialistische Denkweise. Sie wollten die Macht der Kirche einschränken, weil diese sie missbrauchte, um den freien Gedankenaustausch zu unterbinden. Dadurch wurde die Seele in die Diskussion über den Status der Religion hineingezogen. Waren Religion und Gottesglaube überhaupt mit einer aufgeklärten, wissenschaftlich und rational begründeten Sichtweise auf das Leben, den Menschen und die Welt vereinbar? All dies bedeutet nicht, dass die Philosophen der Aufklärung automatisch Atheisten waren. Kein einziger der englischen war dies (auch wenn manche dessen beschuldigt wurden) und nur wenige der französischen. Aber sie waren kirchenkritisch. Sowohl Rousseau als auch Voltaire, die größten Sprecher der Aufklärung, waren Deisten. Sie und ihre Gleichgesinnten wollten die Seele vom Joch der Kirche befreien. Diese Befreiung trug zur irdischen Erlösung der Seele bei, damit sie sein konnte, wie der Schöpfer sie gedacht hatte: frei wie ein Vogel und das Adelsmal des Menschen. Sie sollte die Stimme des Gewissens sein, die darauf achtet, dass man seiner Überzeugung folgte, anstatt seine Seele an machtgierige und intolerante Geistliche zu verpfänden, die die Beichte missbrauchten, um schwache Seelen aus Furcht vor Strafe in diesem und dem nächsten Leben an die Kirche und den katholischen Glauben zu binden. Besonders unter den französischen Aufklärungsphilosophen, genannt les philosophes, waren die Diskussion heftig und der Sprachgebrauch freizügig. Zwar erhielten Kirche und Krone die Zensur aufrecht, doch es gab etliche Schlupflöcher. Eine französische Besonderheit waren Kreise, in denen das freie Denken und der freie Meinungsaustausch trotz Zensur möglich waren, allen voran die sogenannten salons wohlhabender Damen. Diese waren auch eine wichtige Institution in der Bildung einer bürgerlichen Psyche im 18. Jahrhundert, als die Bürgerschaft zur dominierenden Klasse wurde und schließlich die französische Revolution von 1789 anführte. Parallel zur politischen Revolution geschah auch eine psychische Revolution. Die Ehrenkultur des Adels verlor ihre Hegemonie und wurde durch die bürgerliche Psyche ersetzt, mit all ihren Komplexen, die durch die Spannung zwischen den alten christlichen Moralregeln (insbesondere bezüglich der Sexualität) und dem neuen Freiheitsideal entstanden waren. Die theoretische Grundlage zur Diagnose und Therapie der bürgerlichen Psyche kam jedoch erst viel später durch Sigmund Freud. 156

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Verfechter des französischen Materialismus waren unter anderen Claude Adrien Helvétius, Julien Offray de La Mettrie, Paul Thiry d’Holbach und Denis Diderot, der Herausgeber der großen Encyclopédie, in welcher der Materialismus in vielen Themen zum Ausdruck kam. Eines der umstrittensten Werke war La Mettries L’Homme Machine. La Mettrie (1709–1751) war Arzt, wie viele andere, die physiologische Erklärungen der Seele vertraten. Er glaubte, die Medizin könne die Frage der menschlichen Seele klären, da der seelische Zustand eines Menschen von dessen Gesundheit und Alter abhängt. Es ist leicht dahingesagt, dass wir dümmer werden und unsere seelische Kraft nachlässt, wenn wir alt und krank werden. Der Mensch ist eine Maschine, zwar die am besten gelungene Maschine der Natur, aber wenn die Mechanik kaputt ist (wie im Fall einer Krankheit), gerät auch das Mentale in Schieflage. La Mettrie zufolge hatten moralische Eigenschaften wie »gut« oder »böse« nichts mit der Seele zu tun, sondern hingen vom physiologischen Zustand des Körpers ab. »Seele« war für ihn nichts anderes als die Vorstellungskraft (Fiktion, sagten manche englischen Empiristen), die den »fantastischen« Teil des Gehirns (partie fantastique du cerveau) ausmachte. Der Titel seines Werks fasst sein Menschenbild zusammen: Der Mensch ist eine aufgeklärte Maschine, alle seelischen Fähigkeiten hängen von seinem Gehirn und seinem Körper ab. »Seele« ist daher ein »leeres Wort«, das nichts anderes als den denkenden Teil in uns bezeichnet (vgl. Schaanning 2013, S. 129). Obwohl die mechanistische und die vitalistische Seelenauffassung bis in unsere Tage hinein eine ungebrochene Tradition in Form biologischer und physiologischer Erklärungen verschiedenster Art darstellen, gelten sie beide als reduktionistisch. Der Mensch lässt sich nicht auf Mechanik oder Biologie reduzieren. Aus diesem Grund konnte der englische Sensualismus – eine Spielart des Empirismus – das konventionelle, religiöse Verständnis der Seele weit effektiver herausfordern. Die Ausgangspunkte der Sensualisten waren nämlich menschliche Selbsterkenntnis und Moral. Sie begannen gewissermaßen mit den eigenen Prämissen der Seele.

Humes Seele: ein Bündel aus Eindrücken Die Diskussion über die kartesianische, rationale Seele mit Wesenskern (Substanz) im Verhältnis zur sinnlichen Seele der Empiriker erreicht mit David Hume (1711–1776) ihren Höhepunkt. Er war einer der einflussHumes Seele

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reichsten englischsprachigen Philosophen – und einer der umstrittensten. Wer sich mit der Frage beschäftigt, was die Seele (soul), das Selbst (self) und die Identität oder der Geist (mind) sind, kommt um Hume nicht herum. Er ist ein Skeptiker auf der Suche nach sicherem Wissen, auch über die Seele – ein Gegenstand, der überhaupt kein Gegenstand ist, sondern sehr schwer zu definieren. Auch Hume zufolge fehlt ihr die Substanz. Er beginnt mit einem Angriff auf Descartes’ Erneuerung und Umdeutung der Substanzen-Metaphysik. Hume fragt nicht nur, ob es einen gleichwertigen Ersatz für das religiöse Seelenbild gibt, sondern ob es überhaupt möglich ist, von einem beständigen Selbst auszugehen, das ein Leben lang besteht. Damit führt er Lockes Gedanken weiter. Als Empirist geht er davon aus, dass wir nur erkennen können, was wir mit unserer Wahrnehmung (perceptions, das heißt den Sinnen im weiteren Verstand) erfassen und erfasst haben. Im Gegensatz zu Descartes vertraute Hobbes seinen Sinnen, denn nur sie geben uns Zugang zur Welt. Doch sicheres Wissen geben sie uns nicht. Der Rest wird in unserem Gehirn zu Ende gedacht und ist mehr oder weniger zuverlässig. Hume geht induktiv empirisch zu Werk, wo Descartes (und später Kant) deduktiv vorgehen, wobei sie die allgemeingültige Vernunft als Ausgangspunkt sehen. Hume betont ebenfalls, dass man wissen muss, welche Art Wesen der Mensch ist, das heißt, von welcher Natur er ist. Man muss erst wissen, ob er eine Seele hat, auf die er achten muss, bevor man etwas über deren Erkenntnis oder Funktion im Ganzen sagt. Humes Hauptwerk »Ein Traktat über die menschliche Natur« (A Treatise of Human Nature, 1739) trägt den programmatischen Untertitel »Ein Versuch, die Methode der Erfahrung in die Geisteswissenschaft einzuführen«. Darin behauptet er, die Wissenschaft über den Menschen (science of human nature) sei die einzig haltbare Grundlage aller anderen Wissenschaften und die Methode dieser Wissenschaft und jeglicher logischen Argumentation sei Erfahrung und Observation. »Die menschliche Natur ist der einzige [eigentliche] Gegenstand menschlicher Wissenschaft; und doch ist ihr Studium bis jetzt am meisten vernachlässigt worden« (1.4.7.14), lautet sein pessimistisches Urteil über die Fähigkeit des Menschen zur Selbsteinsicht. Weil unsere Erkenntnis auf einzelnen, konkreten Sinneseindrücken und Wahrnehmungen beruht, die nicht miteinander zusammenhängen, gibt es auch kein sicheres Wissen, keine universale Gültigkeit oder Notwendigkeit. Die Zusammenhänge werden lediglich durch unser unzuverlässiges Gedächtnis und unser selek158

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tives Bewusstsein geschaffen, und zwar durch das Wiedererkennen von Beziehungen und Erfahrungen. Weil der Ausgangspunkt der Erkenntnis sinnliche Erfahrung über den Sinnesapparat des Körpers ist, lehnt Hume auch Descartes’ Dualismus und dessen Begriffe res cogitans und res extensa ab. Er nennt sie ein Fantasieprodukt, auf das nur ein Narr stolz sein könne. Logisch betrachtet zieht Hume die äußerste Konsequenz aus dem Axiom des Empirismus, dass im Verstand nichts existiere, was nicht zuerst in den Sinnen gewesen sei. Seine Persönlichkeitstheorie gilt noch heute als radikale Herausforderung für das Menschenbild jeder beliebigen Epoche und seine Hauptthese ist ebenso berühmt wie berüchtigt. Er erklärt nämlich das persönliche Selbst als bundle of perceptions, ein Bündel aus Eindrücken oder Wahrnehmungen. Ein dermaßen bedingtes Produkt des menschlichen Sinnesapparats hat wenig mit einer gegebenen Gottebenbildlichkeit (imago Dei) zu tun. Stattdessen entsteht das Selbst nach einem kasuistischen Reiz-Reaktions-Schema, in dem Wiedererkennen und Gleichheit von Sinneserfahrungen Gedankenmuster formen, die das Selbst ins Leben rufen. Eine einheitliche Seele ist Utopie oder Fantasie. Den Gefühlen, Impulsen und Vorstellungen, die wir mit der Seele verbinden, fehlt ein objektives Korrelat, sie werden nur von unserer Vorstellungskraft (imagination) zusammengehalten – und von dem Wunsch, eine Instanz wie die Seele zu erhalten. Humes Erkenntnistheorie ist entscheidend für seine Auffassung der Seele. Als Konsequenz daraus ging er viel weiter als sein geistiger Vater Locke, indem er das Akzidens (die Zufälligkeit) der Seele postulierte. Die Seele ist zufälligen Geschehnissen und Eindrücken unterworfen. Hume findet die Diskussion über die Substanz der Seele völlig unverständlich, »absolutely unintelligible«. Denn weil die Seele eine Vorstellung ist, gebildet auf der Grundlage vieler unterschiedlicher Wahrnehmungen, kann sie auch keine Substanz haben, dies ist logisch betrachtet unmöglich. Auch die Objekte, die »Dinge an sich« gibt es in seiner Theorie nicht. Es gibt nur Wahrnehmungen (perceptions). Diese teilt er in zwei Arten ein: Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas). Letztere sind nicht gegeben. Wenn es keine Seele gibt, gibt es auch keinen Körper »in sich selbst«, sondern nur einen Komplex sinnlicher Perzeptionen, die sich durch die Erfahrung als »Körper« in unserem Sinne herauskristallisieren. Am Ausgangspunkt haben wir keine Vorstellung einer Seele als Wesen, das mit sich selbst identisch ist, denn das Selbst existiert nicht als Einheit: Humes Seele

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Unser Ich oder die Persönlichkeit aber ist kein Eindruck. Es soll ja vielmehr das sein, worauf unsere verschiedenen Eindrücke und Vorstellungen sich beziehen. Wenn ein Eindruck die Vorstellung des Ich veranlasste, so müsste dieser Eindruck unser ganzes Leben lang unverändert derselbe bleiben; denn das Ich soll ja in solcher Weise existieren. Es gibt aber keinen konstanten und unveränderlichen Eindruck. Lust und Unlust, Freude und Kümmernis, Affekte und Sinneswahrnehmungen folgen einander; sie existieren nicht alle zu gleicher Zeit. Also ist es unmöglich, dass die Vorstellung unseres Ich aus irgendeinem dieser Eindrücke oder überhaupt aus irgendeinem Eindruck stamme; folglich gibt es keine derartige Vorstellung. (1.4.6.2)

Wenn es ein Selbst gäbe, das mit sich selbst identisch ist, müsste es immer gleich bleiben, doch so etwas gibt es nicht, nur »ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen« oder Eindrücke, a bundle or collection of different perceptions. In diesem Bündel sind auch die Gefühle enthalten (1.4.6.4). Die Perzeptionen haben zweierlei Ursprung: entweder äußere Wahrnehmung (sensations) oder Selbsterlebnisse (reflexions), darunter die Gefühle (passions, feelings und affections). Für Hume sind die Gefühle grundlegender als die Vernunft. Das bekannteste und gleichzeitig berüchtigtste Zitat aus dem Treatise lautet: »Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.« (2.3.3.4) Das Selbst und die Seele sind die Summe der unterschiedlichen, stets wechselnden Perzeptionen. Wir identifizieren uns mit unseren Gefühlen und Passionen, weil Leidenschaften ausdrücken, was wir wollen. Identität ist ein Gefühl, Bewusstsein hingegen eine Vorstellung. Weil die Seele auf diese Weise zusammengesetzt ist, kann man nicht mehr von ihrer Einheit reden. Die vielen Wahrnehmungen und Eindrücke werden nur durch »certain relations« zusammengehalten, die unser Bewusstsein auf der Grundlage wiedererkannter Erfahrungen und konstruierter Vorstellungen aufstellt. Wir erschaffen die Vorstellung einer einheitlichen Seele selbst, weil unser Assoziationsvermögen Wahrnehmungen, die einander ähneln, zu einem Bündel schnürt. Die wichtigste Beziehung ist die von Ursache und Wirkung, denn sie kann erklären, wie sinnliche Wahrnehmung und Observation zusammenhängen. Hume behauptet vermessen, diese Kausalität werde von unserer Einbildungskraft auf der Grundlage wiederholter, ähnlicher Erfahrungen geschaffen, die wir (fälschlicherweise) in die Zukunft projizieren. Aber wir können die Zukunft nicht auf Grundlage der Vergangenheit erklären – ein Gedanke, den Kant später bestätigte. 160

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David Hume reißt uns in vieler Hinsicht den Boden unter den Füßen weg, nach seinen Prämissen wird es fast unmöglich, an die Existenz einer Seele zu glauben. Zufall und Notwendigkeit sind bei ihm gleich starke und gleich wahrscheinliche Kräfte. Die Welt ist so komplex, dass praktisch alles geschehen kann. In der Philosophie heißt dies Kontingenz. Im Reich der Seele hat es weitreichende Folgen. Aus Erfahrung weiß man, dass man anders hätte handeln können, aber dass die betreffende Entscheidung definitiv war und unvermeidliche Folgen hatte. Folglich muss man auf alles – auch auf den schlimmsten Fall – vorbereitet sein. Die Welt ist kontingent. Erst wenn man kontingent oder kontrafaktisch (»Was wäre, wenn es anders gelaufen wäre?«) denkt, versteht man, wie komplex die Ursachen einer Handlung sind und wie sie Zufälle generieren, die Notwendigkeit (das heißt kausal bedingt) aus dieser Komplexität entstehen. Wer seine Seele erlösen will, muss Kausalität, Kontingenz, Notwendigkeit und Zufall in Betracht ziehen – und folglich die Kunst der Improvisation beherrschen.

Über die Unsterblichkeit der Seele Wenn die Seele ihre Substanz und Einheit verliert, wie Hume behauptet, kann sie unmöglich unsterblich sein. Einzelne Sinneseindrücke können nicht bestehen, ebenso wenig wie die Gedanken, die sie auslösen. Welche Teile der zusammengesetzten Seele könnten dann überleben? In seinem Essay On the Immortality of the Soul (1783) schafft Hume Letztere beinahe ab. Wahrscheinlich wurde er vor allem deshalb des Atheismus beschuldigt und seine Ansichten abgelehnt, denn was wäre das Christentum, wenn der Mensch keine Seele im christlichen Verstand hätte? Hume kommt nach gründlicher Überlegung zu dem Schluss, dass die Menschen nur aufgrund der Autorität der Bibel an der Vorstellung einer unsterblichen Seele festhielten. Letztendlich glaubten sie noch immer aus Furcht vor der Hölle an jene Wunderlehre, die er ablehnte. Selbst wenn die Seele nach dem Tod weiterexistiert, bedeutet dies nicht, dass auch ihr Besitzer weiterexistiert. Die organische Materie des Körpers geht nach dem Tod wieder in den natürlichen Kreislauf alles Organischen ein, und ähnlich könne es sich mit der Seele verhalten, meint Hume. Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du werden. Dann jedoch könne die Seele auch vor der Geburt existiert haben, unabhängig von unserem freien Willen, genau wie die Materie. Da nichts in der Wirklichkeit diesem StandÜber die Unsterblichkeit der Seele

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punkt widerspricht, wird auch das Nachleben der Seele uninteressant, ebenso uninteressant wie die Frage, ob die Seele vor unserer Geburt existiert habe. Wenn sie also unsterblich ist, existiert die Seele auch vor unserer Geburt, und weil diese frühere Existenz uns in keiner Weise berührt, verhält es sich ebenso mit der späteren Existenz. Das Immaterielle liegt ebenso wenig in unserer Verantwortung wie das Materielle, denn wenn die Seele nicht mit unserem Bewusstsein und unserer Erinnerung verknüpft ist, ist sie als Quintessenz unserer Identität nicht von Belang. Und weil sich sowohl das Gedächtnis als auch das Bewusstsein beim Tod – teilweise auch schon im Alter – auflösen, wird auch die persönliche Seele nicht überleben. Folgt man Humes Argumentation, deutet nichts darauf hin, dass die Seele nach dem Tod unverändert weiterexistiert und sich ewig selbst gleicht. Es gibt überhaupt nichts, was ewig hält und sich nie verändert. Damit fällt auch der Glaube an einen unveränderlichen Gott. In einer Welt, die sich in stetem Wandel befindet, gibt es weder Platz für einen ewigen Gott noch Platz für eine ewige Seele. Kurz bevor bevor Hume an einem Krebsleiden starb, bezeichnete er diese Vorstellung als »äußerst unvernünftige Fantasie« (a most unreasonable fancy, Gespräch mit James Boswell, nach Humes Tagebuch, 3. März 1777). Weiterhin schreibt Hume in seinem Essay, wie unangemessen der Gedanke sei, dass die Menschen im Augenblick des Todes plötzlich auf dualistische Weise in zwei Gruppen eingeteilt würden, nämlich die Guten, die ins Paradies kommen, und die Bösen, die in der Hölle landen, wo doch Gut und Böse (zu unterschiedlichen Graden) in jedem Menschen steckten – nur weil jemand erklärt, dass er an Gott und die historisch zufällige christliche Lehre glaube, egal wie moralisch sein Lebenswandel war. Wenn jemand mit dem Vorhaben die Welt durchwanderte, den Rechtschaffenen eine gute Mahlzeit, den Bösen eine tüchtige Tracht Prügel zu geben, so würde ihm oft die Wahl schwer werden und er würde finden, dass Tugend und Schuld der meisten Männer wie Weiber weder das eine noch das andere zu verdienen groß genug sei.

Folglich findet er das Verhältnis zwischen Vergehen und Strafe im Christentum unlogisch, da schon kleine und vorübergehende Sünden zu ewiger Pein führen, während andere, keineswegs bessere Menschen für immer ins Paradies gelangen. »Warum denn ewige Strafen für zeitliche Vergehen eines so schwachen Wesens wie des Menschen?«, fragt er. Dies verstoße schlichtweg gegen den modernen Gerechtigkeitssinn und den common sense. 162

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Humes Hauptargument gegen die Unsterblichkeit der Seele ist jedoch, dass Körper und Seele gar nicht so unterschiedlich seien, wie die Metaphysik und Dogmatik sie darstellten. Vielmehr seien sie intim miteinander verbunden. Er argumentiert von einem naturalistischen Standpunkt aus. In einem anderen Zusammenhang nimmt er bereits Darwins Idee voraus, dass der Mensch nur ein Tier sei, wenn auch ein in der Entwicklung sehr weit fortgeschrittenes, womit er der Auffassung seiner Zeit widerspricht, der Mensch sei nach Gottes Bild fix und fertig geschaffen. Hume hingegen argumentiert: »Die physischen Argumente aus der Analogie der Natur sprechen deutlich für die Sterblichkeit der Seele.« Als Beispiel führt er den Schlaf oder Krankheiten an, welche die seelischen Kräfte schwächen, was besonders im Alter deutlich wird. Dass die Seele eines altersschwachen Körpers plötzlich in voller Frische auferstehen soll, widerspricht jeder Erfahrung und Kenntnis der Natur: »Die letzten Symptome, in welchen der Geist sich äußert, sind Unordnung, Schwäche, Empfindungslosigkeit und Stumpfsinn, die Vorläufer seiner Vernichtung.« Dass die Auflösung des Körpers durch den Tod keine Konsequenzen für die Seele haben soll, entbehrt jeder Logik, denn »alles ist gemeinsam zwischen Leib und Seele. Die Organe des einen sind alle zugleich Organe der andern; daher muss auch das Dasein der einen von dem des andern abhängen.« Überhaupt, schließt Hume, gebe es guten Grund, alle Doktrinen zu bezweifeln, die auf Gefühlen und Leidenschaften beruhen, was beim Glauben der Fall ist. Dies gilt besonders für die Furcht vor der Hölle im Christentum, denn »die Hoffnungen und Befürchtungen, welche dieser Theorie den Ursprung gaben, liegen auf der Hand«. Weil der Mensch in einem Wirrwarr aus Sinneseindrücken lebt, vergleicht Hume den menschlichen Sinn (mind) mit einem Theater. Doch er ist selbst nicht zufrieden mit dieser Metapher, weil es im persönlichen Drama des Selbst keine Schauspieler gibt und die Seele (the soul) nicht imstande ist, der Person Einheit zu geben. Deshalb neigt er zu Lockes Auffassung, dass die Seele eine Fiktion sei. Am Ende des Treatise benutzt er eine andere Metapher. Er vergleicht die Seele mit einer Republik (a republic or commonwealth), deren Integrität auf den Beziehungen ihrer Bestandteile zueinander beruht und nicht auf einer seelischen Substanz oder der festen Dauer einzelner Teile: In dieser Hinsicht lässt sich die Seele am besten mit einer Republik oder einem Gemeinwesen vergleichen, in dem die verschiedenen Glieder durch wechselseitige Über die Unsterblichkeit der Seele

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Bande der Herrschaft und Unterordnung miteinander verbunden sind und zugleich anderen Personen das Dasein geben, welche dieselbe Republik in unaufhörlichem Wechsel ihrer Glieder im Dasein erhalten. Wie eine Republik nicht allein ihre Glieder, sondern auch ihre Gesetze und Konstitutionen wechseln kann, ohne ihre Identität einzubüßen, ebenso kann eine Persönlichkeit nicht nur ihre Eindrücke und Vorstellungen, sondern auch ihren Charakter und ihre Sinnesart wechseln, ohne dabei ihre Identität zu verlieren. Was für Veränderungen auch die Persönlichkeit erleidet, ihre Elemente bleiben immer durch die Beziehung der Ursächlichkeit verknüpft. (1.4.6.19)

Mit der Behauptung, dass wir die Fiktion über die Seele, das Selbst und die Substanz selbst erfinden, steht Hume schon im 18. Jahrhundert als radikaler Konstruktivist da: »So erdichten wir die dauernde Existenz [der Gegenstände] unserer Sinneswahrnehmungen, um die Unterbrechung [dieser Sinneswahrnehmungen] zu beseitigen. [In gleicher Weise] lassen wir uns zu dem Begriff einer Seele, eines Ich, einer [geistigen] Substanz verführen, um die Veränderung [in uns] zu verdecken.« (1.4.6.6) Damit sind wir gewissermaßen zurück am Ausgangspunkt, in der Antike, als die psyche erfunden wurde. Hume endet, wo er begonnen hat: Das Einzige, was dem Menschen das Gefühl gibt, ein Selbst zu sein, ist seine Vorstellungskraft. Sie bündelt die Eindrücke, die den Menschen ausmachen, und ordnet sie durch Verstand, Gewohnheit und common sense. Es ist ein faktischer Mensch, jenseits der Fiktion und der Spekulation, den der Mensch selbst aus dem Strom der Perzeptionen schafft. Obwohl der Seele ein objektives Korrelat fehlt, bewirkt die Vorstellung, die wir von ihrer Ganzheit erschaffen, dass wir uns als integrierte Persönlichkeit begreifen, als ein Selbst. Insofern hält Hume an der Seele fest, denn sie ist gleichbedeutend mit dem Selbst, das er anthropozentrisch und funktionalistisch betrachtet. Dass die Seele ihre Substanz verliert – eine Substanz, über die sich die Philosophen aller Zeiten vergeblich die Köpfe zerbrachen –, muss nicht unbedingt ein Verlust sein, sondern kann auch als Gewinn betrachtet werden. Mit seinem verzweifelten Denken gegen den Strich will Hume dem diesseitigen Leben eine Würde zurückgeben, die es nicht hätte, wenn das Ziel der Seele im Jenseits läge.

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Gott, Natur oder Vernunft

Welch Reichtum für einen Sterblichen! Meine Seele freut sich des himmlischen Frühlingsglücks und nimmt am irdischen teil. (Henrik Wergeland, Mig selv)

DER STERNENHIMMEL ÜBER MIR UND DIE SEELE IN MIR – KANT

Die letzten Worte des größten Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant (1724–1804), lauteten angeblich: »Es ist gut«. Niemand weiß, ob dies seinem Leben und Werk galt, ob er bereit war, seinem Schöpfer gegenüberzutreten, oder ob es einfach ein Dank für den verdünnten Wein war, den man ihm reichte, um seine Kehle zu befeuchten. Den Durst mag Kant gestillt haben, doch sein unendlicher Wissensdurst blieb eher ungestillt. Er wusste, dass er nicht alle Spannungen und Widersprüche, die zum Leben gehören, auflösen konnte. Aber er konnte die Fragen so klar wie kein anderer stellen und die Widersprüche in klare Begriffe fassen, mit denen man weitermachen konnte. Er wurde nie müde, uns über den Unterschied zwischen den Dingen, die wir wissen können, und jenen, die wir nicht wissen können, zu belehren – womit er die Grenzen unseres Wissens erweiterte. Zur letzteren Kategorie gehören unsere Fragen über die Eigenschaften der Seele, ob sie unsterblich oder göttlich ist, ob es sie überhaupt gibt oder ob sie nur eine Idee oder ein Begriff ist. Wenn ja, so ist sie vielleicht eine notwendige Idee, doch wozu und mit welcher Funktion? Denkt man daran, dass die Seele auch als Ausdruck des persönlichen Willens aufgefasst wurde, ist es bemerkenswert, wie früh Kant seine Pläne ausdrückte. Dies geschah nach dem Tod seines Vaters, den er eineinhalb Jahre lang gepflegt hatte. Der 22-jährige Emmanuel Kant, der seinen Namen fortan Immanuel Kant schreiben wird, schreibt: Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen. (Vorkritische Schriften I, AA I, S. 10) Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant

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Und er setzt ihn fort, bis er im Alter von 80 Jahren stirbt, erschöpft von der Arbeit, mit einem Werk, das so umfangreich ist, dass kein einzelner Mensch es in seiner ganzen Tiefe kennen kann. Sein Leben lang bleibt er zielgerichtet und hält strengste Arbeitsroutine ein, was viel über den Mann aussagt. Obwohl es hier um Kants philosophische Sicht auf die Seele und nicht um seine private Seele und persönliche Psyche gehen soll, besteht natürlich eine Verbindung zwischen beiden. Deshalb hier ein paar Worte über Kants Persönlichkeit, die in vielen Biografien geschildert wird. Bereits in seinem Todesjahr erschienen die ersten davon und seitdem hat jede Generation ihre Kant-Biografie bekommen. Es fehlt nicht an psychologischen Diagnosen seines Charakters (vgl. Geier 2004, S. 213 f.). Er soll unter Zwangsvorstellungen, Verdrängung, Lustfeindlichkeit, Narzissmus und vielem mehr gelitten haben. Nach dem Verlust seiner Mutter im Alter von 13 »lebte er nicht mehr« und war für den Rest seines Daseins in einen ödipalen Komplex verstrickt, wurde behauptet. Etwas glaubwürdiger klingen die Begründungen seiner Melancholie, die Kant selbst ausführlich beschrieb, wie hier in der dritten Person: »Weil die Bewegungsgründe in ihm die Natur der Grundsätze annehmen, so ist er nicht leicht auf andere Gedanken zu bringen; seine Standhaftigkeit artet auch bisweilen in Eigensinn aus.« (I, S. 842) Die treffendste Charakterisierung Kants als Person ist wahrscheinlich folgende: »Die wirklichen Ereignisse geschehen im Denken; Kant hat keine andere Biographie als die Geschichte seines Philosophierens.« (Höffe 2000, S. 19) Seine regelorientierte Philosophie lässt sich nicht psychologisieren. Kant ist sein Denken. Seine selbst auferlegte, strikte Arbeitsroutine wurde äußerst selten unterbrochen, jedoch nicht durch Ereignisse, sondern durch Gedanken. Einmal war es die Lektüre von Rousseaus Émile, die ihn seinen täglichen Spaziergang vergessen ließ, ein andermal rissen ihn Humes erkenntnistheoretische Angriffe auf die rationalistische Metaphysik, in der er selbst verankert war, aus dem Gewohnten heraus. Nach Kants eigenen Aussagen weckte ihn Humes Skeptizismus aus seinem »dogmatischen Schlummer«. Als er Humes Erkenntnistheorie in die Hände bekam, durchlief Kant eine philosophische Krise. Er hatte begonnen, an der gängigen Metaphysik und dem programmatischen Rationalismus zu zweifeln, und in diesem Moment ließ Hume die Bombe platzen: Sicheres Wissen ist nicht möglich! Dies widersprach Kants tiefer Überzeugung. Nein, es musste mehr 166

Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant

geben und nicht nur ein sichereres Wissen als ein Bündel aus Sinneseindrücken! Es gab etwas Allgemeingültiges, eine Norm. Das Streben nach gültigen Werten, an denen man sich orientieren kann, ist der Motor in Kants Seele. Wie ernst er seine seelisch-intellektuelle Suche nahm, zeigt sich in der Länge der Krise. Er brauchte zehn Jahre, um die Problemstellung zu klären, bis er in einem für eine intellektuelle Neuschöpfung relativ hohen Alter die Antwort auf Humes Skepsis parat hatte. Kant war weit über 50, als er 1781 die erste Ausgabe seines Hauptwerks Kritik der reinen Vernunft veröffentlichte. Mit diesem schuf er eine neue Grundlage für eine Metaphysik des kritischen Denkens. Kant reagierte besonders auf die Hauptthese Humes und des Empirismus, nämlich dass Wahrnehmung und Erfahrung nicht nur die wichtigsten, sondern im Prinzip die einzigen Quellen der Erkenntnis seien. Kant ignoriert keineswegs die Bedeutung der Sinne für die Erkenntnis, doch die Vernunft kommt bei ihm an erster Stelle, weil sie es erst möglich macht, das zu verstehen, was unsere Sinne erfassen, und zwar auf der Basis gegebener Denkmuster. Die Welt entsteht quasi in unserem Kopf, behauptet er, da wir keinen anderen Zugang zu ihr haben als über unsere Fähigkeit zum Verstand (die auch die Sinne umfasst). Er nennt dies die kopernikanische Wende der Philosophie. Die Kritik der reinen Vernunft, die 1787 in einer revidierten zweiten Ausgabe erschien, erklärt diesen Paradigmenwechsel.

Kants leere Seele Für uns stellt sich vor allem die Frage, wie Kant auf Humes Verständnis der Seele und des Selbst als bundle of perceptions reagiert und ob er zur Geschichte der Seele ebenso viel beiträgt wie zur Erkenntnistheorie. Bewirkt er auch dort eine kopernikanische Revolution oder ist seine Auffassung eine Reaktion, eine Rückwendung zum Früheren? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Umweg über Kants Erkenntnistheorie machen, die auf Größen wie die Seele anwendbar ist. Vielleicht ist Kants Vernunftkritik leichter zu verstehen, wenn man weiß, dass er unter anderem schrieb, um Newtons universale physische Gesetze zu rechtfertigen, deren philosophische Grundlage Hume bestritt. Er war bekanntlich der Meinung, die Vernunft sei universal gültig und einige Erkenntniskategorien seien dem Menschen angeboren. Wir erfassen die Welt in Zeit, Raum und kausal – Kategorien, die nur im Kopf, das heißt im Kants leere Seele

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Verstand der Menschen existieren. Deshalb können wir nicht wissen, wie die Dinge in sich selbst sind, sondern nur, wie wir Menschen sie auffassen. Einige Kennzeichen der Vernunft, wie das Kontradiktionsprinzip, gelten universal. 2 + 2 = 4, unabhängig von jeder Erfahrung. Sie gelten a priori, wie Kant es ausdrückt. Die allgemeinen Regeln der Vernunft sind transzendental, das heißt notwendige, unauflösliche Bedingungen der Erkenntnis. Mit anderen Worten: Kants Verständnis geht von einem transzendentalen Subjektivismus aus (die Erkenntnis liegt beim erkennenden Subjekt, in seinen geistigen Fähigkeiten). Damit liegt er auf einer Linie mit Hume, der Perzeption/Wahrnehmung schreibt, wo bei Kant geistige Fähigkeit/Vernunft steht. Der universale Charakter der Vernunft wirkt dem Subjektivismus der relativistischen Art entgegen. Doch welche Konsequenzen hat diese Theorie für die Seele – nicht nur für ihre Definition, sondern auch für ihren Inhalt und ihre Bedeutung im Leben der Menschen? Ist sie auch universal, und wenn ja, was ist mit der Individualität? Lässt Kants allgemeine Theorie dafür Spielraum? Kant nimmt eine merkwürdige Doppelstellung in der Geschichte der Seele ein. Seine strenge Unterscheidung zwischen dem, was man wissen kann, und dem, was man nicht wissen kann, hat Folgen für die Bestimmung der Seele und ihre Zukunft. Kant geht von Descartes’ cogito aus, dem denkenden Subjekt. Hinter dem Denken steht also ein Subjekt. Doch was dieses Subjekt denkt, ist eine ganz andere Sache. Descartes nannte die Denkfähigkeit und das Bewusstsein des Subjekts Seele, doch dieses Gedankensubjekt (oder diese Seele) ist bei Kant eine rein formale Instanz – der folglich die Substanz fehlt. Das cogito der Seele ist ein logisches Einheitsprinzip, ein formales Subjekt, kein ontologisches Wirklichkeitsphänomen (Dasein). Man muss also zwischen der Fähigkeit zur Erkenntnis und dem Inhalt der Erkenntnis unterscheiden. In Kants formaler oder erkenntnistheoretischer Welt verwandelt sich die Seele auf diese Weise von Substanz zum Subjekt, sie wird zu einem Teil der transzendentalen Subjektivität. Diese ist die Bedingung für alle Erkenntnis. Sie ist Bedingung und Möglichkeit zugleich und in sich selbst unauflöslich, jedoch ohne Inhalt, also leer. Alles, womit sie gefüllt wird, ist historisch zufällig und relativ, also kein sicheres Wissen. Pures Selbstbewusstsein und faktische, empirische Selbsterkenntnis sind zwei unterschiedliche Phänomene. Doch das erkennende Subjekt (cogito) kann weder in Einzelteile aufgelöst noch zu etwas Objektivem gemacht werden, obwohl es die Grundlage objektiver Erkenntnis ist. Aus diesem Grund kann die Seele Kant zufolge im reinen Denken 168

Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant

nicht zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht werden. Die rationale oder logische Psychologie und die empirische Psychologie haben, wie wir sehen werden, keinen gemeinsamen Seelenbegriff mehr. Die rationale Psychologie hat somit ein wichtiges Thema verloren, da die Seele rein formallogisch oder epistemologisch (erkenntnistheoretisch) kein identifizierbares Objekt ist. Wo die traditionelle Philosophie die Seele als immaterielle Substanz, Einheit und Wesen der Persönlichkeit definierte, steht nun bei Kant eine Unbekannte X, eine formale Kategorie ohne konkreten Inhalt. Den Status der Seele behandelt Kant in Kritik der reinen Vernunft besonders in einem Abschnitt über sogenannte Paralogismen. Als genau solchen Paralogismus definiert er die Seele, als Fehlschluss im Gegensatz zur reinen Vernunft. Der Grund für diesen Fehlschluss ist, dass es in unserer Natur liegt, das Denken an sich und den Inhalt der Gedanken in einen Topf zu werfen, zum Beispiel die Denkfähigkeit und den Gedanken »Seele« oder den Begriff »Seele« und die Substanz der Seele: Indessen kann man den Satz: die Seele ist Substanz, gar wohl gelten lassen, wenn man sich nur bescheidet, daß dieser unser Begriff nicht im mindesten weiter führe, oder irgend eine von den gewöhnlichen Folgerungen der vernünftelnden Seelenlehre, als z. B. die immerwährende Dauer derselben bei allen Veränderungen und selbst dem Tode des Menschen lehren könne, daß er also nur eine Substanz in der Idee, aber nicht in der Realität bezeichne. (Kritik der reinen Vernunft [KdrV] AA IV, S. 221)

Durch logische Schlussfolgerung gelangt man zu keiner Aussage über die Eigenschaften der Seele. Doch tut man normalerweise genau dies und vergisst, dass dies nur Logik oder reines Denken ist und keine Wirklichkeit. Kant spricht theoretisch und abstrakt im Rahmen des reinen Denkens. Doch innerhalb dieses Rahmens gibt es keinen Platz für die Seele, muss er eingestehen. Deshalb muss er mit dieser Vorstellung aufräumen, wohl wissend, wie seine christlichen Vorgänger die Seele als Substanz und gleichzeitig immateriell sowie als göttlich und unsterblich auffassten. Für solche Eigenschaften kann Kant keinerlei erkenntnistheoretische Grundlage finden; der Weg der Vernunft lässt solche Schlüsse nicht zu. Es sind (natürliche) Fehlschlüsse oder Paralogismen, weil sie einen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis aufstellen, der weder philosophisch noch wissenschaftlich bestätigt werden kann. Kants Standpunkt ist klar: Die Vernunft des Menschen ist autonom sich selbst genug, sie kann ohne andere Hilfsmittel bestehen. Die koperKants leere Seele

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nikanische, im Grunde kantische Wende ist die Grundlage des modernen Anthropozentrismus und des Egozentrismus. In Kants Vernunftswelt ist der Mensch nicht von Gott oder anderen äußeren Instanzen abhängig. In seiner Vernunftkritik weist Kant formell gesehen jeden Gottesbeweis ab und betont, dass man nicht wissen oder wissenschaftlich beweisen kann, ob Gott an einem anderen Ort als in unseren Köpfen existiert. Religion beruht nicht auf Wissen, sondern auf Glauben oder auf dem moralischen Anspruch auf die Notwendigkeit einer solchen überindividuellen Dimension. Diese erkenntnistheoretische Haltung gegenüber Gott hat natürlich auch Folgen für die Seele, denn wenn man Gottes Existenz nicht beweisen kann, kann man auch die Seele nicht göttlich machen. Sie ist menschengeschaffen. So weit geht Kant jedoch nicht. Er schließt sich der kartesianischen Tradition an und setzt ein Gleichheitszeichen zwischen das Ich, das Selbstbewusstsein und die Seele. Er verknüpft die Seele direkt mit der Vernunft und dem Bewusstsein des erkennenden Subjekts: Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinnes und heiße Seele. Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper. Demnach bedeutet der Ausdruck: Ich, als ein denkend Wesen, schon den Gegenstand der Psychologie, welche die rationale Seelenlehre heißen kann, wenn ich von der Seele nichts weiter zu wissen verlange, als was unabhängig von aller Erfahrung (welche mich näher und in concreto bestimmt) aus diesem Begriffe Ich, so fern er bei allem Denken vorkommt, geschlossen werden kann. (KdrV AA IV, S. 216).

Kants Psychologie ist mit anderen Worten nicht empirisch, sondern gilt dem Menschen als Vernunftwesen, als welches er philosophisch betrachtet durch die Denkfähigkeit – und die dadurch ermöglichte Selbstreflexion – gilt. Auf diese Weise führt Kant die Linie von Platon und Descartes weiter. In seiner Vernunftkritik teilt er auch deren Dualismus zwischen Mensch und Natur, zwischen Körper und Seele/Vernunft. Des Menschen primäre Quelle der Erkenntnis ist seine eigene Vernunft und sein Verstand, der auf den rein menschlichen Bedingungen der Erkenntnis beruht. Dort haben auch die Sinneserfahrungen ihren Platz, doch sie werden durch Kategorien des Verstandes ausgesiebt. Parallel zu seinem transzendentalen Seelenbegriff oder dem Gedankensubjekt hält Kant an der moralischen und religiösen Bedeutung der Seele fest, doch mit diesem Thema ist er zur praktischen Vernunft übergegangen, womit er die Anwendung der reinen Vernunft meint. Auch in der Kritik 170

Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant

der praktischen Vernunft (1788) bleibt die Seele eine harte Nuss für den Philosophen. Vielleicht stellte sie auch ein persönliches Dilemma für ihn dar, bei dem Glaube und Wissen kollidierten, denn von seiner Erkenntnistheorie rückt er nicht ab. Was den Status der Seele angeht, weicht er jedoch vor Lockes und Humes Schlussfolgerungen zurück, obwohl auch er darauf beharrt, dass die Seele keine Substanz habe. Kants Seelenauffassung ist eine Mischung aus Alt und Neu. Sie bestätigt das konventionelle christliche Verständnis, trägt aber gleichzeitig zur historischen Entseelung des Menschen bei. Das Neue daran muss im Zusammenhang mit seiner Vernunftkritik betrachtet werden. Hauptpunkt ist, dass die Erkenntnis des Menschen von dessen Verstand geleitet wird, weil dieser uns vorschreibt, wie wir die Welt auffassen, ja sogar, wie die Natur ist. Im Gegensatz zu Locke betrachtet Kant den Menschen und seine Seele nicht als tabula rasa, die von Geburt an mit Sinneseindrücken gefüllt wird, denn schon in der Fähigkeit zur Erkenntnis liegt eine Strukturierung der Sinneseindrücke. Pure Wahrnehmung existiert bei Kant schlichtweg nicht – worin ihm die moderne Physiologie und die moderne Biologie recht geben. Der Verstand ist im Spiel, sobald die Sinne zum Einsatz kommen; er kann sich sogar von den Sinnen losreißen und in seiner eigenen Gedankenwelt funktionieren, wo der Geist sich selbst genug ist. Darin liegt Kants Stärke, was jedoch eine Herausforderung für die Seele bedeutet. Denn wenn die Seele mit dem Verstand und der Vernunftbegabung verbunden ist, gibt es vielleicht keinen Unterschied zwischen der Seele und dem Bewusstsein oder der Reflexionsgabe? Hier nimmt Kant ein paar Kunstgriffe vor, gewissermaßen um die Seele zu retten und sie auf eine andere Ebene als das bloße Bewusstsein zu bringen. Er will dies tun, weil er in den Tiefen seiner Seele selbst ein gläubiger Christ ist. Er glaubt nicht nur an das Transzendentale (die notwendigen Bedingungen), sondern auch an das Transzendente (Religiöse). Er will das Kind – in diesem Fall das Jesuskind – nicht mit dem Bade ausschütten. Deshalb gibt es einen Bruch zwischen seiner Vernunftkritik und seinen übrigen Schriften, in denen er der Ethik (als praktischer Vernunft), der Moral (den Sitten) und der Religion Platz gewährt – wobei die Seele und die Pflicht sein Einsatz sind. Deshalb ist Kant in vieler Hinsicht auch ein Apologet der (christlichen) Seele. In der Vernunftkritik löst er ihre Substanz auf, nur um sie in der praktischen Vernunft wieder durch die Hintertür einzulassen, in Form von Religionsund Morallehre. Seine Moralphilosophie lässt sich in vieler Hinsicht als Umschreibung christlicher Moral auffassen. Das christliche Gebot, seiKants leere Seele

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nen Nächsten so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, wird zu Kants berühmtem kategorischen Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Eine Allgemeingültigkeit dieses Prinzips lässt sich jedoch kaum feststellen, da jede Situation unterschiedlich ist. Etwas einfacher scheint es, sich einer weiteren von Kants Maximen anzuschließen: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Dies ist eine gültige Regel zur Fürsorglichkeit – auch um die eigene Seele, damit sie nicht belastet wird, weil sie andere Menschen als Mittel zum Zweck missbraucht hat. Nur im reinen (formalen) Denken unterscheidet Kant zwischen Philosophie (Metaphysik), Religion und Anthropologie (oder Psychologie). Er ist und bleibt ein Christ und ein christlicher Pflichtethiker. Er bricht nie selbst mit dem Glauben, so sehr er auch betont, dass Glauben und Wissen getrennt werden müssen. Kant verlangt nach einer göttlichen Leitung der Welt und danach, dass der Mensch letztendlich unter Gottes Gericht lebt. Deshalb postuliert er die Pflicht, dem Gesetz zu folgen. Dies kann er kraft einer Denkweise, die insofern normativ ist, als sie auf universalen Gesetzen der Vernunft aufbaut. Gottes Gesetz ist ebenfalls universal; es schreibt die Welt und ihr innerstes Wesen vor. Natürlich weiß Kant genau, was er tut. Einer der Hauptpunkte seines Denkens ist, dass es keine empirische oder äußere Realität gibt, die mit der Vernunft des Menschen übereinstimmt. Dies ist die Grundlage seiner auf sich selbst beruhenden Gedankenwelt und auch dies hat Folgen für die Seele. Auch sie kann von der äußeren Welt losgerissen und reiner Gedanke oder Geist werden, wodurch sie Teil der überindividuellen Vernunft wird. Auf diesem Weg kommt Kant auf den »Begriff der absoluten Einheit des denkenden Subjekts« (KdrV AA III, S. 259) und damit auf die Einheit der Seele als Subjekt des Denkens. Dies wiederum wurde zur Grundlage des deutschen Idealismus, an dessen Spitze Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) standen. Sie stellten sich eine autonome geistige Welt vor, womit sie Kants These von der Autonomie der Gedanken weiterführten. Um den Paralogismus oder Fehlschluss der Seele zu überwinden, unterscheidet Kant zwischen zwei Arten der Psychologie. In der rationalen oder logischen Psychologie ist die Seele ein rein formaler Begriff, eine transzendentale Größe, die mit dem Bewusstsein des denkenden Subjekts verbun172

Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant

den ist. In der Frage, ob die Seele nicht mehr als ein bloßer Begriff sei, verweist Kant auf die phänomenologische Psychologie oder »Realpsychologie«. Es gehört zu Kants Plan, dass er eine solche empirische Wissenschaft zwar sucht, aber gleichzeitig betont, dass diese Psychologie nie eine exakte Wissenschaft wie die Naturwissenschaften werden könne, denn die lebendige Seele gehört in die Dimension der Zeit und unterliegt deshalb den Gesetzen der Veränderung. »Denn in dem, was wir Seele nennen, ist alles im continuirlichen Flusse und nichts Bleibendes« (KdrV AA IV, S. 239). In der empirischen oder pragmatischen Welt haben die Begriffe einen anderen Status; sie sind nicht nur konstituierend für die Seele, sondern gelten auch konkreten Dingen wie dem Körper und den Sinnen sowie deren Zusammenspiel mit der Vernunft und der Welt. Doch diese Seele ist nicht der Gegenstand von Kants Philosophie. In seiner formalen Transzendentalpsychologie hat die Seele keine Substanz und ist von der sinnlich-empirischen Erfahrung losgerissen. Stattdessen beschreibt er, wie die Seele als Begriff gedacht und geschaffen wird und wie man den Seelenbegriff innerhalb eines strikt erkenntnistheoretischen Systems benutzen kann. Ist die Seele für Kant also nur ein Begriff, eine rein theoretische oder formale Größe? Oder glaubt er auch an eine wahrhaftige Seele außerhalb seiner strengen Vernunftkritik? Wer an die Seele glaubt, mag denken, dass sie durch Kants Erkenntnistheorie in Ketten gelegt wird, ähnlich wie er die Natur in Ketten legte, indem er die Vernunft Gesetze vorschreiben lässt, denen die Natur zwangsweise folgen muss – gewissermaßen auf Kants Kommando oder das Kommando der Vernunft. Was schreibt er in anderen Werken über die Seele, ist sie dort substanzielle Realität oder eine moralische Größe oder auch nur eine formale Kategorie in einem theoretischen System? Mit diesen Fragen nähern wir uns der zweiten Seite Kants, nämlich dem Moral- und Religionsphilosophen.

Die Seele als regulatives Prinzip Als christlicher Denker war Kant stark vom Pietismus beeinflusst, der tiefe Spuren in seiner Persönlichkeit und seiner Umgebung hinterlassen hatte. Der Pietismus steht für ein aufrichtiges und persönliches Christentum im streng lutherischen Sinn. Vor diesem Hintergrund behauptet Kant, die Moral würde ihre Kraft verlieren, wenn der Mensch den Glauben an ein ewiges Leben im Jenseits – also auch an die unsterbliche Seele – verliere. Die Seele als regulatives Prinzip

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Damit liegt er mit Paulus auf einer Linie und postuliert die Unsterblichkeit der Seele als Voraussetzung dafür, dass der Mensch moralisch sein kann. In der Kritik der praktischen Vernunft, die ein eigenes Kapitel namens Die Unsterblichkeit der Seele enthält (2, IV), gibt er sich orthodox lutherisch: Dieser unendliche Progressus [zur »völligen Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetze«] ist aber nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich. Also ist das höchste Gut, praktisch, nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich. (AA V, S. 122)

Dennoch betont Kant, dass sich die Unsterblichkeit der Seele ebenso wenig wissenschaftlich begründen lässt wie der Glaube selbst, weshalb er im Folgenden einschränkt: »mithin diese [die Unsterblichkeit der Seele], als unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen praktischen Vernunft« (ibd.). Er setzt Gottes Existenz – Gott als Ursache der Welt und der ihr innewohnenden Gesetze – als Begründung der Pflicht voraus: Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes. Nun war es Pflicht für uns das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugniß, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfniß verbundene Nothwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch nothwendig, das Dasein Gottes anzunehmen. (ibd., S. 125)

Was die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch oder Gut und Böse angeht, hat der Vernunftphilosoph Kant nur begrenztes Vertrauen in die Vernunft der Menschen. Mit solchen Zirkelschlüssen macht er Gott zur Bedingung nicht nur der Moral, sondern auch der Vernunft. Viele sehen darin eine Schwächung jener »Ehrfurcht«, über die Kant am Ende der Kritik der praktischen Vernunft schreibt: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« (AA V, S. 161) Man könnte es als Resignation auffassen, dass er nicht mit dieser Ehrfurcht endet und 174

Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant

sie als unbedingtes Lebensphänomen stehen lässt, als eine der Seele innewohnende Eigenschaft. Stattdessen bindet er sie an Gottes Existenz und die Unsterblichkeit der Seele, von der seine Ehrfurcht kündet. Man sollte denken, dass Kant eine zentrale Stellung in der Genealogie der Seele einnimmt und eine Art kopernikanische Revolution in ihrer Geschichte bewirkt, doch letztendlich nimmt er nur eine begriffliche Justierung der christlichen Seele vor, deren Existenz er bekräftigt. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, geht er einen begrifflichen Kompromiss ein. Er erhält die moralische und religiöse Bedeutung von »Seele« und »Gott« aufrecht, nennt sie aber »regulative Prinzipien«, das heißt Ideen, die als Wegweiser in einer moralischen Landschaft dienen, damit der Mensch sich nicht moralisch und existenziell verläuft – und nicht die Hoffnung auf Erlösung und Versöhnung in diesem und dem nächsten Leben verliert. Kant sah auch die Gefahren einer Welt, in der die Vernunft beinahe Gottes Platz einnimmt. Er wusste, dass man die Vernunft ebenso missbrauchen kann, wie es Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Zygmunt Bauman, Hannah Arendt und andere mit Verweis auf den Nationalsozialismus und den Holocaust gezeigt haben. Deshalb wollte er dem Glauben einen Weg bahnen, indem er der Vernunft Schranken setzte, wie er selbst sagte. Doch auch dem Machtmissbrauch wollte er Schranken setzen, indem er für den Rechtsstaat und für universale Menschenrechte sprach. Mit den Jahren wurde er radikaler, war ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution und ein scharfer Kritiker kirchlicher Macht sowie dogmatischen Glaubens. Er ging so weit, dass die Zensur ihn bremste. Persönlich schien Kant nicht an ein ewiges Leben und die Auferstehung des Leibes zu glauben. 1795 schrieb er: Wem ist wohl sein Körper so lieb, daß er ihn gern in Ewigkeit mit sich schleppen möchte, wenn er seiner entübrigt sein kann? (AA VII, S. 40).

Und was war mit Kants eigener Seele? Auch an deren Unsterblichkeit schien er mit den Jahren immer weniger zu glauben. Er benutzt »unsterbliche Seele« als Metapher, als Ausdruck für eine Dimension im Menschen, der auf mehr als das irdische Leben hofft, und als Ausdruck des moralischen Gesetzes, das er tief im Inneren als Realität empfand. Moral war für ihn eine Art Persönlichkeitskern, der ihm Identität verlieh. Kant war der Meinung, dass »wir mithin, was wir nach dem Tode seyn und vermögen werden, schlechterdings nicht wissen« (AA XX, S. 309). In einem der letzDie Seele als regulatives Prinzip

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ten Gespräche vor seinem Tod betonte er erneut das sokratische Nichtwissen. Als ihn ein enger Vertrauter fragte, was er sich von der Zeit nach dem Tod erwarte, antwortete er: »Nichts besonderes« (Geier 2004, S. 309). Er trat dem Ende des Lebens mit einer einfachen Feststellung gegenüber, die durchaus als lebensbejahend interpretiert werden kann: »Es ist vorbei«. Stoische Ruhe. Kant war stark von den Stoikern beeinflusst, besonders von deren abgeklärtem Verhältnis zum Tod, wie es Seneca einst ausdrückte: »Wer sterben gelernt hat, hat verlernt, Sklave zu sein.« Aus dieser Perspektive lassen sich auch Kants letzte Worte verstehen: Es ist gut.

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Der Sternenhimmel über mir und die Seele in mir – Kant

Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist. (Hegel)

DIE AUFHEBUNG DER SEELE – HEGEL

Nachdem die Aufklärung alle traditionellen Eigenschaften der Seele infrage gestellt und ihr die Substanz genommen hatte, sollte man meinen, dass die Tage der Seele gezählt waren. Doch es kam anders. Im Zug der historischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts und eines neuen Menschenbildes bekam die Seele Schritt für Schritt eine neue Bedeutung. Von allen Philosophen dieser Zeit hat wohl Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770– 1831) am meisten zum neuen Verständnis des Menschen beigetragen. Das 17. Jahrhundert stand im Zeichen des Kartesianismus und des schottisch-englischen Empirismus, das 18. im Zeichen der französischen und deutschen Aufklärer, doch Hegel dominierte fast die gesamte Philosophie des 19. Jahrhunderts. Seine Gedanken prägen das Bild des Menschen als historisches und soziales Wesen bis heute. Auf ihn stützen sich die Sozialphilosophie von Marx bis zur Frankfurter Schule und die Existenzphilosophie von Kierkegaard bis Heidegger und Sartre. Die Phänomenologie baut direkt auf seinem Hauptwerk Phänomenologie des Geistes von 1807 auf und jedes historische Denken ist von ihm beeinflusst. Mit Hegel verschiebt sich der Blickpunkt der Philosophie vom Sein zum Werden, also von einem statischen Wesen oder einer statischen Essenz zum Dynamisch-Veränderlichen. Um die Weiterentwicklung der Seele und ihren Platz in der heutigen Anthropologie zu verstehen, muss man wissen, wie sehr Hegel und seine Zeit unser Menschenbild verändert haben. Entscheidend für die Seele in Hegels Denken ist, dass er das Individuum hauptsächlich im Verhältnis zu anderen Menschen betrachtet. Goethe hat diesen mitmenschlichen Gedanken treffend ausgedrückt: »Der Mensch erkennt sich nur im Menschen«. Mit dieser Erkenntnis legt Hegel den Grundstein für die spätere Entstehung der Sozialpsychologie aus der PsyDie Aufhebung der Seele – Hegel

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chologie. Keiner ist für sich selbst, sondern strukturell betrachtet derjenige und die anderen. Hegel weist als Erster auf, dass unsere Identität strukturell durch die Anerkennung »des anderen« bedingt ist – ein Gedanke, der bis in unsere Zeit nur stärker geworden ist. Zum Beispiel versteht man das Problem des Mobbings nur, wenn man auch das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung versteht. Ob ein Individuum sich anerkannt fühlt, ist entscheidend für sein seelisches Selbstbild. Diese Dynamik erklärt Hegel im Kapitel über das Verhältnis zwischen »Herr und Knecht«, dem bekanntesten Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes. Das unauflösliche Verhältnis zwischen mir und den anderen ist nur eines von vielen Gegensatzpaaren oder komplementären Größen, die in Hegels Philosophie einander bedingen. Aus diesem Grund gibt er die Einheit der Seele auf, die von Augustinus bis Kant bedingungslos galt. Im echten Leben ist die Seele strukturell aufgeteilt und heterogen zusammengesetzt. Und dies ist kein Nachteil, denn das Spiel der Gegensätze und Spannungen ist laut Hegel der Motor des Seelenlebens. Bei Hegel ist das Äußere eine Manifestation des Inneren. Auch gibt es keine scharfen Grenzen zwischen den beiden. Das Innere ist ebenso empirisch und wirklich wie das Äußere. Der Denkende (cogito) und der Gegenstand der Gedanken sind nicht als Subjekt und Objekt dualistisch voneinander getrennt. An diesem Punkt greift Kants Theorie zu kurz; er geht von einer dualistischen Trennung zwischen Objekt und Subjekt aus, zwischen dem inneren Menschen und der äußeren Natur, zwischen Geist und Materie, kurz: zwischen Körper und Seele. Hegel räumt mit der Vorstellung von zwei getrennten Welten auf. Für ihn ist der Dualismus Körper– Seele ein Scheinproblem. Er ersetzt das dichotomische Denken der PlatonDescartes-Kant-Tradition durch Dialektik, den Kernpunkt der hegelschen Methode. Wo Kant »entweder – oder« sagt, sagt Hegel »sowohl … als auch« plus eine dritte Möglichkeit. Aus 2 + 2 = 4 wird A + B = C, wobei das Ergebnis, die Synthese aus der These A und der Antithese B, etwas Neues ist und gleich in eine neue Bewegung eingeht, nämlich C + D = E usw. So werden der Gedanke und die Geschichte vorangetrieben. Während sich Kants feste Summe 4 in ihre Bestandteile zerlegen lässt, kann Hegels Synthese C nicht aufgelöst werden, ohne dabei zerstört zu werden. Genau dies geschieht bei der Weiterentwicklung, wenn C als These in eine neue, dialektische Bewegung eingeht. Alles ist Bewegung und Veränderung. Alles zu seiner Zeit. Deshalb wird es so gut wie unmöglich, die Vorstellung von Gott als unveränderlicher Macht und von der Seele 178

Die Aufhebung der Seele – Hegel

als unsterblich und gleichbleibend aufrechtzuerhalten. Genauso schwer wird es, die Seele vom Gesetz der Verwandlung auszunehmen, dem der Körper unterliegt. Wenn die beiden zusammenhängen und der Körper nach dem Tod in einen neuen organischen Kreislauf eintritt, wie kann da die Seele ewig gleich bleiben? Die ständige Veränderung verdeutlicht, dass die Seele ein historisches Phänomen und somit endlich ist. Sie wird mit dem Tod aufgehoben. Was aus ihr wird, entscheidet der Prozess, zu dem sie gehört. Hegel versteht die Wirklichkeit als bewegliches Spiel von Gegensätzen. Nichts existiert isoliert, alles ist vermittelt. Dies ist ein weiterer bahnbrechender Gedanke in Hegels Philosophie als Methode: Alles ist historisch vermittelt, das heißt Produkt eines Prozesses, in dem verschiedene Kräfte – auch Gegensätze – zusammenwirken. Auch die Seele ist vermittelt, und zwar zwischen ihrem körperlich-natürlichen Ursprung, dem Geist, der auf sie einwirkt, und der Geschichte in Form von Kultur und Religion, die ihr historischen Inhalt geben. Die Dinge sind nicht, wie sie unmittelbar aussehen. Hegel spricht von einer Entfremdung, ein Begriff, der nach ihm als Kennzeichen der Modernität gilt und dessen Auswirkungen auf das Seelenleben Kafka 100 Jahre später in voller Konsequenz schilderte. Bei Hegel ist die Entfremdung eine strukturelle Eigenschaft, keine existenzielle oder psychologische. Freiheit bedeutet vor allem, deren Bedingungen zu verstehen. Nur wer seine Bedingungen kennt und nicht gegen die Notwendigkeit handelt, ist frei. Hegel greift gewissermaßen auf Spinoza zurück: Die Gesetze der Notwendigkeit bestimmen. Auch zwischen Freiheit und Notwendigkeit besteht ein dialektisches Verhältnis. Notwendigkeit ist kein Übel, sondern eine Bedingung. Das Paradoxe an der Notwendigkeit drückt Hegel in seinen bekannten Worten über die Wahrheit aus: »Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist«. Es kommt, wie es muss, der Gang der Geschichte unterliegt der Notwendigkeit, so wird die Entwicklung vorangetrieben. Man erkennt es erst hinterher, denn Erkenntnis ist von Natur aus rückblickend. Deshalb Hegels Ausspruch: »die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« In der Phänomenologie wird die Seele auf typisch hegelsche Weise negativ bestimmt. In Hegels gedanklichem Universum ist Negativität jedoch nicht negativ im konventionellen Verstand, sondern ebenfalls strukturell. Sie ist die Kraft des Widerspruchs und des Unterschieds, quasi ein anderer Ausdruck für den Unterschied. So betrachtet ist die Seele das »NegaDie Aufhebung der Seele – Hegel

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tive« im Unterschied zwischen dem Ich und der Substanz als Gegenstand des Bewusstseins: Die Ungleichheit, die im Bewußtsein zwischen dem Ich und der Substanz, die sein Gegenstand ist, stattfindet, ist ihr Unterschied, das Negative überhaupt. Es kann als der Mangel beider angesehen werden, ist aber ihre Seele oder das Bewegende derselben. (Werke 3, S. 39)

Diese Bestimmung wird später (ibd., S. 56) noch einmal wiederholt, als Hegel den Wahrheitswert der Begriffe diskutiert und die Seele erneut als innere Selbstbewegung der Begriffe definiert. Die alte, aristotelische Definition der Seele, die imstande ist, sich selbst aus innerer Kraft heraus zu bewegen, wird hier auf die Begriffe als Selbstentfaltung der Wahrheit und des Geistes übertragen. Bei Hegel ist ein Begriff keine abstrakte Definition, sondern eine Manifestation oder Ausdrucksform der Wahrheit. Begriffe sind keine zerstreuten Bauklötze, sondern Treppenstufen, welche die Wahrheit für ihre dialektische Selbstverwirklichung benutzt. Aristoteles’ Einfluss wird noch deutlicher, wenn Hegel die Rolle der Natur bei der Selbstverwirklichung der Vernunft diskutiert. Dabei spielt das Verhältnis zwischen dem Inneren und dem Äußeren als komplementären Größen eine Rolle: »Die organische Substanz als innere ist die einfache Seele, der reine Zweckbegriff oder das Allgemeine« (ibd., S. 203). Mit Ausnahme einiger Betrachtungen über die »schöne Seele« in Verbindung mit dem menschlichen Gewissen wird in der Phänomenologie des Geistes nicht mehr über die Seele gesagt, denn dort geht es in erster Linie darum, wie das Bewusstsein zu sich selbst als Geist und absolute Wahrheit kommt. Bei dieser Entwicklung spielt das oben erwähnte Verhältnis zwischen »Herr und Knecht« eine Rolle. Die Frage ist, wie das Subjekt die »Gewissheit seiner Selbst« erlangt, die seit Descartes als Wesen der Seele aufgefasst wird. Hegel beginnt die Erörterung des Bewusstseins (Teil B, Kap. IV) mit der Feststellung, dass die Wahrheit für das Bewusstsein etwas anderes als es selbst ist. Das Bewusstsein richtet sich auf etwas anderes, Allgemeineres. Nach einer langen Argumentationskette kommt er zu dem Schluss: Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein. (ibd., S. 144) Dies ist die Grundlage für Hegels Analyse des Herr-Knecht-Verhältnisses, die sowohl formallogisch als auch sozialpsychologisch ist. Wir können hier nicht die gesamte Analyse wiedergeben (die in jedem Grundbuch der Philosophie steht), nur den Teil, der für das 180

Die Aufhebung der Seele – Hegel

Seelenleben relevant ist, nämlich das Verhältnis zum »anderen«, das entscheidend für die Bildung des Selbstbewusstseins ist. Selbstbewusstsein entsteht aus der Art und Weise, wie das Subjekt sich im Verhältnis zum anderen beurteilt. Es entsteht aus gegenseitiger Anerkennung. In diesem dialektischen Verhältnis ist der »Knecht« weniger untergeordnet, als man denken sollte. Auch der »Herr« ist von der Anerkennung und der Arbeit des Knechts abhängig. Der Knecht wiederum arbeitet am besten, wenn sein Herr ihn ebenfalls anerkennt. »Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend.« (ibd., S. 147) Was zu Beginn Ungleichheit ist, gleicht sich durch gegenseitige Anerkennung aus, indem das Bewusstsein des einen im anderen aufgehoben wird und anders wird, als es ohne den anderen wäre. Mit anderen Worten: Die beiden spiegeln sich ineinander. Das Selbstbewusstsein wird verdoppelt. Ohne diese Vermittlung und die »Aufhebung des Fürsichseienden« wäre es nicht wahr. Und die Wahrheit ist das Ziel, wenn das subjektive Selbstbewusstsein in etwas Objektiverem aufgehoben wird. Das »verdoppelte« Selbstbewusstsein wiederum kommt der Totalität näher, von der es ein Teil ist, nämlich dem Geist – um eine lange, dialektische Argumentationskette extrem zu vereinfachen. Das Selbstbewusstsein muss mehr als für sich selbst sein, um Wahrheit oder Geist zu werden, lautet Hegels Hauptthese (»Die Wahrheit des Selbstbewusstseins ist der Geist.«). Bewusstsein gehört deshalb zum Weg der Vernunft in Richtung Wahrheit, um Geist zu werden. Das Subjektive allein und das Selbstbewusstsein für sich sind nur Stadien in der Entwicklung des Geistes. Die Phänomenologie des Geistes will erklären, dass die ganze Welt existiert, um den Geist zu manifestieren und zu zeigen, wie dieser eigentlich ist, nämlich der Geist, der sich selbst erkennt, der Gedanke, der sich selbst denkt, die reine, vernünftige Notwendigkeit. Dies geschieht durch eine andauernde Dialektik zwischen Gegensätzen und Selbstwidersprüchen, die auf einem höheren Bewusstseinsniveau einander dynamisch aufheben. Ein solches Verständnis des Selbstbewusstseins, das kein selbstgenügsames Subjektbewusstsein ist, liegt auch Hegels Verständnis der Seele zugrunde, die traditionell als die Quintessenz des Selbst galt. Doch wenn das Selbst nicht mehr ganz es selbst ist, sondern von etwas anderem dialektisch vermittelt, muss die Seele neu definiert werden. Wie kann sie ihre Bedeutung retten und wirklich werden? Zu diesem Zweck gibt Hegel ihr einen Platz in der Anthropologie, wo auch die Natur weiterhin eine entscheidende Rolle spielt. Auch dort ist das Überindividuelle, die Art, wichtiger als der Einzelne, der zum Sterben verurteilt ist, wobei das Individuum Die Aufhebung der Seele – Hegel

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das Leben weiterführt. »Stirb und werde!«, heißt es in einem Gedicht von Goethe. Individuelle Unendlichkeit ist ein Selbstwiderspruch, weil das Historische und das Menschliche sterblich sind. Deshalb scheint es überraschend, dass Hegel den Seelenbegriff wieder in seinem System einführt.

Die Seele in einem anthropologischen System In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1817 (3. Ausgabe 1830) definiert Hegel die Seele aufs Neue und gibt ihr einen zentralen Platz in der Anthropologie, ähnlich wie Kant in seiner Anthropologie. Die Enzyklopädie ist eine Zusammenfassung alles philosophischen Wissens über den Menschen, die Welt und die Natur. Die Seele wird in der ersten Abteilung des dritten Bandes unter der Überschrift »Der subjektive Geist« behandelt. Die Abteilung besteht aus den Paragrafen 387 bis 482 und erstreckt sich über ganze 160 Seiten der modernen Ausgabe. In § 389 wird die Seele präzise definiert, doch sie spielt auch in weiteren Kapiteln eine Rolle, besonders in den Kapiteln »Das Bewusstsein«, »Psychologie« und »Der objektive Geist«. Das Resultat wird in der dritten Abteilung »Der absolute Geist« besprochen. Dieser manifestiert sich zum Beispiel in der Kunst, der offenbarten Religion und der Philosophie. Die Seele wird als eine Entwicklungsform des Geistes verstanden, sie ist der subjektive Geist. In ihm erwacht das Bewusstsein (§ 387). Hegel betont, dass man die Seele nicht isoliert betrachten kann, sondern nur als Teil eines Ganzen. Sie ist in vieler Hinsicht Substanz, Symptom und Symbol dessen, was im Menschen als Ganzheit geschieht. Weil die Enzyklopädie als Nachschlagewerk gedacht ist, ist sie in Paragrafen aufgeteilt, die einzelne Punkte erklärend zusammenfassen und dann mit einem vertiefenden Zusatz versehen sind. Die Paragrafen wurden nach den Vorlesungen des Professors in Jena und Berlin aufgeteilt, sodass die Studenten sich auf die jeweilige Thematik vorbereiten konnten, ehe der Meister seine Ansichten ausführlich darlegte und begründete. Der Verlauf dieser Vorlesungen war also bereits interaktiv im heutigen Sinn und kann heute noch als Vorbild für ähnliche Reihen dienen. Hegels Vorlesungen müssen ein wahres Vergnügen gewesen sein. Tabak kauend spuckte der Professor seine hochtrabenden Gedankengänge aus und gab ein sweeping statement nach dem anderen ab. Zum Beispiel als ein dreister Student zu fragen wagte: »Höchst verehrter Professor, was wäre, wenn Ihre Thesen 182

Die Aufhebung der Seele – Hegel

nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten?«, worauf der höchst Verehrte seinem Ruf alle Ehre machte und antwortete: »Umso schlimmer für die Wirklichkeit!« Hegels Studenten waren nachweisbar aktiv, denn die Zusätze zu den Paragrafen sind zum Teil redigierte Anmerkungen der Studenten und deshalb ein quellenkritisches Problem. Trotzdem kann man annehmen, dass die Zusätze Hegels Räsonnement korrekt wiedergeben. In der Enzyklopädie kombiniert Hegel Phänomenologie und Anthropologie mit Naturphilosophie, denn die Natur ist der Ausgangspunkt für alles. Hier verwirft er auch die Überzeugung der Empiristen, dass der Weg ins Innere des Menschen nur über das Unmittelbare, sinnlich Gegebene (»das Gegebene«) führt. Dies ist laut Hegel falsch, denn alles ist vermittelt und Ergebnis eines Vermittlungsprozesses voller Widersprüche. Ebenso weist er die Erklärung der Materialisten ab, die die Seele und das Denken als kausales Resultat äußerer, physischer Gründe sahen, denn der Gedanke entsteht aus eigenen, inneren Gründen, wenn Geist und Seele zusammen wirken. Doch er lobt die materialistische Kritik am Dualismus, da alles einen gemeinsamen Ursprung hat. (Zusatz zu § 389, S. 49) In der hegelschen spekulativen Psychologie bekommt die Seele einen zentralen Platz, weil die Vermittlung zwischen Natur und Geist in ihr konvergiert. Dieses Verständnis ist von Aristoteles’ Darstellung der Seele als Entelechie und dem Körper innewohnende Form beeinflusst. So macht Hegel die Seele zur innewohnenden Kraft der Natur, die den Übergang von Natur zu Geist vermittelt. Dies bedeutet auch, dass die Seele nicht exklusiv menschlich ist. Weil sie so fest mit dem Körper und den Sinnen verbunden ist, mit Schmerzen und Trieben, tragen auch Tiere etwas Entsprechendes in sich. Dass die Seele etwas Aktives ist, ein Lebensprinzip, das vollzogen werden will, erinnert an Johann Gottfried Herders und Friedrich Wilhelm Schellings These, dass die Natur das Bedürfnis habe, sich selbst auszudrücken. Die Seele ist der Schlaf des Geistes in der Natur, das Entwicklungspotenzial des Geistes, das erwacht, wenn das Bewusstsein zu Vernunft wird und die Entwicklung vorantreibt. Als schlafender Geist ist die Seele auch unbewusst. Indem er die Seele sowohl als potenzielles Bewusstsein als auch als Unbewusstes – je nach dem Grad des Selbstbewusstseins – versteht, nimmt er bereits ein neues Verständnis des unbewussten Seelenlebens voraus. Das mit dem Sinnlichen verbundene Unbewusste erklärt unter anderem die Ahnungen und Intuitionen der Seele, warum die Seele wissen kann, ohne dass sie Bewusstsein ist, obgleich sie auch eine sinnliche Grundlage des Bewusstseins ist. Aber auch die Seele ist dynamisch, sie ist Die Seele in einem anthropologischen System

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nicht nur Grundlage, sondern auch Manifestation – von Geist, wodurch sie selbst geistig wird. Deshalb nimmt sie einen zentralen Platz in Hegels Anthropologie ein. Sie ist gewissermaßen die Substanz des Geistes. Das Sich-selbst-bewusst-Sein des Subjekts ist keine isolierte Größe, sondern hat seine Voraussetzungen im Schöpferwerk. Bewusstsein setzt Leben voraus und entspringt ihm mit der Seele als formgebendem Prinzip. Geist und Natur sind keine Gegensätze, sondern komplementär. Es gibt Vernunft in der Natur, in der aristotelischen Tradition heißt sie anima vegetativa und anima sensitiva. Die sinnliche Seele gleicht der animalischen. Im Menschen kommt dieses Vernunftsprinzip durch die Seele zum Ausdruck. »In der Seele erwacht das Bewußtsein; das Bewußtsein setzt sich als Vernunft« (§ 387). Die Seele wird sozusagen im Bewusstsein aufgehoben, das dann aus eigener Kraft als reflektierende Vernunft weiterläuft. Hegels Theorie ist als Emergenztheorie bezeichnet worden, die erklärt, wie ein komplexes Phänomen aus dem Zusammenspiel einfacher Bestandteile entsteht, wie ein Eiskristall aus einem winzigen Wassertropfen. So entsteht das Bewusstsein aus der Natur, wenn die Seele erwacht. Wieder zeigt sich Aristoteles’ Einfluss: das Verhältnis zwischen Potenzialität und Aktualität und die Entelechie oder Formvollendung der Seele, wenn die Seele das Selbstbewusstsein weckt und als Geist verwirklicht wird. Dass die Seele in der Natur steckt und von ihr hervorgebracht wird, erklärt, warum Hegel der Seele überraschenderweise doch Substanz geben kann. Schließlich hatten Locke, Hume und Kant das Problem bereits »gelöst«, indem sie der Seele die Substanz nahmen. Doch Hegel führt sie einfach wieder ein, jedoch als »natürlich« anstelle von materiell, eher als eine Art ideale Substanz (Wesen). Die Seele ist auf paradoxe Weise immateriell und substanziell: Die Seele ist nicht nur für sich immateriell, sondern die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben. Sie ist die Substanz, die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes, so daß er in ihr allen Stoff seiner Bestimmung hat und sie die durchdringende, identische Idealität derselben bleibt. Aber in dieser noch abstrakten Bestimmung ist sie nur der Schlaf des Geistes; – der passive nous des Aristoteles, welcher der Möglichkeit nach Alles ist. (§ 389, S. 43)

Als historisch denkender Philosoph, der die Veränderung preist, betont auch Hegel die Bedeutung von Kindheit, Jugend, Erziehung und Bildung für die Entwicklung der persönlichen Psyche. Er spricht von »natürlichen 184

Die Aufhebung der Seele – Hegel

Veränderungen« (§ 396 ff.). Die Erbsünde lehnt er ab: »Von Natur ist das Kind weder böse noch gut, da es anfänglich weder vom Guten noch vom Bösen eine Erkenntnis hat.« (§ 396) Das Böse kommt erst als Folge des erstarkenden Eigenwillens, den die Erziehung hemmen und unterbinden soll. In der hegelschen Anthropologie durchläuft die Seele verschiedene Phasen der Entwicklung, die durch den steigenden Grad des Bewusstseins bedingt sind: vom »unmittelbar Naturbestimmten« zum Individuellen, über die fühlende Seele, die körperlich ist (»Leiblichkeit«) und deshalb »wirkliche Seele« genannt wird (§ 390). Dieses dritte Stadium ist eine individuelle Seele mit der Fähigkeit zum sinnlichen Erfassen. Sie ist Grundlage für die Reflexion des Geistes. Sie ist wirklich, weil sie nicht vom Körper getrennt und deshalb ein Teil der Welt ist. Dies ist kein Dualismus, sondern eine dialektische Dualität, die ein Drittes vermittelt, nämlich Bewusstsein und Geist. Der Körper ist in gewisser Hinsicht ein Werkzeug für die Seele, genau wie die Seele für die Vernunft und die Verwirklichung der Wahrheit im Geist. Hegel wäre nicht Hegel, wenn er die harmonische Einheit von Körper und Seele nicht noch weitergedacht hätte, denn auch die Seele kann auf dialektische Weise mit ihrem Körper verschmelzen und sich auflösen. Ihr Medium ist ein voll entwickeltes Ich, die individuelle Seele, die sich aktiv vom Körperlichen losreißen kann, durch das sie vermittelt ist. Ab einem gewissen Stadium (aber spätestens im Tod) kann die Seele zu ihrem Körper sagen: »Danke für die Gesellschaft, aber nun ist unsere Gemeinschaft vorbei!« Doch zu diesem Zeitpunkt ist sie schon keine Seele mehr, denn das selbstreflexive Ich verzehrt seine Natürlichkeit und wird in der reinen Idealität seines Wesens aufgelöst (vgl. § 412, S. 198). Nicht die Seele ist das Ziel, sondern der absolute Geist. Bei Hegel ist die Seele nicht nur Grundlage für das sich selbst reflektierende Bewusstsein, sondern auch etwas Unbewusstes (oder Vor- oder Überbewusstes). In diesem Fall repräsentiert sie das Fremde, was in einem tiefen historischen Prozess zum Ausdruck kommt. Das heißt, dass sie nicht ausschließlich der Gegenstand bewusster Entscheidungen ist, sondern auch von einer der Natur und dem Geist innewohnenden Kraft geweckt werden kann. Die Individualität der Seele kristallisiert sich in einem dialektischen Prozess heraus und kann mit Schneeflocken verglichen werden, von denen jede eine andere Form hat. Hegel versteht die Seele ergänzend als eine spezifische Konstellation aus natürlichen, rationalen und emotiven Bestandteilen, die ihre Entelechie als reine Idealität (Geist) erreichen. Das Die Seele in einem anthropologischen System

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Subjekt besteht nicht nur aus Rationalität und auch nicht nur aus Selbstbewusstsein und Selbstreflexion. Strukturell betrachtet ist Hegels Sicht des Unbewussten radikaler als Freuds spätere Theorien. Die Seele kann auch als Stimme der unterdrückten Natur verstanden werden – eine Sichtweise, die im Licht der heutigen Umweltkrise nicht weniger aktuell ist. Mindestens so radikal wie Hegels Abweisung des Körper-Seele-Dualismus ist seine Ablehnung der Unsterblichkeit der Seele. Hegel ist »grenzenlos« und zeigt, dass es in der beweglichen Entwicklung der Vernunft Aspekte gibt, die vor oder nach dem Bewusstsein kommen oder darüber oder darunter liegen. Die Grenze zieht er erst bei der Sterblichkeit der individuellen Seele. Der Mensch ist endlich, und der Tod ist absolut, wie man am Lebenslauf eines Menschen sehen kann. Ein alter Mensch verliert das Interesse an früheren Wünschen und Zielen, versöhnt sich mit seiner Situation und kämpft nicht mehr um einzelne Dinge oder Standpunkte. Er lebt im Allgemeinen, mit allgemeiner Lebensweisheit, mit der Summe dessen, was das Leben ihn gelehrt hat. In diesem Allgemeinen verschwindet das Einzelne (das Individuelle, wofür die Seele steht) schrittweise, während das Leben »zum Tode fortgeht« (§ 396). In der Geschichte der Seele nimmt Hegel einen einmaligen Platz ein (nur Spinoza hat ähnliche Ansichten): Die Seele ist endlich, aber nicht unveränderlich, sie ist Möglichkeit, jedoch nur nach den Prämissen der Notwendigkeit. Sie verändert sich durch Entwicklung und Bildung vom Natürlichen zum Individuellen und hat die Fähigkeit, Bewusstsein zu werden. Weil sie jedoch an den Körper gebunden ist, will sie mit ihm zugrunde gehen und sich auflösen. Aber das Leben und der Geist existieren weiter, wenn der Einzelne stirbt, und das individuelle Bewusstsein löst sich in der Totalität des Allgemeinen auf, welches die historische Notwendigkeit repräsentiert. Das einzig Gewisse ist Hegel zufolge, dass der Mensch aus der Natur entsteht und in der Natur zugrunde geht. Welchen Sinn man dem Endlichen gibt, das zwischen Anfang und Ende liegt, bleibt eine offene Frage, sofern es überhaupt ein Ende gibt – und einen Anfang.

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Die Aufhebung der Seele – Hegel

DIE ROMANTIK

Es gibt ein Band zwischen Sternen und Seele; Sie tritt im Nachtlicht aus des Antlitzes Vorhang, dess’ Falten verschwunden sind. (Henrik Wergeland, Ich selbst)

DIE EMPFINDSAME UND AUSDRUCKSVOLLE SEELE DER ROMANTIK

Die Romantik ist in vieler Hinsicht die letzte Periode der europäischen Kultur, in der die Seele als ein bedeutender Teil des Menschen aufgefasst wird. An ihrem geistigen Himmel prangen viele Sterne, die mit einer inneren Glut brennen, die die Aufklärung nicht bieten kann. Die Romantiker nehmen ihre Zeit wortwörtlich im Sturm, mit Sturm und Drang, mit einer Empfindsamkeit und innerlichen Leidenschaft, mit der die zarten Seelen ihr Inneres nach außen kehren, unter anderem in Form von literarischen Tagebüchern und Bekenntnissen, welche die literarischen Salons ihrer Zeit und die Herzen der Leserschaft im Sturm erobern und die europäische Mentalität bis heute prägen. Auch die Seele der Natur wird durch die beseelten Naturschilderungen der Dichtung und Bildkunst geweckt, die der neuen Identität der Nation Bilder geben. Zum ersten Mal in der Geschichte wird die Seele als kollektives Phänomen in Form einer Volksseele dargestellt, die in der Volksdichtung, der Traditionskunst und der Volkssprache zum Ausdruck kommt. Die Theorie stammt aus der Feder des führenden Philosophen der Romantik, Johann Gottfried Herder (1744–1803), der zu Lebzeiten reichlich Kritik einstecken musste, unter anderem von Kant. Doch es war Herder, der den Grundstein für ein neues Verständnis von Sprache, Geschichte, Natur und Kultur legte und deren Bedeutung für die Identität einer Nation hervorhob. Der Begriff »Volksseele« (oder »Volksgeist«) wurde zum Katalysator des neuen Nationalgefühls. Der Nationalismus war die politisch stärkste ideologische Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts, er schuf Staaten, veränderte die Weltkarte und lebt als Ideologie bis heute weiter, obwohl der Aufbau der Nationen längst abgeschlossen und die europäische Kultur multiethnisch ist. Die empfindsame und ausdrucksvolle Seele der Romantik

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Die Aufklärung hat unsere Vernunftideale geformt, doch die Romantiker haben unsere Herzen gefüllt – mit großen Emotionen, Liebe und Leidenschaft. In der Kunst geschah dies vor allem durch das neue Genre des Romans, das in England begann, wo die sentimental novel erfunden wurde. Auch Briefromane waren beliebt und besonders gut geeignet, um das intime Innere nach außen zu tragen. Samuel Richardsons gebildete Werke tragen typische Frauennamen im Titel, zum Beispiel Pamela; or, Virtue Rewarded (1740) und Clarissa, or, the History of a Young Lady (1748). Das Ideal dieser Bücher ist die Synthese aus einer gefühlvollen (oder sentimentalen) Seele und einer gebildeten Seele. Ein weiterer Klassiker des Genres ist Laurence Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy (1768). Der sentimentale Roman dominiert die englische Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und bis zu Jane Austens Pride and Prejudice (1813). Die größte Bedeutung und unmittelbare Wirkung hatten jedoch die Romane, mit denen Rousseau und Goethe ihren Durchbruch erreichten. Eine Welle der leidenschaftlichen Liebe überspülte den Kontinent, als Die Leiden des jungen Werthers 1774 erschien. Das Buch sprach nicht nur unglücklich Verliebte an und machte Goethe zum europäischen Starautor. Die Epoche der Empfindsamkeit (die dem englischen sentimentalism entsprach) hatte begonnen. In Frankreich hatte Rousseau bereits 1761 mit seinem Briefroman Julie oder Die neue Héloïse, einem der erfolgreichsten Bücher des Jahrhunderts, zu dem neuen Gefühlskult beigetragen.

Rousseaus natürliche Seele Dass es die Literatur war, die mit dem Genre des Romans den neuen, gefühlsbetonten Menschen schuf, sagt viel über das menschliche Wesen aus, nämlich, dass es künstlich geschaffen wird. Dies gilt besonders für die Seele, die zum Barometer der Gefühle wird. Sie wird mehr als alles andere im Menschen geformt, vor allem durch Bildung und Erziehung. Das Hauptwerk der damaligen Pädagogik stammt ebenfalls aus Rousseaus Feder: Émile ou De l’éducation, auf Deutsch Emil oder Über die Erziehung (1762). Zur Zeit der Romantik redet man auch von der Bildung der Seele – ein Begriff, der heute völlig außer Mode geraten ist. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) gehört streng genommen noch in die Zeit der Aufklärung, doch seine Neue Héloïse und seine Gefühlsphilosophie machen ihn zu einer zentralen Figur der Romantik. Mehr über 190

Die empfindsame und ausdrucksvolle Seele der Romantik

Rousseaus komplexe romantische Psyche und die psychologischen Motive seiner Sublimierungen kann man aus seiner romanartigen Autobiografie Bekenntnisse (1782–1789) erfahren. Mit ihr führt er die Tradition von Augustinus’ Confessiones und der christlichen Beichte weiter, aber er säkularisiert die Bekenntnisse, indem er sein Seelenleben öffentlich ausbreitet, rücksichtslos ehrlich und auf pathetische Weise selbstgerecht. Im Grunde tut er in seiner Autobiografie das Gleiche wie die bekennenden Frauen im sentimentalen Roman. Beide bereiteten den Grund für Freuds weibliche Patienten, die gut 100 Jahre später dem Psychiater ihre heimlichen Träume und verdrängten Triebe offenbaren – womöglich auf derselben Couch, auf der ihre Mütter und Großmütter die besagten Romane lasen. Die Seele beginnt, psychisch im modernen Sinne zu werden. Die Wirkung der neuen Empfindsamkeit war so durchschlagend, dass sie einen neuen Menschen erschuf, der nicht nur empfänglich für die Tiefen der eigenen Seele war, sondern auch mehr Mitleid mit anderen hatte. Dass Mitgefühl erst im 18. Jahrhundert ein gesellschaftliches Thema und ein Kriterium zur Bestimmung des Menschen wurde, ist wenig beachtet, vielleicht weil Empathie in der europäischen Kultur heute als eher selbstverständlich gilt. Rousseau sah dies zu seiner Zeit am klarsten. Er mahnte, dass wir gerne wegschauen, wenn einem Menschen, den wir nicht mögen, Leid zugefügt wird. In vielem ist er auf einer Höhe mit der modernen Psychologie, zum Beispiel wenn er schreibt, »dass ein Kind, das sich nicht vorstellen kann, was die anderen fühlen, nur seine eigenen Leiden kennt« (Emil S. 223). Heute nennt sich dies »Mentalisierung«. Im digitalen Zeitalter besteht das Problem auf andere Weise: Die Wirklichkeit wird immer virtueller, und wir sind es gewohnt, Gewalt auf Bildschirmen jeder Größenordnung zu sehen, ohne dabei Mitgefühl zu spüren. In der Geschichte der Seele ist Rousseau wichtig, weil er aufzeigt, wie die Seele und der Charakter eines Menschen durch lebenslange Bildung erschaffen werden. Kindheit und Jugend bekommen dabei eine ganz neue Bedeutung als eigene Lebensphase. Um diese geht es in Émile. Rousseau ist der Erste, der Kindheit und Jugend einen Eigenwert und große Bedeutung für die erwachsene Psyche zuspricht. Historisch betrachtet hatte Rousseau ein unerhört positives Menschenbild. Die Zeitgenossen teilten seine Philanthropie nicht unbedingt: »Der Mensch ist böse und unglücklich«, behauptete der Rationalist Bayle lakonisch. Rousseau hingegen betrachtet den Menschen als von Natur aus gut. Erst die Gesellschaft verderbe ihn: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Rousseaus natürliche Seele

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Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen«, heißt es im ersten Satz von Émile. Deshalb setzt er sich das Ziel, zum Ursprünglichen und Natürlichen der Seele zurückzukehren. Sein Leitspruch Zurück zur Natur! gilt sowohl der ursprünglich guten Natur des Menschen als auch der Rückwendung zu einem einfachen, natürlichen Leben abseits des verderbenden Lebensstils der urbanen Zivilisation. Rousseaus moralische Richtschnur ist das Gewissen, das seiner Ansicht nach angeboren ist. Es ist in unsere Herzen geschrieben, behauptet er: Das Gewissen ist die Stimme der Seele; die Leidenschaften sind die Stimme des Körpers. Ist es verwunderlich, dass die beiden Stimmen sich widersprechen? Auf welche soll man hören? Zu oft täuscht uns die Vernunft; wir sind nur allzu berechtigt, sie abzulehnen. Das Gewissen aber täuscht nie. Es ist der wahre Führer des Menschen: Es verhält sich zur Seele wie der Instinkt zum Leib. (Emil S. 300)

Man bemerke, dass Rousseaus Gewissen nicht mit der Sünde und dem Schuldgefühl befangen ist, die im Christentum ein schlechtes Gewissen verursachen. Sein Gewissen ist anthropologisch betrachtet gut. Deshalb lehnte er die Erbsünde ab – einer der Gründe, warum ihn der Bannstrahl der Kirchen (beider Konfessionen) traf. Ohne Erbsünde wird der Mensch selbst für das Böse verantwortlich: »Mensch, such nicht weiter nach dem Urheber des Übels: dieser Urheber bist du selbst« (ibd., S. 295). Dadurch wendet sich der Blick von Satan und der Hölle auf den Menschen selbst. »Wozu die Hölle im Jenseits suchen? Sie ist schon in diesem Leben in den Herzen der Bösen« (ibd., S. 298) – und in deren Taten. Im vierten Buch des Émile setzt sich Rousseau mit der Seele auseinander. Der Abschnitt steht im »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars«, eines Priesters, der seinen natürlichen Neigungen und der Stimme der Liebe gefolgt ist und das Zölibat gebrochen hat. Der Ausschluss aus der Kirche zwingt ihn dazu, sein Verhältnis zu Gott und die Grundzüge seines Glaubens kritisch zu überdenken. Als Sprachrohr Rousseaus verwirft er die meisten kirchlichen Dogmen und gelangt zu einer natürlichen Religiosität (theologia naturalis) und einem Gottesglauben ohne Dogmen (Deismus), bei dem man seine gesunde Vernunft gebrauchen und an seine tiefsten Gefühle sowie die »Aufrichtigkeit des Herzens« glauben soll. Es ist bemerkenswert, dass Rousseau das Herz beinahe als Synonym für die Seele benutzt. Er tut dies, um das religiöse Erbe zu umgehen, das als Ballast auf der Seele lastet. Außerdem passt ein natürliches Herz als anthropo192

Die empfindsame und ausdrucksvolle Seele der Romantik

logisches Zentrum besser als eine künstlich gebildete Seele zu Rousseaus Glaube an alles Natürliche. Mit der Vorstellung, dass es zwei Substanzen gebe, eine materielle und eine immaterielle, zeigt Rousseaus Vikar, dass er von Descartes’ Seelenbild beeinflusst ist. Bedeutet dies auch, fragt der Geistliche, dass die immaterielle Seele unsterblich in ihrem Wesen ist? Auf diese Frage hat er jedoch keine endgültige Antwort, denn das Unendliche übersteigt sein Vorstellungsvermögen. Er sieht ein, dass der Körper sich nach dem Tod auflöst, doch zu glauben, dass ein denkendes Wesen wie die Seele sich ebenfalls auflöst, fällt ihm schwer. Ebenso wenig kann er sich ein ewiges Leben vorstellen. Wenn die Seele also den Körper überlebt, wird sie in einen anderen Zustand übergehen und zu der Ordnung zurückkehren, aus der sie entstanden ist: »Ich glaube, dass die Seele den Körper so lange überlebt, bis die Ordnung wiederhergestellt ist.« (ibd., S. 296) Doch der Vikar alias Rousseau ist sich nicht sicher: »Ich setze dabei nur voraus, dass die Gesetze der Ordnung befolgt werden und Gott sich gleich bleibt.« (ibd., S. 297) Für Rousseau hat vor allem dieses Leben Bedeutung. Doch er weist die Ansichten der Materialisten zurück. Der Mensch hat eine immaterielle Seele. »Ich fühle meine Seele. Ich erkenne sie durch das Gefühl.« (ibd., S. 297) Die Seele unterliegt einer allgemeingültigen Ordnung, einem universalen Wesen, und nach dieser Ordnung wird das Schicksal einer Seele beurteilt, je nachdem, was ein Mensch getan oder unterlassen hat: Wenn die Schönheit der Ordnung alle Kräfte unserer Seele anrührt und wir uns mit dem Vergleich beschäftigen, was wir getan haben und was wir tun hätten müssen, dann wird die Stimme des Gewissens ihre Kraft und ihre Herrschaft wiedergewinnen. Dann wird die reine Wollust, die aus der Selbstzufriedenheit hervorgeht, und die bittere Reue, sich herabgewürdigt zu haben, durch unerschöpfliche Gefühle das Los bestimmen, das sich jeder selbst bereitet hat. (ibd., S. 297)

Rousseau glaubt fest an die Gerechtigkeit. Gerechtigkeitssinn und Wahrheitsdrang sieht er als göttliche Gabe an. Als deren Träger ist auch der Mensch göttlich, wie Rousseau vermessen behauptet: »Als ob Gott und meine Seele von gleicher Natur wären! […] seine unbegreifliche Substanz verhält sich zu unserer Seele wie unsere Seele zu unserem Leib.« (ibd., S. 299)

Rousseaus natürliche Seele

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Nicht die treue Darstellung von Luft, Wasser, Felsen und Bäumen ist die Aufgabe des Bildners, sondern seine Seele, seine Empfindung soll sich darin widerspiegeln. (Caspar David Friedrich)

Die Sprache des Expressivismus und der Seele Die emotionale und ästhetische Revolution der Romantik ist in einer Seite der romantischen Anthropologie begründet, die oft übersehen wird. Die Romantik greift in ihrer Anthropologie tiefer als der Rationalismus, denn sie tut weit mehr, als nur die Vernunft durch Gefühle zu ersetzen. Sie fragt nach dem Wesen des Menschen. Wo Kant antwortet, dass der Mensch ein Vernunftwesen ist, das Richtig und Falsch mithilfe der Moral unterscheiden kann, antwortet Herder, dass der Mensch ein Sprachwesen ist, das stets den tiefen Drang verspürt, sich und seine Gefühle auszudrücken. (Übrigens ein Drang, den er mit der gesamten lebendigen Natur teilt.) Was dabei zum Ausdruck kommt, ist das Innere des Menschen. Auf dieser Aussage beruht Herders eigene Theorie des Ausdrucks, der Expressivismus, die großen Einfluss auf die Definition der Seele hatte und neue Wege eröffnete, um der Seele Ausdruck zu verschaffen. Der junge Herder sieht den Expressivismus als Erklärung für den Ursprung der Sprache, wie er 1772 in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache erklärt. Wie oben erwähnt, war es Herder, der ein neues Verständnis des Menschen als historisches und kulturelles Wesen, das in einem künstlichen Symboluniversum lebt, begründete. Sprache und Geschichte, Natur und Kultur sind die Grundpfeiler von Herders neuer Anthropologie. Der Mensch ist nicht nach einem festen Bild mit einem ewig gleichbleibenden Wesen geschaffen, sondern schafft sich nach seinem eigenen Bild beständig neu, bedingt durch natürliche und historische Gegebenheiten und kulturelle Möglichkeiten. Wie er sich verwirklicht, zeigt er durch zahllose materielle und immaterielle Ausdrucksweisen in Schrift und Sprache, Kunst und Technik und vielem mehr. Herder definiert alles Leben im weitesten Sinne als Drang zum Ausdruck. Dadurch wird das Ausdruckspotenzial des Menschen zur Grundlage der romantischen Anthropologie. Herders Expressivismus steht für eine »expressive Wende«, wie der Philosoph Charles Taylor bemerkte (Taylor 1989). Herder koppelt die emotionale Wende mit der expressiven Wende. Das Emotionale und das Expressive sind zwei Seiten derselben Sache, zwischen Eindruck und Ausdruck besteht eine unauflösliche Wechselwirkung. In 194

Die empfindsame und ausdrucksvolle Seele der Romantik

demselben Moment, in dem der Mensch Wörter für seine Gefühle findet und sie sprachlich bestimmt, wirkt diese Bestimmung auch auf die Gefühle zurück und formt den inneren, seelischen Raum. Im Zentrum dieser Umformung steht das innere Seelenleben des Menschen, das er je nach Gefühlslage ausdrücken will. Was das heutige Wissenschaftsbild angeht, hat die Romantik gegen Kant und die Aufklärung verloren. Vielleicht wird es deshalb oft übersehen, wie sehr sie die europäische Kultur und unser Menschenbild geprägt hat. Besonders nachdrücklich kommt dies in der Kunst zum Ausdruck, wo die romantische Sichtweise gewonnen hat. Die emotionale Wende der Romantik steht nämlich auch für eine ästhetische Wende, die wiederum mit der expressiven Wende zusammenhängt. Die klassische, mimetische Kunst der Aufklärung wird zur expressiven Kunst. Kunst soll nicht mehr bloße Nachahmung der äußeren Natur sein, sondern die äußere Natur als Bild des Inneren gebrauchen. Dies bewirkt eine 180-Grad-Wendung in der Perspektive, die radikaler nicht sein könnte. Wo die Kunst früher ein Spiegel des Äußeren war, soll das Äußere nun das Innere spiegeln – Gefühle, Vorstellungen, Erlebnisse und Gedanken. In der Bildkunst gehören Caspar David Friedrich und William Turner zu den bekanntesten Repräsentanten dieser Wende, in der Dichtung ist es Goethe.

Die Sprache des Expressivismus und der Seele

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Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind! (Goethe)

GOETHES STREBENDE SEELE

Mit Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) kommen wir zu einem Höhepunkt in der vielseitigen Geschichte der Seele – in der gleichen Zeit, als Materialisten und Rationalisten sie entthronen wollen. In Goethes Dichtung wird die Entwicklung der Seele, die wir nun von der Antike bis in die Romantik verfolgt haben, gewissermaßen vollendet. Ein letztes Mal blitzt sie als Stern am Firmament auf, um nach Goethes vollendetem Werk Schritt für Schritt ihre Glut und Substanz zu verlieren und ein Komplex aus inneren Spannungen zu werden, die sich im Halbdunkel des Unterbewusstseins verstecken. Dieser Wendepunkt und die darauf folgende Krise hängen mit den äußeren Bedingungen, Umbrüchen und Neuerungen zusammen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stattfinden, als die Spannung zwischen Rationalität und Romantik eine fruchtbare Dynamik entstehen ließ. Goethe steht unmittelbar an der Spitze dieses reichen Geisteslebens in der europäischen Kultur. Mit 14 Jahren erlebte er das sieben Jahre jüngere Wunderkind Mozart, er war ein Zeitgenosse der Übergangsgestalt Beethoven, Zeitzeuge der Französischen Revolution und ihrer Folgen, traf als europäischer Starautor (eitel mit Orden dekoriert) seinen Bewunderer Napoleon persönlich auf dessen Feldzug durch Deutschland und bekam 1830, zwei Jahre vor seinem Tod, die Julirevolution in Frankreich mit. In den 82 Jahren seines Lebens stand er auf einer Höhe mit den französischen Aufklärungsphilosophen und Rousseau, mit Kant und später auch Hegel. Viele Umbrüche seiner Zeit erlebte er als enger Freund von Schiller und Herder. Zusammen bildeten die drei – dabei jeder von ihnen auf seine Art – ein Zentrum der Geisteskraft, das Weimar für kurze Zeit zu so etwas wie einer europäischen Kulturhauptstadt machte. Goethes strebende Seele

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Goethe steht für den Protest gegen die Rationalisierung der Seele durch die Aufklärung und die Wissenschaft. Für ihn war die Seele ein unverzichtbarer Teil des menschlichen Wesens und der Persönlichkeit. Vielleicht ist er der letzte europäische Denker und Schriftsteller, der auf überzeugende Weise eine heile Seele darstellt, die durch ihre Integrität sowohl diesem Leben als auch etwas Höherem, über dem Menschen Stehendem verpflichtet ist. Für Goethe ist die Seele eine Art Lebensprojekt. Er braucht 60 Jahre, um das tragische Hohelied der Seele, den Faust, zu vollenden. Teil I erschien 1808, Teil II posthum in Goethes Todesjahr 1832. Mit dem Faust macht Goethe die Seele wie kein anderer seit Dante zu seinem Projekt – mit Shakespeare als Inspirator. Auch viele weitere von Goethes Werken drehen sich um die Seele und damit um das Schicksal des Individuums. Etliche seiner bekanntesten Gedichte thematisieren die Seele und seine Wilhelm Meister-Romane können als Versuch einer anthropologischen Klärung des Stellenwerts der Seele gelesen werden. Im Grunde beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller mit einer Reflexion über die Seele und ihr Dilemma, in der Lobrede Zum Schäkespears Tag aus dem Jahr 1771. Die Rede beginnt mit einem memento mori und der allgemein menschlichen Sehnsucht nach etwas, das über den Tod hinaus bleibt. Der junge Goethe verbindet das Bleibende mit dem menschlichen Willen, der bestimmte Dinge im Leben verwirklichen will, das viel zu kurz dafür ist. »Dieses Leben, meine Herren, ist für unsre Seele viel zu kurz.« Doch nicht der Glaube an einen göttlichen Erlöser soll das Nachleben sichern, sondern Nachruf, Ehre und Anerkennung, die der Mensch sich verdienen muss. In diesem Punkt ist Shakespeare das große Ideal. Sein Werk lebt und wirkt bis heute. Shakespeares Beispiel demonstriert die klassischen Worte ars longa, vita brevis (lange Kunst, kurzes Leben). Goethe überträgt dies von der Kunst auf die Seele: anima longa, vita brevis. Dieses Motto hat Per Øhrgaard in seiner Goethe-Biografie vorgeschlagen, die zum 250. Geburtstag des Dichters erschien. Der junge Goethe will die Unendlichkeit des ewigen Lebens von der Religion ins Irdische überführen, wie er in seiner Lobrede auf Shakespeare schreibt: Seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt. (Berliner Ausgabe Bd. 17, S. 188)

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Goethes strebende Seele

Damit ist der Raum für die Seele gegeben: »das Eigentümliche unsres Ichs«, das zwischen den determinierenden Kräften und der Freiheit des Menschen liegt, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Geist und Körper, Gut und Böse. In diesem persönlichen Raum spielen die Gefühle und Leidenschaften eine entscheidende Rolle als Motor des Werks.

Die Leidenschaften des Herzens Was das Wort »Seele« eigentlich bedeutet, zeigt sich laut Wittgenstein erst durch die Art und Weise, wie es gebraucht wird: Der Gebrauch ist die Bedeutung. In diesem Fall können wir sehr gut mit den Leiden des jungen Werthers beginnen, in dem Herz und Schmerz durchgehend ein Reimpaar bilden. Goethe schafft es, diesem romantischen Reim neue poetische Kraft als Symbol der Liebe zu geben. Schon auf der ersten Seite des Brief- und Tagebuchromans treffen wir sieben Mal auf das Herz. Er beginnt mit der Frage: »Bester Freund, was ist das Herz des Menschen!« Hier könnte ebenso gut stehen: »Was ist die Seele des Menschen!«, denn schon die nächste Tagebuchseite (datiert auf den 10. Mai 1771) erwähnt die Seele fünf Mal und endet mit der Vorstellung, dass die ganze Welt in der Seele des Erzählers ruht. »Ach […] könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!« (Hamburger Ausgabe [HA] Bd. 6, S. 9) Nun spricht hier der junge Werther, nicht Goethe, doch die Ausdrücke sind repräsentativ für den jungen Dichter und sein Weltbild. Schon in diesem Buch stoßen wir auf Elemente des komplexeren Seelenbegriffs des späteren Goethe, zum Beispiel wenn es aus Werther herausbricht: Du bist ein Tor! du suchst, was hienieden nicht zu finden ist! Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter Gott! blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt Konnt’ ich nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt? (ibd., S. 12)

Die Identifikation der Seele mit dem Herzen, Gott und der Natur ist ein durchgängiges Motiv in Goethes Werk. Hier werden die Fähigkeiten der Seele noch weiter präzisiert. Die Seele kann mehr, als ein einzelner Mensch Die Leidenschaften des Herzens

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vermag. Wer sein Herz für die Liebe als Gefühl und als geistige Kraft öffnet, kann ein Teil der Kraft werden, die den Menschen, Gott und die Natur verbindet. Die Seele ist ein Ausdruck dieser grenzüberschreitenden Kraft, die nicht im prosaischen Alltag auf Erden zu finden ist. Nicht die Übereinstimmung mit den Ansprüchen von Moral und Religion entscheidet die Eigenschaften und das Schicksal der Seele, nein, vielmehr ihre Treue gegenüber den echten und wahren Gefühlen wie der Liebe, die in Werthers Fall die Seele erfüllt. Die romantische Liebe hebt die allgemeinen moralischen Forderungen auf, denn die Liebe und die Emotionen gehen vor – mit dem Segen der Seele. Deshalb kann auch die Liebe die Seele eines Sünders erlösen. Doch in Werthers Fall ist die Liebe äußerst komplex. Da er die Frau eines anderen, die er (auf unchristliche Weise) begehrt, nicht bekommt, wird sein Leben sinnlos, und er nimmt es sich. Denn auch die unglückliche Liebe ist absolut. Der tiefere Grund für Werthers Selbstmord ist jedoch auf ganz andere Art psychologisch. Werther ist letztendlich (wie Rousseaus unglücklich Verliebte) nicht gewillt, eine feste Bindung zu einem anderen Menschen einzugehen, und wahrscheinlich auch nicht in der Lage dazu. Im Grunde leidet er unter Liebesangst und Narzissmus. Goethe liebt das Leben und scheint persönlich davon abhängig zu sein, sich zu verlieben – mit einer gewissen Distanz. Im Privatleben hält er sich mit dem sexuellen Vollzug seiner Verliebtheiten zurück, weil dieser angeblich die Schönheit der Liebe verringert und das Verliebtsein auslöscht. Vielleicht sind deshalb viele von Goethes persönlichen Liebesgeschichten zu Weltliteratur geworden, vor allem seine sublimen Liebesgedichte. Auch bei Goethe persönlich hängen Seele, Herz und Liebe zusammen. Wenn er keinen liebte, war er unglücklich – außer wenn er die unglückliche Liebe in seiner Dichtung umsetzte. Deshalb schließt er das bekannte Gedicht Freudvoll und leidvoll mit folgenden Zeilen ab: Glücklich allein Ist die Seele, die liebt.

Die Herausforderung für den Anti-Dualisten Goethe lag darin, unmittelbar hingebungsvoll in seiner Liebe zu sein und gleichzeitig an der Entwicklung des Geistes teilzunehmen und zu ihr beizutragen. Wie konnte er die Welt des Geistes mit der Welt der Sinne vereinen, in der das Verhältnis zur Natur im Mittelpunkt steht? 200

Goethes strebende Seele

Die Natur und die Bestimmung der Seele Goethes wissenschaftliches und philosophisches Naturbild ist eng mit seinem Bild der Seele verknüpft. Philosophisch ist er eine Art Pantheist nach Art Spinozas, den er auch ins Deutsche übersetzte. Er schloss sich voll und ganz der Auffassung an, die hinter Spinozas Lehrsatz Deus sive natura, Gott oder Natur, steht. Gott ist nur ein anderes Wort für Natur und umgekehrt. Für Goethe bedeutet dies, dass die Natur göttlich und beseelt ist. Dadurch ist auch die Verwandtschaft zwischen der Natur und dem Menschen gegeben. Goethes Natur ist nicht die mechanische und quantitative galileisch-newtonsche Natur, sondern eine organische und beseelte. Für ihn geht bios (Leben) vor physis (Materie). Deshalb widerspricht er der zu seiner Zeit dominanten kantischen Naturphilosophie, die auf der newtonschen Physik und den universalen Naturgesetzen aufbaut und die Quantifizierung der Natur ermöglicht. Es scheint paradox, dass Goethe als wichtigste Stimme des subjektivistischen Sturm und Drang einen großen Teil seiner Geisteskraft auf die Naturwissenschaft und die Erforschung der Natur verwendet. Dass er sich als Romantiker für die Natur interessiert, verwundert weniger, da die Natur ein Hauptmotiv der Romantik ist. Sie steht für das Ursprüngliche, nicht durch Kultur Verfälschte und nicht durch Zivilisation und Industrie Verdorbene. Die Romantiker huldigen nicht der wissenschaftlichen Natur, sondern der schönen Natur als Motiv in Kunst und Dichtung, kurz: der Natur, mit welcher der Mensch verwandt ist. Auf seine persönliche Weise ist Goethe jedoch auch Naturwissenschaftler. Auf seiner Italienischen Reise verbrachte er mehrere Monate in Süditalien, wo er unter anderem nach der »Urpflanze« suchte, von der alle anderen Pflanzen abstammen. Ein Ergebnis war der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790). Weil der Geist Goethe zufolge nicht ohne Materie oder Natur existieren kann, gibt es auch in der Natur verschiedene Stadien und Niveaus von bloßer Materie und einfachem, organischen Leben bis zum hoch entwickelten Geist. Hier kommt Goethes ganzheitliche Sicht der Dinge ins Spiel. Er meint, man könne das Prinzip der Entwicklung und Steigerung anhand der Morphologie der Pflanzen illustrieren. Alle Pflanzen entwickeln sich aus einem gemeinsamen Prinzip, dessen Grundlage Blätter sind. Ein Samenkorn keimt wie ein Blatt auf, verdoppelt sich und entwickelt einen Stängel, entwickelt neue Blattknospen, Kronblätter und Blüten, die neue Samen geben (vereinfacht gesagt). Die Natur und die Bestimmung der Seele

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Dieser Erklärung liegt ein (aristotelisches) finales oder teleologisches Verständnis der Natur und allen Lebens zugrunde, das von der zu Goethes Zeit geltenden Naturwissenschaft abweicht, welche die Natur eher kausal und quantitativ erklärt. Ein solches Telos-Denken bedingt auch Goethes Verständnis der Entwicklung und Bestimmung der Seele, das mit dem klassisch-aristotelischen Begriff Entelechie in eine Formel gebracht werden kann. Die Seele erreicht ihr Ziel (telos), indem sie die ihr innewohnenden Möglichkeiten verwirklicht, wie das Samenkorn, das unterschiedliche Stadien durchläuft, aufblüht und schließlich wieder Samen wird. Die Übergänge in dieser Entwicklung sind Metamorphosen, qualitative Veränderungen. Heute nennt man solche Schritte gern »Quantensprünge«, Verwandlungen, die einen Aufstieg bedingen, in Goethes Worten eine Steigerung. Sie führen zu einer vollendeten Form, der Entelechie. Die Seele kann ihre Entelechie durch Bildung und die Wechselwirkung zwischen persönlicher Freiheit und Notwendigkeit erreichen. Eine formvollendete Seele heißt bei Goethe schöne Seele. Sie erreicht diese Vollendung unter anderem, indem sie nach der Wahrheit strebt und versucht, Gutes zu tun. Davon wird die Seele auch edel, ein Attribut, das Goethe ebenso oft benutzt. Weil zwischen Mensch und Natur eine Analogie besteht, meint Goethe, dass man die Bestimmung des Menschen und der Seele erkennen kann, indem man die Natur studiert, was nicht nur mit den Methoden der newtonschen Physik möglich ist. Dichtung und Naturwissenschaft haben etwas gemeinsam, behauptet er, denn beide behandeln die Natur als Symbol. Beide bedienen sich der Begriffe und Bilder, um Erkenntnis über die Natur zu erlangen, und beide versuchen (wie Faust) herauszufinden, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Goethes Antwort lautet, dass es eine wesentliche Erkenntnis sei, das Geheime zu erkennen und als solches anzuerkennen. Man müsse es in den Griff bekommen, indem man Schritt für Schritt tiefer eindringt, sowohl tiefer ins Innere als auch weiter hinaus (ins Universum). So könne man das Geheime offenbaren. Deshalb nennt er die Natur »geheimnisvoll offenbar«. Nicht Kant, sondern der romantische Naturphilosoph Schelling setzte Goethes Naturbild in eine prägnante Formel um: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn.« Kants Unbekannte X, die sich in der Natur verbirgt, ist für Goethe ein vertrauter Freund, der mit ihm redet, weil er sich dieser Zurede öffnet und weil Mensch und Natur Ausdruck derselben Urkraft sind. Indem er sich für die Sprache der Natur öffnet, jene objektive Kraft jenseits des 202

Goethes strebende Seele

subjektiven Gefühls, kann der Mensch selbst ein Teil davon werden und darin aufgehen. Genau hier kommt die Seele ins Spiel, denn sie ist fähig, in der inneren Kraft des Schöpferwerks aufzugehen – über den fühlenden Körper, der wie wir selbst Natur ist. Goethe hebt das Symbol hervor, um das Geheimnis der Natur aufzudecken, das die Verwandtschaft zwischen Mensch und Natur vermittelt. Naturbilder sind mehr als nur ein Abbild der Natur. Das Symbol und das Bild sind gewissermaßen ein Trost für die geheimnisvolle Wirklichkeit, die wir nicht an sich erkennen. Doch wir können sie mithilfe von Symbolen darstellen und ihr somit einen Sinn geben. Ebenso verhält es sich mit der Seele. In sich selbst ist sie ein zusammengesetztes, »unübersetzbares« Bild – gleichzeitig Substanz, Symptom und Symbol. Diese Wörter sind schon für sich ein Bild der unergründlichen Seele: Worte sind der Seele Bild – Nicht ein Bild! Sie sind ein Schatten!

Das Gedicht ist ein Versuch, die Seele mit Worten zu greifen. Dabei stellt sich heraus, dass die Sprache, die Worte und sprachlichen Bilder, alles sind, was wir dazu haben. Näher kann man einem so unfassbaren Objekt wie der Seele nicht kommen. Doch die sprachlichen Bilder können etwas andeuten, sie können einen Schatten aus dem tiefsten Inneren hervorrufen, etwas, das wir Seele nennen, aber nicht greifen können. Wenn wir es versuchen, rinnt es wie Sand zwischen unseren Fingern hindurch. Das Seelenleben gehört denjenigen, die sich dafür öffnen. Das Flüchtige an der Seele kommt in einem weiteren bekannten Seelengedicht Goethes zum Ausdruck, dem Gesang der Geister über den Wassern. Wieder versucht er, das Wesen der Seele einzufangen, und wieder erfährt er, dass die Seele flüchtig wie Wasser ist. Doch in diesem Gedicht bekommt die Ähnlichkeit zwischen Seele und Wasser eine andere ontologische Bedeutung. Die Seele wird nicht nur mit dem Wasser verglichen, sondern ist wirklich mit ihm verwandt, mit den Elementen, das heißt mit der Natur. Des Menschen Seele Gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, Zum Himmel steigt es, Und wieder nieder Die Natur und die Bestimmung der Seele

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Zur Erde muß es, Ewig wechselnd.

Goethes analogische Denkweise – die Parallele zwischen Mensch und Natur – kommt hier in einem Pantheismus zum Ausdruck, der auch ein anagogisches Verständnis der Welt zulässt: Es gibt verschiedene Niveaus im Dasein (alle gehören zur Natur) und entsprechend kann sich auch die Seele in geistige Sphären erheben. Hier macht sich neuplatonischer, plotinischer Einfluss geltend: Die Natur ist beseelt, und die Seele besitzt die Fähigkeit, sie zu be-seelen und selbst inspiriert (vergeistigt) zu werden, wodurch sie sich erhebt. Doch selbst in diesem komplexen Spiel, in dem der Mensch und die Menschenseele Teil eines größeren Systems sind, das sein eigenes, zusammengesetztes und unübersichtliches Leben lebt, bleibt das Schicksal des Menschen auch zufällig, analog zum unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Wind, wie die letzte Strophe schildert: Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind!

Dass der Mensch Teil der Natur ist (pantheistisch gesehen) und nicht Teil einer konfessionell-religiösen Transzendenz (eines christlichen Himmelreiches), kommt in Goethes bekanntestem Gedicht, Wanderers Nachtlied – Ein Gleiches, zum Ausdruck. Hier gehen das Leben und der Tod des Menschen in einen organischen und irdischen Lebenszyklus ein, als Teil des ewig zyklischen Schöpferwerks. Es gehört zum Kontext, dass Goethe es an die Wand einer Waldhütte schrieb, in der er auf seinen Wanderungen des Öfteren übernachtete. Über allen Gipfeln Ist Ruh’, In allen Wipfeln Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest du auch.

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Goethes strebende Seele

Thema des Gedichts ist eine größere Wanderung, nämlich die des Lebens von der Geburt bis zum Tod, wovon Goethes Reaktion zeugt, als er als alter Mann auf einer seiner letzten Wanderungen sein Gedicht an der Wand wiedersieht. Er nimmt den Hut in die Hand, liest es sich selbst laut vor und bricht in Tränen aus. Es muss wie ein Epigraph auf sein eigenes Leben gewirkt haben, und so wurde es auch zum Epitaph auf seinem Grabstein. Schaut man sich Goethes Leben an, so ist nicht die Erlösung der Seele im christlichen Sinne sein Ziel. Das freidenkerische Verhältnis des Dichters zum Christentum ist in unserem Zusammenhang höchst bemerkenswert. Den zentralen Dogmen des Christentums konnte sich Goethe nicht anschließen. Die These des stellvertretenden Leidens beim Kreuzestod Christi lehnte er ab. In einem Brief vom 29. Juni 1782 an den Schweizer Pfarrer und Philosophen Lavater nannte er sich einen »dezidierten NichtChristen«, und an Carl Friedrich Zelter schreibt er noch am 9. Juni 1831, das Kreuz von Golgatha, der »Baum der Folter«, sei für ihn »das Abscheulichste unter der Sonne«. Dass die Taten eines Menschen im Verhältnis zur Erlösung unbedeutend sein sollen, verstößt gegen den gesunden Menschenverstand für Goethe, der die Bestrebungen eines Menschen am höchsten schätzte. Erlösung durch stellvertretendes Leid widerspricht dem Selbsterhaltungstrieb der Seele und ihrem tiefen Bedürfnis, den Sinn des Lebens durch aktives Wirken zu bestätigen. In diesem Sinne sagte er seinem Sekretär Eckermann am 4. Februar 1829 folgende Worte (nach den Aufzeichnungen Eckermanns): Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Thätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag. (Gespräche Bd. 7)

Faust ist die Antwort auf die Frage, ob es möglich ist, sich selbst durch eine vita activa zu erlösen.

Die Natur und die Bestimmung der Seele

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Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust (Goethe, Faust)

Faust – die Wette um die Seele Das Hauptmotiv des Faust wird im »Prolog im Himmel« präsentiert. Darin diskutieren Gott und Luzifer alias Mephistopheles, ob der Mensch wirklich die Krone der Schöpfung sei. Mephistopheles argumentiert, der Mensch gebrauche die Vernunft, die ihn allen anderen Wesen überlegen machen sollte, »um tierischer als jedes Tier zu sein«. Gott zieht Faust als Gegenbeweis heran. »Kennst du den Faust?«, fragt er. Mephistopheles bejaht, hat aber keinen besonderen Respekt für den Gelehrten, der nie genug wissen kann (»Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne / Und von der Erde jede höchste Lust«). Gott meint, dass dennoch Hoffnung für Faust besteht, und dass er sich in seinem Streben erleuchten und von ihm führen lasse. Da schlägt Mephisto eine Wette vor: »Was wettet Ihr? den sollt Ihr noch verlieren, / Wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt, / Ihn meine Straße sacht zu führen!« (312–314). Gott lässt sich auf die Wette ein und lässt Satan gewähren, »Solang’ er auf der Erde lebt«. Der Herr ist sich des Sieges sicher: »Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt: / Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewußt« (327 ff.). Faust ist eine Wette wert – für beide Seiten. Er kann wohl zwischen Gut und Böse unterscheiden und ist imstande, das Gute kraft seines Wissens und seiner Fertigkeiten zu fördern. Aber genau deshalb ist auch die Versuchung groß, sein Wissen und seine Fähigkeiten zu missbrauchen, um schneller und besser an sein Ziel zu gelangen. Die Versuchung steigt proportional zu seinem persönlichen und fachlichen Ehrgeiz, und er will nicht weniger als das Beste dieser Welt, sowohl intellektuell-geistig als auch emotional-sinnlich. Die Spannung zwischen Hoch und Niedrig, die Mephisto in ihm erkennt – und die in unserem Zusammenhang besonders wichtig ist –, drückt Faust selbst in den viel zitierten Versen aus: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andre hebt gewaltsam sich vom Dunst Zu den Gefilden hoher Ahnen. (1112–1117)

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Goethes strebende Seele

Dies ist kein Ausdruck eines gespaltenen Sinnes oder von Wankelmut, wie es viele interpretieren, sondern zeigt lediglich, dass Faust ein zusammengesetzter Charakter ist. Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der die sinnlichen Leidenschaften und weltlichen Begierden des Körpers kennt und seine Lust befriedigen will. Gleichzeitig ist er ein intellektueller Suchender, der dem Geist in die Höhe folgt und Antwort auf die ersten und letzten Fragen haben will. Trotzdem muss er erkennen, »daß wir nichts wissen können!« (364) Aufgrund dieser Verzweiflung nach einem langen Forscherleben ist er bereit, den Pakt mit dem Teufel einzugehen, um das Rätsel der Welt zu lösen, auch wenn es mithilfe von Magie geschieht. Es heißt, niemand habe den Intellektuellen so einfühlsam wie Goethe geschildert und dass man bis zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930) gehen müsse, um eine vergleichbare Kenntnis des Intellektuellen als Menschentypus zu finden. Die andere Hälfte von Fausts Seele sucht unterdessen den sinnlichen Genuss. Die Wette zwischen dem Herrn und Mephisto ist auch ein Kampf zwischen Gut und Böse, und am Ende gibt es keinen Zweifel, wer bestimmt: »Mein Wort ist Gesetz«, sagt der Herr, aus dem alle Quellen des Lebens entspringen. »Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, / Umfaß’ euch mit der Liebe holden Schranken« (346 f.). Das Gute ruht in sich selbst und erschafft von selbst, der Teufel hingegen ist der Verneiner, das Negative, das nie in sich selbst ruhen kann, ein Unwesen, das nichts anderes kann als schmarotzen und das Gute zerstören. Darin besteht das Böse. Auf diese Weise bestätigt das Böse sogar gegen seinen Willen das Gute – worüber Mephisto sich im Klaren ist. Historisch betrachtet wurden die Götter, darunter auch Satan, internalisiert, sie sind Teil des menschlichen Inneren geworden. Der Böse wurde aufgelöst, aber das Böse besteht weiter, während der Böse zu seinem literarischen und symbolischen Ausdruck wurde. Gott ist abwesend, aufgelöst, nur Mephisto wirkt in dieser Welt, als Projektion der negativen und destruktiven Seiten des Menschen. Als Folge dieser Entwicklung wird die Erlösung der Seele zur Angelegenheit des Einzelnen: Gott erlöst denjenigen, der sich selbst erlöst, während jeder sich dem Bösen verschreiben kann, und dies jederzeit. Es geschieht ständig, informell, ohne Vertrag (wie Faust es will) und immer auf Kosten der anderen. Man darf nicht vergessen, dass Faust selbst die Mächte gerufen hat und bereit war, Magie zu gebrauchen, ehe Mephisto ihn aufsucht. Deshalb ist er schnell gewillt, sich auf die Wette mit dem Teufel einzulassen – Faust

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wohlgemerkt eine Wette und keinen Pakt mit dem Teufel. Je unerreichbarer seine Ziele werden, desto frustrierter ist Faust, was ihn zur leichten Beute für Manipulation und Korruption (modern ausgedrückt) macht. Er ist der ewigen Entbehrung leid (1549 ff.) und ist so weit gekommen, dass er Glaube, Liebe und Hoffnung abschwört und bereit ist, sich dem Teufel zu verschreiben, der ihm ein unwiderstehliches Angebot macht: »Ich bin dein Geselle / Und, mach ich dir’s recht, / Bin ich dein Diener, bin dein Knecht!« (1646 ff.) Aber unter einer Bedingung: Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; Wenn wir uns drüben wieder finden, So sollst du mir das Gleiche thun (1656 ff.).

Faust ist dies gleichgültig, solange er in dieser Welt von Qual und Leid erlöst wird. »Dann mag was will und kann geschehn« (1666). Insgeheim jedoch hofft er, dass seine Bestrebungen ihn retten können. Fausts wichtigster Charakterzug ist, dass er sucht und nach etwas strebt, das in dieser Welt unerreichbar scheint und das auch Mephisto ihm nicht wird geben können. Deshalb stellt er noch eine Bedingung, bevor er Mephistos Angebot annimmt: Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zu Grunde gehn! (1699 ff.)

Diese Prämisse ist ein faustischer Geniestreich, ein logisches Paradox, das Mephisto schachmatt setzen kann (ohne dass es so gedacht wäre). Wenn Mephisto es schafft, Faust in eine Situation zu bringen, in der all sein Begehren gestillt ist und die Zeit sozusagen stillsteht, ja, dann hat Mephisto eigentlich das Himmelreich auf Erden geschaffen – und sich selbst überflüssig gemacht. Vielleicht hat unser Herr doch recht, wenn er sagt, dass Mephisto einen Geist wie den Fausts nicht versteht und am Ende der Angeschmierte sein wird. Im Faust werden also zwei Wetten eingegangen und in beiden ist der Einsatz Fausts Seele. Doch im Vergleich zur Wette zwischen Gott und dem Teufel, in der Gott Mephisto mit Faust freie Hand lässt, ist dieses Verhält208

Goethes strebende Seele

nis bei der Wette zwischen Faust und dem Teufel umgekehrt. Hier soll Mephisto Fausts Helfer sein und Faust bekommt freie Hand. Die Seele ist das Objekt, während das Subjekt des Dramas die Person Faust ist. Der entscheidende Punkt ist, ob er trotz aller kurzsichtigen Befriedigungen, die er durch die Wette erlangt, in Haltung und Handlung so moralisch und persönlich lebt, dass seine Seele vom Bösen erlöst werden kann. Dies wird im Hinblick auf eine der beiden Achsen in Fausts Streben entschieden, nämlich die der Erotik. Und dort ist das Verhältnis zwischen Haltung und Handlung entscheidend. Kurz und gut: Kann Fausts Haltung oder Gesinnung die Konsequenzen seiner Handlungen aufheben?

Die Liebestragödie Das Faust den Untertitel »Eine Tragödie« trägt, liegt besonders an Fausts Verhältnis zu Margarete, genannt Gretchen, der hübschen jungen Frau, die er verführt. Ihre Funktion ist es, den Teil von Fausts Seele zufriedenzustellen, der in dieser Welt die Befriedigung der sinnlichen Leidenschaft sucht. Die Gelegenheit bietet sich, etwas anders als geplant, als Faust sie zufällig auf der Straße trifft und ihr auf höfische Weise den Arm bietet. Aber das sittliche Gretchen lässt sich nicht von einem Fremden auf der Straße ansprechen, auch wenn der galante Faust das einfache Mädchen beeindruckt. Sein Begehren hat ein wirkliches Ziel gefunden; er kommt sofort zur Sache und befiehlt Mephisto ziemlich plump: »Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!« (2619) Natürlich ist Goethe klar, als wie primitiv er Faust hier darstellt. Er will das Begehren als natürliche und starke Kraft im Menschen darstellen und zeigen, was geschieht, wenn es nicht durch ethische Normen und die Liebe zu anderen geregelt wird. Dann wird die Leidenschaft destruktiv. Faust ist schließlich in Gesellschaft des Bösen und lässt sich von ihm versuchen. Doch als er sich mit Mephistos Hilfe in Margaretes Kammer gestohlen hat, wird er mit einem Mal geläutert. Sogar das Zimmer strahlt die Reinheit aus, die Gretchen wie eine Emanation ihrer seelischen Qualitäten umgibt. Das einfache, kleine Zimmer scheint Faust wie ein heiliger Ort: Natur! hier bildetest in leichten Träumen Den eingebornen Engel aus; Hier lag das Kind! mit warmem Leben Die Liebestragödie

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Den zarten Busen angefüllt, Und hier mit heilig reinem Weben Entwirkte sich das Götterbild! (2711 ff.)

In dieser Gemütslage ist er nicht imstande, sein listiges Vorhaben durchzuführen. »Armsel’ger Faust! ich kenne dich nicht mehr. […] Fort! Fort! Ich kehre nimmermehr!« (2720/2730) Faust sieht ein, dass er auf kurze Sicht verzichten muss, um sich nicht auf lange Sicht unsühnbare Schuld aufzuladen. Den Gedanken des Verzichts entwickelt Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahre, das den Zusatz oder die Entsagenden im Titel trägt und das man als Gegenstück zum jungen Werther und zum Faust lesen kann, die beide weder entsagen noch sublimieren, sondern ihren Leidenschaften nachgeben. Faust hat dem Teufel nicht nur den kleinen Finger gegeben, sondern die ganze Hand und mehr. Und nun steht Mephisto mit einem Schrein voller kostbarer Schmuckstücke in der Hand vor ihm und stellt den Schatz in Gretchens Schrank. Gretchen ist hingerissen und probiert den Schmuck an, doch sie weiß, dass etwas nicht stimmt, und gibt ihn ihrer Mutter, die ihn an den Priester weiterverschenkt. Mephisto muss neue, noch schönere Schmuckstücke herbeischaffen und eine List ersinnen. Er schmeichelt sich bei Gretchens Freundin Marthe ein, die von ihrem Mann verlassen wurde. Sie fällt auf den galanten Schmeichler herein und übernimmt intuitiv die Rolle der Kupplerin zwischen Gretchen und Faust. Außerdem überredet sie ihre Freundin, den Schmuck zu behalten. Faust kommt seinem Ziel nach dem Grundprinzip aller Korruption näher: »Ein Dienst ist wohl des andern werth« (3032). Als er schließlich seinen Willen mit Gretchen bekommt, spricht er die bekannten Worte: »Gefühl ist alles.« Er wolle doch nur »Ein Stündchen ruhig dir am Busen hängen / Und Brust an Brust und Seel’ in Seele drängen« (3503 f.). Dazu muss er zuerst Gretchens Mutter ein Mittel verabreichen, das sie in einen Schlaf versetzt, aus dem sie nie mehr aufwacht. Kurz darauf töten Mephisto und Faust auch Gretchens Bruder Valentin, der die Entehrung seiner Schwester rächen will. Die Verführer machen sich aus dem Staub und Gretchen bleibt allein mit der Schmach zurück, die durch ihre Schwangerschaft nur schlimmer wird. Faust hat also zwei Leben auf dem Gewissen – und bald darauf vier, weil Gretchen in ihrer Verzweiflung das uneheliche Kind tötet und als Kindsmörderin zum Tode verurteilt wird. Für uns stellt sich die Frage, wie Faust mit dieser Schuld leben kann und welche Folgen sie für seine Seele als Ausdruck seiner persönlichen 210

Goethes strebende Seele

Integrität hat. Er hat gegen eigene und gesellschaftliche Normen verstoßen – kann seine Integrität dennoch wieder aufgerichtet werden? Die Antwort auf diese Frage bekommen wir erst am Ende von Faust II, aber die Voraussetzungen dafür sind bereits am Ende des ersten Teils gegeben. Sie sind fest mit Gretchen und ihrer Tugend verbunden und mit Fausts Haltung ihr gegenüber. Wie wir gesehen haben, hat er bereits Skrupel, bevor er sie verführt, seine Gefühle gehen von Begierde über Verliebtheit bis zu echter Liebe. Je näher er Gretchen kommt, desto stärker wird die Liebe. Obwohl seine Rhetorik durchaus verführerisch ist, steckt mehr hinter den Worten, mit denen er die Liebe preist. Wenn schon Gretchens Kammer von ihrem Geist und ihrer Persönlichkeit beseelt ist, wie viel mehr strahlt sie dann selbst von der Kraft aus, für die Faust Worte sucht: Was unaussprechlich ist: Sich hinzugeben ganz und eine Wonne Zu fühlen, die ewig seyn muß! Ewig! – Ihr Ende würde Verzweiflung seyn. Nein, kein Ende! Kein Ende! (3190 ff.)

Nichts Menschliches währt ewig. Faust sucht das Beständige, damit er sagen kann: »Verweile doch! du bist so schön!« Mit Gretchen ist er auf dem besten Weg dazu. Sie weiß tief in ihrer Seele, was ehrlich und recht ist. Deshalb versucht sie, Faust zu etwas zu verpflichten, das größer als er selbst ist und dem dann beide verpflichtet wären. Sie fragt ihn, ob er gläubig sei. Faust weiß genau, was dies bedeutet: ob er auch die Gebote respektiert, besonders eines. Fausts Antwort ist ein rhetorisches Mittel der Verführungskunst. Allerdings findet Gretchen, er rede wie ein Priester oder Schwätzer. Doch Faust meint auch, was er sagt; vielleicht drückt er in seinem langen Liebesmonolog sogar die Meinung seines Schöpfers aus, als er in Worte zu fassen versucht, was bedingungslos und unabhängig von Glauben und Sakramenten gilt. Es ist eine allumfassende Kraft, die den Menschen und sich selbst aufrechterhält: Schau’ ich nicht Aug’ in Auge dir, Und drängt nicht alles Nach Haupt und Herzen dir, Und webt in ewigem Geheimniß Unsichtbar sichtbar neben dir? Die Liebestragödie

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Erfüll’ davon dein Herz, so groß es ist, Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, Nenn’ es dann wie du willst, Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen Dafür! Gefühl ist alles. (3446 ff.)

Die Liebe ist nicht nur ein abstrakter Begriff, sie ist Substanz und wird erst durch einen anderen Menschen verwirklicht, in dem, was zwei Menschen verbindet und stärker ist als alle anderen Kräfte. Vielleicht kann es sogar die zwei Seelen vereinen, die in Fausts Brust wohnen, obwohl er hier die eine als Mittel für die andere benutzt. Faust suchte die Befriedigung seiner Lust, doch er wurde von der Liebe getroffen, fell in love, wie es treffend auf Englisch heißt. Das Gleiche gilt für Gretchen: »Seh’ ich dich, bester Mann, nur an, / Weiß nicht was mich nach deinem Willen treibt« (3517 f.). Dies ist das Magische an der Liebe. Sie trifft beide Seiten wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Von diesem Augenblick an ist auch Faust in einer anderen Welt, auf einer höheren Ebene als der von Mephistos Kupplerei. Aus dieser Perspektive müssen wir auch Gretchens Reaktion auf Mephisto betrachten. Die Präsenz von Fausts Begleiter quält sie, sie verabscheut ihn aus tiefster Seele und hofft, dass es Faust ebenso geht. Sie fürchtet um seine Seele und fühlt Mitleid und Sorge als komplementäre Emotionen der Liebe. Auch Faust fühlt mit Gretchen: »Fühl’ ich nicht immer ihre Noth?« (3347), fragt er, obwohl er nicht entsprechend handelt. Am Ende, als Gretchen im Gefängnis sitzt und Faust versucht, sie zu befreien, klagt sie: »Bist du ein Mensch, so fühle meine Noth« (4425). Mitgefühl ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Doch der Abscheu gegenüber Mephisto ist bei Faust weniger ausgeprägt; schließlich ist jener sein Helfer und macht ihm Angebote, die er nicht ausschlagen kann. Bosheit bedeutet hier, dass man normale emotionale Reaktionen ausschaltet, um Vorteile zu erlangen. Bekanntlich sind viele bereit, über Leichen zu gehen. Gretchens Integrität hingegen ist noch intakt. Sie spürt intuitiv, dass Mephisto ein Psychopath ist: Man sieht, daß er an nichts keinen Antheil nimmt; Es steht ihm an der Stirn’ geschrieben, Daß er nicht mag eine Seele lieben. (3488 ff.)

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Goethes strebende Seele

Lust und Leidenschaft können auch Teil des Bösen sein, wenn man in einem ewigen Karussell der Begierde stecken bleibt und genug nie genug ist. Hab- und Machtsucht kennen kein Ende. Sobald ein Ziel erreicht ist, wird es zum Mittel für den nächsten Zweck, ad infinitum. Doch die Liebe ist in sich selbst nicht reduzierbar und hat kein anderes Ziel als sich selbst. Der liebende und der geliebte Mensch bilden keine Einheit, sondern eine integrierte Ganzheit, die vom unsagbaren Dritten zusammengehalten wird. Diese Kraft repräsentiert Gretchen. Margarete steht kurz vor ihrem Ende, als Faust sie im Gefängnis findet. Sie ist am Rande des Wahnsinns, leidet Seelenqualen und Höllenangst und glaubt, der Henker käme, als Faust und Mephisto um Mitternacht auftauchen. Dabei hat sie nicht unrecht, denn schließlich ist Faust dafür verantwortlich, dass sie in Ketten im Kerker sitzt. Sie erkennt ihren Liebhaber nicht, der sie befreien will. Erst als er verzweifelt ihren Namen ruft, erkennt sie ihn wieder und ruft aus: »Ich bin gerettet!« (4474) Doch letztendlich meint sie damit eine andere Rettung. Sie bemerkt, dass er ihre Liebe nicht wie beim letzten Mal mit Küssen und Wärme erwidert, sondern ihr mit kalten Lippen entgegentritt. Außerdem steht die Sünde, der Tod ihrer drei nächsten Verwandten, zwischen ihnen. Gretchen befürchtet, dass Faust nicht versteht, was für ein sündiger Mensch sie sei. »Mir ist’s als müßt’ ich mich zu dir zwingen, / Als stießest du mich von dir zurück. / Und doch bist du’s und blickst so gut, so fromm« (4533 ff.) – obwohl Faust im Gegensatz zu ihr nicht für seine Taten einsteht. Sie hat eine Todsünde begangen, deshalb bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit dem Leben zu büßen. Noch schwankt sie – bis Mephisto sich zeigt und sie glaubt, dass er sie holen will. In diesem Moment entscheidet sie endgültig, nicht mitzukommen: »Gericht Gottes! dir hab’ ich mich übergeben! […] Dein bin ich, Vater! Rette mich!« (4605 ff.) Mephistos lakonischer Kommentar »Sie ist gerichtet« (4611) wird durch eine »Stimme von oben« mit »Ist gerettet!« ergänzt und Mephisto zieht Faust mit den Worten »Her zu mir!« von der Bühne. Der Böse scheint die Wette gewonnen zu haben, doch es sind nicht die letzten Worte des Liebesdramas. Diese sind zweideutig und gehören Gretchen, die noch einmal »Heinrich! Heinrich!« ruft. Der Tragödie erster Teil hat also ein offenes Ende mit klaren Fronten: Gretchens Gott steht gegen Fausts Mephisto und dessen gerichtet gegen Gottes und Gretchens gerettet. Gibt es noch Hoffnung für Faust, nachdem er die Liebe verhöhnt, betrogen und geschwächt hat? Auf diese Frage Die Liebestragödie

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bekommen wir keine Antwort, ehe der Vorhang von Faust II zum letzten Mal fällt. Ein Leben muss erst zu Ende gelebt werden, ehe das Schicksal der Seele sich entscheidet.

Faust II – Schuft oder Held oder etwas anderes? Nachdem eine der zwei Seelen, die in Fausts Brust wohnen, im ersten Teil gefallen ist, verfolgt die andere weiter ihr Ziel, um »sich aus dem Staub zu erheben« Denn es ist »jedem eingeboren, / Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt« (1092). Während Faust im ersten Teil in der subjektiven und intimen Welt lebt, dominiert im zweiten Teil die »weite Welt«. Schauplätze sind großartige Naturlandschaften (1. und letzter Akt), das antike Griechenland (2. und 3. Akt) und Deutschland im Mittelalter sowie zu Goethes Zeit, deren politische Zustände ziemlich kleinlich gegen den unendlichen Horizont und das Hohe erscheinen, das Faust anstrebt. Auch die Form der Darstellung ist komplett anders als im ersten Teil. Sie ist stark stilisiert und spielt vor dem Bildungshintergrund einer ganzen Kultur. Mythische und symbolische Figuren treten auf, die allgemein menschliche Konflikte und Herausforderungen repräsentieren. Diese Mischung macht den zweiten Teil schwerer zugänglich als den ersten. Goethe selbst glaubte, das Werk würde nicht verstanden werden, und ließ es nie veröffentlichen. Noch immer sind es die Grenzen der Natur und der menschlichen Existenz, die Faust herausfordern – und das Weibliche, das ihn anzieht. Dies führt ihn in die Antike, wo er die klassischen Naturphilosophen trifft – und Helena, die mythische Quintessenz des Weiblichen. Sie weckt sein Begehren, wie um die Schlussworte des Dramas »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan« zu bekräftigen. Und wie er Gretchen haben musste, lechzt er nun nach Helena. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Faust bekommt seine Helena, die mithilfe mythischer Gestalten aus dem Hades geholt wird. Nachdem sie ihre Rächer geschlagen haben, können sie sich als glückliches Paar in Arkadien niederlassen. Sie bekommen einen Sohn, Euphorion, der den Drang nach Höherem vom Vater geerbt hat und zum Ikarus wird. Es endet mit Hybris, Fall und Tod. Damit ergibt sich auch Helena der Persephone und kehrt mit ihrem Sohn in den Hades zurück. Mutterliebe ist stärker als Erotik. Faust lässt sich von allem inspirieren, was die mythische Gattin ihm gegeben hat: 214

Goethes strebende Seele

Es trägt dich über alles Gemeine rasch Am Aether hin, so lange du dauern kannst. Wir sehn uns wieder, weit gar weit von hier. (9952 ff.)

* Wir überspringen die übrigen Akte, um uns auf den Schluss und das Schicksal von Fausts Seele zu konzentrieren. Im vierten Akt treffen wir ihn im Mittelalter in einem Hochgebirge. Er hat sein Suchen und Streben wieder aufgenommen und stellt im Gespräch mit Mephisto fest: Erstaunenswürdiges soll gerathen, Ich fühle Kraft zu kühnem Fleiß. […] Herrschaft gewinn’ ich, Eigenthum! Die That ist alles, nichts der Ruhm. (10183 ff.)

Durch die Betrachtung der Naturgewalten ist ihm ein neues Ziel für seinen Ehrgeiz eingefallen. Im fünften Akt will er das Meer zurückhalten, um Strandgebiete für den Pflug zu gewinnen. Die Natur soll ganz im Geist der Zeit beherrscht und ausgenutzt werden: »Das herrische Meer vom Ufer auszuschließen, / Der feuchten Breite Gränzen zu verengen« (10229 f.). Das klingt wie die Anleitung zu einer ökologischen Katastrophe. Doch auf dem Gebiet wohnt ein altes Ehepaar, Philemon und Baucis, die Fausts Projekt nicht weichen wollen. Sie leben in einer kleinen Hütte unter Lindenbäumen an Fausts Strand. Der eigentliche Dorn in Fausts Auge ist nicht ihre Hütte, sondern ihre kleine Kapelle, deren Glockenklang ihn an ein anderes Leben erinnert und an Normen und Werte, die auf einem anderen Niveau liegen. Auf diesem Niveau ist das einfache Leben des Ehepaars wertvoller als sein inzwischen erfolgreiches und reiches Leben. Wieder muss er zu Mephistos Hilfe greifen, um das Ehepaar loszuwerden. Mephisto erledigt die Sache auf seine Weise, mit Mordbrand. Dabei kommt auch ein unschuldiger Wandersmann zu Tode, der als Gast in der Hütte wohnte. Faust ist empört, er wollte handeln, nicht rauben. Doch Mephisto entgegnet, er habe nur getan, was Faust gewollt habe. Faust ist nun ein alter Mann und besitzt alles, was er braucht. Er ist frei von Mangel, Schuld und Not, drei allegorische Gestalten, die ihn besuchen, aber unverrichteter Dinge wieder abziehen. Doch die vierte, die sich Sorge nennt, wird er nicht los. Sie tritt als Vorbote des Todes auf. »Sorge« Faust II

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lässt an die sokratische Sorge um die Seele denken oder an Heideggers Sorge um die Zukunft und die authentische Existenz. Solche existenziellen Sorgen drängen sich nun auch Faust auf. Können die äußeren Ziele, die er erreicht hat, ihn zufriedenstellen? Erfolg und Reichtum können nie seine moralische Schuld einlösen oder die Sorge vertreiben, die nun auf seine Augen haucht, sodass er erblindet. Denn blind ist er gewesen und blind soll er bleiben. Im Gegensatz zu Teiresias und anderen Weisen, die seherisch und weise wurden, als sie erblindeten, wird Faust auch blind im Geist. Seine Reaktion »Allein im Innern leuchtet helles Licht« (11500) ist pure Beschwörung. Positiv gedeutet hält er bis zum Letzten an seinem Ziel fest und will seine Gedanken weiterhin in die Praxis umsetzen. So gesehen ist er das Gegenstück zu Ibsens Peer Gynt, der es nicht einmal wagt, die Gedanken zu denken. Veränderung und Fortschritt sind abhängig von Ausnahmemenschen wie Faust: »Daß sich das größte Werk vollende, / Genügt Ein Geist für tausend Hände« (11509 f.) – ein Gedanke, den wir noch vom jungen Faust kennen. In diesem Geist sieht er eine Schar von Arbeitern vor sich, die die Landgewinnung umsetzen und die Natur zum Wohle der Menschen unterwerfen. Aber das Bild ist eine Illusion, die Mephisto erschafft, indem er Totengeister mit viel Lärm graben lässt. Mephisto weiß, dass das Meer sich alles zurückholen wird, sobald Faust verschwunden ist. Der blinde Faust aber glaubt sich am Ziel. Er will »Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn« (11580). Dann würde er sogar die magischen Worte sagen, mit denen er sich Mephisto verschworen hat: »Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön!« (11581 f.) Faust wähnt sich glückselig und lässt sich fallen, doch in Wirklichkeit haben Mephistos Totengeister sein Grab ausgehoben, in das er nun stürzt. Mephisto triumphiert: »Er fällt, es ist vollbracht« (11594).

* Fausts Leben ist zu Ende, und nun inszeniert Goethe ein anderes Drama, das Schlussdrama aller Schlussdramen, nämlich den finalen Streit um Fausts Seele. Nun soll die Wette entschieden werden. Dazu setzt Goethe mächtige Effekte ein, es wird ein kosmisches Drama zwischen Himmel und Hölle, mit entsprechenden Requisiten und mythischen Figuren. Mephisto reißt sich die Maske vom Gesicht und zeigt sich als der Teufel persönlich, mit einen Gefolge aus Kleinteufeln und ekligen Gestalten. Auf der anderen 216

Goethes strebende Seele

Seite steht eine himmlische Heerschar aus Engeln und heiligen Geistern, die vom Himmel kommen. Eine Mischung von konventionellen Wesen aus dem Jenseits und Figuren oder Mächten, die Goethe selbst erfunden hat, ringt um Fausts Seele. Um etwas zu vermitteln, das sich weder empirisch noch wissenschaftlich nachweisen und streng genommen gar nicht ausdrücken lässt, greift Goethe auf bekannte Erzählungen und mythische Figuren zurück, die er als Rahmen und Symbole benutzt. Wo Alltagssprache und Wissenschaft passen müssen, kann vielleicht die große Kunst reüssieren. Goethe benutzt den Bilderschatz, den Christentum und Kirche durch die Jahrhunderte erschaffen haben, um den letzten Kampf des Geistes stimmungsvoll darzustellen. Auf symbolisch-allegorische Weise vermittelt er sowohl das Drama der Seele als auch seine eigene Ansicht über eine mögliche Erlösung der Seele. Es ist gut dokumentiert, dass Goethe auch Reflexionen über seine persönliche Situation am Lebensabend in die Schlussszene einbrachte. Sein Leben und der Faust sind fest miteinander verwoben. Die Symbolik der Schlussszene stammt größtenteils aus der christlichen Tradition, aber deshalb ist ihr Inhalt nicht gleich konform mit der christlichen Lehre. Zum Beispiel ist das Kreuz (die Bedingung für eine christliche Erlösung) völlig abwesend. Auch die Botschaft richtet sich nicht auf das Jenseits im religiösen Verstand. Himmel und Hölle sind keine jenseitigen Welten, sondern bildliche Ausdrücke für das, was in jedem Menschen und im Zusammenleben aller Menschen vor sich geht. Goethe ist kein Dualist. Er ist voll und ganz ein Dichter der Kontinuität, nicht des Bruchs. Das eigentliche Kunststück des Faust II besteht darin, dass er den Tod und was danach geschieht als zum Leben gehörig und gleichzeitig das Leben überschreitend darstellt. Mephisto glaubt, er habe die Wette gewonnen und dass alles vorbei sei, als Faust ins Grab fällt. Er wartet nur auf Fausts letzten Atemzug, damit er sich seine Seele in dem Moment schnappen kann, in dem sie den Körper verlässt. Doch Fausts Seele lässt auf sich warten und zeigt sich in keiner Weise, und Mephisto klagt, dass die Seele sich verändert habe. Sie benimmt sich nicht mehr wie früher, als sie »wie die schnellste Maus« (11624) im Augenblick des Todes aus dem Körper entfleuchte und er sie in die Krallen bekam. Doch die Seele ist eine andere als zu heidnischen Zeiten oder im christlichen Mittelalter, sie ist fester mit dem Körper verbunden: Nun zaudert sie und will den düstern Ort, Des schlechten Leichnams ekles Haus nicht lassen; Faust II

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Die Elemente die sich hassen, Die treiben sie am Ende schmählich fort. (11626 ff.)

Trotzdem öffnet Mephisto siegessicher den Höllenschlund und lässt etliche Unterteufel Wache stehen, um Fausts Seele zu fangen: Das ist das Seelchen, Psyche mit den Flügeln, Die rupft ihr aus, so ist’s ein garstiger Wurm; Mit meinem Stempel will ich sie besiegeln, Dann fort mit ihr im Feuer-Wirbel-Sturm. (11660 ff.)

Doch anstelle der ewigen Dunkelheit der Hölle erscheint ein himmlisches Licht und eine Heerschar von Engeln schwebt herab und bestreut Fausts Todeslager mit Rosen. Das himmlische Licht vertreibt die Mächte des Dunkeln. Im Himmel sind Zweck und Mittel eins: »Liebe nur Liebende / Führet herein!« (11751 f.) Dies ist die entscheidende Messlatte für Fausts Schicksal. Liebt er innig genug und ist er Gegenstand der Liebe? Faust ist vom warmen Atem der Liebe beseelt, wenn auch der Leib stirbt. Der Geist der Liebe reinigt auch die Luft: »Hebt euch und preist, / Luft ist gereinigt, / Athme der Geist!«, singen die Engel (11822 ff.), als sie aufsteigen und Fausts unsterblichen Teil mit sich nehmen, wie es in der Bühnenanweisung heißt. Mephisto bleibt verwirrt zurück und fühlt sich wie ein Narr: Sind mit der Beute himmelwärts entflogen; […] Mir ist ein großer einziger Schatz entwendet, Die hohe Seele die sich mir verpfändet Die haben sie mir pfiffig weggepascht. (11827 ff.)

Damit hat Mephisto die Wette mit Faust verloren. Doch der Ausgang der Wette mit Gott ist noch nicht 100-prozentig geklärt. Wird die Seele einen Reinigungsprozess durchlaufen, eine Art Purgatorium oder postmortale Entwicklung, oder wird sie aus Gnade angenommen, wie sie ist, oder gar noch abgewiesen? Dies wird in der allerletzten Szene entschieden, die wieder in einer Bergschlucht spielt, das heißt in einer wilden Natur mit vertikaler Struktur, gut geeignet, um den Anstieg der Seele über verschiedene geistige Niveaus bis zur vollkommenen Reinheit des Geistes zu demonstrieren. Für unsere Seelengeschichte ist diese Szene am wichtigsten, weil sie 218

Goethes strebende Seele

von der endgültigen Bestimmung der Seele zeugt. Und wieder gilt: Obwohl der christliche Einfluss nicht zu übersehen ist, ist diese Bestimmung nicht mit den Dogmen des Christentums und der Kirche identisch. Der Grund der »religiösen« Darstellung wurde bereits erwähnt: Nur auf diese Weise kann Goethe ein Symbol- und Bedeutungsuniversum schaffen, das reich genug an Konnotationen ist, die ihm eine Antwort auf die letzten Fragen ermöglichen – Fragen, die nur indirekt oder symbolisch zu beantworten sind. Die Antwort stimmt mit dem überein, was wir bisher über Goethes Seelenbild erfahren haben, mit seiner Psychologie des Geistes. Hier wird sie groß angelegt entfaltet, weshalb wir sie näher bestimmen können. Die Bergschlucht der letzten Szene ist sowohl eine paradiesisch-idyllische als auch eine natürlich-sublime Landschaft. Sie ist von der Liebe durchströmt, wie es Pater ecstaticus und Pater profundus besingen: Daß ja das Nichtige, / Alles verflüchtige, Glänze der Dauerstern / Ewiger Liebe Kern. […] So ist es die allmächtige Liebe Die alles bildet, alles hegt. (11862 ff.)

Aus unserer Perspektive ist es am wichtigsten, dass Liebe nichts ist, das man einfach entgegennimmt und passiv erlebt, sondern dass sie den Menschen formt und beschützt. Die Engel schweben in die höheren Sphären dieser Geisteswelt, »Faustens Unsterbliches entführend«, das heißt seine Seele. Dabei singen sie folgende Verse, die als endgültiges Urteil über Faust und sein Leben gelesen werden: Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen: Wer immer strebend sich bemüht Den können wir erlösen; Und hat an ihm die Liebe gar Von oben Theil genommen, Begegnet ihm die selige Schaar Mit herzlichem Willkommen. (11934 ff.)

Das »Glied der Geisterwelt« ist Faust. Das nächste Verspaar gilt seiner Seele, seinem »Unsterblichen«. Deren Heil ist durch die Liebe bedingt, die ihn an etwas teilhaben lässt, das größer als er selbst ist. Dass die guten GeistesFaust II

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mächte denjenigen erlösen können, der immer sein Bestes tut, kann man durchaus als Bedingung interpretieren. Wir wissen, dass unaufhörliches Streben Fausts wichtigstes Kennzeichen ist. Die Frage ist nur, was er angestrebt hat. Was hilft es, wenn sein Streben ein böses Ziel hat? Mephisto strebt ebenfalls unaufhörlich und dasselbe tat Hitler, bis zum bitteren Ende. Ein Zitat von Fridtjof Nansen drängt sich auf: »Was hilft es zu galoppieren, wenn man in die falsche Richtung galoppiert?« Wie ein norwegischer Ministerpräsident einmal gesagt hat: »Das Resultat zählt.« Ist das Resultat schlecht oder zerstörerisch, wäre es wohl besser, nichts zu tun und eine quietistische, passive Haltung einzunehmen, wie es ein Buddhist tun würde. Das Ziel jeglichen Strebens muss wohl in Richtung des Wahren, Schönen und Guten liegen. Dies war bei Faust nicht immer der Fall, auf jeden Fall waren seine Mittel böse, und auch die Resultate. Die Mittel beeinflussen das Ziel. Deshalb gäbe es guten Grund, ein Streben zum Selbstzweck nicht als erlösenden Faktor zu betrachten. Schimmert hier doch christliche Ethik durch? Der Wille ist wichtiger als das Resultat. Doch einen Baum erkennt man an den Früchten – und seine Qualität wird nach ihnen beurteilt. Das erste Wort des Engelsgesangs, gerettet, reimt sich am Ende des ersten Teils auf gerichtet. Dort bezog es sich auf den Jüngsten Tag. Doch Goethe arrangiert kein Gericht über Fausts Leben (wie ursprünglich geplant). Das Urteil eines solchen wäre eindeutig. Faust ist am Tod vieler Menschen schuld: Gretchen, ihre Mutter und ihr Bruder, Philemon, Baucis und der Wandersmann. Hinzu kommen diejenigen, die für sein Projekt ihr Leben gaben, und jene, die er im Krieg getötet hat. Die christlichen Bedingungen der Erlösung sind klar: Reue und Bekenntnis, aber vor allem Glaube, Luthers sola fide. Faust stirbt weder reuig noch gläubig. Weder der Glaube noch seine Taten können ihn retten. Am Jüngsten Tag der Apokalypse stünde er ziemlich schlecht da. Doch Goethe setzt andere Maßstäbe an. In seinem Verständnis des Lebensendes und des Schicksals der Seele spielen Sünde, Schuld und Strafe eine untergeordnete Rolle. Also misst Goethe das menschliche Streben doch nicht nur am Ergebnis. Es ist wichtiger, ein höheres Ziel anzustreben, als buchhalterisch auf das Resultat zu schauen. Das grundlegend Menschliche sind der Kampf und die Fähigkeit, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Der Mensch erreicht nicht immer sein Ziel, und das Ergebnis wird oft anders als geplant, denn die Welt ist unvorhersehbar. Goethes Streben geht über die Lebenszeit auf Erden hinaus. Die Chance, den Tod zu überdauern, war eine wichtige Triebfeder im Leben des Dichters. Sie ist ein 220

Goethes strebende Seele

zentrales Thema im Faust, auch wenn es ein Rätsel bleibt, was nach dem Tode kommt. Immerhin ist es möglich, in Übereinstimmung mit etwas zu leben, das den Tod überschreiten kann. In der Schlussszene von Faust II gibt Goethe einem solchen Streben Substanz. Sein Ideal heißt Tätigkeit, denn sie ist die Bedingung dafür, dass man auch nach dem Tod noch schaffen kann. Der Tätigkeitsdrang ist die einzige Bedingung, die Gott im »Prolog im Himmel« stellt. Wenn es eine »Werknorm« im Faust gibt, das heißt eine Wertenorm, an der sich das Thema des Werks sowie Fausts Leben und Tod messen lassen, ist es diese. Doch weil Fausts Nachleben des goetheschen Diktums »unbedingte Tätigkeit« mit einer Schuld endet, die so groß ist, dass er sich nicht aus eigener Kraft davon erlösen kann, ist Goethes Ideal als existenzielle Norm bankrott, wie viele Kritiker behaupten. Fausts Erlösung lässt sich kaum ethisch oder existenziell rechtfertigen, auch nicht intellektuell und schon gar nicht religiös. Und doch strahlt das Ende des Faust II eine Gewissheit aus, die in vieler Hinsicht die lebensbejahende Haltung bestätigt, die Goethes gesamte Autorschaft durchzieht. Ein springender Punkt im Verhältnis zur Erlösung der Seele ist die Bedeutung der Taten. Luther meinte, unsere Taten seien nie gut genug, weshalb wir durch den Glauben allein (sola fide) erlöst würden. Die Katholiken hingegen legten auch Wert auf entsprechendes Handeln, also auf gute Taten, die aus Frommheit und Barmherzigkeit ausgeführt werden. Nicht nur in religiöser Hinsicht ist es problematisch, alles auf das Handeln eines Menschen zu beziehen, wie es in der zweckorientierten Ethik der Utilitaristen der Fall ist. Bereits im Prolog zu Faust I stellt Gott fest: »Es irrt der Mensch so lang er strebt« (317). Fehler sind ein Teil des Lebensexperiments, oft sind sie notwendig und fruchtbar. Deshalb wird Fausts Tätigkeit als »irrend-strebend« charakterisiert. Dies gilt natürlich nicht als Entschuldigung; Fehler muss man sich eingestehen und aus ihnen lernen. Das tut Faust nicht. Er kann nicht allein an den Resultaten seines Strebens gemessen werden. Als literarische Gestalt ist er Teil einer anderen Lösung als der juristischen oder der christlichen, in denen es um Schuld, Wiedergutmachung und Strafe geht. Er soll unter anderem illustrieren, dass die Resultate unseres Handelns »nur« ein Teil der gesamten Rechenschaft eines Lebens sind und dass es außer den Berechnungen von Ursache und Wirkung noch etwas Erstrebenswertes gibt, nämlich unsere geistige Haltung. Der Mensch ist ein Geisteswesen, das in Gedanken stets einen höheren geistigen Zustand anstrebt. Das innere Licht, das Faust kurz vor seiFaust II

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nem Tod erwähnt, ist nicht nur die Bekräftigung seines Untergangs. Dass er auch als Blinder noch behauptet: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß« (11575 f.), ist kein leeres Gerede. Man kann nicht ruhen, bevor das Leben als Werk abgeschlossen ist. Wir erinnern uns an Montaignes Worte, dass das Leben ein Werk ist und der Tod der letzte Essay, der letzte Versuch. Doch Streben und Fehlen ist nicht alles. Es gehört eine weitere, nichtmaterielle und nichtinstrumentelle Dimension dazu, größer als das Individuum und der Mensch, wie es die oben zitierten Engel besingen. Es muss etwas an und in dem Strebenden selbst geben, in seinen Haltungen und seinem Charakter, das in sich selbst ein Ziel ist. Weil es größer als das Individuum ist, verleiht es einem auch Sympathie bei den höheren Mächten, die durch Emanation am Wesen und Wirken des Auserwählten teilnehmen – durch die Liebe. Diese Liebe hat Faust durch Gretchen entgegengenommen und nimmt deshalb an ihr teil. Dies trägt mindestens genauso viel, wenn nicht mehr zu seiner Erlösung bei wie sein Streben. Die Liebe geht weiter und hält länger als das menschliche Streben. Deshalb ließ sich durch das Eingreifen der Liebe – symbolisiert durch die Rosen – der »Seelenschatz erbeuten« (11947) und aus den Klauen des Bösen reißen. Die Schlussszene des Faust ist eine Huldigung an die Liebe und die Gaben ihrer Gnade. Die Liebe wird 14 Mal bejubelt und besungen, während das Streben nur ein einziges Mal genannt wird. Die Liebe entlastet den schuldbeladenen Faust und beatmet seine Seele, damit sie sich erheben und in die geistigen Sphären getragen werden kann. Durch eigene Kraft und eigenen Willen kann er weit kommen und mit seinem Streben eine Grundlage der Erlösung erfüllen, aber die eigentliche Erlösung ist eine Gnadengabe der Liebe für denjenigen, der sich ihr öffnet und Teil von ihr wird. Faust traf die Liebe seines Lebens in Gretchen, und sie machte ihn zu einem Teil davon, indem sie sich ihm bedingungslos hingab, ohne zu verlangen oder ihn zu verurteilen, obwohl er sie betrog und im Stich ließ. Was ihm gegeben wurde, hat er sein Leben lang in sich getragen. Gretchen hat sich ihm mehrmals als Luftgestalt gezeigt und das Beste von ihm mitgenommen, wie Faust selbst sagt, als er die luftige Gestalt in die Höhe verschwinden sieht. Nun bekräftigt sich ihre gegenseitige Liebe bei ihrem Treffen im Jenseits, als »eine Büßerin, sonst Gretchen genannt«, den unsterblichen Teil Fausts willkommen heißt. Diesmal bittet sie die Gottesmutter nicht um Gnade, wie damals im Kerker, sondern frohlockt: 222

Goethes strebende Seele

Neige, neige, / Du Ohnegleiche […] Dein Antlitz gnädig meinem Glück! Der früh Geliebte, / Nicht mehr Getrübte, Er kommt zurück. (12069 ff.)

Die Bergschluchtszene präsentiert ein anderes Bild von Gnade, Vergebung, Versöhnung und Erlösung als das traditionell christliche. Bildlich sind wir beinahe zurück im Hochmittelalter, als die Existenz der Seele im Jenseits detailliert ausgemalt wurde. Der Vergleich ist nicht ganz abwegig, denn die frühen Theologen der Spätantike hatten großen Einfluss auf Goethe, zum Beispiel der Kirchenvater Origenes, der eine Alternative zur apokalyptischen Lehre des Jüngsten Tags bot. Er ersetzte sowohl den Sündenfall als auch das Jüngste Gericht durch eine Lehre über die Wiedererrichtung aller Dinge (gr. apokatastasis panton) und die Versöhnung. Damit wird ein Wiedersehen zwischen Faust und Gretchen möglich. Sie können sich als Paar weiterentwickeln und gemeinsam neue Stadien der geistigen Vollendung erreichen. Das bußfertige Gretchen sieht, wie Faust sich bereits verwandelt: »Sieh wie er jedem Erdenbande / Der alten Hülle sich entrafft, / Und aus ätherischem Gewande / Hervortritt erste Jugendkraft! /Vergönne mir ihn zu belehren, / Noch blendet ihn der neue Tag.« (12088 ff.) Faust kann sich im Jenseits weiterbilden, mit Gretchen als Lehrerin. Man könnte sogar fragen, ob er nicht doch durch stellvertretendes Leid erlöst wird – nicht durch Jesus, sondern durch ein vermenschlichtes Leiden, nämlich Gretchens Mitleid. Handelt es sich hier nur um eine umgeschriebene christliche Lösung? Faust II endet mit den bekannten Worten: »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan«. Wie soll man diese Worte interpretieren? Die zentrale Rolle der Frauen wird von Doktor Marianus aus der »höchsten, reinlichsten Zelle« beschrieben, wo die »Aussicht frei« und der »Geist erhaben« ist. Er sieht Frauen an sich vorbei in die Höhe schweben. Unter ihnen, inmitten eines Sternenkranzes, ist die Jungfrau Maria. Dieser Lichtkranz ist natürlich von Dantes Beschreibung des Paradieses inspiriert. Und Gretchen hat eine ähnliche Erlöserinnenrolle wie Dantes Beatrice. Doch bei Goethe sind es keine reinen Jungfrauen, sondern Büßerinnen, die der Gnade bedürfen und von der Muttergottes Barmherzigkeit und Vergebung erfahren, denn »Wer zerreißt aus eigner Kraft / Der Gelüste Ketten?« (12026 f.) Deshalb wird auch Gretchen nicht verurteilt, denn sie liebte aufrichtig aus tiefem Herzen, als sie sich verführen ließ, genau wie Magna Peccatrix, die große Faust II

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Sünderin, die aus Bußfertigkeit und Liebe »den Füßen / Deines gottverklärten Sohnes / Thränen ließ zum Balsam fließen« und die »heiligen Glieder« mit ihren Locken trocknete (12037 ff.). Dies ist eine von drei Erwähnungen Jesu im Faust. Goethe verweist damit auf das Lukasevangelium (7,36 ff.), das auch erklärt, warum der Sünderin vergeben wird: »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig« (Lukas 7,47). An dieser Stelle ist Luthers Übersetzung strittig, denn sie dreht das Ursachenverhältnis um. Im Original heißt es: »Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, deshalb zeigt sie so große Liebe.« Goethes Sicht entspricht beiden Versionen: Weil ihnen viel vergeben wurde und weil sie viel geliebt haben, können die Büßerinnen Gretchen aufnehmen und über sie auch Faust vergeben: Gönn’ auch dieser guten Seele, / Die sich einmal nur vergessen, Die nicht ahnte daß sie fehle, / Dein Verzeihen angemessen! (12065 ff.)

Fausts große Sünde war, dass er sich von dem Bösen versuchen ließ, eine Wette mit ihm eingegangen ist und sich von ihm abhängig gemacht hat. Die Sünde wird in Liebe gesühnt, weil er vom Streben der Seele nach Höherem getrieben war. Gott hat die Wette gewonnen und das Drama endet mit den rätselhaften Worten eines Chorus mysticus: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichniß; Das Unzulängliche Hier wird’s Ereigniß; Das Unbeschreibliche Hier ist es gethan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan.

Die Strophe ist ein Schlüssel zur Schlussszene und eine Art Schlussfolgerung des ganzen Werks. Wenn wir ihren tieferen Sinn ergründen, ist sie auch ein Schlüssel zum Nachleben der Seele. Die ersten zwei Verse sind sozusagen erkenntnistheoretisch: Alles Vergängliche ist ein Gleichnis, eine Metapher. Ein Bild oder eine Metapher hat folgende Eigenschaften: (A) Es gleicht etwas anderem; (B) es kann oder darf nicht buchstäblich verstanden werden, sondern nur in übertragener Bedeutung. Subjekt ist 224

Goethes strebende Seele

das Vergängliche, also das Leben, die Natur und alles, was sich sinnlich erfassen lässt. Kurz: unsere Alltagswelt, die etwas anderem gleicht oder etwas anderes spiegelt, das in sich selbst unbeschreiblich ist (das Unbeschreibliche). Unsere Welt ist mit anderen Worten der Widerschein des Eigentlichen. Dies entspricht Goethes (und Plotins) Erkenntnisprinzip Das Gleiche kann nur vom Gleichen erkannt werden. Das Andere, Eigentliche können wir jedoch nicht direkt erfassen und erkennen, nur indirekt oder analog, zum Beispiel durch eine repräsentative oder bildlich künstlerische Darstellung. Die Schlussszene hat eine solche bildliche Funktion, die das Unzugängliche, das Unzulängliche, erklären soll. Die Szene in der Bergschlucht soll etwas darstellen, das sich im Grunde weder mit Worten begreifen noch mit äußeren Sinnen erfassen lässt. Etwas, das wir nur ahnen können, sofern unsere Vorstellungs- oder Geisteskraft weit genug entwickelt ist, wie es im Korintherbrief heißt: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« (1. Korinther 13,12) Die Kunst ist ein solcher Spiegel, der jenes Andere spiegeln kann, wie in den »dunkeln«, das heißt mehrdeutigen Worten der Faust-Schlussszene. Goethe selbst hat das Verhältnis zum Unbegreiflichen wie folgt ausgedrückt: Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen. (HA Bd. 13, S. 305)

Dies gilt besonders für die Seele. Goethe ist der tiefen Überzeugung, dass etwas in ihm den Tod überleben wird. Es kann sich erheben und steigern und dabei immer geistiger werden, bis es dem Geist gleicht. Er nennt es ebenfalls Seele, aber er kann es nur bildlich darstellen. Die Bilder, die ihm dafür zur Verfügung stehen, stammen aus der religiösen Sprache. So kann er das Undurchdringliche durchdringen und das Unzugängliche (Unzulängliche) erreichen, nämlich Fausts Erlösung, und sie als Faktum darstellen, als Ereignis. Was im irdischen Leben unvollkommen ist, wird nun vollbracht – als Akt der Gnade und barmherzige Vergebung, die das Urteil über Fausts Leben aufhebt. Gnade vor Recht. Die Gnade wird kraft der Liebe vollzogen, der erlösenden Macht, die größer als der Mensch ist und das Leben zur schöpferischen, ewig erneuernden und versöhnenden Kraft macht. Diesen Überschuss an Liebe Faust II

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repräsentieren bei Goethe vor allem die Frauen (das Ewig-Weibliche) und Gretchen ist ein Sinnbild davon. Die Männer, hier Faust, stehen eher für Handeln und äußeres Streben (das Ewig-Männliche), während die Frauen für die innere Sorge um das Andere stehen, das sich selbst auslöscht, um den anderen zu retten. Mann und Frau bilden ein Paar – eine Komplementarität und Polarität –, was wiederum die Voraussetzung für ein dynamisches und organisches Wachstum und für Steigerung ist. Auch dies wird repräsentativ bildlich verstanden, als Gleichnis. Wie zwei Pole, die einander anziehen, heben sie einander auch in die Höhe – das EwigWeibliche zieht uns hinan (hinauf). Ohne diese Kraft der Sublimierung und Versöhnung wäre Faust verloren. Jetzt ist es vollbracht, Goethes großes Werk, formvollendet. Hier ist es getan – deshalb kann Goethe sein Lebenswerk mit einem großen FINIS und einem doppelten Strich abschließen. Faust II ist das einzige seiner Werke, das er auf diese mittelalterliche Weise abschließt, als wolle er markieren, dass damit auch sein Lebenswerk abgeschlossen ist. Nicht lange nachdem er das Drama in einen Umschlag gesteckt und diesen versiegelt hatte, starb Goethe im Alter von 82 Jahren. Noch im gleichen Jahr, 1832, wurde das Stück publiziert und es lebt noch heute. Sein Autor hat die Wahrheit in den Worten ars longa, vita brevis bewiesen und ihnen eine zusätzliche Bedeutung gegeben: vita brevis, anima longa.

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Goethes strebende Seele

Dann hat die Seele das Höchste gesehen, was kein sterbliches Auge sehen kann, und was nie wieder vergessen werden kann, da empfängt die Persönlichkeit ihren Ritterschlag, der sie für eine ­Ewigkeit adelt. Dadurch wird der Mensch kein andrer, als er ­vorher war, sondern er wird nur der, der er schon zuvor war. (Søren Kierkegaard, Entweder – Oder)

KIERKEGAARD ZWISCHEN SEELE UND PSYCHE

Søren Kierkegaard (1813–1855) spielt eine bemerkenswerte Rolle in der Geschichte der Seele. Besonders interessant an seinem Fall ist, dass er trotz eines eher ereignislosen äußeren Lebens anhand seiner eigenen Lebensgeschichte aufzeigt, was die Sorge um die Seele bedeutet, und dass es unmöglich ist, die Sorge um sich selbst zu pflegen, ohne sich auch um andere zu sorgen. Das problematische Verhältnis zu den Anderen beginnt mit einem engen, aber immer schwieriger werdenden Verhältnis zu seinem Vater und gipfelt im Verhältnis zu seiner Verlobten, der 18-jährigen Regine Olsen, und dem Bruch mit ihr. Dieses Liebesverhältnis – wenn man es mit all dem Schmerz, dem Verzicht, der Sehnsucht und der ambivalenten Leidenschaft so nennen kann – war der Anlass seiner Autorschaft, die sich mehr oder weniger um ihn selbst dreht. Kierkegaard wurde in doppelter Hinsicht zum Philosophen des Selbst, der den Einzelnen ins Zentrum stellte. Und weil die Welt aus Individuen besteht, die sie aus ihrer subjektiven Perspektive sehen, lehnte er Hegels objektive Wahrheit ab und behauptete, die Subjektivität sei die Wahrheit. Kierkegaard thematisiert das Selbst und untersucht die Bedingungen dafür, ein echtes Selbst zu werden. In seinen eigenen Worten lautet sein Programm sich selbst wählen – um man selbst zu werden. Dies ist ein problematischer Prozess, wie er es in Die Krankheit zum Tode (1849) formuliert: Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. (2005, S. 31) Kierkegaard zwischen Seele und Psyche

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Diese Sentenz gilt als Grundlage von Kierkegaards Psychologie (vgl. Nordentoft 1975). Dieses selbstreflexive Selbst ist auch nicht einheitlich, sondern zusammengesetzt aus Leib, Seele und Geist. Der problematischste Punkt in Kierkegaards Psychologie ist das Verhältnis der Seele zum Geist, das er je nach Werk unterschiedlich interpretiert. Wenn Kierkegaard über die Seele schreibt, muss man zwischen der Seele als philosophisch-theologisches Thema einerseits und der Seele als psychologische Dimension der Privatperson Søren Kierkegaard andererseits unterscheiden. Wir beginnen mit Letzterem, um dann die Seele als allgemeines Thema, Kierkegaard als Psychologen und den Zusammenhang beider Seiten in der Frage um die Erlösung der Seele zu diskutieren. Kierkegaard ist eine Übergangsfigur, die ein neues Paradigma einleitet und doch vieles vom alten behält. Er repräsentiert den historischen Übergang von der Seele zur Psyche, von der Seele im religiösen und philosophischen Verstand zur Seele als Ausdruck der Persönlichkeit mit ihren psychischen Komplexen. In dieser Übergangsphase bleibt die Seele gleichzeitig eine ethisch-existenzielle Frage der persönlichen Integrität und Erlösung. Kierkegaard befindet sich in dem historischen Stadium, das besteht, bevor die Seele, anthropologisch betrachtet, naturalisiert (Darwin), degradiert (Nietzsche) oder zum Gegenstand der Therapie (Freud) gemacht wird.

Der Vater, die Psyche und die Erbsünde Søren Aaby Kierkegaard kam 1813 als jüngstes von sieben Geschwistern zur Welt, mit drei älteren Brüdern zwischen sich und den drei älteren Schwestern. Bis auf den begabten Per Christian, der Theologe mit Doktorgrad war, starben alle vor ihm. Auch ihr Vater, der wohlhabende Wollwarenhändler Michael Pedersen Kierkegaard (1756–1838) überlebte fünf seiner Kinder. Er sollte eine entscheidende Rolle in Sørens Seelenleben spielen. Er war tief in der lutherischen Sünden- und Bußreligion verhaftet und sah den Tod seiner Kinder als Fluch, der auf der Familie lastete, und als Strafe für seine Sünden. Für die überlebenden Brüder hatte dies ernsthafte Konsequenzen. Durch die Andeutungen des Vaters konnten sie nur ahnen, was hinter dem »Sündenfall« des Vaters steckte. Hinzu kam die mythische Erzählung, wie der Vater als neunjähriger Hirtenjunge allein mit seiner Ziegenherde in ein schlimmes Gewitter geriet, auf einen Stein kletterte und Gott verfluchte, weil er ihn so alleine gelassen hatte. Der Fluch soll 228

Kierkegaard zwischen Seele und Psyche

ihn sein Leben lang verfolgt haben, er schien nur auf die göttliche Strafe zu warten. Das Trauma übertrug sich auf Søren, der nur darauf wartete, mit 33 Jahren zu sterben (wie Jesus). Aus dem Grabstein der Familie geht hervor, dass Sørens Vater nach dem Tod seiner ersten Frau, die 1776 kinderlos gestorben war, die Trauerzeit nicht einhielt. Schon ein Jahr später brachte sein ehemaliges Dienstmädchen die erste Tochter zur Welt, Maren Kristine, die jung verstarb. Der erwachsene Søren gab viele seine Werke unter Pseudonymen heraus. In diesen Werken enthüllt er das Unheimliche, das über der Familie schwebte. 1848 schreibt er in sein Tagebuch: Es ist doch entsetzlich, wenn ich dergestalt einen einzelnen Augenblick an den dunklen Hintergrund denke, den mein Leben von frühester Zeit an gehabt hat, seine eigene furchtbare Schwermut, das viele, was ich in dieser Hinsicht nicht einmal aufzeichnen kann. Eine solche Angst bekam ich vor dem Christentum, und doch fühlte ich mich so stark zu ihm hingezogen. (Tagebücher 3 S. 109 f.)

Doch Schwermut und Religiosität des Vaters erklären nicht allein, warum auch der Sohn schwermütig wurde. Möglicherweise gab es noch einen weiteren Grund. Joakim Garff, Autor einer erfolgreichen Kierkegaard-Biografie (2000) meint, Søren rede wie ein typisches Übergriffsopfer, wenn er zwischen der Angst vor dem unaussprechlichen Schrecklichen, für das der Vater steht, und absoluter Hingabe an ihm (insbesondere als Gesprächspartner) schwankt. Sicher ist, dass der Vater ihm Probleme bereitet. Hinzu kommt, dass Sørens eigene Schwermut wohl nicht nur existenziell, sondern in Form von depressiver Veranlagung auch genetisch bedingt ist, wie es der Ästhet in Entweder – Oder pseudobiografisch ausdrückt: Meine Seele ist so schwer, dass kein Gedanke sie mehr tragen und aufrecht halten kann, dass kein Flügelschlag sie zum Äther emporhebt. Setzt sie sich in Bewegung, dann streicht sie nur am Boden hin, wie die Vögel in ihrem niedern Fluge, sobald es in den Lüften braust und ein Unwetter droht. Auf meinem Innern lastet eine Beklemmung, eine Angst, wie die Ahnung eines Erdbebens. (S. 27)

Das Erdbeben kam wirklich. Michael P. Kierkegaard erfüllte das christliche Sündenregister der fleischlichen Lust – wenn auch nach heutigen Maßstäben und selbst damals schon in bescheidenem Grad – ausreichend, um für den Rest seines Lebens unter Schuldgefühlen zu leiden. Wann und Der Vater, die Psyche und die Erbsünde

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wie dies begann, ist nicht ganz klar. Vieles spricht dafür, dass er schon in seiner Jugend einige Freudenhäuser besucht hat, nicht ohne sich hinterher gehörig zu schämen. Hinzu kam die Furcht vor Syphilis, der Inkarnation der Erbsünde. Damals glaubte man noch, die Krankheit werde nicht nur sexuell übertragen, sondern könne sich auch vererben. Das Geheimnis des Vaters, das Søren erst nach dessen Tod herausfand, zeichnete ihn fürs Leben, wie er in seinen Aufzeichnungen schrieb: Da aber geschah es, dass das große Erdbeben eintrat, die fruchtbare Umwälzung, die mir plötzlich eine neue, unfehlbare Regel aufzwang, wie die Erscheinungen samt und sonders auszulegen seien. (Søren Kierkegaards Skrifter [SKS] 27, S. 291, Übers. Lowrie 1955).

Eine Katastrophe, aber gleichzeitig eine Erleuchtung, die alles erklärt. »Da ahnte ich«, fährt Kierkegaard fort, »dass das hohe Alter meines Vaters nicht ein göttlicher Segen war, sondern vielmehr ein Fluch« (ibd.). Dieser Fluch trifft nicht nur den Vater, sondern die ganze Familie: »Schuld musste auf der ganzen Familie lasten; ein göttliches Strafgericht musste über sie verhängt sein; sie musste verschwinden, ausgestrichen werden von Gottes mächtiger Hand, ausgewischt wie ein missglückter Versuch« (ibd.). Inwiefern Søren selbst der Versuchung nachgegeben hat, ist ebenfalls unklar. Aber seinen Ausgaben nach zu urteilen lebte er als Student ein Leben, das sein Vater sicher als ausschweifend bezeichnete. Dank Vaters Vermögen war der junge Lebemann frei von finanziellen Sorgen. Seine täglichen Touren durch Kopenhagen führten ihn sicher auch in die berüchtigten Nebengassen des Strøget. Er nannte es »Menschenbad«. Obwohl Kierkegaard nichts Konkretes über erotische Ausschweifungen verrät, hinterlässt er Andeutungen in Form von Gedichten oder kryptischen Umschreibungen wie »das tierische Kichern« oder »die seltsame Ängstlichkeit, wenn ich zuviel trinke«. Es gibt viele Spekulationen, zum Beispiel, dass er sich ebenfalls Syphilis zugezogen und deshalb Angst vor der Ehe hatte, weil er niemanden anstecken wollte. Eine »Krankheit«, unter welcher der junge Mann (wie alle in seinem Alter) höchstwahrscheinlich »litt«, war die Onanie, denn als solche galt sie damals – und natürlich als Sünde. Der Familienarzt der Kierkegaards hatte in einem medizinischen Handbuch geschrieben, dass man einem Menschen die Onanie im Gesicht ansehe und dass sie die Ursache für Hypochondrie, Impotenz, Schlaffheit und Melancholie sei. Ein Onanist sollte den Kontakt zu Frauen meiden. 230

Kierkegaard zwischen Seele und Psyche

Ein Onkel Sørens wurde in einer Klinik für geisteskrank erklärt, als vermeintliche Ursache stellten die Ärzte Onanie fest. Sicher beeinflusste dies den Vater, als er mahnte, es gebe »Verbrechen«, die man nur mit Gottes Hilfe bekämpfen könne. Der Sohn verstand den Vorwurf: »Ich eilte in mein Zimmer und schaute in den Spiegel« (Garff 2000, S. 96). Joakim Garff fällt ein klares Urteil: »Indem er die Onanie als Verbrechen einstuft, das man mit Gottes Hilfe bekämpfen muss, trägt der Vater nicht nur zu einer massiven Verstümmelung des Sexlebens seiner Söhne bei, sondern steigert auch Søren Aabyes Interesse für unterschiedliche Ausprägungen des Sexualtriebs.« (ibd., S. 97) Was Søren plagt, ist im Grunde kein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühl im traditionellen Verstand. Es ist kein einzelnes Vergehen, für das er sühnen könnte (bis auf den Bruch mit Regine), sondern ein ganzer psychischer Komplex. Deshalb ist die Frage nach der Erlösung der Seele im Vergleich zu Dante grundverschieden. Sie wird zum psychologischen Problem. Nicht um Schuld und Sünde geht es, sondern um die Fähigkeit, eigene seelische Probleme zu lösen und im psychologischen Verstand »Herr im eigenen Haus« zu sein. Man kann sich auch mit seinen inneren Gespenstern versöhnen und ihre Energie konstruktiv umsetzen. Dieser Prozess heißt Sublimierung. Kierkegaard ist dies außergewöhnlich gut gelungen – wobei Regine sein Drehpunkt ist.

Regine und die Entscheidung Es gibt keinen Grund, an Kierkegaards Gefühlen für Regine zu zweifeln. Die wärmsten Gefühle entstanden jedoch erst, nachdem er sich von ihr getrennt hatte. Im Herbst 1840 hatte er um ihre Hand angehalten und eine positive Antwort bekommen. Doch schon einen Tag nach dem Heiratsantrag soll er es bereut haben. Damit beginnen seine merkwürdigen Manöver, um die Verlobung aufzulösen. Er wusste, dass der Rückzug skandalös war und dass Regine am härtesten davon betroffen war. In der Hoffnung, sie würde das Versprechen zurücknehmen, benahm er sich immer unsympathischer. Doch je abweisender er war, desto mehr fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Der Bruch mit Regine zwingt Søren, den Suchscheinwerfer auf die inneren Kräfte zu richten, die in seiner Brust wüten. Gleichzeitig versucht er, die seiner Meinung nach von Gott gegebene Bestimmung zu klären, die Regine und die Entscheidung

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tief in seiner Seele schlummert. Er thematisiert diese Spannungen direkt und indirekt, unter Pseudonymen in seinen Büchern und privat in seinen Tagebüchern. Dies macht ihn zu einem großen Psychologen, ja zu dem Psychologiephilosophen zwischen Augustinus und Nietzsche. Immer wieder versucht er, das Verhältnis zu seinem Vater zu verstehen und das Angst einflößende Über-Ich zu verstehen, für das der Vater steht (um anachronistisch einen freudschen Begriff zu verwenden). Er rechnet jedoch nie ganz mit dem Vater ab, sondern zollt ihm weiterhin Dankbarkeit. Seine Psyche stehe in einer Schicksalsgemeinschaft mit dem Vater, meint er, die so intim sei, dass sie nicht mit einer Ehe zu vereinbaren sei. Regine wäre nicht imstande, Sørens Bürde zu verstehen und zu ertragen, die Erbsünde in der Seele und den Pfahl im Fleisch. Und ohne gegenseitiges Verständnis wären die beiden nie so vertraulich miteinander, wie er es verlangt, um in der Wahrheit zu sein. So aber lautet sein kompromissloser Anspruch an eine Ehe, den er in Entweder – Oder stellt. Um selbst diesen Anspruch zu erfüllen, müsste er sich erklären. Seinem Tagebuch gesteht er: Aber hätte ich mich erklären müssen, so müsste ich sie einweihen in entsetzliche Dinge, mein Verhältnis zu Vater, seine Schwermut, die ewige Nacht, die zuinnerst brütet, meine Verirrung, Lüste und Ausschweifungen, die doch vielleicht in Gottes Augen nicht so himmelschreiend sind; denn es war doch Angst, die mich dazu brachte, in die Irre zu gehen, und wo sollte ich Zuflucht suchen, da ich wusste, oder ahnte, dass der einzige Mann, den ich wegen seiner Stärke und Kraft bewundert hatte, wankte. (Tagebücher 1 S. 307)

Es gibt noch eine zweite Leidenschaft, die gleich stark wie die Liebe zu Regine ist. Sie meldet sich, nachdem er um ihre Hand angehalten hat: die Leidenschaft für die Reflexion und das damit verbundene Ausdrucksbedürfnis. Eine Ahnung steigt nach der Verlobung in ihm auf, seine Seele sagt ihm klar und deutlich: Es passt nicht! So problematisch der Bruch sozial und persönlich ist, er ist nichts im Vergleich zu dem, was tief in seiner Seele auf dem Spiel steht. Regine kann nicht in dieses Selbst integriert werden, und indem er sie aufgibt, macht er Platz für das Andere, Fremde, das ihm näher steht als sein eigenes Selbst. Es ist die Lebensaufgabe, für die er bestimmt ist und der er sein Leben weihen will. Er hat keine andere Wahl. Eigentlich hat er Angst, sich an andere zu binden, was normalerweise dazu führt, dass die Entscheidung aufgeschoben wird und man sich selbst verliert, wie Kierkegaard meint: »Etwas zu wagen bedeutet, vorüber232

Kierkegaard zwischen Seele und Psyche

gehend den festen Halt zu verlieren. Nichts zu wagen bedeutet, sich selbst zu verlieren« (vgl. SKS 11, S. 150). Dieses bekannte Zitat birgt eine Anspielung auf das Matthäusevangelium, wo es heißt: »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?« (Matthäus 16,26) In seinem Verhältnis zu Regine hat er gewagt und rasch mit einem Bruch auf die Verzweiflung reagiert. Und damit riskiert, seine Seele durch den Betrug an der Liebe zu verlieren. Dass das Verhältnis zu Regine in religiösem Verstand mit der Erlösung seiner Seele zusammenhängt, kommt in Furcht und Zittern (1843) zum Ausdruck, das entstand, als er versuchte, das Verhältnis zu klären. Der Titel bezieht sich auf Paulus’ Brief an die Philipper, wo es heißt: »Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern« (Philipper 2,12). Wie immer Søren sich entscheidet, es ist falsch. Er opfert Regine, um sich selbst wiederzufinden – und findet dadurch seine Bestimmung. Diese Gewissheit entspringt einer inneren Quelle, einer Geisteskraft, die nun in einen »philosophischen Raptus« mündet. Die pseudonymen Werke dieser Zeit sind seine Antwort auf die existenzielle Krise. Sie sind Sublimationen seines seelischen Komplexes auf den Ruinen der Liebe zu Regine, die die Inspirationsquelle seiner Autorschaft bleibt – und für die Konstituierung eines historisch neuen Selbst, des Alter Ego der Seele. Er gewinnt sein Selbst und verliert seine Regine. Über die Konsequenzen seiner Entscheidung ist er sich schmerzlich klar. Er weiß, dass er sich ihr gegenüber schuldig gemacht hat. Regine fand, er habe »ihre Seele misshandelt« und »ein gefährliches Spiel mit ihr gespielt«, wie sie sich ausdrückte, ehe sie ihn freigab. »Sie wählte den Schrei, ich den Schmerz«, schreibt Søren später. Und der Schmerz bleibt bestehen. Er kommt nie über Regine hinweg: Sie wird immer bleiben, was sie war, ein himmlisches, sinnliches Geschick, wonnig verzehrend, Schwindel erregend und verboten, weil sie durch ihre Natur plötzlich warme Quellen so verführerisch sprudeln ließ, dass Kierkegaard sich mitreißen ließ – auf dem Papier. (Garff 2000, S. 164)

Regine kehrte Seiten in ihm hervor, die er vorher nicht kannte, und in ihr offenbarten sich Mächte, die er noch weniger kannte. Doch sie war mehr als eine Muse. Er freite um einen Teenager und traf auf eine Frau mit einer Ausstrahlung und Anziehungskraft, auf die er nicht vorbereitet war. Als er so weit war, dass er ihr in sittlichem Rahmen näherkam, zum Beispiel Regine und die Entscheidung

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auf Spaziergängen mit langen Unterhaltungen, sie am Arm haltend, war er überwältigt – und verängstigt von der erotischen Kraft, die sie ausstrahlte. Sie war rein, er beschmutzt und ihrer nicht würdig. Er warb um Regine und traf auf Aphrodite. Was er von ihrer nackten Haut sah – um es metonymisch auszudrücken –, machte ihm Angst. Auch wenn er beim Anblick der Schönheit nicht gleich versteinerte, erschreckte ihn die Versuchung. Er fürchtete um seine Freiheit als Geistesmensch, wollte und wollte nicht. Als Dichterphilosoph der Ambivalenz beschreibt er dieses Dilemma im Tagebuch des Verführers anhand der fiktiven Figur Johannes: »Sich in ein Mädchen hineindichten ist eine Kunst, sich aus demselben herauszudichten ein Meisterstück.« (Entweder – Oder S. 222) Man sollte glauben, dass Kierkegaard als Christ auf die Gnade und die Erlösung von seiner Schuld durch Christi stellvertretendes Leid hoffte. Das tat er nicht. Er musste darüber schreiben, um es loszuwerden. Er besteht darauf, sich bis zur Klärung und Versöhnung durchzuschreiben und damit die Bestimmung zu erfüllen, die er sein Leben lang gesucht hat. Bei seinem ersten Aufenthalt in Berlin kommt er dieser Bestimmung auf die Spur.

»Das ist es, wonach meine Seele dürstet« Um von Regine fortzukommen, reist er nach Berlin. Aus seinen Aufzeichnungen geht klar hervor, was für ihn auf dem Spiel stand: »Doch meine Seele ist in dem Augenblick, in dem ich dies schreibe, so unruhig wie mein Körper – in einer Kajüte, geschüttelt von den Doppelbewegungen eines Dampfschiffes.« (Deutsche Søren Kierkegaard Edition [DSKE] 3, S. 241) In Berlin herrscht auch zehn Jahre nach dessen Tod noch Hegels Geist, obwohl Schelling als Gegengewicht zum Hegelianismus in die Stadt berufen wurde. Seine Vorlesungen waren der Grund oder Vorwand für Kierkegaards Reise. Das Ergebnis fiel anders aus als erwartet. Schelling brachte ihn auf die Spur der verlorenen Wirklichkeit: »Als er das Wort: ›Wirklichkeit‹ sagte, über das Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit, da hüpfte das Kind des Gedankens in mir vor Freude.« (ibd., S. 252) In diesen Vorlesungen formulierte Schelling übrigens viele antihegelianische Gedanken, die Kierkegaards eigenen vorausgreifen. Hegel meinte, die Philosophie sei zurückblickend und könne die Wirklichkeit nur mit dem klaren Blick des Nachhinein besprechen. Kierkegaard bestritt dies. Seiner Meinung nach soll die Philosophie sich über die Wirklichkeit und die Existenz im Hier 234

Kierkegaard zwischen Seele und Psyche

und Jetzt aussprechen und nach vorne schauen. Hegels Wort von Minervas Eule, die erst in der Dunkelheit ausfliegt, stellt er den Gedanken entgegen, dass man das Leben zwar rückwärts verstehen, aber vorwärts leben muss. (Dieses Zitat kommt in mehreren seiner Werke in unterschiedlicher Form vor.) Mit seiner existenziellen Perspektive denkt Kierkegaard Hegels Übergang vom Sein zum Werden weiter. Bei ihm wird es ein Übergang von der Essenz zur Existenz. Seine Philosophie ist nicht »nur« Erkenntnisphilosophie wie Kants oder ein objektives System wie bei Hegel, sondern eine Lebensphilosophie, die etwas Wahres über das Leben sagen und für den Einzelnen gelten soll, also eine subjektive Wahrheit, wie er es schon am 1. August 1835 ausdrückte: »Es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu entdecken, für die ich leben und sterben will.« (DSKE 1, S. 24) An anderer Stelle präzisiert er: »Was ist Wahrheit anders als ein Leben für eine Idee?« Natürlich sucht er auch die Erkenntnis und folgt dem Imperativ des Erkennens, aber dann muss er lebendig in mir aufgenommen werden, und das ist es, was ich jetzt als Hauptsache anerkenne. Das ist es, wonach meine Seele dürstet wie Afrikas Wüsten nach Wasser. (ibd.)

Die Idee, für die er leben wollte, verwirklichte er nach dem Bruch mit Regine während des viermonatigen »Exils« in Berlin, wo große Teile von Entweder – Oder entstanden. Der Aufenthalt wurde mehr und mehr zu einer Reise an ein Ziel anstelle einer Flucht. Diese Reise sollte er für den Rest seines Lebens fortsetzen. Die »Idee«, die er fand, ist die geistige Aktivität. Er folgte dem Drang, sich auszudrücken und seine Gedanken über das Leben und den Menschen anderen mitzuteilen – mit sich selbst als Exempel. Dazu musste er sich nicht gleich finden, sondern vor allem ausdrücken. Herders Expressivismus zeigt seine Wirkung, doch das Selbst ist nicht von Anfang an gegeben. Das schreibende Ich ist nicht einmal es selbst, sondern wird erst durch den Prozess des Schreibens vermittelt, wofür sich Kierkegaards dialektisch-dialogische Schreibweise besonders eignet. Dies ist das größte Paradox in der Philosophie des Selbst, die Kierkegaard verkündet. Das Selbst wird vermittelt durch eine Polyphonie aus pseudonymen Stimmen, die betonen, dass niemand er selbst ist, sondern strukturell betrachtet der Andere, wie Hegel behauptete. Diese Intersubjektivität in Kierkegaards Werken wurde bisher wenig beachtet, obwohl sie so entscheidend ist. Sein Kunstgriff besteht darin, dass er die Anderen »Das ist es, wonach meine Seele dürstet«

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als seine eigenen inneren Stimmen oder als Aspekte seiner Persönlichkeit inszeniert. Er ist eine Art expressivistischer Konstruktivist: Das Selbst wird intersubjektiv vom Subjekt und als Selbst des Subjekts erschaffen. Der Mensch hat kein festes, inneres Wesen, keinen angeborenen Persönlichkeitskern, sondern ist ein relatives Beziehungs- und Funktionsuniversum, das sich unaufhörlich im Werden befindet. Seine Integrität wird geformt und wird dabei immer fester, sie wird geknüpft wie ein Netz. Somit hat der Mensch auch keine feste Seele. Das Selbst entsteht, indem es Eigenschaften, die sich im Lauf des Lebens als charakteristisch für den Einzelnen erweisen, zu einem Ganzen vereint. Die Seele wird zur Inkarnation dieser integrierten Ganzheit, die sich wie Sokrates’ daimon bemerkbar macht, wenn die Integrität bedroht ist oder zerstört wird. Sie verlangt nach Heilung der gebrochenen Integrität – wenn man seine Seele erlösen will. So wird die Seele eine Funktion, die im Bündnis mit der Vernunft und dem Verstand das Individuum steuert – wie der unsichtbare Wagenlenker aus Platons Gleichnis über die Seele. Als persönliche und existenzielle Funktion lässt sich die Seele nicht auf die Psyche im modernen psychologischen Verstand reduzieren. Kierkegaard ist mehr als ein psychologischer Fall! Er berücksichtigt auch die traditionelle Seele der Vergangenheit und den religiösen Seelenbegriff und verbindet sie mit dem zu seiner Zeit wachsenden Interesse an der Psychologie. Letzteres kannte er als engagierter Bürger, der nationale und internationale Zeitungen las und wusste, was in den Köpfen seiner Zeitgenossen vor sich ging. Er selbst ist in hohem Grad Teil dieses Zeitgeists. Er ist die neue Seele, mit einem Bein in der Religion (als Theologe) und einem in der Philosophie. Die Seele versteht er als zusammengesetzt und kompliziert, als geistig und gleichzeitig irrational-unbewusst. Deshalb ist er auch einer der ersten modernen Psychologen.

Kierkegaard als Psychologe 1888 schreibt der Autor Georg Brandes in einem Brief an Nietzsche, dass Kierkegaard seiner Meinung nach einer der tiefsten Psychologen sei, die es gebe. Kierkegaard selbst betrachtete sich auch als Psychologen. »Wir brauchen die Psychologie«, behauptete er, bevor die Psychologie zur Wissenschaft wurde. Psychologische Themen und Perspektiven prägen einen Großteil seines Werks. Er nimmt nicht nur den Existenzia236

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lismus um 100 Jahre voraus, sondern auch die Fachpsychologie, die kurz vor der Jahrhundertwende entstand. Sein Verständnis der Angst ist noch heute Pflichtlektüre für Psychologen und Psychiater. All dies gibt ihm eine wichtige Rolle in der Geschichte der Seele. Das Wichtigste ist, dass er die Seele psychologisch versteht, nicht bloß moralisch, religiös und philosophisch in einem Körper-Seele-Paradigma. Descartes’ und Kants rationales Vernunfts-Selbst ist ihm ein zu enges Ideal, das nicht dem komplexen Menschen der Wirklichkeit entspricht, von dem der zu Kierkegaards Zeit erstarkende Realismus ausging. Die inneren Beweggründe des Menschen werden von da an als unbekannt und unüberschaubar angesehen. Der Mensch wird zum Rätsel, das gelöst werden muss – mit psychologischer Einsicht. Außerdem besitzt der Mensch die subtile Fähigkeit zum Selbstbetrug und setzt sich gern Masken auf, eine Fähigkeit, die er zur Kunst erhöht hat. Deshalb ist es nicht immer leicht, zwischen Kierkegaard als psychologisches Problem (an dem viele sich versucht haben) und Kierkegaard als Psychologen zu unterscheiden. Das Bemerkenswerte an Kierkegaard ist, dass er überhaupt eine eigene Psychologie hat, und dazu eine psychologische Methode, nämlich die Introspektion, den Blick ins Innere (den später insbesondere die Gestaltpsychologen anwenden). Dies funktioniert im Grunde nur mit der eigenen Person und Kierkegaard geht auch demgemäß vor. Selbstreflexion ist seine Methode, Selbstverständnis das Ziel. Weil er »nichts von der Welt gesehen hat« (abgesehen von Besuchen bei der Familie in Jütland und den Berlin-Reisen blieb er sein Leben lang in Kopenhagen), ist seine einzige Erfahrungsquelle das, was er im Vorwort zu Der Begriff Angst (1844) die »Binnenreise ins eigene Bewusstsein« nennt. Seiner Meinung nach ist das innere Leben auch viel reicher als das äußere; es ist der Maßstab für uns selbst als Menschen. Sich selbst zu verstehen ist die Voraussetzung dafür, andere zu verstehen, und umgekehrt. Die Untertitel mehrerer Werke zeigen, dass er darin psychologische Themen untersucht. Der Begriff Angst trägt den Untertitel Eine schlichte psychologisch-hinweisende Erwägung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde (von Vigilius Haufniensis), Die Krankheit zum Tode den Zusatz Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung (von Anti-Climacus, herausgegeben von S. Kierkegaard). Auch andere Werke haben »psychologische« Untertitel, zum Beispiel Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie (von Constantin Constantius, 1843). Kierkegaards pseudonyme Werke sind voller psycholoKierkegaard als Psychologe

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gischer Experimente. Aus den Titeln scheint eine Doppelperspektive hervor, die für seine Psychologie charakteristisch ist. Er verbindet nämlich die Psychologie mit der christlichen Dogmatik und der menschlichen Existenz. Psychologie und Glaube hängen für ihn zusammen. Damit wird auch die Erlösung der Seele zur Frage, wie man die eigene Psyche und alle paradoxen Mechanismen versteht, die sich im Gemüt des Menschen abspielen und der Erlösung im Weg stehen. Psychische Phänomene wie Introvertiertheit, Verstocktheit, Verdrängung Angst und Verzweiflung stehen nicht nur dem Seelenheil im Weg, sondern auch einem ganzen und freien Selbst. Für Kierkegaard ist die Seele ein Hauptelement in einem anthropologischen System, über das er in Übereinstimmung mit seinem Lehrmeister Hegel behauptet: »Der Mensch ist eine Synthese des Seelischen und des Leiblichen. Eine Synthese aber ist undenkbar, wenn die beiden Bestandteile sich nicht in etwas Drittem vereinen. Dieses Dritte ist der Geist.« (Der Begriff Angst S. 44) Doch er behandelt den Körper nicht auf dieselbe Weise wie frühere Philosophen und er versteht die Sexualität psychologisch. So nimmt er Freud voraus. Man soll lernen, mit der Sexualität umzugehen, ohne davon gebunden zu werden. Die Leidenschaft soll man sublimieren und so das Leiden aufheben, »das seinen tieferen Grund im Missverhältnis zwischen meiner Seele und meinem Körper haben muss«. Zu seiner »unendlichen Ermunterung« erkennt er jedoch, dass gerade diese Spannung zwischen Seele und Körper seinem Geist eine »seltene Spannkraft« gegeben habe (SKS 20, S. 35). Noch bemerkenswerter ist der Platz, dem er dem Körper sowohl als Bewegungsorgan als auch als Werkzeug der Gedanken gibt. Er sah sich selbst als eine Art Peripatetiker (der herumlief und dabei philosophierte), denn seine langen Spaziergänge machte er definitiv nicht wegen der Bewegung, sondern für die Gedanken – und die Psyche. Auch in dieser Hinsicht greift er Nietzsche voraus. Bei beiden hingen Gehen und Denken fest zusammen, wie er in einem Brief an seine Schwägerin Henriette ausführt: Verlieren Sie vor allem nicht die Lust dazu zu gehen: ich laufe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an, und entlaufe so jeder Krankheit; ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihm nicht beim Gehen los würde. (Briefe S. 168)

Körper ist nicht nur Körper, und Geist ist nicht nur Geist, sondern eine Synthese aus Körper und Seele. Auch der Geist ist nicht gegeben, son238

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dern eine Möglichkeit für die Seele und das Selbst in Form von aktiver Selbstreflexion, ein »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« (SKS 11, S. 121). Aber das Verhältnis (oder das Selbst) verhält sich nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu einem anderen Selbst und zu dem, was das Selbst bedingt, nämlich Gott, was bei Kierkegaard entscheidend für die Erlösung der Seele ist. Ein anderes Wort für diese Selbstreflexion ist Selbstbewusstheit. Damit haben wir eine Triade von Begriffen, die sich alle auf die Seele beziehen, nämlich Geist, Selbst und Selbstbewusstsein. Die Synthese der Dialektik zwischen ihnen ist der Geist, das Selbst auf einer höheren Ebene, das heißt dem Bewusstseinsniveau des Glaubens, das durch die Sprache erreicht werden kann, dem Medium der Vermittlung und der Reflexion. Kierkegaard schreibt, um sein Selbst und die Erlösung hervorzubringen. Indem er Gewicht auf das Selbstbewusstsein legt, reiht sich Kierkegaard in eine lange Tradition von Sokrates’ Sophrosyne über Descartes’ cogito bis zu Kants und Hegels Selbstbewusstsein ein. Aber er legt ein historisches Maß für das Wachstum des Selbstbewusstseins an, das Zweck und Mittel zugleich ist, eine Voraussetzung – um sich selbst zu wählen und man selbst zu werden. Es reicht also nicht aus, sich nach dem antiken Motto gnothi seauton selbst zu erkennen. Es ist nur eine Bedingung, kein Ziel, wie in der gesamten Tradition von Sokrates bis Kant. Wenn man sich selbst erkannt hat, muss man auch dieser Selbsterkenntnis entsprechend handeln. Assessor Wilhelm (ein weiteres Pseudonym Kierkegaards in Entweder – Oder) drückt dies so aus: Es ist ein Besinnen auf sich selbst, das selber ein Handeln ist, und daher habe ich absichtlich den Ausdruck gebraucht: sich selber wählen, und nicht: sich selber kennen. (Entweder – Oder S. 433)

Doch der Assessor ist nur ein Stadium, denn er kennt den Geist nicht. Die Wahl des Selbstbewusstseins ist entscheidend für Kierkegaard. Bei ihr geht es um das Seelenheil. Man kann durchaus ein bürgerliches Durchschnittsleben führen, aber wenn man authentisch leben und sich selbst gewinnen will, muss dies bewusst gewählt sein. Sonst vegetiert man nur aus alter Gewohnheit vor sich hin, sicher und spießbürgerlich. Das Selbstbewusstsein und die Selbstreflexion führen auch dazu, dass man die Möglichkeiten entdeckt und erkennt, dass man die Wahl hat. Man gewinnt die Freiheit. Genau diese erzeugt jedoch auch Angst. Kierkegaards Definition der Angst hat Schule gemacht. Er weist darauf hin, dass die Angst im Kierkegaard als Psychologe

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Gegensatz zur Furcht gegenstandslos ist. Sie richtet sich nicht auf etwas Bestimmtes, sondern ist eine Folge der unbestimmten Möglichkeiten, welche die Freiheit bietet: Den Begriff Angst findet man fast nie in der Psychologie behandelt; ich muss deshalb darauf aufmerksam machen, dass er von Furcht und ähnlichen Begriffen ganz und gar verschieden ist, dass sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist. (Der Begriff Angst S. 42)

Aber die Angst ist nicht nur negativ und auch nicht neurotisch (auch wenn sie es werden kann). Dies ist der Unterschied zwischen Kierkegaards und Freuds Konzept der Angst. Bei Kierkegaard ist die Angst ein konstitutionell menschlicher Zug, der mit der Freiheit des Menschen zusammenhängt und mit dessen Chance, zu Geist zu werden. (Berg Eriksen 2013, S. 183)

Durch die Angst kommt man zur Existenz. Man wird zum Selbstbewusstsein gezwungen – oder flüchtet sich in Verschlossenheit. Entscheidend ist, ob man sich für die Wahlmöglichkeiten der Zukunft öffnet oder sich an das Gewohnte klammert. Die Angst kann auch eine Angst vor dem Guten sein, zum Beispiel die Angst, sich der Liebe hinzugeben, die größer als man selbst ist, und eine Bedingung, um dem Anderen gegenüber anwesend und schöpferisch zu sein. Die Angst zeigt auch den grundlegenden Unterschied zwischen dem Dämonischen und der Liebe. Das Dämonische bedeutet, die Liebe abzuweisen, es ist die Angst vor dem Guten, das laut Kierkegaard letztendlich Gott ist. Aber Gott ist unsichtbar. Man kann jedoch das Unsichtbare (Gott) lieben, indem man das Sichtbare (einen anderen Menschen) liebt. So anthropomorphisiert oder vermenschlicht Kierkegaard die göttlichen Dimensionen, wofür die Theologen ihn kritisierten. Überhaupt kümmert er sich wenig um christliche Dogmen, für ihn ist der Glaube des Einzelnen und dessen Innerlichkeit entscheidend. Die seelische Entwicklung, die Kierkegaard anstrebt, kann auch aus rein anthropologischer Perspektive geltend gemacht werden. Dies gilt auch für die drei Stadien, die er in Entweder – Oder schildert: das ästhetische, das ethische und das religiöse. Das Buch erörtert die ersten beiden, während das dritte in Stadien auf des Lebens Weg (1845) auf das letzte, religiöse Stadium 240

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hinweist, den Glauben, der auch das Ethische in sich aufnimmt. Der Glaube wird nicht durch eine lineare Entwicklung erreicht, sondern verlangt einen Sprung, bei dem man den festen Halt loslässt und sich dem Unbekannten übergibt – im Glauben an Jesus Christus, die Inkarnation des Göttlichen im Menschlichen, den Kernpunkt in Kierkegaards Sicht des Christentums. Entscheidend ist die seelische Entwicklung auf ein höheres Ziel hin. Die Stadien sind also keine Entwicklungsstadien im klassischen Verstand, wie sie oft dargestellt werden, sondern eher Zustände oder Sphären, mehr oder weniger freiwillig gewählte Existenzformen, die psychologisch bedingt sind. Einer von Kierkegaards wichtigsten Beiträgen zur Psychologie ist, dass er die Entwicklung der Seele mit existenziellen Fragen verbindet und Wert auf die freie Entscheidung legt. Er zeigt auf, dass jede Entscheidung von seelischen und psychischen Verhältnissen abhängt, die die Wahl komplizierter machen. Dies gilt auch für den maßgeblichen Grundsatz, »sich selbst zu wählen«, wie Kierkegaard das ausdrückt, was später ein authentisches oder echtes Selbst genannt wird. Dieser Wahl stehen einige tiefe, komplexe Gefühle wie Angst und Verzweiflung im Weg. Um man selbst zu werden, muss man reflexiv leben, sowohl innerlich als auch äußerlich. Doch der Weg zum Leben geht durchs Innere. In den Tiefen seiner Seele muss man bereit sein, die Angst und die Verzweiflung zu treffen: Die ganze Frage nach dem Selbst im tieferen Sinne wird eine Art von blinder Tür im Hintergrund seiner Seele, innerhalb deren überhaupt nichts ist. (Die Krankheit zum Tode [1957] S. 55)

Eine blinde Tür sieht man nicht mit bloßem Auge. Sie braucht das Licht der Reflexion, das ins innere Dunkel leuchtet, um entdeckt zu werden. Dort befinden sich verdrängte, ungenutzte Möglichkeiten und das Nichts der Unbestimmtheit, weshalb dieses Dunkel einem Angst macht, welche in diesem Fall eine Folge der Reflexion ist. Man hat Angst vor der Angst und bekommt deshalb noch mehr Angst. Das Selbst wagt es nicht, sich selbst bewusst gegenüberzutreten. Angst und Verzweiflung werden zum zentralen Punkt in Kierkegaards Psychologie. Sie haben einen doppelten Charakter: Zum einen sind sie ein allgemeiner Teil des menschlichen Wesens, zum andern individualpsychologisch durch Umstände im Leben des Einzelnen bedingt. Es ist kennzeichnend für Kierkegaards Psychologie, dass nicht nur Umstände aus der Kindheit die Seele und das Selbst einer Person prägen, sondern dass es auch Dinge gibt, die fest zur ExisKierkegaard als Psychologe

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tenz des Menschen gehören, sowie eine persönliche Verantwortung, die sich ebenso wenig abschütteln lässt. Er lehnt den Determinismus ab und macht den freien Willen und die Freiheit zu existenziellen Grundbedingungen. An einer Stelle nimmt er sogar Nietzsche voraus, indem er den Willen zum Selbst macht. Aber im Gegensatz zu Nietzsche verknüpft er den Willen mit dem Selbstbewusstsein: Überhaupt ist für das Selbst Bewusstsein (Selbst-Bewusstsein) das Entscheidende. Je mehr Bewusstsein desto mehr Selbst; je mehr Bewusstsein desto mehr Wille; je mehr Wille desto mehr Selbst. Ein Mensch, der gar keinen Willen hat, ist kein Selbst; je mehr Willen er aber hat, desto mehr Selbstbewusstsein hat er auch. (Die Krankheit zum Tode [2016] S. 22)

Prägnanter kann man den Kernbegriff des europäischen Individualismus kaum ausdrücken. Er beruht auf dem exklusiven Ich, dem Selbstbewusstsein und dem freien Willen des Individuums. In anderen Religionen und Kulturen lautet das Ziel, das Selbst in etwas Größerem aufzulösen, im Weltgeist oder Gott, und den individuellen Willen auszuschalten. Für Kierkegaard und den europäischen Individualismus lautet das Ziel, ein authentisches und autonomes Selbst mit Selbstbewusstsein und freiem Willen zu werden. Obgleich Kierkegaard Augustinus’ Betonung des freien Willens teilt, stimmt er ihm in puncto Erbsünde keineswegs zu. Denn obwohl sie durch eine transzendente Macht bedingt ist, ist die Erbsünde auch eine existenzielle und psychologische Bedingung: Die Sünde ist in die Welt gekommen, sie ist ein Teil des Geschlechts und wird vererbt, wie in Kierkegaards eigenem, schmerzlichen Fall. Außerdem ist die Sünde, auch Adams, das Resultat einer Entscheidung des Einzelnen. Doch die Entscheidung für die Sünde entspringt der Angst, die durch die Freiheit verursacht wird, zwischen Gut und Böse zu entscheiden, also einer psychischen Dimension. Furcht, Angst, Verwirrung und Ungläubigkeit sind die negativen psychologischen Konsequenzen aus der Möglichkeit des Individuums, sich von konventionellen sozialen Erwartungen zu befreien und sich selbst zu wählen. Die Angst ist der Preis der Freiheit. Auch die Verzweiflung versteht Kierkegaard als existenzielle Grundbedingung. Wir wissen, dass wir in dieser Welt sind, aber nicht, warum. Dies erzeugt Verzweiflung. Die Entscheidung erzeugt Angst, weil sie der Zukunft gilt, die offen und unbestimmt ist – kurz und gut nichts –, und als einzig Sicheres den Tod in 242

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sich trägt. Die Konfrontation mit dem Nichts ist auch eine Konfrontation mit dem Imaginären und einem möglichen Sinnmangel. Viele Schriftsteller, unter ihnen Turgenew und Dostojewski, schilderten die nihilistische Erfahrung des Nichts, bevor Nietzsche zum Philosophen des Nihilismus wurde. Er betrachtete den Nihilismus als Folge davon, dass die sichere Verankerung des Daseins in göttlicher Lenkung durch »Gottes Tod« verloren gegangen war. Diese Leere bedroht auch die Seele, wenn die Verbindung zwischen Seele und Gott abreißt. Eine solche Abkoppelung versucht Kierkegaard zu verhindern. Das Nichts nimmt bei ihm die Form eines »Abgrundgefühls« an. In seinen Spätwerken hängt der Abgrund mit dem Glauben zusammen, den er mit einem Sprung in 70.000 Faden tiefes Wasser (also tiefer als der Marianengraben) vergleicht, um zu illustrieren, was der Glaube einem abverlangt.

Die Unsterblichkeit der Seele und der letzte Kampf – »Grüß alle Menschen!« Kierkegaards letzte Lebensjahre (1854/55) waren von dem sogenannten Kirchensturm geprägt, den er wie ein einsamer Ritter mit der Feder als Lanze auskämpfte. Es war ein kompromissloser Angriff auf den Klerus und die schlaffe Ausübung der Religion in der Kirche. Wir können hier nicht näher auf diesen Streit eingehen, aber weil es Kierkegaards letzter Kampf war, nicht nur als Gesellschaftsbürger und Mitglied der Kirche, sondern auch um die eigene Seele, muss er hier berücksichtigt werden. Der Anlass seines Zorns über die Verwässerung des Glaubens war eine schwülstige Grabrede für den Bischof von Seeland, J. P. Mynster, der Familienseelsorger und eine Vaterfigur in Sørens Leben gewesen war. Sein Nachfolger, H. L. Martensen, stellte Mynster in eine »Reihe von heiligen Verkündern der Wahrheit«. Diese Kanonisierung war zu viel für Kierkegaard, eine grobe Lüge und ein Beispiel kalkulierender Rhetorik, die dem Geschmack sowohl der Gemeinde als auch der kirchlichen Machthaber angepasst war, anstatt die Gottesdienstbesucher zu echtem Glauben und bußfertigem Verzicht zu ermahnen. Nach Monaten des Zweifelns und Zögerns streckt Kierkegaard die Hand zur Versöhnung aus, und zwar in Form eines Artikels in der Zeitung Fædrelandet am 18. Dezember 1854, mit dem er Martensen zu dem Eingeständnis bewegen will, dass es ein Fehler (»eine himmelschreiende Die Unsterblichkeit der Seele und der letzte Kampf

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Unwahrheit«) gewesen sei, Mynster einen »Verkünder der Wahrheit« zu nennen. Doch der neue Bischof sitzt inzwischen fest im Sattel und will nichts einräumen. Somit hat Søren keine Wahl, wenn er seine eigenen Ansprüche erfüllen will. Er schreibt einen Artikel nach dem anderen, ohne je Antwort von Martensen zu bekommen. Objektiv betrachtet würden die meisten sagen, dass Kierkegaard sich wie ein polemischer Don Quichotte benimmt, der vom gesellschaftlichen Standpunkt aus keine Chance hat. Darüber war er sich selbst klar: »Alle wissen, dass ich recht habe. Und alle wissen, dass ich verlieren werde. Auch ich.« Doch Kierkegaard geht es nicht um den Sieg, sondern um Integrität und Redlichkeit, die wichtigsten Bedingungen für die Erlösung der Seele. In dieser Hinsicht haben Martensen und die Kirche verloren: Sie wollten nicht einmal diskutieren, was wahres Christentum sei. Einmal mehr wurde Kierkegaard klar, was er wirklich wollte, so die Überschrift seines Artikels vom 31. März 1855, Was ich will? »Ganz einfach: Ich will Redlichkeit. Denn ich bin eine menschliche Redlichkeit.« (SKS 14, S. 179) Redlichkeit in allen Bereichen des Lebens, sozial und persönlich, fachlich und intellektuell, moralisch und geistig, denn sie verleiht der Seele als Ziel und Maßstab der Person Integrität. Dies verlangt Offenheit und Ehrlichkeit und dass man anderen Menschen und den Anderen mit Vertrauen begegnet und mit dem Willen, den Anderen als den Einzelnen, das heißt als Individuum, zu sehen. Kierkegaards Größe liegt darin, dass er sein Leben lang in Schrift und Rede den und die Anderen als etwas behandelt, das größer als er selbst (und die Anderen für sich) ist. Diese Verpflichtung vor dem Überindividuellen im Individuellen, eine geistige Kraft, die durch ihn spricht, ist Bedingung, um seine Seele zu retten – ein wichtiger Teil von Kierkegaards Botschaft. Die Trivialisierung der christlichen Botschaft, die Kierkegaard beklagt, gilt auch der Glaubensfrage zur Unsterblichkeit der Seele, die wir als Vorläufer des Kirchensturms betrachten. Die Seele ist für Kierkegaard bestenfalls eine Redeweise geworden, ein Klischee, das man nicht mehr ernst nimmt. Der Wunsch nach der »Seligkeit des Himmels« sei nur mehr ein Wortspiel, ein leeres und lediges Wort, unterweilen nahezu vergessen, oder dreist aus der Sprache fortgelassen, oder gleichgiltig beiseitegesetzt als eine altmodische Redensart, die man nicht mehr braucht, sondern lediglich der Schnurrigkeit halben aufbewahrt. (Erbauliche Reden S. 164)

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In den intellektuellen Kreisen der frühen 1840er-Jahre, denen Kierkegaard angehörte, wurde eine rege Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele geführt, sowohl aus theologischer als auch ästhetischer Sicht. Seine Zeitgenossen J. L. Heiberg, der Philosoph Poul Martin Møller und der Theologe Martensen (der oben erwähnte spätere Bischof) übertrugen jeder auf seine Weise Hegels Lehre auf dänische Verhältnisse, wie Lasse Horne Kjældgaard in Sjælen efter døden (»Die Seele nach dem Tod«, 2007) erläutert. Hintergrund war die religionskritische Debatte im benachbarten Deutschland, wo der Hegelianer David Friedrich Strauß mit seinem religionsgeschichtlichen Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/36) Aufsehen erregte. Das Buch wurde rasch in viele Sprachen übersetzt, darunter auch Dänisch, und bestimmte bis in Nietzsches Zeit die Tagesordnung von Religionsdebatten. Strauß betrachtet Jesus als historische Gestalt, als Menschen aus Fleisch und Blut, der gleichzeitig Träger eines unendlichen Geistes nach hegelianischem Verständnis war. Religion wird hier menschlich verstanden, als Reflexion des menschlichen Geistes und seiner Kraft. »Gott ist der Spiegel des Menschen« (und der Mensch kein imago Dei) und deshalb ein Ausdruck für die Neigung des Geistes, sich selbst zu überschreiten. Kierkegaard kannte sich in dieser Debatte gut aus, die in vieler Hinsicht einen Hintergrund für seine eigenen Reflexionen darstellt, besonders im Hinblick auf die unsterbliche Seele. In dieser Debatte nimmt Kierkegaard die Rolle als Antagonist und Anti-Hegelianer ein. Für ihn lässt sich die Unsterblichkeit der Seele nicht in einer dialektischen Bewegung auflösen. Vielmehr stellt er die existenzielle Frage, ob die Seele wirklich erlöst werden kann und wie. Die Krux besteht in der Frage, ob es wirklich einen Jüngsten Tag geben wird, an dem Jesus die Lebenden und die Toten richtet und sie ins »ewige Feuer« oder »die Seligkeit des Himmels« schickt. Dieses memento mori wird in dem modernen Plauderton und der Seelenschmeichelei der Kirche verdrängt. Für Kierkegaard sind es jedoch keine leeren Worte, sondern die erste und letzte Frage der Existenz – die als solche eine Seele voraussetzt, sogar eine unsterbliche. Dies sei noch immer die offizielle Lehre des Christentums und die Grundlage des Glaubens, mahnt Kierkegaard. Im dänisch-norwegischen Königreich war es offiziell sogar strafbar, die Unsterblichkeit der Seele zu bezweifeln, in Dänemark bis weit ins 19. Jahrhundert. Wir erinnern uns, dass Kant den Wegfall des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele als Auflösung der Moral betrachtete. Dies ändert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Wir befinden uns in einer historisch neuen Situation: Die Unsterblichkeit Die Unsterblichkeit der Seele und der letzte Kampf

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der Seele wird angezweifelt und ist für viele ein Adiaphoron, das heißt in moralischer Hinsicht gleichgültig. Kierkegaard schwimmt in dieser Frage gegen den Strom und widersetzt sich der Relativierung der Unsterblichkeit. In einer Christlichen Rede von 1848 erklärt er, die Auferstehung der Toten bedeute »die der Rechtfertigen – und Unrechtfertigen […] Unsterblichkeit ist das Urteil« (SKS 10, S. 214). Die erbaulichen Schriften Kierkegaards sind bisher stiefmütterlich behandelt worden, obwohl er sie wichtiger als seine pseudonymen Werke fand (vgl. Bøggild 2014). In etlichen seiner Erbaulichen Reden, die er unter echtem Namen publizierte, behandelt er den Tod und die Erlösung der Seele. Die Überschriften sprechen für sich: Seine Seele erwerben in Geduld (1843) oder Seine Seele bewahren in Geduld (1844), gefolgt von Geduld in Erwartung, womit die Erwartung der ewigen Seligkeit für die »bewahrte« Seele gemeint ist. Am Anfang seiner Überlegungen steht die Frage, ob der Mensch seine Seele besitzt. Wenn er nackt geboren wird, wie Lockes tabula rasa, kann dies nicht der Fall sein. Er muss sie erwerben. Wird er hingegen mit einer Seele (ob göttlich oder nicht) geboren, muss er sie auch nicht erwerben … Nein, so einfach ist Kierkegaards Argumentation nicht. Der Dialektikkritiker ist schließlich selbst Dialektiker. Die Seele ist von einem sowohl … als auch bedingt. Der Mensch ist weder als tabula rasa noch mit einer substanziellen Seele oder einem festen Persönlichkeitskern geboren. Vielmehr ist uns die Seele als Möglichkeit gegeben, und die Geduld ist ein Ausdruck dieser Möglichkeit, so »dass es die Geduld selber ist, in welche die Seele in Geduld sich einspinnt und dadurch diese und sich selber erwirbt« (Erbauliche Reden S. 69). Der Mensch muss diese Möglichkeit selbst verwirklichen, indem er sich selbst erkennt und selbst wählt. Dabei ist die Seele eine Art relationale und funktionale Nabe in der Persönlichkeit. Sie wird erworben und nach der Geburt Schritt für Schritt durch die Entwicklung und Reifung der Persönlichkeit gebildet. Die Seele ist nichts Natürliches, sondern exklusiv menschlich und künstlich. Sie ist auch nichts Soziales. Zwar ist das Individuum in eine Gesellschaft mit anderen eingebunden, doch die Seele wird vom Kollektiven abgesondert und individualisiert, »denn seine Seele war eben diese Verschiedenheit: sie war des Weltlebens Unendlichkeit in ihrer Verschiedenheit von ihr selbst« (ibd., S. 63 f.). Sie repräsentiert, in Kierkegaards dialektischer Doppelheit, den »Selbstwiderspruch im Widerspruch zwischen dem Äußeren und dem Inneren, dem Zeitlichen und dem Ewigen« (ibd., S. 70). 246

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Die Doppelheit hört hier noch nicht auf. Denn während Kierkegaard die Genese sowie das Leben und Wirken der Seele als existenziell und menschlich erklärt, sieht er am Ende ein anderes Schicksal für die Seele, das direkt mit seinem Gottesglauben verbunden ist. Es liegt in der Verlängerung der Frage, was man mit der Seele erwirbt, ob sie für etwas steht, das es wert ist zu bewahren und das man nicht mit dem Tod aufgeben darf. Die Antwort lautet »ja«. »So müsste denn das […] etwas Ewiges sein, und was dann also, mit einem Worte gesagt, anderes als des Menschen Seele?« (ibd., S. 99) – die demnach unsterblich ist. Wie wichtig diese Frage in Kierkegaards Gesamtwerk und Leben ist, wird dadurch betätigt, dass sein pseudonymes Alter Ego sie in Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846) direkt stellt: »Ganz einfach ausgedrückt: Wie ich, Johannes Climacus, der Seligkeit teilhaftig werden kann, die das Christentum verheißt« (Unwissenschaftliche Nachschrift I S. 15). Er betont, dass dies eine individuelle Frage sei, auf die jeder Einzelne seine eigene Antwort finden müsse: »Das Problem geht ganz allein mich an« (ibd.). Kierkegaard wehrt sich dagegen, den linear-historischen Zeitbegriff auf den Glauben anzuwenden, weil Gott ahistorisch und unveränderlich ist. Er ist fasziniert von dem Wunder, dass der ewige Gott sich historisch in der menschlichen Gestalt Jesu Christi inkarniert. Die Idee der Inkarnation wird zu einem zentralen Punkt in Kierkegaards Religionsbild. Er versteht sie als nichtkausalen, qualitativen Sprung. Dies impliziert einen Bruch mit der linearen oder kontinuierlichen Entwicklung, einen Übergang von einem Zustand zum anderen ohne äußere (oder innere) Ursachen, jedoch nicht ohne Bedingungen und Vorbereitung. Dieser Übergang geschieht im Glauben, und zwar beim Übergang vom Beweisbaren zum nicht Beweisbaren. Das nicht Beweisbare ist Gegenstand des Glaubens, der Offenbarung oder der Überzeugung und manifestiert sich in Form der Innerlichkeit, der Hingebung und der Liebe, die der Mensch tief in der Seele fühlt. Der Übergang zu diesen Wirklichkeiten ist ein Sprung vom Ästhetischen und Ethischen ins Religiöse, ein Sprung, den Kierkegaard kraft seiner Geistesgaben und seines eruptiven Intellekts in Seele und Gemüt erlebt. So kommt er im Zeitalter der Rationalität auf den unglaublichen Glauben. Und genau darauf kommt es an, nicht auf das Christentum als objektives System mit »Wahrheiten« und Dogmen. Johannes Climacus stellt klar, »dass das Problem nicht die Frage nach der Wahrheit des Christentums ist, sondern die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zum Christentum.« Ihm geht Die Unsterblichkeit der Seele und der letzte Kampf

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es »um die Sorge des unendlich interessierten Individuums, in betreff seines Verhältnisses zu einer solchen Lehre.« Er nimmt an, dass mir sowohl wie einem Dienstmädchen und einem Professor ein höchstes Gut in Aussicht steht, das ewige Seligkeit genannt wird; ich habe gehört, dass einem das Christentum dieses Gut bedingt; nun frage ich: Wie komme ich in ein Verhältnis zu dieser Lehre? (ibd., S. 14)

Um diesen Punkt dreht sich Kierkegaards Lehre und Leben: Wie erreicht man in einer bedingten Welt das Unbedingte? Wie kann man den Sprung vom Zeitlichen ins Unendliche wagen, von der Notwendigkeit zur Zufälligkeit, die Möglichkeit zur Wirklichkeit machen? Wie vollzieht man »den qualitativen Übergang des Sprunges vom Nicht-Glaubenden zum Glaubenden« (ibd., S. 10)? Auch dieser Sprung lässt sich nicht beweisen. In Glaubensfragen kommt sowohl Kants universelle Vernunft als auch Hegels historische Notwendigkeit zu kurz, denn »in Bezug auf die ewige Seligkeit hat das Individuum allein mit sich selbst in Innerlichkeit zu tun« (Unwissenschaftliche Nachschrift II S. 91). Die Seele ist dem Einzelnen vorbehalten, für einen Christen in alle Ewigkeit. Nur Individuen haben eine Seele, und was in und mit der Seele geschieht, gilt ebenfalls dem Einzelnen. Deshalb klingt die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele in allen Werken Kierkegaards mit, wie der Sprung zum Glauben, die Hoffnung auf ewige Seligkeit und der Glaube als Zweck und Mittel. Am Jüngsten Tag hilft es nichts, mit guten Vorsätzen zu kommen, mit Entschuldigungen, dass etwas »gut gemeint« war, oder Entschlüssen aller Art. Man tritt vor das Gericht mit einem Leben als zusammenhängendes Ganzes, ein Selbst mit Integrität, das es selbst ist und bleibt. Dies stellt Johannes klar, als er sich über Leute lustig macht, die den Pfarrer besorgt fragen, »ob sie nun wirklich im Jenseits dieselben blieben«, wo sie doch ihr Leben lang unterschiedliche Rollen gespielt hätten. Dann würde die Unsterblichkeit ja allerdings eine sonderbare Metamorphose bedeuten, wenn sie einen solchen unmenschlichen Tausendfüßler in die ewige Identität mit sich selbst verwandeln könnte, worauf das Derselbe-Sein hinausläuft. (Unwissenschaftliche Nachschrift I S. 166)

In diesem Geist kämpft Kierkegaard bis zuletzt für das, was ihm als christlichem Existenzphilosophen Identität gibt. Seine letzte Aufzeichnung trägt 248

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die Überschrift »Die Bestimmung dieses Lebens christlich«. Im September 1855 bricht er bei einem seiner langen Spaziergänge auf der Straße zusammen. Er hat seine letzten Reichstaler aufgebraucht und seine letzten Worte geschrieben. Gesagt, was er zu sagen hatte. Er wird zuerst nach Hause gebracht und dann ins Krankenhaus, wo er seine letzten Wochen in der Gewissheit verbringt, dass er bald sterben wird. Dort besucht ihn sein einziger lebenslanger Freund, Emil Boesen, der die Gespräche an Kierkegaards Krankenbett niederschrieb. Auf Boesens Frage, ob er noch etwas zu sagen habe, antwortet Kierkegaard: Nein … doch: Grüß alle Menschen, ich bin ihnen allen insgesamt sehr zugetan gewesen. Und sage ihnen, mein Leben ist ein großes, für andere unbekanntes und unverständliches Leiden. (nach Thielst 2004, S. 271)

Kierkegaards erstes bedeutendes Werk hieß Über den Begriff der Ironie (1841) und auch seine letzten Worte können ironisch verstanden werden. Er, der sein Leben lang in Streitfragen verwickelt war, andere angriff und angegriffen wurde, soll den Menschen »zugetan« gewesen sein. Auf seine Art und Weise war er dies sicher. Seine größte Freude war es vielleicht, unter Menschen zu sein, unter gewöhnlichen Menschen aller Art, beim »Menschenbad«. Aber wenn es darauf ankam, war er allein. Obwohl ihm viel im Leben gelungen war, wie Boesen betont: »Ja, ich bin deshalb sehr froh und wehmütig, denn ich kann die Freude mit niemandem teilen.« (ibd., S. 272) Er kann weder das Leid noch die Freude teilen. Er, der seinem einzigen echten Freund sagte, dass es nur einen braucht, um zu sagen, was gesagt werden muss, lässt trotzdem alle Menschen grüßen – in der Gewissheit, dass die anderen ihn nicht verstanden haben. Aber um das Eine zu dem einen Anderen zu sagen, der er selbst war, musste er sich in den anderen spiegeln, in der gemeinsamen Sprache der Mit-Teilung, um den Dialog der Seele mit sich selbst zu vollenden.

Die Unsterblichkeit der Seele und der letzte Kampf

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DIE SEELE IN DER WISSENSCHAFT

Ehre dem ewigen Frühling im Leben, / Der alles durchweht! Kleinstem wird Auferstehung gegeben, / Die Form nur vergeht. Geschlecht auf Geschlecht / Müht sich empor zu schreiten; Art bringt Art hervor / In unendlichen Zeiten; Welten gehn unter und steigen empor. (Bjørnstjerne Bjørnson, Psalmen – II)

DARWIN UND DIE EVOLUTION – EINE NATÜRLICHE SEELE ODER SEELENLOSE NATUR? Søren Kierkegaard nimmt nicht nur eine historische Stellung zwischen einem religiösen Seelenbegriff und einer psychologisch verstandenen Psyche ein, sondern auch zwischen einem philosophischen und einem wissenschaftlichen Menschenbild. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts glaubten noch so gut wie alle, der Mensch sei »im Bilde Gottes« (imago Dei) geschaffen, am Ende des Jahrhunderts gab es nur noch wenige aufgeklärte Menschen, die dies glaubten. Der Hauptauslöser dieser Veränderung war Charles Darwin (1809–1882). Zur gleichen Zeit, als Kierkegaard seinen bitteren Streit mit der eigenen Psyche und mit der Kirche ausfocht, saß Darwin über das gesammelte zoologische Material gebeugt, das er von seiner fünfjährigen Beagle-Expedition mitgebracht hatte, und entwickelte auf dieser Grundlage seine Evolutionstheorie, die mit einem Schlag die Vorstellung vom Menschen als im Bilde Gottes geschaffen zerstörte. Der Ursprung des Menschen liegt in der Natur, nicht in einer jenseitigen, übernatürlichen Instanz. Die Vorväter der Menschen waren nicht Adam und Eva und auch keine Menschenaffen (mit denen wir jedoch einige Vorfahren teilen), sondern ältere Primaten (Affen). Doch was ist mit der Seele, ist sie auch ein Teil der Natur und der Art oder ist sie ausschließlich individuell? Ist sie natürlichen Ursprungs oder künstlich geschaffen? Und wenn sie natürlich ist, kann sie kaum exklusiv menschlich sein, sondern ist ein Kennzeichen allen Lebens, insbesondere aller anderen Tiere. Die Diskussion über die Natur des Menschen zwischen Pantheisten, Vitalisten und Materialisten zieht sich durch das gesamte Jahrhundert und folgt dem Fortschritt der Naturwissenschaften. Der Aufstieg der Biologie – der Lehre über alles Leben – als eigene Disziplin neben Zoologie und Darwin und die Evolution

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Botanik, Medizin und Anatomie gibt dieser Diskussion eine neue Richtung. Darwin war nicht allein; die Diskussion über den Ursprung des Menschen und sein Verhältnis zur Tierwelt war seit der Aufklärung in Gang und hatte mit dem historischen Denken der Romantik und Hegels neuen Schwung bekommen. Außerdem interessierten sich nicht nur die Naturwissenschaftler für den Ursprung des Menschen. Auch die Geisteswissenschaftler suchten nach historischen, kulturellen und nicht zuletzt sprachlichen Ursprüngen. Die Sprachwissenschaft machte große Fortschritte im Lauf des Jahrhunderts, als man nach einer gemeinsamen indoeuropäischen Sprache suchte und nach den Ursprachen der einzelnen Unterfamilien, insbesondere dem Urgermanischen. Im Zuge des aufkommenden Nationalismus gab es Versuche, Volk, Sprache und Rasse aneinanderzukoppeln. Diese Interessengemeinschaft zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaft resultierte in einer Aufwertung der physischen Anthropologie und der »Rassenforschung«. Deren Vertreter wollten die Menschheit durch den Vergleich äußerer Kennzeichen in naturgegebene Rassen einteilen. Seit den 1840er-Jahren gab es eine Klassifizierung, die auf Messungen der Schädel (auch aus archäologischen Funden) beruhte. Die Unterscheidung zwischen Langschädeln und Kurzschädeln sollte die Wissenschaft noch ein Jahrhundert lang dominieren. Man glaubte, von der Form des Schädels auf die Qualität des Gehirns schließen und so die Völker und Rassen in eine Hierarchie der Entwicklungsniveaus einteilen zu können. Die Kurzschädel waren primitiv, während die langschädeligen Kelten und insbesondere Germanen an der Spitze der Hierarchie standen. Der Eurozentrismus hat wohl nie geschmacklosere Formen angenommen als im Zeitalter des Imperialismus. Die Ergebnisse der Schädelmessungen wurden sogar auf die vermeintlichen seelischen Eigenschaften und das seelische Entwicklungsniveau der Völker übertragen. Von den 1790er-Jahren an hatte sich der zweifelhafte Wissenschaftszweig der Phrenologie entwickelt, die zu beweisen versuchte, dass die geistigen und seelischen Fähigkeiten der »Menschenrassen« (damals ein üblicher Begriff) unterschiedlich entwickelt seien. Die Theorie wurde unter anderem zur Rechtfertigung des Sklavenhandels benutzt. Die »Neger« waren primitiver und hatten sogar keine Seele, wie behauptet wurde. Obwohl die Sklaverei in den USA 1860 verboten wurde, stieg in Europa das Interesse an der Rassenforschung weiter. Wir wissen, wozu die Theorien einer »Herrenrasse« geführt haben und wie sie zur Rechtfertigung von Völkermorden, vor allem des Holocaust, dien254

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ten. Heute hat die Rassenforschung ihre Legitimation verloren, aber der Rassismus lebt weiter, genau wie die fatale Gleichsetzung von Ethnizität und Nation. Es sei jedoch betont, dass auch im 19. Jahrhundert viele Wissenschaftler der ideologisch befangenen, eurozentrischen Rassenforschung kritisch gegenüberstanden. Seit Carl von Linnés bahnbrechendem Systema Naturae (1735) wussten viele Naturforscher, dass die Menschheit aus einer Art besteht, dem Homo sapiens, und dass äußere Unterschiede wie Hautfarbe, Kopfform und Körperbau die Folgen klimatischer Bedingungen und unterschiedlicher Lebensverhältnisse waren. Diese monogenetische Sicht (wie sie damals im Gegensatz zur Polygenese genannt wurde) wurde auch von den meisten Christen vertreten: Die Menschheit ist eins und hat einen gemeinsamen göttlichen Ursprung. Auch Darwin war ein Anhänger der Monogenese: Die Menschheit hat sich aus einem gemeinsamen Ursprung entwickelt und dieser ist nicht göttlich, sondern natürlich. Darwins Lehre drückt auch die Unterscheidung innerhalb der Naturwissenschaften zwischen der toten Materie der Physik und dem organischen Leben der Biologie aus. So gesehen ist er ein Gegenspieler der Materialisten, die die physikalischen Kausalgesetze heranzogen, um den Menschen und organisches Leben zu erklären. Die Natur lässt sich nicht auf physische Materie reduzieren, sondern ist auch organisches Leben. Letzteres umfasst Pflanzen, Insekten, Fische, Vögel, andere Tiere – und den Menschen. Darwins Evolutionstheorie, die er 1859 – 20 Jahre nach ihrer Entwicklung – in On the Origin of S­ pecies (»Über die Entstehung der Arten«) publizierte, war so überwältigend und überzeugend, dass sie in wissenschaftlichen Kreisen sofort akzeptiert wurde. Anfangs sogar von der anglikanischen Kirche seines Heimatlandes, ehe sie erkannte, dass ihr Weltbild in Gefahr war. Es ist kein Zufall, dass der Vater der Evolutionstheorie ein Landsmann von William Harvey, dem Entdecker des Blutkreislaufs, und dem Physiker Isaac Newton war. In England herrschte großes Interesse an der Erforschung und wissenschaftlichen Kartierung der Natur. Darwin studierte zunächst Medizin und Theologie, doch seine Lehrer erkannten sein naturwissenschaftliches Talent und rieten ihm, das Fach zu wechseln. Wissenschaftliche Kreise in London finanzierten die Expedition der Beagle, auf der Darwin fossiles Material lebendiger und seltener Arten sammelte, um lebende Organismen, insbesondere Vögel und andere Tiergattungen von Fischen über Kriechtiere bis zu Säugetieren, miteinander zu vergleichen Darwin und die Evolution

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und zu kartieren. Besonders berühmt ist seine Sammlung von Finken, die bewies, dass eine Art je nach Lebensbedingung und geografischem Vorkommen unterschiedliche Schnäbel entwickelt hatte, um am besten an die jeweilige Nahrungsquelle zu gelangen. Auf Grundlage seiner anatomischen Studien, Observationen, der Kartierung und des gesammelten Materials aus Südamerika und von den pazifischen Inseln (insbesondere den Galapagosinseln) konnte er Schritt für Schritt zusammenhängende Muster erkennen, die Gattungen wie Fische, Vögel und andere ausmachten, und seine Evolutionstheorie formulieren. Wir haben es aber hier nicht mit Hoffnungen oder Befürchtungen zu thun, sondern nur mit der Wahrheit, soweit unser Verstand es uns gestattet, sie zu entdecken; ich habe das Beweismaterial nach meinem besten Vermögen mitgetheilt. Wir müssen indessen anerkennen, wie mir scheint, dass der Mensch mit allen seinen edlen Eigenschaften, mit der Sympathie, welche er für die Niedrigsten empfindet, mit dem Wohlwollen, welches er nicht bloss auf andere Menschen, sondern auch auf die niedrigsten lebenden Wesen ausdehnt, mit seinem gottähnlichen Intellect, welcher in die Bewegungen und die Constitution des Sonnensystems eingedrungen ist, mit allen diesen hohen Kräften doch noch in seinem Körper den unauslöschlichen Stempel eines niederen Ursprungs trägt. (Charles Darwin

Die Evolution – eine Theorie über Herkunft und Entwicklung ohne Endziel Kein anderer Wissenschaftler hat mehr zum Verständnis des Menschen beigetragen als Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie. Dies gilt auch für die Seele, die so stark von der Evolutionstheorie betroffen wurde, dass man fragen darf, wie sie überhaupt Darwin überleben konnte und mit welchem Status. Davon handelt dieses Kapitel. Dabei geht es nicht nur um die Seele im religiösen, sondern auch um die Seele im philosophischen und anthropologischen Sinn, denn niemand kommt an Darwin vorbei, egal in welcher Disziplin. Darwin beschäftigte sich sein Leben lang mit dem Verhältnis seiner Wissenschaft zum christlichen Glauben. Wie erwähnt, hatte er Theologie studiert, bevor er Naturforscher wurde. Vielleicht war der Fachwechsel für Darwin gar kein allzu großer Sprung, weil sowohl die Religion als auch die Wissenschaft ergründen wollen, wo der Mensch herkommt und warum wir existieren. Aber die eine beruht auf Glauben, die andere auf 256

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Wissen. Die Wissenschaft kommt einem wichtigen Teil der menschlichen Natur entgegen, nämlich dem Drang zu wissen, zu verstehen und herauszufinden, wie alles zusammenhängt. Auf die Fragen nach der Entstehung der Welt und woher der Mensch kommt, hat die Wissenschaft inzwischen Antworten in Form der Kosmologie, der Physik und der Biologie (inklusive der Evolutionstheorie) gefunden. Die Biologie und der Darwinismus haben uns mehr darüber gelehrt, wer wir sind. Doch all diese Antworten lassen sich nicht mit religiösen Schöpfungsmythen und der Vorstellung von einer göttlichen Seele vereinen. Aus dem Blickwinkel der Religionen war das Schlimmste an der Evolutionstheorie, dass sie die christliche und islamische Vorstellung, der Mensch sei ein für alle Mal als fertiges, unveränderliches Wesen von Gott geschaffen, widerlegte. Die alte Vorstellung von den unveränderlichen Arten hatte von Aristoteles bin zu dem Franzosen Jean-Baptiste de Lamarck Bestand, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Erster eine Theorie der organischen Evolution aufstellte. Darwin hingegen war der Erste – zeitgleich mit, aber unabhängig von seinem Landsmann Alfred Russel ­Wallace –, der empirisch belegen und wissenschaftlich beweisen konnte, dass alles Leben, auch der Mensch, sich in Millionen von Jahren schrittweise von einfachen Lebensformen zu komplexen Organismen entwickelt hatte. Die christliche Schöpfung liegt autoritativen kirchlichen Quellen zufolge 6000 Jahre zurück. (Die Welt wurde am 22. Oktober des Jahres 4004 v. Chr. um 9:00 Uhr morgens erschaffen, während der Mensch und andere Lebensformen das Licht der Welt sieben Tage später, am 28. Oktober, erblickten.) Darwin konnte anhand seiner Fossilien beweisen, dass das Leben auf der Erde viel älter war. Die Physik und die Kosmologie haben später das Alter des Universums auf ca. 14 Milliarden Jahre geschätzt, während die Erde erst ca. 4,6 Milliarden Jahre alt ist. Es ist ebenfalls wissenschaftlich erklärt, dass die Entstehung von Leben ein völlig natürlicher, chemischer Prozess ist. Chemische Stoffe reagierten unter bestimmten Bedingungen miteinander und schufen eine chemische Konstellation, die imstande war, sich selbst zu reproduzieren. Der entscheidende Sprung geschah in einem späteren Stadium der Erdgeschichte, als lebensfreundlichere Bedingungen herrschten und eine Zelle, wahrscheinlich ein Bakterium, entstand. Die Evolution des Lebens lässt sich bis auf primitive Einzeller zurückverfolgen, die sich vor ca. 3,5 bis 4 Milliarden Jahren bildeten. Damit fiel der christliche Schöpfungsbericht und der Glaube an ein intelligentes Design, das hinter dem Leben auf der Erde Die Evolution

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steht. Leben entsteht unter bestimmten äußeren Bedingungen aus dem Zusammenspiel vieler Faktoren in einer Suppe aus chemischen Stoffen und Molekülen. Im Grunde sind alle Lebewesen miteinander verwandt, wenn sie sich auf eine Urzelle zurückführen lassen. Die Evolution wird in hohem Maß durch die Veränderung von Lebensbedingungen vorangetrieben und nicht durch einen göttlichen Plan. Vor ca. 6 bis 7 Millionen Jahren entstand in Afrika die Tribus der Hominini aus den letzten gemeinsamen Vorfahren von Affen und Menschen, wahrscheinlich aufgrund klimatischer Veränderungen, die unsere Urahnen in die offene Savanne trieben und sie zwangen, aufrecht zu gehen und in Herden zusammenzuarbeiten. Vor ca. 2,5 bis 2 Millionen Jahren kam in dieser Tribus die Gattung Homo auf, unsere Vorväter, deren Gehirn immer größer wurde und die bereits Werkzeuge benutzten. In der ungefähren Reihenfolge waren dies Homo habilis (der »geschickte« Mensch), später Homo ergaster (der »arbeitende«) und erectus (der »aufrechte«), dann Homo heidelbergensis und neanderthalensis und schließlich, vor ca. 45.000 Jahren oder noch später, der moderne Mensch, Homo sapiens (der »wissende«), die einzig überlebende Art der Gattung, die nach dem Fundort der ältesten Spuren in Europa lange Zeit auch Cro-Magnon-Mensch genannt wurde. Der Homo sapiens hatte bereits eine Sprache entwickelt, unter anderem weil sich bei ihm Kehlkopf und Stimmband ausgeprägt hatten. Nicht einmal die Sprache kam also von Gott (am Anfang war nicht das Wort), auch sie ist ein Produkt der Evolution. Das Gleiche gilt für die »Babylonische Verwirrung«, die ein Produkt der Migration, unterschiedlicher historischer Bedingungen, geografischer Verteilung und lokaler Veränderungen ist. Dennoch bleibt der Ursprung der Sprache mit ihrer Grammatik ein Rätsel. Unsere Frage lautet nun, wann der Mensch in dieser Entwicklung eine Seele bekommen hat, wenn dies überhaupt der Fall ist. Dies ist schwierig zu entscheiden, da die Entwicklung schrittweise vor sich ging, mit einigen Sprüngen. (Zum Beispiel unterscheidet sich der Homo habilis noch sehr vom Sprachmenschen Homo sapiens sapiens.) War einer dieser Sprünge vielleicht der Übergang vom seelenlosen zum beseelten Menschen? Das kommt natürlich auf die Definition an. Wenn man die Seele mit allem Leben verbindet, wie Aristoteles, ist sie so alt wie das Leben auf der Erde. Verbindet man sie jedoch mit der Sprache und dem Bewusstsein des Menschen und der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für das eigene Leben zu tragen, gilt eine andere Grenze. Der buchstäblich springende Punkt aus dieser Perspektive ist, dass die Natur etwas Unna258

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türliches schafft, nämlich ein Wesen, das nicht nur seinen Trieben und Instinkten folgt und automatisch tut, wofür es genetisch programmiert ist. Stattdessen tut es etwas Unnatürliches: Es stellt Werkzeuge her, baut Wohnorte und hat Vorstellungen über den Tod und ein mögliches Leben nach dem Tod. Diese »unnatürlichen« Dinge verlangen extra Hirnkapazität. Das Gehirn entwickelt sich weiter und wird drei Mal so groß wie das eines Schimpansen. Dies geschieht nach einem Treppenprinzip, aus innerem und äußerem evolutionären Druck. Es braucht extra Hirnkapazität, neue Werkzeuge zu erfinden, sie herzustellen und zu benutzen, was immer neue Möglichkeiten schafft, die mehr Intelligenz erfordern. Der wirklich entscheidende Sprung geschieht bei der Entwicklung der Sprache. Der Mensch schließt sich in größeren Gruppen zusammen, weshalb mehr Information verarbeitet werden muss, um den Überblick über die Gruppe und gegenseitige Beziehungen zu behalten und untereinander zu kommunizieren. Größere Gruppen und avancierte Kommunikation verlangen mehr Gehirnmasse und größere Gehirne sind eine Voraussetzung für die Entwicklung von Sprache. Wenn die Seele künstlich erschaffen wird und mit dem Verstand zusammenhängt, ist es angebracht, sie mit der Sprache zu verbinden, dem Medium des Bewusstseins und des Verstandes. In diesem Fall wäre die Seele erst in einem späten Stadium der Evolution des Menschen entstanden. Wenn sie jedoch von Anfang an zur Natur des Menschen gehört, lässt sich kaum abstreiten, dass auch unsere nahen Verwandten im Tierreich eine Seele besitzen. Die Grenze zwischen Artgenossen mit und ohne Seele kann nur zufällig gezogen werden, denn die Evolution zu einem beseelten Wesen mit Bewusstsein geschieht schrittweise. Wir wissen nun, woher wir kommen, wie wir zum Glied der great chain of being wurden, aber auf die Fragen, warum wir hier sind, wie man ein sinnvolles Leben führt und wohin wir gehen, gibt es keine klare Antwort. Sie hängt davon ab, wie wir die Teile des Menschen verstehen, die sich von der Notwendigkeit der Natur losgerissen (oder befreit) haben, beinahe als ein Nebeneffekt der Evolution. Diese Fragen gelten dem Bewusstsein und der Seele des Menschen, der Existenz und der Ethik, der Sprache und der Liebe. Die Evolutionstheorie gibt uns keine Antworten auf solche Fragen. Eine von Darwins Hauptthesen lautet, dass die Evolution nicht zielgerichtet sei. Der Natur ist es gleichgültig, ob sich die Evolution vorwärts oder rückwärts bewegt. Sie ist weder geplant noch zielgerichtet, aber auch weder zufällig noch bedingungslos. Man könnte sagen, dass die Evolution zweckmäßig Die Evolution

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ist, ohne dass eine äußere, zielgerichtete Kraft dabei eingreift. Doch selbst ohne ein Ziel ist sie nicht ohne Ursachen. Sie wird von einem Zusammenspiel aus Vererbung und Umwelt gesteuert. Selektion ist insofern natürlich, als die Individuen überleben, die sich am besten den natürlichen Verhältnissen anpassen. Sie haben die Fähigkeit, sich zu ändern und veränderliche Lebensbedingungen am besten auszunutzen, um sich zu reproduzieren. Das survival of the fittest (Überleben des Stärkeren) bedingt, dass die guten genetischen Eigenschaften an die Nachkommen weitergegeben werden. Darwin betont, dass nur eine Ansammlung vieler kleiner und vorteilhafter Variationen zur Grundlage einer schrittweisen Evolution wird. Die Variationen geschehen zunächst zufällig. Durch Mutation kann das Erbmaterial permanent verändert, weitergegeben und in der Population durch Rekombination (Neuanordnung von genetischem Material) verbreitet werden. Der Mensch hat eine hohe genetische Variation, weshalb er sehr anpassungsfähig ist und unter vielen verschiedenen Lebensbedingungen überlebt. In Darwins Evolution gibt es also keinen Schöpfungsplan, kein intelligentes Design und keine zielgerichtete Entwicklung. Wer biologisch überlebt, wird nicht aufgrund von moralischen Eigenschaften, von Glauben oder von Gerechtigkeit entschieden. Wir glaubten, unser Schicksal liege in den Sternen. Jetzt wissen wir: Unser Schicksal liegt zu einem großen Teil in unseren Genen. (James D. Watson, Molekularbiologe)

Ist die Seele Natur oder Kultur? Gene und Gentechnik In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gab es ein gigantisches Forschungsprojekt, an dem 20 Laboratorien und mehrere Hundert Wissenschaftler in vielen Ländern beteiligt waren. Das Humangenomprojekt sollte die menschliche Erbmasse vollständig entschlüsseln. Die Ergebnisse wurden in den zwei führenden naturwissenschaftlichen Zeitschriften Science und Nature am 15. Februar 2001 veröffentlicht. Sie zeigen unter anderem, dass Mensch und Schimpanse zu 98 bis 99 Prozent dieselben Gene haben. Entscheidend ist jedoch das übrige eine Prozent. Das Projekt erzielte imponierende Resultate. Von der historischen Bedeutung her wird es mit der Detonation der ersten Atombombe oder der ersten Mondlandung verglichen, auch wenn die schrittweisen Ent260

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deckungen weniger spektakulär sind. Die wichtigste Konsequenz dieser Kartierung ist wahrscheinlich die mentale, denn sie verändert unser Menschen- und Selbstbild. Der Mensch ist kein festes, unveränderliches Wesen. Er entwickelt sich nicht nur auf lange Sicht als Art, sondern auch von Generation zu Generation auf einem individuellen Niveau. Im Tierreich kann dies bis zu einem gewissen Grad durch zielgerichtete Zucht gesteuert werden. Die neue Gentechnologie bietet nun auch die Möglichkeit, dasselbe durch einen Eingriff in das befruchtete Ei oder am frühen Fötus zu erreichen. Natürlich wirft dies schwerwiegende ethische Fragen auf – wie auch umgekehrt die Frage, ob man im Fall von Erbkrankheiten das Risiko auf seine Kinder übertragen soll. Dies war auch Darwins ethisches und persönliches Dilemma. Er litt Seelenqualen, weil er nicht persönlich die Konsequenz aus seinem Wissen über Vererbung und Inzucht gezogen hatte, als er seine Kusine Emma heiratete. Wie sich herausstellte, hatte das erhöhte Risiko für Erbkrankheiten tatsächlich Folgen. Charles’ Lieblingstochter Annie bekam das Magenleiden ihres Vaters, bloß viel stärker. Im Alter von zehn Jahren starb sie daran, nach einer längeren Zeit des Leidens. Darwin fühlte sich schuldig. In einem Brief benutzt er das Wort ›Seele‹, um Annies positive Eigenschaften zu loben: Her whole mind was pure & transparent. One felt one knew her thoroughly & could trust her: I always thought, that come what might, we should have had in our old age, at least one loving soul, which nothing could have changed. (Our poor child, Annie, 30. April 1851)

Dass Darwin hier soul schreibt, zeigt, dass er selbst (zumindest zu diesem Zeitpunkt) nicht ausschloss, dass der Mensch trotz seiner Abstammung von den Tieren eine Seele habe. Interessant ist auch, dass er die Seele mit persönlichen Eigenschaften und der Liebe verbindet (loving soul). Mit seiner rationalen Haltung hätte er damals sicher einem qualifizierten Einsatz der Gentechnologie zu medizinischen Zwecken (therapeutisches Klonen und Einsatz von Stammzellen) zugestimmt, um zu verhindern, dass die Krankheit sich auf seine Tochter übertrug. Vielleicht sind es tatsächlich ein paar Gene, die unser Seelenleben ermöglichten. Vielleicht haben wir auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung eine anthropologische Dimension bekommen, die man später Seele nannte. Wenn diese »unnatürlichen« Dimensionen überhaupt geneIst die Seele Natur oder Kultur?

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tisch erklärt werden können – worüber sich auch die Wissenschaftler des Humangenomprojekts im Klaren waren: It seems likely that these features and abilities have mainly come from subtle changes […]. Another half-century of work by armies of biologists may be needed before this key step of evolution is fully elucidated. (Nature, 15. Mai 2001, S. 816)

Die Seele des Menschen kann als Resultat einer oder mehrerer dieser subtle changes in der Evolution aufgefasst werden. Kultur ist nicht Natur und nicht Biologie, sondern künstlich geschaffen. Der Ursprung des Menschen liegt in der Natur. Diese hat also ein Wesen geschaffen, das nicht Natur ist, oder zumindest eine Dimension an diesem Wesen, die unnatürlich oder künstlich ist. Die Dispositionen sind ein Ergebnis der Evolution, zum Beispiel ist das menschliche Gehirn dazu angepasst, Sprache zu entwickeln und zu lernen, die nicht angeboren ist, sondern über längere Zeit künstlich erlernt werden muss. So verhält es sich wahrscheinlich auch mit unseren seelischen Fähigkeiten: Sie entspringen einer genetischen Disposition, die mit Bewusstsein, Sprache und der Fähigkeit zur Liebe zusammenhängt. Die neuere Gehirnforschung hat herausgefunden, dass unser Gehirn ein komplexes kommunikatives Netzwerk aus Milliarden von Neuronen und Synapsen ist, deren Funktion auf biochemischen Impulsen beruht, doch wir können noch immer nicht erklären, wie Bewusstsein entsteht, oder eine Seele lokalisieren. Wir sind nicht mit einer Seele geboren, sondern entwickeln sie. In der Natur geschehen Metamorphosen, Verwandlungen. Die Seele kann man als eine solche Metamorphose verstehen: Eine natürliche Disposition wird durch einen kultivierenden Quantensprung in etwas Seelisches verwandelt, was eine Verfeinerung geistiger Fähigkeiten zeigt (welche die Natur im Übrigen nicht kennt). Als Naturwesen käme der Mensch wohl ohne Seele aus, aber das würde eine Reduktion bedeuten, weil der Mensch ein Geistes- und Kulturwesen ist. Menschen ohne Seele gelten als primitiv. In On the Origin of Species geht es kaum um den Menschen. Erst in The Descent of Man (1871), dessen Titel weiter and Selection in Relation to Sex lautet (dt. »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl«), macht Darwin klar, dass die Stammväter des Menschen Primaten waren und nicht »Gott«. Es ist wenig beachtet, dass Darwin sich am Anfang des Werks mit der Frage auseinandersetzt, was die natürliche Auswahl für die geistigen und moralischen Fähigkeiten des Menschen bedeu262

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tete. Darwin führt diese Fähigkeiten auf eine Art sozialen Instinkt und die Prozesse, welche die Wahl des Sexualpartners beeinflussen, zurück. Alle Säugetiere wählen den Sexualpartner (das Privileg der Weibchen), der die besten Eigenschaften zur Zeugung von Nachwuchs und zum Überleben aufweist. Eine Hauptidee Darwins besagt, dass höhere Säugetiere eine Art Fürsorge-, Familien- oder Gruppeninstinkt entwickelt haben, der nicht nur den Interessen des Stärkeren dient, sondern auch den »Nächsten«. Der Stärkste richtet sich nach den anderen, um das Überleben der Gruppe zu sichern, was wiederum auch dem Stärkeren hilft, indem es seine Gene weiterführt. Individuen, die einer solchen Gruppe mit Gemeinschaftsinstinkt angehören, haben im Überlebenskampf mehr Erfolg als Arten, die dieses Gefühl nicht kennen. Laut The Descent of Man bestimmt nicht nur die »natürliche Selektion« die Bewahrung und Entwicklung der Art, sondern auch ein »anderes Prinzip«. Für die Art des Menschen bedeutet dies, dass bestimmte Gefühle und Präferenzen entscheidend für die Wahl des Sexualpartners sind. Diesem Gefühl, für das auch Darwin kein anderes Wort als Liebe hatte, sprach er biologische Bedeutung zu, weil es den Menschentypus, zu dem wir im Lauf der Evolution geworden sind, adaptiv mitbestimmt hat. Die meisten von Darwins Nachfolgern haben diesen Aspekt seiner Lehre mehr als 100 Jahre lang ignoriert, weil er in der Biologie »nichts zu suchen« hatte. In den letzten Jahrzehnten jedoch hat diese Seite der Evolution besonders in der Humanethologie wieder mehr Aufmerksamkeit erlangt. (Die Humanethologie ist ein Zweig der Verhaltenslehre, der sich mit angeborenen Verhaltensweisen befasst.) Bedenkt man, dass die Liebe das faszinierendste Phänomen ist, das durch Evolution entstand, und eine Kraft, die die meisten als stärkste im Leben erfahren, scheint es merkwürdig, dass sie nicht schon früher einen gebührenden Platz in Evolutionslehre und Humanbiologie bekommen hat. Denn Gefühle sind nicht nur Gefühle. Sie können uns führen und verführen und ein ganzes Leben bestimmen. Selbst wenn wir scheinbar rational und uneigennützig denken, sind wir oft von Gefühlen motiviert – die übrigens ihren Sitz im entwicklungsgeschichtlich ältesten und tiefsten Teil des Gehirns haben. Weil die Liebe und andere Gefühle so wichtig für den Menschen sind, versuchen manche Biologen, sie aus einer evolutionären Perspektive zu verstehen, wie Darwin es tat. Gefühle beeinflussen unter anderem die Art und Weise, wie sich das Sexualleben des Homo sapiens und die Art und Weise, wie er seinen Sexualpartner wählt, entwickeln. Ist die Seele Natur oder Kultur?

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Darwin verknüpft den emotionalen Faktor bei der Wahl des Sexualpartners mit dem Gehirn. Die Zuneigung zu einem Individuum des anderen Geschlechts entsteht im Gehirn als Teil von dessen evolutionärer Entwicklung. Das Gehirn trifft seine Wahl lange vor dem Bewusstsein. Eine so wichtige Frage wie die Wahl des Partners kann nicht der unsicheren Urteilskraft des Individuums überlassen werden, was der englische Ausdruck to fall in love schön illustriert. Die Liebe zwischen zwei Menschen in einem Paarverhältnis ist auch seitens der Natur gut gelungen, vielleicht weil die Liebe alle Lebensbereiche durchdringt, wenn sie einmal entflammt ist. Erst mit der Molekularbiologie kam die Liebe auch zu ihrem wissenschaftlichen Recht. Man begann zu verstehen, wie das Gefühl der Liebe mit Luststoffen zusammenhängt, die das Gehirn ausscheidet. Liebe ist nicht nur durch Testosteron und Östrogen bedingt, sondern auch durch andere Hormone, Neurotransmitter (Botenstoffe) wie Dopamin (das »Glückshormon«) und Serotonin sowie durch Endorphine (körpereigene »Opiate«) und mehr. Die Ausschüttung dieser Stoffe ist eine Art Belohnungssystem des menschlichen Gehirns. Doch obwohl die Biologie einige Handlungen erklären kann, die altruistisch wirken, gibt es noch keine biologische Erklärung für selbstaufopferndes Handeln, das anderen Werten als der Erhaltung der Art und der Reproduktion von Leben dient. In diesen Fällen gehen wir von der Natur zu kulturell bedingten Werten und Traditionen über, die sich über lange Zeit in einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft entwickelt haben. Manche Wissenschaftler meinen, der Mensch habe sich immer mehr in eine nichtgewalttätige Richtung entwickelt (Pinker 2011). Dies zeigt sich zum Beispiel im Respekt für andere, in Toleranz, Gleichheitsidealen, Solidarität sowie Gewaltfreiheit. Richard Dawkins’ Einführung des Begriffs Mem in Das egoistische Gen (1976) hat viele Anhänger gefunden. Meme sind »kulturelle Gene«, das heißt kulturelle Replikatoren der Evolution. Sie tragen die Eigenschaften und Werte, die eine Kultur hervorgebracht hat, und überführen sie durch Tradition und Nachahmung von Generation zu Generation. Aus einer solchen Perspektive kann auch die Seele (und alles, was sie repräsentiert) als kulturelle Konstruktion gelten, die erschaffen wurde, um wichtige Werte einer Kultur zu erhalten. Ist die Seele vielleicht ein Mem und kein Gen? Als Mem ist sie ein »zurückhaltendes Phänomen«, das unter anderem dazu dient, moralische Integrität zu fördern, und das Individuum daran erinnert, gewisse Dinge zu tun, die es nicht persönlich betreffen. Manche behaupten sogar, dass wir die Meme unserer Vorfahren 264

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dringender benötigen als deren Gene. Gene sind offen und können mit konkretem Inhalt gefüllt werden, der sich in viele Richtungen entwickelt, Meme jedoch bieten konkreten Inhalt in Form von richtungsweisenden Vorstellungen, die Haltung und Handeln bestimmen. Meme sind nicht angeboren, sondern sozial und kulturell bedingt und angeeignet. Deshalb kann die Idee eines Gottes und der Unsterblichkeit der Seele ebenfalls als kulturell bedingtes Mem gelten. Darwin gab eine entsprechende psycho-kulturelle Erklärung des Glaubens, der seiner Meinung nach der Erziehung diente. Er war selbst christlich erzogen und lange Zeit gläubiger Christ (auch während er On the Origin of Species schrieb), bis der Zweifel an der christlichen Lehre in ihm aufkeimte. Dieser galt besonders der Lehre vom Jüngsten Tag, an dem sein Vater, sein Bruder und viele seiner Freunde nach dogmatischer Vorstellung verdammt würden. Thus disbelief crept over me at a very slow rate, but was at last complete. [… and I] have never since doubted even for a single second that my conclusion was correct. (The Life and Letters of Charles Darwin, 1887)

Auch die Unsterblichkeit der Seele stellte Darwin immer mehr infrage, ebenso die Vorstellung ihrer Unsterblichkeit als Ausdruck eines psychologischen oder instinktiven Bedürfnisses. Diese Ablehnung war ein Hauptgrund dafür, dass viele Christen und Muslime die Evolutionstheorie nicht akzeptierten. Doch Darwin ging seinen Weg weiter, überzeugt von den Zusammenhängen, die sein gesammeltes wissenschaftliches Material belegte: Das Leben verändert sich, auch der Mensch, und Arten gehen auf natürliche Weise unter. Er entwickelte sich schrittweise vom Gläubigen zum Agnostiker und schließlich zum Nicht-Gläubigen, der »the old argument of design in nature« ablehnte. Der Kreationismus und die Vorstellung eines intelligenten Designs werden noch immer von einigen christlichen und muslimischen Glaubensgemeinschaften als Argument gegen die Evolutionstheorie ins Feld geführt. Aus unserer Perspektive ist es bemerkenswert, dass Darwin auch die Moral als eine Konsequenz der Evolution betrachtet. Er wird nicht müde zu betonen, dass sie das Adelsmal des Menschen ist. In diesem Zusammenhang zitiert er Kants Pflichtmoral als Ausdruck der Seele: Ich unterschreibe vollständig die Meinung derjenigen Schriftsteller, welche behaupten, dass von allen Unterschieden zwischen dem Menschen und den niederen ThieIst die Seele Natur oder Kultur?

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ren das moralische Gefühl oder das Gewissen weitaus der bedeutungsvollste ist. […] Immanuel Kant ruft aus: »Pflicht, wunderbarer Gedanke, der du weder durch sanfte Überredung, Schmeichelei, noch durch irgendwelche Drohung, sondern nur dadurch wirkst, dass du dein blosses Gesetz der Seele vorhältst.« (Die Abstammung des Menschen, S. 59)

Weiterhin versucht Darwin, die Moral (und damit die Seele) aus der natural history, das heißt der Evolution, heraus zu erklären, und kommt dabei zu folgendem Schluss, der heute noch für Darwinisten gilt: Der folgende Satz scheint mir in hohem Grade wahrscheinlich zu sein, nämlich dass jedes Thier, welches es auch sein mag, wenn es nur mit scharf ausgesprochenen socialen Instincten versehen ist, unvermeidlich ein moralisches Gefühl oder Gewissen erlangen würde, wenn sich seine intellectuellen Kräfte so weit oder nahezu so weit als beim Menschen entwickelt hätten. (ibd., S. 60)

Die Moral und eine menschliche Seele sind also ein Ergebnis der Evolution, eine Folge der Entwicklung des Homo sapiens aus primitiveren Lebensformen zu der am höchsten entwickelten Lebensform auf unserem Planeten. Darwin schließt die Seele nicht aus, aber sie ist nicht göttlichen Ursprungs, nicht angeboren und nicht unveränderlich. Sie ist das Resultat einer evolutionären Stufe, die über den Tieren steht und sich durch Sprache, Moral und andere menschliche Eigenschaften auszeichnet. Und die Entwicklung ist nicht vergebens. Sie geschieht zum Besten der Art, unsere Nachkommen haben Nutzen davon, weil auch die humane Entwicklung ihre Überlebenschancen vergrößert. Darwins Lehre hat der kritischen Prüfung der Nachwelt standgehalten und ist in sich selbst nicht reduktionistisch. Das Wunder und die Komplexität der Natur bleiben bestehen, trotz oder gerade wegen der Kenntnis, die Darwin uns über sie gegeben hat. Auch viele gläubige Menschen halten die Evolutionstheorie für glaubwürdig, finden aber, dass nur ein Gott ein so kompliziertes Zusammenspiel so vieler Kräfte bewirkt haben kann. Sie sehen die Evolution als göttliche Manifestation. Deshalb soll man die Natur als Gottes Schöpfung gut bewahren. Und man soll den Respekt vor der Tatsache bewahren, dass die Biologie nicht alles erklären kann, wie es der Biologe Dag Hessen und der Sozialanthropologe Thomas Hylland Eriksen ausdrücken, die den menschlichen Egoismus aus einer interdisziplinären Perspektive untersuchen: 266

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Lassen Sie uns klarstellen, dass es sowohl unmöglich als auch unzweckmäßig ist, eine biologische Rationalität hinter all unserem Verhalten zu suchen. Der kulturelle und ethisch bewusste Mensch ist kein bloßes Produkt eines genetischen Schicksals. Während wir die Leiter, die wir als physische Individuen hinaufgeklettert sind, gut überschauen können, fällt es uns viel schwerer, die Stufen zurückzuverfolgen, die in mentale Tiefen führen. (Eriksen/Hessen 1999, S. 62)

Eine Bezeichnung für dieses tiefe Innere ist Seele, die zwar keine biologische Größe, aber mit dem Biologischen verbunden ist. Damit sind wir wieder bei der alten Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Seele, die nach Darwins Erklärung des menschlichen Wesens und dessen Entwicklung und nach den Erkenntnissen der modernen Biologie eine neue Antwort erhalten muss. Von Platon über Paulus und Kant bis zu Kierkegaard wurde die Seele noch auf Kosten des Körpers erhöht, doch nach der darwinistischen Revolution muss dieses Verhältnis umgedeutet werden. Der Mensch ist ebenfalls ein Tier, ein Säugetier mit einem Körper, der viel mit anderen Säugetieren gemeinsam hat. Dies gilt auch für das Verhalten sowie für emotionale Reaktionen und Bedürfnisse – Themenbereiche, die früher exklusiv der Seele zugeschlagen wurden. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Wissenschaft. Alles sollte wissenschaftlich erklärt werden, auch die Seele. Als dann die Psychologie eine eigene Wissenschaft wurde, geschah dies natürlich nach dem Muster der Naturwissenschaften. Welche Konsequenzen hatte dies für die Seele? Veränderte sich nur die Theorie oder veränderte sich auch das Phänomen der Seele – und damit auch der Mensch, wir selbst?

Ist die Seele Natur oder Kultur?

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The Child is the father of the Man. (William Wordsworth)

DIE SEELE WIRD ZUR PSYCHE – UND GEHT ZU FREUD IN DIE THERAPIE

Laut einer Statistik des Norwegischen Gesundheitsinstituts von 2014 ist fast jeder zweite Mensch im Lauf seines Lebens von einem psychischen Leiden betroffen. Das Programm für psychische Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation dokumentiert den Umfang weltweit. Der Anstieg psychischer Krankheiten und Leiden in unserer Zeit stellt aus historischer Perspektive ein Paradox dar: Die »traditionelle« Seele hat ihre Bedeutung durch Säkularisierung und materielles Wachstum verloren, doch gleichzeitig taucht sie wieder als Symptom für mentale Probleme auf, die mit der Entwicklung des Wohlstands nicht verschwunden sind. Diese Problematik zeigt, wie weit wir uns vom früheren Verständnis der Seele entfernt haben, nicht nur vom religiösen und moralischen, sondern auch vom philosophischen Verständnis. Die Seele gilt nicht mehr als Ausdruck der inneren Autonomie und Souveränität des Subjekts. Sie ist zur Psyche verwandelt worden, zum symptomatischen Ausdruck negativer Gefühle, innerer Spannungen, enttäuschter Erwartungen und ungelöster persönlicher Komplexe, kurz zu etwas Psychischem, das oft Behandlung braucht. Dies geschieht, obwohl wir eine Psychologie und eine Psychiatrie haben, die sich empirisch mit konkreten psychischen Problemen und Leiden befassen und wissenschaftliche Theorien, Therapien, Therapeuten und Medikamente bieten, um sie zu behandeln. Bedeutet dies, dass die Wissenschaft die Seele trotzdem nicht verstanden hat, oder sind die Seele und das menschliche Gemüt einfach komplexer und anspruchsvoller, als es je eine Wissenschaft erfassen kann? Vielleicht lassen sich Seele und Psyche gar nicht als wissenschaftliches Objekt behandeln? Wir wollen deshalb etwas näher betrachten, wie die Erforschung der Seele zu einer Wissenschaft wurde, nämlich der Psychologie, und fragen, welche Die Seele wird zur Psyche – und geht zu Freud

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Bedeutung dies für das Verständnis der Seele als persönliche und existenzielle Einheit hat. Die Psychologie als Wissenschaft hat eine doppelte Herkunft aus der Philosophie und der Naturwissenschaft. In England entsprang sie in Lockes Tradition aus der Philosophie. 1876 begründete der Schotte Alexander Bain die erste psychologische Fachzeitschrift, Mind. Er war einer der Ersten, die sich Psychologen nannten (und Philosoph). Auf dem Kontinent begann die Psychologie in den Naturwissenschaften. Ein interdisziplinär orientierter Professor der Physik legte den Grundstein. Von Darwin beeinflusst, veröffentlichte der Deutsche Gustav Theodor Fechner 1860 das Buch Elemente der Psychophysik, das ein naturwissenschaftliches Verständnis der Seele begründete. Die Psychologie wurde zur eigenen Disziplin mit einer eigenen experimentellen Methode, als Wilhelm Wundt 1879 in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie gründete. Dass die Seele in einem Labor, dem Arbeitsraum der Naturwissenschaften, untersucht wurde, unterstreicht die Revolution im Vergleich zu Kants rationaler Psychologie. Wundts Methode, die auch physiologische Psychologie genannt wurde, machte Schule. Er arbeitete besonders auf dem Feld der Neuropsychologie, maß Sinnesreaktionen auf bestimmte Stimulierungen. Damit wollte er herausfinden, welche physikalischen Gesetze das Bewusstsein bestimmen. Bemerkenswerterweise begann auch Freud auf diesem Feld. Bis 1882 arbeitete er in Ernst Brückes physiologischem Labor und publizierte eine Reihe neuroanatomischer Untersuchungen. In seinen Memoiren behauptet er, keiner habe ihn mehr beeinflusst als der Physiologe Brücke. Die physiologische Psychologie bekam bald Gegenwind, vor allem von Wilhelm Dilthey (1833–1911), der die neue Wissenschaft eine »Psychologie ohne Seele« nannte. Dilthey ist dafür bekannt, dass er die Natur- und Geisteswissenschaften als vom Prinzip her grundverschieden bezeichnete, Erstere als erklärend, Letztere als verstehend. Naturwissenschaftler erklären die Natur kausal, aber sie verstehen sie nicht, während die Geisteswissenschaft auf Verständnis beruht – unter anderem dem Verständnis einer Seele, die sie nicht erklären kann. Die Seele kann laut Dilthey nicht erklärt werden, sondern muss hermeneutisch verstanden werden. Einen ähnlichen Standpunkt hatte William James, der erste Psychologe der USA, der 1890 seine Principles of Psychology veröffentlichte, die noch immer höchst lesenswert sind. Seiner Meinung nach musste die Psychologie auf den »Erfahrungen des Subjekts« aufbauen: den Gedanken und Gefühlen eines Einzelmenschen, seiner Bewusstheit und seinem unbeug270

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samen Willen. James lehnte jede Art von Determinismus ab und meinte, die Seele und das Bewusstsein ließen sich nicht als objective data analysieren. Stattdessen legte er Wert auf die Funktion der Psyche und strebte ein pragmatisches Verständnis an. Man müsse die Seele aus der Lebenssituation des Individuums heraus verstehen und untersuchen. Doch obwohl James in The Principles of Psychology »a personal self« als Grundlage aller Psychologie bezeichnet, trug er auch zur Auflösung der Einheit des Selbst bei. Denn laut James können wir mehr als ein persönliches Selbst haben. Er unterschied zwischen dem Selbst als Objekt und dem Selbst als Subjekt (mir/mich und ich). Als Objekt kann das Selbst in ein materielles, ein soziales und ein geistiges (spiritual) Selbst geteilt werden, die jeweils noch weiter aufgesplittet werden können, je nach dem Kontext und der Funktion, in denen sich das Selbst befindet. Dies erinnert an ein soziologisches Verständnis, in dem das heterogene Selbst die Summe der sozialen Rollen ist, die es in verschiedenen Situationen einnimmt. Das geistige Selbst kann als Set von psychischen Dispositionen aufgefasst werden: Es kann reflektieren und argumentieren, es kennt Moral, hat ein Gewissen und einen freien Willen. Doch das Individuum kann auch als the entire stream of our consciousness aufgefasst werden, eine Vorstellung, die sich als sehr produktiv erwies. Somit repräsentiert James ein neues Stadium in der Geschichte der Seele. Die Diskussion, inwiefern die Psychologie eine interpretierende oder eine kausal erklärende Wissenschaft sei und ob sie auf subjektiven Erfahrungen oder objektiven Daten beruhe, änderte sich um den Ersten Weltkrieg herum, als der Behaviorismus eine neue Grundlage für die Psychologie als objektive Wissenschaft anbot. Wenn man nicht genau definieren kann, was Bewusstsein ist und welche Bedeutung es hat, kann man darauf ebenso wenig eine sichere Wissenschaft aufbauen wie auf subjektiven Gefühlen und Vorstellungen, behaupteten die Behavioristen. Das einzig Sichere, das sich objektiv observieren lässt, ist das Verhalten (engl. behavior). Der Behaviorismus ist also Verhaltenspsychologie. Der Begründer dieser Richtung, John B. Watson, meinte, dass es möglich sei, alles Verhalten mit Reiz-Reaktions-Mustern zu erklären. Ausgangspunkt waren unter anderem die Ergebnisse von Tierversuchen mit klassischer Konditionierung (nach Pawlow) und instrumenteller Konditionierung (Lernen durch Belohnung oder Bestrafung nach Skinner). So hofften die Behavioristen, Reaktionsmuster erkennen und kontrollieren zu können, die menschliches Lernen bedingen. Mit seiner streng wissenDie Seele wird zur Psyche – und geht zu Freud

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schaftlichen Methode wurde der Behaviorismus in der Zeit zwischen den Weltkriegen zur dominanten Richtung in der Psychologie, insbesondere in den USA, von wo aus er sich auch nach Europa verbreitete. Die Seele wurde an die Seitenlinie gestellt, und die Psychologie wurde zu einer angewandten Wissenschaft, in der an positive oder negative Verstärker (Belohnung und Strafe) gebundene Lernprinzipien ein breites Spektrum verhaltensregulierender Behandlungsmethoden in Psychologie und Pädagogik begründeten. Die Verhaltensforschung hat bis heute großen Einfluss auf die Psychologie, doch dem Behaviorismus fehlte eine allgemeine Theorie. Oft traten die Techniken der Verhaltensforscher in den Vordergrund, die man auch missbrauchen konnte, um Verhalten von Individuen oder Gruppen zu manipulieren oder kontrollieren. Sie ermöglichten eine neue Art von social egineering durch instrumentellen Gebrauch von Wissen ohne übergeordneten, nichtinstrumentellen Zweck. Dies führte mit Recht zu großer Kritik am Behaviorismus. Sigmund Freud (1856–1939) und die Psychoanalyse waren also zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht die einzige Schule innerhalb der Psychologie, sondern konkurrierten mit anderen Richtungen. Mit ihrer analytischen und interpretativen Methode war die Psychoanalyse ein Gegengewicht zur quantitativen Psychologie, die auf Laborversuchen, Messergebnissen und beobachtetem Verhalten beruhte. Auch innerhalb der Psychoanalyse lösten Freuds Theorien alternative Entwicklungen aus. Sein früherer Partner C. G. Jung entwickelte die Tiefenpsychologie und Alfred Adler die Individualpsychologie. Neufreudianer legten oft mehr Gewicht auf soziale und kulturelle Erklärungen psychischer Krankheiten als Freud selbst. Erich Fromm zum Beispiel erklärte die autoritäre Erziehung, unter der die meisten Deutschen litten, zu einer der Hauptursachen des Nationalsozialismus als Massenphänomen. Die Psychoanalyse war nicht bloß eine abstrakte Theorie über die Seele wie zum Beispiel Humes oder Kants Seelenlehre. Indem sie die Beobachtung von und Gespräche mit Patienten zu ihrer Grundlage erklärten, machten Freud und seine Anhänger die Psychologie ebenfalls zu einer empirischen Wissenschaft mit theoretischer Verankerung. Empirisches Wissen sammelte Freud unter anderem in seiner Zeit als privat praktizierender Arzt in Wien. Seine Einsichten in das Gemüt und die Seele seiner Patienten waren eine andere Art der Erkenntnis als Ergebnisse aus dem Laboratorium; es waren Erfahrungen, die er auch theoretisch erklären wollte. Das Resultat war die Psychoanalyse. Freuds Theorie ist gleichzei272

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tig generelle Psychologie (über den Menschen im Allgemeinen), Entwicklungspsychologie und Krankheitspsychologie (über Abnormitäten oder Neurosen verschiedener Art). Ihre Besonderheit liegt darin, dass die generelle Theorie geschaffen wurde, um die psychischen Leiden und Neurosen seiner Patienten zu erklären. Darüber hinaus hat sie ihre eigene Behandlungsmethode. Die Therapie bestand daraus, dass der Patient durch freie Assoziationen Erlebnisse und Vorstellungen, die sein Bewusstsein oder Über-Ich unterdrückt oder ins Unterbewusstsein verdrängt haben, Schritt für Schritt in Worte fasst. Für Freud als Neurologen war es natürlich, dass er sich für nervöse und psychische Leiden interessierte. Dies führte ihn nach Paris, wo der damals führende Psychologe Jean Charcot hysterische Leiden teilweise erfolgreich durch Hypnose behandelte. Freud hingegen war der Meinung, dass Hypnose nicht ausreichte, um an den Kern des Problems zu gelangen. Gemeinsam mit seinem Kollegen Josef Breuer entwickelte er eine Therapie, bei der sich der Patient ohne Hypnose aussprach, was später zum Hauptprinzip der psychoanalytischen Therapie wurde. Ziel war es, das Unbewusste zu öffnen, sodass verdrängte Dinge aus der Dunkelheit des (Ver-) Schweigens befreit wurden. Zum ersten Mal formulierte Freud seine Ideen über die Seele im letzten Kapitel seines klassischen Werks Die Traumdeutung (1900), das von der Dynamik des menschlichen Gemüts handelt. Im Lauf der nächsten Jahrzehnte schrieb Freud eine Flut von Büchern und Artikeln über die neue Psychologie, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1939 fortlaufend revidierte. Es dauerte jedoch, bis Freud anerkannt wurde. Der Durchbruch kam 1909 mit seinen Vorlesungen in den USA. Dank William James war die Psychologie dort bereits fest etabliert. Mit der praktisch-therapeutischen Annäherung der Amerikaner an das Thema wurden die USA in vieler Hinsicht zum Heimatland der Psychoanalyse. In der Zwischenkriegszeit wurde die Psychoanalyse eine Art Mode, die ihren Ausdruck in Literatur, Kunst und Kunstkritik, Religion, Gesellschaftskritik, Ethik, Pädagogik und Soziologie fand. Ein Beispiel ist Aksel Sandemoses Roman Ein Flüchtling kreuzt seine Spur (1933), der zeigt, wie die Kindheit den Menschen fürs Leben formt und sein Verhalten als Erwachsener erklärt. Sandemoses Beschreibung der Gesellschaft von Jante (einer dänischen Kleinstadt) mit ihren unterdrückenden Gesetzen veranschaulicht durch die Verbindung von Psychologie und Gesellschaftsanalyse auch, was Sozialpsychologie bedeutet. Die Seele wird zur Psyche – und geht zu Freud

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Dass wir in diesem Kapitel Freud und die Psychoanalyse trotz mehrerer konkurrierender Schulen als Repräsentanten der modernen Psychologie auswählen, liegt vor allem an dem Einfluss, den Freuds Theorien auf das allgemeine Verständnis des Menschen und seiner Seele hatten. Freud steht paradigmatisch für den Übergang von einem philosophischen Verständnis zu einer wissenschaftlichen, auf Erfahrungswerten beruhenden Erklärung der Seele, für die Verwandlung der Seele in die Psyche. Die Etablierung der Psychologie als anerkannte Wissenschaft markiert eine große Wende in der Geschichte der Seele, die ebenso bedeutend wie der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance war. Es heißt vor Freud und nach Freud. Doch nicht nur die Psychologie und die Theorien verändern sich zu Freuds Zeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Stellenwert der Seele bedroht, weil die Entwicklung, die wir seit der Renaissance verfolgt haben, in den vorhergehenden 50 Jahren ihren Höhepunkt erreicht und die Seele an sich infrage stellt. Der erste Schlag kommt von Darwin und der Evolutionstheorie und fordert die Vorstellung einer von Gott gegebenen, unsterblichen Seele heraus. Danach erklärt Nietzsche, dass Gott tot sei und die Seele zum Körper gehöre, und schließlich kommt Freud und verschreibt der Seele Therapie, weil sie der Träger von Traumen und verdrängten Konflikten sei. Nicht nur das christliche Weltbild scheint in Trümmern zu liegen, sondern auch der Glaube der Aufklärung an das Vernunftwesen Homo sapiens sapiens. Darwin, Nietzsche und Freud sind keine Eintagsfliegen am akademischen Himmel, sondern Denker, deren Gedanken sich in einer ganzen Kultur durchgesetzt haben. Auch Karl Marx’ materialistische Theorie, die zu Beginn des Jahrhunderts immer mehr Anhänger fand, geht in dieselbe antiidealistische Richtung. Marx lässt keinen Platz mehr für die Seele des Menschen, selbst der freie Wille und die autonome Vernunft verblassen vor den Kräften des Marktes und den Produktionsverhältnissen, die sowohl die Gesellschaftsstrukturen als auch das Bewusstsein determinieren. Das Bewusstsein wird bei Marx falsch, ein Reflex der Ideologie der Macht, der nicht mit faktischen Verhältnissen übereinstimmt. Freud teilt zwar Marx’ Determinismus, sucht aber die determinierenden Kräfte in den dominanten Gedanken der Kultur und im Inneren des Menschen, während Marx sie in den äußeren, wirtschaftlichen Bedingungen sieht.

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Freuds unbewusste, irrationale und komplexe Psyche Das wichtigste Kennzeichen von Freuds Psyche ist, dass sie dem Unbewussten entspringt und im Großen und Ganzen auch dort lebt. Er stellt das klassische Bild der Seele in der Tradition von Descartes und Kant, die die Seele mit dem Bewusstsein und dem bewussten Denken identifizieren, auf den Kopf. In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917) hält er »einen Satz von so abstrakter Natur wie: ›Das Seelische ist das Bewußte‹ für ein Vorurteil« (S. 15). Er versichert, »daß mit der Annahme unbewußter Seelenvorgänge eine entscheidende Neuorientierung in Welt und Wissenschaft angebahnt ist.« (ibd.) Nichts weniger. Allerdings war er nicht der Erste, der mit dem Begriff des Unbewussten arbeitete, sondern ließ sich von mehreren Philosophen beeinflussen, die das Thema behandelt hatten: Feuerbach, Schopenhauer und besonders Nietzsche. Eine wichtige Rolle hatte das Unbewusste in der Dichtung schon seit den antiken Tragödien gespielt, die Freud als Anschauungsmaterial benutzte, zum Beispiel für seine Theorie über den Ödipuskomplex. Aber Freud war der Erste, der ein ganzes psychologisches System entwickelte, das auf dem Unbewussten beruhte. Neben den Begriffen »das Unbewusste« und »Unterbewusstsein« prägte er auch den Begriff »vor-bewusst«. Mit der Betonung des Unbewussten reduzierte er die Bedeutung des Bewusstseins, das Nietzsche ja »die kleine Vernunft« genannt hatte, während der Körper in Nietzsches Menschenbild »die große Vernunft« war. Mit der Behauptung, »daß die seelischen Vorgänge an und für sich unbewußt sind und die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile des ganzen Seelenlebens« (ibd., S. 14), liegt Freud mit ihm auf einer Linie. Auf dieser Grundlage stellte er folgende Definition der Psyche und des Seelischen auf, die er in seinem gesamten Werk variiert und vertieft: Ihre [der Psychoanalyse] Definition des Seelischen lautet, es seien Vorgänge von der Art des Fühlens, Denkens, Wollens, und sie muß vertreten, daß es unbewußtes Denken und ungewußtes Wollen gibt. (ibd.)

Freuds Gebrauch des Begriffs zeigt, welchen Status die Seele in seinen Theorien hat, zum Beispiel in Das Ich und das Es (1923). Als Substantiv benutzt er viel häufiger das griechische Psyche anstatt Seele, um sich sowohl vom religiösen als auch vom philosophisch-metaphysischen Verständnis des Begriffs zu lösen. Aus der englischen Übersetzung wird das Freuds unbewusste, irrationale und komplexe Psyche

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Wort »Seele« fast ganz verdrängt und durch mind ersetzt, das bereits Locke und die Empiristen anstelle von soul verwendeten. Die Seele wird dadurch zu einem exklusiv religiösen Begriff, während die Psyche für die menschlich-anthropologische Seite, das Psychische steht. Den Ausdruck »Seele« benutzt Freud meist in Zusammensetzungen wie »Seelenleben« oder als Adjektiv »seelisch«, Letzteres synonym mit psychisch. Durch den parallelen Gebrauch gibt er dem Seelischen indessen eine weitere, allgemein menschliche Bedeutung, die über das Psychische im pathologischen Verstand hinausgeht. Er schafft den Begriff »Seele« nicht ganz ab. Implizit bleibt die Seele sogar ein übergeordneter Begriff für den Mensch als Wesen, das einzige Wesen mit Seele. Welche Rolle das Unbewusste spielt, entdeckte und dokumentierte Freud als praktizierender Psychiater im Gespräch mit seinen Patienten. Besonders die Träume seiner Patienten zeigten ihm den Weg ins Unbewusste. In den Träumen kommt das Verdrängte zum Ausdruck, wenn auch in bildlich verfremdeter Form. Durch Verdrängung entstandene psychische Komplexe werden durch Traumarbeit (wie Freud es nannte) bearbeitet und in Bilder umgesetzt. Der Schlüssel zu den Träumen liegt im Verhältnis von oder zwischen dem manifesten Traum und dem latenten Inhalt, der tabubelegten oder Angst einflößenden Situationen entspringt, die psychische Leiden oder Komplexe erzeugt haben. Viele Traumbilder sind sexuelle Symbole. Sie waren wichtig für Freuds Theorie, dass die (verbotene oder unterdrückte) Sexualität eine alles durchdringende Kraft in der Psyche des Menschen sei. Besonders im Hinblick auf die Traumdeutung distanzierte sich sein früherer Kollege Carl Gustav Jung von Freuds Psychoanalyse und entwickelte seine eigene »Tiefenpsychologie«. Wo Freud die Träume als Symptome von verdrängten Konflikten und Tabus – insbesondere sexueller Natur – sah, deutete Jung Träume als Ausdruck des Archetypischen, als Symbole allgemein menschlicher Verhältnisse und als schöpferische Ressourcen. Für Jung waren Träume nicht psychopathologisch. Jung wollte die Seele als Bezeichnung für das Innere des Menschen beibehalten, als schöpferische Quelle, nicht als Sammelplatz verdrängter, irrationaler Komplexe. Dies kommt besonders in seinem Buch Modern Man in Search of a Soul zum Ausdruck, das im Schicksalsjahr 1933 erschien. In diesem Werk opponiert er gegen eine »Psychologie ohne Seele« und untersucht die Möglichkeit einer »psychology with the psyche – that is, of a field of study based on the assumption of an autonomous psyche« (S. 184). 276

Die Seele wird zur Psyche – und geht zu Freud

Freud arbeitete an seinem psychoanalytischen Modell von den ersten Publikationen in den 1890er-Jahren bis zu seinem Tod im Londoner Exil 1939. Im Lauf seiner Karriere interessierte er sich immer mehr für psychologische Mechanismen, die Konformismus und Widerstand gegen neue, andersartige Gedanken hervorrufen – auch innerhalb der akademischen Welt. Er selbst entwickelte seine Theorien ständig weiter. Die Standardtheorie von der dreigeteilten Psyche, die eine Revision früherer Gedanken war, legte er mit fast 70 Jahren vor, in dem kleinen Buch mit dem Titel Das Ich und das Es. Dies ist nicht der Ort für eine ausführliche Präsentation Freuds psychologischer Theorien und Behandlungsmethoden; unser Ziel ist, Freuds Bedeutung für die Geschichte der Seele darzustellen, seine Wirkungsgeschichte und wie er dazu beigetragen hat, unsere Auffassung der Seele zu ändern. Hier muss sein Verständnis der Seele als meist irrational, unbewusst und zusammengesetzt hervorgehoben werden. Freud zufolge besteht die Seele (wie bei Platon, mutatis mutandis) aus drei Teilen: dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Das Es (lat. id) ist der Sitz der Sexualität, umfasst aber auch andere Triebe und Lebensinstinkte. Das Über-Ich (superego) repräsentiert das Gewissen und die Normen, die die Person aus ihrer Erziehung oder der Gesellschaft internalisiert hat, und wirkt wie ein psychischer Druck auf das Ich, das zentrale Glied der Ich-Identität, das letztendlich zwischen dem Es und dem Über-Ich eingeklemmt ist. Der Druck von zwei Seiten erklärt, warum das Ich nicht immer Herr im eigenen Haus ist. Unter dem doppelten Druck von zwei Seiten führt es sich rasch irrational auf. Zu Freuds Zeiten war es die Betonung der Sexualität, die am meisten Aufsehen erregte. Das Es ist im Grunde kaum bestimmbar. Es ist tief, umfassend und unbekannt, der chaotischste und rätselhafteste Teil des Menschen, weshalb es auch die undeutliche Bezeichnung id/Es trägt. Aus ihm kommt die Energie des Lebens, eine körperliche Energie, die in psychische Energie umgewandelt wird. Wie problematisch diese Transformation ist, zeigt sich durch alle Komplexe, Spannungen und Neurosen, die entstehen, wenn der Prozess misslingt und das Ich die Spannungen nicht rational lösen kann, um sie in ein funktionierendes Ganzes zu integrieren. Auf seine Weise gibt Freud Nietzsche recht, indem er dem Es einen so großen Platz in der Persönlichkeit einräumt, denn auch bei ihm beginnt alles mit dem Körperlichen, den Instinkten und Trieben. Das Psychische lässt sich nicht unabhängig vom Somatischen verstehen. Ein Grundsatz der Psychoanalyse besteht darin, »in der Psychologie den Akzent auf diese Freuds unbewusste, irrationale und komplexe Psyche

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somatischen Vorgänge zu legen, in ihnen das eigentlich Psychische anzuerkennen« (Abriss der Psychoanalyse, S. 22). Es kann nicht genug betont werden, dass sowohl das Ich als auch das Über-Ich dem Es entspringen. Das Ich ist dazu da, das Es mit seinen Impulsen, Trieben und Instinkten zu zügeln und dafür zu sorgen, dass diese auf eine für die Umwelt akzeptable Weise zum Ausdruck kommen. Das Es erfüllt das Grundprinzip des Lebens, das Freud Lustprinzip oder Libido nannte. Freud schildert die Prozesse und Spannungen, die entstehen, wenn die Lust nicht zufriedengestellt, sondern stattdessen sublimiert, kanalisiert oder verschoben wird. Das Es gibt der Persönlichkeit Energie und wird deshalb mit dem Lebensprinzip Eros (oder Libido) identifiziert, das mehr als Sexualität und sexuelle Begierde umfasst. Es gibt auch dem kulturschaffenden Menschen Kraft. Das Es ist nicht nur Lust- und Lebensprinzip, es umfasst auch einen Todes- oder Zerstörungstrieb, der wiederum vom Lebens- oder Liebestrieb aufgewogen wird, auf den besonders der späte Freud Gewicht legt. Das Es ist primitiv, es ist das Tier im Menschen, es ist amoralisch und hat nur ein Ziel: die Zufriedenstellung seiner Bedürfnisse und Begierden. Freud nennt das Es »ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregung« (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 103). Das Ich hingegen repräsentiert die bewusste und rationale Persönlichkeit, die versucht, die Impulse des Es und die Ansprüche des Über-Ich und seiner Gewissensstimme zu steuern und sie sowohl den Normen der Gesellschaft als auch den eigenen Wünschen anzupassen. Deshalb wird das Ich auch Realitätsprinzip genannt. Es entscheidet, welche Bedürfnisse des Es realisiert werden können. Auf solche Weise hat es das Lustprinzip entthront, das uneingeschränkt den Ablauf der Vorgänge im Es beherrscht, und es durch das Realitätsprinzip ersetzt, das mehr Sicherheit und größeren Erfolg verspricht. (ibd., S. 106)

Wenn dem Ich dieser Balanceakt gelingt, wird es Herr im eigenen Haus, und die Persönlichkeit erscheint harmonisch. »Wo Es war, soll Ich werden«, lautet das Ziel. Doch die Natur ist immer unregierbar. »Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.« (ibd., S. 111) Was im Es geschieht, nennt Freud den Primärprozess, während die aktive Realitätsanpassung des Ich der Sekundärprozess ist, der vereinfacht gesagt aus Problemlösungen und bewusstem Denken besteht, durch das man herausfindet, wie man sich zur äußeren und inneren Welt verhalten soll. 278

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Die vielleicht problematischste Instanz der Persönlichkeit ist das ÜberIch, denn es erschafft die meisten psychischen Spannungen. Freuds Verständnis des Über-Ich im Verhältnis zur Sexualität des Es wirkte zu seiner Zeit radikal. Es war die wissenschaftliche Untermauerung von Nietzsches Kritik an der christlichen Moral und Sexualfeindlichkeit. Nun war es gewissermaßen wissenschaftlich bewiesen, dass die christliche Moral nicht nur Schuldgefühle und schlechtes Gewissen erzeugte, sondern die Menschen sogar krank machte und Neurosen und lebenslange psychische Leiden hervorrief. In Freuds Anthropologie ist das Über-Ich die moralische und urteilende Instanz. Es bildet sich auf der Grundlage von Meinungen und Normen, die ein Kind von seinen Eltern und anderen Erziehern eingeprägt bekommt und allmählich als seine eigenen internalisiert. Wie schon Nietzsche wusste Freud, dass Gewissen und Moral konservative Instanzen sind, die von Generation zu Generation vererbt werden. Sie beruhen auf Idealvorstellungen, die sie auch dann erfüllen wollen, wenn in der realen Welt die Lusterfüllung dominiert. Zu allem Überfluss ist das Über-Ich auch noch aus zwei Teilen zusammengesetzt, nämlich aus dem Ich-Ideal und dem Gewissen. Das Ich-Ideal ist die Auffassung des Kindes von dem, was seine Eltern als gut und richtig ansehen, also etwas Positives. Dieses Ideal wird durch Belohnung und Strafe geschaffen. Das Gewissen hingegen ist die Auffassung des Kindes von dem, was seine Eltern als schlecht und sündig ansehen. Beide Instanzen sind entscheidend für die Psyche und das Selbstbild der Persönlichkeit, das durch den Grad der Anerkennung geschaffen wird, den das Kind erfährt, insbesondere durch die Liebe der Eltern. Die schlimmste Strafe, die das Kind erleben kann, ist der Verlust oder Entzug der Liebe – die Angst davor können Eltern direkt und indirekt hervorrufen (häufiger geschieht dies indirekt).

Die Bedeutung Freuds und der Psychoanalyse Man muss Freuds Theorien über den Ödipuskomplex und die Kastrationsangst in der phallischen Phase nicht unbedingt zustimmen, doch seine Betonung des kindlichen Bedürfnisses elterlicher Liebe und der Wichtigkeit einer engen Verbindung zu den erziehenden Personen ist von der späteren Forschung und neueren Entwicklungstheorien absolut bestätigt worden. Wie schlimm die Angst, die Liebe der Eltern zu verlieren, auf ein verletzliches kindliches Gemüt wirkt, stellt Henrik Ibsen psychologisch Die Bedeutung Freuds und der Psychoanalyse

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glaubwürdig in seinem Drama Die Wildente dar, in dem die weibliche Hauptfigur Hedvig sich am Ende erschießt, um zu beweisen, dass sie der Liebe ihrer Eltern würdig ist – was berechtigte Zweifel sät, ob die Eltern ihrer Liebe würdig waren. Genau diese Gedanken in Freuds Psychologie – über das kindliche Grundbedürfnis nach Nähe, Vertrauen, Anerkennung und Liebe – haben die größte Bedeutung für das fachpsychologische Erbe nach Freud gehabt und begründeten die Kinder- und die Entwicklungspsychologie (deren Pionier Erik H. Erikson war) als eigene fachliche Disziplinen innerhalb der Psychologie. Freud legte besonderes Gewicht auf die Art und Weise, wie das internalisierte, strafende Über-Ich die Strafmoral der Eltern übernimmt. Das Über-Ich straft das Ich und das Selbstgefühl, wenn man verbotene Gedanken denkt, egal ob diese in die Tat umgesetzt werden oder nicht. Die Persönlichkeit fühlt sich rasch minderwertig oder unzureichend, wenn sie bemerkt, dass sie die moralischen Ansprüche des Über-Ich (oder der Eltern/Vorgesetzten) nicht erfüllt. Der Minderwertigkeitskomplex wurde zu einem zentralen Begriff in der popularisierten freudianischen Kinderpsychologie, und sogenannte non-frustration children erlebten wohl viel Frustration, weil es ihre wohlmeinenden neofreudianischen Eltern, um ihnen ein schlechtes Gewissen zu ersparen, unterließen, ihnen Grenzen zu setzen. Freud war nicht allgemein gegen Grenzen, sondern gegen Grenzen und Normen, die es unmöglich machten, das Ideelle und das Reelle zu vereinen. Er wollte vermeiden, dass das Natürliche verdrängt und zum irrationalen Faktor im Unterbewussten reduziert wird. Stattdessen wollte er es durch Reifung in das Ich einpassen und zum Gegenstand des Bewusstseins machen, damit es nicht mit Tabus belegt wird und Angst erzeugt. Freuds Einfluss auf die Fachpsychologie und das gesamte Menschenbild des Westens war durchgreifend. Die sexuelle Befreiung der Sechzigerjahre wäre nicht möglich gewesen, wenn er nicht aufgezeigt hätte, wie Tabus, das Abstempeln natürlicher Dinge als Sünde und die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse Neurosen und verkrüppelte Gemüter schaffen. Die Geschlechterdebatte und ihre zentrale Stellung im fachlichen und öffentlichen Diskurs können größtenteils auf Freud zurückgeführt werden. Nach Sigmund Freud wurde die Seele nie mehr die alte. Obwohl Freud sich als Psychiater und Psychoanalytiker hauptsächlich damit beschäftigte, wie Traumen und psychische Komplexe bleibende psychische Schäden und Neurosen verursachen, gelten die wichtigsten Teile seiner Theorien auch für gesunde, mental ausgeglichene Menschen: die 280

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Persönlichkeitstheorie, die Bedeutung der Kindheit für die Entwicklung der Persönlichkeit und nicht zuletzt die Fähigkeit des Menschen, sich selbst und andere zu betrügen. Letztere nennt Freud auch Verteidigungsmechanismus. Von diesen Mechanismen gibt es mehrere: Rationalisierung, Verschiebung und Verdrängung, Kompensation, Projektion und Sublimierung, Fixierung und Regression, um nur die wichtigsten zu nennen. In ihrer Summe stellen sie den Menschen als irrationales Wesen dar – oder als besonders raffiniert in der (Selbst-)Rechtfertigung. Wer seine Mitmenschen verstehen will, muss deshalb nach eventuell verborgenen Motiven forschen. Der Mensch ist kein offenes Buch, sondern von Motiven getrieben, die grundlegende oder primitive Bedürfnisse und Begierden erfüllen, zum Beispiel die nach Macht, Liebe und Anerkennung. Deshalb war Freud in vieler Hinsicht ein Misanthrop. Die Menschen sind nicht in Kants Sinn erwachsen, sondern unmündig. Sie wollen lieber mit Zwangsvorstellungen und Selbstbetrug leben als mit der Wahrheit. Freud bestätigt die Worte des misanthropischen Dr. Relling aus Ibsens Wildente: »Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.« Im Gegensatz zu Kant zeigte Freud jedoch auf, dass Unmündigkeit nicht ausschließlich selbst auferlegt ist, sondern dem Individuum auch durch Eltern, Erziehung und gesellschaftliche Normen auferlegt wird. In diesen Fällen führt sie zu mangelndem Selbstvertrauen, Angst und Unsicherheit. Der Mensch ist in einem Teufelskreis gefangen. Er bleibt in seiner Kindheit, in einer Gesellschaft, die in hohem Grad die Irrationalität des Menschen spiegelt, geprägt von Haltungen, die die Erkenntnis faktischer Verhältnisse über sich selbst und andere nicht fördert. Freud gibt die psychologische Erklärung dafür, dass die Welt betrogen werden will. Der Nationalsozialismus – vor dem er selbst flüchten musste – mit seiner erfolgreichen Massensuggestion bestätigte sein desillusioniertes Menschenbild, das er in Die Zukunft einer Illusion (1927) darstellte, während er seine Gesellschaftskritik in Das Unbehagen in der Kultur (1930) formulierte. Etwas mehr psychologische Einsicht könnte den Teufelskreis durchbrechen, meinte er. Die Psychoanalyse war auch als Befreiungsprojekt gedacht. Im Lauf des 20. Jahrhunderts entwickelt die Psychologie sich methodisch und theoretisch zu einer Sozialwissenschaft mit den Hauptzweigen Individualpsychologie, Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie. Ihre Erkenntnis, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die Entwicklung der Persönlichkeit sind und dass grundlegende Bedürfnisse befriedigt werDie Bedeutung Freuds und der Psychoanalyse

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den müssen, damit Bindung und Mentalisierung gelingen, hat die Gesellschaft gelehrt, dass es wichtiger und billiger ist, bei Kindern und Jugendlichen vorzubeugen, als die Schäden bei Erwachsenen zu reparieren und Leiden zu kurieren. Aus unserer Perspektive stellt sich die Frage, ob die Seele die Transformation in die Psyche überlebt hat, ob sie im Licht von Freuds Erkenntnissen und der modernen Psychologie noch immer als das Zentrum des Menschen und als die Dimension, um die sich die Existenz dreht, gelten kann. Historisch betrachtet hat Freud die persönliche und existenzielle Bedeutung der Seele und der Psyche in vieler Hinsicht gestärkt. Und in der Diskussion, ob die Seele nur ein Begriff, eine mythische oder sprachliche Konstruktion ist, trägt Freud ein Gegenargument vor. Weil das körpergebundene Es der Hauptteil der Seele ist, trägt es auch ein entscheidendes Erbe mit sich, einen instinktiven Willen, verschiedene Triebe, Temperament, gegebene Fähigkeiten und Neigungen. Die Hauptbestandteile der Seele sind uns gegeben, angeboren, doch wie sie ausgeformt wird, entscheidet sich durch ein Zusammenspiel zwischen Individuum und Umwelt, zwischen Bedingungen und Möglichkeiten. Freuds Seelenlehre hat ein stark konstruktivistisches Element, denn seine gesamte Psychologie baut darauf auf, dass die Seele plastisch und dynamisch ist, sie kann gebildet und geändert oder auch manipuliert und modifiziert werden. Wie offen die Seele ist, demonstriert er unter anderem am Beispiel der geschlechtlichen Identität, die die meisten für natürlich gegeben halten. Freud hingegen behauptet, sie sei grundsätzlich nach beiden Seiten offen. Inwiefern der männliche oder der weibliche Teil dominiert und die Person eine männliche oder eine weibliche Geschlechtsidentität entwickelt, wird oft von Zufällen entschieden, zum Beispiel von der Konstitution der Eltern und der Rollenverteilung in der Familie oder von anderen äußeren Einflüssen, die einem Kind Identifikationsfläche bieten. Dies gilt allgemein für die Seele und seelische Neigungen. Obwohl einige von Freuds Theorien heute – 100 Jahre später – einen schweren Stand in der Psychologie haben, sind sein Einfluss und seine Wirkungsgeschichte nicht aus der Psychologie wegzudenken. Die Fachpsychologie steht samt ihren neuen Theorien und Behandlungsmethoden auf seiner Schulter. Auch wenn man seinen Determinismus ablehnt, ist es in der wirklichen Welt schwierig, den Teufelskreis zu durchbrechen, den eine unglückliche Kindheit, schlechter Einfluss und der Mangel an Liebe, Fürsorge, Zutrauen und Sicherheit für viele Individuen entstehen lassen. 282

Die Seele wird zur Psyche – und geht zu Freud

Vernachlässigung und mangelnde Bindung ist nicht nur ein Gesundheitsproblem für Individuen, sondern ein soziales und kulturelles Problem, von dem die Gesellschaft sich nicht loskaufen und das sie auch nicht mit mehr Mathematikunterricht in der Schule lösen kann. Freud hat auch ein für alle Mal mit der Vorstellung aufgeräumt, dass die Seele etwas Einheitliches sei. Sie ist heterogen und zusammengesetzt, sie ist sowohl emotional als auch kognitiv. Sie ist eine relationale Funktion verschiedener Kräfte, die interagieren – körperlicher wie mentaler, intellektueller wie emotionaler, sinnlicher wie willensbezogener, instinktiver wie rationaler. All diese Kräfte konkurrieren miteinander im Ich, das mit Vernunft und Verstand die verschiedenen Impulse und Kräfte zweckmäßig zu koordinieren versucht, wobei es sowohl die Anforderungen der Gesellschaft als auch persönliche Wünsche berücksichtigt. Wie ihm dies gelingt und wie es damit eigene Gedanken, Haltungen und Handlungen auslöst, entscheidet, welcher Persönlichkeit wir gegenüberstehen. Obwohl Freud Jude war und sich jüdischen Bewegungen anschloss, trat er als Atheist auf. Er bezeichnete sich als Feind jeder Art von Religion. In dieser Hinsicht stand er in Nietzsches Schuld, der sich die Aufgabe vorgenommen hatte, das Verhältnis zwischen Körper und Seele neu zu definieren, nicht nur um das religiöse Verständnis der Seele zu beenden, sondern auch um »eine neue Seele« zu erschaffen.

Die Bedeutung Freuds und der Psychoanalyse

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DIE RESTAURATION

Sie hätte singen sollen, diese »neue Seele« – und nicht reden! (Nietzsche)

DER PSYCHOLOGIEPHILOSOPH NIETZSCHE: »EINE DER EHRWÜRDIGSTEN HYPOTHESEN«

Friedrich Nietzsche (1844–1900) behauptete über 100 Jahre bevor der Neodarwinist Richard Dawkins Gott als Hypothese bezeichnete, dass auch die Seele eine solche sei. Aber nicht irgendeine, sondern »eine der ehrwürdigsten Hypothesen« der Menschheit. Im Gegensatz zu Dawkins, der die Antwort bereit hat, ehe er mit dem Beweis der Hypothese beginnt, stellt Nietzsche eine echte Hypothese auf. Wie wir nun wissen, gab es zu seiner Zeit eine Philosophie ohne Seele, eine Psychologie, welche die Seele zur Psyche verwandelt hatte, und eine darwinistische Wissenschaft, in der keine persönliche Seele existierte. Nietzsche will die Karten neu mischen und eine neue Psychologie erschaffen. Deshalb geht er von der Seele als Hypothese aus: Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, »die Seele« selbst dabei los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum dass sie an »die Seele« rühren, sie auch verlieren. (Jenseits von Gut und Böse [JGB] § 12)

Um die Hypothese und damit die Daseinsberechtigung der Seele zu bekräftigen, braucht es jedoch eine »neue Seele«, das heißt einen neuen Seelenbegriff und eine neue Anthropologie mit einer neuen Psychologie, kurz: ein neues Verständnis der Seele in einem neuen Menschenbild, das fest im Diesseits verankert ist, und nicht im transzendenten Jenseits. Dieses Projekt gibt Nietzsche einen zentralen Platz in der Geschichte der Seele – in ihrer Genealogie, um Nietzsches eigenen methodischen Begriff aus Zur Genealogie der Moral (1887) anzuwenden. Es ist bemerkenswert, dass Nietzsche die Seele ausgerechnet in einer Zeit, in der sie Der Psychologiephilosoph Nietzsche

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außer Mode geraten ist, als wirksamen Teil eines gesunden und lebensfähigen Menschen und als zentralen Begriff einer Anthropologie wiederaufrichten will. Darin besteht seine »Psychologie der Philosophen« und deshalb wird er hier ausführlich besprochen. Durch Zitate aus seinen vielen Schriften über »die neue Seele« soll der Philosoph selbst zu Wort kommen.2 Nietzsche befand sich selbst als »unzeitgemäß«. Er schrieb nicht für die Gegenwart (die ihn komplett ablehnte), sondern für die Zukunft. Und er war sicher, dass seine Zeit kommen würde: »Erst das Übermorgen gehört mir.« (Der Antichrist, Vorwort) Schon 1885 schrieb er in einem Brief; »Warten wir 100 Jahre ab: vielleicht giebt es bis dahin irgend ein Genie von Menschenkenner, welches Herrn F. N. ausgräbt« (Briefe 7, S. 27). Über Jenseits von Gut und Böse (1886), das den Untertitel Vorspiel einer Philosophie der Zukunft trägt, meinte er: »Nehmen wir an, daß es gegen das Jahr 2000 gelesen werden darf« (ibd., S. 257). Nun, in den 2010er-Jahren, ist seine Zeit wieder einmal gekommen. Weil er als Psychologe der Zukunft gelten will, besprechen wir ihn hier nach Freud, obwohl seine Schriften früher erschienen. Nietzsche wird in der Zukunft wahrscheinlich größere Gültigkeit als Freud haben und von kommenden Generationen wieder und wieder gelesen werden. Seine erste Aufgabe als Psychologe der Zukunft war, ein für alle Mal mit dem christlichen Seelenbegriff aufzuräumen, der mit Moral, Scham und Schuldgefühl überlastet war. Nietzsche will die Seele zu einem rein anthropologischen Phänomen und Begriff machen; dass die Seele »ein ausschließlich religiöser Begriff« sei, akzeptiert er nicht. In seinen Augen steht das Christentum für eine Versteinerung der Seele, indem es sie »als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen!« (JGB § 12) Denn die Seele ist weder unsterblich noch einheitlich. Auch mit einzelnen philosophischen und metaphysischen Seelenauffassungen will Nietzsche aufräumen. Deshalb braucht er eine neue Wissenschaft über die Seele, die deren Verbindung mit den vitalen Lebenskräften nicht kappt und die einsieht, dass auch die Seele sterben will:

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Alle Zitate, wenn nicht anders angegeben, nach der elektronischen Werkausgabe www. nietzschesource.org.

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Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie »sterbliche Seele« und »Seele als Subjekts-Vielheit« und »Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte« wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. (JGB § 12)

Der neuen wissenschaftlichen Psychologie traut Nietzsche wenig zu. Er ist kein Psychologe im üblichen Sinn, der das Psychische empirisch untersucht und aufgrund der observierten Symptome Diagnosen stellt. Im Gegenteil. Er ist ein Philosoph, der die Seele als Teil der zusammengesetzten Persönlichkeit und den Menschen als Körper und Seele, Vernunft und Bewusstsein, Wille, Gefühle und Leidenschaften begreift. Besonders das Verhältnis zwischen Körper und Seele muss in seinen Augen neu interpretiert werden, weil es vom Platonismus und der Körperverachtung des Christentums verkrüppelt wurde. Deshalb behauptet er, die Seele »lüge« über den Leib, und: »der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte ›Seele‹« (Nachgelassene Fragmente 36). Es ist typisch Nietzsche, dass er sich durch den Gebrauch von Anführungszeichen vom konventionellen Seelenbegriff distanziert. Außerdem ist er sich darüber klar, dass die Seele in der Modernität neue Konkurrenten bekommen hat, insbesondere das »Subjekt«. Nietzsche lässt keine Zweifel daran, wovon er sich distanziert, doch er lässt es offen, was seine Seelenlehre beinhalten wird, außer dass sie die Homogenität bewahren und die Triebe und Leidenschaften berücksichtigen wird, die in der subjektiven Seele Platz haben. Als er die Hypothese zum ersten Mal aufstellt, weiß Nietzsche die Antwort im Grunde noch nicht. Deshalb macht er die Seele zu einem Hauptanliegen seiner Philosophie. Er wird sich die Antwort erschreiben. Sie ist Teil der »fröhlichen Wissenschaft« und der Zukunft, der Morgenröte (nicht der Abendröte, wie bei Hegel). Die Suche hat er jedoch schon satt, er will nur noch finden, und wenn nötig, das erfinden, was er braucht. Die Seele neu erfinden! Deshalb testet er ständig die Hypothese, die schwachen wie die starken Seiten der Seele. Er tut dies psychologisch, anthropologisch, ethisch und existenziell, und meist in einer historischen Perspektive. Auf diese Weise schreibt er auch eine Genealogie der Seele. Bei der Stichwortsuche in Nietzsches Werken bekommt die Seele ca. 1500 Treffer, wobei nicht einmal Zusammensetzungen und die adjektivische Verwendung berücksichtigt sind. Seit dem Mittelalter hat kein Philosoph den Begriff öfter bemüht als er. Kein Wunder, dass er sich selbst den ersten wirklichen Psychologen und einen Psychologiephilosophen nennt, Der Psychologiephilosoph Nietzsche

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einen Psychologen der »neuen Seele«. Wohl wissend, dass seine Zeitgenossen ihn weder verstanden noch verstehen würden, gab er in seinem letzten Werk, Ecce homo (EH), der Nachwelt einen Schlüssel zum Verständnis seiner Werke: Dass aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seines Gleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt. […]. (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe § 5)

Bei seinem Versuch, die neue Psychologie zu etablieren, kritisiert er immer wieder die konventionelle Psychologie. Auch vor der empirischen Beobachtungspsychologie, die sich auf »Erlebnisse« konzentriert warnt er: »Keine Colportage-Psychologie treiben! Nie beobachten, um zu beobachten!« (Götzen-Dämmerung [GD]: Streifzüge eines Unzeitgemäßen § 7) Denn die Beobachtung berührt nur die Oberfläche, während sich ein echter Seelenforscher in die Tiefe wagt und in die Abgründe der Seele starrt. Erst dann lernt man den Menschen wirklich kennen. Darum geht es auch bei der Erschaffung des neuen Menschen, der höher steht, über dem Menschen, den Evolution und Geschichte bisher geschaffen haben – des Übermenschen. Dies ist möglich, weil der Mensch »das noch nicht festgestellte Thier ist« (JGB § 62). Nietzsche nimmt Darwin beim Wort: Der Mensch kann sich zu einem noch höheren Wesen entwickeln. Trotzdem ist Nietzsche kein Darwinist, er kritisiert des Öfteren die Anwendung von Darwins Lehre. Deshalb will er die Psychologie zur ersten Wissenschaft machen, das heißt zur führenden Wissenschaft, auf der alle anderen Geisteswissenschaften aufbauen: Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. […] der Psychologe […] wird zum Mindesten dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen. (JGB § 23)

Nietzsche tut, wonach Hume und Kant trachteten; er macht die Wissenschaft vom Menschen zur Grundlage aller anderen Wissenschaften. Doch damit die Psychologie ihre Aufgabe lösen, die Tiefen der Seele erforschen und deren vitale Lebenskräfte freisetzen kann, muss sie von Moral, Religion (Christentum) und den bürgerlichen Konventionen befreit werden, denn: 290

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Die Circe der Menschheit, die Moral, hat alle psychologica in Grund und Boden gefälscht – vermoralisirt – bis zu jenem schauderhaften Unsinn, dass die Liebe etwas »Unegoistisches« sein soll … (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe, § 5)

Nach Darwins struggle for life und Nietzsches eigenem Verständnis des Menschen als »noch nicht festgestelltes Tier« mit Wille zur Macht ist es schwierig, den Menschen und die Liebe weiterhin als unegoistisch zu betrachten. Dazu passt auch Nietzsches Frauenbild, das alles andere als romantisch ist. Laut Nietzsche wissen die Frauen, dass Liebe egoistisch ist, »sonst kann man gar nicht lieben. Das wissen zuletzt die Weiblein nur zu gut: sie machen sich den Teufel was aus selbstlosen, aus bloss objektiven Männern …« Auch er weiß es: »Darf ich anbei die Vermuthung wagen, dass ich die Weiblein kenne? Das gehört zu meiner dionysischen Mitgift. Wer weiss? vielleicht bin ich der erste Psycholog des Ewig-Weiblichen.« (ibd.) Nietzsche zufolge wird die Menschheit nicht von uneigennütziger Nächstenliebe vorangetrieben, sondern vom Willen und dem Willen zur Macht, vielleicht der am meisten missbrauchte und missverstandene Gedanke Nietzsches, aber auch der grundlegendste. Manche Apologeten haben versucht, ihn als flüchtige Idee aus seinen nachgelassenen Schriften herunterzuspielen. Doch man darf fragen: Ist der Wille zur Macht ein Ziel, eine ideale Norm, oder eine faktische Beschreibung des Menschen, wie er in Wirklichkeit ist (jenseits des naiven Glaubens an das Gute im Menschen)? Wahrscheinlich beides, aber es ist Nietzsche nicht gleichgültig, welche Art Macht man anstrebt und wie man sie anwendet. Er warnt: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.« (JGB § 146) In der Erkenntnis, dass der Mensch von Machtbegier getrieben wird, tritt Nietzsche als der erste moderne Psychologe auf (vor Freud), der das wahre Wesen des Menschen erkennt. Er ist ein Hermeneutiker des Misstrauens, der den Hang des Menschen zu Betrug und Selbstbetrug kennt. Und den Hang, seine Motive zu verbergen. Nietzsche selbst verbarg sich gern hinter Masken, denn: »Alles, was tief ist, liebt die Maske« (ibd., § 40). Auf dieser neuen, realistischen Grundlage wollte Nietzsche die Möglichkeit einer neuen, gesunden Seele abklären, in der der Körper und der Wille die entscheidenden Kräfte sind. Wo der Wille die Seele ist und die Seele der Wille. Nietzsches Seele ist mit anderen Worten intentional. Sie will etwas. Die Seele gibt dem Willen Substanz, während der Wille der Seele Richtung gibt. Sie sind unlösbar miteinander verbunden. Ohne den jeweils anderen sind Der Psychologiephilosoph Nietzsche

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beide nichts. Der Wille zur Macht ist vor allem der Wille, sich trotz aller widrigen Umstände durchzusetzen, souverän und sich selbst genug zu sein. Philosophen und christliche Moralisten bezeichnen den freien Willen als reine Abstraktion. Sie argumentieren, dass Gott das Böse oder Katastrophen, die Unschuldige treffen, nicht verhindere, weil er dem Menschen den freien Willen gegeben habe. Doch wo ist der Zusammenhang? Wer stützt im wirklichen Leben seine Entscheidungen auf den »freien Willen«? Im echten Leben geht es darum, was man selbst will und wie man es eventuell erreicht, oder man lässt es sein, weil man etwas anderes, Besseres will. In diesem Punkt ist Nietzsche klar: »Der ›unfreie Wille‹ ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen.« (ibd., § 21) Wenn jemand nicht »das Richtige« tut, liegt dies daran, dass sein Wille zu schwach ist, und nicht an der Frage, ob sein Wille frei oder unfrei ist. Konventionell wird Nietzsche als starker Kritiker der Seele aufgefasst und dies eher im negativen Sinn. Er gilt als Philosoph, der die Seele bekämpfen und den Körper stärken will. Denn es ist der Körper mit all seinem Lebenstrieb und seiner Vitalität, der das Selbst des Menschen ausmacht, das auto oder ego in Nietzsches Denken. Die Seele, wie sie seit Platon und Paulus aufgefasst wurde, hat den Körper unterdrückt. Allzu oft lügt die Seele über den Körper, lautet ein Refrain Nietzsches. Doch er gilt der Seele im platonischen und christlichen Verstand und diese ist in Nietzsches Augen das Zerrbild einer gesunden und starken Seele. Deshalb muss das christlich-platonische Seelenbild aus dem Weg geräumt und die neue Seele mit ihrem großen Potenzial befreit werden. Sie soll laut singen, nicht nur reden. »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!« (Die Geburt der Tragödie: Versuch einer Selbstkritik § 3). Der Gesang ist Sprache und Musik, das Medium der Seele. Sie soll lebensfroh jauchzen und nicht aus Scham und Schuldgefühl im Staub kriechen. Das Hervorrufen von Scham betrachtet Nietzsche als Verbrechen gegen die Menschheit. Sein Ideal ist das Gegenteil: »Jemandem Scham ersparen.« (Die fröhliche Wissenschaft [DFW] § 274) Doch damit die Seele erlöst und frei wie ein Vogel werden kann, muss sie zuerst in ihrer Tiefe erkannt werden. Dafür braucht es eine neue Art von Psychologen und einen tiefsinnigen Denker wie ihn selbst, einen Psychologiephilosophen. Und man muss wissen, wie die Seele von Anfang an geformt wurde, man muss ihre Genese und Genealogie kennen, ihren historischen Ursprung und ihre Entwicklung – und Verwicklung. Außerdem muss die eigene Seele ebenso tief sein, wie sich die Geschichte 292

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in der Zeit zurück erstreckt, was Nietzsches Selbstbild entspricht. Er ist der Genealoge der Seele. Er hat die Voraussetzungen dazu, weil er die Genealogie als wissenschaftliche Methode begründet hat. Er rekonstruiert die Seele, indem er auf ihren körperlichen Ursprung zurückgreift.

Die Umwertung des Verhältnisses von Körper und Seele Nietzsches Abrechnung mit dem Christentum und dem herrschenden Seelenverständnis der Philosophie muss im Zusammenhang mit seiner Überzeugung gesehen werden, dass man alle Werte umwerten muss, um die vitalen Lebenskräfte freizusetzen. Seine gesamte Philosophie ist ein JA zum Leben. Und Leben bedeutet Körper und körperliche Triebe, Leidenschaften und Affekte – alles, was Platon und das Christentum als minderwertig gebrandmarkt haben. »Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist das Verbrechen selbst am Leben, – ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.« (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe § 5) Er kritisiert den geringen Stellenwert der Liebe in unserer Kultur, und dass sie durch Körperfeindlichkeit und ideologisierte Nächstenliebe verdorben sei. Moralismus verkrüppelt die Liebe, denn: »Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.« (JGB § 153) Ein Ausdruck der christlich-platonischen Abwertung des Körpers ist der herrschende Dualismus zwischen Körper und Seele, den auch Descartes und Kant übernahmen. Sie trugen noch weiter zur Abwertung des Körpers bei, indem sie die Seele mit dem Bewusstsein und der Denkfähigkeit der Vernunft identifizierten. Nietzsche stellt dieses Verhältnis auf den Kopf; er nennt den Körper die große Vernunft und das Bewusstsein die kleine Vernunft, »das Zweite-Wichtige«. Dies verkündet Nietzsches Alter Ego Zarathustra in seiner Rede Von den Verächtern des Leibes: »Leib bin ich und Seele« – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Die Umwertung des Verhältnisses von Körper und Seele

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Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. »Ich« sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. […] Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. (Also sprach Zarathustra [Za] I)

Dies ist eine direkt gegen Platon gerichtete Polemik, der in demselben Wortlaut behauptete, der Körper sei nur ein Werkzeug der Seele und der Mensch sei »etwas anderes als sein Leib« (Alkibiades I, 129e). Wo Platon den Körper als Objekt betrachtet – als etwas, das man hat –, sieht Nietzsche ihn als Subjekt – als etwas, das man ist. Damit wird die Seele zum Teil des Körpers, zu etwas Vitalem und Energischem. Wenn Nietzsche den Körper das Selbst nennt, greift er auf Homer und die Vorsokratiker zurück, die seine Helden sind. Wir erinnern uns, dass der Körper (soma) bei Homer als die Person selbst (autos) aufgefasst wurde und psyche nur ein Schatten des Körpers war. Nietzsche schließt sich dieser Tradition an, indem er den Körper philosophisch und anthropologisch rehabilitiert. Und andere große Philosophen haben ihm später recht gegeben. Sowohl Husserl als auch Merleau-Ponty sahen den Körper als die Person selbst, was teilweise auch ein Verdienst des späten Kant war. Schließlich hören wir auf zu existieren, wenn unser Körper stirbt. Aber Nietzsche ist noch radikaler. Für ihn ist der Körper Träger einer tieferen Lebenskraft, die es besser weiß als das Bewusstsein oder die Vernunft. Diese tieferen und klügeren Kräfte will er freisetzen, die Intuition und Spontaneität, die Leidenschaft und die Triebe. Denn der Körper besitzt die dionysischen Leidenschaften und Instinkte, welche die schöpferischen Grundkräfte des Lebens und Lebensbejahung repräsentieren. In Die Geburt der Tragödie (1872) präsentiert Nietzsche die einander ergänzenden Prinzipien apollinisch und dionysisch (nach dem Vernunftgott Apollon und dem Wein- und Festgott Dionysos). Es sind die Urtriebe, aus denen der Mensch erwachsen ist und die immer noch in seinem Kopf und Gemüt wirksam sind. Das Apollinische ist Traum und Vision, das harmonisch Geordnete, selbst ordnend und abgrenzend (Ethik und Wissenschaft, visuelle und epische Kunst). Dionysisch ist alles, was von ungeteilter Leidenschaft getrieben ist: Rausch und Ekstase, musisch-rhythmische und 294

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lyrische Kunst. In der dionysischen Entrückung wird die apollinische Individuationsgrenze aufgehoben, in der Ekstase fühlt die Person sich eins mit dem Schöpfungsprinzip der Welt, der Lebensbegierde und Lebensfreude. Bei den Dionysos-Festen und -Spielen der Antike erlebten die Menschen diese Kräfte, und weil sie von einem apollinischen Gegengewicht austariert wurden, endeten die Feste nicht in zerstörerischen Orgien. Der Platonismus und das Christentum haben das Dionysische in der westlichen Kultur zunichte gemacht und damit sowohl den Menschen als auch das Leben amputiert. Dieser Körperfeindlichkeit widersetzt sich Nietzsche. Er will den Körper, das tiefste Erkenntnisorgan und den ersten Beweger des Menschen, voll rehabilitieren. Der Körper ist auch das Organ des Gelächters. Nietzsche war der Erste, der das tiefe homerische Lachen (asbestos gelos) verstand, das ein göttliches Lachen war. Es kommt aus der Tiefe, körperlich gesehen aus dem Bauch, und erhebt die Seele. Das Lachen ist dionysisch. Deshalb will Nietzsche es im Kampf gegen den Grabesernst mobilisieren, der daraus resultiert, dass der Körper als Grab der Seele bezeichnet wird und das Ziel der Seele nicht mehr das Leben, sondern das Jenseits ist. Der Grabesernst erstickt jede Begeisterung: »Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere, – durch ihn fallen alle Dinge.« (Za I: Vom Lesen und Schreiben) Wo das Lachen unterdrückt wird, wird auch die Wahrheit unterdrückt: »Und verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!« (Za III: Von alten und neuen Tafeln § 23) Dies gilt auch der Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Nur ein freier Geist in seinem Überschuss kann über sich selbst lachen. Die moderne Physiologie und Gehirnforschung hat Nietzsche recht gegeben: Der Körper ist vernünftig und kommt dem Bewusstsein zuvor. Deshalb wollte Nietzsche seinen Körper viel bewegen. Wie Kierkegaard erlief auch er sich seine besten Gedanken und behauptete: »Das Sitzfleisch [… ist] die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.« (EH: Warum ich so klug bin § 1) Die Aufwertung der Seele und ihre Verankerung im Versprechen ewiger Seligkeit oder der Androhung ewiger Pein sieht Nietzsche als psychische Druckmittel zur Unterjochung des Körpers: Der Begriff »Seele«, »Geist«, zuletzt gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank – »heilig« – zu machen […]! (EH: Warum ich ein Schicksal bin § 8) Der Psychologiephilosoph Nietzsche

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Auf derselben Schiene liegen Nietzsches berühmteste Worte »Gott ist tot« (er starb aus Mitleid mit den Menschen), und: »Der Begriff ›Gott‹ erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben […]! Der Begriff ›Jenseits‹, ›wahre Welt‹ erfunden, um die einzige Welt zu entwerthen, die es giebt« (ibd.). Aus dieser Perspektive muss man Nietzsches Angriff auf den christlichen Seelenbegriff verstehen. Will man den Menschen verstehen und weiterentwickeln, muss man deshalb mit dem Körper beginnen, der Grundlage für alles: Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der rechten Stelle beginnt – nicht an der »Seele« (wie es der verhängnisvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus … Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte […]. (GD § 47)

Dieser unumgängliche Ausgangspunkt wurde durch die pythagoreischplatonische Philosophie pervertiert, die den Körper als Grab der Seele darstellte und die primäre Aufgabe der Vernunft darin sah, den Körper mit all seinen Leidenschaften und schöpferischen Kräften zu kontrollieren. Die Reduktion des Instinkts und der Verlust der Spontaneität ist eine Tragödie. Platon spielt eine entscheidende Rolle in dieser geistigen Entwicklung, weil alle betroffenen Impulse, Triebe und Leidenschaften durch das bewusste Eingreifen der Vernunft internalisiert werden, was die Seele schließlich zur zentralen Instanz im Menschen machte: Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. (Zur Genealogie der Moral [GM] II, § 16)

In der nächsten Phase dieser Entwicklung, als das Christentum sich in der Genealogie geltend macht, werden diese internalisierten Kräfte, Instinkte, Leidenschaften, Impulse und primitiven Gedanken als sündig definiert und das Innere, die Seele, mit schlechtem Gewissen gefüllt. Nietzsche will diese Entwicklung umdrehen und von Neuem mit dem freien, spontanen, handlungskräftigen, lachlustigen und begeisterten Körper anfangen. Hier beginnt seine Abrechnung mit der christlichen Moral, die er in Zur Genealogie der Moral psychologisch erklärt. Um eine freie Seele ohne schlechtes Gewissen zu schaffen, muss man von den Griechen lernen, die 296

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es schafften, »sich das ›schlechte Gewissen‹ vom Leibe zu halten, um ihrer Freiheit der Seele froh bleiben zu dürfen« (GM II, § 23). Die negative Seelenkritik ist jedoch nur eine Seite von Nietzsches Psychologie und Seelenlehre. Sie betrifft eine bestimmte Seelenauffassung, die aus dem Weg geräumt werden muss, um Platz für die »neue Seele« zu machen, die von den Leidenschaften und Trieben des Körpers begeistert ist, mit Lachen und Freude singen und den Menschen inspirieren kann. Wenn die moralische und die physiologische Voraussetzung gegeben und der Körper gesund ist, kann der Wiederaufbau beginnen und die Seele neu erfunden werden.

Die neue Seele und ihre anthropologische Bedeutung Als Psychologe will Nietzsche das Gute und Schöne befreien, das in der Tiefe der Seele verborgen liegt, die schöpferischen Kräfte, die brachliegen, weil es besonderen Einsatz und Willen braucht, um an diese Ressourcen zu gelangen. Zum Schönsten an Nietzsches Autorschaft gehören seine Naturschilderungen, zum Beispiel diese Huldigung an einen Januartag 1882 in Genua, Sanctus Januarius: Der du mit dem Flammenspeere Meiner Seele Eis zertheilt, Dass sie brausend nun zum Meere Ihrer höchsten Hoffnung eilt: Heller stets und stets gesunder, Frei im liebevollsten Muss: – Also preist sie deine Wunder, Schönster Januarius! (DFW IV, Motto)

Nietzsche betont die Bedeutung der Kunst für das Seelenleben. Eine Seele ohne Takt und Rhythmus, die weder tanzen noch singen kann, ist für ihn eine versteinerte Seele. Neben der Sprache, die auch ihren Rhythmus hat, sind Gesang, Musik und Tanz, was uns uns zu Menschen macht: »nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach«. Und »längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – Die neue Seele und ihre anthropologische Bedeutung

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und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik.« (DFW § 84) Mit dieser Ansicht steht Nietzsche zu seiner Zeit nicht allein da. Der englische Komponist Frederick Delius (1862–1934) behauptete: »music is an outburst of the soul«. Sowohl die Natur als auch die Kunst und die fröhliche Wissenschaft, die Kraft der Gedanken, tragen zur Geburt der neuen Seele bei, des Selbst oder in Homers Worten des autos. Doch im Gegensatz zu naturalistischen Romantikern ist Nietzsche nicht antiintellektuell, sondern ein harter Rationalist und Superintellektueller, der dem Denken und der Wissenschaft sowohl aus Lust als auch aus Zweckmäßigkeit huldigt: Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntniss, an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntniss hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? (Menschliches, Allzumenschliches II, § 98)

Die Erkenntnis an sich ist leerer Idealismus, ein bloßes Wort. Selbstverständlich sucht man Erkenntnis, um etwas herauszufinden, etwas zu klären, das man zum Weiterkommen braucht, sei es in Theorie oder Praxis. So umkreist Nietzsche ständig die Seele, um herauszufinden, was sie ihm offenbaren kann, wofür sie zu gebrauchen ist, wohin sie ihn führen kann und warum. Das Selbst seiner Seele zeichnet sich dadurch aus, dass es etwas will, das sich nicht nur selbst überschreitet, sondern das Selbst erweitert und seine Möglichkeiten als ganzheitlich körperliches, seelisches und geistiges Wesen bis zum Äußersten dehnt. Die Seele ist ein anderer Begriff für diese Ganzheit und ihre Formfunktion. Die Seele integriert und ist selbst eine Integrität. Ein Teil von Nietzsches Größe besteht darin, dass er auch seine Leser inspiriert, ihr Selbst und ihre Welt zu erweitern und im besten Fall sich selbst zu übertreffen. Er gibt der Seele, die alles antreibt, Energie. Er gibt dem verschlissenen Ausdruck Bildung der Seele neuen Inhalt und macht diese Seelenbildung zu Lebenskunst. Die Frage ist, was in die Seele integriert werden kann und was die Seele integrieren kann, ohne dass die Gesamtheit der Persönlichkeit verletzt oder gar gebrochen wird. Und wie man sie gegebenenfalls wieder heilen kann. Darum geht es im Leben: immer weiterkommen. Die Seele ist dafür notwendig, weil sie sowohl körperlich bedingt als auch sinnlich emotiv und intellektuell sensibel ist. Sie hat eine notwendige Funktion. Deshalb wurde sie erfunden – und muss wieder und wieder erfunden werden, bei jedem, der nicht seelenlos durch 298

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die Welt laufen will. So radikal ist die Bildung der Seele. Sie muss gebildet werden – künstlich. Deshalb ist sie auch nicht einfach zu entdecken. Es ist nicht sicher, ob alle eine Seele haben. Deshalb lacht Zarathustra, als ein junger Besucher, den er durchschaut hat, fragt: »Wie ist es möglich, dass du meine Seele entdecktest?« Zarathustra lächelte und sprach: »Manche Seele wird man nie entdecken, es sei denn, dass man sie zuerst erfindet.« (Za I: Vom Baum am Berge)

Ist sie einmal gebildet und als Zentrum der Persönlichkeit mit ihrem Willen wirksam, ist die Seele nicht nur ein ethisch-existenzielles Barometer und Kompass, sondern ebenso die intellektuelle Motivation, die das Werk vorantreibt. Wenn die Integrität der Seele intakt ist und sie sagen kann, was geht und was nicht geht und was auf dem Spiel steht, nennt man dies Bauchgefühl oder Intuition. Es hilft nicht viel, klug und gerissen zu sein, wenn dabei die seelische Intuition fehlt, die gleichzeitig eine intellektuelle Intuition und Spontaneität ist. Ohne sie macht man schnell einen falschen Schritt oder landet man in einer Sackgasse. Deshalb wird man unmittelbar betroffen, wenn man seine eigene Integrität verletzt, das heißt Normen bricht, die man selbst anerkennt oder akzeptiert. Dies weiß die vornehme Seele, denn es gibt irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt. – Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. (JGB § 287)

Es ist nicht das moralische Gesetz an sich, vor dem die vornehme Seele Ehrfurcht verspürt, sondern kurz und gut sie selbst. So gibt die Seele der Person Identität. Man soll kein anderer werden, sondern was man ist, wie es im Untertitel von Ecce homo heißt. Auch der Sternenhimmel über ihm erfüllt ihn nicht mit Ehrfurcht, sondern dass er selbst ein Stern an seinem eigenen Himmel ist, der ihn wie eine Brücke überspannt. Ein Stern mit seiner eigenen Bahn zwischen Dasein und Untergang, wie jedes andere Individuum: »Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt.« (Za III: Der Genesende § 2) Man muss es aushalten, man selbst zu sein, um man selbst zu bleiben. Das Schlimmste, was geschehen kann, ist, ein Teil der Horde zu werden. Die möglichen Konsequenzen einer solchen Angleichung an die Masse hat Die neue Seele und ihre anthropologische Bedeutung

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Hannah Arendt am Fall Eichmann aufgewiesen (vgl. das spätere Kapitel). »Allzu lange gehörtest du der Masse an!«, lautet Nietzsches hartes Urteil. Wer er selbst ist, ist seine eigene Welt: »Für mich – wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen!« (ibd.) Es gibt kein Jenseits. Es gibt nur eine Welt. Diese. Meine und deine. Die jeweils füreinander »Hinterwelt« oder Jenseits sind. Deshalb musste der Tag kommen, an dem Nietzsche ausrief (ehe er in das jenseitige Schweigen des Wahnsinns eintrat): »Ich bin die Einsamkeit als Mensch!« Dies ist des Menschen Los – sofern man nicht der Horde angehört oder nicht eine Zwillingsseele trifft. Der Wanderer muss sich mit seinen Schatten begnügen und den Dialog der Seele mit sich selbst führen. Und auf Freundschaft hoffen, die ebenso heilig wie die Liebe ist und ein Teil von ihr. Die Seele der Zukunft ist nicht nur Intuition und Spontaneität, die sich dem Zufall öffnet. Sie kann auch von der Notwendigkeit geleitet sein, sie kann sich vom tiefen Trieb führen lassen und von der Hochstimmung erhaben werden, die nur der glücklichste Zufall erzeugt: Vielleicht wäre diesen zukünftigen Seelen eben Das der gewöhnliche Zustand, was bisher als die mit Schauder empfundene Ausnahme hier und da einmal in unseren Seelen eintrat: eine fortwährende Bewegung zwischen hoch und tief und das Gefühl von hoch und tief, ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-aufWolken-ruhen. (DFW § 288; Hervorhebung vom Verfasser)

Auch in Jenseits von Gut und Böse formuliert Nietzsche die Aufgabe seiner neuen Psychologie näher. Die Einleitung zum Dritten Hauptstück: das religiöse Wesen gilt auch der Seelengeschichte, die dort geschrieben wird: Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen dieser Erfahrungen, die ganze bisherige Geschichte der Seele und ihre noch unausgetrunkenen Möglichkeiten: das ist für einen geborenen Psychologen und Freund der »grossen Jagd« das vorbestimmte Jagdbereich. (JGB § 45)

Der geborene Psychologe ist natürlich Nietzsche. Er hat selbst die Tiefen der Seele und die Verletzlichkeit der offen liegenden Seele erfahren. Man muss darauf vorbereitet sein, dass diese Art von Tiefenpsychologie nichts für schwache Seelen ist. Denn in der Tiefe verbergen sich auch dunkle Mächte. Man muss sich klar darüber sein, dass man nicht nur 300

Der Psychologiephilosoph Nietzsche

äußere Feinde bekämpft und dass die Mittel nicht vom Zweck zu trennen sind, denn: Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. (JGB § 146)

Man braucht starke Nerven und das Pathos der Distanz, um in den Tiefen seiner Seele in Medusas Augen zu blicken. Zarathustra, das Sprachrohr der neuen Seele, der im weiten Universum sucht, um tief in sein inneres Universum einzudringen, verkündet diese eisige Distanz und das seelische Pathos. Denn: »Es giebt Höhen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken« (JGB § 30). Der Abgrund und die Höhe spiegeln einander. Wer hoch hinaus will, muss tief, tief dringen. »Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen!« (Za II: Der Wanderer; Hervorhebung vom Verfasser) Nietzsche bezeichnete Also sprach Zarathustra als sein Hauptwerk, und er ist alles andere als bescheiden, wenn er von seinem Alter Ego schreibt: »Es giebt keine Weisheit, keine Seelen-Erforschung, keine Kunst zu reden vor Zarathustra« (EH: Also sprach Zarathustra § 6). Es gibt auch keine unsterbliche Seele: »Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib« (Za I: Zarathustra’s Vorrede § 6). Nietzsches Mensch ist heterogen zusammengesetzt in einem anthropologischen System, in dem die Seele sich damit abfinden muss, das Zweitwichtigste nach dem Körper zu sein, was ihr jedoch extra Kraft und sinnliche Substanz gibt. Die Seele ist nicht, wie bei Freud, zwischen dem Körper und seinen Trieben einerseits und dem kontrollierenden und strafenden Über-Ich andererseits eingeklemmt. Und sie ist nicht in sich selbst gespalten. Stattdessen lebt sie in einer aktiven Symbiose mit ihrem Körper und ihrem vernünftigen Geist. Die Seele ist keine selbständige Einheit, keine Substanz, die man vom Körper oder der Vernunft losreißen kann. Sie ist eine interaktive, relationale Funktion, die als mehr oder weniger stabile, aber nicht statische Ganzheit von den Kräften gebildet wird, die sie integriert. Deshalb sucht Nietzsche in Höhen und Tiefen, über und unter dem Bewusstsein. Er versteht das Leben als Hochseilakt: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und StehenbleiDie neue Seele und ihre anthropologische Bedeutung

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ben.« (Za I: Zarathustra’s Vorrede § 4) Die Seele hat einen anderen Status als der Körper und der Geist der Vernunft, sie ist das eigene Werk des Individuums, die Quintessenz seiner Persönlichkeit. Obwohl auch der Körper individuell und einzigartig ist, unterliegt er als physiologisch-biologischer Organismus etlichen allgemeingültigen und notwendigen Gesetzen. Dasselbe gilt für die Vernunft des Geistes und des Verstandes. Auch sie ist allgemein und unterliegt Kant zufolge universalen Gesetzen, die das Individuum nicht ändern kann. Es kann sie nur befolgen oder brechen. Verstand und Bewusstsein sind jedoch individuell. Was das Individuum versteht und was ihm bewusst ist, ist ebenfalls subjektiv, aber es kann in zwei Richtungen beurteilt werden: entweder im Verhältnis zum objektiven Geist und der allgemeinen Vernunft oder im Verhältnis zur individuellen Seele und ihrem persönlichen und subjektiven Projekt. Nietzsches Gedankenprojekt hat diese doppelte Orientierung zwischen der übergreifenden Vernunft und der subjektiven Seele, zwischen Notwendigkeit und Zufall, die beide willkommen sind. Deshalb drückt sich sein Geist einmal in Form subjektiver Gedanken aus seinem Lebensprojekt und ein anderes Mal in Form allgemeingültiger Sätze aus, die nicht nur für ihn gelten sollen. Seine Seele führt dasselbe Doppelmanöver durch: Einmal will sie in einem übergreifenden Geist aufgehen und sich selbst zunichte machen, ein anderes Mal sucht sie die kompromisslose Selbstbestätigung, huldigt ihrer Eigenart und ist sich selbst genug. Nietzsches Perspektivismus entstammt seiner heterogenen Anthropologie. Er betrachtet die Welt aus vielen verschiedenen Perspektiven: aus der des Körpers, aus der des Geistes und der Vernunft oder aus der individuellen, persönlichen Perspektive der Seele. Letztere wird nach und nach zur übergeordneten und ordnenden Perspektive. Es geht um die persönliche Lösung, um die Bestimmung der Seele. Die Richtung ist gegeben, nun liegt es am Willen, der alles mobilisieren muss, um das Ziel zu erreichen. Verwirklichung ist eine Frage der Erkenntnis, die auch ein Werkzeug des Willens ist. Wie gebraucht man die Erkenntnis als Mittel? Die Kunst besteht darin, die Seele von der Vernunft und den erworbenen Einsichten des Verstandes zu begeistern. Zum Wohle der Erkenntnis muss die Seele jedoch auch leiden, denn der Geist will seinen Wahrheitsdurst stillen. Doch soll man »sich von Eicheln und Gras der Erkenntniss nähren und um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden?« (Za I: Von den drei Verwandlungen) Nietzsche zufolge sind es vor allem die Seele und der Wille, die einer Person Identität verleihen. Sie sind die Quintes302

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senz von allem, was wir mit der Persönlichkeit verbinden: Haltung und Habitus, Gefühle und Verstand, Letzterer als Träger des Willens. Wenn der Fingerabdruck eines Individuums einzigartig ist, wie viel einzigartiger muss dann seine Seele sein! Der Grund, warum Nietzsche so oft missverstanden wird, liegt darin, dass viele ihn wie andere Philosophen lesen, als einen, der »die allgemeine Wahrheit« sucht. Doch Nietzsche entwickelt kein abstraktes, theoretisches System mit definierten Begriffen. Er philosophiert mit dem Hammer (wie er selbst sagt), um Altes abzureißen und Neues zu erbauen. Das Ziel ist, seinen Weg zu finden und die Werte, die das Leben lebenswert machen. In Kants, Schopenhauers und anderer Philosophen Leben gibt es laut Nietzsche »keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele, sondern, im Falle Kant’s, eines Kopfes, im Falle Schopenhauer’s, die Beschreibung und Spiegelung eines Charakters (›des unveränderlichen‹) und die Freude am ›Spiegel‹ selber, das heisst an einem vorzüglichen Intellecte.« (Morgenröthe § 481) Genau dies tut Nietzsche: Er schreibt die Biografie seiner eigenen Seele. Meine Seele, ein Saitenspiel, sang sich, unsichtbar berührt, heimlich ein Gondellied dazu, zitternd vor bunter Seligkeit. – Hörte Jemand ihr zu? … (Nietzsche, Ecce homo)

Die unwillkürliche Biografie einer Seele Es gab viele Krisen, Katastrophen und Todesstunden in Nietzsches Leben, die seine Seele definitiv prägten. Die Biografie seiner Seele ist fest mit seinen Gedanken und dem Schicksal seiner Werke verbunden. Denn obwohl er gegen die Erwartungen des Publikums und die Normen seiner Gesellschaft schrieb, fragte er sich tief im Inneren, warum seine Bücher nicht anerkannt, sondern totgeschwiegen wurden. Was war mit ihm los, der so viele Bücher schrieb, die in jeder Hinsicht einzigartig waren? Die Antwort hängt mit den Eigenarten und der Bestimmung seines Geistes und seiner Seele zusammen. In fast allen Werken reflektiert er über diese Frage, die er in Ecce homo noch einmal zu beantworten versucht, wie schon aus den Kapitelüberschriften hervorgeht: »Warum ich so gute Bücher schreibe« oder »Warum ich ein Schicksal bin«. Man bemerke die Wortwahl; er hat kein Schicksal, er ist es. Seine Identität ist identisch mit seinem Schicksal. Die unwillkürliche Biografie einer Seele

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Sein Motto ist folglich amor fati, ein doppeldeutiger Ausdruck: die Liebe des Schicksals und die Liebe zum Schicksal. Liebe dein Schicksal und es wird dich lieben! Alles geschieht aus Notwendigkeit und zu deinem Besten, wie sich zeigen wird. Nietzsche verlangt, dass es so wird, indem er das Schicksal zwingt. Deshalb lautet sein Ziel nicht, er selbst zu sein und sich selbst zu verwirklichen (wie es im Liberalismus und bei den Existenzialisten heißt), sondern: »Wie man wird, was man ist.« Man sollte meinen, dies sei eine leichte Aufgabe, da man nichts anderes werden muss als das, was man bereits ist. Weit gefehlt, denn erstens muss Schicht für Schicht in der Tiefe der Seele aufgedeckt werden, und zweitens ist die wahre Identität in einer Gesellschaft, wo alles Schein ist, hinter vielen Masken verborgen. Und das Mittel, mit dem man die Masken und den Schein aufdeckt, nämlich die Sprache, ist selbst Maske und Schein. Überall sind Masken. Die Wirklichkeit ist nicht, wofür sie sich ausgibt, sie ist eine indirekte Repräsentation mithilfe der Sprache. Doch wenn wir einmal ein sprachliches konstituiertes Wirklichkeitsbild etabliert haben, nehmen wir die sprachliche Darstellung als bare Münze, was zum Beispiel in den Religionen der Fall ist. Wir verwechseln Sprache und Wirklichkeit, Schein und Wesen. Einen anderen Zugang zur Wirklichkeit als die Sprache haben wir nicht. Alles ist Schein, eine Grundeinsicht Nietzsches. Deshalb ist Sprachkritik so wichtig, sie demaskiert die Wirklichkeit und den Menschen. Doch unter der Maske verbirgt sich eine weitere Maske, ad infinitum. Wir erreichen nie die Wahrheit an sich. Wir gelangen nicht hinter die Maske der Sprache. Ein solches Sprach- und Wirklichkeitsverständnis drückt Nietzsche wenige Generationen vor Wittgenstein mit den bekannten Worten aus: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. (Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne § 1)

Doch selbst wenn die Wahrheit »nur« aus Bildern und Metaphern besteht, haben wir nichts anderes als die indirekte Darstellung der Wirklichkeit 304

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durch Sprache zur Verfügung. Sprache und Wirklichkeit sind eins und der Mensch lebt in einem Universum aus Bildern mit Bildern des Universums. Es gibt kein Urbild wie am Boden einer chinesischen Schachtel. Auch die Seele ist ein Bild oder Symbol. Auch die Seele ist Sprache, ein sprachlicher Begriff, und ihre Definition geht in eine Sprachspiel ein. Auch von der Seele haben wir keine anderen Formen als jene, zu denen die Sprache uns Zugang gibt. Nietzsche benutzt die Seele als ein wirkliches Bild und Begriff. So verwirklicht er die Seele. Aber er tut dies auf andere Weise, als zu seiner Zeit üblich war. Er spielt ein anderes seelisches Sprachspiel als seine Gegenwart, die die Seele in eine gegebene moralische Bedeutung und eine metaphysische und religiöse Substanz jenseits der Sprache kleidete. Nietzsche hingegen ist vollkommen bewusst, dass auch die Seele eine Konstruktion ist, eine Erfindung – die neu erfunden werden muss –, ein Bild und ein Begriff und dass es genau die sprachliche Konstruktion ist, die die Seele zu etwas Wirklichem macht. Wir geben der Seele die Bedeutung, die sie nach unserem Willen haben soll. Sie ist auch ein Ausdruck dessen, was wir als Menschen wollen, wo wir herkommen und wohin wir gehen. Die Seele ist ein Mythos, eine mythisch-existenzielle Dimension. So gesehen will Nietzsche etwas anderes als seine Zeitgenossen und wurde von ihnen missverstanden und, wie er befürchtete, später auch »verwechselt« (vor allem von den Nationalsozialisten). Das ist der Preis, den er bezahlen muss, weil er zu früh geboren ist, der Preis für die Zugehörigkeit zu den »Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft« (DFW § 382). Er geht sogar noch weiter und sagt, er sei »posthum geboren« (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe § 1). Seine Zeit wird jedoch kommen, er wird sozusagen posthum wiedergeboren. Wie Kierkegaard wünschte auch er sich Anerkennung, aber sein Stolz verbot ihm solche Bedürfnisse. Er wollte lieber unverstanden und ungelesen bleiben, als von Menschen anerkannt werden, die ihn und sein Niveau nicht verstanden und die unbarmherzige Wahrheit nicht aushielten: »Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« Der Irrtum ist nicht nur Dummheit und Unverstand, »Irrthum (– der Glaube an’s Ideal –) ist nicht Blindheit, Irrthum ist Feigheit …« (EH, Vorwort § 3) Auch verlangt er keine Redlichkeit von anderen, wie Kierkegaard, sondern nur von sich selbst. Letzteres ist für Nietzsche eine Selbstverständlichkeit, auf der sein gesamtes Werk beruht. Denn Redlichkeit und Wahrhaftigkeit sind die ersten Opfer, wenn Anpassung zum Wichtigsten im Leben wird, wenn die soziale InteDie unwillkürliche Biografie einer Seele

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gration wichtiger als die persönliche Integrität wird, für welche die Seele Maß und Maßstab ist. Der Gang der Seele geht durch ein Labyrinth, er ist das Labyrinth der Labyrinthe. Die Seele ist »zum Labyrinth vorausbestimmt«, und du gelangst nie an ihre Grenze, wie schon der rätselhafte Heraklit sagte. Nietzsche schreibt für diejenigen, die es wagen, »in dies Labyrinth verwegener Erkenntnisse ein[zu]treten«, und die auch »unter lauter harten Wahrheiten wohlgemuth und heiter« bleiben. Er will sein Rätsel den tapferen Entdeckern vermitteln, »deren Seele mit Flöten zu jedem Irrschlunde gelockt wird« (EH: Warum ich so gute Bücher schreibe § 3) – wohl wissend, gegen welche Ungeheuer sie kämpfen müssen. Nur der kann das Rätsel des Labyrinths lösen, der seinen Weg durch die eigenen Labyrinthe des Lebens und der Seele bis ins Innerste des Labyrinths gefunden hat, in die Abgründe der Gedanken und auf die höchsten Gipfel des Geistes. Nietzsches Leser müssen »[n]eue Augen für das Fernste« haben und »der Menschheit überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele« (Der Antichrist, Vorwort). Nietzsche zufolge erreicht nur das endliche Ziel der Seele, wer alle ihre Abgründe und eine Leidensgeschichte durchlebt hat und wer aus Liebe zur Wahrheit die Gabe der Liebe erhält und deshalb Ariadnes Faden findet, der ins Labyrinth hinein und wieder hinaus führt.

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Natürlich gibt es tote Stellen in der Seele, Zonen, die wir vor so langer Zeit verließen, dass wir nichts mehr von ihrer Existenz wissen. Wie waren sie, was wäre aus ihnen erwachsen? (Lars Gustafsson, Zoner)

DIE LITERATUR ALS BÜHNE DER SEELE

Je mehr die Seele ihre zentrale Stellung in der Fachphilosophie verliert und zur Psyche der Psychologie umdefiniert wird, desto bedeutender wird sie als ein Hauptmotiv der Literatur. Der Durchbruch der neuen psychologischen Literatur findet gleichzeitig mit dem Durchbruch der Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Der umfangreichste Seelenschilderer ist wohl Fjodor Dostojewski (1821–1881), der mehrere Generationen von Schriftstellern, von Knut Hamsun über Franz Kafka und Hermann Hesse bis zu James Joyce und Virginia Woolf, beeinflusste. Freud und Nietzsche ehrten ihn als großen Psychologen, er war angeblich der Einzige, von dem Nietzsche etwas über Psychologie gelernt hat. Seine psychologischen Einsichten in das komplexe Gemüt der Menschen entfaltet er in großen Werken wie Schuld und Sühne (das auch ein Kriminalroman ist, ein Psychothriller, in dem der Schlüssel zur Aufklärung im Gemüt des Verbrechers liegt), dem rätselhaften Der Idiot und dem mehrbändigen Werk Die Brüder Karamasow. Sogar Dostojewskis Schreibweise spiegelt das zusammengesetzte und vielstimmige Innere. Seine Romane sind dialogisch und polyphon, wie M. Bachtin, der wichtigste russische Denker zur Zeit des Stalinismus, bemerkt. Bei der Erforschung des menschlichen Gemüts war die Literatur der Fachpsychologie schon immer einen Schritt voraus. Sie stellt die schöpferischen Kräfte des Gemüts dar und entlarvt verborgene und selbstbetrügerische Motive, wie in den Dramen Ibsens und Strindbergs. Freud benutzte oft Beispiele aus der Literatur, um die irrationalen Mechanismen des Gemüts zu demonstrieren. Unter anderem griff er auf die griechische Antike zurück; das bekannteste Beispiel ist Ödipus. Viele Schriftsteller hatten vor Freud das Unbewusste thematisiert. 1890 veröffentlichte Die Literatur als Bühne der Seele

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Knut Hamsun einen Artikel mit der Überschrift Aus dem unbewussten Seelenleben. Er wollte das literarische und seelische Repertoire um folgende Themen erweitern: Die heimlichen Bewegungen, die unbeachtet in abseits gelegenen Regionen der Seele geschehen, die unberechenbare Unordnung der Gefühle, das delikate Phantasieleben unter der Lupe, die Wanderungen der Gedanken und Gefühle ins Blaue, schrittlose, spurlose Reisen mit dem Gehirn und dem Herzen, seltsame nervliche Aktivitäten, das Flüstern im Blutes, das Gebet im Mark, das ganze unbewusste Seelenleben.

Auch in der Literatur der Moderne ist die Seele ein beliebtes Motiv, inspiriert durch Freud und Nietzsche. Die Hauptwerke der erzählenden Literatur des 20. Jahrhunderts im Englischen, Deutschen und Französischen stellen das innere Seelenleben unter den historisch neuen Bedingungen dar. In Marcel Prousts siebenbändigem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–1927) entfaltet sich das substanzlose innere Seelenleben in einem Zeitstrom aus Erinnerungen und Sinneseindrücken, aufgelöst in einem sich langsam entfaltenden Leben in der Spannung zwischen Leidenschaft und Reflexion, Genuss und Leiden. Das entsprechende Hauptwerk der Zeit aus der englischsprachigen Welt ist James Joyce’ Ulysses (1922). Da dieses Werk eine paradigmatische Funktion in der Genealogie der Seele einnimmt, widmen wir ihm ein eigenes Kapitel, ebenso Kafkas Der Prozess, der von einem verzweifelten, entfremdeten Gemüt handelt, auf das eine Verszeile von Sigbjørn Obstfelder gut passt: »Ich bin wohl auf einem falschen Planeten gelandet«. Während Proust und Joyce die Seele im anhaltenden Strom der Zeit und des Bewusstseins sowie in der Sinnlichkeit der Dinge und Begebenheiten schildern, versucht in der deutschsprachigen Literatur der intellektualistische Robert Musil, ein neues Seelenbild zu schaffen, eine Synthese aus Rationalität und dem Unergründlichen, das die Wissenschaft nicht erfassen kann. Das Ergebnis dieser utopischen Synthese aus »Genauigkeit und Seele«, aus Mathematik und Mystik, aus Einstein und Nietzsche ist Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1932). Der Titel klingt zunächst wie die negative Charakterisierung eines Mannes ohne Integrität, kann jedoch ebenso als illusionslose Beschreibung des modernen substanzlosen inneren Seelenlebens ohne Persönlichkeitskern aufgefasst werden. Das Ziel des seelischen Projekts ist vielleicht (wie im Buddhismus), alles aufzugeben (nicht nur, was bindet und belastet), alle subjektiven Eigenschaften los308

Die Literatur als Bühne der Seele

zuwerden und in einer höheren Einheit geistigen Charakters aufzugehen. Etwas Ähnliches versucht Lila, eine der Hauptfiguren in Elena Ferrantes sogenanntem Neapel-Quartett (2011–2014). Sie arrangiert ihr eigenes Verschwinden, um einer unmöglichen Lebenslage, dem sozialen Druck und den Erwartungen anderer zu entkommen. Lila will nichts anderes als ihre Seele, ihre Souveränität, retten. Nachdem sie alles entfernt hat, was an sie erinnert, verschwindet sie ohne eine Spur. Alles Private und Persönliche abzustoßen, alles Mentale und Materielle, ist das Gegenteil vom Ideal des individualistischen Menschen der westlichen Welt. Dieser soll alle persönlichen Eigenschaften entwickeln, um sich selbst zu verwirklichen und gesellschaftlich zu etablieren. Doch Ulrich, die begabte Hauptperson in Musils Werk, hat seine misslungenen Karriereversuche aufgegeben und sich »ein Jahr Ferien vom Leben« gegönnt. Er tut dies nicht, um sich selbst zu bestätigen, sondern um sich zu ent-realisieren, vielleicht auch, um seine Seele und seine geistige Unabhängigkeit zu bewahren – eine anstrengende und kostspielige Aufgabe in der Massengesellschaft des Nationalsozialismus, deren Voraussetzungen Musil schildert. Auch heute bleibt das Innere, Seelische ein Hauptthema der Literatur. Unter vielen anderen seien hier nur international bekannte Autoren wie Siri Hustvedt und J. M. Coetzee genannt. Coetzee thematisiert die Psyche und the soul direkt. Doch das psychologische Verständnis der Seele auf Kosten des religiösen und philosophischen begann bereits in der Renaissance mit William Shakespeare (1564–1616). Er macht das chaotische und begehrliche Innere des Menschen zur eigentlichen Kampfszene seiner Dramen. Die Art und Weise, wie er das menschliche Gemüt schildert, verbindet ihn in vieler Hinsicht stärker mit unserer Zeit als mit seiner eigenen. Harold Bloom nannte Shakespeare inventor of the human (1999), den Erfinder des wirklich Menschlichen, den ersten modernen Psychologen, der einsieht, dass die Motive der Menschen entscheidend sind, vor allem blinde Begierde. Shakespeare deckt die Motive seiner Protagonisten auf sowie alle Ausflüchte, die sie ersinnen, und alle Ablenkungsmanöver, die sie durchführen, um sie zu verbergen. Den meisten geht es um die Befriedigung ihrer tiefsten Leidenschaften und heimlichen Begierden. Die Seele (soul) wird in seinen Dramen häufig erwähnt, allein 40 Mal im Hamlet, der die Menschenseele am tiefsten aufpflügt. Dort wie im wirklichen Leben zu allen Zeiten geht es um gegensätzliche Gefühle und Leidenschaften, Die Literatur als Bühne der Seele

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die Ambivalenz von Hass und Liebe, Gerechtigkeitssinn und Rachedurst, Edelmut und Machtgier, persönliche und moralische Dilemmas. In diesen inneren Turbulenzen regiert der Zufall. Alles Mögliche kann – und wird – geschehen. Hamlets guter Wille endet mit acht Toten, inklusive seiner selbst. Er ahnt es selbst am Anfang, als der Geist seines Vaters ihm die Rache anträgt und er sich zur Ruhe mahnt: »Till then, sit still, my soul: foul deeds will rise« (I, 2). Hier wüten »thoughts beyond the reaches of our souls« (I, 4). Um den Mörder des Vaters zu entlarven, arrangiert Hamlet ein Schauspiel im Schauspiel, das Claudius’ Seele zwingen soll, sich selbst zu verraten (»could force his soul to his own conceit«, II, 2). Doch seine Ironie und sein Sarkasmus treiben die Geliebte Ophelia in den Wahnsinn und zum Selbstmord. Hamlets Onkel, Königsmörder und König, sieht die verzweifelte Wut seines Neffen: »There’s something in his soul / o’er which melancholy sits on brood« (III, 1). Hamlet selbst muss eingestehen: »My soul is full of discord and dismay« (IV, 1). Hier wird das gesamte Repertoire der Seele in all seiner Tiefe ausgespielt. Shakespeare hat damit schon früh unser Menschenbild vorgezeichnet. Noch heute zitieren wir ihn bewusst oder unbewusst, wenn wir nach Worten für die Bosheit oder die Tugend eines Menschen suchen. Er inspiriert weiterhin Generationen von Schriftstellern, in deren Texten sein Werk oft nachklingt, wie in James Joyce’ Ulysses.

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Die Literatur als Bühne der Seele

Willkommen, Leben! Als Millionster zieh ich aus, um die Wirklichkeit der Erfahrung zu finden und in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffne Gewissen meines Volkes zu schmieden. (Joyce, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann)

BEWUSSTSEINSSTRÖME DER SEELE – JAMES JOYCE’ ULYSSES

Wollte man ein einzelnes Werk hervorheben, welches das Bewusstsein und die Seele des modernen Menschen ausdrückt, würden viele den Ulysses des irischen Schriftstellers James Joyce (1882–1941) wählen. Der Roman erschien 1922, nachdem er jahrelang von Verleger zu Verleger geschickt und abgelehnt worden war, teils aufgrund seiner angeblich undurchdringlichen Form ohne den epischen roten Faden, teils weil er als unsittlich abgestempelt und in den USA sogar gerichtlich verboten war. Als ihn endlich eine amerikanische Buchhändlerin mit literarischem Gespür in Paris herausgab, war er längst von den führenden englisch- und französischsprachigen Literaten als Meisterwerk gelobt worden, denn einige Kapitel waren bereits in Literaturzeitschriften erschienen. Seitdem hat das Werk seinen kanonischen Status behalten. Alle kennen es, wenige haben es gelesen und viele haben es mehrmals vergeblich versucht. Denn die ca. 1000 Seiten haben wenig bis keine dramatische äußere Handlung. Die Handlung spielt sich im Inneren ab, auf der vielstimmigen Oberfläche der Seele und in ihren ungeklärten Tiefen. Die äußere Handlung ist schnell nacherzählt. Sie erstreckt sich über einen Tag und schildert die Wanderung des Protagonisten und betrogenen Ehemanns Leopold Bloom durch Dublin am 16. Juni (der heute als »Bloomsday« in Irland jährlich gefeiert wird) des Jahres 1904. Am Morgen verlässt er das Haus, nachdem er seiner untreuen Ehefrau Molly das Frühstück ans Bett gebracht hat, in dem sie den größten Teil des Tages verbringen wird, bis Leopold spät in der Nacht in Gesellschaft des jungen Autors Stephen Dedalus zurückkehrt, den er im Pub kennengelernt hat. Stephen, das Alter Ego des Autors, ist die Hauptperson der ersten drei von 18 Kapiteln und taucht immer wieder auf. Die Handlung endet Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

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damit, dass Leopold Stephen im Morgengrauen nach Hause begleitet, ehe er sich neben die untreue Molly legt und vorm Einschlafen ihren nackten Hintern küsst. Im letzten Kapitel lernen wir auch Molly durch einen langen inneren Monolog kennen, in dem sie sich an ihr Leben und ihre vielen Liebhaber erinnert. Der letzte hat sie kürzlich verlassen, nachdem er sein Bestes tat, um ihre erotische Begierde zu stillen. Das Werk gilt unter anderem als Joyce’ Hochzeitsgeschenk und Liebeserklärung an seine Frau Nora Barnacle, mit der er am »Bloomsday« 1904 das erste Rendezvous hatte. An jenem Tag gingen sie ein Stück des Weges durch Dublin, den Stephen und Leopold im Roman zurücklegen. Der eigentliche Inhalt des Ulysses besteht aus den Observationen und Reflexionen Leopolds an jenem Tag in Dublin, aus all seinen Einfällen, Gedanken und Gedankensprüngen, Erinnerungen und Seelenqualen, Träumen und Hoffnungen, kurz und gut dem gesamten Bewusstseinsleben Leopold Blooms und zum Teil auch Stephen Dedalus’ (der im Übrigen die Hauptfigur in A Portrait of the Artist as a Young Man ist). Der Journalist Stephen ist in vielen Dingen tüchtiger als die Hauptperson Leopold (weshalb er diesem helfen will). Aber der Anzeigenakquisiteur Bloom ist repräsentativer, vielleicht auch ein besserer Mensch. Auf jeden Fall ist er als der »kompletteste Mensch der Weltliteratur« bezeichnet worden. Er zeigt das Leben in all seiner Erbärmlichkeit, und wie man im Alltäglichen, Ordinären einen modus vivendi findet. Die Frage ist nicht bloß, wie es ihm geht, sondern wie er es nimmt, besonders die Untreue seiner Frau, für die er in der Stadt verspottet wird. Das Werk ist zum größten Teil während des Ersten Weltkriegs entstanden und die aktuellen Probleme, insbesondere der Kampf um die Unabhängigkeit Irlands und das Verhältnis zu England und dem britischen Imperium, gehören zu Text und Kontext. Trotzdem ist es kein politischer Roman. Nationalistische Töne sucht man bei Joyce vergeblich, er äußert sich sogar kritisch zu einigen Anliegen der Nationalisten, zum Beispiel zum Gebrauch des Gälischen. Doch auch der britische Imperialismus bekommt sein Fett ab, zum Beispiel in der parodistischen Darstellung der Nelsonsäule in Dublins Zentrum, die zwei Frauen besteigen, die dem Admiral ihren Hintern zeigen. Joyce war für die irische Unabhängigkeit, aber er hatte keine hochtrabende Meinung über das Irland und das Dublin seiner Zeit. Mit all seinem Elend, der Apathie, der Arbeitslosigkeit und dem Alkoholismus, blieb es dennoch seine geliebte Heimatstadt. Mit 22 Jahren ging er ins Exil, wo alle Bücher, in denen Dublin eine Rolle spielt, ent312

Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

standen. Es ging ihm ähnlich wie Dante, obwohl sein Exil ein freiwilliges war. Er hatte Heimweh und schrieb über die Heimkehr, genauer gesagt die Rückkehr in eine geistige, seelische und kulturelle Heimat, die er in Irland nicht fand. Besonders Stephen repräsentiert diese Utopie, während Leopold auch im persönlichen und wörtlichen Verstand heimkehrt. Den ganzen Tag irrt er durch die Stadt, sehnt sich nach Molly und überlegt, wie er sich mit ihr und seinem Schicksal versöhnen kann. Alles wird durch seine Psyche hindurch erlebt, die so zur eigentlichen Hauptperson wird. Die Seelenqualen, die Joyce’ Figuren erleiden, sind nicht neurotisch und nicht angst- oder schulderfüllt wie Kierkegaards oder Kafkas Phobien. Hier gibt es Sex ohne Scham und Schuldgefühl. Die Scham, die Leopold Bloom fühlt, hängt nicht mit der Sünde zusammen, sondern mit den Schwierigkeiten des Ehelebens, dem seelischen Schmerz nach dem Verlust des Sohnes kurz nach der Geburt und der Verspottung durch andere aufgrund der untreuen Frau. Nun ist der Ulysses kein freudianisches Werk, aber Freuds Gedanken waren ein Teil der Luft, die Joyce atmete. Seine freizügigen sexuellen Beschreibungen rühren nicht nur von Freuds Aufhebung der Tabus her, sondern auch von der allgemeinen Säkularisierung. Joyce war katholisch erzogen, die katholische Bilderwelt mit der Jungfrau Maria im Zentrum und der Dirne als Gegenbild lag ihm gewissermaßen im Blut. Im Ulysses gibt es viele Dirnen. Molly vereint in den Augen Leopolds und des Autors beide Seiten in sich. Wieder geht es darum, das Erhöhte im Trivialen zu erblicken. Nur so kann Leopold in seiner Liebe zu Molly auch Würde erleben, obwohl er weiß, dass sie ihren Liebhaber empfängt, während er auf der Arbeit und in der Stadt ist. Das Entwürdigende und das Würdige sind mit ein und demselben Sinneserlebnis verbunden. Leopold verurteilt Molly nie moralisch. Dies gehört zu seinem Ethos und seiner seelischen Konstitution. Außerdem weiß oder ahnt er, dass er selbst zu Mollys Untreue beiträgt. Er möchte Molly aus Furcht vor einer erneuten Tragödie nicht schwängern, weil sie ihren ersten Sohn eine Woche nach der Geburt verloren haben. Wahrscheinlich gibt es auch ökonomische Gründe, denn Molly ist Sängerin und ihr Liebhaber Impresario. Auch die Dirnen, die er auf seiner Wanderung durch Dublin trifft, verurteilt er nicht. Er weiß, dass sie einmal etwas anderes gewesen sind. In einer von ihnen erkennt er die Frau wieder, die ihm das erste Liebeserlebnis seines Lebens verschafft hat. Auch wenn Freuds Theorien in Kirche und Gesellschaft auf großen Widerstand trafen, fand seine Psychoanalyse bei vielen Künstlern Gehör, Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

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besonders in der Literatur. Neben der sexuellen Thematik befassten sich die Schriftsteller besonders mit der Bedeutung der Kindheit für die Entwicklung der Persönlichkeit. Der freudianische Einfluss zeigte sich nicht nur thematisch, sondern auch in der Form. Freuds Traumdeutung und noch mehr seine Methode der freien Assoziation, um zu entdecken, was sich in den Tiefen der Psyche und den verdrängten Seiten des Gemüts befand, beeinflusste auch die Form des modernen Romans. Der Ulysses gilt nicht zuletzt wegen dieser Form als Hauptwerk der Literatur der Moderne. Ein Großteil des Romans besteht aus dem Stilmittel stream of consciousness (Bewusstseinsstrom), ein Begriff, den William James erfand. Durch die inneren Monologe der Personen bekommen wir Einsicht in das Seelenleben Leopold Blooms, seiner Frau Molly und des Künstlers Stephen Dedalus. Der folgende kurze Ausschnitt ist ein Beispiel dieser Stilistik. Das ganze Kapitel 3 des ersten Teils besteht aus einem kurzen Spaziergang am Strand bei Dublin. Die Darstellung wird von der konkreten Schilderung des Strandes getragen: der Sand, die Wellen und alle sinnlichen Beobachtungen, die Stephen macht, unter anderem von einem Hund, der mit seinem Herrchen spazieren geht und über den Strand läuft. Doch mitten in die konkrete, lebendige Schilderung werden Gedanken, Erinnerungen und Andeutungen an andere Literatur und Philosophie (unter anderem Dante und Hamlet) eingeschossen, und das alles in einem ungebrochenen Strom, in dem man nicht mehr genau weiß, wo man sich in Raum und Zeit befindet – ob im Inneren oder Äußeren, in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Die vielen literarischen Andeutungen und historischen Details, gepaart mit genauer Lokalkenntnis, machen es dem Leser nicht immer leicht zu folgen. (Dieser Abschnitt ist keiner der schwierigsten.) Er kehrte um, er überflog mit prüfendem Blick den Strand im Süden, und wieder sanken seine Füße langsam in neuen Dellen. Der kalte Gewölberaum des Turms wartet. [Wo Stephen zusammen mit zwei Freunden wohnt.] Durch die Schießscharten fallen unablässig die Pfeile des Lichts, so langsam unablässig, wie meine Füße sinken, kriechen der Dämmerung zu auf dem Sonnenuhrboden. Bläuliches Dämmern, Abend, tiefe blaue Nacht. Im Dunkel des Gewölbes warten sie, ihre zurückgeschobenen Stühle, mein Obelisk von Koffer, rund um einen Tisch voll stehengelassener Schüsseln. Wer soll abdecken? Er hat den Schlüssel. Ich will nicht schlafen dort, wenn’s Nacht wird heute. Verschlossene Tür eines schweigenden Turms, umgruftend ihre blinden Leiber, den Panther-Sahib und seinen Pointer. Ruf: keine Antwort. Er lupfte

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Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

die Füße aus dem Gesaug und kehrte um, zurück über die Felsenmole. Nimm alles, halte’s all’. Mit mir geht meine Seele, Form der Formen. So in des Mondes Hundewachen schreit’ ich hin, auf Felsenpfad, schwärzlich in Silbergrau, hör’ Helsingörs versuchungsvolle Flut. (S. 63 f.)

Leopold und Odysseus Ulysses ist kein freudianisches Werk. Es handelt mehr von der Bedeutung allgemein menschlicher, seelischer und existenzieller Motive, was auch im mythischen Titel zum Ausdruck kommt, der auf Homers Odyssee verweist. (Ulysses ist eine entstellte lateinische Version des Namens Odysseus.) Doch bis auf wenige Ausnahmen gibt es keine direkte Bezugnahmen auf Homers Werk. Dennoch fungiert der Titel als Schlüssel zur Interpretation des Romans. Joyce selbst hatte einen Entwurf ausgearbeitet, der auf Motiven und Themen der Odyssee beruhte. In späteren Ausgaben des Romans wurde dieser Entwurf berücksichtigt, indem man den 18 Kapiteln Überschriften mit Namen und Motiven aus der Odyssee gab. Die äußere Handlung von Homers Epos ist in dem Roman internalisiert und durch eine moderne Psyche betrachtet. Der Ulysses schildert eine innere Odyssee mit Andeutungen an Homers Helden, der durch die Welt irrt, ehe er endlich heim nach Ithaka und zu seiner Penelope findet. Homers einleitende Verse könnten als Resümee der Handlung des Ulysses stehen: und litt auf dem Meer viel Schmerzen in seinem Gemüte, / Um sein Leben (psyché) bemüht und die Heimkehr seiner Gefährten. Wenn wir das Meer zum Meer des Lebens und die Mannschaft zu Dubliner Mitmenschen (für die Leopold Bloom Sorge zeigt) umdeuten, handelt auch Ulysses davon, wie Bloom mit manchen Schmerzen im Gemüt durch Dublins Straßen irrt und überlegt, wie er mit intakter Seele und Würde heim zu seiner Liebsten kommt. Dies ist die Grundgeschichte der Seele. Überträgt man sie in die Moderne, kann sie nicht mehr von Helden und Göttern handeln (denn die sind alle tot), sondern nur noch von gewöhnlichen Menschen. Joyce kannte auch »seinen« Nietzsche, insbesondere dessen Körperphilosophie und dessen Angriff aufs Christentum, denen er sich weitgehend anschließt. Doch Nietzsches Übermenschen huldigt er nicht. Odysseus wird durch den ordinären Anzeigenakquisiteur Bloom ersetzt. Beibehalten wird jedoch das Schema der Reise: daheim – fort – daheim. Leopolds Fahrt ist wenig heroisch, aber auch für ihn geht es darum, wieLeopold und Odysseus

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der nach Hause zu kommen nach allen Seelenqualen und Erniedrigungen, die er im Lauf eines Tages erlitten hat. Die Reise muss getan werden, ehe er mehr oder weniger aufrecht heimkehren und sich mit einer Art Seelenfrieden neben seine Molly legen kann. Mit der Referenz auf Homers Mythen gibt Joyce dem Werk eine zusätzliche Bedeutungsebene, obwohl ohne den Titel kaum jemand auf die Idee gekommen wäre, Leopold Bloom mit Odysseus zu vergleichen. Die beiden haben nichts gemeinsam. Odysseus ist ein Held, Bloom ein Antiheld. Genau dies ist jedoch der Punkt. Joyce will das ordinäre Leben aus dem Trivialen erheben und ihm eine Bedeutung geben. Sein Alter Ego trägt den mythischen Namen Dedalus, den Joyce eine Weile als Pseudonym benutzte. Im griechischen Mythos ist Dedalus der Künstler und Schmied, der die Wachsflügel für sich und seinen Sohn Ikarus konstruiert, damit sie der Schwerkraft trotzen und wie die Götter fliegen können. Im Ulysses geschieht dies kraft der epischen Kunst. Aber um Ikarus’ Fall zu vermeiden, begnügen Stephen und Leopold sich mit mentalen Höhenflügen und bleiben existenziell mit den Füßen auf dem Boden. Joyce besitzt die Gabe, das Konkrete und Alltägliche, zum Beispiel Stephens Wanderung am Strand, in ein Licht zu rücken, das größere Zusammenhänge aufzeigt. Er selbst nannte diese Situationsbilder Epiphanien, Erleuchtungen oder Offenbarungen, die hier jedoch nichts Göttliches, sondern ganz diesseitige, menschliche Dinge offenbaren. Mit solchen Epiphanien fängt Joyce die komplex zusammengesetzte Psyche in all ihren Facetten und Perspektiven als Ganzheit ein. Das Unergründliche, das eigentlich unübersetzbar ist, kann nur durch eine künstlerisch gelungene Sprache eingefangen werden. So funktioniert die Epiphanie. Wenn der Bewusstseinsstrom eines ganzen Tages unerschöpflich und unübersetzbar ist, wie unerschöpflich und unübersetzbar ist dann erst der Seeleninhalt eines ganzes Lebens? Es ist ein Paradox der Kunst, dass sie mit prägnanten Bildern und verdichteten Situationsbeschreibungen die Essenz eines ganzen Lebens einfangen kann. In den Epiphanien steckt die Quintessenz der Seele, die momentane Offenbarung von etwas Größerem als dem konkreten Inhalt, ein Schnappschuss, der das Individuum in einen verpflichtenden Zusammenhang stellt. Ulysses ist mit solchen Offenbarungen gespickt, die wie ein Blitz das Innere der betreffenden Personen erleuchten. Sie bieten Einblick in das, was den Menschen aufrechterhält, seinem Leben Sinn und der Person die Kraft gibt, das Unerträgliche zu ertragen. 316

Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

Wie kann sich Leopold Bloom über die Schmähung als Hahnrei und Mollys Untreue hinwegheben? Wie kann er zu seinem Ithaka und seiner Penelope nach Hause finden? Wie kann er vermeiden, seine Seele in Hass und Bitterkeit zu verlieren? Wie kann er Seelenfrieden finden, anstatt auf seiner nächtlichen Wanderung von Pub zu Pub (mit einem missglückten Bordellbesuch) vor die Hunde zu gehen? Was lässt ihn seine Würde und Integrität behalten? Unter anderem, dass er kein Held sein will und auf Rache am Liebhaber seiner Frau verzichtet. Er akzeptiert es, ein Antiheld zu sein, und findet seinen modus vivendi unter seiner conditio humana, den ihm gegebenen Bedingungen. Wir müssen uns Stephen Dedalus’ Erklärung ins Gedächtnis rufen, die als Motto über diesem Kapitel steht. In der Welt der Wirklichkeit gibt es wenig Helden (unter anderem, weil sie der Alltag meist entheroisiert). Wenn jemand bewusst ein Held sein will, geht es meistens schief. Held (oder das Gegenteil) wird man eher durch Zufall, wenn einen die Umstände zwingen, sich selbst zu übertreffen. Der Alltag zwingt zur Anerkennung der faktischen Verhältnisse. Wer nicht an den Weihnachtsmann oder die Wundergeschichten der Religion und ein paradiesisches Jenseits glaubt, kann sich leichter den Wundern des Alltags öffnen, den Augenblicken, die plötzlich eine Sinnesstimmung schaffen, die den Alltag in einen größeren Zusammenhang bringen. Leopold erlebt solche Augenblicke zum Beispiel, als er Stephens Vater, der täglicher Stammgast im Pub ist, eine Opernarie über unglückliche Liebe singen hört. Mit seiner klangvollen Stimme und dem romantischen Text zieht Simon ihn aus dem Elend und er akzeptiert sein Unglück als Teil des Lebens. Vielleicht kann er sogar etwas dagegen tun, denn als er im Morgengrauen heimkommt, sagt er seiner Frau, dass er an diesem Tag das Frühstück ans Bett gebracht haben will. Hat er beschlossen, das Bett und Molly zurückzuerobern? Darauf gibt der Roman keine Antwort, vielmehr endet er mehrdeutig. Homers mythische Welt ist nicht die einzige literarische Referenz im Ulysses. Das literarische Erbe einer ganzen Kultur klingt mit, insbesondere auch Dantes Göttliche Komödie und Shakespeare, mit dessen Hamlet das Werk in einer Art Dialog steht. Joyce schreibt jedoch eine menschliche Komödie, durchströmt von Humor und Witz. Das Ziel ist nicht die erhöhte, reine Jungfrau, sondern den Ausgangspunkt zu akzeptieren, das unreine und wenig idealisierte Leben, sowohl das natürliche als auch das gesellschaftliche, mit sozialem Elend, Alkohol und allen menschlichen Tragödien, die daraus folgen. In Dantes Welt landen die Seelen aufgrund einer Leopold und Odysseus

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einzigen Todsünde wie Ehebruch (oder Hurerei, wie es biblisch heißt) in der Hölle. Im vielfältigen Alltag kommt es jedoch nicht auf eine einzige Tat an, für die man eine Held wird oder bei der man versagt und in alle Ewigkeit büßt, sondern darauf, wie man 24 Stunden lang jede Minute meistert. Das ist Joyce’ Lebensprogramm, treffend ausgedrückt von dem norwegischen Dichter Olav H. Hauge: »Es ist möglich, im Alltag zu leben.« Nicht eine Tat oder ein Fehltritt erlöst oder verdammt die Menschen, sondern ihre Haltung und ihr Charakter, ihre Art, sich nützlich zu machen und mit dem Leben fertig zu werden, damit sie ihre Integrität und ihren Selbstrespekt behalten. Die Rechnung ist voll und ganz irdisch, was in Leopolds Bekanntenkreis wortwörtlich zum Ausdruck kommt, wenn sie als Freundschaftsdienst einander Geld leihen. Die meisten sind arm und bewältigen den Alltag durch eine Art Gemeinschaftskasse, bei der alle Kredit haben. Auch im Liebesleben ist nicht die erhöhte und reine Beatrice das Ideal. Das Leben ist ebenso unrein wie die Personen. Ehebruch und Untreue sind keine Todsünden, auch wenn sie den Partner grob kränken. Sie sind auch kein Tabu, wie in der Bürgerschaft, die Ibsen schildert, von dem Joyce ebenfalls beeinflusst war. Für Bloom gibt es, wie für Freuds Patienten, keine Tabus oder Traumen, über die er nicht reden könnte. Im Lauf des Tages und der Nacht erfahren wir mehr über Leopolds und Mollys Lebenslage. Sie respektieren einander und haben warme Gefühle füreinander. Auch die Trauer um den verlorenen Sohn, die Leopold stärker bedrückt, teilen sie. Medizinisch lässt sich nicht sagen, ob ein zweites Kind auch sterben würde, doch mental ist die Furcht reell für Bloom, der sich deshalb einen nach katholischer Ethik vollzogenen Beischlaf »mit Ejakulation des Samens in das dafür naturbestimmte weibliche Organ« (S. 937) versagt. Stattdessen betreiben sie die »Pantomime der Liebe«, wie Hjalmar Söderberg es ausdrückt. Dass Molly einen Liebhaber hat, kann in ihrer ökonomischen Lage durchaus auch finanzielle Gründe haben. Leopold denkt sich von a bis e mögliche Rechtfertigungen für ihre Untreue aus. Punkt e nennt eine »bevorstehende[ ] Konzerttournee durch die Provinz« inklusive »gemeinsamer laufender Ausgaben, [mit dem Impresario/Liebhaber] geteilter Nettoerträge« (S. 932). Leopold akzeptiert, dass er »weder der erste noch der letzte noch der einzige und alleinige ist in einer Reihe, die im Unendlichen beginnt und ins Unendliche sich fortsetzt.« (S. 930) Trotz seiner Eifersucht beschuldigt er Molly nicht. Er beherrscht die Kunst der Resignation, durch die er Sinnesruhe erreicht. Leopold vervielfacht sein Leiden nicht wie Hamlet, der acht Tote hinterlässt, ohne der Wahrheit über den Tod des Vaters näher318

Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

zukommen. Der Antiheld bricht den Teufelskreis der Heldenethik und verzichtet auf Rache, Hass und Gewalt. Dies ist ein bedeutender Schritt in einer Welt voller Gewalt. Leopold zeigt auch Sorge um andere Menschen, unter anderem den jüngeren Stephen, den er vor Schwierigkeiten rettet, als er ihn sturzbetrunken aus dem Bordell zieht und mit zu sich nach Hause nimmt, wo er ihm Essen gibt. Insgesamt zeigt Bloom viele gute Eigenschaften, jedoch nicht von der Sorte, die sozialen Erfolg oder Status verleiht. Er ist im vieler Hinsicht »der neue Mann« mit weicheren Werten, wie der Joyce-Forscher Bjørn Tysdahl betont: Sein sanftes Gemüt, seine Friedfertigkeit, seine Treue gegenüber Molly, sein Erfindungsgeist im praktischen Leben (eine Eigenschaft, die er mit Odysseus teilt), seine Skepsis gegenüber Ideologien und seine Fürsorglichkeit werden aus vielen Blickwinkeln geschildert, zwar oft ironisch, doch diese Werte verschwinden nicht in den vielen unbeantworteten Fragen und extravaganten Stilmitteln. Entsprechend wirkt das Porträt des jungen Dichters Stephen zusammen mit der überschäumenden Fantasie bei Erzähler und »Arrangeur« [Autor] wie eine Huldigung an die literarische Kunst, insbesondere an die Freiheit, den Mut und die Fröhlichkeit, die sie repräsentiert. (Tysdahl 2003, S. 336)

Einfache und ganze Seelen Shakespeare und seine Figur Hamlet sind als »Gesprächspartner« an vielen Stellen des Ulysses präsent, sowohl für den Erzähler als auch für die Romanfiguren. Dabei geht es um grundlegende existenzielle Fragen. Es beginnt bereits im ersten Kapitel, als Stephens Mutter sich (analog zu Hamlets Vater) ihrem Sohn im Traum zeigt. Sie klagt ihn an, er sei für ihren Tod verantwortlich, weil er ihren letzten Wunsch am Sterbebett verweigerte und nicht für sie betete. Den letzten Wunsch eines Sterbenden zu missachten gilt als Gefahr für das eigene Seelenheil und nun sucht ihn die Mutter im Traum heim: »Ihre verglasenden Augen, anstarrend aus dem Tode, um meine Seele zu erschüttern und zu beugen.« (S. 17) Doch Stephen weist auch das Gespenst zurück und mit ihm die Forderung nach Reue, er will nicht vor der katholischen Kirche auf die Knie fallen. Auch die Privatperson Joyce verweigerte den Kniefall und den Empfang der Gnade, was im tief katholischen Irland Aufsehen erregte. Stephen ist eher ein Agnostiker, er problematisiert die unsterbliche Seele und den Glauben an Gott. Auch Einfache und ganze Seelen

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Leopold, der jüdischer Abstammung, aber christlich erzogen ist, zeigt keine Anzeichen des Glaubens, befolgt jedoch die Rituale, soweit es die Gesellschaft von ihm verlangt. Der Roman ist durchzogen von scharfzüngiger Kritik an der katholischen Kirche, aber gleichzeitig gespickt mit Referenzen an den katholischen Glauben, die Kirchenväter und die Rituale der katholischen Kirche. Der Autor befindet sich im Dialog mit der katholischen Kirche und benutzt sie als einen Baustein des neuen Bewusstseins, das er für sich selbst und seine Gegenwart formt. Aus dieser Perspektive ist es verständlich, dass Stephen sich auf Aristoteles’ diesseitigen Seelenbegriff beruft, und nicht auf Platons: »Der Gedanke ist das Gedachte des Denkens. Ruhige Klarheit. Die Seele ist gleichsam alles, was ist: die Seele ist Form der Formen. Ruhe plötzlich, riesenhaft, weißglühend: Form der Formen.« (S. 37) Wie Aristoteles sieht er die Seele als Formprinzip, das dem Körper und dem Leben Form gibt. Einem Künstler, der ja mit der Form arbeitet, passt dieser Seelenbegriff allemal. Ohne ästhetisch qualifizierte Form gibt es keine Kunst – und keine Seele. Aus der Esse der Seele formt er als Form des Autors ein Bewusstsein, das wiederum die Seele formt. Bewusstsein und Seele hängen untrennbar zusammen. Die Seele ist die Form der Formen, die das Bewusstsein formt, wenn es sich auf das besinnt, was dem Bewusstsein Integrität gibt. Der ganze Ulysses kann als eine solche Bewusstseinsform gesehen werden, die in der Esse der Künstlerseele geschmiedet ist. Die Frage nach der Seele und ihrer Unsterblichkeit liegt dem gesamten Werk zugrunde. Im 16. Kapitel (Eumaeus) greift Stephen die Diskussion um den aristotelischen Seelenbegriff wieder auf, als er (Telemachos) und Bloom (Odysseus) von Pubs und Bordell auf dem Weg nach Hause (Ithaka) in der Kneipe und Ruhestätte des Kutschers (der Ziegenhirt Eumaeus) einkehren, wo ein versoffener Seemann von der lebenslangen Reise auf den sieben Weltmeeren und der Frau, die sieben Jahre lang gewartet hat (vgl. Penelope), erzählt. Die Wichtigkeit eines sicheren Hafens bekommt symbolische Bedeutung im Gespräch zwischen Bloom und Stephen, der einen mächtigen Kater und deshalb ein halb offenes Ohr für Reue hat. Die Andeutungen des gestrandeten Seemanns über den Fliegenden Holländer und ähnliche Todeszeichen (das Gespenst der Mutter steckt sicher noch in Stephens Hinterkopf) aktivieren Minervas Eule. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Körper und Seele wird geradezu aufdringlich, als eine alte Hure ihr »verglast[es] und abgehärmt[es]« Gesicht zur Tür hineinsteckt, was Bloom peinlich berührt, weil er »sogleich das nämliche 320

Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

Gesicht wiedererkannt, das er am Nachmittag flüchtig am Ormond Quay erblickt hatte« (S. 788). Es ist eine Frau, mit der er vor langer Zeit eine Beziehung hatte. Deshalb ist er froh, dass der Wirt sie mit den Worten »Die alte Fregatte« fortjagt. Bloom gibt sich empört, »wie eine so elende Kreatur wie diese […], der man die Krankheit ja förmlich anriecht, die Stirne besitzt, sich hier blicken« zu lassen, doch er besinnt sich sogleich und fügt hinzu: »Natürlich, letzten Endes dürfte ja wohl irgendein Mann für ihren Zustand verantwortlich sein.« (S. 789) Stephen bemerkt dazu: In diesem Lande verkaufen die Leute viel mehr, als sie je gehabt hat, und machen ein Bombengeschäft dabei. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib verkaufen und die Seele nicht können verkaufen. Sie ist eine schlechte Geschäftsfrau. Sie kauft teuer ein und verkauft billig. (ibd.)

Einer der anderen Gäste fügt hinzu: Sie, als guter Katholik […], glauben an die Seele. Oder meinen Sie die Intelligenz, die Hirnkraft als solche, im Unterschied zu jedem äußeren Gegenstand, dem Tisch, oder sagen wir, der Tasse dort? (S. 790)

Die tiefsinnige Frage überrumpelt Stephen, und er muss »eine schier übermenschliche Anstrengung […] unternehmen, um sich zu konzentrieren und zu erinnern«. Er versucht es mit einer philosophisch hochtrabenden Antwort, in der er die Theologie trivialisiert und die Seele als »einfache [simple] […] Substanz« bezeichnet (ibd.). Bloom widerspricht: Einfach? Ich glaube nicht, daß dies die rechte Bezeichnung ist. Natürlich räume ich ein, […] daß einem eine einfache Seele alle Jubeljahre einmal über den Weg kommt. (S. 791)

Bloom nimmt die Frage des anderen Gastes wieder auf und fragt, ob es nicht fruchtbarer sei, die Vernunft und den Verstand zu fassen, als die Seele. Mit ihnen kann man entdecken, erklären und Dinge erfinden, wie Röntgen und Edison oder Galilei, »aber ganz anders sieht die Geschichte doch aus, wenn Sie sagen, Sie glauben an die Existenz eines übernatürlichen Gottes.« (ibd.) Damit deutet Bloom an, dass sowohl die unsterbliche Seele als auch Gott Erfindungen der menschlichen Vernunft sind. Er geht noch weiter und lehnt die biblischen Quellen, auf die Stephen sich bezieht, Einfache und ganze Seelen

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als »sämtlich echte Fälschungen […], höchstwahrscheinlich von Mönchen in den Text hineingetragen« ab (ibd.). Wer daran glaube, sei eine »einfache Seele[ ]«, was er mit dem Beispiel der blinden Götterverehrung der Azteken belegt (S. 795). Bloom holt die Diskussion auf den Boden des Alltags zurück, mit einem rein anthropologischen Verständnis des Seelenlebens. Der Hinweis auf einfache Seelen steht als Kontrast zu komplexen Seelen, die unversehrt sind und Raum für Zweifel und Fragen über den Zusammenhang der Dinge haben und die keine dogmatischen Interpretationen akzeptieren. Diese Haltung zeigt sich im ganzen Werk und kommt in Blooms Reflexionen über das Leben, die Stadt und deren Bewohner zum Ausdruck, die er auf dem Heimweg äußert. Er zeigt eine tragfähige Haltung, die ihn heim zu seiner Penelope führt und die Ehe rettet. Diese bodenständige Auffassung der Seele kommt auch im sechsten Kapitel (Hades) zum Ausdruck, das Blooms Fahrt zu einer Beerdigung mit Bekannten (darunter Simon Dedalus) und die Beerdigung selbst schildert. Hier wird Odysseus’ Treffen mit den toten Seelen im Hades zu einem Treffen mit lebendigen Seelen umgestaltet, die zum Gegenstand scharfzüngiger Kommentare werden, als die Kutsche sie auf dem Weg zur Kirche passiert. Auch auf der Beerdigung selbst werden die Kommentare nicht weniger respektlos. Wieder dominieren Blooms höchst diesseitige Gedanken und die Vorstellung einer unsterblichen Seele weicht dem Bild von Verwesung und Auflösung. »Fliegen kommen ja schon, bevor einer überhaupt richtig tot ist. Haben Wind gekriegt von Dignam. Der Gestank wär ihnen schnurzegal.« (S. 162) Auch an die Auferstehung des Leibes glaubt Bloom nicht, auch diesem Dogma nähert er sich trivialisierend an. Als sein Nachbar feierlich die Predigt kommentiert: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Das packt einen doch im innersten Herzen« (S. 149), malt er sich aus, wie es am Jüngsten Tag funktionieren soll, wenn eine höhere Macht versucht, die Knochen und verwesten Körperteile zusammenzufügen. Für den Toten haben diese Worte keine Bedeutung, denn das Herz ist nicht der Sitz der Seele, nur der Gefühle, die mit dem Toten gestorben sind: Dein Herz vielleicht, aber was solls dem Burschen in dem sechs Fuß mal zwo da, der die Radieschen von unten besieht? Bei dem gibts nichts mehr zu packen. Sitz der Gemütsbewegungen. Gebrochenes Herz. Eine Pumpe doch letzten Endes, die tausende von Gallonen Blut täglich umwälzt. Eines schönen Tages verstopft sie sich, und man ist erledigt. Haufenweise liegen sie hier herum: Lungen, Herzen, Lebern.

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Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

Alte rostige Pumpen: einen Schmarren was andres. Die Auferstehung und das Leben. Wenn man erst mal tot ist, ist man tot. Dieser Einfall mit dem jüngsten Tag. Die ganze Bagage aus ihren Gräbern trommeln. Lazarus, komm herfür! Und er kam herfünf, und Pustekuchen. Alles aufstehn! Jüngster Tag! Jeder grapscht wie wild nach seiner Leber, seinen Glotzern und den restlichen Siebensachen. Dabei findet er doch nischt mehr wieder an dem Morgen. Ein Pennyweight Staub bloß noch im Schädel. Zwölf Gramm ein Pennyweight. (ibd.)

Die letzte Zeile ist eine Anspielung auf Hamlet mit dem Schädel in der Hand und die Vorstellung, dass die Seelen gewogen werden. Die Totengräber-Szene des Hamlet klingt mit, als Leopold und seine Bekannten über den Friedhof gehen. Wie bei Shakespeare repräsentieren die Totengräber eine Degradierung der religiösen Transzendenz. Auch Blooms Gefährten brechen die metaphysischen Reflexionen mit ihren Kommentaren über die traurigen Gestalten beim letzten Geleit. Der Vorstellung vom ewigen Leben kommt Bloom allerhöchstens in seiner Bemerkung über den organischen Kreislauf unter der Erde nahe: […] der Boden wird unbedingt fett bei Leichendüngung: Knochen, Fleisch, Nägel, Beinhäuser. Grauenhaft. Werden grün und rosa beim Verwesen. In feuchter Erde verfaulen sie schnell. […] Natürlich leben die Zellen weiter, oder was sie sonst sind. Verwandeln sich bloß. Praktisch das ewige Leben. (S. 153)

Aus dieser Perspektive ist es natürlich sinnlos, für die Seelen der Verstorbenen zu beten: Vernünftiger, das Geld zu wohltätigen Zwecken auszugeben, für die Lebenden. Betet für die Ruhe der Seele von. Tut das denn wirklich mal einer? Lassen ihn ins Grab rutschen und sind mit ihm fertig. Wie eine Kohlenschütte runter. (S. 159)

Mit der Absicht, »die Wirklichkeit der Erfahrung zu finden und in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffne Gewissen meines Volkes zu schmieden«, wie Joyce’ Alter Ego es ausdrückt, wird das Transzendente degradiert. Joyce zeigt, welche Rolle die Religion im Leben der Menschen spielt: die Flucht vor Alltagsproblemen – dieselbe Rolle wie der Alkohol, dessen Funktion und Auswirkungen im Ulysses ausführlich geschildert werden. Diese direkten und indirekten Gedanken über die Seele sind ein Teil des Ulysses als eines Werks über die moderne Psyche. Doch nicht die expliziten Einfache und ganze Seelen

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Reflexionen Leopolds und anderer über die Seele machen die Seele in der Wirklichkeit aus; sie sind nur ein Teil von ihr und bestimmen die Form mit, die sie mit der Zeit annimmt. Dies vermittelt das Bild einer Seele ohne Substanz und Zentrum, einer komplex zusammengesetzten, heterogenen Seele, die aus dem Bewusstseinsstrom und den darin enthaltenen Gefühlen und Haltungen konstituiert wird und die Leopold als zusammengesetzte Integrität formt. Wir treffen also auf eine gesunde und vitale Seele, in all ihrer Alltäglichkeit. Sie leidet zwar ihre Qualen, braucht aber keine psychiatrische Therapie. Hier können wir sagen, dass die freudianische Psyche, die reif für die Therapie war, überwunden ist. Mit Bloom sehen wir ein Individuum, für das Seele und Psyche zwei Wörter für dieselbe Sache sind. Das innere Seelenleben ist ein zusammenhängender Bewusstseinsstrom, in dem das Unwesentliche das unaussprechliche Wesentliche umringt. Als Seelenschilderung hat der Ulysses alle Aspekte, die zu einer voll entwickelten und intakten Seele gehören. Deshalb wird Leopold Bloom auch der »kompletteste Mensch der Weltliteratur« genannt. Das Werk enthält sowohl das Universelle als auch das Individuelle, das Allgemeine in Form europäischer Kultur und das Spezifische in Form irischer Kultur und irischen Unabhängigkeitskampfs. All dies konzentriert sich im Leben der Hauptfigur. Der persönliche Aspekt ist entscheidend, seit die Seele ein exklusiv individuelles Anliegen geworden ist. Doch die individuelle Seele steht stets auch in einem größeren Kontext. Je mehr sie mit der allgemeinen und universell gültigen Seele übereinstimmt, desto tiefer und intakter wird sie. Eine eingeengte Seele, die sich ganz auf das Private konzentriert, hat keine Interessen, sie ist das, was Bloom eine einfache Seele (a simple soul) nennt. Eine umfassendere Seele als im Ulysses gibt es nicht, weil sie im Prinzip alles beinhaltet. Obwohl das Werk nur 24 Stunden im Leben dreier Personen schildert, ist sein Inhalt so reich, dass eine allumfassende Interpretation oder Wiedererzählung praktisch unmöglich ist. Sie ist ebenso unmöglich, wie den Inhalt der Seele eines gut ausgerüsteten, modernen Menschen nach außen zu kehren, denn die Seele ist zusammengesetzt aus Eindrücken und Gedanken, aus Willen und Kräften, die sich nicht in einer linearen, epischen Erzählung einfangen lassen. Die Seele ist ein unbeständiges, kaleidoskopisches Bild, wie ein modernistisches Gemälde, in dem Szenen und Motive Schicht für Schicht übereinanderliegen. Es wurde immer wieder übermalt oder überschrieben, wie ein Palimpsest. In all dieser Vielfalt gibt es etwas, das die Seele zusammenhält, bleibende Werte und Haltungen in einem relativen und relationalen Funktionsuniversum, die sie konstituieren und ihr Integrität geben. 324

Bewusstseinsströme der Seele – James Joyce

Ich glaube an die Lust des Fleisches und die unheilbare Einsamkeit der Seele. (Hjalmar Söderberg)

DIE VERBORGENE SEELE – KAFKA UND DER PROZESS

Während Joyce die Seele als Bewusstseinsstrom schildert, würden viele sagen, dass Franz Kafka (1883–1924) die unergründlichen und unbewussten Tiefen der Seele ausmalt. Joyce erzählt von einer ziemlich gesunden, »normalen« Seele, die auf gutem Fuß mit ihrer Umgebung steht, Kafka stellt das Gegenteil dar, ein gespaltenes Seelenleben im Kampf mit sich selbst. Dies ist das Hauptmotiv seiner unvollendeten Romane, Erzählungen, Tagebücher und Skizzen. Kafkas Figuren (er selbst eingeschlossen) haben ein ungeheuer kompliziertes Verhältnis zu ihren Mitmenschen und der Welt, in der sie leben. Kafka schildert den seelischen Prozess so, dass die äußeren Bedingungen nach innen gekehrt werden, als Bild der seelischen Spannungen. Am deutlichsten wird dies in seinem Hauptwerk, dem unvollendeten Roman Der Prozess, der 1925 posthum erschien. Neben dem psychischen Komplex, der oft freudianisch interpretiert wird, zieht sich ein weiterer seelischer Konflikt durch Kafkas Werk, der nicht direkt zum Ausdruck kommt. Darin geht es um die Seele als Träger grundlegender Werte. Diese Seele ist nicht gespalten, aber sie leidet unter den herrschenden Bedingungen und sehnt sich nach Besserem. Man kann also bei Kafka zwischen der Psyche im psychologisch-freudianischen Verstand und der Seele im persönlich-existenziellen Verstand unterscheiden. Letztere geht vielleicht in die metaphysisch-religiöse Richtung, obwohl das Religiöse nicht direkt ausgedrückt wird. Die Unterscheidung der beiden Seiten des Seelenlebens fällt unterdessen nicht leicht, weil sie meist miteinander verwickelt sind. Im Prozess wird die Seele kein einziges Mal wörtlich genannt, dennoch geht es letztendlich um sie. Die Hauptperson Herr K. leidet unter Entfremdung und Verzweiflung, aber auch daran, dass er im Inneren, das heißt in der Seele, keinen Sinn im Leben findet. Die verborgene Seele – Kafka

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Kafkas Literatur ist in hohem Grad eine Bloßlegung seiner eigenen Psyche, eine künstlerische Verarbeitung und Transformation seiner eigenen seelischen Spannungen. Kafka war das, was Knut Hamsun einen »Ausländer des Daseins« nannte. In den jüdischen Vierteln Prags lebte er in einer Art innerem Exil als Fremder unter seinen eigenen Leuten und schrieb für die Schublade, wo seine Werke ohne den einzigen Freund Max Brod auch geblieben wären. Als Kafka todkrank wurde, bat er Brod, alles zu vernichten, was er nicht selbst schon vernichtet hatte: Briefe, Tagebücher, Skizzen und seine gesamte Prosa. Zum Glück der Nachwelt brach Brod das Versprechen und publizierte die Schriften posthum. Einige der psychischen Konflikte in Kafkas Leben erinnern an Kierkegaard, in dessen Darstellung der Angst er sich wiedererkannte. Es war, als hätte er sie selbst geschrieben. Kierkegaards Verhältnis zu Regine erinnert an Kafkas Verlobung mit Felice, die er zwischen 1914 und 1917 zweimal brach. Die größte Ähnlichkeit lag im Verhältnis zum Vater, das in Kafkas Fall jedoch wesentlich brutaler war. Kafka lebte unter ganz anderen Verhältnissen als Kierkegaard, in einer polyglotten, multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft und in einer Krisenzeit. Für uns ist es wichtig zu untersuchen, wie die neue Psyche des 20. Jahrhunderts in Kafkas Werk zum Ausdruck kommt. Von besonderem Interesse ist die Weiterführung eines Gedankens von Kierkegaard, nämlich die Unterscheidung zwischen der Psyche im psychologischen Verstand (wie sie auch Freud erklärte) und der Seele als ethisch-existenzielle und religiöse Dimension. Teile von Kafkas eigenem Seelenleben lassen sich psychoanalytisch verstehen, besonders das Verhältnis zu seinem Vater und der Sexualkomplex, aber das Übrige lässt sich mit Schulpsychologie nicht erklären. Es gibt Gegensätze und Triebkräfte in der Psyche, die so tief stecken, dass das menschliche Gemüt an sich wie eine absurde Einrichtung erscheint. Wenn das persönliche Innere und das Äußere nicht zusammenpassen, wird das Leben absurd. Obwohl die Seele wie eine unergründliche Tiefe und ein Chaos erscheint, hat sie trotzdem eine ontologische Dimension, was die Gedanken auf einen metaphysischen Seelenbegriff hinleitet. Obgleich Kafka kein gläubiger Jude war, zeigte er in seinen letzten Lebensjahren Interesse für den Mystizismus in der jüdischen Tradition, für den Talmud und den Kabbalismus, den seine Vorväter mütterlicherseits praktiziert hatten. Doch er glaubt nicht an eine substanzielle und unsterbliche Seele. Sein Seelenbild ist rein anthropologisch und existenziell. Er sprengt sowohl 326

Die verborgene Seele – Kafka

den psychologischen Determinismus als auch ein ethisch-existenzielles Verständnis der Seele und lässt die Möglichkeit einer Transzendenz in der Immanenz. Die psychische Dimension in Kafkas Büchern kann absurd, aber auch erhaben sein. Absurd ist sie, wenn der Geist auf Widerstand trifft und verkümmert. Doch in aller Sinnlosigkeit gibt es auch etwas, das ihn über das Leiden erhebt, wie in manchen Augenblicken des schöpferischen Schreibprozesses und in Begegnungen mit der Liebe. Das heißt, dass es trotzdem etwas Überschreitendes in der Menschenseele gibt, das sich jedoch nicht für ein religiöses Seelenbild einspannen lässt. Es gibt etwas im Inneren des Menschen, das ihn mit dem Geistigem verbindet und größer ist als der Einzelmensch. Im Gegensatz zur Psyche ist es nicht gespalten. Diese heilende Kraft nennt Kafka das Unzerstörbare (vgl. Sørensen 1992, S. 232). Es ruht wie ein Gesetz ohne formulierte Gesetze im Menschen. Mit dieser Quelle des Daseins Kontakt zu haben bedeutet »das Unzerstörbare in sich zu befreien oder richtiger: sich selbst zu befreien oder richtiger: unzerstörbar zu sein oder richtiger: sein«. Kafkas Literatur ist ein Versuch, trotz einer zerstörerischen Spaltung das Unzerstörbare anzurufen: Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft. (Tagebuch 18. Oktober 1921)

Diese überschreitende Kraft spürte Kafka als schaffender Sprachkünstler. Erst wenn er schrieb, in den göttlichen Augenblicken, in denen er Ruhe fand, wurde er er selbst. Dann trat die innere Verwandlung ein, die er in seinen Tagebüchern beschreibt: Zweieinhalb Tage war ich – allerdings nicht vollständig – allein und schon bin ich, wenn auch nicht verwandelt, so doch auf dem Wege. Das Alleinsein hat eine Kraft über mich, die nie versagt. Mein Inneres löst sich (vorläufig nur oberflächlich) und ist bereit, Tieferes hervorzulassen. (26. Dezember 1910)

Die verborgene Seele – Kafka

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Der Prozess als Lebensbilanz Das ergiebigste Beispiel von Kafkas Seelenschilderung ist Der Prozess. Er beginnt mit den Zeilen: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« Der Roman erzählt, wie Herr K. auf seine Verhaftung und den bevorstehenden Gerichtsprozess reagiert und seine Unschuld beteuert. Da er nicht inhaftiert wird, kann er seinen Alltag wie gewohnt fortsetzen und zur Arbeit gehen. Er weiß nicht einmal, wofür er angeklagt ist. Schließlich geht er zu einem Anwalt und erfährt, dass auch viele andere angeklagt sind und viele Prozesse laufen. Er versucht, seine Sache zu vertreten, doch dies misslingt im Gang durch die vielen Instanzen eines völlig unvorhersehbaren Rechtssystems, in dem juristische, moralische, erotische und andere Aspekte auf rätselhafte Weise miteinander verschmelzen. Das gespenstische System mit seinen anonymen Vertretern trägt freimaurerische Züge. Der Prozess saugt ihn mehr und mehr auf, bis er all seine Zeit und Kraft beansprucht, während die Verhandlung sich mehr und mehr von einem Rechtsprozess in einen mysteriösen psychischen Prozess verwandelt, in dem Josef K., sein Leben und seine Existenz verteidigt werden müssen. In einem Brief an Max Brod vom 20. November 1917 kommt zum Ausdruck, wie eng Der Prozess mit Kafkas Privatleben zusammenhängt. Er schreibt, er habe nicht gelebt, sondern nur das Leben anderer betrachtet, in der Stadt, in der Familie, auf der Arbeit, in der Öffentlichkeit und sogar in seinen Liebesbeziehungen. Er existiert neben allem, auch neben sich selbst, und leidet daran. Kafka repräsentiert auf dramatische Weise das Leiden, das durch persönliches und soziales Außenseitertum (wie es heute heißt) hervorgerufen wird. Wie viele Jugendliche in unserer Zeit, zog er auch Selbstmord in Betracht. Es war keine Feigheit, die ihn davon abhielt, sondern die Sinnlosigkeit, in der suizidale Gedanken endeten. In diesem Zusammenhang zitiert Kafka in einem Brief an Brod aus dem Manuskript des Romans. Über Josef K. (alias Franz Kafka – Franz und Josef sind die Namen des Kaisers) setzt er die Diskussion mit sich selbst fort: »Du, der Du nichts tun kannst, willst gerade dieses tun? Wie kannst Du den Gedanken wagen? Kannst Du Dich morden, musst Du es gewissermaßen nicht mehr« (Pasley 1989, S. 195). Später dachte Kafka nicht mehr an Selbstmord, doch die Schlussfolgerung stand fest: »Ein elendes Leben, elender Tod«. Auf diese »Einsicht« folgt unmittelbar ein weiteres Zitat aus dem Prozess, nämlich der Schlusssatz: »es war, als sollte die Scham ihn über328

Die verborgene Seele – Kafka

leben.« Das Autobiografische in der Schlussszene wird dadurch bestätigt, dass Kafka in der Anklageschrift Brief an den Vater das Ende noch einmal zitiert, wodurch er die Scham mit dem Schuldgefühl verbindet, das der Vater ihm einbläute. Kafkas Vater wurde nie müde, seinem Sohn zu sagen, dass er zu nichts tauge. Das Ende des Romans ist auch das Ende des psychischen Prozesses, den Josef K. in dem Werk durchläuft. Der springende Punkt bei der Interpretation des seelischen Prozesses ist, wie sich Josef K. zur Schuldfrage verhält und warum er am Ende das »Urteil« anerkennt und bei seiner »Exekution« noch mitwirkt. Obwohl K. sich nicht für schuldig erklärt, fühlt er sich schließlich schuldig. Der Prozess ist zur Abrechnung mit seinem Leben geworden und er muss eine Verteidigungsschrift für sein gesamtes Leben verfassen. Dass K. damit Probleme hat, weckt den Verdacht, dass er sein Leben überhaupt nicht gelebt hat – wie angeblich Kafka selbst. Am 5. Juli 1922 schreibt er an Brod: »[W]arum hört die Reue nicht auf? […] warum bleibt darüber hinaus das Schlusswort in solchen Nächten immer: Ich könnte leben und lebe nicht.« Dieses Schuldgefühl für ein nicht gelebtes Leben wurde in Kafkas letzten Jahren immer stärker. Wer nicht lebt, kann auch nichts falsch machen und sich keine Schuld zuziehen. Auch Herr K. hat »nichts Böses getan«, wie es gleich zu Anfang heißt. Vielleicht besteht genau darin seine Schuld: Er hat immer nur seine Pflicht getan, ist pflichtschuldig zur Arbeit gegangen, hat seine Klienten und Vorgesetzten zufriedengestellt. Er hat ausschließlich im Äußeren gelebt, oberflächlich, und wird am Ende von seiner eigenen Leere verschluckt. Sein Leben ist leer, deshalb haben auch die Anklage und der Prozess keinen Inhalt und es ist unmöglich, ihn zu verteidigen. Ein sinnloser Tod ist das einzig sinnvolle Urteil über ein sinnloses Leben. Die Leere wird von der kompletten Anonymität aller Vertreter des Gesetzes betont. Doch die Schuld besteht auch aus der Selbstgerechtigkeit, der Weigerung, die eigene Schuld am nicht gelebten Leben anzuerkennen. Dann wäre K.s Leben zwar ebenso monoton, aber immerhin bewusst gelebt. Mt der Weigerung tut Herr K. seiner Seele Gewalt an, er kapselt sie ein, verweigert ihr jeglichen Ausdruck und verhindert somit ihre Erlösung. Weil er sich nicht seinem Inneren öffnet, lebt er weiter nur im Äußeren. Für ihn und das Rechtssystem geht der Prozess ausschließlich um das Äußere. So stirbt Josef K. einen langsamen seelischen Tod. So gesehen ist der gestaltlose Herr K. ein repräsentatives Bild der Seele in einer entseelten Gesellschaft, in der das Kind, die Seele, mit dem Badewasser der Säkularisierung, Entzauberung und Banalisierung ausgeschüttet wurde. Der Prozess als Lebensbilanz

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Josef K. ist eine anonyme Person, ein Jedermann oder eher ein Niemand – im Gegensatz zu Odysseus, der sich nur so nannte, um seine Identität zu verbergen. Er hat keine Vergangenheit und deshalb auch keine Zukunft, er hat keine Familie, bis auf einen Onkel, der ihn dazu bringt, den Anwalt zu konsultieren, der den Fall später aufgibt, weil K. keine Verteidigungsschrift für sein Leben vorlegt. Jeder muss sich selbst für sein Leben verantworten. Josef K. hat nicht einmal ein Zuhause, sondern ist im tieferen Sinn heimatlos, weshalb er auch nicht nach Hause finden kann. Er lebt abgesondert von den anderen Menschen in einem Pensionat. Dort wohnt ein Fräulein Bürstner im Nebenzimmer. Ihre Initialen sind dieselben, die Kafka in seinen Tagebüchern für seine Verlobte Felice Bauer benutzte. Damit berühren wir andeutungsweise ein Thema, das in K.s buchhalterischem Leben nichts zu suchen hat: das Gefühlsleben. Was Fräulein Bürstner tut, bleibt unklar, aber ihre allabendliche Abwesenheit (angeblich ist sie »im Theater«) und eine Andeutung der Wirtin lassen an Prostitution denken. Das Verhältnis zwischen K. und Fräulein Bürstner bleibt rätselhaft, denn K. lässt keinen Einblick in sein Inneres zu, weshalb auch andere Beziehungen im Dunkeln bleiben. Später heißt es: »Das Verhältnis zu Fräulein Bürstner schien entsprechend dem Prozess zu schwanken«. Das eine beeinflusst das andere. Am Ende, als K. zum geheimen Richtplatz teils geführt wird, teils die Schergen führt, erblickt er sie (oder eine Frau, die ihr sehr ähnlich sieht) auf der anderen Straßenseite. Seine Reaktion erklärt einiges: »Aber K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zum Bewusstsein. Es war nichts Heldenhaftes, wenn er widerstand, wenn er jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte.« K. hat sich längst selbst aus dem Leben verurteilt. Trotzdem schlägt er denselben Weg wie sie ein, »nicht etwa, weil er sie einholen, nicht etwa, weil er sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur deshalb, um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete, nicht zu vergessen.« (S. 148) Welche Mahnung stellt F. B. für Josef K. dar, dass er sie im Angesicht des Todes nicht vergessen will? Die Frauen in Der Prozess haben eine rein erotische Funktion, die oft mit der Macht als Mittel verbunden wird, wie es das Rechtssystem gebraucht. Das Erotische wird zum Bindeglied zwischen dem Institutionell-Sozialen und dem Persönlich-Psychischen. Eine solche Macht- und Vermittlerrolle über das Sexuelle spielt auch die junge Leni, die auffäl330

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ligste weibliche Figur des Romans. Sie ist die Pflegerin des alten Anwalts. Leni fühlt sich zu allen Angeklagten, die den Anwalt konsultieren, hingezogen. K. lässt sich auf ein Verhältnis mit ihr ein, obwohl er ahnt oder weiß, dass sie das Gleiche mit allen Klienten tut. Eine erotische Szene entspinnt sich, die große Ähnlichkeit mit einer entsprechenden Szene mit Fräulein Bürstner hat, außer dass nun die Frau, Leni, die Aktive ist. Ähnliche Szenen, meist in schmutziger Umgebung, finden sich in Kafkas anderen Romanen Das Schloss und Amerika. Leni agiert als Bindeglied, sie ruft ihn an und warnt: »sie hetzen dich«, als er einen italienischen Bankkunden durch den Dom führen soll. Anstelle des Italieners kommt nur ein Priester, der die Kanzel in der fast leeren Domkirche einnimmt und laut »Josef K.!« ruft. Von der Kanzel verkündet der Geistliche, der sich als Gefängniskaplan entpuppt, dass Josef K. angeklagt sei, und bekräftigt dessen Schuld. Mit der Domszene geht der Prozess in eine zweite Sphäre ein, gewissermaßen von der Börse in die Kathedrale. Auf der expliziten Erzählebene des Romans fehlt die religiöse Dimension jedoch ganz (ebenso wie die Seele nicht explizit thematisiert wird). Kafka war ja kein Christ und auch zum Judentum hatte er als Agnostiker nur ein passives, kulturelles Verhältnis. Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang. (Notiz vom 25. Februar 1918)

Kafka stellt nicht mehr wie Dante die Frage, was nach dem Tod geschieht, sondern was davor, insbesondere kurz davor geschieht. Die Frage nach den »letzten Dingen« wird nichtkonfessionell auf allgemein menschlicher Grundlage behandelt. Der Tod wirft eher metaphysische und existenzielle Fragen auf, vor allem die nach dem Sinn des Lebens. Dies hat ebenso viel mit der Seele und der Bestimmung der Seele zu tun. Als der Priester immer noch von der Kanzel herab flüstert: »Dann bist du der, den ich suche« und »Ich habe dich hierher rufen lassen«, nimmt der religiöse Rahmen eine bedrohliche Dimension an. Josef K. ist auserwählt, aber er erkennt seinen Ruf nicht. Der Gegenstand des Prozesses, sein Leben, soll nun vor den Richter. Doch es wird kein gewöhnliches Gerichtsurteil, sondern eher eine Konklusion, das Ende eines seelisch-existenziellen Prozesses. Der Priester, der als Gefängniskaplan zum RechtssysDer Prozess als Lebensbilanz

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tem gehört, konstatiert: »[I]ch fürchte, es wird schlecht enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozess wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar nicht hinauskommen.« (S. 139) Metaphysisch betrachtet kommt das Urteil über K.s gesamtes Leben jedoch durchaus von einer höheren Instanz. Deshalb: »[D]as Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.« (ibd.). Für K. bedeutet dies, dass der Prozess der Verteidigung und Selbstrechtfertigung nun vorüber ist. Nun soll die Schuldfrage ein für alle Mal geklärt werden. Da hilft es nicht mehr, die Schuld auf andere zu schieben oder Hilfe von anderen zu suchen: »›Du suchst zuviel fremde Hilfe‹, sagte der Geistliche missbilligend, ›und besonders bei Frauen. Merkst du denn nicht, dass es nicht die wahre Hilfe ist?‹« Als K. weiter versucht, sich zu verteidigen, schreit ihn der Priester an: »Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?« Dann tritt er von der Kanzel herab, redet vertraulich als Seelsorger mit K. und erzählt ihm die bekannte Parabel Vor dem Gesetz, um ihn zur Einsicht zu bewegen. Kafka nannte die Parabel, die vielleicht sein bekanntestes Werk ist, »eine Legende«. Er ließ sie 1915 getrennt veröffentlichen. Sie kann durchaus für sich gelesen werden, ist aber auch ein Schlüssel zur Interpretation des Romans. Sie markiert einen Wendepunkt auf allen Ebenen von K.s Prozess: rechtlich, ethisch, persönlich und psychisch. Zwischen dem Mann vom Lande und K. gibt es deutliche Parallelen.

»Dieser Eingang war nur für dich bestimmt« Die sogenannte Türhüterlegende handelt von einem »Mann vom Lande«, der »in das Gesetz« will. Auf der äußeren Eben heißt dies, dass er erkennen und verstehen will, was Recht und Gerechtigkeit bedeuten und welches Gesetz dem Leben zugrunde liegt. Doch vor dem Gesetz steht ein Türwächter, der sagt, er dürfe ihn nicht hereinlassen. Doch sei es vielleicht möglich, dass er später hereinkommen dürfe. Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meinem Verbot hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« (S. 140 f.)

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Der Mann lässt sich abschrecken und beschließt »zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt«. Immer wieder versucht er, den Türhüter zu überreden oder zu bestechen. Dieser stellt »kleine Verhöre« mit ihm an und »zum Schluss sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne«. Die Jahre vergehen, der Mann bettelt vergeblich weiter, »vergisst die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz«. Der Mann wird alt, krumm, schwerhörig und halb blind, doch »erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht«. Kurz bevor er stirbt, nimmt er noch einmal alle Kraft zusammen und fragt den Türwächter: »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« (ibd.)

Die Parabel berührt Josef K., und er diskutiert mit dem Priester, wie sie zu deuten sei. Wir lesen sie als ein Gleichnis über das Menschenleben, über lebenswichtige Entscheidungen und die letzte Bestimmung des Lebens. Das unauslöschliche Licht des Gesetzes ist ein Bild für etwas, das über das Leben des Einzelnen hinausragt. Dabei reden wir noch nicht von Wesen oder Essenz im metaphysischen Sinn, denn nichts in Kafkas Werk deutet darauf hin, dass er an eine unsterbliche Seele mit Substanz glaubt. Sein Seelenbild ist auf einer Höhe mit seiner Zeit, in der die Seele als Zusammenspiel komplexer innerer Kräfte gilt, die im Idealfall zu einem funktionellen Ganzen integriert werden. Wenn die Seele substanzlos und relational ist, kann sie weder lokalisiert noch produziert werden, höchstens indirekt. Kafka legt das empirische Material in all seiner Komplexität vor, und dann soll sich zeigen, ob es etwas »Anderes« oder »Drittes« gibt, das durch die Schilderung der Oberfläche zum Ausdruck kommt wie eine Art dialektische Synthese. Und so scheint es. Dieses »Etwas« ist wie das Auge eines Orkans, um das sich Der Prozess dreht (mit steigender Intensität am Ende), das aber ohne Substanz ist. Mangels passender Worte werden wir es »Seele« nennen. Die Leere, die Kafka schildert, das Nichts, ist also der Ort der Seele. Weil er leer ist, spürt man ihn als Verlust oder Sehnsucht, als Sinnlosigkeit, wie er in seinem Tagebuch am 4. Dezember 1913 schreibt: »Dieser Eingang war nur für dich bestimmt«

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Sterben hieße nichts anderes, als ein Nichts dem Nichts hinzugeben, aber das wäre dem Gefühl unmöglich, denn wie könnte man sich auch nur als Nichts mit Bewusstsein dem Nichts hingeben und nicht nur einem leeren Nichts, sondern einem brausenden Nichts, dessen Nichtigkeit nur in seiner Unfassbarkeit besteht.

Weil sich die Seele nicht in sich selbst manifestiert – das kann sie nie, weil ihr ein objektives Korrelat fehlt –, kann er sie auch nicht explizit schildern. Er lässt uns nur ahnen, worum sich alles dreht wie die Wirbelwinde um das Auge des Orkans. Durch ihre Abwesenheit kommt uns die Seele nahe. Diese »Abwesenheitsästhetik« macht Kafka zu einem Hypermodernisten, der das unnennbare Wesentliche mit Unwesentlichem umschreibt oder umkreist. Damit liegt er auf einer Linie mit dem französischen Autor und Literaturtheoretiker Maurice Blanchot, der ebenfalls um die innerste Abwesenheit des Daseins kreist. Kafka schildert den Menschen, wie er äußerlich erscheint, und überlässt es uns, Begriffe zu finden, die andeuten, was seine Bilder ausdrücken. Mit dem Begriff »Seele« erfassen wir die innere Leere seines Protagonisten. Kafka stellt die unsichtbare Seele als eine Funktion des Lebensprozesses dar, als verdichtetes Resultat der Lebensweise eines Menschen, als persönliche Beständigkeit der Haltungen und Handlungen, Gedanken, Gefühle und Leidenschaften, des Willens und der Begierden, die ein Individuum hat. Um seine Seele zu retten, braucht der Einzelmensch eine persönliche Identität, die beständig ist und die funktionalen Relationen so integriert, dass sie in etwas Allgemeinem aufgehen. Das Gesetz ist ein Ausdruck dieses Allgemeinen. Es ist nicht das alttestamentliche Gesetz des strafenden Jahwe, wie manche es interpretiert haben. Vielmehr ist es ein kantisches, allgemeingültiges Gesetz, ohne dass Kafka deshalb gleich Kantianer wäre. Jedes Individuum muss seinen Weg zum Übergeordneten oder zum Gesetz finden. Die Tür, die nur für dich bestimmt war, ist ein Bild dafür. Allerdings gebraucht Kafka hier nicht das Wort »Tür«, sondern »Eingang«, was weitergehende Assoziationen weckt. Hier gibt es eine Schwelle, die den Unterschied zwischen innen und außen markiert. Wir erinnern uns an den Psalm 121, in dem es heißt »Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang!« Eingehen und Ausgehen implizieren eine aktive Tätigkeit. Man kommt und geht aktiv ins und aus dem Leben. Etwas geschieht, ein Übergang, absolut und definitiv, einmalig und irreversibel. Vom Nichts zum Etwas oder vom Etwas zum Nichts, von der Nähe zur Nähe der Abwesenheit. (Das Nichts oder die Leere sind auch nicht mehr, was sie einmal 334

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waren, wie die Physiker bestätigen können – sie verbergen unendliche Kräfte, den Ursprung des Urknalls.) Es ist nicht gleichgültig, unter welchen Bedingungen und wie man zur Welt kommt, und es ist auch nicht gleichgültig, wie man sie verlässt, ob man seinen Tod sterben kann. Der Ausgangspunkt bestimmt die Fortsetzung und das Leben bestimmt den Tod. Der Tod ist kein isoliertes Ereignis, sondern der Schlusspunkt einer ganzen Lebenslinie. Wie man lebt, so stirbt man. »Elendes Leben, elender Tod«, wie Kafka schrieb. An anderer Stelle schrieb er, dass jeder Mensch in der Lage sein sollte, sein Leben zu rechtfertigen, »oder seinen Tod, was dasselbe ist«. Vor dem Gesetz kann man als Allegorie auf das Dasein bis zum Tod lesen, in Heideggers Worten das Sein zum Tode, das die Sorge um die Seele im lebendigen Leben einschließt, um dann in Montaignes Geist seinen Tod sterben zu können, als aktive Handlung und letzter Versuch des Lebens, der alle anderen Entwürfe verwirft. Wenn man sein Leben gelebt und seine Seele in Übereinstimmung mit dem Überindividuellen, Allgemeinen – dem »Gesetz« – geformt hat, kann man mit Frieden in der Seele sterben. Josef K. kann dies nicht. Durch seinen Tod wird nichts entworfen oder verworfen. Er hat nicht die Freiheit gewählt, und damit auch nicht die Freiheit, seine Bestimmung selbst zu entscheiden, folglich weiß er auch nicht, worin seine Schuld besteht. Wenn die Schuld nicht irrational ist, ist man an etwas Konkretem schuld, das man gegebenenfalls wiedergutmachen kann, aber rechtzeitig. Irgendwann ist es zu spät. K. jedoch besteht viel zu lange darauf, dass er nichts Falsches oder Böses getan habe. Gleichzeitig wird sein Schuldgefühl immer größer, ohne dass er weiß (oder wissen will), wofür. Josef K. verschwendet seine Kraft für die Verteidigung – unabhängig von der Schuldfrage. Außer im Anfangskapitel, in dem er seine Unschuld beteuert, redet er nicht mehr über Schuld, sondern nur über die Anklage und den Prozess. Deshalb interessiert ihn an der Parabel auch der Türwächter am meisten. Seiner Meinung nach hat dieser den Mann betrogen. Ähnlich kümmern ihn bei dem Prozess seine Wächter, die Rechtsdiener, Verteidiger und Richter sowie die Frauen als Zwischenglied mehr als er selbst. Darauf macht ihn auch der Priester aufmerksam. Der »Mann vom Lande« hat, wie K., das Wichtigste vergessen, nämlich dass der Eingang zum Gesetz offen steht und dass er die Freiheit hat, selbst zu entscheiden und den Hindernissen aktiv zu trotzen. Die Tür steht offen, und trotzdem wagt der Mann/K. sich nicht hinein, weil er der Autorität und dem Ver»Dieser Eingang war nur für dich bestimmt«

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bot des Türhüters trotzen müsste. Auch Kafka wagte nicht zu handeln, als alles schiefging, egal was er tat. In der modernen Gesellschaft gibt es viele Türwächter und einer ist mächtiger als der andere in einem hierarchischen Machtsystem. In Kafkas Fall war der Vater der Türwächter, auch bei seinem Liebesverhältnis. Wenn er den Normen und Verboten des Vaters dennoch trotzt, bekommt er ein schlechtes Gewissen. Aufgrund der widerstreitenden Gefühle seinem Vater gegenüber wird er das Schuldgefühl nie los. So lebt auch K. sein Leben, bis es zu spät ist, die Freiheit zu wählen und die Tür zu den Kräften aufzustoßen, die das Leben möglich machen. Das meint der Türhüter, als er sagt: »Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Nun ist es endgültig zu spät, die Freiheit zu ergreifen, um seine Lebensbestimmung selbst zu finden. Mit dem Tod wird der Eingang zum Leben verschlossen. Das Spiel ist aus, game over. K. hat das Spiel gespielt, wie er die Anklage im ersten Kapitel definiert: als Theaterstück, Scherz oder Komödie – und »war es eine Komödie, so wollte er mitspielen.« (S. 5) Er hat die Rolle als Objekt des Prozesses gespielt, nicht als Subjekt des Lebens. In Kierkegaards Worten hat er ein uneigentliches oder inauthentisches Leben geführt und nicht die Freiheit, sich selbst zu wählen, ergriffen. Deshalb kann er auch nicht den Sprung über die Schwelle machen und von außen nach innen kommen. Er spielt weiter die vom System vorgeschriebene Rolle, jetzt als Schuldiger. Deshalb begibt er sich ohne Widerstand in die Hand der Wächter, von denen er früher meinte, dass sie seinem persönlichen Prozess im Wege stünden. Er hat nach den Bedingungen des Systems gelebt und stirbt nach dessen Bedingungen. Verurteilt von sich selbst. So sieht es äußerlich betrachtet aus. Der tiefere Grund ist metaphysischen Charakters. Es ist unmöglich, in einer uneigentlichen Welt eigentlich oder authentisch zu leben, einer Welt, die in Kafkas Worten Chaos oder Nichts ist. Dieses tiefere Missverhältnis ist die Erklärung für die Entfremdung. Der Schlusssatz der Parabel gehört zu den dramatischsten und tiefsinnigsten der Weltliteratur: »Dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Wie eine apokalyptische Warnung, ein Weckruf oder ein endgültiges Urteil verkündet der Satz, dass jeder Mensch die Freiheit hat, zu entscheiden und seine eigene Lebensbestimmung zu formen, seinen Eingang zum und Ausgang vom Leben selbst zu finden, und dass diese Bestimmung verschlossen und vernichtet wird, wenn man die Bedingungen für ihre Verwirklichung nicht erfüllt. Die Bestimmung 336

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ist jedoch nicht gegeben. Sie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern entwickelt sich mit dem gelebten Leben, indem die Persönlichkeit ein Selbst mit einer persönlichen Identität wird, die in etwas integriert ist, das größer als ein Selbst ist. Um zu wissen, ob man in Übereinstimmung mit diesem Allgemeingültigen, Überindividuellen handelt (das im Prozess nicht vor der Türhüterparabel thematisiert wird), muss man einen besonderen Sinn und eine Sensibilität entwickelt haben, die gleichzeitig die Quintessenz der Persönlichkeit ausmacht und eine Funktion davon ist. Diese sinnlich fühlende Instanz, die auch mit den eigenen Gedanken und dem Verstand koordiniert ist, ist die Seele, jenes Unsichtbare, das wir nur indirekt in Bildern darstellen können, ob wir nun Bilder wie Vor dem Gesetz, schwarze Löcher oder das Auge des Orkans oder eine Dreistufenrakete aus Körper, Seele und Vernunft dafür wählen. Ist die Rakete erst einmal abgeschossen und fliegt von sich aus (wie Aristoteles’ Sebstbewegendes), kann sie ihre Trägerrakete abwerfen (den Körper oder das System), mit eigener Kraft (als geflügelte Seele) fliegen und Teil einer universellen Kraft werden, in Übereinstimmung mit dem Gesetz. Diesen Befreiungsprozess kann Josef K. nicht vollführen, weil er nur auf der äußeren Ebene lebt. »Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte.« (S. 5) Deshalb glaubt er bis zum bitteren Ende, dass der Prozess gut gehen wird. Er glaubt, er werde das Spiel gewinnen, und fühlt sich überlegen – was nicht mit Würde gleichzusetzen ist. Der Prozess begann, wie wir uns erinnern, weil »jemand ihn verleumdet haben musste«. K. hatte »nichts Böses« getan. Das »Böse« eröffnet eine metaphysische Ebene, die über »normalen« Gesetzesbruch hinausgeht. Josef K. ist nicht imstande, eine Schuld anzuerkennen, weil er nicht imstande ist, auf einer höheren Ebene über sein Leben nachzudenken. Das »Gesetz« der Türhüterparabel ist eine solche allgemeine Kategorie, die über das auf eine Gesellschaft beschränkte »Recht« hinausgeht. Das Recht ist nur ein Werkzeug für das Gesetz. Herr K. kümmert sich nicht einmal um das Recht, sondern mehr um dessen Vertreter, um mit seiner Sache voranzukommen. Das Gespräch mit dem Priester ist für ihn nur eine Fortsetzung des (äußeren) Prozesses, von dem er sich nicht lösen kann: »›Ich gehöre also zum Gericht‹, sagte der Geistliche. ›Warum sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.‹« Die »Entlassung« geschieht im Inneren, während K. nur im »Dieser Eingang war nur für dich bestimmt«

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Äußeren lebt und denkt. Auf der psychischen Ebene verurteilt er sich also selbst – zur Vernichtung. Diese geschieht »am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages«, auf den Tag genauso alt war Kafka, als er nach Berlin reiste, um die Verlobung mit Felice aufzuheben. Gleichzeitig begann er, intensiv an dem Roman zu arbeiten, dessen Schlusskapitel wahrscheinlich als Erstes entstand. In Kafkas Augen wurde Der Prozess nie fertig. K. ist zum Schluss am wichtigsten, dass der Prozess zu Ende geht, nicht wie er ausgeht. Er sucht nicht nach dem Ein- oder Ausgang, der nur für ihn bestimmt ist. Er übergibt sich den anderen in Person der zwei (Tür-)Wächter, die kommen, um den Prozess zu beenden und ihn zum heimlichen Richtplatz zu führen. Weil er sich selbst verurteilt hat, versteht er, »dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht. […] Vollständig konnte er sich nicht bewähren«. Stattdessen sieht er sich um und entdeckt etwas: Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein Einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.

Das Licht, das Fenster, das in der Todesstunde geöffnet wird, und die (Frauen-)Gestalt, die die Arme nach ihm ausstreckt, geben uns Hinweise zur Deutung des rätselhaften Endes von K.s Leben und Der Prozess. Die Frau könnte Fräulein B. sein, die er vielleicht liebte oder hätte lieben können, wenn er sich dem Licht der Liebe und dem Mitleid der Liebe als erlösender Macht geöffnet hätte, wie K. selbst andeutet (»Einer, der teilnahm?«). Deshalb hebt er die Arme, um den oder das entgegenzunehmen, nach dem er sich sehnt. Die gespreizten Finger zeigen jedoch, wie verzweifelt und verkrüppelt seine Liebessehnsucht ist, ungefähr wie Lenis missgebildete Hand, die sie ihm entgegenstreckt und die er bei ihrem beschämenden Treffen küsst. K. hebt die Hände, um etwas entgegenzunehmen oder zu ergreifen, etwas Lebenswichtiges, das ihm fehlt. Aber er greift ins Leere, was die gespreizten Finger auf groteske Weise symbolisieren. Er greift ins 338

Die verborgene Seele – Kafka

Leere, weil er selbst leer ist. Der leere Raum, den er ergreifen will, ist der Raum der Seele, der ihm Individualität als Einzelmensch geben sollte, als einzigartige Singularität, als Stern, der von innen leuchtet und sich aus eigener Kraft entzündet. Stattdessen wird K. von einer Abwesenheit erfüllt. Das Licht aus dem Fenster ist dasselbe Licht, das in Vor dem Gesetz aus der offenen Tür dringt, und die Gestalt im Fenster ist ein Bild dessen, was den Mann vom Lande/K. hinter der Tür erwartet, was ihn hätte erlösen können, wenn er sich dafür geöffnet hätte. Noch immer hofft er, dass andere ihn erlösen können: Freundschaft, Liebe, ein Einzelmensch oder die Gesellschaft, eine weltliche oder himmlische Macht, alle würdigen Mächte, aber sie erreichen ihn nicht, weil er sie nicht entgegennimmt. Er hat aus dem Gleichnis nichts gelernt. Er kann seinen Tod nicht sterben und wird von anderen getötet, weil er nicht sein eigenes Leben gelebt hat. »Elendes Leben, elender Tod«. Josef K. stirbt in Scham wie ein Hund, als einer der Herren das Messer in sein seelenloses Herz rammt und zwei Mal dreht. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Dies sind die letzten Worte des Romans. Es fällt auf, dass der Begriff Scham das Schlusswort bestimmt, während der komplementäre Begriff Schuld – fast ein siamesischer Zwilling der Scham – keinen Platz in K.s letzten Gedanken hat. Scham ist eine seelische Reaktion, die direkt sinnlich-körperlich zum Ausdruck kommt, zum Beispiel indem man errötet oder zu Boden schaut. Schuld hingegen ist mit dem Bewusstsein und mit einer Norm verbunden, auf deren Bruch man auch mit Scham reagieren kann. Scham ist sowohl ein metaphysisches als auch ein soziales und existenzielles Phänomen. Man schlägt die Augen schamvoll nieder, weil man in einer unbehaglichen, unbeschützten Situation gesehen wurde oder weil man zu kurz kommt. Dieses Zukurzkommen erfüllt K. mit Scham, wie ein Gefühl, das Leben und damit sich selbst betrogen zu haben. Deshalb fühlt er Schuld und schleppt Scham mit sich. Davon handelt Der Prozess. Er ist ein Selbsterkenntnisprozess, dessen Einsatz das Leben und die Erlösung der Seele ist. Der Schluss hat nichts Versöhnliches, es gibt keine Erlösung für den, »der immer strebend sich bemüht«. Was hilft es zu streben, wenn es nichts Erstrebenswertes gibt? Hier kann das Ewig-Weibliche, das uns hinanzieht »Dieser Eingang war nur für dich bestimmt«

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(erhebt), keine Versöhnung durch erhöhte Liebe schaffen. Eine solche höhere Instanz erlebt Josef K. nie. Es ist ein großer Sprung von der erlösten Seele Goethes und der Spätromantiker bis zu Kafkas bodenlos einsamer Seele, die ohne Erlösung Scham erleidet, das selbstzerstörerischste Gefühl, das ein Mensch haben kann. Der Grund, warum K. Scham fühlt und leidet, ist seelischer Natur. Die Seele ist mit anderen Dingen als den Begierden des Körpers und dem äußeren Sozialleben verbunden. Sie hängt mit der mitfühlenden Liebe zusammen. Doch wegen der Scham, die dem Sexualleben anhaftet (wie Kafka selbst es mit Prostituierten erlebte), und ohne die Fähigkeit, die Sexualität als Vollzug der Liebe zu erleben, leiden Kafkas Figuren, wie er selbst in seinem Verhältnis zu Felice Bauer litt. Er war gespalten zwischen der Sehnsucht nach Liebe und der Angst, durch die Bindung an seiner Literatur gehindert zu werden, dem Einzigen, das sein Leben rechtfertigte. Kafka selbst konnte nur in seiner und durch seine Literatur versöhnt werden, die sein eigenes, ungelebtes Leben lebendig machte. Beim schöpferischen Schreiben war er eins mit der Bestimmung seiner Seele und damit der Bestimmung seines Lebens. Nur in der Literatur fand er den Eingang, der nur für ihn bestimmt war. Allein. Ohne dies zu beklagen, auch wenn der Preis hoch war. Jeder muss den letzten Schritt alleine tun. Die Grundstimmung in Der Prozess wie in Kafkas Leben wird von dem Leiden bestimmt, von dem seine Tagebücher zeugen. Es ist ein seelisches Leiden und die Bestätigung, dass der Mensch eine Seele hat, als rein anthropologische Dimension. Deshalb nimmt auch Kafka einen zentralen Platz in der Geschichte der Seele ein. Er füllt die Leere, die entstanden war, nachdem die Psychologie eine Psychologie ohne Seele geworden war. Insofern stimmt es, wenn Kafka schreibt: »Ich bin Ende oder Anfang«. Im Grunde sind wir in der Entwicklung der Seele bis heute nicht weitergekommen. Jeder muss ihre historische Leere selbst füllen. Nach Kafka wurde kein substanziell neues Kapitel in der Geschichte der Seele geschrieben, nur neue Metakapitel über ihren problematischen Status und ihre sprachlichen Bilder, womit wir uns auf den folgenden Seiten beschäftigen.

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Die verborgene Seele – Kafka

Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. (Wittgenstein)

DIE SEELE ALS SPRACHE UND BILD – WITTGENSTEIN

Die Analyse von Kafkas Der Prozess, einem fiktionalen Werk, das eine erfundene Person und ihren seelischen Kampf darstellt, wirft die Frage auf: Ist vielleicht auch die Seele fiktiv, eine sprachliche Konstruktion, ein Wort nur oder ein Bild, ein Symbol oder Begriff? Wir haben uns eine »Seele« herbeiinterpretiert, die kein einziges Mal wörtlich genannt wird – befinden wir uns dann nicht tief in der Fiktion und weit vom »wirklichen Menschen« entfernt? Kafka selbst scheint ein solches »nichtwirkliches« Bild seiner Literatur zu bestätigen. Die äußere Welt ist uneigentlich, und er arbeitete systematisch daran, sich darin einen Freiraum für die Fiktion zu schaffen. Im Gespräch mit seinem Freund Janouch äußerte er sich selbst zu diesem Problem: Ich zeichnete keine Menschen. Ich erzählte eine Geschichte. Das sind Bilder, nur Bilder. (Janouch 1961, S. 27 f.) Selbst beim Lesen seines eigenen Tagebuchs stellt er mit hervorgehobener Schrift fest: Alles erscheint mir als Konstruktion. (19. November 1913) Man darf sich fragen, ob dies auch im Allgemeinen gilt und nicht nur für Kafka. Die Welt, die Menschenwelt, ist vielleicht nur – oder gerade – Konstruktion, eine sprachliche Konstruktion. Unsere Welt ist eine sprachliche Welt und besteht aus Bildern und Symbolen. Wendet man dies auf die Seele an, ist es vielleicht genau das Wort, das Bild oder der Begriff »Seele«, der die Seele wirklich macht? Hätte der Mensch ohne den Begriff überhaupt eine Seele? So gesehen ist es kein Reduktionismus, zu behaupten, die Seele sei »nur« eine sprachliche Konstruktion. Eine andere Wirklichkeit gibt es nicht. Die Wirklichkeit des Menschen ist von der Sprache konstituiert und geschaffen. Aber ist deshalb gleich alles Sprache? Im Fall der Seele, der ja ein objektives Korrelat fehlt, drängt sich diese Frage besonders auf. Es ist schwierig, zu sagen, dass wir hier das Wort Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

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»Seele« haben und dort (irgendwo in unserem Inneren) unsere persönliche Seele, auf die sich das Wort bezieht. So jedenfalls hat man in früheren Zeiten, bis zur sprachlichen Revolution vor 100 Jahren, die Seele und ihr Verhältnis zur Sprache verstanden. Als Repräsentant eines solchen referenziellen Sprachbegriffs, in dem das Wort und der Gegenstand, den es bezeichnet, als zwei verschiedene Dinge gelten, wird oft Augustinus genannt. Zuerst hat man das Ding, dann kreiert man ein Wort oder einen Begriff dafür. Dies gilt für alle Phänomene außerhalb der Sprache, eine ganze Welt von Dingen. Dieses Sprachsystem galt, bis der Schweizer Sprachforscher Ferdinand de Saussure (1857–1913) und der österreichischenglische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) ihre Sprachtheorien vorlegten. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Welt ist also philosophisch betrachtet neueren Datums. Saussure ist der Linguist von beiden, der die Sprache als linguistisches System (synchron, das heißt nicht diachron oder historisch) nach ihren eigenen Prämissen erklärt, während Wittgenstein das Verhältnis zwischen Sprache und Welt/Wirklichkeit erklärt, was wir mit der Sprache tun können und welcher Sprachgebrauch sinnvoll ist. Zusammen können sie das Verhältnis zwischen den Wörtern und ihren Referenten erklären. Weder Saussure noch Wittgenstein haben ihre Gedanken systematisch publiziert. Ihre Werke wurden posthum von ihren Studenten auf der Grundlage von Vorlesungsprotokollen und hinterlassenen Notizen veröffentlicht. Wittgenstein hatte sein Werk auf Zetteln und in Notizbüchern hinterlassen, darunter Zettel, Das Blaue Buch sowie Das Braune Buch. Saussures Vorlesungen erschienen 1916 als Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Saussure gilt als Begründer der modernen Linguistik und des Strukturalismus, während Wittgenstein die Philosophie mit seiner analytischen Sprachphilosophie auf neue Gleise führt. Stark vereinfacht kann man sagen: Wo Kant Vernunft sagt, sagt Wittgenstein Sprache. So wie die Vernunft Kants Menschenbild konstituiert, konstituiert die Sprache Wittgensteins Menschenbild, mit dem wichtigen Unterschied, dass Kants Vernunft eine universelle Norm ist, was es in der Sprache nicht gibt. Alles, was sprachlich konstruiert ist, ist von sich aus mehrdeutig, relational und relativ (ohne dass dies zwangsweise im Relativismus endet). Saussure und Wittgenstein legen den Grundstein für die sogenannte linguistische oder sprachliche Wende des 20. Jahrhunderts, eine radikal neue Art von Weltverständnis, die endgültig mit dem Positivismus bricht und mit dem alten Ideal, dass die Naturwissenschaft die Norm 342

Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

jeder wissenschaftlichen Methode sei, auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Saussures Hauptgedanke besteht darin, dass die Benennung eines Gegenstands oder Phänomens willkürlich ist. Dass ein Tisch »Tisch« heißt und nicht »Stuhl« oder »Stein«, beruht auf Konvention, auf einer Art sozialem Kontrakt, der uns die Kommunikation ermöglicht. Wenn wir erst einmal entschieden haben, den Tisch »Tisch« zu nennen, sind wir daran gebunden. Es würde nur Verwirrung schaffen, wenn wir ihn plötzlich und eigenmächtig »Stuhl« nennen würden (und umgekehrt). Wir würden als verwirrt, dumm oder verrückt gelten. Sprache schafft Sinn auf der Grundlage von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Unser Punkt ist, »dass es in ebenso hohem Grad die Sprache selbst ist, die den Begriff Seele hervorzwingt«, und zwar komplementär zu Körper, schreibt Peter Thielst: Der Dualismus Körper–Seele hat keine Referenz zu biologischen Tatsachen, sondern ist eine unvermeidliche sprachliche Konstruktion mit dem Zweck, den Menschen in Begriffe zu fassen und somit ein praktisches und klares Gespräch über uns zu ermöglichen. (Thielst 2000, S. 17)

Der Mensch ist ein sprachliches Wesen und unsere Welt ist sprachlich erschaffen. Daraus folgt, dass der Inhalt der Wörter nicht durch dahinterstehende Ideen oder Begriffe gegeben ist, wie die meisten glaubten, nicht nur die Platoniker. Auch der Inhalt der Wörter ist Saussure zufolge arbiträr, er entwickelt sich bloß innerhalb einer Sprache zur Konvention. Entsprechend behauptete Wittgenstein, auf dem wir im Folgenden aufbauen, dass es keine Privatsprache gibt – was für die Seele als konventionelle Konstruktion Folgen hat.

Alles ist Sprache Die Sprache ist ein gemeinsames Gut, und wir müssen sie nach ihren Konventionen und Regeln benutzen, um verstanden zu werden – auch wenn wir unsere persönliche und vielleicht einzigartige Meinung ausdrücken. Natürlich kann man bewusst die Regeln brechen und neue Wörter, Zusammenstelllungen und Satzkonstruktionen schaffen, was auch eine Änderung der Bedeutung mit sich führen kann. Besonders Dichter nutzen diese Möglichkeit. Doch der Ausgangspunkt bleibt die Alltagssprache, die gesprochene Sprache, wie sie innerhalb einer SprachgemeinAlles ist Sprache

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schaft benutzt wird. Und »daß jeder Satz unsrer Sprache ›in Ordnung ist, wie er ist‹« – einer von Wittgensteins Hauptgedanken in Philosophische Untersuchungen (PU) (1953, hier PU § 98). Gib nicht der Sprache die Schuld, wenn du nicht verstanden wirst, sondern deiner Ausdrucksweise. Denn Wörter sind mehrdeutig und bekommen ihre Bedeutung durch den Gebrauch. »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache«, schreibt Wittgenstein (PU § 43). Nicht theoretische und abstrakte Definitionen legen die Bedeutung fest, sondern der praktische Gebrauch, den Saussure parole nannte (das »Sprechen« im Unterschied zu langue, der »Sprache«). Nur in speziellen Zusammenhängen muss man Begriffe definieren, zum Beispiel in der wissenschaftlichen Sprache, wo ein eindeutiger Gebrauch notwendig und Teil eines bestimmten Sprachspiels ist, wie Wittgenstein es nennt. Grundlegend an Wittgensteins Sprachphilosophie ist, wie er das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit versteht. Besonders in Werken wie den Philosophischen Untersuchungen (die ebenfalls posthum von seinen Studenten veröffentlicht wurden) befasst er sich mit diesem Problem. Sein Spätwerk wird auch »Wittgenstein II« genannt, weil es radikal mit seinen Frühwerken bricht, zum Beispiel mit dem positivistischen Tractatus logico-philosophicus (1922), dem einzigen Werk, das er selbst publizierte. Wittgensteins Privatleben ist in unserem Kontext durchaus von Interesse. Er stammte aus einer reichen Wiener Familie und war das jüngste von acht Geschwistern. Drei seiner Brüder begingen Selbstmord, und Ludwig selbst war sich auch nicht sicher, ob das Leben lebenswert war. Hinter seinem Denken steht ein schwerer, existenzieller Ernst. Er bezweifelte, dass die Philosophie es wert war, ihr sein Leben zu opfern. Er suchte die Einsamkeit und lebte asketisch. Nach dem Tod seines Vaters 1912 verzichtete er auf das stattliche Vermögen, das er geerbt hätte. 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger im österreichischen Heer und geriet 1918 in italienische Kriegsgefangenschaft, wo er den Tractatus schrieb. 1939 meldete er sich wieder als Freiwilliger, diesmal als britischer Staatsbürger. Sein akademisches Leben verbrachte er an der Universität von Cambridge, wo er 1911 bei Bertrand Russell studierte, der ihn später überredete, eine Stellung in Cambridge anzunehmen. Dort starb er 1951 an Krebs. Seine letzten Worte waren: »Sag ihnen, dass ich ein wunderbares Leben hatte.« Diese Worte waren vielleicht ebenso ironisch wie Kierkegaards letzte Worte, er sei den Menschen »sehr zugetan« gewesen. Sein persönlicher Anspruch, Person, Leben und Lehre zu integrieren, erinnert ebenfalls an Kierkegaard. Nor344

Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

man Malcolm, einer von Wittgensteins engsten Freunden, schreibt über Wittgensteins letzten Gruß: Wenn ich an seinen ausgesprochenen Pessimismus denke, die Intensität seines mentalen und moralischen Leidens, die Unbarmherzigkeit, mit der er seine Fähigkeiten ausschöpfte, sein Liebesbedürfnis und seine Strenge, die die Liebe doch abwies, neige ich zu der Meinung, dass sein Leben ungeheuer unglücklich war. (Malcolm 1958, S. 100)

Malcolm hat wahrscheinlich recht, wenn er die intellektuelle Intensität, die Zurückhaltung, das Leiden und das Mystische betont. Was in Wittgen­stein litt, hatte mit seiner Seele zu tun, mit den Umständen, die sie in dieser Welt kraft der ihr innewohnenden Eigenschaften aushalten musste. Vielleicht beschäftigte er sich deshalb so viel mit seelischen Fragen, insbesondere damit, wie es möglich war, Gefühle zu erkennen und zu vermitteln, besonders den Schmerz, den er als Beispiel anführt. Auch das »Unaussprechliche« (zu dem die Moral gehört) beschäftigte ihn: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (Tractatus 6.522) Seinem Freund Russell zufolge besteht das Mystische darin, dass es die Welt gibt. Wittgensteins Seele strebte nach diesem Unaussprechlichen, das sich in einzelnen Lichtblicken oder einer geistigen Explosion offenbaren konnte, wie er es Weihnachten 1913 in einem Brief an ­Russell ausdrückte: Im Grunde meiner Seele kocht es fort und fort wie im Grunde eines Geysirs. Und ich hoffe immer noch, es werde endlich einmal ein endgültiger Ausbruch erfolgen, und ich kann ein anderer Mensch werden.

Angeblich schätzte Russell Wittgenstein so sehr, dass er jahrelang nichts schrieb, was dem kritischen Blick seines Freundes nicht standhielt. Das Blatt auf seinem Schreibtisch blieb lange weiß. Der Tractatus war im Geist des logischen Positivismus entstanden, dessen Ziel die Eindeutigkeit war und in dem es eine Korrelation zwischen der Sprache und ihren Referenten (Bezugsobjekten) aus der Welt der Dinge gibt. Wittgenstein II bricht mit dieser (augustinischen) Sicht. Es gibt nämlich kein 1:1-Verhältnis zwischen der Sprache und ihren Referenten. Für den Menschen sind die Welt und die Wirklichkeit sprachlich konstituiert. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« (Tractatus 5.6) Wirklichkeit und Sprache sind eins. Es gibt keinen Alles ist Sprache

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Standpunkt außerhalb der Sprache, von dem aus man die Sprache untersuchen und ihren Wahrheitsgehalt messen könnte. Wittgensteins Stil ist speziell. Er schreibt keine Abhandlungen im traditionellen Verstand. In seinen Werken gibt es keine bestimmte Stelle, an der man seine Meinung über die Seele nachschlagen könnte. Der Leser muss selbst aus den weit verteilten Analysen Klarheit gewinnen. Wittgenstein präsentiert seine Ideen in Form von mehr oder (eher) weniger zusammenhängenden Reflexionen, Fragen und Kommentaren. Er ist der »Charlie Parker« der Philosophie. Während andere Philosophen ihre Gedanken in langen, zusammenhängenden Räsonnements darlegen, sind seine Gedanken kraftvolle Einzelsätze, wie »vorher geworfene Blitze«, um einen Ausdruck zu gebrauchen, den der norwegische Dichter Henrik Wergeland für den Mathematiker Niels H. Abel erfand (vgl. Stubhaug 1996). Auch Wittgenstein hatte großes Interesse an Mathematik und Musik. Er schrieb über beide Disziplinen aus philosophischer Perspektive, wie auch über die Psychologie. Musik, die älteste aller Künste, ist die Sprache der Seele – und ihr Medium. Die Musik erhebt uns und trägt die Seele fort. Der musikalische Ausdruck, der kraftvolle philosophische Ausdruck, das Machtwort ist Wittgensteins seelischer Ausdruck, sein Medium, seine Art, sich zu befreien. Deshalb hat er nicht den Selbstmord gewählt wie seine Brüder. Er wählte das Wort. Es gibt keinen Zweifel darüber, wie viel persönlicher, existenzieller Ernst in Wittgensteins Philosophie steckt. Auch bei ihm geht es um die Erlösung der Seele, um Befreiung. Er musste abklären, wie viel Macht die Sprache besitzt und wo die Grenzen des Machtworts liegen. Seine nachgelassenen Schriften (die den größten Teil seines Werks ausmachen) bestehen ebenfalls aus zerstreuten Kommentaren und oft rätselhaften Reflexionen sowie unerschöpflichen Konstatierungen, zum Bespiel wenn er einen Gedankengang folgendermaßen abschließt: »Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre.« (PU II xi) Ohne sich auf frühere Philosophen zu beziehen, unterscheidet Wittgenstein zwischen konstituierenden grammatischen Regeln und Erfahrungssätzen, die auf der Grundlage von Erfahrungen gebildet und empirisch entschieden werden. Verwirrend wird es, wenn die beiden Gruppen vermischt werden. Wir lassen uns indessen vom Inhalt (und dem Idealismus) verführen und verwechseln Tiefe und Oberfläche, das Grundlegende und das Abgeleitete (die Metaphysik). Daher Wittgensteins bekannter Satz: »Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes 346

Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

durch die Mittel unserer Sprache.« (PU § 109) Deshalb zieht er die Beschreibung der Erklärung und der Deutung vor, die ohnehin oft falsch ist, während die Beschreibung ignoriert wird. Auf die Seele angewendet lautet sein Rat: zu sehen, wie das Wort und der Begriff gebraucht werden und welche Bedeutung sie im Sprachgebrauch haben, anstatt von spekulativer Metaphysik über die Seele und ihre mögliche Substanz auszugehen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man klären, welche Regeln einem bestimmten Gebrauch des Begriffs zugrunde liegen, das heißt zu welcher Art von »Sprachspiel« seelische und psychische Umstände gehören. Man redet unterschiedlich, je nachdem, ob man von der unsterblichen Seele spricht (ein religiöses Sprachspiel), von psychischen Leiden (psychologisches Sprachspiel), von Definitionen der Seele (Philosophie und Ideengeschichte) oder von der Seele als existenzielle und allgemein menschliche Dimension (pragmatische Anthropologie). Die Philosophie muss abklären, welche Regeln hinter diesen Aussagen und Auffassungen stehen. Deshalb betrachtet Wittgenstein die Philosophie als eine Art Therapie. Wenn die therapeutische Aufgabe gelöst ist, hat die Philosophie sich selbst überflüssig gemacht. Viele der Regeln für Sprache und Bedeutung bringt Wittgenstein in kurzen, prägnanten Sätzen mit enormen Implikationen und Konsequenzen vor, zum Beispiel im bereits zitierten § 43, wo es heißt: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« Das Wort bekommt seine Bedeutung nicht durch die Referenz auf ein äußeres Objekt oder auf etwas außerhalb der Sprache Liegendes, sondern von den Bedeutungsbeziehungen, die innerhalb der Sprache etabliert werden, also durch die Sprachpraxis. Eine Sprache zu verstehen bedeutet, eine Lebensform zu verstehen. Die Wörter werden nicht isoliert benutzt, sondern als Teile von Ausdrücken und Sätzen, die wiederum in ein Sprachspiel eingehen. Mithilfe der Sprachspiele erklärt Wittgenstein, wie Sprache funktioniert. Ein Sprachspiel ist das Primäre, behauptet er. Eine Sprache zu lernen ist ungefähr, wie ein Spiel zu lernen, wie wenn ein Kind Ball spielen lernt. Man folgt den Regeln blind. Wenn wir über die Seele reden, ist es, als würden wir an einem Spiel über das Menschsein teilnehmen. Wir spielen, wie man (philosophisch) reflektiert, diskutiert und verhandelt, welche Bestandteile in das eingehen, was man ideell betrachtet einen Menschen nennt. Der Begriff »Seele« bekommt nicht nur Sinn, indem wir das Wort Seele gebrauchen, sondern er wird dabei auch wirklich. Die Seele ist mit anderen Worten etwas, das in und mit der Sprache und dem Gebrauch des WorAlles ist Sprache

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tes in Gedanken, Schrift oder Gespräch entsteht. Mit ihr verhält es sich wie mit der Liebe, sie wird erfunden. Liebe, wie wir sie heute verstehen, wurde im Hochmittelalter durch die Ritterromane und den Minnesang mit ihrer romantischen Liebe erfunden. Ohne die entsprechenden Wörter und Begriffe wären viele Gefühle heute undenkbar. Genau so ergeht es der Seele. Ohne Sprache gäbe es sie nicht, sie würde nicht entwickelt und unser Menschenbild wäre ein anderes. Die Seele existiert, solange wir den Begriff und seine Konnotationen in irgendeinem Sprachspiel benutzen. Die Frage ist, was die Menschheit verliert, wenn wir einmal aufhören sollten, das Wort Seele zu benutzen, und kein seelisches Sprachspiel mehr spielen. Ein Spiel hat Regeln, aber seine Grenzen sind nicht absolut festgelegt, ebenso wenig wie der Spielraum innerhalb der offenen oder weiten Grenzen des Spiels. Wir kennen die Grenzen des Spiels nicht, »weil keine gezogen sind«. Aber »wir können – für einen besondern Zweck – eine Grenze ziehen. Machen wir dadurch den Begriff erst brauchbar? Durchaus nicht!« (PU § 69) »Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.« (PU § 83) Genau dies ist mit der Seele geschehen. Die Grenzen für den Gebrauch des Begriffs haben sich geändert. Das Gewöhnliche nach Kant wäre gewesen, die konstituierenden (grammatischen) Regeln als gegeben und beständig zu betrachten, doch Wittgenstein zeigt auf, dass auch diese geändert und neu geschaffen werden können.

Der Psychologiephilosoph Wittgenstein beschäftigte sich viel mit der Seele, er gebraucht den Begriff häufig und schreibt oft über »seelische Zustände«, die dem Inneren des Menschen entsprechen. Das Verhältnis zwischen dem Inneren und dem Äußeren und dem Seelischen beschäftigte ihn so sehr, dass er seine eigene Philosophie der Psychologie schrieb, die Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I–II (die viele Überschneidungen mit den Philosophischen Untersuchungen enthält), posthum herausgegeben mit dem Zusatzband Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Es handelt sich nicht um eine Psychologie im freudianischen oder irgendeinem anderen schulpsychologischen Verstand, sondern um eine Abhandlung über den Status des Inneren, wie man es ausdrücken und vermitteln kann und was es bedeutet. Wir können diese psycho-philosophischen Analysen hier 348

Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

nicht im Detail wiedergeben, denn es sind logisch-semantische Komplexe, die an den praktischen Sprachgebrauch gebunden sind. Dies ist analytische Philosophie. Für uns ist es vor allem interessant, dass Wittgensteins Sprachphilosophie grundsätzlich Raum für Seelisches lässt und dass es benutzt wird, um das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit zu erklären und darzulegen, wie und warum man innere, subjektive Verhältnisse anderen mitteilen kann. Das Innere ist Realität, aber was Erkenntnis und Kommunikation angeht, bleibt es problematisch. Wittgensteins Psychologie hat also einen konventionellen Ausgangspunkt. Sie gilt dem Inneren im Gegensatz zum Äußeren. Durch Introspektion hat jedes Individuum direkten Zugang zu seinem Inneren, jedoch nicht zur äußeren Welt und zum Inneren anderer Menschen. Seine Prämisse lautet: Irreführende Parallele: Psychologie handelt von den Vorgängen in der psychischen Sphäre, wie Physik in der physischen. Sehen, Hören, Denken, Fühlen, Wollen sind nicht im gleichen Sinne die Gegenstände der Psychologie, wie die Bewegungen der Körper, die elektrischen Erscheinungen, etc., Gegenstände der Physik. Das siehst du daraus, daß der Physiker diese Erscheinungen sieht, hört, über sie nachdenkt, sie uns mitteilt, und der Psychologe die Äußerungen (das Benehmen) des Subjekts beobachtet. (PU § 571)

Doch diese Äußerungen sind problematisch, denn sie kommen nicht so direkt zum Ausdruck, wie wir glauben. Wittgenstein ist sich nicht sicher, ob ich meine eigenen Gefühle kenne, und noch unsicherer ist, ob ich fähig bin, sie anderen mitzuteilen. Dies funktioniert nur, weil die Sprache nicht privat ist. Trotzdem wird es komplizierter, wenn ich die Gefühle anderer ausdrücken will oder umgekehrt. Hier setzt Wittgensteins Analyse an. Als Beispiel nimmt er das Schmerzgefühl. Er weiß, dass er wie jeder andere Schmerz fühlen kann und dass man dies einander sagen kann. Aber wie kann man sich vorstellen oder wissen, dass andere auch Schmerz fühlen? Nur man selbst fühlt den Schmerz, zum Beispiel am Arm. Die Frage wird sprachanalytisch geklärt, durch Äußerungen, die ich in der 1. oder 3. Person Singular Präsens vermittle. (»Ich habe Schmerzen am Arm« oder »Er/Sie hat Schmerzen am Arm«.) Den Zugang zum anderen (3. Person) habe ich durch Observation, den Zugang zu mir (1. Person) durch Introspektion. Beides kann durch eine gemeinsame Sprache ausgedrückt werden. Besonders interessant ist, dass Wittgenstein in diesem Der Psychologiephilosoph

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Zusammenhang auch untersucht, wie Mitleid mit anderen Menschen zustande kommt: »Wie bin ich von Mitleid für diesen Menschen erfüllt? Wie zeigt es sich, welches Objekt das Mitleid hat? (Das Mitleid, kann man sagen, ist eine Form der Überzeugung, daß ein Andrer Schmerzen hat.)« (PU § 287) Das Mitleid überzeugt ihn, dass auch andere Schmerzen fühlen und dass man eigenen Schmerz vermitteln kann, den kein anderer fühlt. Man kann ihn sich jedoch vorstellen und deshalb mitfühlen. Man fühlt die Schmerzen anderer nicht direkt, sondern hat Mitgefühl, das so stark sein kann, dass man sich mit den Schmerzen des anderen identifiziert. Aber wie kann man mit einem anderen fühlen, wenn man selbst keine Schmerzen hat? Weil man selbst weiß, was es bedeutet, Schmerz zu leiden, und dass dieser nicht unbedingt physisch sein muss, sondern auch die Seele treffen kann, die uns zu Menschen macht. Dies wiederum impliziert, dass Menschen, die kein Mitgefühl haben, keine vollwertigen Menschen sind. Oder Wesen, die die entsprechenden Worte und Sprachregeln nicht verstehen, hätte Wittgenstein gesagt. Deshalb ist es so wichtig, dass und wie wir unsere Gefühle in Worte umsetzen, sowohl den Schmerz als auch das Mitgefühl. Mitleid wird durch die Vorstellung von Schmerz und der damit verbundenen seelischen Prozesse als Teil eines gemeinsamen Sprachspiels vermittelt. Dass wir wissen, was Schmerz bei uns selbst und anderen bedeutet, ist das Verdienst der Sprache und ein Beweis dafür, dass Sprache nicht privat ist, sondern ein Allgemeingut. Damit ist Wittgenstein wieder bei der Funktion der Sprache angelangt: »Gedanken zu übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse, oder was immer.« (PU § 304) Wir werden seine komplexen logisch-semantischen Analysen nicht weiterverfolgen, unterstreichen aber, dass die Gefühle und ihre Sprachwerdung unauflöslich zusammenhängen und dass Gefühle reell sind. Deshalb ist Wittgenstein für die Geschichte der Seele wichtig. Seine Gedanken über Äußerungen als Zugang zum Inneren sind ein wichtiger Beitrag zur philosophischen Psychologie. Er betont, dass auch abstrakte Worte wie »Sprache«, »Erfahrung« oder »Welt« – oder »Seele«, dürfen wir hinzufügen – eine »niedrige« Verwendung wie »Tisch«, »Lampe« oder »Tür« haben müssen, um verstanden zu werden (PU § 97). Deshalb muss man Körper und Seele auf dem gleichen Niveau behandeln, denn sie hängen untrennbar zusammen und können nicht dualistisch getrennt verstanden werden. Die Wörter sind auf ihre besondere Weise konkret, als Bilder. 350

Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

In Bildern gefangen Die Sprache kann Vorstellungen und Bilder auslösen. Diese Vorstellungen sind ebenfalls etwas Inneres, sie kommen aus dem Verstand oder dem Bewusstsein. Wir können die Augen schließen und trotzdem die klare Vorstellung von einem »Stuhl« haben. Der Begriff ist nicht abhängig vom physischen Gegenstand – auch das Einhorn ist eine konkrete Vorstellung, obwohl nie jemand ein Einhorn gesehen hat (oder eine Fee, einen Troll etc.). Ist sie erst einmal etabliert, kann unsere innere Vorstellungswelt in sich selbst weiterleben. Die Vorstellungen lösen Bilder aus. Wir sehen die Welt in Bildern vor uns. Diese Bilder sind die Grundlage für unsere Begriffe. Wir wissen zum Beispiel, dass ein Baukasten aus mehreren Werkzeugen und Material besteht: einem Hammer, Nägeln und Materialien. Wer das Wort Hammer kennt, weiß auch, wozu er benutzt wird, er kennt das zugehörige Sprachspiel. Verstehen heißt Können, zum Beispiel Wörter und Ausdrücke anwenden können. »Dies sind die Materialien, aus denen wir jenes Bild der Wirklichkeit anfertigen.« (PU § 59) Man denke nur, wie die Seele im Lauf der Zeit bildlich dargestellt wurde: als Taube, als kleiner Mensch, als Brücke, Wolke oder Mütze. Und obwohl sie für uns immateriell ist, rufen wir sie uns gern als substanziell vor Augen, zum Beispiel als Herz oder etwas Geistiges, Luftiges. So verstehen wir, was Seele bedeutet: »Die Erklärung verstanden haben, heißt, einen Begriff des Erklärten im Geiste besitzen, und d. i. ein Muster, oder Bild.« (PU § 73) Vorstellungen, Begriffe und Bilder hängen also zusammen. Wir bilden Begriffe auf der Grundlage unserer Vorstellungen und Bilder. Es kann gut sein, dass die Bilder ursprünglich von unseren Sinnen geschaffen wurden. Aber wenn sie einmal gebildet sind, existiert die Bilderwelt in sich selbst. Die Bilder sind kein Abbild von Dingen, die man zum Vergleich neben die sprachlichen Bilder halten könnte. Sie sind kein Abbild, das auf ein Urbild zurückgeführt werden könnte. Ein solches sinnlich erfasstes Urbild gibt es nicht. Der Mensch lebt in einem Bilderuniversum. Wir leben in einem Bilderuniversum, in dem die Bilder zusammenhängen und neue Bilder schaffen. Das große Missverständnis besteht in der Annahme (um es zu wiederholen), dass Worte und Begriffe sich auf »etwas anderes« bezögen, dass sie Abbilder von Dingen oder Phänomenen außerhalb der Sprache seien:

In Bildern gefangen

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Das Denken, die Sprache, erscheint uns nun als das einzigartige Korrelat, Bild, der Welt. Die Begriffe: Satz, Sprache, Denken, Welt, stehen in einer Reihe hintereinander, jeder dem andern äquivalent. (PU § 96)

Wie diese Worte und Begriffe gebraucht werden, entscheidet sich in den verschiedenen Sprachspielen, in denen sie benutzt werden. Für einen Geografen bedeutet »Welt« etwas anderes als für einen Touristen, Priester oder Ökonomen. So geht es auch mit der Seele. Wenn der norwegische Liedermacher Ole Paus singt: »tief in der Seele erblickt man Land«, meint er etwas anderes als das Bibelwort: »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?« Die Seele ist ein Bild. Wir haben viele Seelenbilder. Aber die Seele als Geist ist nicht das Bild eines bestimmten Geistes (oder von etwas Göttlichem, Jenseitigem), die Seele ist ihr eigenes Bild nach einem solchen Gedankengang. Es wäre ein Missverständnis, nach einem sinnlich erfassbaren oder immateriellen Korrelat dieses Bildes zu suchen. Vielmehr suchen wir das beste oder die besten Bilder für die Seele. Wittgenstein verknüpft die seelischen Vorgänge mit dem Körper, nicht als Substanz, sondern als Bild: »Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.« (PU II iv) Körper und Seele hängen mit anderen Worten unlösbar zusammen und deshalb ist der Dualismus falsch. Dies bedeutet nicht, dass der Körper ein direkter Ausdruck für das Innere ist, eher ein indirekter. Mit »Körper« meint Wittgenstein nicht den anatomischen oder physiologischen Körper, sondern eher die Körpersprache, Körperhaltung und insbesondere den Gesichtsausdruck und den subtilsten aller körperlichen Ausdrücke, nämlich die gesprochene Sprache. Der Körper ist in sich selbst gestimmt oder abgestimmt, und wir merken, wenn eine Person verstimmt ist (»Man merkt die Absicht und man ist verstimmt«). Körper und Seele hängen definitiv zusammen. Ein toter Körper hat keine Seele. Leben und Seele gehören zusammen, während dem Tod nicht zum Leben gehört. »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht«, heißt es nachdenklich (Tractatus 6.4311). Wir glauben, wir erforschen eine Welt der Tatsachen, und analysieren fortlaufend »nur« Bilder: Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen. (PU § 115)

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Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

Was die Erkenntnis betrifft, sind wir in einer Bilderwelt gefangen, der Welt der Menschen. Metaphern sind gefährlich, sie können uns verführen, wie der dänische Dichter Per Højholt in seiner metaphernkritischen Phase sagte: »Nur ein Tor fürchtet die Metapher nicht, nur Idioten glauben, sie könnten sie vermeiden.« Metaphern haben jedoch keine referenzielle, sondern eine evokative und performative Funktion: Sie rufen hervor oder erschaffen, was sie nennen, und machen es möglich, das Unbestimmbare zu identifizieren. Wittgenstein warnt uns vor dem Irrglauben, dass Worte und Sätze mehr ausdrücken, als sie wirklich ausdrücken. Er warnt vor voreiligen metaphysischen oder spekulativen Schlüssen. Grammatik und Sprachregeln soll man nicht mit Sinngehalt und Interpretation verwechseln. Aber von der Sprache kommen wir nicht los, und es gibt keinen Referenzpunkt außerhalb der Sprache, der als Norm, Erklärung oder Fazit dienen könnte. Auf die Seele übertragen bedeutet dies, dass irgendwann einmal das Wort »Seele« für etwas dem Menschen Eigentümliches erfunden wurde und seine Bedeutung im Lauf der Zeit durch den Gebrauch erlangt hat, durch Überführung von Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation in einer Sprachgemeinschaft, sodass alle Mitglieder dieser Sprachgemeinschaft wissen, was wir meinen, wenn wir das Wort »Seele« gebrauchen – zumindest in einem Grad, der ausreicht, um darüber reden zu können. Dies ist unabhängig davon, ob das Wort sich auf etwas »Wirkliches« bezieht, denn innerhalb bestimmter Zusammenhänge macht es Sinn für alle, die es gebrauchen. Allein dieser Sachverhalt ist Wirklichkeit. Doch um dieses wenig handgreifliche Wirklichkeitsfeld zu begreifen, muss man zu Bildern oder Metaphern greifen. Darin sind die Dichter Meister und Goethe ein Meister der Meister: Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser! Auch die Wissenschaft benutzt Metaphern. Einige der kraftvollsten finden wir in der Physik: schwarze Löcher, Urknall, Quantensprung. Diese Phänomene sind so komplex und schwierig theoretisch zu beschreiben, da man nicht genau weiß, was sie beinhalten – ähnlich wie die Seele. Nur Metaphern machen es möglich, das Charakteristische solcher Phänomene unmittelbar zu verstehen. Und mehr. Die Bilder und Modelle der Physik sind an sich die physische Welt, wie der Astrophysiker Stephen Hawking betont. Ohne Bilder und Theoriemodelle haben wir keinen Zugang zur Welt. Auf dieser Grundlage entwickelte Hawking den sogenannten modeldependent realism (Hawking/Mlodinow 2010, S. 58). So ist Hawking über die Physik zu einer erkenntnistheoretischen Grundeinsicht gekommen, In Bildern gefangen

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die mit Wittgensteins Sprachphilosophie übereinstimmt: Wir leben in einer Bilder- oder Modellwelt. Und mehrere Modelle (und damit Weltbilder) können gültig sein, was zur Toleranz mahnt. Aber wir glauben noch immer, dass sich solche Modelle auf etwas Nichtsprachliches beziehen, auf die »eigentliche Wirklichkeit«. Diese Bilderwelt gilt auch für die Seele. Wir haben keinen anderen Zugang zu ihr als durch Bilder, das heißt sinnliche Vorstellungen (inklusive Musik). Auch benutzen wir räumliche Kategorien für Immaterielles: Eine Seele ist tief oder oberflächlich, engherzig oder offen. Diese Metaphern für die Seele und seelische Eigenschaften sitzen so tief, dass wir sie nicht mehr als bildlich auffassen, sondern als konkrete und präzise Beschreibungen der Seele. Dasselbe gilt für die moralischen Eigenschaften der Seele. Sie wird als stark oder schwach bezeichnet, was eigentlich physische Eigenschaften sind. Ist die Seele stark, kann sie viel Schlimmes ertragen und zu Gutem inspirieren. Ist sie schwach, lässt sie sich leicht versuchen oder irreführen; ist sie abgestumpft, ist ihr egal, welche Mittel im Umgang mit anderen eingesetzt werden. Wir zweifeln nicht daran, dass das Bild einer »gespaltenen Seele« (oder Persönlichkeit) sich auf etwas Reelles bezieht, auf eine Person mit widersprüchlichen Vorlieben, die es schwer hat, sich selbst zu finden. Ohne die Metapher können wir diesen Zustand gar nicht sprachlich darstellen; es gibt keine Alternative zu den metaphorischen Seelenausdrücken. Durch den bildlichen Gebrauch der Sprache werden nicht handfeste Phänomene handfest; Vages wird klarer. Der Mensch ist im Ausgangspunkt ein unbestimmtes Wesen, das bestimmt werden muss, wie jedes Individuum sich entscheiden muss, was es sein will. Die Sprache mit ihren Begriffen und Metaphern ist das beste Werkzeug, den Menschen als Ganzheit zu bestimmen, und insonderheit die Seele mit ihren besonderen Eigenschaften. So weit führt uns die sprachphilosophische Diskussion. Die Frage ist, ob die Seele damit auf ein Bild oder einen Begriff reduziert wird, auf ein Wort in einem Sprachspiel, philosophisch oder alltagssprachlich. Wittgenstein scheint sich selbst nicht sicher zu sein. Besonders faszinierend an seinem sprachlich konstituierten Weltbild ist, wie er die Grenzen der Sprache und die Realien der Bilder problematisiert. Dies geschieht vor allem im Verhältnis zu seelischen Zuständen, die sowohl geistige als auch sinnlich-emotionale Seiten haben. Nicht alles lässt sich in Bildern darstellen. Alles ist Sprache, aber Sprache ist nicht alles. Seelische Prozesse sind für Wittgenstein ein Rätsel. Sein Anliegen sind Sinn und Bedeutung und wie diese geschaffen und überführt werden. In 354

Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

solchen Fragen gilt vielleicht der bekannte Satz von Wittgenstein I: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« (Tractatus 7) Wittgenstein II sagt jedoch etwas anderes: »Und das Beste, was ich vorschlagen kann, ist wohl, daß wir der Versuchung, dies Bild zu gebrauchen, nachgeben: aber nun untersuchen, wie die Anwendung dieses Bildes aussieht.« (PU § 374) Doch eine Untersuchung der Anwendung des Bildes scheint uns nicht weiterzubringen mit der Erklärung, was die Seele ist: Woran glaube ich, wenn ich an eine Seele im Menschen glaube? Woran glaube ich, wenn ich glaube, diese Substanz enthalte zwei Ringe von Kohlenstoffatomen? In beiden Fällen ist ein Bild im Vordergrund, der Sinn aber weit im Hintergrund; d. h., die Anwendung des Bildes nicht leicht zu übersehen. (PU § 422)

Immer wieder kommt Wittgenstein auf seinen Grundsatz zurück: Der Gebrauch ist die Bedeutung und die Bedeutung ist der Gebrauch – in einem endlosen Kreis. So sind wir in der Sprache und den Bildern der Sprache gefangen. Inwiefern die »Seele« existiert und Ausdruck für etwas Wahres ist, wird in der Praxis entschieden, damit, wie das Wort/der Begriff/das Bild als Teil eines bestimmten Sprachspiels mit Regeln gebraucht wird. Dies bedeutet nicht, dass die Seele und alles andere, was wir sagen, »nur Wörter« sind. Die Wahrheit geht nicht verloren, wenn die Wörter sich aufeinander beziehen, sie ist nur schwerer zu finden und zu bestätigen. Dies ist das Mysterium der Sprache: Manches, was gesagt wird, ist wahr, und manches falsch oder irreführend. Dass das Wort »Seele« existiert, bedeutet nicht automatisch, dass es an sich etwas Wahres oder Wirkliches ausdrückt. Dies wird erst durch ein komplexes Set von Gültigkeitsregeln entschieden. Wenn jemand heute sagt, »Seele« sei ein religiöser Begriff, der sich auf den Glauben an etwas, das den Körper überlebt, bezieht, hat er gewissermaßen recht, denn in religiösem Zusammenhang wird der Begriff so oder ähnlich gebraucht. Wir können Regeln für dieses religiöse Sprachspiel aufstellen. Wittgenstein zufolge ist es unsere Aufgabe, zu klären, wie wir über die Seele reden. Sie ist ein Beispiel dafür, wie wir ein Menschenbild mit Wörtern und Begriffen, Erzählungen und Mythen, Bildern und Symbolen, kurz und gut mit Sprache erschaffen. Wer dies nicht versteht, ist laut Wittgenstein reif für die Therapie, das heißt für eine Besinnung darauf, wie wir unsere Wirklichkeit innerhalb gewisser Sprachspiele und ihrer Regeln schaffen. In Bildern gefangen

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Die Seele geht auch in andere Sprachspiele als das religiöse ein. In einem davon ist die Seele genau ein Wort, ein Begriff, ein Bild und geht in ein ganzheitliches Menschenbild ein, wie in der philosophischen Anthropologie. Sie versteht den Menschen als ein zusammengesetztes Wesen aus Körper und Seele, Vernunft und Verstand. Die Seele gibt es nur, solange es Sinn macht, innerhalb eines Sprachspiels über sie zu reden. Dass sie »nur« Sprache und Bild ist, braucht man nicht zu beweinen, denn dies ist unsere Welt. In Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie drückt Wittgenstein ein solches Seelenbild aus: »Und wenn sich das Ausdrucksspiel entwickelt, so kann ich freilich sagen, es entwickle sich eine Seele, ein Inneres.« (§ 947) Die Seele wird geschaffen, indem es Worte und Ausdrücke für das gibt, was sich im Inneren des Menschen rührt. Unsere Rolle als Sprachsubjekte verlangt, dass wir uns darauf besinnen, welche Spiele wir spielen wollen und wie und wie gut wir sie spielen können. Dies gilt auch für das Sprachspiel der Seele. Aber weil es keine Privatsprache gibt und die Sprache unser gemeinsames Erbe ist, werden wir in bestimmte Weltbilder hineingeboren, die alle durch die Sprachspiele unserer jeweiligen Kulturen bedingt sind und durch unsere Muttersprache und die gelehrte Sprache zum Ausdruck kommen. Dass die Sprachspiele mit einer Lebensform, einer Kultur, zusammenhängen, ist einer von Wittgensteins wichtigsten Punkten. Dies wird deutlich, wenn wir uns die Sprachspiele anderer Kulturen um die Seele anschauen. Deshalb ist es wichtig, zu verstehen, wie die Seele in anderen Kulturen verstanden wird. Dies hilft nicht nur, die Seele und die verschiedenen Seelenbilder besser zu verstehen, sondern auch andere Kulturen und Kulturunterschiede generell – und damit letztendlich uns selbst. Wer in der heutigen globalisierten Welt kein mehrkulturelles Verständnis hat, macht schnell fatale Fehler, nicht nur politisch, sondern auch mitmenschlich und sozial. Deshalb wollen wir uns in den folgenden Kapiteln mit dem Seelenbild der Weltreligionen Buddhismus und Islam beschäftigen. Wir beginnen mit der älteren der beiden.

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Die Seele als Sprache und Bild – Wittgenstein

DIE SEELE IN ANDEREN KULTUREN UND IN UNSERER GEGENWART

Das Selbst ist unser eigner Schutz; Welch andrer könnt’ wohl Schutzherr sein? Im wohlbezähmten Selbst erlangt Man Schutz, der schwer erlangbar ist. (Dhammapada)

DAS EXTREME ZIEL DES BUDDHISMUS: DIE AUFLÖSUNG DER SEELE

Buddha und der Buddhismus haben eine Sonderstellung in der weltweiten Geschichte der Seele. Denn während andere Religionen und philosophische Systeme die Seele in alle Ewigkeit bewahren wollen, will der Buddhismus die Seele auflösen und zunichtemachen. Nicht im Sinne von »zerstören«, doch sie soll zum Nichts werden, zum Nicht-Seienden. Wo andere Menschenbilder die Verwirklichung der Seele und des Selbst zum Ziel haben, geht es im Buddhismus um die Ent-Realisierung des Selbst. Wo westliche Philosophie die Seele als Essenz der Persönlichkeit sieht, betrachtet der Buddhismus die Seele und das Selbst als eine Illusion, ein Missverständnis, das man aufklären muss. Buddha verwendete viel Zeit für diese Aufklärung, da er als Weiser ständig über die Seele, ihr Verhältnis zum Körper und ihr Schicksal nach dem Tod befragt wurde. Allein dies zeigt, dass die Seele auch im Buddhismus wichtig ist. Und wer jetzt glaubt, die angestrebte Auflösung der Seele nehme dem Menschen auch die Angst, seine Seele aufgrund seines Lebenswandels zu verlieren, der irrt sich gründlich. Im Buddhismus ist der Mensch in noch höherem Grad als im Christentum dazu verurteilt, selbst die Konsequenzen seiner Taten zu tragen. Im Buddhismus hat alles, was man tut, Konsequenzen, und das in einer Zeitperspektive, die unsere Vorstellungskraft sprengt. Die Seelenproblematik ist alles andere als aufgehoben im Buddhismus, sondern nur verschoben und mit anderen, in vieler Hinsicht radikaleren Begriffen umschrieben. Als Religion nimmt der Buddhismus ebenfalls eine Sonderstellung ein, weil ihr Begründer, Buddha, kein Gott, sondern ein echter Mensch war, der viele historische Zeugnisse hinterlassen hat. Wo Angehörige anderer Religionen die Erlösung der Seele von Göttern oder höheren Mächten Das extreme Ziel des Buddhismus

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abhängig machen, vertraut der Buddhismus auf die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu erlösen. Wer sonst könnte es tun? Buddhas Lehre dreht sich folglich meist um dieses Leben, nicht das jenseitige. Denn es gibt nur eine Welt, so unendlich groß in Zeit und Raum sie auch sein mag. Das Verhältnis des Buddhismus zur Seele und der alten Frage nach dem Jenseits, kann mit dem Gleichnis von der Seele und dem Boot ausgedrückt werden, das im Buddhismus seine eigene Variante hat: Um auf die andere Seite zu gelangen, musst du einen Fluss überqueren. Wenn du ans Flussufer kommst, findest du ein Boot. Du steigst hinein und ruderst auf die andere Seite. Wenn du am anderen Ufer angekommen bist, findest du heraus, dass es kein Boot, keinen Fluss und keine andere Seite gegeben hat.

Dies wird dahingehend gedeutet, dass es nur eine Welt gibt. Die Erlösung findet man nicht bei einer jenseitigen Macht und es gibt auch kein Selbst und keine Seele. Die Kunst besteht darin, die Seele durch eigenen Einsatz aufzulösen und sich von allen Bindungen zu befreien, wie es im Dhammapada, einer der beliebtesten Schriften des Buddhismus, ausgedrückt wird (XXVI, 385): Wem Diesseits sowie Jenseits schwand, Wem alles beides nicht mehr gilt, Der unbedrängt ist, losgelöst, Den nenne einen Priester ich.

Veda und die altindische Tradition Man kann den Buddhismus nicht verstehen, ohne seine Wurzeln in der religiösen Tradition der sanskritischen Veda-Schriften aus der altindischen Kultur zu kennen. Diese Tradition lebt heute in einer revidierten Form im Hinduismus weiter, der heute die dominierende Religion Indiens ist, während der Buddhismus in den Ländern östlich und nordöstlich von Indien am stärksten ist, von Nepal bis Korea und Japan, mit Schwerpunkt in Südostasien. Obwohl der Buddhismus ein Bruch mit den vedischen Göttern und den brahmanischen Riten war, hat er viele Elemente der altindischen Tradition übernommen und benutzt zum Teil dieselben Bilder und Begriffe, die meist aus dem Sanskrit stammen. Diese Sprache wurde zu Buddhas 360

Das extreme Ziel des Buddhismus

Zeiten in religiösen Schriften benutzt, während in der gesprochenen Sprache das Pali dominierte. Buddha benutzte eine Dialektvariante des Pali und in dieser Sprache wurden seine Worte, Erzählungen und Gespräche 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung aufgezeichnet. Bis dahin waren sie nur mündlich überliefert worden. Weil das Sanskrit einen höheren Status als das Pali hatte, wurden Buddhas Worte mehrere Hundert Jahre nach seinen Lebzeiten wieder ins Sanskrit »zurückübersetzt«. Deshalb gibt es die buddhistischen Begriffe sowohl auf Pali als auch auf Sanskrit, was auch im Folgenden verwirrend sein kann. Der zentrale Begriff für das Schicksal ist in beiden sehr ähnlich: karma auf Sanskrit und kamma auf Pali. In der folgenden Darstellung werden Begriffe aus beiden Sprachen benutzt, genau wie in der Literatur.3 Buddha kam im 5. oder 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (sein Geburtsjahr ist unklar) in einer indischen Hochkultur zur Welt, deren Wurzeln schon damals 2000 Jahre zurückreichten. Ungefähr 1500 v. Chr. drängten indoarische Stämme ins Industal und entwickelten die Veda-­ Religion mit der Schriftsprache Sanskrit. Die Glanzzeit der vedischen Religion währte bis ca. 300 v. Chr. und ist uns durch mehrere Generationen von Schriften überliefert. Die ältesten Zeugnisse sind die Veda-Hymnen oder Veden, deren bekannteste der Rigveda ist. Etwas jünger sind die Brahmanas (ca. 1000–800 v. Chr.), gefolgt von den gelehrten Upanischaden, welche die älteste Religionsphilosophie Indiens und, wie viele sagen, die tiefste Weisheit enthalten. Sie bilden die Grundlage für alles spätere religiöse und philosophische Denken in der indischen Kultur. Viele der vedischen Götter leben im Hinduismus weiter, der eine »modernisierte« Version der vedischen Religion ist, die diese im Wettstreit mit dem sich immer mehr verbreitenden Buddhismus »konkurrenzfähiger« machen sollte, was im Großen und Ganzen auch gelang, da der Buddhismus in die Gebiete östlich und südöstlich von Indien verdrängt wurde, während der Hinduismus noch heute Indien dominiert. Die bekanntesten vedischen Gottheiten sind Agni, der Gott des Feuers, Varuna, der Urgott und Herrschergott, der oft von Mitra begleitet wird. Beide sind Beschützer der Rita, der Wahrheit und moralischen Weltordnung. Die größte Bedeutung hat Indra, der Kriegsgott, während Vishnu und 3 Die diakritischen Zeichen, die in der Transkription mit lateinischen Buchstaben Vokalqualität sowie die Aussprache von Konsonanten markieren sollen, sind hier außer Acht gelassen oder nach den jeweiligen Quellen übernommen, da es auch in der Fachwelt große Unterschiede in ihrem Gebrauch gibt. Veda und die altindische Tradition

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seine beliebte Inkarnation Krishna ordnende Macht im Universum haben. In späterer Zeit und im Hinduismus hat auch Shiva eine starke Position. Ursprünglich war er der Gott der Ekstase, der Askese und des Tanzes. Die altvedischen Schriften schildern ein kosmisches Drama, in dem Welten untergehen und wiederauferstehen in Zyklen von Milliarden von Jahren, beinahe wie im Universum der Physik. Die Dramatik dieses kosmischen Kampfes kommt in den Worten des Rigveda zum Ausdruck, die Robert Oppenheimer, der Vater der Atombombe (auf Sanskrit) aussprach, als er sah, welche Kräfte bei den ersten Atombombentests freigesetzt wurden: »Jetzt bin ich zum Tod geworden, der Zerstörer der Welten.« Die Veden enthalten auch Schöpfungsmythen, denen zutiefst intellektuelle Fragen zugrunde liegen. Die bekannteste Hymne des Rigveda (10, 129) stellt die Schöpfung metaphysisch dar. Der Dichter fragt, wie das Sein aus dem Nicht-Sein entstehen konnte, als »weder das Nicht-Sein noch das Sein war« (Str. 1,1), als weder Tod noch Nicht-Tod war, als die Dunkelheit von der Dunkelheit verborgen wurde und nur Der Eine (tad ekam), der ohne einen Atemzug atmete, als Möglichkeit existierte. Doch in dieser Dunkelheit liegt der Keim des Einen, geweckt von »seinem heißen Drang« (kama), derselben Begierde, die der Urkeim des Bewusstseins (manas) ist. Gleichzeitig ist dies der Keim aller indischen Philosophie: Universum und Bewusstsein sind beide aus der keimenden Begierde entstanden. Nicht die Götter haben die Welt geschaffen, sie sind später geboren. Der Rigveda endet mit der unbeantworteten Frage: Woraus diese Schöpfung sich entwickelt hat, ob er sie gemacht hat oder nicht – der der Aufseher dieser Welt im höchsten Himmel ist, der allein weiß es, es sei denn, dass auch er es nicht weiß.

Im Mittelpunkt der vedischen Religionsausübung stand das Opfer. Die brahmanischen Riten wurden jedoch verstärkt infrage gestellt, wodurch die Macht der vielen Götter geschwächt wurde. Stattdessen drängte sich die Frage, was mit der Person und der Seele nach dem Tod geschieht, in den Vordergrund. Die Vorstellung der Reinkarnation wurde erst in den Upanischaden eingeführt. Seitdem ist die Seelenwanderung ein Grundgedanke aller indischen Religionen und ihr Kennzeichen. Sie wird zu einer besonderen Herausforderung in der Seelenlehre, denn wer oder was bestimmt, in welcher Form die Seele und somit die Person im nächsten Leben aufersteht? Buddhas Lehre gibt eine Antwort auf diese Frage. 362

Das extreme Ziel des Buddhismus

Im Rigveda ist das Brahman die wirksame Kraft im heiligen Wort. Seine Rolle wird immer wichtiger, in den Upanischaden bezeichnet es das höchste Prinzip des Daseins. Später wird es zu einer Macht, die über den Göttern steht, der Urkraft oder dem Weltgeist, der in den vedischen Worten tat tvam asi, »dies bist du«, zum Ausdruck kommt, die Hermann Hesse in seinem Kultroman Der Steppenwolf bekannt machte. Sie bedeuten, dass du selbst der Weltgeist bist, entsprechend Brahmo ’ham, »ich bin Brahman«. Brahman ist komplementär zu dem individuellen atman, das ursprünglich »Atem« oder »Atemzug« bedeutet – es ist dasselbe Wort wie »atmen«. In den Upanischaden wird atman zum zentralen Begriff, zum Ausdruck für den inneren, geistigen Kern des Menschen. Atman ist das Wort für »Seele« in der indischen Tradition. Es wird auch mit »das Selbst« oder »das Ich« übersetzt. Deshalb wird in jüngeren Texten der Selbstvertiefung und Meditation die Opferhandlung dem atman untergeordnet. Denn was durch Handlungen (karman) oder Opfer erreicht wurde, geht zugrunde. Dieser Gedanke, dass alles Verwandlung ist und zugrunde geht, steht im Mittelpunkt des Buddhismus und kann als Antwort auf die Krise betrachtet werden, in der die vedische Religion in der Zeit vor Buddha steckte. Sie hängt mit der Ungewissheit über das Schicksal der Seele nach dem Tod zusammen, wenn die Seele ihre irdische Hülle aufgegeben hat, die nach dem Prinzip der Seelenwanderung (samsara) und der Reinkarnation wiederauferstehen wird – in dieser irdischen Welt. So unterscheidet sich die indische Religion vom Christentum und vom Islam, die beide glauben, dass die Seele im Jenseits weiterlebt, sei es im Himmel oder in der Hölle. Die indische Tradition hingegen findet den unsymmetrischen Gedanken, dass die Seele erst bei der Geburt geschaffen wird, aber am anderen Ende nicht stirbt, unlogisch. Im Buddhismus wird das Problem damit gelöst, dass die Existenz der Seele nicht linear, sondern zyklisch verstanden wird. Doch das Grundproblem bleibt ungelöst. Man hat es nur verschoben, zum Problem der Wiederkunft gemacht. Dadurch bekommt die Erkenntniskurve eine neue Umdrehung im Brahmanismus. Es reicht nicht aus, zu opfern und zu handeln, man muss auch wissen. Im südwestnorwegischen Dialekt wird dieses Verb heute noch (oder wieder) so ausgesprochen wie das indoeuropäische Wort, das den Veda-Schriften ihren Namen gab: veda. Die intellektuelle Kraft dieser Schriften, die sich in den Upanischaden noch steigert, steht den geistigen Werken anderer Hochkulturen der Welt in nichts nach, doch die vedische Tradition sticht vor allem dadurch Veda und die altindische Tradition

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hervor, dass sie das Innere des Menschen und das Schicksal der Seele zu ihrem intellektuellen Hauptanliegen macht. Die Frage ist, wie man leben, denken und handeln soll, um von dieser Welt erlöst zu werden. Der Schlüssel dazu liegt im Verhältnis zwischen der individuellen Seele, atman, und dem Weltgeist brahman. Atman ist nicht nur das individuelle Selbst, die einzelne Seele, sondern gleichzeitig das kosmische, universelle Selbst, die Weltseele. Das heißt, dass atman und brahman gleichzeitig analog und identisch sind. Makrokosmos und Mikrokosmos sind Ausdruck derselben Kraft. In einigen Versen der Chandogya-Upanischad werden die paradoxen Kräfte des atman ausgedrückt, die von den Beschlüssen und Handlungen, dem Wissen und der Erkenntnis des Menschen geschaffen wurden: Dieses Selbst in meinem Herzen ist kleiner als ein Reiskorn, oder ein Gerstenkorn, oder ein Senfkorn, oder ein Hirsekorn, oder der Kern eines Hirsekornes; dieses Selbst in meinem Herzen ist größer als die Erde, größer als das Zwischenreich, größer als der Himmel, größer als diese Welten […] Dieses Selbst ist das brahman. Zu diesem Selbst werde ich werden, wenn ich von hier abgeschieden bin. (Atman ist das Größte und das Kleinste 3. Absatz)

Das innerste Selbst des Menschen ist mit anderen Worten identisch mit dem Weltgeist. Dies ist die Grundlage zum Verständnis der individuellen Erlösung, die in der indischen Religion grob betrachtet auf zwei verschiedene Weisen verstanden wird. Die eine wird unter anderem von dem großen Upanischad-Weisen Yajnavalka verkündet, der die totale Auflösung der Persönlichkeit darin sah, dass die Seele des Einzelnen (atman) zum universellen Selbst (brahman) wird. Die Seele löst sich in der Weltseele auf und das Bewusstsein des Einzelnen verschwindet, ungefähr wie sich ein einzelner Regentropfen mit dem Meer vereint. Nach der zweiten Art der Erlösung wird die erlöste Atman-Seele in der Welt des brahman ein selbständiges, erkennendes Einzelwesen, das sich mit der Kraft des Willens Wünsche erfüllen, sich frei im Universum bewegen und viele verschiedene Formen gleichzeitig annehmen kann. Die beiden Extreme lassen sich mit der Kurzformel Auflösung und Einheit in Form des souveränen Selbstbewusstseins, das durch Yoga oder Meditation erreicht wird, zusammenfassen. Auflösung im Alles oder Konzentration in dem Einen. Buddha fügt diesen Erlösungen eine radikale dritte Alternative hinzu: Nirwana – die auf den ersten Blick dasselbe wie die Auflösung (im 364

Das extreme Ziel des Buddhismus

Alles oder der Ganzheit) zu sein scheint, aber keine Auflösung ist, sondern eine totale Ausschaltung im Nichts: Zunichtemachung, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Siddharta Gautama wird Buddha Es gibt keinen Zweifel daran, dass Buddha eine historische Person war. Man weiß nicht sicher, wann er starb, aber die Experten neigen zu der Annahme, dass dies um das Jahr 400 v. Chr. geschah, also ungefähr zur gleichen Zeit, als Sokrates den Giftbecher leerte. Die zwei hatten noch mehr Gemeinsamkeiten: Beide waren Meister der Konversation und charismatische Redner und keiner von beiden schrieb seine Gedanken nieder. Buddhas Lehre wurde mündlich überliefert, weshalb eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Originalität seiner Lehre herrscht. Der Stil seiner Lehrsätze zeugt von Mündlichkeit, zum Beispiel durch formelhafte Wiederholungen. Es dauerte lange, bis sie niedergeschrieben wurden. Seine frühesten Anhänger waren außerdem viel mehr an Buddhas früheren Leben interessiert und berichteten, wie er sich durch eine Reihe von Wiedergeburten zur Vollkommenheit »hocharbeitete«. Buddha, dessen Taufname Siddharta Gautama (Sanskrit Gotama) lautete, war der Sohn eines Fürsten und sollte dessen Reich erben. Der Vater tat sein Bestes, um dem Sohn das gute Leben schmackhaft zu machen, und schirmte ihn lange Zeit vom Elend der Welt ab. Dies gelingt ihm, bis Siddharta als Teenager – der nach der Sitte bereits verheiratet ist – beschließt, die Welt außerhalb des Palastes zu sehen. Das Unvermeidliche geschieht. Bei seinem »Besuch in der Wirklichkeit« trifft Buddha zuerst einen alten Mann, dann einen kranken Mann und schließlich einen toten Mann. Das reicht, um ihn tief zu beeindrucken. Er fragt seinen Kutscher und erhält die Antwort, dass wir alle alt und krank werden und sterben müssen. Dies war genug, um ihn zu dem Schluss zu bringen: Alles ist vergänglich und die Welt ist voller Leid. Alles ist Leiden. Aber damit hört Buddha nicht auf. Er geht radikal ans Werk. Von da an sieht er es als seine Lebensaufgabe, herauszufinden, wie man dem Leid entkommen kann. Der Vierte, den er auf seinem Ausflug trifft, ein Asket, zeigt ihm den Weg. Der Entschluss reift langsam in ihm heran, und mit 29 Jahren verlässt Siddharta den Palast und das gute Leben, seine Frau und ihren neugeborenen Sohn, um wandernde Gelehrte und Asketen aufzusuchen und AntSiddharta Gautama wird Buddha

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worten auf die dringenden Fragen des Lebens zu finden. Dies tut er als Beispiel für alle Buddhisten, die suchen, was Krankheit, Alter und Tod überschreitet. Nach vielen Jahren der Wanderung als Bettler und Asket wird er ein bodhisattva, einer, der geistig so weit gereift ist, dass er bereit für den letzten Quantensprung ist, um ein buddha zu werden. Davor hat er alles versucht, den Weg des Gelehrten, der Yoga-Meditation und der Askese, und er hat vieles gelernt, was er in sein Erwachen mitnimmt. Davor stirbt er fast vor Hunger, bis er beschließt, alles auf eine Karte zu setzen. Er setzt sich unter den Bodhibaum, beginnt eine tiefe Meditation und schwört sich selbst, sitzen zu bleiben, bis das Rätsel des Lebens gelöst ist – von ihm selbst durch Selbstvertiefung und meditative Reflexion. Nachdem er die steigenden Niveaus der Einsicht in Gedanken durchlaufen hat, geht ihm die Lösung in einem ekstatischen und mystischen Augenblick auf und er erreicht nirvana (Pali nibbana). Er ist ein buddha geworden, ein Aufwachender, vollkommen aufgelöst, und sieht, wie alles mit allem zusammenhängt. Er hat alles über die Wiedergeburt, karma und die Vier edlen Wahrheiten erfahren. Und er erinnerte sich an seine früheren Leben in 91 kalpas (Zyklen des Universums) und an die Wiedergeburt anderer als Folge ihres karma. Buddha ist nun 35. 45 Jahre lang wird er danach als Erleuchteter umherwandern, um seinen Jüngern und anderen Rat Suchenden beizubringen, wie sie ebenfalls das Rätsel des Leids lösen können. Mit 80 Jahren stirbt er, nachdem er verdorbenes Fleisch gegessen hat, das ihm ein Schmied gegeben hat. Als er spürt, dass der Tod sich nähert, legt er sich auf sein Lager und versammelt seine nächsten Jünger um sich, während er selbst ein letztes Mal meditiert. Er stirbt, nachdem er die endgültige Erlösung, parinirvana, erlangt hat, erlöst nicht nur vom Leid, sondern auch von den zahlreichen Wiedergeburten der Seele. Buddhas Verhältnis zum Leid ist in vieler Hinsicht eigen. Er ist nicht der Erste, der es sah – das tun wir alle in der Zeit der Massenmedien. Ein Blick in die Nachrichten und schon schlagen Leid und Tod uns entgegen. Doch bei Buddha ist das Leid nicht nur mit einzelnen Geschehnissen verknüpft; es ist prinzipiell und ein unausrottbarer Teil des Lebens. Es ist die ganze Zeit da, wie wir es an Wittgensteins Beispiel gesehen haben. Das Besondere an Buddha ist, dass er das Leid nicht nur erkennt, sondern dass es ihn psychisch so bedrückt, dass er etwas dagegen tun muss, schon um seiner selbst willen. Zuerst um das Leid und seine Ursachen zu verstehen, dann um seine Einsicht anderen zu vermitteln, damit sie sich ebenfalls 366

Das extreme Ziel des Buddhismus

davon befreien und es verringern können. Deshalb kann aus Buddhas Weltbild später eine Religion entstehen, deren Ausgangspunkt zunächst rein menschliche Verhältnisse sind: Wie kann man dazu beitragen, das Leid in der Welt zu verringern, und die Menschen lehren, sich so zu verhalten, dass sie anderen und sich selbst nicht noch mehr Leid zufügen und dass die Seele nicht mit Bösem belastet wird, was das eigene Leid und das anderer verstärkt. Deshalb wurde der Buddhismus zu einem Weltbild, das vor allem verkündet, wie man leben soll, um am Ende nicht nur atman zu erlösen, sondern es in anatman, der Nicht-Seele aufzulösen. Es geht um die Befreiung der Seele und des Menschen als Ganzheit vom Kreislauf des Leids mit seinen ewigen Wiedergeburten. Wir interessieren uns natürlich besonders für die Aspekte an Buddhas Lehre, welche die Seele und ihre mögliche Erlösung direkt angehen, nicht die vielen anderen Seiten der Lehre wie Lebensart, Ernährung und Meditation. Sofern es im Buddhismus überhaupt um die Seele geht. Denn die Vorstellung einer Seele ist nach Buddha ein Teil des Problems. Der Weise sieht dies ein, wie aus dem Dhammapada hervorgeht (XX, 279): Die Dinge all sind wesenlos: Wenn das mit Einsicht man erkennt, Dann löst man sich vom Leiden los. Dies als der Weg zur Reinheit gilt.

Deshalb werden wir zuerst die Ursachen des Leidens näher betrachten und die Gründe, warum Buddha die Seele als Illusion auffasst.

Die Ursachen und das Ende des Leidens Buddhas Lehre wird in den Vier edlen Wahrheiten zusammengefasst: 1) Alles Leben ist Leiden (dukkha). 2) Die Ursache des Leidens sind die Begierden der Menschen. 3) Das Leiden hört auf, wenn die Begierden verschwinden. 4) Die Begierden verschwinden, wenn der Mensch dem edlen achtgeteilten Weg (mārga/magga) folgt. Es waren besonders drei Arten der Begierde, die Buddha überwinden wollte, nämlich Hass, Habgier und Unwissenheit oder Verblendung. Hass bedeutet Zerstörungsdrang. Habgier ist die Begierde nach unnötigen Dingen (eine Mahnung, die besonders in der heutigen Konsumgesellschaft Die Ursachen und das Ende des Leidens

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gilt!). Der Habgierige wird nicht einmal als Tier wiedergeboren, sondern als hungriger Geist, als eine Art Gespenst, das stets nach etwas hungert. Hass und Gewalt führen direkt in die Hölle. Auch im Buddhismus gibt es Himmel (für die Guten, die als Götter wiedergeboren werden) und Hölle, doch man wird nicht in alle Ewigkeit dorthin verwiesen. Sie sind nur Zwischenstadien im ewigen Kreislauf der Wiedergeburt. Man wird in der Hölle bestraft, um sich auf ein anderes und besseres Leben nach der Wiedergeburt einzustellen. Keine Strafe ist ewig. Damit erinnert die buddhistische Hölle an das Fegefeuer der christlichen Vorstellung. Um den Mittelweg zu finden, der zu einer günstigen Wiedergeburt führt, muss man die Unwissenheit über das Leben und das Selbst beenden. Wohlgemerkt kennt der Buddhismus nicht, wie andere Religionen, den Begriff der Sünde. An ihre Stelle treten Unwissenheit und Verblendung. Unwissenheit (avidyā/avijjā) ist die Wurzel allen Übels. Der Unwissende hat keine Ahnung, was das Rad der Begierde und des Leidens anstößt. Diese Kette aus Ursache und Wirkung wird in festen Formeln ausgedrückt, die mit »Bedingt durch die Unwissenheit gibt es Handlungsimpulse (samskāra) …« beginnen und mit »So entsteht dukkha« enden. Nicht der Glaube ist der Weg zur Erlösung, sondern richtiges Wissen und richtiges Handeln. Dies wird in dem achtgeteilten Weg beschrieben, dem buddhistischen Weg zur Erlösung vom Leid, der unter anderem im Dhammapada (XX, 273) geschildert wird: Der Achtpfad ist der beste Pfad, Die höchsten Wahrheiten sind vier, Loslösung höchster Zustand ist, Der Buddha ist der höchste Mensch.

Die Bestandteile des »Achtpfades« sind: die richtige Sicht, Absicht, Rede und Handlung, der richtige Lebensweg, die richtige Anstrengung, Aufmerksamkeit und Konzentration. Folgt man diesem Weg, kann man sich aus dem Lebensrad des Buddhismus befreien, das auch das Rad des Leidens ist, eine Ursachenkette aus zwölf Elementen und beliebtes Motiv in der buddhistischen Kunst. Viele betrachten es als Kern der buddhistischen Lehre. Das Rad des Leidens beginnt mit der Unwissenheit, die zu bestimmten Handlungen mit unglücklichen Konsequenzen führt usw. So sitzt man mit anderen Menschen in einem Kreislauf fest, in dem sich Handlungen und Intentionen gegenseitig bedingen und einander mitreißen. Es ist der Zyklus der Seelenwanderung, des Leidens und der Wiedergeburt (samsāra). 368

Das extreme Ziel des Buddhismus

Um den Teufelskreis zu durchbrechen, braucht man zuerst die Gabe, Buddhas Lehre zu »sehen« und zu verstehen, dhamma (dharma). Lehrsätze helfen nichts, wenn man nicht die intuitive Gabe besitzt zu erkennen, was für das eigene Schicksal auf dem Spiel steht. Wir betonen, dass »Leiden« hier nicht im engeren Sinne verstanden werden darf. Das Pali-Wort dukkha wird aus Mangel an Alternativen gewöhnlich mit »Leid/Leiden« übersetzt. Diese Tradition ist so stark, dass wir sie hier beibehalten; doch dem Buddhismusexperten Knut A. Jacobsen zufolge bedeutet dukkha eigentlich Unzufriedenheit: Etymologisch bedeutet dukkha, ein »schlechtes Loch an der Radachse« zu haben. Es ist das Loch, in dem die Achse sich dreht. In einer Kutsche mit schlechter Achsenlagerung zu reisen ist ein Bild der Unzufriedenheit. […] Leben bedeutet, mit einer Kutsche zu reisen, die jeden Moment zusammenbrechen kann. Das Unbehagen, das dieses Wissen mit sich führt, heißt dukkha. (Jacobsen 2012, S. 61)

Dukkha ist also ein Ausdruck für die Unzufriedenheit damit, dass etwas nicht in Ordnung ist oder fehlt, und wurde als »Leiden« interpretiert, entsprechend der Einsicht Buddhas, dass alles vergänglich ist, besonders, was man begehrt – weshalb Unzufriedenheit und Leid entstehen. Der Begriff dukkha deckt Schmerz und Pein, Sorge und Unbehagen ab und hat darüber hinaus eine philosophische und existenzielle Bedeutung, die Vorstellungen von Unvollkommenheit, Vergänglichkeit und Leere umfasst, Zustände, die an sich schmerzhaft sind. Und sie schmerzen nicht nur die Seele, wie wir im Westen sagen würden. Schmerz und Leiden werden vom ganzen denkenden und fühlenden Menschen erlebt. Alle Freuden haben ein Ende und hinterlassen Sehnsucht und Leid, wie alles, woran wir uns binden. Dies erschafft Unfreiheit. Deshalb soll man es vermeiden, sich an Dinge, soziale Positionen und Vorstellungen zu binden, keine Erwartungen aufbauen und nicht auf »seinem Recht« insistieren, denn dies führt nur zu Enttäuschung und Sehnsucht. Wenn der Dalai Lama die Abtreibung verteidigt, weil die Geburt eines Kindes der Frau in bestimmten Fällen großes Leid zufügen kann, ist dies ein typisch buddhistischer Gedanke, der sich grundlegend von den Argumenten für oder gegen Abtreibungen unterscheidet, die im Westen angeführt werden. Wir können die Bedeutung des Leidens im Buddhismus nicht verstehen, ohne die buddhistische (und indische) Anthropologie zu kennen. In der westlichen Anthropologie wird der Mensch meist auf der Basis von Körper und Seele verstanden, die weiter als BewusstDie Ursachen und das Ende des Leidens

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sein oder Vernunft definiert werden. Platon ging von einer Dreiteilung des Menschen aus, während Buddha von einer Fünfteilung ausgeht, was ein großer Unterschied zur westlichen philosophischen Anthropologie ist und die Grundlage zum Verständnis der »Nicht-Seele« anatman. Was wir in der westlichen und islamischen Tradition das Wesen des Menschen nennen, ist in der buddhistischen Philosophie nichts anderes als eine Kombination aus ständig wechselnden physischen, psychischen und mentalen Kräften oder Energien. Diese teilt Buddha in fünf Gruppen (Sing. skandha) auf, die auch »Involvierungsgruppen« genannt werden, weil sie die Art und Weise zeigen, auf die der Mensch ins Dasein verwickelt ist. Die Seele oder das Selbst ist in diesem System keine Realität. Sie ist eine sprachliche Konstruktion, ähnlich wie in Wittgensteins Sprachphilosophie. Die Buddhisten behaupteten schon 2000 Jahre vor ihm, dass wir Dinge und Phänomene benennen und dann nach und nach die Worte mit den Phänomenen verwechseln und sie für Wirklichkeit halten: Eine Person kann als Begriff (prajnapati) bezeichnet werden, d. h., dass sie in konventionellem Verstand existiert, jedoch nicht als Wirklichkeit oder Substanz (dravya),

schreibt der Theravada-Buddhist Walpola Rahula (1991, S. 57). Die Buddhisten bestreiten keineswegs, dass es praktisch ist, im Alltag mit Vorstellungen einer Person, eines Ich oder Selbst, zu operieren. Dies gehört zur Umgangssprache. Auch Buddha sprach oft von atman. Es ist Konvention. Man muss deshalb beachten, dass es in Buddhas Leere zwei Ebenen gibt: eine konventionelle und eine tiefere über die höchste Wahrheit. Die konventionelle Lehre für den Großteil der Menschen handelt von karma (Schicksal), Reinkarnation, ethischen Lebensregeln, religiöser Belohnung, Personen, Wesen, Mann, Frau, Gott und Mara (dem Gott der Versuchung). Jeder versteht sie und kann sich danach richten. Die andere Lehre, theravada, war ursprünglich nur für Mönche gedacht, ist anspruchsvoller und bezieht sich auf die äußerste Wahrheit. Sie handelt von der Abwesenheit des Selbst und der Seele, anatman, vom Leiden der Unzufriedenheit und Vergänglichkeit und den fünf Gruppen mit ihren Energieblitzen (Sing. dharma) und Sinnesfeldern (ayātana). Anatman (Pali anatta) ist ein zentraler Begriff des Buddhismus und vom westlichen Standpunkt aus am schwierigsten zu verstehen. Atman, das im Hinduismus das feste Selbst ist, wird im Buddhismus von anatman negiert. Letzteres ist ein radikales Gegenstück zum essenzialistischen See370

Das extreme Ziel des Buddhismus

lenbild des Christentums und des Islam. Der Kern der buddhistischen Anthropologie lautet, dass der Mensch keinen Kern hat, kein inneres Wesen (Essenz). Er besteht nur aus einer Reihe von Ereignissen ohne Zentrum. Wir fühlen uns ein wenig an Humes Bündel aus Perzeptionen erinnert, was sicher ein interessanter Vergleich wäre. Um die Auflösung der Seele im Buddhismus zu verstehen, müssen wir also ihre Anthropologie verstehen, die in den fünf Involvierungsgruppen zum Ausdruck kommt, die auch das Wesen des Leids beschreiben und darlegen, wie das Leiden entsteht. (1) Die erste Gruppe ist eine Form- und Materiegruppe (Erde, Wasser, Luft und Feuer). Sie schließt auch den Körper und die sechs körperlichen Sinne ein. (Der siebte Sinn ist das Gemüt.) Hier entsteht die Begierde nach sinnlichen und materiellen Dingen. (2) Die zweite Gruppe sind die primären Gefühle, alle behaglichen oder unbehaglichen Gefühlseindrücke, die durch den Kontakt unserer Sinnesorgane mit der äußeren Welt entstehen. Sie lösen Wünsche und Intentionen aus, die Begierde nach der Zufriedenstellung dieser Gefühle. Damit ist der Mensch im Teufelskreis des Leidens gefangen. (3) Die dritte Gruppe ist die Perzeptions- oder Identifikationsgruppe, die die physischen und mentalen Objekte wiedererkennt und klassifiziert. (4) Die vierte Gruppe ist die vielleicht wichtigste, sie enthält die Handlungsimpulse, die unter anderem die Absichten (gute wie böse) umfassen. Hier kommt das karma ins Spiel, das wörtlich in den westlichen Sprachschatz eingegangen ist (und deshalb von hier an großgeschrieben wird). Die Handlungen und Intentionen schaffen das Schicksal. Für Buddha sind Intention und Handlung eins, die Handlung ist lediglich die Konsequenz der Intention. Dies gilt nicht nur den äußeren Handlungen, sondern auch den Absichten, die in verbale, mentale oder physische Handlungen umgesetzt werden. Die Absichten lenken das Individuum in Richtung guter oder böser, schlechter oder gleichgültiger Handlungen. Egoistische Handlungen führen zu einer ungünstigen Wiedergeburt, während Selbstbeherrschung und selbstlose Handlungen ein besseres nächstes Leben bringen. Wieder sind es Begierde, Hass und Unwissenheit und ihre Folgen, die schlechtes Karma hervorrufen. Karma hat also ungefähr dieselbe Funktion wie die Seele im Christentum. Was man Gutes oder Schlechtes tut, hat Konsequenzen im nächsten Leben, mit dem Unterschied, dass das nächste Leben im Buddhismus nicht ewig dauert. Um die Seelenwanderung zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass sie auf einer anderen Zeitauffassung als der säkularen Die Ursachen und das Ende des Leidens

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westlichen, christlichen und islamischen beruht, die alle linear sind. Die Welt ist ein für alle Mal geschaffen und bewegt sich gerade auf das Ende oder den Jüngsten Tag zu. Buddhisten hingegen glauben, dass das Universum unendlich in Zeit und Raum ist und periodische Zyklen (Sing. kalpa) durchläuft. Die zyklische Zeit liegt auch der Vorstellung der ewigen Wiedergeburt zugrunde. Man kann auf sechs verschiedenen Ebenen wiedergeboren werden: als Gott, Halbgott, Mensch, Tier, hungriges Gespenst (Geist) oder in der Hölle. Aber keines dieser Leben ist permanent. Die Bewegung zwischen den Reichen, Aufstieg oder Fall, wird vom Karma bestimmt, von guten oder schlechten Taten im Leben. Wo man im nächsten Durchgang landet, bestimmt das jeweils vorige Leben, allerdings können dies nur Menschen aktiv beeinflussen. Alles von Tieren abwärts muss sein schlechtes Karma einfach durchleben und auf eine bessere Wiedergeburt im nächsten kalpa – der Millionen von Jahren dauert – hoffen, vielleicht aufgrund irgendeiner guten Tat in einem lange vergangenen vorigen Leben. Auch Götter können auf eine tiefere Ebene fallen. Im Kreislauf des Lebens gibt es Millionen und Milliarden Kalpas, die Raum- und Zeitdimensionen des Buddhismus lassen einen schwindeln. So wird ein Menschenleben zu einem mikroskopischen Atemzug, einem Nano-Augenblick. Buddha legt also entscheidendes Gewicht auf den Willen und bewusste Absichten. Der Wille ist Karma, der bewusste Wille schafft Karma. Man darf dies jedoch keinesfalls mit der westlichen Betonung des freien Willens verwechseln, denn in einem Universum der gegenseitigen Abhängigkeit ist der Wille nicht frei, sondern bedingt. Handlungen müssen gewollt und intentional sein, um Karma zu schaffen. Was im Unglück geschieht, schafft kein schlechtes Karma. Auch wenn man etwas aus Liebe tut, um einem anderen Menschen zu helfen, aber dabei ungewollt Schaden anrichtet, bedeutet dies nicht unbedingt schlechtes Karma. Dies erinnert an die christliche Gesinnungsethik, doch im Christentum helfen die guten Taten letztendlich nicht, denn nur der Glaube führt zur Erlösung. Außerdem gelten im Christentum allgemeine Gesetze und Pflichten. Der Buddhismus lehnt universelle Gesetze ab. Dort ist es die konkrete Praxis, Handlung und Absicht, die einen erlöst oder fällt. Wer bewusst einem anderen Menschen oder anderen Lebewesen schaden will, entkommt den Konsequenzen nicht. Deshalb legt Buddha großes Gewicht darauf, die Gedanken und den Willen zu beherrschen. Unser Wille ist kontrollierbar, ebenso wie wir lernen können, unsere Gefühle in Taten umzusetzen. Den bösen Wil372

Das extreme Ziel des Buddhismus

len zu unterbinden und stattdessen Mitgefühl und die Sorge für anderes Leben in die Tat umzusetzen gibt gutes Karma. Auf der Grundlage dieses Zusammenhangs zwischen Intention und Handlung hat der Buddhismus ein differenziertes System ausgearbeitet, in dem es sechs Arten der Intention gibt, die mit den sechs inneren Sinnen und den entsprechenden sechs physischen und mentalen Objektfeldern der äußeren Welt zusammenhängen. In diesem sinnreichen System gibt es 52 (oder in anderen Glaubensrichtungen 58) positive und negative intentionale Handlungsimpulse (dharma), die Karma schaffen. Hier sollen nur einige der wichtigsten aufgezählt werden: Wille, Begierde, Aufmerksamkeit, Entschlossenheit, Vertrauen, Konzentration, Weisheit, Energie, Abscheu oder Hass, Unwissenheit, Einbildung und Selbstüberschätzung. Der Mensch kann sich der Verantwortung für sein Schicksal, sein Karma, nicht entziehen. Dies gilt nicht nur für das individuelle Leben, sondern auch für die Welt, den Kosmos oder dhamma. Die Welt ist nicht von Göttern erschaffen, sie entsteht durch das, was geschieht und was getan wird. Deshalb gilt Oppenheimers Veda-Zitat über den Weltzerstörer dem Menschen selbst. Atomwaffen und Umweltzerstörung bestätigen dies. So viel über die Handlungsgruppe, die vierte skandha. (5) Die fünfte Involvierungsgruppe, die Leiden schafft, ist die Bewusstseinsgruppe. Bewusstsein entspringt den sechs Sinnen, die wiederum mit dem übereinstimmen, was in der äußeren Welt sinnlich erfasst wird. Das Sichtbewusstsein hängt also mit den Augen und dem Sehsinn zusammen, dessen Objekt sichtbare Dinge sind. Basis der mentalen Aktivität oder des Gedankenbewusstseins ist der Verstand, der Intellekt mit seinen Gedanken und Ideen. Die Art und Weise, wie der Buddhismus das sinnliche Erfassen versteht, gibt uns einen Hinweis auf den Grund für die Ablehnung des Selbst. Es gibt nämlich kein sinnlich fühlendes Subjekt im Buddhismus. Die Parallele zwischen dem Sicht- und dem Gedankenbewusstsein hilft zu verstehen, warum Buddhisten kein Gleichheitszeichen zwischen Selbst und Bewusstsein setzen. Denn hinter den sichtbaren Dingen gibt es nichts sinnlich Erfassbares. Das Auge sieht, der Sehsinn erfasst Form und Farbe, die vom Sichtbewusstsein registriert werden. Einen ähnlichen Gedanken gibt es bei Goethe: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?« Nicht das Ich oder das Selbst sieht, sondern der Sehsinn. Und was das Auge sieht, ist eine Reihe von Sinneseindrücken. Ebenso verDie Ursachen und das Ende des Leidens

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hält es sich mit dem Gedanken. Die Gedanken denken selbst und sie denken dich. Deshalb postulieren wir ein denkendes Subjekt, ein Selbst, hinter den Gedanken. Doch es gibt kein solches Selbst, nur eine unpersönliche Serie von Ereignissen und Begebenheiten. Es wird gesehen und gehört, gefühlt und gedacht, aber es gibt kein Selbst, das sieht und hört, fühlt und denkt. Es gibt nur Seh-Ereignisse, Hör-Ereignisse, Fühl- und Denk-Ereignisse. Der Mensch ist also nicht mehr als eine vorläufige Sammlung von Teilen und die Person hat keinen Kern, kein festes Wesen. Der Mensch entsteht aus den Teilen, die als Ganzheit zusammenwirken. Das Wirkliche sind die Teile. Auch nicht das Bewusstsein ist die Seele des Selbst, wie Descartes behauptete. Auch das Bewusstsein ist von den anderen Teilen abhängig, aber es spielt eine besonders wichtige Rolle dabei, Nirwana zu erreichen und das Selbst aufzuheben, ebenso wie beim Übergang vom Tod zum nächsten Leben und in die nächste Wiedergeburt. Das Bewusstsein ist von Handlungsimpulsen bedingt, die Bewusstsein für das nächste Leben generieren. Somit ist das Bewusstsein ein Bindeglied zwischen diesem und dem nächsten Leben. Viele fragen, ob es dasselbe Ich ist, das wiedergeboren wird. Buddha verbat sich solche Fragen, indem er auf anatman hinwies. Wenn der Mensch keinen inneren Kern, keine Seele oder kein Selbst hat, kann die Seele auch nicht wiedergeboren werden. Aber es wird auch kein anderes Selbst wiedergeboren, auch wenn das neue Leben ein anderes ist. Was wiedergeboren wird, kann man sich als karmische Bahn vorstellen. Buddha benutzte ein Bild, um es zu erklären. Der Übergang von einem Leben ins nächste ist wie das Entzünden einer Flamme in einer neuen Lampe, bevor die alte Lampe erlischt. Wenn ein Mensch stirbt, sind es eigentlich die fünf skandhas, die sich auflösen, genau wie eine Geburt das Entstehen neuer skandhas ist.

Nirwana und anatman – die endgültige Auflösung der Seele Buddhas Lehre ist in vieler Hinsicht eine praktische Lehre mit einem praktisch-existenziellen Endziel. Sie handelt zu einem großen Teil davon, wie man sich in der Praxis vom Leiden befreien und mit der Wiederkehr der Seele Schluss machen kann. Das Ziel des achtgeteilten Weges ist es, den ewigen Kreislauf der Seelenwanderung zu durchbrechen. Wenn ein Mensch sich auf die richtige Weise von aller Begierde und allen Gefühlen 374

Das extreme Ziel des Buddhismus

befreit hat, kann das Leiden im Frieden der Freiheit aufhören, indem der achtgeteilte Weg bis ins nirvana vollendet wird, die vollkommene Auslöschung, in der es weder ein Selbst noch ein Nicht-Selbst, weder atman noch anatman, gibt. (Da auch Nirwana als Wort und Begriff in die westlichen Sprachen eingegangen ist, können wir es von hier an ebenfalls großschreiben.) Schon zu Buddhas Lebzeiten gab es zwei Wege zum Ziel der Auflösung: einen, bei dem das Hauptgewicht auf Askese und Meditation lag, und einen, bei dem es auf Weisheit und Wahrheitserkenntnis lag. Im Westen ist der Buddhismus seit den Sechzigerjahren als alternativer Lebensstil mit Yoga, Meditation, Vegetarismus (die meisten Buddhisten sind keine Vegetarier), Gewaltfreiheit und Rauschmitteln verbreitet. Buddhas Lehre, insbesondere der Theravada-Buddhismus, ist jedoch weitaus radikaler. Sie ist eine intellektuelle Praxis, die völlige Geistesgegenwart und eine Körper- und Sinnesbeherrschung verlangt, die das absolute Gegenteil unserer heutigen Körperkultur ist. Yoga und Meditation können sicher zur mentalen Gesundheit beitragen, doch sie haben wenig mit dem Buddhismus und der Vorbereitung auf Nirwana zu tun, die den langen Weg zur vollen Erkenntnis durch Askese und Tiefenmeditation verlangen. Buddha betonte, dass einseitige Askese, Selbstqual und Meditation in verschiedenen Formen von Yoga keine Lösung seien. Man muss die Welt erkennen, sich selbst sehen und wissen, welcher Weg auf welche Weise theoretisch zum Ziel führt, und dann die Aufgabe in der Praxis lösen – in Tiefenmeditation. Aus diesem Grund wies Buddha viele Fragen metaphysischen Charakters ab und entwickelte kein dogmatisches Lehrsystem. Seinen Jüngern erklärte er dies mit dem »Floßgleichnis«: Stellt euch einen Mann vor, der auf der Reise ist. Er kommt an einen großen, breiten Fluss und sieht, dass es dort am Ufer sehr gefährlich ist. Das andere Ufer hingegen ist sicher und friedlich. Aber es gibt kein Boot, um ihn auf die andere Seite zu bringen.

Da kommt er auf die Idee, ein Floß zu bauen. Er tut es und gelangt damit sicher auf die andere Seite. An dieser Stelle fragt Buddha: Aber was würdet ihr sagen, ihr Mönche, wenn der Mann nun so denken würde: »Teuer ist mir dieses Floß. Dank ihm bin ich heil über den Fluss gekommen. Nun will ich es auf meinen Schultern tragen und mitnehmen, wo immer ich gehe!« Wäre dies eine vernünftige Art, mit dem Floß umzugehen? (nach Brekke 2001) Nirwana und anatman

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Buddhas Punkt ist, dass man der Lehre nicht um der Lehre willen folgt. Man soll kein Glaubenssystem aus Dogmen bauen, das einen daran hindert weiterzukommen. Deshalb lässt er den Mann entscheiden: »Jetzt kann es hier am Ufer liegen bleiben oder mit der Strömung davontreiben – ich gehe weiter.« Die Theorie und die Lehre sind nur Hilfsmittel. Es gab 14 Fragen, auf die Buddha absichtlich und grundsätzlich stumm blieb. Viele davon galten dem Universum, ob es ewig und unendlich sei oder nicht. Vier davon waren Varianten der Frage, ob Buddha nach seinem Tod weiterexistieren würde. Die letzten beiden Fragen waren, ob die Seele mit dem Körper identisch sei oder nicht. Er hatte mehrere Gründe, diese Fragen nicht zu beantworten. Zum einen wollte er nicht missverstanden werden, zum andern waren manche Fragen falsch gestellt, das heißt sinnlos. Was immer er auf diese Fragen antworten würde, würde für die eine oder die andere Sichtweise vereinnahmt werden, das wusste Buddha und schwieg deshalb. Oder er antwortete rhetorisch so geschickt, dass keine Seite seine Antwort vereinnahmen konnte; zum Beispiel als zwei Einsiedlermönche zu ihm kamen und fragten: »Sind Körper und Seele ein und dasselbe, Gotama, oder sind Körper und die Seele zweierlei?« Buddha ist ein rhetorischer Meister, der immer von dem ausgeht, was man wissen kann. Seine Antworten auf solche Fragen sind wie Refrains: »Freunde, ich bin einer, der diese Dinge kennt und versteht, aber ich sage weder, Seele und Körper seien ein und dasselbe, noch, sie seien zweierlei.« (Dighanikaya I, 18) Außerdem meinte er, dass solche Fragen nicht dabei helfen würden, Kontrolle über die Begierde zu erlangen und den Weg nach Nirwana zu vollenden. Das bekommt der aufdringliche Potthapāda zu hören, als er den Meister fragt: »Herr, ist es dann vielleicht so, dass der Tathägata [einer, der den Weg gefunden hat] nach dem Tode sowohl existiert wie nicht existiert?« Buddhas formelhafte Antwort auf solche Fragen lautet: »Auch das habe ich auf sich beruhen lassen.« »Herr, warum aber hat es der Erhabene auf sich beruhen lassen?« »Potthapāda, weil das alles nichts zu tun hat mit dem, worauf es ankommt, nichts mit den Tatsachen und nichts mit den fundamentalen Normen des heiligen Wandels, weil es nicht zur inneren Abkehr (von der Erscheinungswelt), zur Freiheit vom Verlangen, zum Ende, zum Frieden, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirwana führt, darum habe ich es auf sich beruhen lassen.« (Dighanikaya: Potthapāda 28)

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Das extreme Ziel des Buddhismus

»Frage die Gelehrten«, antwortet Buddha häufig. Oder er antwortet mit einer Anekdote, die das Verhältnis zwischen rein theoretischen Fragen und der entscheidenden Praxis illustrieren soll. Unter anderem benutzt er das klassische Exempel des Mannes, der von einem Giftpfeil getroffen wurde und sofortige Hilfe braucht, aber dem Arzt zuerst eine lange Reihe von (Meta-)Fragen stellt: »Ich will den Pfeil nicht herausziehen, ehe ich weiß, von wem er kam, […] aus welchem Geschlecht er kommt, ob er groß, klein oder mittelgroß ist, aus welchem Dorf oder aus welcher Stadt er kommt« usw. Dieser Mann, sagt Buddha, vergisst das Wichtigste und geht in sein Grab, ohne Antwort auf seine Fragen zu bekommen. So endet es auch mit dem, der den Weg der Erlösung nicht gehen will, ehe er dieses oder jenes philosophische Problem gelöst hat. Denn egal was man über diese Fragen denkt, man erlebt Geburt, Alter, Verfall, Tod, Sorge, Jammer, Schmerz und Leiden. Aber ich sage, dass es möglich ist, dies alles zu beenden, während wir leben. Die rechte Lebensweise und die persönliche Erlösung gehen allem anderen voraus. Voraussetzung für Nirwana ist die Verwirklichung der Vier edlen Wahrheiten als eine persönliche Erfahrung, ist es, die Ursachenkette der Begierde umzudrehen und so das Leid aufzulösen. Durch Meditation und innere Konzentration kann Nirwana erreicht werden, in der endlichen Auslöschung des Selbst. Anatman und Nirwana sind in gewisser Weise dasselbe. Entsprechend den zwei Lehren des Buddhismus (der konventionellen für alle und der exklusiven, höheren) ist Nirwana nicht für die Mehrheit gedacht, sondern eigentlich nur für Mönche, die ihr Leben dem Ziel widmen, ein arhat zu werden, der Nirwana erreicht hat. Dafür müssen sie die Tiefenmeditation und die Erkenntnismeditation beherrschen, wobei Erstere die Voraussetzung für Letztere ist. Tiefenmeditation hat acht Stadien, die alle vom Glück durch Ruhe und Erkenntnis begleitet sind. Im ersten Stadium wird der Meditierende voll und ganz von einem Objekt der Meditation eingenommen. Von Stadium zu Stadium erlebt er höhere Erkenntnis, größere Ruhe und Klarheit, Glück und Zufriedenheit (das heißt Abwesenheit aller Unzufriedenheit). Im sechsten Stadium wird das unendliche Bewusstsein über den unendlichen Raum erlangt, frei von allen sinnlichen Objekten und körperbedingten Grenzen. Im siebten Stadium wird über die Leere meditiert und das Nichts kann eintreffen. Das achte und letzte Stadium ist das ruhende Bewusstsein, in dem es weder Begriffe noch Nicht-Begriffe gibt, weder Seele noch Nicht-Seele. Hier gibt es kein Selbst. Nirwana und anatman

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Das Besondere am mystischen Nirwana des Buddhismus ist die Betonung der Abwesenheit aller Formen der Begierde, des Hasses und der Unwissenheit, die im Nirwana stirbt. Es ist die totale Erleuchtung und gleichzeitig die totale Auslöschung. Buddha beschreibt das Nirwana als das, was nicht geboren ist, nicht geworden, nicht erschaffen, nicht bedingt und nicht zusammengesetzt. Dort wird sogar das Gefühl des unendlichen Raums und des unendlichen Bewusstseins aufgelöst. Nirwana ist das Endziel der Erkenntnismeditation, bei der man die Wirklichkeit sieht, wie sie eigentlich ist, nach den fünf Involvierungsgruppen, den skandhas, und man sieht ein, dass alles Leiden ist, dass es nichts Bleibendes gibt und – was in unserem Zusammenhang am wichtigsten ist – dass es auch kein Selbst gibt. Der Zyklus der Seelenwanderung und der Wiedergeburt wird gebrochen. Atman wird für immer aufgelöst und anatman wird vollzogen. Was den Einzelmenschen erlösen soll, ist also nicht seine Seele, auch nicht ein ewiges Leben im Jenseits, sondern das Ende aller weiteren Existenz. Kann man sich einen radikaleren Unterschied zum Christentum und zum Islam denken? Der Glaube, dass man sich selbst erlösen kann, ist im Islam Blasphemie und Todsünde – nur Gott kann dies, wenn Gott will. Alles ist von Gottes Willen bedingt, und das Ziel ist eine ewige Seele, die im göttlichen und jenseitigen Paradies wiederaufersteht.

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Das extreme Ziel des Buddhismus

Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was ihm seine Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader. (Sure 50, 16)

DIE GEFÄHRDETE SEELE DES ISLAM

Zurzeit ist es schwierig, über das Menschenbild des Islam zu schreiben, ohne gleich an den unmenschlichen Terror, die Gewalt und die Unterdrückung zu denken, die in vielen islamischen Ländern herrschen – in Gottes Namen. In Syrien und im Irak (dort als Spätfolge der westlichen Invasion) wütet ein Bürgerkrieg, der zum Teil ein Krieg zwischen den zwei Hauptrichtungen des Islam ist und politische Auswirkungen im gesamten Nahen und Mittleren Osten hat. Das Ganze geschieht in der Wiege der Zivilisation, die nun täglich durch Zerstörung von Menschenleben und Weltkulturerbe zu Grabe getragen wird. Trotzdem müssen wir versuchen, diese neue Entwicklung zur Seite zu schieben und zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden. Nur so können wir uns vorurteilsfrei in das Seelenbild versetzen, das der Islam den Quellen und seiner Geistesgeschichte zufolge wirklich hat. Die Quellenlage ist jedoch problematisch. Denn während das Christentum die Bibel als die eine Hauptquelle hat, gibt es im Islam mehrere. Neben dem Koran existiert noch eine weitere Überlieferung nach Mohammed (ca. 570–632), der sogenannte Hadith. Der Hadith erzählt von den Taten des Propheten und sammelt seine Aussprüche, welche die Offenbarungen des Korans ergänzen. Wahrscheinlich wollte Mohammed nicht alle Teile seiner Lehre öffentlich machen, zumindest nicht für gewöhnliche Muslime, weil sie aus dem Bereich der esoterischen Erkenntnis stammen, die nur für Eingeweihte gedacht war. Dies verstärkt natürlich die Diskussion, was zur Grundlage der »wahren« Lehre gehören soll. Der Anspruch auf eine wahre Lehre ist im Islam unbedingt, ohne dass es eine zentrale Instanz gäbe, die sie bestimmt (wie der Papst in der katholischen Kirche), was den Streit zwischen den verschiedenen Konfessionen nur verschärft. Seit JahrDie gefährdete Seele des Islam

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hunderten kämpfen sie blutige Kriege gegeneinander. Hinzu kommt, dass der Islam eine kämpferische Religion ist, deren Anhänger dafür belohnt werden, dass sie für den »rechten Glauben« kämpfen. Es ist besser, Krieg zu führen, als sich gleichgültig zu Mohammeds Botschaft zu verhalten. Lieber als Märtyrer denn als Ungläubiger sterben. Andererseits verkündet Mohammed ebenso Gerechtigkeit, Gnade und Barmherzigkeit und alle Menschen müssen sich für ihre Taten verantworten. Der Islam hat ein einfaches Glaubensbekenntnis, es lautet: »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Gesandter.« Er ist eine Religion, die ihren Anhängern – wohlgemerkt nur den Rechtgläubigen – ein gutes Leben im Jenseits verspricht, mit sinnlichen Freuden. Aus dieser Perspektive kann man mit vollem Recht sagen, dass der Islam (genau wie das Christentum) mit den psychischen Bedürfnis der Menschen spielt, nämlich dem Glauben, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist und dass die Möglichkeit eines guten Lebens im Jenseits besteht. Für Mohammed scheint es wichtiger gewesen zusein, die Freuden des Paradieses auszumalen als die Qualen der Hölle, die den Ungläubigen zuteil werden, während die Rechtgläubigen alles bekommen, was sie wünschen, und mehr, bis zum Jüngsten Tag. Geht mit ›Heil!‹ in das Paradies ein! Das ist der Tag der Ewigkeit. Sie haben darin [alles], was sie wollen. Und wir haben noch mehr [für sie]. (Sure 50, 34)

Im Islam spielt das Leid nicht dieselbe wichtige Rolle wie in den übrigen Weltreligionen, wo es eine existenzielle Grundbedingung und komplementärer Teil der Liebe ist. Insbesondere hat das Leid, das anderen zugefügt wird, eine andere Stellung als im Christentum, wo es nicht mit der Erlösung der Seele verknüpft ist. Für den Islam im Kampf zu sterben und Märtyrer zu werden ist für den Gläubigen kein Unglück, denn er glaubt, im Jenseits für das Opfer belohnt zu werden. Deshalb fordern einige islamische Herrscher heute wie früher zum Dschihad auf, dem heiligen Krieg. Jihad bedeutet jedoch der Lehre nach etwas anderes als Terrorismus und das, wozu ihn die Medien heute machen. In Wirklichkeit bedeutet er Streben, sich anstrengen, um ein moralisch besserer Mensch zu werden. Die Gelehrten streiten sich, wie dies zu interpretieren sei. Denn es gibt verschiedene Arten des jihad. Eine Hauptbedeutung gilt dem inneren Kampf und der Anstrengung, ein besserer Mensch in Übereinstimmung mit Gottes Wort zu werden. Die andere richtet sich nach außen, gegen die Feinde 380

Die gefährdete Seele des Islam

des Islam, insbesondere die Ungläubigen. (Hier spielt der historische Hintergrund eine Rolle.) Letzteres kann zur Legitimation von Gewalt und Terror missbraucht werden, wovon sich viele Muslime distanzieren. Denn der große jihad (jihad-e-akbar), sagt Mohammed, ist der Krieg gegen die eigene Seele. Es fällt auf, dass die Seele im Islam nicht nur gut ist, sondern auch der Sitz der niedrigen und moralisch schlechten Neigungen sowie der Versuchungen und sogar des Bösen. Deshalb muss sie erzogen werden. Alle inneren Gegensätze und Streitigkeiten des Islam (die ihre historischen Parallelen im Christentum haben, ebenso wie der »heilige Krieg«) können trotzdem nicht die kulturschaffende Kraft dieser Religion überschatten. Sie hat eine der Hochkulturen der Weltgeschichte geschaffen, deren großartige architektonische Werke wir von Spanien über den Mittelmeerraum, den Nahen und Mittleren Osten einschließlich Indien und Pakistan bis nach Zentralasien bewundern können. Die Außenpunkte sind die Alhambra in Granada und das Mausoleum Taj Mahal in Indien. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass Arabisch 700 Jahre lang die Sprache der Wissenschaft war, vom 8. Jahrhundert bis zur europäischen Renaissance. Es waren die Araber, die die Null und die Variable x in die Algebra einführten, die ebenfalls ein arabisches Wort ist. Und es waren die Araber, die das griechische Kulturerbe in Philosophie, Mathematik und Wissenschaft bewahrten und vermittelten. Im Hochmittelalter gelangte es durch sie wieder nach Europa. Die arabischen Philosophen Ibn Sina (980–1037) und Ibn Ruschd (1126–1198), besser bekannt unter den latinisierten Namen Avicenna und Averroës, waren große Vermittler der griechischen Philosophie. Dass Aristoteles zum großen Philosophen des christlichen Hochmittelalters und der Renaissance wurde (unter anderem durch Thomas von Aquin), ist vor allem Averroës’ Übersetzungen und Kommentaren zu verdanken. Die kulturschaffende Kraft des Islam kommt auch im Sufismus zum Ausdruck, der den Kern des islamischen Mystizismus repräsentiert. Die Sufis hatten lange Zeit (vom 9. bis zum 16. Jahrhundert) einen prominenten Platz im Islam und haben oft bei der Erneuerung und Vitalisierung der Religion mitgewirkt und deren institutionelle Versteinerung verhindert, während die Mystiker des Christentums eher Randfiguren waren, die teilweise sogar als Ketzer galten. Heute sieht es leider im Islam ähnlich aus. Dass der Sufismus marginalisiert und in großen Teilen der islamischen Welt unterdrückt wird, ist Zeichen einer geistigen Stagnation im Islam und zeugt von autoritärer Gleichschaltung. Das Bemerkenswerte am Sufismus Die gefährdete Seele des Islam

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ist, dass er nicht nur eine religiöse Richtung mit Mystikern, eigenen Orden, Ekstatikern, Schwärmern, Asketen und Weisen war, sondern auch Kunst und Religion kombinierte. Die größten Dichter der islamischen Kultur waren Sufis und ihre Werke gehören zur Weltliteratur. Hier kann man einen der ersten Sufis, den Märtyrer al-Halladsch (gest. 922) nennen, der ergreifende Gedichte voll unergründlicher Weisheit hinterließ. Im Westen besser bekannt (nicht zuletzt durch Goethe) sind Dschalal ad-Din ar-Rumi (gest. 1273), in seiner Heimat Türkei als Mevlana bekannt, und Fariduddin Attar (gest. 1220). Wer wissen möchte, was es braucht, bis die Seele auf der Reise aller Reisen am Ziel anlangt, möge Attars Vogelgespräche lesen. Der tolerante andalusische Sufi Ibn Arabi (1165–1240) übte in der gesamten arabischen Welt einen Einfluss aus, der bis heute währt. Das Ziel der Sufis war die Erlösung der Seele durch die Einheit mit Gott, auf die ihr gesamtes Wirken ausgerichtet war. Sie dienen als Beispiele des islamischen Seelenbegriffs, obwohl die Sunniten sie ungerechterweise als Schiiten bezeichnen. Rumi war selbst Sunnit. Der Sufismus repräsentiert einen besonderen Beitrag persischer und arabischer Kultur zu einem humanen Menschenbild, das die engen Grenzen dessen sprengt, was im Islam als wahre Lehre gilt. In ihrer Blütezeit vollbrachte die arabische Kultur Großes in Sachen Schönheit, Weisheit und Humanität. Ihre Inspiration war Mohammeds Lehre. Es gibt gute Gründe, heute daran zu erinnern, dass der Islam und die arabische und persische Kultur mehr und anderes als die Gewalt und den Terror des Islamismus hervorgebracht haben. Ich gab auch Ihm Leben, indem ich Ihn im Herzen fühlte. (Ibn Arabi über Gott)

Mohammed und die Grundlage der islamischen Seelenlehre Die Bedeutung der Seele im Islam können wir nicht verstehen, ohne einige Grundprinzipien von Mohammeds Lehre und ihre Entstehung zu kennen. Zwei der wichtigsten Prinzipien des Islam richten sich direkt an die Seele, nämlich dass er eine Offenbarungsreligion und eine eschatologische Lehre ist, also eine Lehre, die den »letzten Dingen« gilt, dem Tod, dem Jüngsten Tag und dem nächsten Leben. Der Ursprung des Islam sind die Offenbarungen seines Begründers, die im Koran stehen. Mohammed 382

Die gefährdete Seele des Islam

hatte mehrere ekstatische Erlebnisse, bevor ihm die eigentlichen Offenbarungen widerfuhren, die in den Islam eingingen. Deshalb ist Mohammed der Prophet oder Gesandte Allahs. Er hielt seine Erleuchtungen lange geheim, außer vor seiner Frau Chadidscha und ein paar guten Freunden, bis er im Jahr 612 in einer erneuten Offenbarung den Auftrag erhielt, die göttliche Botschaft öffentlich zu verkünden. Es waren Propheten und Engel, insbesondere der Erzengel Gabriel, die sich ihm offenbarten und mit ihm sprachen. In einem Traum flüsterte Gabriel Mohammed Gottes Worte mit dem Befehl »Lies!« ein, was bedeutete, dass er das heilige Wort verkünden sollte. Mohammeds Verkündung hatte bekanntlich verblüffenden Erfolg, sowohl religiös als auch militärisch und machtpolitisch. Zwischen 622, als er mit seinen Anhängern nach Medina auswanderte (womit die islamische Zeitrechnung begann), bis zu seinem Tod im Jahr 632 hatte er sich die Kontrolle über Mekka und die gesamte Umgebung gesichert. Seine militärisch und strategisch tüchtigen Nachfolger eroberten nach und nach den gesamten Nahen Osten, Nordafrika und einen Großteil Spaniens, während die ersten Kalifen Persien und Zentralasien einnahmen und bis tief nach Indien eindrangen. Die Araber blieben in Spanien, bis Ferdinand und Isabella sie 1492 vertrieben. Dies bedeutete das Ende der toleranten, multiethnischen und multireligiösen Kultur der Mauren. Nicht nur Muslime wurden aus dem nun christlichen Spanien vertrieben, sondern auch Juden und Angehörige anderer Religionen. Heute ist der Islam wieder die am schnellsten wachsende Religion der Welt. Viele erleben ihn als Befreiungsideologie, besonders im Verhältnis zum dominierenden Amerikanismus und der westlichen Kultur, die als imperialistisch, materiell und gottlos aufgefasst werden. Am Anfang jedoch legte Mohammed das Hauptgewicht auf Gottes Macht und Barmherzigkeit. Darüber hinaus prophezeite er das Endgericht und die Auferstehung der Toten und damit – aus unserer Perspektive entscheidend – die ewige Erlösung der Seele. Das Jenseitige, besonders die Freuden des Paradieses, nimmt einen auffallend großen Platz in Mohammeds Lehre ein. Heuchlern, Gottesleugnern und Ungläubigen hingegen ergeht es am Jüngsten Tag schlecht. »Wenn dann in das Horn gestoßen wird, ist das ein schwerer Tag für die Ungläubigen, kein leichter«, heißt es in Sure 74, 8–10. Hingegen malt die Sure 56 die Freuden des Paradieses aus, wo »ewig junge Knaben die Runde machen mit Humpen und Kannen und einem Becher von Quellwasser« (17–18) »und großäuMohammed und die Grundlage der islamischen Seelenlehre

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gige Jungfrauen, gleich wohlverwahrten Perlen, zum Lohn für das, was sie getan haben« (22–24). Religionsgeschichtlich ist Mohammeds größter Erfolg der Kampf gegen den Polytheismus und die Ausbreitung des Monotheismus. An der Kaaba in Mekka wurden viele Götter verehrt. Mohammed ließ alle Götzenbilder am heiligsten Ort der Araber zerstören. Er reinigte den heiligen Stein und machte die Kaaba zum heiligsten Symbol des einen, wahren Gottes, Allah. Aufgrund seines Monotheismus hoffte Mohammed am Anfang auf die Unterstützung der Juden. Viele seiner Vorstellungen und mythischen Gestalten stammen aus dem Alten Testament. Das Judentum war seine wichtigste Inspirationsquelle und die alttestamentlichen Figuren haben einen bedeutenden Platz im Koran. Abraham (Ibrahim) und sein Sohn Ismael werden zu Grundlegern der Kaaba. Mekka wurde erst zum Zentrum des Islam, nachdem die Juden Mohammed abgelehnt hatten. Mit einem Geniestreich errichtete Mohammed die Grundlage einer arabischislamischen Identität, die der herrschenden Stammesidentität übergeordnet werden sollte. Mohammeds Monotheismus nahm eine besondere Form an, die entscheidend für das islamische Verständnis der Seele und ihrer Erlösung ist, denn der eine Gott ist absolut einheitlich. Der dreieinige Gott, den das Christentum verkündigt, ist dem Islam fremd und ketzerisch. Vor diesem Hintergrund charakterisiert der Religionshistoriker Mircea Eliade Mohammeds Lehre als »den vollkommensten Ausdruck eines absoluten Monotheismus« (Eliade 1983, S. 72). Deshalb zieht der Islam die Homogenität der Heterogenität vor und bekämpft auch den Pantheismus, der einigen Sufis angelastet wird. Denn wenn Gott in allem ist, kann er nicht einheitlich sein, sondern kann viele Gestalten und Formen annehmen. Der Islam verficht also eine rigide Einheitslehre und die Einheit der Seele mit Gott ist die Bestimmung der Seele im Islam. Gott ist Substanz, Wesen oder Essenz. Dieser einheitliche und essenzielle Gottesbegriff macht die Seelenleere des Islam zum Gegenteil des Buddhismus. Das Ziel der Seele ist die Einheit, Gottes Einheit, tawhid, die absolute Einheit mit dem Einen, mit Gott. Ein Muslim lebt in der Gewissheit, dass es nur diesen einen Gott gibt und dass er nach dem Jüngsten Tag mit ihm zusammenkommen kann, sofern er ein entsprechendes Leben im Diesseits geführt hat. Doch das islamische Jenseits ist in vieler Hinsicht anders als das christliche, zum Beispiel im Hinblick auf die Frage, ob der Körper als geistiger Leib wiederauf384

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erstehen kann. Im Christentum gilt das Jenseits in erster Linie der Seele, während nach islamischer Vorstellung der ganze Mensch mit Körper im Jenseits wiedererschaffen wird, was wie eine Verlängerung der schönen Seiten dieses Lebens scheint. Im Paradies gibt es sinnliche Güter, Luxus und weder Leid noch Sorgen – für die Auserwählten. Dies erscheint zunächst merkwürdig für alle, die glauben, dass Religion mit dem Geistesleben zu tun hat. Zusammen mit dem Gebet, dem Fasten, der Pilgerreise und der Wohltätigkeit ist das Glaubensbekenntnis eines der fünf Säulen des Islam, sein Glaubensfundament. Die Pilgerfahrt (hadjj) nach Mekka ist für einen Muslim obligatorisch. Sie muss mindestens einmal im Leben unternommen werden, manche unternehmen sie sogar jedes Jahr. Einige Sufis behaupteten ketzerisch, dass die physische Reise nach Mekka nicht das Wichtigste sei, sondern die seelische Pilgerreise ins eigene Innere, ins Reich des Herzens. Denn dort finde das eigentliche Treffen mit Gott statt, nicht an der Kaaba. Auch als Religionen der Liebe sind der Islam und das Christentum unterschiedlich. Wo das Christentum die Nächstenliebe auf eine Höhe mit der Liebe zu Gott stellt, stehen im Islam nur Gottes Liebe und die Liebe zu Gott. Bekanntlich waren es die Nächstenliebe und Jesu Aufforderung, die andere Wange hinzuhalten, die den Teufelskreis der Gewalt brachen, der im Judentum Rechtsnorm war. Der Islam hat diese »Auge-um-Auge«Moral übernommen, die viele für einen Grund halten, warum die Gewaltspirale im Nahen Osten nicht gebrochen werden kann. In vielen muslimischen Kreisen wächst der äußere moralische Status eines Menschen, wenn er etwas angeblich Böses vergilt und so die Balance zwischen Recht und Unrecht wiederherstellt. Denn wer nicht an Mohammed und seinen Gott glaubt, genießt auch nicht Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Man darf nicht vergessen, dass es auch im Christentum nur für die Gläubigen Erlösung gibt, doch im Islam ist die Feindschaft gegen die »Ungläubigen« expliziter. Diejenigen, die ihre Seele verlieren und in der Hölle landen, sind nicht in erster Linie Menschen, die ethische Normen gebrochen haben, sondern vor allem Ungläubige und Gottesleugner. Mohammed malt dies anschaulich aus (während die Hölle in der Bibel selbst nicht beschrieben wird), was vielleicht als psychologisches Druckmittel bei der Gewinnung neuer Anhänger gelten kann. Zweifel (an Gott) ist im Islam eine Todsünde. Die zwei Wächter, die die Seelen der Toten vor das Gericht führen, bekommen eine klare Anweisung: Mohammed und die Grundlage der islamischen Seelenlehre

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Werft einen jeden in die Hölle, der gänzlich ungläubig ist und [vom rechten Weg] abschweift, das Gute [anderen] vorenthält, Übertretungen begeht und zweifelt, und der [dem einen] Gott einen anderen Gott zur Seite setzt! Werft ihn in die schwere Strafe [des Höllenfeuers]! (Sure 50, 24–26)

Der Kontrast sind diejenigen, die für den Glauben sterben; sie gelten als Märtyrer und kommen direkt ins Paradies. Wer ungläubig ist und Mohammeds Lehre nicht praktiziert oder falsch auslegt, steht nicht bloß außerhalb der Glaubensgemeinschaft und der Seligkeit, sondern wird explizit als Feind bezeichnet, auf den sich der Hass des Propheten und seiner Anhänger richtet. Wo Jesus als Friedensfürst dasteht, ist Mohammed ein Kriegsherr. Friede und die Erlösung der Seele gelten nur denjenigen, die den rechten Glauben teilen. Folglich ist es schwierig, den Islam eine Religion des Friedens zu nennen. Ein Muslim soll barmherzig sein und den Bedürftigen Almosen geben, doch diese Säule ist weniger wichtig als die des rechten Glaubens, den man täglich durch das Gebet bekräftigt. Das Glaubensbekenntnis wird jedem neugeborenen Kind ins Ohr geflüstert. Seinen Kinderglauben aufzugeben ist im Islam aus vielen Gründen schwieriger als in jeder anderen Religion. Wenn die Erlösung der Seele eine rein individuelle Frage ist, wird das Verhältnis des Individuums zur Religionsgemeinschaft im Islam problematisch, weil der kollektive Druck dort offenbar sehr stark ist. Im Kampf für den rechten Glauben gibt es dort auch die Möglichkeit der kollektiven Erlösung (wie im christlichen Mittelalter während der Kreuzzüge). Der individuelle Seelenfrieden spielt also eine weitaus geringere Rolle als in anderen Religionen. Der auffälligste Dualismus im Islam ist nicht der zwischen Körper und Seele. Damit unterscheidet sich der Islam sowohl vom Christentum als auch von der westlichen Philosophie. Mohammed spricht nicht von Seelen oder Geistern, die in der Hölle leiden oder die Freuden des Paradieses genießen (wie Dante), sondern es geht um die Person. Die Auferstehung nach dem Tag des Gerichts ist eine neue Schöpfung und eine Wiedervereinigung mit der Seele. Der dogmatische Streit darüber, was mit der Seele zwischen dem Tod eines Menschen und dem Jüngsten Tag geschieht, spielt kaum eine Rolle im Islam. Mohammed zufolge fallen die Verstorbenen in eine Art Bewusstlosigkeit, die bis zum Jüngsten Gericht währt. Sie weilen bei Gott, genau wie die Seele im Schlaf den Körper verlässt:

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Gott beruft die Menschen [Seelen] ab, wenn sie sterben, und diejenigen, die [noch] nicht gestorben sind, [vorübergehend] während sie schlafen. Diejenigen, deren Tod er beschlossen hat, hält er dann zurück, während er die anderen auf eine bestimmte Frist [wieder] freigibt. (Sure 39, 42)

Der Auferstandene wird es deshalb so empfinden, als träfe das Gericht unmittelbar nach dem Tod ein. Dies wirft die Frage auf, welchen Status und welchen Inhalt die Seele im Islam eigentlich hat. Um dies zu klären, müssen wir näher darauf eingehen, wie die Seele in Mohammeds Lehre präsentiert wird. Das Innerste des Menschen ist ein Dschungel. Mal herrschen die Wölfe, mal die Wildschweine. Sei achtsam, wenn du atmest. (Rumi, Masnawi)

Die Seele – nafs und rūh – im Koran und der islamischen Tradition Die Seele wird oft im Koran genannt, doch dies ist wenig erforscht, wie der Islamwissenschaftler Magdy Elleisy (2013, S. 19) betont, der sein Buch »den Seelen der Märtyrer des Islamischen Frühlings« widmet. Eine der Schwierigkeiten liegt darin, dass es im Koran und der islamischen Tradition zwei Begriffe für die Seele gibt, nämlich nafs und rūh. Es sind dieselben Worte, die auf Hebräisch im Alten Testament gebraucht werden, was nicht nur die sprachliche, sondern auch die inhaltliche Gemeinschaft der arabischen und der hebräischen Tradition unterstreicht. Nafs bezeichnet ursprünglich die Person oder das Selbst, während rūh ursprünglich Atem oder Wind bedeutet, was dem Geist entspricht. Erst im Koran bekommt nafs die zusätzliche Bedeutung »Seele«, während rūh unter anderem einen engelartigen Boten göttlichen Ursprungs bezeichnet, also etwas Geistiges. Im Lauf der Zeit vermischen sich beide Begriffe und werden sowohl für den Geist des Menschen als auch für Engel gebraucht. Die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den beiden Begriffen lassen sich am besten mit dem entsprechenden Begriffspaar der westlichen Kultur illustrieren: anima und spiritus auf Latein, Seele und Geist auf Deutsch. Doch der Koran und die aus ihm entstandene gelehrte Tradition kennen noch mehr Unterschiede, die schwer zu überblicken sind. Beide Worte gingen im Lauf der Jahrhunderte in komplexe theologische und philosophische Systeme Die Seele im Koran und der islamischen Tradition

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und Diskussionen ein. Der Haupteindruck ist, dass nafs im Koran und im Islam nicht dieselbe Bedeutung und Wichtigkeit hat wie in der Bibel und im Christentum die Seele und dass nafs weniger positiv aufgeladen ist als die Seele in der christlichen Tradition. Rūh scheint den privilegierteren Platz einzunehmen. Nafs steht oft für die niedrigeren Teile der Persönlichkeit. Doch schauen wir zuerst näher auf die Bedeutungsnuancen. Wir beginnen mit dem Gebrauch im Koran. Nafs (Plural anfus oder nūfus) hat mehrere Bedeutungen im Koran. Meistens bezeichnet es die Person oder das Selbst. In einzelnenVersen bezieht es sich auch auf Allah. Aber die wichtigste Bedeutung ist die Seele des Menschen, und diese Bedeutung liegt dem meisten, was im Koran über die Bestimmung des Menschen zu lesen ist, zugrunde. Im Sufismus dreht sich alles um die Seele (und um das Herz als ihren Sitz) und darum, wie sie ihre Bestimmung und die Einheit mit Gott erreicht. Besonders drei Stellen des Korans bilden den Ausgangspunkt der islamischen Seelenlehre und aller gelehrten Kommentare über die Seele, die mehrere Eigenschaften und Niveaus hat. Besonders betont werden die niederen Neigungen der Seele: Sie ist habgierig und lässt sich versuchen und verführen, nicht nur erotisch. Sie wird mit der Lust des Fleisches im biblischen Sinne verbunden, zum Beispiel in der beliebten 12. Sure über Josef und seinVerhältnis zu Suleika, der schönen Frau Potifars (die im 1. Buch Mose erwähnt wird). In Strophe 53 wird nafs als »vom Bösen angezogen« (ammara bi ‘s-su) beschrieben. Josef widersteht der Versuchung, muss aber einräumen: Und ich behaupte nicht, dass ich unschuldig sei. Die Seele verlangt gebieterisch nach dem Bösen – soweit mein Herr sich nicht erbarmt. Er ist barmherzig und bereit zu vergeben. (Sure 12, 53)

Die niederen Neigungen der Seele treffen auf den Widerstand ihrer höheren Teile, der zurechtweisenden und friedenssuchenden Seele. Um erlöst zu werden, muss die Seele deshalb ihrem leitenden Teil, nafs lawwama, folgen, der in Sure 75 (»Die Auferstehung«) genannt wird: »Ich schwöre beim Tag der Auferstehung, und bei der Seele, die an allem etwas zu tadeln findet« (1–2). Wer der tadelnden Stimme der Seele folgt und so das Böse vermeidet, wird auch den Seelenfrieden erreichen, der Voraussetzung für den Eintritt ins Paradies ist:

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Der [bzw. Die, d. h. die Seele] du [im Glauben] Ruhe (nafs mutma’inna) gefunden hast! Kehr zufrieden und wohlgelitten zu deinem Herrn zurück! Schließ dich dem Kreis meiner Diener an. (Sure 89, 27–30)

Diese Dimension der Seele, die Ruhe und Frieden im Gemüt schenkt, suchen vor allem die Asketen und Mystiker, die sich in Gebet und Koranrezitation Gott hingeben. Mohammed soll, wie bereits erwähnt, gesagt haben dass der »größte Dschihad« (jihad al’akbar) gegen die Seele geführt wird. Dies bedeutet, die niederen Neigungen der Seele zu bekämpfen, um sich geistig und moralisch zu verbessern. Um erlöst zu werden und die Einheit mit Gott zu erreichen, braucht es deshalb mehr als gute Erziehung, Gebete und Hingebung. Das Wort »Islam« bedeutet nicht umsonst »Unterwerfung« oder »Ergebung«. Im Koran wird die Seele insbesondere in Verbindung mit den Jüngsten Tag genannt. Die heilige Schrift des Islam leitet die Gläubigen an, wie sie sich zur Seele verhalten sollen, um ein guter Mensch zu werden und ein besseres Geschöpf im Jenseits. Dabei wird auch die Strafe betont, die die Ungläubigen und diejenigen, die Unrecht tun, trifft, insbesondere in der sechsten Sure, die von der Schöpfung und vom Jüngsten Gericht handelt. Die Seelen der Ungläubigen erwartet ein schlimmes Schicksal: Wenn du [doch] sehen würdest [dereinst am Tag des Gerichts], wenn die Frevler in den Abgründen des Todes schweben, während die [Todes-]Engel ihre Hand [nach ihnen] ausstrecken [mit den Worten]: ›Gebt eure Seele (anfus) heraus!‹ Heute wird euch mit der Strafe der Erniedrigung dafür vergolten, dass ihr gegen Gott die Unwahrheit gesagt und seine Zeichen hochmütig abgelehnt habt. (Sure 6, 94)

Das Verhältnis zwischen Körper und Seele wird im Islam nicht auf die gleiche Weise wie im Christentum problematisiert; dieser Dualismus ist weniger wichtig. Auch wenn der Körper mit seinen Lüsten für die Versuchung steht, kann man kaum sagen, dass der Islam körperfeindlich ist. Das nächste Leben wird voll sinnlicher Genüsse dargestellt, welche die Rechtgläubigen körperlich erfahren. Beim Tod fällt die Seele in einen bewusstlosen Schlaf und wird erst am Jüngsten Tag aufgeweckt, an dem die Seelen mit den Auferstandenen als Neuschöpfung vereint werden. Der Koran benutzt an dieser Stelle jedoch nicht das Wort »Körper«, sondern »Seele«. Der Islamforscher Rudi Paret lässt an dieser Stelle viele Fragezeichen in seiner Übersetzung: Die Seele im Koran und der islamischen Tradition

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Wenn dereinst […] die Seelen [wieder mit ihren Leibern?] gepaart [oder: in zwei Gruppen aufgeteilt (?) oder: gleich zu gleich gesellt?] werden, […] bekommt einer zu wissen, was er [an Taten zur Abrechnung] beigebracht hat. (Sure 81, 7 u. 14)

Aufgrund ihrer natürlichen Neigung zum Bösen muss die Seele diszipliniert und von der Versuchung ferngehalten werden. Die »Bildung der Seele« ist folglich ein wichtiger Teil der Erziehung und der geistigen Entwicklung. Dafür braucht man einen geistigen Führer, einen sjeik. Besonders im Schiismus und Sufismus wird großer Wert auf das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Meister (imam, sjeik oder pir) und Jünger gelegt, was der Koran jedoch nicht hervorhebt. »Wer keinen sjeik hat, hat den Teufel zum Meister«, lautet ein sufistisches Sprichwort. Die Aufgabe des geistigen Führers besteht vor allem darin, den höheren Teil der Seele zu bilden und seinen Schüler die Fertigkeiten und Erkenntnisse zu lehren, die seine Seele zu Gott führen, der Geist ist, arabisch rūh. Im Koran wird jedoch immer wieder betont, dass jedes Individuum für sein Schicksal selbst verantwortlich ist: »Und macht euch darauf gefasst, einen Tag zu erleben, an dem ihr [zum Gericht] zu Gott zurückgebracht werdet, worauf jedem voll heimgezahlt wird, was er [im Erdenleben] begangen hat! Und ihnen [d. h. den Menschen vor dem Gericht] wird nicht Unrecht getan.« (Sure 2, 282) In religiösen Schriften werden nafs und rūh oft synonym gebraucht, genau wie Seele und Geist in der westlichen Anthropologie. Dabei wird der Geist (rūh) auch in der islamischen Tradition eher als etwas Allgemeines dargestellt, das über dem Menschen steht, aber wie der Mensch ein Teil von Gottes Schöpfung ist. Weil Seele und Geist als zwei Seiten derselben Sache göttlichen Ursprungs sind, ist der Geist für den menschlichen Verstand unergründlich. Dies geht aus Mohammeds Antwort hervor, als ein paar Juden ihn über die Seele befragen: »Man fragt dich nach dem Geist. Sag: Der Geist ist Logos von meinem Herrn. Aber ihr habt nur wenig Wissen erhalten.« (Sure 17, 90) Über den göttlichen Ursprung des Geistes herrscht kein Zweifel. Er wurde eingegeben, als Gott den Menschen, das heißt den Mann, aus Erde schuf: »Wenn ich ihn dann geformt und ihm Geist von mir eingeblasen habe, dann fallt vor ihm nieder!« (Sure 15, 29) Hier bedeutet rūh »Lebensatem«, doch in anderen Zusammenhängen kann es eine abstraktere Bedeutung haben. Rūh ist auch der Geist, den die Engel repräsentieren. Durch den christlichen Einfluss kommt auch der Heilige Geist vor, wenn von 390

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Jesus (Isa) die Rede ist. Auch mit Vernunft und Wissen wird rūh verbunden, besonders mit der göttlichen Einsicht, die Mohammed durch die Offenbarungen zuteil wurde. Obwohl der Dualismus zwischen Körper und Seele im Islam kaum hervortritt, ist der Körper nicht gleichwertig mit der Seele und dem Geist. Die Mystiker stellen ihn als »irdische Hülle der Seele« dar. Doch als Wohnort der Seele hat er auch eine positive Vermittlerrolle, wie Rumi betont: »Was ist der Körper? Der Schatten des Schattens / Deiner Liebe, die das ganze Universum umfasst« (Mathnawi). Rūh scheint also auf einer höheren Stufe zu stehen als nafs, das sich häufig auf den primitiven, gierigen Teil der Seele bezieht, wie in dem Sufi-Sprichwort »Nafs hat einen Koran und einen Gebetskranz in der Hand und einen Dolch im Ärmel«. Trotzdem handelt es sich um zwei komplementäre Größen, die (im Idealfall) den Menschen in dieselbe Richtung ziehen und die, jede für sich, im Verhältnis zum Körper platziert werden. Eine solche Triade schließt den Dualismus aus. Hinzu kommt die Rolle, die das Herz in der islamischen Anthropologie hat, sowohl theologisch als auch philosophisch. Das Herz (qalb) spielt eine Aufsehen erregende Rolle im Koran, der es 137 Mal erwähnt. Es ist der Vermittler zwischen nafs und rūh sowie zwischen Körper und Geist – und vor allem zwischen dem Einzelmenschen und Gott. Das Herz ist existenziell und anthropologisch genauso wichtig wie Geist und Seele. Es ist so wichtig, dass man den Islam mit Recht »die letzte Herzenskultur« nennen kann (vgl. Høystad 2006, S. 85 ff.). Das Herz ist nämlich das Organ, an das Gott sich wendet, wenn er mit dem Einzelmenschen redet. Gott offenbart sich durch das Herz. Es ist nicht bloß eine Metapher, sondern das objektive Organ für Sinneserfahrung, Intuition und Erkenntnis und nicht zuletzt auch für göttliche Inspiration. Daher das Sufi-Sprichwort »den Rost vom Spiegel des Herzens polieren« – damit Gott sich in den Herzen der Menschen spiegeln kann. Diese Metapher wird häufig von islamischen Dichtern verwendet. Auch Mohammed selbst spricht davon, die Seele vom Rost zu befreien. Sie rostet nämlich, wenn eine Person sie nicht regelmäßig durch Gebet und andere Pflichten reinigt. Sure 39 betont die Bedeutung des Herzens als göttliches Organ: Darin [in Gottes Schöpferwerk] liegt eine Mahnung für diejenigen, die Verstand haben. Ist denn einer, dem Gott die Brust für den Islam geweitet hat, so dass er von seinem Herrn erleuchtet ist? Wehe denen, die ein verhärtetes Herz haben und sich vor der Mahnung Gottes verschließen. (Sure 39, 22) Die Seele im Koran und der islamischen Tradition

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Wer dem Herzen und der Stimme des Herzens folgt, folgt nach islamischer Tradition Gottes Willen – und nicht einem subjektiven Gefühl. Dies erklärt die extrem emotionalen Reaktionen, die wir aus den Medien kennen, wenn in der arabischen Welt ein Unrecht geschehen ist. Die emotionalen Ausbrüche sind heiliger Zorn, der aus dem Herzen kommt. Und das Herz lügt nicht, denn es steht in direkter Verbindung zu Gott, der in solchen Situationen angerufen wird. Deshalb appelliert Sayyid Qutb (1906–1966), einer der geistigen Väter der Muslimbruderschaft, besonders an die Herzen seiner Glaubensbrüder, unter anderem in Milestones (Milepæler, 1964). Denn das Herz, in das Gottes Gesetz geschrieben ist, ist zuverlässiger als die Vernunft, die laut Qutb durch westlichen Rationalismus und Wissenschaft verdorben ist und mit ihrem dekadenten Denken den Glauben schwächt. Diese Seite des arabisch-islamischen Menschenbildes wird oft ignoriert. Hintergrund der zentralen Stellung des Herzens im Islam ist Mohammeds Offenbarung, bei der Gott zu seinem Herzen spricht. Als der Erzengel Gabriel ihn vor Gott führte, damit er die heilige Schrift direkt von ihm überliefert bekam, fühlte er hinterher, dass sie in sein Herz eingeschrieben war, eingegeben durch Gottes rūh. Und er [d. h. der Koran] ist vom Herrn der Menschen in aller Welt [als Offenbarung] herabgesandt. Der zuverlässige Geist hat ihn herabgebracht, dir ins Herz, damit du ein Warner seiest. [Er ist] in deutlicher arabischer Sprache [geoffenbart]. (Sure 26, 197)

In der postkoranischen Literatur wird rūh öfter für die Seele gebraucht als nafs, das hauptsächlich für die geistige Dimension verwendet wird, die der Mensch im irdischen Leben in sich trägt (die also im Körper wohnt). Rūh hingegen wird für die geflügelte Seele benutzt, die den Körper verlassen und selbst Geist werden kann. Doch nafs ist enger mit dem rūh des Herzens verbunden als mit dem Körper. Sie gehören zusammen wie Liebhaber und Geliebte und das Herz in seiner Zwischenstellung vermittelt zwischen ihnen. Dies bedeutet, dass es in der islamischen Anthropologie einen engen Zusammenhang zwischen Seele, Herz und Geist gibt, was es schwierig macht, sie zu unterscheiden und die Seele genauer zu identifizieren. Diese Dreiteilung finden wir auch bei einem der bekanntesten Theologen des Islam, al-Ghazali (1058–1111), der als Algazel im westlichen Mittelalter bekannt war. Er beeinflusste sowohl Thomas von Aquin als auch (später) Blaise Pascal. 392

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Wie sehr die arabische Kultur in ihrer Blütezeit europäische Kultur und Mentalität beeinflusste, ist noch immer nicht in aller Breite erforscht. Ein Beispiel ist die Idee der romantischen Liebe mit dem Herzen als Symbol, die über Südspanien nach Europa kam. Die arabischen Philosophen beeinflussten auch das Verständnis der Seele im Hochmittelalter. Noch wichtiger als Algazel waren die zwei bereits genannten großen Andalusier Avicenna und Averroës, besonders Letzterer durch seine Aristoteles-Übersetzungen und -Kommentare. Beide schrieben eigene Bücher über die Seele (Kitab al-nafs), die Einfluss auf die christlichen Theologen des Hochmittelalters hatten. Wir stehen in einer gemeinsamen Mittelaltertradition. In einer Zeit, in der im Nahen Osten antizivilisatorische Primitivität und im Westen Islamophobie wüten, ist es wichtig, an die arabische Mitwirkung an der Entstehung der europäischen Kultur zu erinnern. Die arabische Kultur erreichte ihren künstlerischen und wissenschaftlichen Höhepunkt ungefähr zur gleichen Zeit wie das christliche Hochmittelalter. Damals war der gesamte Nahe und Mittlere Osten ein Kulturgebiet, in dem Dichter, Sufis, Wissenschaftler und Handelsleute sich frei bewegten, von Afghanistan und Indien bis nach Nordafrika und Spanien. Eine gemeinsame Tradition machte sich geltend und platonisches, neoplatonisches und aristotelisches Gedankengut formte beide Kulturen durch arabische Vermittler. Als das Kalifat etabliert und konsolidiert war, herrschte lange Zeit große Toleranz und gegenseitiger Respekt zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen – eine friedliche Koexistenz, die lange in verschiedenen Konstellationen hielt, mehr oder weniger sogar bis in unsere Tage. Doch seit einigen Jahren scheint im Nahen Osten und einigen anderen islamischen Regionen die Hölle ausgebrochen zu sein, insbesondere in Syrien und im Irak. Wir können nur hoffen, dass die Region nach dieser Welle der Gewalt wieder zu ihren Wurzeln zurückfinden kann und zu einem Menschenbild, als dessen Vertreter die Sufis mit ihrer Humanität und geistigen Souveränität gelten können. Der Andalusier, Theosoph, Philosoph, Mystiker und Sufi Ibn Arabi (1165–1240) ist ein gutes Beispiel für die Blütezeit der arabischen Hochkultur. Er war ein »Globetrotter«, schrieb Hunderte von Büchern und hatte Jünger im gesamten Nahen Osten. Seine Toleranz kommt in einem seiner Gedichte schön zum Ausdruck (Übers. Schimmel 1982): Mein Herz ward fähig, jede Form zu tragen: Gazellenweide, Kloster wohlgelehrt, Die Seele im Koran und der islamischen Tradition

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ein Götzentempel, Kaaba eines Pilgers, Der Tora Tafeln, der Koran geehrt: Ich folg’ der Religion der Liebe, wo auch Ihr Reittier zieht, hab’ ich mich hingekehrt!

Die Diskussion über die Seele zwischen Theologen, Theosophen, Philosophen und Sufis in der arabischen Kultur illustriert einen wichtigen Punkt dieses Buches, nämlich: Wie man die Dimensionen nennt, die den Menschen zum Menschen machen, und welchen Status und welche Funktion man ihnen zuspricht, ist nicht gegeben, sondern Gegenstand eines historischen und kulturellen Prozesses, in dem man den Dingen – auch dem Wesen des Menschen – je nach Bedürfnis und Ziel einen Namen gibt. Dies gilt auch für die Seele als das innerste, unergründliche Wesen des Menschen. Im Islam ist das Zentrum des Menschen nicht seine Vernunft und Rationalität, sondern eben die Seele (rūh und nafs), die ihren Sitz im Herzen hat, und die geistige Dimension, die mit ihr verbunden ist. Das Geistige und Seelische geht im inneren Raum vor sich, der dem alltäglichen Blick verschlossen ist. Deshalb erscheinen der Islam und die arabische Welt als geschlossene Kultur, in der die Mystik der beste Weg zur Erkenntnis ist. Während die westliche Kultur die Aufklärung aller Dinge sucht, sucht die arabische Kultur, was sich im Dunkeln verbirgt, hinter 1000 Schleiern und ohne die Schleier zu entfernen. Dies ist das Göttliche am inneren Seelenleben, das mit verschiedenen Bezeichnungen und Bildern belegt wird. Nafs ist im Arabischen ein Femininum, was zu einer Diskussion darüber geführt hat, ob es damit nicht schon mit dem Weiblichen an sich als Repräsentation des Verführerischen in Verbindung zu bringen ist. Dazu muss gesagt werden, dass es im Koran keine durch Eva veranlasste Erbsünde gibt. Trotzdem treten Frauen im Koran und der religiösen Literatur des Islam des Öfteren als Versucherinnen auf. Man muss jedoch zwischen dem Frauenbild in islamischen Ländern und dem Frauenbild Mohammeds unterscheiden. Mohammed hatte nach den Maßstäben seiner Zeit ein positives Frauenbild. Frauen, Ehefrauen, Töchter, Mütter und Großmütter soll man ehren. Den Frauen werden Rechte und Pflichten zuerkannt – unter anderem das Recht auf Scheidung. Mohammeds erste Ratgeberin war seine erste Frau Chadidscha. Die meisten Muslime, die den Koran lesen, finden dort keine Hinweise, dass Frauen als minderwertig aufgefasst werden. Sie haben denselben Ursprung und ihre Seelen unterliegen denselben Anforderungen. Erst nach Mohammeds Zeit und nur in Teilen der islamischen 394

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Literatur entsteht ein Frauenbild, mit dem in einigen Gesellschaften heute die Unterdrückung der Frau gerechtfertigt wird. Die deutsch-amerikanische Islamexpertin Annemarie Schimmel hat sich ausführlich mit dem Frauenbild des Islam beschäftigt. Schon der Titel ihres Buches, Meine Seele ist eine Frau. Das Weibliche im Islam (1995), spricht Bände. Dort untersucht sie, welchen Platz die Frau in der Mystik des ansonsten streng patriarchalischen Islam einnimmt. In der Mystik hatten die Frauen (ähnlich wie im Christentum) von Anfang an eine starke Stellung. Der Sufismus begegnet frommen Frauen mit großem Respekt. Einer der ersten islamischen Mystiker überhaupt war eine Frau, Rabia von Basra (ca. 717–801). Es gibt viele Geschichten über sie, unter anderem wird erzählt, wie die fromme Asketin mit einem Eimer Wasser in der einen und einer brennenden Fackel in der anderen Hand durch die Straßen von Basra lief. Als man sie fragte, warum sie dies tue, antwortete sie: Ich will das Höllenfeuer löschen und das Paradies anzünden, damit diese Schleier beide verschwinden und die Menschen Gott nicht aus Furcht vor der Hölle oder Hoffnung auf das Paradies anbeten, sondern nur wegen seiner ewigen Schönheit.

Diese Mahnung hat in über 1000 Jahren nichts an Aktualität verloren. Verblendete Selbstmordattentäter denken nicht an Gottes Schönheit, wenn sie sich selbst zu Märtyrern, die ins Paradies eingehen, ausrufen. Rabia zufolge kommt man nicht ins Paradies, wenn einem die Liebe zum Schönen fehlt. Es war Rabias Verdienst, dass der Sufismus von düsterer Askese zur echten Liebesmystik wurde. Liebe ist eine Bedingung. Der Weg zu Gott geht über die Liebe, Gottes Liebe, die etwas anderes ist als die erotische Liebe, obgleich Letztere auch als Bild für die göttliche Liebe benutzt wird. Nicht nur in der Sufiliteratur, sondern in der gesamten persischen und arabischen Dichtung spielen Frauen eine zentrale Rolle. Liebende Frauen werden oft als Bild für die Seele verwendet, die sich nach Gott sehnt und durch die Liebe eins mit Gott werden kann. Anhand dieser Verbindung zwischen Seele und Frau wollen wir einen wichtigen Punkt des islamischen Seelenbildes beleuchten. Als Beispiel soll uns Potifars schöne Frau Suleika dienen. In Sure 12 wird die Geschichte von Josef und Suleika erzählt. Suleika ist mit Potifar verheiratet, der im Alten Testament der Verwalter des Pharao ist. Auch dort wird »Potifars Frau« als Versucherin dargestellt. Sure 12 handelt eigentlich von Josefs Verhältnis zu seinen hinterlistigen Brüdern, die neidisch auf ihn sind, weil der Vater ihn vorzieht. Sie ist als Lehrstück Die Seele im Koran und der islamischen Tradition

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darüber gedacht, wie es den Arglistigen ergeht, die nicht dem Wort des Herren folgen, und wie Gott seine Hand über die Auserwählten hält, die ihn suchen und an seiner Liebe teilhaben. Die Geschichte von Josef und Suleika ist nur ein Nebenmotiv, aber eine sehr beliebtes. Suleikas Rolle ist zweideutig. Sie ist nicht nur die Versucherin, sondern auch die Liebende, die sich hingibt. Deshalb gibt es Hoffnung für sie, wie die Sure andeutet. Denn Josef ist nicht irgendwer, er ist derjenige, den Gott liebt und über den er seine schützende Hand hält. Er strahlt vor Gottes Liebe, sodass er fast wie ein Engel erscheint und die göttliche Schönheit verkörpert, die Rabia anstrebt. Gottes Liebe und Gottes Schönheit sind dasselbe. Josef inkarniert beide und Suleika begehrt beides an ihm. Im Koran wird die Sure als »schönste der Geschichten« eingeleitet, die offenbart werden soll (Str. 3). Viele meinen, dass sie den Kern des Islam als Religion der Liebe repräsentiert. Suleika wird keineswegs dafür beschuldigt, dass sie liebt. Sogar Josef fühlt die Kraft ihrer Liebe. Sie hatte Lust auf ihn, und er hatte Lust auf sie, aber ein Zeichen des Herrn hält ihn zurück: »So (aber griffen wir ein) um Böses und Abscheuliches von ihm abzuwenden« (Str. 24). Wenn Suleika dem niederen Teil der Seele, nafs, folgt, ist es natürlich, dass sie Lust auf den hübschen Jüngling bekommt. Doch genau dem soll sie widerstehen, denn die Liebe soll sich auf Gott richten. Dies ist die Moral sowohl der Liebesepisode als auch der gesamten Geschichte mit Josefs Brüdern. Gott weiß alles, sieht alles und urteilt gerecht. Deshalb dankt Josef Gott, dass er ihm den Weg gezeigt hat, ihm ein Zeichen gegeben und ihn vor dem Bösen beschützt hat. Auch für Suleika gibt es Hoffnung, denn »der Herr erbarmt sich. Der Herr ist vergebend, gnadenreich«. Sie erkennt die Wahrheit. Deshalb kann sie auch ihre Liebe zu Gott wenden, der die eine, wahre Liebe ist, aus der alle menschliche Liebe entspringt. Suleika wird in der religiösen Dichtung zum Bild und Symbol dieser göttlichen Liebe. Sie wendet ihre Liebe vom Mann zu Gott. Sie wird ein Bild der Seele, die sich nach Gott sehnt und die in Liebe mit ihm vereint werden kann. Außerdem zeigt sie den Zusammenhang zwischen Leiden, Leidenschaft und Liebe: Wer liebt, der leidet auch; je stärker die Leidenschaft, desto stärker das Leiden. Wer Liebe hat und liebt, leidet so lange, wie das Ziel der Liebe nicht erreicht ist. Suleika steht in einer Reihe mit anderen Frauen (besonders mit Maria, Jesu Mutter, mit der Frau des Pharaos und mit der postkoranischen Fatima, einer Tochter Mohammeds) als Bild der Seele. In der religiösen Dichtung kehrt das Bild wieder: Die Seele, dargestellt als Frau, wandert auf einem schmalen Pfad, der zum Geliebten führt, um mit ihm vereint zu werden. 396

Die gefährdete Seele des Islam

Die Geschichte von Suleika wurde auch in Europa beliebt, besonders als die Romantik den Orientalismus aufnahm. Hans Christian Andersen war von dem Abenteurer Aladdin begeistert, Goethe von der liebenden Suleika. Goethe stellte den Islam als eine humane und aufgeklärte Bewegung dar. Für ihn war die Beschäftigung mit dem Islam, dem Koran, Mohammed und den persischen Dichtern ein lebenslanges Projekt, das ein so enges Verhältnis zwischen ihm und dieser Kultur schuf, dass er den Verdacht nicht loswurde, »vielleicht selbst ein Muslim zu sein«, wie er es ausdrückte (vgl. Mommsen 2001). Wie eng Goethes Verhältnis zur arabischen und persischen Kultur war, kommt durch eines seiner kanonischen Werke zum Ausdruck, nämlich den West-östlichen Divan (1819), dessen Titel auf zentrale Werke der klassischen islamisch-arabischen und persischen Dichtung anspielt, wo der divan ein eigenes Genre ist, ein Gedichtzyklus. In Goethes divan bekommt Suleika einen eigenen Gedichtzyklus. Die Sehnsucht nach Einheit mit der Quelle der Liebe, welche die klassischen Werke schildern, spiegelt sich in der inneren Glut und der Seligen Sehnsucht, die Goethe in dem gleichnamigen Gedicht lobpreist. Es weist auf den Märtyrertod des Sufi al-Halladsch hin, auf dessen innere Sehnsucht nach einem »Tod in den Flammen«, die das Seelenherz zu »dem, was es werden soll« wandeln. Stirb und werde!, heißt es in dem bekannten Gedicht. Als Bild der Seele illustriert Suleika die verschiedenen Neigungen und Niveaus, die die Seele in sich trägt. Weil die Seele auch das Selbst der Person ist (das die Person sich selbst schuldet), ist es auch die eigene Entscheidung des Individuums, in welche Richtung es sich entwickelt – und auf welchem Niveau die Seele ihren Schwerpunkt hat, hoch oder niedrig. Diese Einteilung der Seele wurde im Lauf der Zeit von islamischen Philosophen und Theologen weiterentwickelt. Der Sufi Abd al-Karīm al-Dschīlī (1365–ca. 1424) gab der Seele folgende fünf Niveaus oder mögliche Entwicklungsstadien: 1) die animalische Seele, der Seelenteil, der den Körper steuert; 2) die Seele, die das Böse will oder dazu neigt, der Teil der Seele, der von Leidenschaften gesteuert wird; 3) die inspirierte Seele, das heißt der göttliche Geist, der die Seele inspiriert, das Gute zu tun; 4) die selbstreflektierte Seele, die sich reumütig an Gott wendet; und schließlich 5) die friedliche Seele, die in Gott ruht (vgl. Nicholson 1978, S. 121). Ein solch differenziertes Seelenbild liegt dem Sufismus zugrunde, der die Liebe als Weg der Seele zurück zur geistigen Einheit mit Gott, dem Ziel der Seele im Islam, in Reinkultur darstellt.

Die Seele im Koran und der islamischen Tradition

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The sad truth is that most evil is done by people who never make up their minds to be good or evil. (Hannah Arendt)

EINE KOLLEKTIVE SEELE? DIE SORGE UM SICH SELBST UND ANDERE

Die grausamen Übergriffe auf Unschuldige und die Morde an Andersdenkenden, die radikale Islamisten heute begehen, werfen in unserem Kontext die Frage auf, was mit der persönlichen Integrität des Einzelnen geschieht, wenn dieser die Ziele einer Gruppe oder einer Ideologie mit Gewalt durchsetzt. Stimmt es, wie die Nazis und viele andere behaupteten, dass der Zweck die Mittel heiligt oder dass derjenige, der an einem »heiligen Krieg« teilnimmt, erlöst werden kann, egal welche Mittel er einsetzt? Selbstverständlich darf man eine ganze Religion wie den Islam nicht als Ursache für Terror und Massenmorde hinstellen. Mord und Gewalttaten werden von Individuen oder Gruppen begangen, nicht von Religionen. Schaut man sich die Geschichte an, steht außerdem die Gewalt, die Christen Andersdenkenden angetan haben, dem Terror in nichts nach. Die meisten tödlichen Ideologien der modernen Zeit sind fatale Varianten von Nationalismus, Faschismus oder Kommunismus, Stalins und Maos Terrorregimes, rücksichtsloser Imperialismus und ethnischer Rassismus. Der Holocaust und der Zweite Weltkrieg, der im Herzen der europäischen Kultur von den Nazis begonnen wurde, sind an Bosheit und Grausamkeit ohnegleichen, mit mehr als 50 Millionen Toten. Der Völkermord an 6 Millionen Juden war zwar der größte, aber leider nicht der letzte Genozid des 20. Jahrhunderts, das mit weiteren Massenmorden auf dem Balkan und in Afrika endete, wo innerhalb von 100 Tagen 900.000 Tutsi von ihren ethnischen Verwandten, den Hutu, ermordet wurden – ohne dass die Weltgemeinschaft reagierte. Die große Frage in unserem Zusammenhang ist, warum so viele Menschen gewillt sind, sich Massenbewegungen hinzugeben, obwohl sie dabei Eine kollektive Seele?

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ihre Seele aufs Spiel setzen, sowohl im ethisch-existenziellen als auch im religiösen Verstand. In den vorhergehenden Kapiteln haben wir uns auf die ideelle Seele als Dimension des Menschenbildes oder als Begriff in einem theoretischen, anthropologischen System konzentriert. Das Schicksal der persönlichen Seele wird jedoch nicht in der Theorie entschieden, sondern in der Praxis. Es ist eine Konsequenz daraus, wie sich Menschen selbst verstehen und im weiteren Sinne gesellschaftlich leben und handeln, das heißt im Verhältnis zu anderen Menschen. Die Denkerin, die sich in der Nachkriegszeit am meisten mit diesem Verhältnis und dem Menschen als handelndes Wesen befasst hat, ist die jüdische deutsch-amerikanische Politologin und Publizistin Hannah Arendt. Love is the »weight of the soul«, its law of gravitation, that which brings the soul’s movement to its rest. (Hannah Arendt, The Life of the Mind)

Hannah Arendt – das Individuum und die Gruppe In der Geschichte der Seele nimmt Hannah Arendt (1906–1975) in vieler Hinsicht eine paradoxe Position ein, die auf gegenteilige Weise interpretiert werden kann: zum einen als Bestätigung dafür, dass die Seele ihr Haltbarkeitsdatum überschritten hat, zum andern als Umdeutung und Neubeginn für das Seelenleben, auch wenn die Seele nicht direkt ihr Thema war. Dennoch liegt Arendts Ausgangspunkt in der klassischen »Sorge um sich« der Philosophie, von Platon und Aristoteles über Augustinus bis zu Kant und Heidegger. Aber sie deutet diese Tradition um, die eine Sorge um die Seele mit Gedanken an den Tod war. Arendt dreht sie gewissermaßen um 180 Grad, vom Ende des Lebens zum Anfang, von Gedanken über den Tod zu solchen über die Geburt – ein Brennpunktwechsel von der Mortalität zur Natalität – und von der inneren Selbstreflexion zur Reflexion über das äußere Handlungsleben und die gemeinsamen Lebensbedingungen. Die Geburt eines Individuums sieht sie als einzigartige, einmalige Begebenheit, wenn ein neues, unikales Leben mit allen Möglichkeiten beginnt, die jedoch von den Lebensbedingungen abhängen. The Human Condition (1958) ist der Titel eines ihrer Hauptwerke. Besonderes Gewicht legt sie darauf, dass das Leben des Einzelnen von anderen Menschen abhängig ist und von den Bedingungen der sozialen und politischen Gemeinschaft, in die man geboren wird. Das Besondere am Menschenle400

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ben sind die Handlung und die Freiheit, in einem aktiven sozialen Leben spontan zu handeln (Vita activa oder Vom tätigen Leben, so der deutsche Titel von The Human Condition). Jeder Tag birgt die Möglichkeit eines Neubeginns, ein zentraler Gedanke Arendts. Die klassische vita contemplativa wird durch die vita activa komplementiert. Deshalb legt sie großes Gewicht auf die sozialen und politischen Verhältnisse, die den freien Gedanken und die spontane Handlung ermöglichen oder behindern. Dies beschreibt sie bereits in ihrem ersten größeren Werk, The Origins of Totalitarianism (1951), das ihr rasch einen Platz unter den wichtigsten Denkern des 20. Jahrhunderts sicherte. Hannah Arendts Umdeutung der Philosophie und des Ziels sowie der Bedingungen des menschlichen Lebens entspringt direkt ihren persönlichen Erfahrungen als Jüdin unter dem Naziregime, während des Zweiten Weltkriegs und bei der Abrechnung mit dem Nationalsozialismus sowie der Verarbeitung des Holocaust nach dem Krieg. 1933 wurde sie verhaftet, nachdem sie Flugblätter gegen die Nazis verteilt hatte, aber sie kam frei und flüchtete nach Frankreich, wo sie wie andere Juden interniert wurde (eines der dunklen Kapitel der französischen Geschichte) – ein Wartegleis nach Auschwitz. Wieder kam sie frei und bekam ein Visum für die USA, wo sie sich niederließ. Ihre Umdeutung der philosophischen Tradition war unter anderem von dem Existenzphilosophen Heidegger inspiriert, mit dem sie als Studentin in den Zwanzigerjahren ein Verhältnis gehabt hatte. Sie sah es als ihre Lebensaufgabe an, zu verstehen und zu erklären, »was nicht hätte geschehen sollen, aber trotzdem geschehen ist«. Und was dem italienischen Autor und KZ-Insassen Primo Levi zufolge »wieder geschehen wird«. Wie wir heute wissen, hatte er recht. Was den Menschen als soziales und politisches Wesen konstituiert, ist die Freiheit zu handeln und die Pflicht, nachzudenken und selbst zu entscheiden – mit aller Verantwortung für seine Handlungen und Unterlassungen. Diese Freiheit wird von totalitären Systemen zerstört, indem das Individuum zu einem anonymen Glied in einer konformen Masse gemacht wird, die von den Intellektuellen des Totalitarismus und den Anführern und Bürokraten des Kaders verführt wird. So entsteht eine neue Allianz zwischen dem Pöbel (the mob) und der Elite. Das Erschreckendste an Arendts Analyse und faktischer Beschreibung ist, wie der Mensch als einmaliges Individuum vom totalitären Regime überflüssig und zum Werkzeug gemacht wird. Eine ihrer Hauptthesen lautet, dass Terror und einseitige Propaganda Gedankenlosigkeit produzieren und den inneren Hannah Arendt

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Dialog des Individuums zwischen »ich und mir selbst« knebeln, mit anderen Worten: den Dialog der Seele mit sich selbst. Resultat ist »das radikal Böse«: die »Säuberungen« des Stalinismus, der Gulag und der Holocaust, die sie in The Origins of Totalitarianism schildert. In unserem Zusammenhang ist es von besonderem Interesse, dass Hannah Arendt die Spontaneität als Voraussetzung für persönliche und politische Freiheit bezeichnet. Frei sein bedeutet dasselbe wie spontan sein. Nimm einem Menschen die Spontaneität – und Macht und Unterdrückung übernehmen. Spontaneität ist dasselbe wie Unvorhersehbarkeit. Sie wird in totalitären Systemen nicht toleriert. In welchem Grad Spontaneität möglich ist, kann auch als Maßstab für unsere Arbeitsplätze und Institutionen gelten, für unsere kollegialen Verhältnisse und Beziehungen zu anderen Menschen. Wenn es keinen Raum für Spontaneität gibt, wenn wir unmittelbar fühlen, dass sie unterdrückt werden muss, bricht die Hölle aus. Wenn es nur noch Vorhersehbarkeit und überhaupt keine Spontaneität mehr gibt, kann das radikal Böse geschehen. Mit der Spontaneität wird auch jeder individuelle Ausdruck und somit letztendlich die Vielfalt und Pluralität entfernt. Spontaneität ist auch eine seelische Qualität. Eine freie und ehrliche Seele reagiert spontan. Spontaneität ist das Wesen und die Bedingung des Gewissens. Nur Individuen haben Spontaneität und nur Individuen haben eine Seele. Es gibt keine kollektive Seele. Es gibt jedoch kollektive Bewegungen, in denen Einzelne ihre Seele auflösen. So verlieren sie sich selbst. Hannah Arendts Beschreibung totalitärer Systeme gilt noch heute. Nach dem Krieg, als amerikanische Staatsbürgerin, erschreckte es sie, wie Reklame und Marktmechanismen freie Bürger zu einer Masse materialistischer Verbraucher umformten und wie die Massenmedien Massenmentalität erzeugen. Die Gleichschaltung sah sie als gefährlichen Zug der Modernität. Eines der schlimmsten Beispiele war die wohlfunktionierende Bürokratie der Nationalsozialisten, die die Massenvernichtung der Juden effektiv verwaltete. Die hierarchische Administration, in der alle den Verordnungen offizieller Autoritäten folgten, gab der Judenverfolgung einen Anschein der Legalität, die manche mit Moralität verwechselten. Hannah Arendt war eine der Ersten, die die Mechanismen hinter der Dehumanisierung »unerwünschter Elemente« in der Gesellschaft systematisch analysierten. Sie untersuchte, wie das totalitäre Regime den betroffenen Individuen systematisch ihre Menschlichkeit und ihre staatsbürgerlichen Rechte entzog. 402

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Der unmenschliche SS-Büttel und sein Opfer, das jede Menschenwürde verloren hat, sind die Extrempunkte des totalitären Systems. Beide Kategorien sind eine Herausforderung für den Glauben an und die Sorge um die Seele. Das Opfer schafft es nicht, ihr auch nur einen Gedanken zu widmen, der Täter übersieht sie in seinem gedankenlosen Machtrausch und seinem Konformismus. Die Behauptung, dass Leiden läutere, ist eine Verhöhnung aller, die in der Hölle der Konzentrationslager gefangen waren und nicht einmal ihren eigenen Tod sterben durften, sondern langsam zu Tode gequält, vergast und verbrannt oder in Massengräbern verscharrt wurden. Sie wurden ihres Namens und jeder Individualität beraubt. Wir haben in diesem Buch die Seele als eine Antwort auf den Tod gesehen, als verdichtete Summe aus dem Sinn des Lebens, und deshalb auch das Ideal kennengelernt, seinen eigenen Tod zur rechten Zeit zu sterben. Für die Opfer des Holocaust klingt auch dies wie Hohn. Indem die Konzentrationslager den Tod selbst anonym machten – in der Sowjetunion ist es nahezu unmöglich, auch nur festzustellen, ob einer schon tot oder noch lebendig ist –, nahmen sie dem Sterben den Sinn, den es immer hatte haben können. Sie schlugen gewissermassen dem Einzelnen seinen eigenen Tod aus der Hand, zum Beweis, dass ihm nichts mehr und er niemandem mehr gehörte. Sein Tod war nur die Besiegelung dessen, dass es ihn niemals gegeben hatte. (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 661)

Hannah Arendt geht mit ihren Analysen in zwei Richtungen. An einem Ende liegen das Böse und die totalitäre Entmenschlichung, am anderen das, was den Mensch zum Menschen mit Wert und Würde macht und als Gegenteil auch der Maßstab des Bösen ist. Hier ist Kants Philosophie ihre Hauptinspirationsquelle. Das Gegenstück zu den Konzentrationslagern der Nazis und die beste Verteidigung gegen den Totalitarismus ist die Förderung des Freiraums für menschliche Handlung und Vernunft, selbständiges Denken und das, was Kant Urteilskraft nennt, das heißt die Fähigkeit, selbst zu entscheiden. Ein soziales und politisches Wesen und Bürger zu sein bedeutet mehr, als ein selbstgenügsames Ich zu sein (in dem die Seele einen Dialog mit sich selbst über sich selbst führt), meint Arendt. Das Menschenleben wird in der Spanne zwischen dem Ich und dem Wir gelebt, das inkludiert und Rücksicht auf den anderen und das andere (und alle, die anders sind) nimmt. Individualität und Pluralität setzen einander voraus. Wenn es keinen Raum für Verschiedenheit gibt, ist es Hannah Arendt

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unmöglich, das Individuelle zu respektieren. Die große ethische und existenzielle Herausforderung in Hannah Arendts Philosophie ist der Balanceakt zwischen den beiden: Wie bewahrt man seine persönliche Souveränität gegenüber der Gemeinschaft und wie nimmt man auf die Gemeinschaft Rücksicht, wenn man mit sich selbst beschäftigt ist? Den Begriff »Seele« als regulierende Norm in diesem Verhältnis benutzt Hannah Arendt nicht. Aber es ist genau die fehlende Sorge um die eigene Seele, die zu den Gewaltorgien der Nazis führte. Im Eifer, den Befehl des Führers und die Erwartungen der Masse zu erfüllen und somit ihre Position zu verbessern, vergaßen sie die eigene Seele. Das Beispiel für den seelenlosen Menschen, das Individuum, das offenbar alles tun kann, ohne dass sein inneres Leben davon betroffen wird, ist Adolf Eichmann, einer der Architekten der »Endlösung« der »Judenfrage«. Eichmann bekam nach der Machtergreifung das Ressort für »Judenangelegenheiten« und war ein Hauptverantwortlicher für die Deportation von Juden und den Transport in die Konzentrationslager. Weil er sich in seinem Prozess nach dem Krieg ausführlich über die Teilnahme am Völkermord aussprach, kann er hier als Beispiel für das (Miss-)Verhältnis zwischen der Sorge um sich selbst und der Sorge um andere dienen.

Der Durchschnittsmensch Adolf Eichmann und das Böse Der Prozess gegen Eichmann war der größte Holocaust-Prozess seit den Nürnberger Prozessen. Eichmann wurde 1960 in Buenos Aires von israelischen Agenten entführt, nach Israel geflogen und 1961 in Jerusalem vor Gericht gestellt. Die Anklage lautete auf Verbrechen gegen die Menschheit und gegen das jüdische Volk sowie Kriegsverbrechen. Wie die meisten anderen nationalsozialistischen Kriegsverbrecher erklärte er sich für nicht schuldig, als er zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Hannah Arendt folgte dem Prozess als Reporterin für den New Yorker und gab ihre Reportagen 1963 in Buchform unter dem Titel Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen heraus. Das Buch rief heftige Kontroversen hervor. Arendt wurde unter anderem von israelischer und jüdischer Seite aus kritisiert, weil sie ihrerseits die Zusammenarbeit jüdischer Führungspersonen mit den Nazis und Eichmann kritisiert hatte. In erster Linie jedoch richteten die Einwände sich 404

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gegen ihr Verständnis von Eichmann als Persönlichkeitstyp und gegen die Charakterisierung des Bösen als »banal«, im Gegensatz zum »radikal Bösen«, das sie früher analysiert hatte. Dies interessiert uns hier, weil es etwas über Eichmanns Seelenleben – hatte er eines? – aussagt und über die Bedeutung der Seele in dem Bösen, für das er mitverantwortlich war. Nicht die Judenverfolgung oder der Nationalsozialismus als solche stehen hier im Mittelpunkt, sondern die seelischen und persönlichen Eigenschaften oder deren Mangel als Voraussetzung für die geschehenen Untaten und das, was diese Taten mit den Verantwortlichen machen. Unser wie auch Hannah Arendts Ausgangspunkt ist, dass das Leben einigen grundlegenden ethischen Prinzipien unterliegt, dass Ethik das Leben konstituiert, es möglich macht und dass es schwere Konsequenzen für den Einzelnen hat, wenn er diese Grundprinzipien bricht. Dafür ist die Seele sowohl ein persönlicher Maßstab als auch ein Symptom. Alle Ethik beruht auf der Annahme, dass es etwas gibt, das das Gute und die Würde des Menschen fördert, und etwas, das sie verletzt; dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch gibt und dass das Wahre, Gute ein Kriterium für sich selbst und für sein Gegenteil ist. Das Böse ist also eine Verfallsform, eine Negation, nichts, was für sich selbst existiert, nichts Absolutes oder Essenzielles (in Form von Satan oder Ähnlichem). Auch Hannah Arendts Beurteilung von Eichmanns Bosheit baut auf einer solchen Definition auf, was für viele Grund genug war, sie abzulehnen. Die israelischen Behörden und viele Juden waren der Meinung, dass sie mit Eichmann einen Menschen verhaftet hatten, der in seinem Wesen böse war: ein Sadist und Antisemit, der aus Hass und Verachtung und mit Freude Juden umbrachte. Endlich konnte man der ganzen Welt zeigen, welche Unmenschlichkeit und dämonische Bosheit die Nazis bei ihrem Versuch, das jüdische Volk auszurotten, getrieben hatte. Doch Hannah Arendt sah und hörte etwas anderes als ein Monster auf der Anklagebank. Die Taten waren monströs, aber nicht der Täter. Das Erschreckendste an Eichmann war, wie durchschnittlich und alltäglich er war. Ein grauer, fantasieloser Bürokrat und Verwalter, der tat, was alle anderen um ihn herum taten. Was sie in seiner Situation wahrscheinlich auch getan hätten. Diese erschreckende Perspektive betrifft uns alle. Arendts alarmierende Schlussfolgerung lautete, dass die Massenmorde im Großen und Ganzen von gewöhnlichen Menschen verübt wurden, dass es Durchschnittsmenschen waren, die sie ausführten: Der Durchschnittsmensch Adolf Eichmann

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Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er wie viele andere und dass diese vielen anderen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. (Arendt 2011, S. 326)

Noch erschreckender war, »dass dieser neue Verbrechertypus […] unter Bedingungen handelt, die es ihm beinah unmöglich machen, sich seiner Untaten bewusst zu werden« (ibd.). Denn in seiner Gesellschaft gibt es nichts, was ihm sagt oder zeigt, dass er falsch oder böse handelt. Diese »Normalität« ist das Radikale an Arendts Darstellung des Bösen als banal. Sie platziert das Böse mitten unter uns. Ihr Urteil gilt nicht nur den Verhältnissen unter dem Nationalsozialismus, sondern auch jetzt und in der Zukunft. Wenn die Bedingungen gegeben sind, können du und ich und unsere ehrwürdigen Nachbarn als Büttel enden. Ein Grund für die heftigen Reaktionen auf Arendts Buch war, dass die Kritiker nicht erkannten, wie radikal ihre Auslegung war. Sie hatten Vorstellungen eines dämonischen Bösen und wurden nun mit dessen Banalität konfrontiert. Dies bedeutete natürlich keinen Freispruch für Eichmann. Dass viele den Weg des Bösen gehen, macht den Weg nicht gut, es macht ihn den vielen nur einfacher. Doch dann sind auch viele dafür verantwortlich, nicht nur der eine oder die wenigen auf der Anklagebank. Auch dies macht Arendts Schlussfolgerung so schmerzhaft, denn sie gilt bei Weitem nicht nur für die Gräueltaten der Nazis. Ihre Konklusion wurde leider durch die Jugoslawienkriege der Neunzigerjahre bestätigt, als frühere gute Nachbarn einander töteten, nachdem der Nachbar zum stereotypen Feind umgedeutet und somit seiner menschlichen Züge beraubt worden war. Das Aufsehen Erregende an Arendts Darstellung ist das »realistische« und desillusionierte Menschenbild, das nach ihren Analysen übrig bleibt: Wir wissen nun, dass unter gegebenen Umständen so gut wie jeder zum Werkzeug des Bösen werden kann, im großen und im kleinen Maßstab. Hannah Arendt hat viele Menschen dazu gebracht, sich zu fragen: Was hätte ich unter diesen Umständen getan? Und weil Adolf Eichmann ein solcher Durchschnittsmensch war, der seine Seele opferte, um durch eine kollektive Bewegung persönliche Vorteile zu erlangen, bekommt er hier eigenes Kapitel. Genauso wichtig wie das Aufzeigen der Bosheit in der Konformität und im Opportunismus ist die Erinnerung, dass nicht alle wie die Mehrheit handelten, dass »was nicht hätte geschehen sollen« nicht überall geschah, weil einzelne Menschen ihre persönliche Integrität und ihr Seelenheil 406

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vor den Eigennutz und die kollektive Einigkeit stellten. Auch dazu mahnt uns Hannah Arendt, es ist ihr erster und letzter Appell. Manche distanzierten sich, und manche leisteten aktiv Widerstand. Wie der österreichische Feldwebel Anton Schmid, von dem ein Zeuge im Eichmann-Prozess berichtete. Schmid sabotierte Befehle und half in Vilnius fünf Monate lang litauischen und polnischen Juden sowie jüdischen Partisanen mit falschen Papieren und Militärtransporten. Er rettete über 300 Menschen, ehe er festgenommen und hingerichtet wurde. Ein anderer, der Juden versteckte und beschützte, war der Theologiestudent Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II. 1979 trug er zum Ende des kommunistischen Schreckensregimes bei, indem er seinen Landsleuten die kraftvollen Bibelworte »Fürchtet euch nicht!« zurief. Dass einige, wenn auch nur einige, ihre Meinung sagen, protestieren und Widerstand leisten, sieht Arendt als entscheidenden Unterschied: Denn die Lehre solcher Geschichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht. So wie die Lehre, die man aus den Ländern im Umkreis der »Endlösung« ziehen kann, lautet, dass es in der Tat in den meisten Ländern »geschehen konnte«, aber dass es nicht überall geschehen ist. Menschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten, […] damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können. (ibd., S. 278)

Historisch entscheidend ist, dass nicht alle wie Eichmann und die Mehrheit handelten, sondern manche gegen den Machtmissbrauch und die Dehumanisierung aufstanden. Doch um aus der Geschichte zu lernen und der kollektiven Gleichschaltung zu widerstehen, müssen wir auch verstehen, welche Motive und Charakterzüge die Handlung Eichmanns und seiner Gleichgesinnten bestimmten. Das Drama der Bosheit handelt immer von den persönlichen und seelischen Qualitäten des Einzelnen. Es handelt von Menschen, die jenseits des Alltags auf die Probe gestellt werden. Eichmann war nicht von Sadismus oder Judenhass getrieben; seine Bestrebungen galten seiner eigenen Karriere und dem Bedürfnis nach Anerkennung. Arendt konstatiert: »außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive« (ibd., S. 16). Es scheint, als habe er die Tragweite seiner systematischen Arbeit und seiner bürokratischen Instruktionen nicht gesehen, als habe er es nicht einmal versucht. Er ist ein Der Durchschnittsmensch Adolf Eichmann

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neuer Typus des Kriminellen, der Schreibtischtäter. Das Neue an Arendts Darstellung ist die Einsicht, dass böse Taten nicht unbedingt böse Motive benötigen. Beim Prozess tat Eichmann, als hätte er nicht gewusst, was in den Konzentrationslagern vor sich ging, und hätte keinen Anteil daran gehabt. In Wirklichkeit gehörte er als Teilnehmer der Wannseekonferenz vom Januar 1942 zu den Eingeweihten. Dort nämlich wurde unter der Leitung von Gestapo-Chef Reinhard Heydrich die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen. Besonders erschreckend an dieser Versammlung war das akademische Niveau der Teilnehmer: Acht von 15 hatten einen Doktorgrad! Dass hohe Bildung ein wirksamer Schutz vor Bosheit sei, ist ein gefährliches Vorurteil. Im Gegenteil: Der Theoretiker wird rascher von einseitiger Argumentation verführt. Seelische Qualitäten sind etwas anderes als formelle Kompetenz. Eichmann fühlte sich geehrt, an der Konferenz teilnehmen zu dürfen. Im Prozess wies er sogar auf seine hohen Verbindungen und seine vertrauensvolle Stellung hin. Jedoch fühlte er sich übergangen, weil er keinen höheren Offiziersgrad bekam, was er immer wieder betonte. Eitelkeit, Karrierejagd und Eigenlob sind die Charakterzüge Eichmanns, die im Prozess am stärksten zum Vorschein kamen. Sie zeigen, welche Werte er am meisten schätzte. Sein Inneres war eine reine Funktion seines Ehrgeizes und seiner Stellung, die er Hitler und den Nazis verdankte. Deshalb pries er Hitler bis zum Schluss: »Sein Erfolg allein bewies mir, dass ich mich diesem Mann unterordnen musste.« Eichmanns Leben war gesellschaftlich und karrieremäßig misslungen, bevor er in die Partei eintrat, Mitglied der SS wurde und die Verantwortung für die Deportation von Juden aus allen europäischen Ländern in die Konzentrationslager bekam. Deshalb fühlte er eine so große Loyalität zum Naziregime. Eichmann betonte, dass er selbst nicht in der Lage sei zu töten und dass er persönlich keinen einzigen Juden und auch keinen anderen Menschen getötet habe. Wäre er zum Kommandanten eines Vernichtungslagers ernannt worden, hätte er Selbstmord begehen müssen, behauptete er. Er war auch kein Antisemit und hatte vor dem Krieg sogar jüdische Freunde. Als er nach dem »Anschluss« 1938 die Deportation von Juden aus Österreich organisierte, hatte er sogar ein Verhältnis mit einer früheren jüdischen Freundin. Wie konnte er da Hunderttausende von Menschen in die Todeslager schicken, und dies auf extrem effektive und wohlorganisierte Weise? Er wusste, was sie dort erwartete. Die Antwort lautet: Er befolgte Befehle. Viele nationalsozialistische Kriegsverbrecher hatten diese Ent408

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schuldigung vor ihm benutzt, doch die Nürnberger Prozesse hatten ein für alle Mal klargestellt, dass ein Befehl von Vorgesetzten niemanden von der Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit freispricht, auch nicht juristisch. Moralität steht über Legalität, auch wenn das Gericht nicht immer nach Motiven fragt. Eichmann tat mehr als nur Befehle befolgen. Er behauptete, es sei seine Pflicht als gesetzestreuer Bürger gewesen, zu gehorchen. »Er habe seine Pflicht getan, wie er im Polizeiverhör und vor Gericht unermüdlich versicherte, er habe nicht nur Befehlen gehorcht, er habe auch das Gesetz befolgt.« (ibd., S. 173) Dies war sein Hauptargument und seine Entschuldigung für die Mitwirkung an den Massenvernichtungen. Er konnte sich nicht über das Gesetz hinwegheben und seine Pflicht vernachlässigen. Hinter seinen Aussagen steckt zumindest die Ahnung, dass er an einer kriminellen und unmoralischen Sache teilgenommen hatte, denn seine äußerst eingeschränkten Versuche, selbst zu denken, dienten stets der Verteidigung. Er berief sich sogar auf Kants Pflichtethik als Richtschnur für seine Untaten und zitierte den kategorischen Imperativ halbwegs korrekt. Aber er interpretierte ihn als »kategorischen Imperativ des Dritten Reichs«: »Handle stets so, dass der Führer deine Handlung gutheißen würde, wenn er dich sähe.« Durch die Konfrontation mit diesem Mann kommt Hannah Arendt zu einem neuen Verständnis des Bösen und dessen, was den Holocaust ermöglicht hat. Die radikale Bosheit lässt sich nicht allein mit bösen Motiven erklären. Wichtig ist, dass die Motive für den Täter akzeptabel sind. Mord wird zur Routine, zum Teil des sozialen, beruflichen und öffentlichen Alltags. Eichmann überschritt die Normen seiner Gesellschaft nicht. Die Nazis waren Meister darin, ihre Mordtaten in ein legales Gewand zu kleiden, indem sie alles formell in Ordnung hielten und in ein hierarchisches System eingliederten, dem sich keiner entziehen konnte oder wollte. Ihre Analyse der institutionalisierten Bosheit macht Hannah Arendt immer aktueller, auch für die Psychologie. Sie zeigt auf, welche Veränderungen mit Menschen geschehen, wenn sie innerhalb institutioneller Rahmen handeln, in denen sie Kollegen und anderen Menschen Dinge antun können, die sie als Privatperson nicht tun würden. Hannah Arendt erklärt uns das Mysterium, dass Menschen, mit denen wir täglich umgehen und die nette, freundliche Kollegen sein können, mit allen menschlichen Zügen, in den wir uns wiedererkennen, in anderen Zusammenhängen plötzlich über Leichen gehen, um ihren Willen zu bekommen. Sie erklärt uns die Der Durchschnittsmensch Adolf Eichmann

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moralische Blindheit, seelische Abgestumpftheit und emotionale Gleichgültigkeit, die wir in Kriegsgebieten, aber auch vor unserer Tür oder am Arbeitsplatz erleben können. Das Beunruhigende an ihrer Botschaft ist, dass das Böse so normal und banal ist, dass wir nicht willens sind, es zu erkennen und zu bekämpfen, wenn es direkt in unserer Mitte geschieht. Wir sind wie Rousseaus Zeuge, der die Finger in die Ohren steckt, um den Hilferuf unter seinem Fenster nicht zu hören. Wir sehen nur, was wir sehen wollen, weil es am bequemsten ist und weil es auf kurze Sicht unseren Interessen dient. Eichmann beging ein abstraktes Verbrechen, das dem Theologen Thor Aukrust zufolge »ein ethisches Grundproblem in der modernen, technologischen Gesellschaft« darstellt (Buchkritik zu Hannah Arendt, Aftenposten 31. März 1965). Heute treffen wir zum Beispiel bei der virtuellen Kriegsführung auf dasselbe Problem. Wer nur auf einen Bildschirm schaut und einen Knopf drückt, sieht und fühlt nicht das menschliche Leid, das er hervorruft. Abstrakte Verbrechen beschränken sich jedoch nicht auf Krieg und Ausnahmesituationen. Jedes Flugticket, das wir zu unseren Vergnügen kaufen, verunreinigt die Atmosphäre mehr als ein Haushalt in einem ganzen Jahr. Auch der Kauf und Verzehr von Billigfleisch und anderen Billigprodukten, für die täglich Regenwald stirbt, verursacht Schäden und Leid, das man nicht direkt sieht. Eichmanns Verbrechen waren nicht nur abstrakt, sie schufen konkretes Leid in unfassbaren Dimensionen. Die Schäden, die wir durch Umweltzerstörung anderen Menschen und zukünftigen Generationen indirekt zufügen, betreffen ebenfalls Millionen. Aber wir verschließen die Augen. Wir machen es wie Eichmann, der sich angeekelt abwendete, als er Zeuge wurde, was in einem seiner Eisenbahnwaggons geschah. Dieser war eine mobile Gaskammer, in der unschuldige Menschen einen schmerzhaften Tod starben. Es sollte uns aufrütteln, wenn Papst Franziskus, der den Namen eines Bettelmönchs angenommen hat, die Politiker der Welt und uns ermahnt, dass wir auch für Unterlassungssünden und Umweltzerstörung zur Verantwortung gezogen würden. Die Verknüpfung von Konsumverhalten und Seelenheil bringt neuen Ernst in die Umweltdebatte. Es geht um unsere eigene Erlösung und die Erlösung der Erde, in Hannah Arendts Worten: »damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können«. Unsere Handlungsweise gleicht in vieler Hinsicht Eichmanns Handlungsweise. Was ihn kennzeichnete, war vor allem die Unfähigkeit, sich in andere Menschen und deren Leid hineinzuversetzen. 410

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Hatte Eichmann eine Seele? Diese Frage stünde uns nicht zu, wenn es nur um den Privatmenschen Adolf Eichmann ginge. Weil es aber hier um eine historische Person und persönliche Eigenschaften geht, welche die unfassbaren Taten ermöglichten, für die er verantwortlich war, ist sie trotzdem angebracht. Denn möglicherweise sind Eichmanns seelische Eigenschaften oder ihr Mangel eine Erklärung dafür, dass er Hunderttausende Unschuldige in den Tod schicken konnte. Nun gehört es ja zu den großen Fragen dieses Buches, ob der Mensch überhaupt eine Seele hat, ob es eine individuelle Frage ist, inwieweit er eine Seele besitzt, und ob es möglich ist, seine Seele zu verlieren. Es geht sozusagen um die Existenzgrundlage der Seele, um ihre raison d’être. Was soll man mit einer Seele, die keine Rolle spielt, wenn es um unser Leben oder das Leben anderer geht? In der Einleitung zitierten wir Nietzsche, der es für unnötig erachtete, sich von der Seele zu trennen, »einer der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen«. Wenn die Hypothese sich bestätigt, hat die Seele ihre Gültigkeit bewiesen. Dann ist sie für den Menschen eher eine Möglichkeit als eine Notwendigkeit. Der Mensch ist offen und unbestimmt und kann alles vom Ungeheuer bis zum göttlichen Wesen werden. In der Bildung des Menschen gilt die Seele traditionell als mögliche und wünschenswerte Dimension in einem ganzheitlichen anthropologischen System. Sie gehört zum Menschen, wenn er als vollständige Ganzheit dastehen will, in der alle Teile zusammenhängen. Als integrierende Dimension ist die Seele darin besonders wertvoll. Der Mensch als Ganzes ist zusammengesetzt, er besteht aus Körper (mit Sinnen) und Seele, Vernunft und Verstand, Willen und Gefühl. Die Seele ist eine Art normative Nabe im System. Deshalb darf man fragen, ob Eichmann eine Seele hatte oder ob ihm eine notwendige anthropologische Dimension fehlte. Oder ob seine Seele verletzt, zerstört oder sogar verloren war. Wenn er eine hatte, ist die Frage, welche Art Seele dies war. Dies können wir nur nach dem beurteilen, was er gesagt und nicht gesagt hat, getan oder unterlassen, gefühlt oder nicht gefühlt. Wenn die Seele nicht angeboren ist, folgt daraus, dass sie dem Individuum allein gehört. Sie ist das, was das Individuum sich selbst schuldig ist, was es erschafft, um mit sich selbst zusammenzuhängen. Integer zu sein hat moralische Implikationen. Die Seele ist mit anderen Worten eine Funktion und ein moralisches Barometer, das ausschlägt, wenn Normen und Werte gebrochen werden, denen wir uns verpflichtet fühlen. Dies bedeutet, dass Hatte Eichmann eine Seele?

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sie ihren Inhalt durch die Art und Weise bekommt, wie wir uns selbst und unseren Platz in der Welt sehen. Dadurch wird auch das Verhältnis zu anderen Menschen entscheidend für den Inhalt, den wir der Seele geben. Diese Doppelheit und gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem äußeren sozialen und politischen Leben auf der einen und dem inneren seelischen Leben auf der anderen Seite hat Hannah Arendt erklärt. Sie ist nicht die Erste, die diesen Zusammenhang und die Doppelbindung des Menschen unterstreicht. Obwohl das Augenmerk dieses Buches hauptsächlich der Seele als innere, individuelle Instanz gilt, haben wir sie auch im Verhältnis des Individuums zu anderen Menschen gesehen, das vielleicht am stärksten im Christentum mit seiner moralischen Bewertung des Umgangs mit den Nächsten hervortritt. Hannah Arendt hat dies auf säkulare Weise erneut klargestellt. Sie schließt gewissermaßen den Kreis und zeigt, dass derjenige, der sich um seine individuelle Seele sorgt und sie bewahren will, auch Sorge für andere zeigen und deren Seele und Leben ebenfalls bewahren muss. Obwohl sie in ihrer philosophischen Entwicklung zuerst vom Inneren zum Äußeren schreitet und das Hauptgewicht auf das Leben des Menschen in einer polis legt, kehrt sie am Ende (in ihrem letzten Werk The Life of the Mind) wieder in das Innere des Menschen zurück. Gleichzeitig hält sie an der Doppelheit fest, an der Selbstreflexion und dem reflektierten Dialog und der gemeinsamen Handlung mit anderen. Dabei legt sie Gewicht auf die Fähigkeit des Menschen, im kantischen Verstand selbst zu denken, also seine Vernunft und Urteilskraft zu nutzen, um sich selbst in einem größeren Zusammenhang zu sehen, der den universellen Prinzipien der Vernunft und der Ethik unterliegt. So werden polis und psyche, oder Seele und Gesellschaft, zu gegenseitigen Bedingungen. Damit sind wir in vieler Hinsicht wieder zurück am Ausgangspunkt der griechischen Antike und bei Platons sokratischer Seelenlehre. Platons Seelenlehre ist nicht so sehr nach innen gewendet, wie die meisten behaupten. Dies kommt in dem weiter oben erwähnten Dialog Alkibiades zum Ausdruck. Der Aristokrat Alkibiades war ein enfant terrible seiner Zeit, ein Wildfang mit Ambitionen zur Macht. Aber wenn er über andere herrschen will, muss er zuerst sich selbst beherrschen, besinnen und erkennen. Sokrates erklärt ihm, dass Selbsterkenntnis etwas Reflexives im Verhältnis zu anderen Menschen ist. Alkibiades muss lernen, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen (Alkibiades I, 132f). Sokrates wusste, dass die Sorge um sich und die Sorge um andere zwei Seiten derselben Sache waren. Er zeigte Sorge um andere, die er auf der Agora traf, 412

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Alte und Junge, Regierte und Regierende, indem er sie fragte, ob sie die Sorge um ihre Seele auch nicht vergaßen. »Indem ich dies tat, tat ich der Stadt einen großen Dienst, und anstatt mich zu verurteilen, solltet ihr mich mehr belohnen als einen Sieger bei den Olympischen Spielen«, sagt er in seiner Apologie (36cd) zu den Richtern. Von Platon bis zu dem Soziologen Anthony Giddens (1992), der die Selbst-Identität ebenfalls als reflexives Projekt bezeichnet, verläuft eine gerade Linie. Eine solche reflexive Sorge um sich selbst und die eigene Seele fehlt Eichmann – total. Ihm fehlt die sokratische Fähigkeit, »dass wir, ich und du, zu einander reden, der Sprache uns bedienend, mit der Seele zu der Seele« (Alkibiades I, 130d). Eichmann vermied es bewusst, seinen Opfern von Angesicht zu Angesicht und von Seele zu Seele zu begegnen. Die geschlossenen Viehwagen, in denen seine Opfer transportiert wurden, sind ein groteskes Bild für diese Verschlossenheit. Auch in der modernen digitalen Kriegsführung stehen die Militärs ihren (oft zivilen) Opfern nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber, was die Hemmschwelle abbaut. Weil er nicht selbst denken wollte – selbständig denken –, war Eichmann ungeeignet dafür, Macht über andere Menschen auszuüben. Stattdessen endete es, wie Sokrates es vorhersah: »Handelt ihr aber ungerecht, indem ihr auf das Ungöttliche und Dunkle seht, so werdet ihr auch, wie man schließen muss, dem Ähnliches tun, indem ihr euch selbst nicht kennt.« (ibd., 134e) Deshalb wurde Eichmann ein solches Ungeheuer gegen seine Mitmenschen. Nicht weil ein dämonisches Ungeheuer in seinem Inneren steckt, sondern weil ihm die Selbstreflexion fehlt, die ihm ein Inneres geben soll, das in sich selbst existiert, eine souveräne Seele und autonome Vernunft. Doch Eichmanns Inneres ist eine rein mechanische Reflexion der Erwartungen und Instruktionen anderer, ein Abspulen von Befehlen und Pflichten, denen zu folgen ihm ein ideologisches System mit einem despotischen Führer auferlegt hat, ein Führerprinzip, das er akzeptiert, weil es ihm persönliche Vorteile, Macht über andere und persönliches Prestige bringt. Seiner Seele fehlt also jede Tiefe und Substanz, jeder Eigenwert. In sich selbst ist er wirklich niemand und nichts, nur ein Name und eine Funktion, ein historischer Zufall, an den wir uns nur aufgrund der Geschichte und des Völkermordes, für den er mitverantwortlich war, erinnern. Aber hatte Eichmann auch kein Gewissen? Wenn er ein schlechtes Gewissen hatte, hatte er wohl auch eine Seele, mögen einige sagen. Es stimmt, dass Eichmann auf sein Gewissen hinwies und er anerkannte, dass es nicht ratsam war, gegen sein Gewissen zu handeln. Aber sein Gewissen Hatte Eichmann eine Seele?

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war absonderlich, was zeigt, dass auch das Gewissen nichts Gegebenes mit eingebauten moralischen Normen ist, sondern dass es von der Umgebung geschaffen wird. Seit Freud wissen wir, dass das Gewissen ein sozialpsychologisch bedingter Teil des Über-Ich ist. Eichmanns Gewissen war schlicht in der nationalsozialistischen Propaganda sozialisiert. Im freudschen Verstand fungierte Hitler als patriarchalische Norm in seinem Über-Ich. Sein Gewissen war die internalisierte Stimme seines Führers. Ihm zu folgen hinderte ihn nicht daran, Untaten zu begehen. Im Gegenteil: Es motivierte ihn. Eichmann bekam nur ein schlechtes Gewissen, wenn es einen Konflikt zwischen dem Willen des Führers und den Befehlen seiner Vorgesetzten gab. »Eichmanns letzte Gewissenskrise begann, als er 1944 nach Ungarn geschickt wurde«, schreibt Hannah Arendt mit sarkastischem Unterton (2011, S. 176 f.). Die »Gewissenskrise« entstand, weil Himmler ihm befohlen hatte, von nun an »Judenpfleger« zu sein. Dies empfand Eichmann als Verletzung von Hitlers Willen. Im Osten näherte sich die Rote Armee, und Himmler hatte bereits begonnen, die Spuren des Völkermords zu verwischen. Eichmann ignorierte Himmlers mündlichen Befehl und verrichtete seinen Dienst noch eifriger. Innerhalb von acht Wochen ließ er 450.000 ungarische Juden in die Todeslager transportieren – mithilfe der Ungarn. So effektiv verwaltete Eichmann den Terror. Dies ist nicht nur banale Bosheit. Eichmann tat das Böse mit kaltem Herzen, um kein »schlechtes Gewissen« vor seinem Führer haben zu müssen. Er brachte die »Endlösung« mit gutem Gewissen in Ungarn zu Ende. Mit anderen Worten: Er hatte genauso wenig Gewissen wie Seele. Dies muss Hannah Arendt schockiert haben. Sie hatte ihre Doktorarbeit über den Liebesbegriff bei Augustinus geschrieben, für den das Gewissen eine mitfühlende und moralische Instanz war. Dass Eichmann Hitler als Gewissensinstanz anführte, sah sie als Beweis dafür, wie sehr die deutsche Gesellschaft die Normen der Nazis internalisiert hatte. »Sein Gewissen konnte sich umso leichter beruhigen, als er ja sah, mit welcher Beflissenheit und welchem Eifer die ›gute Gesellschaft‹ allenthalben genauso reagierte wie er.« (ibd., S. 163) Diese Art von Verbrechen verstößt gegen kein Gesetz und lässt das Gewissen rein. Für Hannah Arendt ist sie eine moderne Form des Bösen. In den vorigen Kapiteln haben wir das Mitgefühl als seelische Eigenschaft kennengelernt, die Rousseau und viele andere betonten. Eichmann fragte nie, was mit den Menschen geschah, die er in die Konzentrationslager schickte. Ihm fehlte die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen 414

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zu versetzen. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, welchen Qualen die Juden in den Todeslagern ausgesetzt waren. Moralisch und menschlich ist dies ein fundamentaler Mangel, weil die Fähigkeit zum Mitgefühl eine Voraussetzung moralischen Handelns ist. Mitleid ist eine moralisch motivierende Kraft. Doch Eichmann schloss bewusst die Augen und verdrängte das Leid anderer. Seine Distanzierung, Abstraktion und Neutralisierung von Fakten scheint eine Voraussetzung dafür zu sein, dass das Böse geschehen und er mit business as usual weitermachen konnte. Eichmann fehlte nicht nur die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen, sondern auch jegliche Empathie. Arendt geht darauf nicht im Besonderen ein, aber die spätere Forschung (unter anderem Arne Johan Vetlesen 1994) hat gezeigt, wie entscheidend die Empathie für Rücksichtnahme und ethisches Handeln ist. Bei der Abrechnung mit den Nationalsozialismus spielte dies keine Rolle. In den Nürnberger Prozessen wurde keiner der gefühlskalten Naziführer zum Psychopathen erklärt, obwohl vieles dafürsprach. Der amerikanische Chefpsychiater Douglas M. Kelley führte lange Gespräche mit den Angeklagten, insbesondere mit dem gefühlskalten Göring, der alle, die ihm im Weg standen, brutal beseitigt hatte. Doch nicht einmal Göring bekam den Status des Psychopathen. Der Begriff war damals noch nicht im heutigen Sinne entwickelt. Es hieß »mangelhaft entwickelte seelische Fähigkeiten«, was im Grunde zutrifft, wenn wir die Seele als moralisch regulierende Instanz betrachten. Heute wissen wir, dass der Mangel an Mitgefühl für das Opfer eine psychische Störung ist, die erklärt, warum manche Menschen imstande sind, anderen großes Leid zuzufügen. Was noch schlimmer ist: Wir wissen auch, dass dies nicht nur für Psychopathen gilt, sondern für viele von uns, wenn wir unter bestimmten Umständen andere Menschen zu »Feinden« umdefinieren oder ihnen aufgrund ihrer anderen Religion oder anderen Neigung unseren Respekt absprechen. Unsere Gefühle sind sehr selektiv, genau wie unser Gewissen. Eichmann richtete seine Empathie ausschließlich auf seine Familie und entzog sie den Juden. Die emotionale Distanzierung vieler Faschisten von den Grausamkeiten, an denen sie beteiligt waren, hat uns folgende Lehre gebracht, die es in verschiedenen Versionen gibt (hier nach George Steiner [1967]): Wir sind Nachkommen. Wir wissen nun, dass ein Mann am Abend Goethe und Rilke lesen oder Bach und Schubert spielen und am nächsten Morgen zur Arbeit nach Auschwitz fahren kann. Hatte Eichmann eine Seele?

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Die Psychiater, die Eichmann 1961 untersuchten, haben seine Psyche vielleicht nicht vollständig beschrieben. Sie kamen zu dem Schluss, dass er keine psychischen oder charakterlichen Abnormitäten zeige. Sie beurteilten ihn als »normal«. »Jedenfalls normaler als ich selbst, nachdem ich ihn untersucht habe«, soll einer von ihnen gesagt haben. Heute kann die Psychologie erklären, dass fehlende Empathie eine charakterliche Anomalie ist, die von einem Mangel an körperlicher Nähe und Fürsorge in der frühen Kindheit herrühren kann. Der schlimmste Mangel und schlimmste moralische Fehler, den Arendt an Eichmann fand, war jedoch seine Gedankenlosigkeit und die Unfähigkeit, selbst zu denken und zu bedenken, was er mitmachte: Er war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. […] Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten könnte als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. (Arendt 2011, S. 16)

Eichmanns Gedankenlosigkeit verbindet Arendt auch mit seiner sprachlichen Armut. Das Einzige, was er zu seiner Verteidigung sagen konnte, waren wiederholte Schlagworte und Nazipropaganda. Selbst als er vor seinem Henker unter dem Galgen stand, leierte er nur Phrasen herunter, obwohl er dem Tod ruhig entgegentrat. Er wagte es nicht, Kants Aufruf an den aufgeklärten Menschen zu folgen: Sapere aude! Wage es, (selbst) zu denken! Die Bedeutung einer solchen Gedankenlosigkeit analysierte hat Arendt in ihrem letzten, unvollendeten Werk The Life of the Mind weiter analysiert. Sie bezeichnet die Fähigkeit und die Pflicht, in kantischer Tradition selbst zu denken, als entscheidend für das Menschsein und die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch, Wahrheit und Lüge, Gut und Böse. Es ist diese Fähigkeit, die Urteilskraft der Reflexion, die Eichmann fehlt. In dieser Hinsicht war ihm Montaigne mit seinem scharfen Selbsturteil um Lichtjahre voraus, als er schrieb: »Auf die Unbestechlichkeit meines Urteils achte ich derart eifersüchtig, dass ich mich auch durch die heftigsten Leidenschaften schwerlich hiervon abbringen lasse.« (Essais II, 17) Deshalb kann Montaigne es zu seinem Beruf machen, seinen »Geist [zu] formen, nicht ihn [zu] möblieren« (III, 3, vgl. oben, S. 96). Eichmann möbliert ihn, mit leeren, vorgekauten Worten. Deshalb reflek416

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tierte er nicht darüber, was richtig und falsch, gut oder böse war. Daher Arendts bekannte Worte: »Die traurige Wahrheit ist, dass das meiste Böse von Leuten begangen wird, die niemals entschieden haben, ob sie gut oder böse sein wollen.« Deshalb werden sie Mitläufer des Bösen. Als spracharmer Mensch fehlten Eichmann viele Begriffe und das Verständnis für ihre Bedeutung. »Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein«, stellt Mephisto auf seiner Suche nach haltbaren Begriffen fest. Dies trifft besonders gut auf Eichmann zu. Einer der Begriffe, die ihm fehlen, ist »Seele«. Er hat ihn durch ein Schlagwort ersetzt, das er noch unter dem Galgen äußerte. Wäre er Christ gewesen, hätte er sich Sorgen um die Erlösung seiner Seele machen müssen. Doch er war kein Christ, sondern »gottgläubig«, der nationalsozialistische Ausdruck für einen Glauben ohne Kirche und ohne den Glauben an ein Leben nach dem Tod. Doch kurz bevor er erhängt wird, fügt Eichmann hinzu: »Meine Herren, bald werden wir uns wiedersehen.« Die Sorge um die Seele fehlte ihm, aber bedeutet dies auch, dass er gar keine Seele hatte? So mag man fragen. Wenn wir bedenken, wie sich der Begriff der Seele in diesem Buch herauskristallisiert hat, ist es fraglich, ob Eichmann eine Seele hatte. Ebenso wenig, wie er ein Gewissen hatte, das haltbaren ethischen Normen verpflichtet war. Die Seele ist weder angeboren noch gottgegeben, sondern sie wird geschaffen und geformt. Sie ist eine zusammengesetzte mentale Dimension, ein dicht geknüpftes Netz aus Gefühlen und Haltungen sowie aus einigen internalisierten Werten und Normen und ihr Träger ist das Bewusstsein. Als Angehörige einer humanistischen und christlichen Kultur saugen wir die Seele gewissermaßen mit der Muttermilch in uns auf. Doch diese Kultur hatte Eichmann abgelehnt und durch eine Gewaltideologie ersetzt, in der es keinen Platz für die Sorge um sich und um die Seele gab. Ihm fehlt diese Instanz, die Integrität aus Gefühlen und Gedanken, Haltungen und Handlungsfähigkeit, Wille und Intuition, die das, was wir Seele nennen, ausmacht. Die Seele ist die Nabe der Persönlichkeit oder die zusammengesetzte Quintessenz, die sich in unserem Leben schrittweise auskristallisiert, und zwar durch Reflexion und im weiteren Sinn umsichtigen Umgang mit uns selbst ebenso wie mit anderen. Sie ist die innere, souveräne Instanz, die Eichmann fehlt. Er ist durch und durch oberflächlich, ohne Tiefe und Konsistenz. Deshalb neigen wir dazu, dem Ethikprofessor Harald Ofstad zuzustimmen, der Eichmann charakterisierte. Ofstad, der den Nationalsozialismus als Unsere Verachtung für Schwäche (1971) interpretiert, hat Arendts Analyse von Eichmanns Gewissen Hatte Eichmann eine Seele?

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kritisiert. Jerusalem 1961 sei etwas anderes gewesen als Nazideutschland im Krieg. In Jerusalem war er der Buchhalter mit schlechtem Gedächtnis, in Deutschland war er »ein Meister der berechnenden und eisenharten Einsammlung von Europas Juden«, der berauschende Macht und Bedeutung genoss. Ofstad legt Gewicht auf Eichmanns Anpassung an die Macht und darauf, dass er ohne innere Substanz, ohne Seele ist: Wer er ist und wer er glaubt, dass er ist, hängt immer davon ab, wer die Macht hat, denn er hat keine Schwere, keine Seele, keinen Kontakt zur Wirklichkeit und am allerwenigsten zu sich selbst. (Dagbladet 12. Januar 1965)

Auch in Arendts Augen ist er ein leerer Mensch, der jede beliebige Aufgabe erfüllen könnte, die das Machtsystem oder seine Vorgesetzten ihm stellen. Er ist, was man the hollow man nennt, den hohlen oder leeren Menschen. In unseren Begriffen fehlt ihm nicht nur seelische Tiefe, sondern eine Seele überhaupt. Deshalb ist er auch ohne dämonische Dimensionen. Als Hannah Arendt versuchte, dem Rätsel Eichmann auf den Grund zu gehen, fand sie keinen Grund, sondern nur Oberfläche. Es macht uns Mühe, Eichmann zu verstehen, weil es im Verhältnis zu den Ungeheuerlichkeiten, für die er verantwortlich war, wenig zu verstehen gibt.

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Der du mit dem Flammenspeere Meiner Seele Eis zertheilt, Dass sie brausend nun zum Meere Ihrer höchsten Hoffnung eilt: Heller stets und stets gesunder, Frei im liebevollsten Muss: – Also preist sie deine Wunder (Nietzsche)

SCHLUSSWORT. EIN PERSÖNLICHES PALIMPSEST UND EINE QUELLE DER KRAFT Wir haben dieses Buch mit der Frage eingeleitet, ob sich die Seele noch immer auf einen wirklichen, notwendigen oder wünschenswerten Teil des Menschen beziehe oder ob sie gewissermaßen out of date sei. Das ist natürlich keine Ja/nein-Frage. Die Antwort hängt davon ab, wie wir die Seele verstehen und definieren. In den vorangehenden Kapiteln haben wir versucht, dies mit einem historischen Durchgang durch die Seelenbilder wichtiger Denker und kulturell repräsentativer Dichter verschiedener Epochen zu klären. Im Lauf der rund 3000 Jahre, der wir der Seele gefolgt sind, haben sich in ihrem Drama große Veränderungen, Umdeutungen und Metamorphosen abgespielt. Die Frage ist nun, was all diese Änderungen und Umdeutungen überlebt hat, was fortbesteht und ob die Wirkungsgeschichte der Seele sich noch immer in unserem Menschenbild geltend macht. In der Antike haben wir die Erfindung der Seele, psyche, miterlebt. Das Wichtigste daran ist aus unserer Sicht, dass die Seele eine Erfindung ist. Dies gilt unabhängig davon, ob sie als angeboren oder als künstlich gebildet definiert wird. Und es bedeutet, dass sie immer wieder neu erfunden und in das gegenwärtige Menschenbild integriert werden kann. Dass sie jederzeit und von jedem neu erfunden werden muss. Sie ist geschaffen, um das Bedürfnis zu erfüllen, den Menschen so zu formen, wie man glaubt, dass er sein soll. Auf dieser Grundlage schufen die Griechen eine Philosophie über das Wesen des Menschen, eine Anthropologie, in welche die Seele zusammen mit dem Körper (soma) als ein Hauptbestandteil eingeht. Von da an sind Körper und Seele komplementäre Größen, zu denen bei vielen Philosophen noch die Vernunft oder der Geist (nous und pneuma) hinzukommen. Damit wird die Seele auch ein philosophischer und theoretischer Begriff. Und so ist Schlusswort

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es noch immer. Wir schaffen Begriffe darüber, was ein Mensch ist, um die Kräfte, die uns bewegen, (im wahrsten Sinne des Wortes) in den Griff zu bekommen. Deshalb wird es eine Frage der Definition, was die Seele ist. So bekommt die Seele etwas Intentionales, sie drückt aus, was wir als Mensch wollen, woran wir glauben und was wir mit unserem Leben wollen. Dies liegt bereits in der mythischen Seele, der wir in Homers Dichtung begegnen. Bei ihm ist psyche eine Antwort auf die Frage, was mit dem Menschen geschieht, wenn er stirbt. Im Tod manifestiert sich die Seele als Schatten des Selbst, des autos, das mit dem Körper identisch ist. Dieses Verhältnis wird bei Platon auf den Kopf gestellt, der die Psyche zum Selbst der Person macht und zum Träger der Vernunft, des einzig dauerhaften Wertes. Deshalb müssen wir uns Sokrates zufolge um die Seele sorgen, und zwar in Form von Selbsterkenntnis, ein Programm, das in der westlichen Kultur zum Kern des Menschenbildes wird und es bis weit in die Moderne bleibt. Viele finden, dass wir den Begriff »Seele« weiterhin brauchen, um einen vollwertigen Menschen zu beschreiben, und dass er zweckmäßig ist, um das Diffuse, aber Wesentliche aufzufangen, das sich in unseren Inneren rührt. Eine entscheidende Wende in der Kulturgeschichte der Seele fand zu Beginn des christlichen Mittelalters statt. Das allgemeine philosophische Verständnis der Seele als Begriff in einem rationalen, theoretischen System wurde abgelöst durch ein religiöses Verständnis der Seele. Die Seele wurde zum Gegenstand des Glaubens. Und sie galt als angeboren, gottgegeben und ewig, mit einer Substanz, die den Tod überlebt, um im Jenseits weiterzuleben, je nach Verdienst und Glauben im Himmel oder in der Hölle. Eine solcher Seelenbegriff hat für viele Menschen bis heute Gültigkeit. Außer im säkularisierten Westen repräsentiert er noch immer den Kern des Menschenbildes, dem die meisten sich anschließen. Besonders wirksam ist diese Vorstellung im Islam, wo der Glaube, dass die Person im jenseitigen Paradies mit Körper und Seele neu geschaffen wird, auch für die Motivation und Legitimation des Dschihad missbraucht wird. Im Extremfall mündet dies in Terror und den Mord an »Ungläubigen«, bei dem der Täter sich als »Märtyrer« eine Belohnung im Jenseits erhofft. Der Gegensatz dazu ist der Buddhismus, nach dessen Vorstellungen Gewalt gegen Unschuldige negatives Karma bringt, das es unmöglich macht, die Seele in anatman, der Nicht-Seele, aufzulösen und somit den Kreislauf der Wiedergeburt und des Leidens zu brechen. Die Seele ist jedoch nicht von religiöser Verankerung abhängig, um in unserer Zeit zu bestehen. Wir haben gesehen, dass viele Philosophen 420Schlusswort

und Lebensanschauungen einen Seelenbegriff haben, der ohne Religion auskommt. Eine solche menschliche, anthropologische und diesseitige Seele – also eine existenzielle – haben wir bei Aristoteles gefunden. Das Entscheidende an Aristoteles’ Menschenbild ist das Verständnis der Seele als Formprinzip. Dass die Seele Form ist und mit Fleiß und Einsicht gebildet werden muss, ist ein bleibendes Erbe der Antike. Anders als bei Platon ist die Seele bei Aristoteles kein Abbild der Idee, sondern ein energisches Inneres, das aktiv gebildet wird, indem es seinen Ausdruck findet, seine Form. Denn die Form ist sein Ausdruck. Aristoteles verstand die Seele außerdem als Lebensprinzip, das der Natur mit ihren Organismen, Pflanzen und Tieren Leben gibt und sie beseelt. Die Vorstellung einer beseelten Natur war sowohl fachlich als auch kulturell ungeheuer wichtig und erhielt in der Spätrenaissance neues Leben durch Spinozas Pantheismus und später auch in der Romantik. Beide Richtungen haben die ökologische Bewegung unserer Zeit inspiriert. Die Biologie kommt jedoch ohne eine beseelte Natur aus, um das organische Leben zu erklären. Mit Darwins Evolutionstheorie fiel auch die Idee des fix und fertig erschaffenen Menschen mit göttlicher Seele ein für alle Mal. Doch die Idee einer beseelten Natur, mit welcher der Mensch verwandt ist, beinhaltet wesentlich mehr als ökologisches Bewusstsein und das Gefühl, einer Ganzheit anzugehören, deren Naturgesetze für alle gelten. Sie umfasst auch das Erlebnis, einer größeren geistigen Entität anzugehören, in der Kräfte walten, die der Mensch aus seinem eigenen Inneren und seiner Erkenntnisfähigkeit kennt. Sowohl Platon als auch Aristoteles hatten ein niveaudifferenziertes Menschenbild. Auf dieser Grundlage entwarf Plotin in der Spätantike ein hierarchisches Modell, in dem die psyche zwischen dem Körper (soma) und der Vernunft und dem Geistigen (nous und pneuma) steht. Hier ist die Seele bereits ein Begriff, der in ein philosophisches System eingeht. Doch dieses System ist aus der Erkenntnis entstanden (das heißt ontologisch), wie und woraus der Mensch zusammengesetzt ist. Und so kann die Seele des Menschen immer noch verstanden werden: als Dimension, die zwischen den zwei objektiv gegebenen Dimensionen im Menschen liegt und mit beiden in Wechselwirkung steht – mit unserem Körper und unserer Vernunft/unserem Verstand. Zwischen diesen zwei objektiven oder gegebenen Polen liegt alles Subjektive: unsere Gefühle und Sinneswahrnehmungen, unsere Gedanken und Vorstellungen, unser Wille und unser Bewusstsein. Die Seele ist eine Sammelbezeichnung für all dieses Schlusswort

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Subjektive, das David Hume ein »Bündel aus Eindrücken« nannte. Wenn dieses Bündel durch Reflexion, Erfahrung und bewusste, willentliche Entscheidungen eine innere Kohärenz und in gewissem Grad auch Konsistenz im Einzelmenschen erreicht, erscheint die Seele als relationale und integrierende Ganzheit, die intuitiv als persönliche Richtschnur fungiert und dem Individuum Identität gibt. Hierarchische Menschenbilder tendieren jedoch zum Dualismus, wie in der Tradition von Platon bis Kant. In unserer Zeit hängen nur noch wenige Philosophen diesem Dualismus an. Gegen ihn spricht auch die neuere Gehirnforschung, die den neuralen Zusammenhang zwischen Körper, Gehirn und Bewusstsein erklärt. Er entsteht in einem interaktiven elektro-biochemischen Netz, in dem Gefühle in hohem Grad von tief liegenden Nervenstrukturen gesteuert werden. Doch auch die Neurologie kann noch nicht erklären, wie genau der Übergang von elektrochemischen Impulsen zu bewussten Gedanken funktioniert, vom Physischen zum Psychischen. Die Erkenntnis, dass das Psychische vom Physischen bedingt und ein Produkt der Evolution ist, sehen wir als Bestätigung dafür, dass der Mensch weder mit einer einheitlichen, substanziellen Seele noch als tabula rasa geboren wird. Vielmehr ist er ein genetisches Palimpsest, in das unser biologisches Erbe sich Schicht für Schicht eingeschrieben hat und das unsere seelischen Dispositionen bestimmt hat. Aristoteles gebrauchte den Begriff Substanz (ousia) in seiner Metaphysik und gab auch der Seele Substanz. Der Begriff wurde zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgelegt, vom Stofflichen bis zum Wesen oder zur Essenz. Der Substanzbegriff passte ausgesprochen gut zur christlichen Seelenlehre. Er ermöglichte die Behauptung, die Seele sei mehr als abstraktes Denkvermögen, ein einheitlicher, beständiger Wesenskern. Eine christliche Seele ohne Substanz ist undenkbar. Je mehr der Seele die Substanz wieder abgesprochen wurde, desto schwächer wurde ihr historischer Status. Dies führte schließlich zur Unterscheidung zwischen Philosophie und Religion, Glauben und Wissen. Es beginnt mit Descartes’ Definition der Seele als etwas Immateriellem mit Substanz. Er versteht sie als Wesenskern, der an die Denkfähigkeit gebunden ist. Doch dass die Denkfähigkeit der Seele, deren Wurzeln in den Sinnen des Körpers liegen, eine einheitliche, immaterielle Substanz haben soll, widerspricht sich selbst. Deshalb nehmen die englischen und schottischen Empiristen der Seele die Substanz. Wenn die Vorstellung der Seele als feste Einheit mit Wesenskern nicht mehr haltbar ist, ist sie auch 422Schlusswort

nicht mehr geeignet, das Wesen des Menschen zu bestimmen. Die Seele, the soul, wird in die Domäne des Glaubens und der Religion verwiesen und im englischsprachigen Raum nimmt mind ihren alten Platz als Träger der Vernunft und der Erkenntnis ein. Das Konkreteste an diesem Bild ist ein denkendes Ich oder ein Selbst mit Bewusstsein und der Gabe der Selbstreflexion. Zusammen mit der Identität fordern diese Begriffe die Position der Seele als Zentrum der Persönlichkeit heraus. Im Geiste Descartes’ und der Aufklärung ergänzt Kant diese Gruppe um die Vernunft als Maß aller Dinge. Die Seele wird vorläufig nur theoretisch gerettet, indem sie der Vernunft gleichgestellt wird. Mit Hegel wird sie in der Vernunft als Geist aufgelöst, womit ihre historische Aufgabe beendet scheint und sie nicht mehr benötigt wird. Aber die Seele überlebt. Jede Metamorphose und Umdeutung, die sie mitmacht, gibt ihr neue Aktualität in einem anderen Kontext. So schreibt sie sich nur tiefer in ihr Palimpsest ein. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass die persönlichen und moralischen Qualitäten, die ihr im Christentum zugeschrieben wurden, neue existenzielle Bedeutung bekommen. Denn die Wirkungsgeschichte des Christentums ist unauslöschlich. Christentum und europäische Kultur hängen untrennbar zusammen, was das europäische Menschenbild bestätigt. Die europäische Kultur ist eine Kultur des Individualismus, der seine Wurzeln im christlichen Seelenbild hat, in dem es um die Seele des Einzelnen und die Bedingungen für die Erlösung geht. Die sokratische Sorge um die Seele, laut der man sich stets besinnen und die Konsequenzen seines Handelns und seiner Worte für sich und andere bedenken soll, gilt nicht nur im christlichen Mittelalter, sondern für den europäischen Menschen bis in unsere Zeit. So ist die Seele mit der Persönlichkeit und ihren Charakterzügen identisch geworden. Und so lebt sie weiter, ohne Substanz und ohne Einheit, als integrierende Funktion der Eigenschaften und Erfahrungen der Persönlichkeit. Das christliche und augustinische Sündenbewusstsein entwickelt als »positive Nebenwirkung« eine seelische und moralische Sensibilität und ein Gewissen, das auf Übertretungen internalisierter Normen reagiert. Deshalb ist die Seele der Teil des Menschen, der am engsten mit dem Bösen und mit dem Guten verbunden ist. Sie reagiert auf eine Verletzung unserer unantastbaren tiefsten Zonen. Das positive Gegenstück der Seelennot und des oft irrationalen Schuldgefühls, das die Verkündung der Erbsünde und die Furcht vor dem Jüngsten Gericht schufen, ist das Christentum als Religion der Liebe, das Mitgefühl und die Solidarität, die durch die VerSchlusswort

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kündung der Nächstenliebe geschaffen wurden. Liebe ist immer auf etwas anderes gerichtet, auf einen oder mehrere Menschen oder etwas Überindividuelles, mit dem der Liebende eins wird. Diese mitfühlende Seele entwickelt sich als säkularisierte Variante in der empfindsamen Romantik, deren literarische Genres sich buchstäblich in die Seele schreiben. Die Erlösung der Seele wird zur Frage, ob man der Stimme des Herzens folgt und den Anforderungen der Liebe treu ist. Durch die Liebe hat die Seele teil an etwas Größerem, das zum Maßstab für alles Menschliche und Mitmenschliche wird. Der Denker und Schriftsteller, der die persönlichen und ethisch-existenziellen Dimensionen der Seele am meisten aktualisierte und revitalisierte, war Søren Kierkegaard. Er macht die Entscheidung für sich selbst und den Anspruch auf ein authentisches Leben zu mehr als einer Frage der Identität. Für ihn sind diese Dinge entscheidend für die Erlösung der Seele, nicht nur im religiösen Sinn, sondern auch persönlich. Man muss authentisch sein, um seine persönliche Integrität zu wahren, die auch für ihn selbst entscheidend war. Der Sprung vom existenziellen Niveau zu einem anderen gelingt nur dem, der es wagt, sich selbst zu wählen, und der den Glauben hat. Kierkegaard war ein christlicher Denker, der an eine unsterbliche Seele und deren Erlösung durch Jesu Liebe und Mitleid glaubte, doch er sieht auch klar, dass die Erlösung der Seele im persönlichen wie im religiösen Verstand von der persönlichen Psyche im psychologischen Verstand abhängt. So bereitet er den Grund für den historischen Übergang von der Seele zur Psyche im modernen Sinn, von einer religiösen und philosophischen zu einer psychologisch verstandenen Seele, ein Übergang, der bis ins Jahr 1900 dauert, als Freud sein erstes Werk über die Psychoanalyse publiziert. Der Übergang von der Seele zur Psyche ist die radikalste Veränderung im Verständnis der Seele seit dem Ende des Mittelalters. Sie wird zum Symptom der Persönlichkeit, seelischer Leiden, der Angst, von Depressionen und Neurosen. Als Psyche besteht die Seele absolut, als Methode unserer Zeit, um das komplexe Innere des Menschen zu verstehen. Nach Freud entwickelt sich die Psychologie in verschiedene Richtungen mit vielen Spezialgebieten: Entwicklungspsychologie, Kinder- und Jugendpsychologie, Sozialpsychologie, Verhaltenspsychologie, kognitive Psychologie, Perzeptionspsychologie, Lernpsychologie, Persönlichkeitspsychologie und weitere Zweige mit jeweils unterschiedlichen Behandlungsmethoden. 424Schlusswort

Hume und Kant waren der Meinung, die Psychologie solle zur grundlegenden Wissenschaft über den Menschen werden. Dies ist eingetroffen, aber nach anderen, beinahe pathologischen Prämissen. Immer mehr Menschen leiden unter psychischen Krankheiten, insbesondere Jugendliche. Deshalb gehen Psychologie und Psychiatrie ineinander über und die Grenzen verwischen. Gleichzeitig kratzt und schreibt jede Generation weiter am Palimpsest der Seele, manche mit einem Messer, mit dem sie sich selbst verletzen, andere mit digitalen Medien, über die sie ihr privates Inneres sozialen Medien ausliefern. Die Narben bleiben, wie der norwegische Psychiater Finn Skårderud die pathologische Körperfixierung unserer Wohlstandsgesellschaft beschreibt, als dechiffrierbare Zeichen und Bilder des Körpers in der Seele – und nicht umgekehrt. So gesehen ist die Psyche mindestens so sehr ein Symptom der Gesellschaft und ihrer Randgruppen geworden wie ein Symbol des freien und autonomen Menschensinns, den Hume und Kant im Sinn hatten. Und die Gesunden und gut Funktionierenden sind auch nicht so edel, wie sich zum Beispiel Goethe den Menschen vorstellte. Die Psychologie als kritische Disziplin zeichnet ein eher düsteres Bild des Menschen und der Gesellschaft. Der Mensch sucht bewusst Macht und Anerkennung, getrieben von Motiven, die aus dem Finsteren kommen und sich tarnen, damit man ihren Eigennutz nicht erkennt. Er wird ebenso von purem Egoismus getrieben wie von irrationalen Komplexen und unterdrückten Bedürfnissen. 90 Prozent sind Psychologie, heißt es – was erklärt, warum der schwarze Hengst in Platons Zweispänner meist stärker zieht. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust haben wir gelernt, dass diejenigen, die keine Sorge um die eigene Seele kennen, auch keine Sorge um andere kennen und umgekehrt. In dieser Hinsicht ist die Seele sicher nicht out of date. Wenn wir bei dem Bild und den Prozentzahlen bleiben, ist die nächste Frage, wie man es den entscheidenden zehn Prozent, dem weißen Hengst im Zweispänner, leichter machen kann. Er steht für den schöpferischen Teil der Seele, für die kluge, gutwillige, mutige, selbstüberschreitende und schaffende Psyche, die aus Liebe in etwas Größerem aufgehen kann. Sie entfaltet sich nicht auf Kosten anderer, sondern fördert das gemeinsame Wohl, in Übereinstimmung mit allgemeinen Rechten, die sowohl dem Individuum als auch den verschiedenen kulturellen Besonderheiten und Lebensanschauungen Raum lassen. Dies gilt für die seelischen Kräfte und Motive, die Carl von Ossietzky antrieben, Sophie Scholl, Andrei Sacharow, Schlusswort

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Anna Politowskaja, Martin Luther King jr., Nelson Mandela, Víctor Jara und viele andere Bekannte und Unbekannte, die der Stimme ihres Gewissens folgten. Sie fühlten sich Werten und Idealen verpflichtet, für die sie bereit waren ihr Leben zu opfern. Dies ist die Integrität des Menschen. Integrität zu haben bedeutet, dass Leben und Lehre zusammenhängen, dass man universelle Werte achtet und versucht, in Übereinstimmung mit seiner Überzeugung und seinen inneren Gefühlen zu leben und zu handeln. Die Seele ist ein Ausdruck dieser Integrität, die jedes Individuum anstrebt, um weder sich selbst noch den größeren Zusammenhang aus den Augen zu verlieren. Seine Seele zu bewahren und für sein Seelenheil etwas zu tun oder zu unterlassen ist dasselbe, wie seine Integrität zu bewahren. Die Seele sendet Signale, wenn unsere Integrität verletzt wird oder in Gefahr ist. Sie besteht nicht nur aus einer abgegrenzten psychischen Dimension, sondern auch aus einem nicht reduzierbaren persönlichen und ethisch-existenziellen Teil. Dieser ist eine Ganzheit aus Gedanken und Gefühlen, Sinnlichkeit und Intellekt, die das selbstgenügsame Individuelle überschreitet, wie in der Liebe. Freud zufolge ist die Seele die Kraft und Energie, die mit ihrer Spannung das Werk antreibt und Körperliches in Geistiges wandelt. Denn Spannung ist Energie. Auch für den viel gelesenen deutschen Philosophen Wilhelm Schmid ist die Seele Energie (2013, S. 289 f.). Deshalb können andere ihre Ausstrahlung und Anziehungskraft spüren. Diese Atmosphäre oder Aura umgibt den Einzelmenschen und gibt ihm Charisma. Die Vernunft allein kann kein Maßstab dieser Kraft sein, denn sie ist für alles Mögliche zu gebrauchen, gut oder böse. Deshalb verlangt Kant, dass man die Vernunft in Übereinstimmung mit universellen Normen benutzt, die selbst keine Gebrauchsgegenstände sind, sondern Ziele in sich selbst, keine Mittel für anderes. Kants Gesinnungsethik braucht eine »regulative Idee«, wie er es nennt. Dies ist die Funktion der Seele im Zusammenspiel mit der Stimme ihres Gewissens. »Die Seele hat ihre Gründe, die die Vernunft nicht kennt«, um Pascals Worte über das Herz leicht abzuwandeln. All dies bedeutet, dass die Seele nicht substanziell und nicht einheitlich ist und dass sie keinen festen Wesenskern hat. Sie ist zusammengesetzt, aus integrierenden Relationen zwischen Gefühlen und Wille, Bewusstsein und Gedanken, die ideell nach Übereinstimmung mit einigen allgemeinen Normen streben. Diese Normen sind sowohl soziokulturell als auch persönlich bedingt. Die Seele ist die Nabe der Persönlichkeit, ein relationales Funktionsuniversum. Die Normen, denen sie unterliegt, werden durch 426Schlusswort

den reflexiven Gebrauch der Vernunft entwickelt und im Lauf der Zeit als »natürlich« empfunden. Nach allen historischen Veränderungen des Seelenbildes seit der Antike bleibt ein solcher allgemeiner Seelenbegriff zurück. Der Philosoph, bei dem Leben und Lehre am engsten zusammenhängen, ist wohl Friedrich Nietzsche. Seine Schriften reflektieren seine mystische Seele, er lebt durch seine Gedanken, in der Tradition von Montaigne und Goethe. Als Integrität von Körper und Seele macht er die Seele zu einer inneren Kraft, zum Medium und Maßstab des Willens. Nietzsches Seele ist ein empfindliches Barometer, das anzeigt, ob die Person in Übereinstimmung mit ihrer tiefsten Natur lebt. Die Seele ändert sich, aber sie besteht. Deshalb sagt Nietzsche: »Es ist […] ganz und gar nicht nöthig, ›die Seele‹ selbst […] los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten«. Die Hypothese scheint bekräftigt. Die Seele ist nicht bloß eine passiv empfangende und regulierende Dimension, in welche die Vergangenheit sich eingeschrieben hat, sondern ein motivierendes Kraftfeld, das von dem Willen getragen wird, das selbstgenügsame Selbst zu überschreiten. Von welchen Werten sie getragen wird, kann man diskutieren, aber dieses Menschenbild an sich gilt noch immer. Es hat die Reduktion der Seele zur Psyche überlebt. In der Psychologie selbst mag dies zutreffen, aber ihre kausal verstandene Psyche fängt nicht die unreduzierbare Dimension ein, welche die Seele anthropologisch und ethisch-existenziell repräsentiert. Kant und Nietzsche zufolge haben wir eine Seele, weil wir sie brauchen, weil unser tiefster Lebensdrang nach ihr verlangt, um zu erfahren, was im Leben zählt. Diese Seele umfasst auch die Seele im psychologischen Verstand. All dies wird in unserem kulturellen Selbstverständnis reflektiert, in der Alltagssprache sowie in Kunst und Literatur, wofür James Joyce ein reichhaltiges Beispiel ist. Beim Grundleger der modernen Seele, Descartes, hat die Seele noch keine solche Bedeutung. Von ihm an und in der gesamten Zeit der Aufklärung ist die Seele kein Ausdruck von persönlichen Verhältnissen, sondern von abstrakten Angelegenheiten, die den Menschen allgemein charakterisieren. In der kartesianisch-kantischen Tradition sind dies Vernunft und Selbstbewusstsein. Aber wessen man sich bewusst sein soll (außer der Gabe der Selbstreflexion), erfahren wir nicht. Diese Lücke füllt erst die Romantik, insbesondere Goethe. Sie gibt der abstrakt-theoretischen Bestimmung der Menschenseele einen konkreten und persönlichen Inhalt. Goethes faustische Seele ist sowohl die Quintessenz der persönlichen Eigenschaften ihres Schlusswort

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Trägers als auch das Streben des Individuums nach seiner Bestimmung und Einbindung in etwas Höheres, in eine universelle Kraft. Diese Seele ist von einem mythischen Willen erfüllt, dem Willen, der den Eingang – und Ausgang – sucht, »der nur für dich bestimmt ist«. Weil der Mensch ein »noch nicht festgestelltes Tier« ist, offen und unbestimmt, und in einer künstlich erschaffenen Welt lebt, muss er sich selbst schaffen – mit Sprache. In Wittgensteins Worten: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache«. Die Grenzen unserer Welt, unserer Wirklichkeit, sind die Grenzen unserer Sprache. In dieser sprachlichen Welt ist man den Regeln der Sprachspiele – oder, in Foucaults Worten, des Diskurses – unterworfen. Die Seele ist identisch mit ihrer Sprache und den Regeln, nach denen wir ihr Sprachspiel spielen, mit den Wörtern und Ausdrücken, Bildern und Symbolen, die wir benutzen, um ihr Form und Bedeutung zu geben. In diesem Buch haben wir die Bilder und Begriffe dargelegt, die den historischen Diskurs der Seele in unserer Kultur und die Seele selbst als sprachliches Palimpsest geformt haben. Sie ist in unser Kulturerbe und von ihm eingeschrieben, mit dem Alphabet der Seele, das jeder von uns benutzen kann, um seine individuelle Seele zu formen. So wie die Liebe im Hochmittelalter »erfunden« und durch Bilder und Geschichten bestimmt wurde, deren Symbol das Herz war, wurde die Liebe in der Praxis. Genauso verhält es sich mit der Seele, die in der griechischen Antike »erfunden« wurde. Wenn sie erst einmal erfunden oder mit Bildern und Begriffen konstruiert ist, wird sie Teil unseres Menschenbildes und wirkt darauf zurück. Ihre Stellung ist in allen Kulturen der Welt so stark, dass es faktisch unmöglich ist, sich einen Menschen ohne Seele vorzustellen. Dies kommt auch in unserem Rechtssystem zum Ausdruck, das Gesetzesbrecher in die geschlossene Psychiatrie schickt, wenn sie die Diagnose bekommen, die vor nicht allzu langer Zeit noch »mangelhaft entwickelte seelische Fähigkeiten« hieß. Damit ist besonders die Fähigkeit gemeint, auf die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen einzugehen. Was sich im Inneren des Menschen verbirgt, ist nicht gegeben. Früher war die Vorstellung verbreitet, dass Gottes Schrift sich in die Herzen der Menschen als Sitz der Seele eingraviert hat. Aber nicht Gott hat die Seele beschrieben. Es sind die Schrift der Menschen und viele Geschichten über die Seele mit ihren Bildern und Symbolen, die unser Inneres erschaffen und geformt haben, wie es das historische Drama, das wir in diesem Buch verfolgt haben, belegt. Die Seele existiert nur, solange 428Schlusswort

wir Wörter, Begriffe und Bilder für sie haben, solange wir sie auf verschiedene Art und Weise beschreiben, umschreiben oder auch vorschreiben. Die Seele ist in viel höherem Grad als andere Dimensionen des Menschen ein Gegenstand der Konstruktion, der persönlichen und kulturellen Bildung. Niemand muss uns beweisen, dass es den Körper gibt, obwohl auch in diesem Fall kulturell bestimmte Körperbilder beeinflussen, wie wir mit ihm umgehen. Dass wir einen Verstand haben und unabhängig von unserer Meinung logisch korrekt denken können, bezweifelt auch keiner. Körper und Verstand sind objektiv gegeben. Aber die Frage, ob wir eine Seele haben, ist Gegenstand einer anderen Art des Denkens und der Begründung. Denn die Seele ist eine individuelle und persönliche Größe. Sie umfasst das gesamte komplexe Innere, das Shakespeare in seinen Dramen schildert, die widerstreitenden Gefühle und unklaren Motive, die kierkegaardsche Angst, Kafkas Leiden und Goethes Streben. Seele ist die Art und Weise, wie wir das subjektive Innere ordnen und formen. Im Strom der Zeit und des Bewusstseins sucht sie aktiv ihren Eingang und Ausgang in Übereinstimmung mit dem »Gesetz«, ihrem mystischen Ziel der Auflösung im Alles oder im Nichts oder in der Einheit. Nicht nur Buddhisten wollen alles loswerden, was die Seele belastet und sie bei ihrem letzten Essay behindert, dem Versuch (wie Montaigne sagt), sie aufzulösen, um der Langeweile der Ewigkeit und dem Leiden zu entkommen. Muslime und Christen haben die Einheit der Seele mit Gott als Endziel, wie auch andere Künstler und Wahrheitssucher eine unio mystica erreichen können. Die Seele ist eine Antwort auf das Mysterium des Todes, in der Gewissheit, dass sie nur mir gehört, ist das, was jeder klären und bewahren will, um seinen eigenen Tod in Frieden und Versöhnung sterben zu können. Auch für das Leben gilt, dass der Ausgang in Ordnung sein muss. Die Seele ist energisch, eine empathische und intentionale Größe, die in einem lebenslangen inneren Prozess entsteht. Sie ist bedingt durch unser Verständnis und unsere Definition des Menschen auf der Grundlage unserer Geschichte, kultureller Werte und eigener Erfahrungen. Verständnis und Definition geschehen kraft der Sprache, ohne die wir keine Menschen wären. Die Seele ist unsere Freiheit, uns selbst in unserem eigenen Bild zu definieren, ob wir glauben oder nicht glauben, dass wir nach Gottes Bild geschaffen sind (das in sich selbst ein historisch geschaffenes Bild ist). Die Seele ist eine kulturell gebildete Dimension, die uns von den Tieren unterscheidet und die nicht auf deterministische Weise unausweichlichen Kausalgesetzen unterworfen ist. Die Seele ist ein Ausdruck unserer UnanSchlusswort

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tastbarkeit, unserer Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit. Sie ist das, was in Liebe und Mitgefühl leidet, wenn jemand, mit dem wir uns verbunden fühlen, gekränkt oder verletzt wird. Die Seele besteht, solange wir es wollen, solange wir meinen, dass wir einen besonderen Wert haben, für den wir verantwortlich sind und der es wert ist, ihn zu beschützen und für ihn zu kämpfen, wie Hannah Arendt mahnt. Ist man sich einmal gewiss, dass man eine Seele zu bewahren hat, besitzt man in Nietzsches Worten auch »eine Grundgewissheit […] über sich selbst […], Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren lässt.« Man hat es nicht ausschließlich allein geschaffen, doch man ist selbst schuld, wenn man es verliert. Dieses Etwas ist das Unergründliche und Selbstüberschreitende, das den Sinn mit Begeisterung und Ehrfurcht füllt und in das die Summe der Erfahrungen sich wie in ein autobiografisches Palimpsest eingeschrieben hat, denn nur so wird man der, der man ist und sein wird, wenn man seiner inneren Überzeugung davon folgt, was es heißt, ein Mensch und Mitmensch zu sein.

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REGISTER

A Abélard, Pierre 102, 109 Abel, Niels Henrik 346 Adler, Alfred 272 Adorno, Theodor W. 175 Albertus Magnus 102 Al-Ghazali (Algazel) 392 Al-Hallādsch 382, 397 Alkibiades 412 Anaxagoras 36 Andersen, Hans Christian 397 Apuleius 63 Arendt, Hannah 13, 30, 86, 175, 300, 399–410, 412, 414–418, 430 Aristoteles 16, 37, 52–62, 66, 119 f., 134, 138, 180, 183 f., 202, 257 f., 320, 337, 381, 393, 400, 421 f. Attar 382 Augustinus, Aurelius 72, 77–80, 86–93, 97, 99, 103, 108, 124, 135, 141, 178, 191, 232, 242, 342, 400, 414 Aukrust, Thor 410 Aurelius, Marcus 64 Austen, Jane 190 Averroës 381, 393 Avicenna 381, 393 B Bachtin, Michail 62 Bain, Alexander 270 Barnacle, Nora 312 Barresi, John 15

Register

Bauman, Zygmunt 175 Bayle, Pierre 147, 191 Beethoven, Ludwig van 197 Bernhard von Clairvaux 102 Bjørnson, Bjørnstjerne 253 Blanchot, Maurice 334 Bloom, Harold 309 Boesen, Emil 249 Bonaventura 102 Boswell, James 162 Brandes, Georg 236 Breuer, Josef 273 Brod, Max 326, 328 f. Brücke, Ernst 270 Buddha 50, 359–367, 369–372, 374–378 C Cato der Ältere 119, 123 Cato der Jüngere 111 Charcot, Jean 273 Chrétien de Troyes 109 Cicero 119 f., 123 Coetzee, J.M. 11, 309 D Dalai Lama 369 Dante Alighieri 22, 30, 32, 86, 90, 96–114, 119, 123 f., 198, 223, 231, 313 f., 317, 331, 386 Darwin, Charles 163, 228, 253–257, 259–267, 270, 274, 290 f., 421 Dawkins, Richard 264, 287

437

Delius, Frederick 298 Demokrit 36, 55 Descartes, René 31, 48, 91, 117, 119–121, 127, 133–141, 145, 148 f., 152–155, 158 f., 168, 170, 178, 180, 193, 237, 239, 275, 293, 374, 422 f., 427 d’Holbach, Paul Thiry 157 Diana, Prinzessin 108 Diderot, Denis 157 Diels, Hermann 37 Dilthey, Wilhelm 270 Diogenes 62 Dominikus 102 Dostojewski, Fjodor 243, 307 E Eckermann, Johann Peter 205 Eichmann, Adolf 300, 404–411, 413–418 Einstein, Albert 308 Eliade, Mircea 384 Elleisy, Magdy 387 Empedokles 66 Epiktet 64 Epikur 55, 63, 155 Eriksen, Thomas Hylland 266 Erikson, Erik H. 280 Euripides 44 F Fechner, Gustav Theodor 270 Ferrante, Elena 309 Feuerbach, Ludwig 275 Fichte, Johann Gottlieb 172 Foucault, Michel 63, 428 Francesca von Rimini 107–111, 113 Franz von Assisi 98, 102 Freud, Sigmund 44, 52, 87, 156, 186, 191, 228, 238, 240, 270, 272–283, 288, 291, 301, 307 f., 313, 318, 326, 414, 424, 426 Friedrich, Caspar David 194 f. Fromm, Erich 272 G Galen 137 Galilei, Galileo 136, 155, 321 Garff, Joakim 229

Giddens, Anthony 413 Goethe, Johann Wolfgang 53, 71, 95, 146, 177, 182, 190, 195, 197–207, 209 f., 214, 216 f., 219–221, 223–226, 340, 353, 373, 382, 397, 415, 425, 427, 429 Göring, Hermann 415 Gustafsson, Lars 307 H Hamsun, Knut 307 f., 326 Harvey, William 137, 140, 255 Hauge, Olav H. 318 Hawking, Stephen 353 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 53, 146, 177–186, 197, 227, 234 f., 238 f., 245, 248, 254, 423 Heiberg, J.L. 245 Heidegger, Martin 52, 177, 216, 335, 400 f. Héloïse 109 f. Helvétius, Claude Adrien 157 Heraklit 35–40, 44, 66, 120, 123, 306 Herder, Johann Gottfried 124, 183, 189, 194, 197, 235 Hesse, Hermann 307, 363 Hessen, Dag O. 266 Heydrich, Reinhard 408 Hildegard von Bingen 72, 86, 102 Himmler, Heinrich 414 Hitler, Adolf 220, 408, 414 Hobbes, Thomas 148–152, 154, 158 Højholt, Per 353 Homer 19–27, 29–31, 35–38, 40 f., 43 f., 50 f., 59, 81, 294, 298, 315–317, 420 Horaz 119, 123 Horkheimer, Max 175 Hume, David 148, 157–164, 166–168, 171, 184, 272, 290, 371, 422, 425 Husserl, Edmund 294 Hustvedt, Siri 309 I Ibn Arabi 382, 393 Ibn Sina 381 Ibsen, Henrik 318 Irenäus 78

438Register

J Jacobsen, Knut A. 369 James, William 270 f., 273, 314 Janouch, Gustav 341 Jara, Victor 426 Johannes Duns Scotus 102 Johannes Paul II. 407 Joyce, James 307 f., 310–313, 315–319, 323, 325, 427 Jung, Carl Gustav 272, 276 K Kafka, Franz 14, 179, 307 f., 313, 325–336, 338, 340 f., 429 Kant, Immanuel 52, 103, 158, 160, 165–176, 178, 182, 184, 189, 194 f., 197, 202, 235, 237, 239, 245, 248, 265, 267, 270, 272, 275, 281, 290, 293 f., 302 f., 342, 348, 400, 403, 409, 416, 422 f., 425–427 Katharina von Siena 98 Kelley, Douglas M. 415 Kierkegaard, Michael Pedersen 228 f. Kierkegaard, Søren 14, 123, 177, 227–249, 253, 267, 295, 305, 313, 326, 331, 336, 344, 424 King, Martin Luther Jr. 426 Kjældgaard, Lasse Horne 245 Kranz, Walther 37 L Lagercrantz, Olof 107 Lamarck, Jean-Baptiste de 257 La Mettrie, Julien Offray de 136, 157 Laplace, Pierre-Simon 145, 155 Lavater, Johann Caspar 205 Leibniz, Gottfried Wilhelm 62, 146 f. Leonardo da Vinci 138 Leukipp 36, 55 Levi, Primo 401 Linné, Carl von 255 Locke, John 148, 151–155, 158 f., 163, 171, 184, 246, 270, 276 Lukrez 55, 120, 123 Luther, Martin 86, 88, 93 f., 99, 174, 220 f., 224

Register

M MacDougall, Duncan 138 Malcolm, Norman 345 Malebranche, Nicolas 146 Mandela, Nelson 426 Martensen, H.L. 243–245 Marx, Karl 177, 274 Meister Eckhart 72 Merleau-Ponty, Maurice 294 Møller, Poul Martin 245 Montaigne, Michel de 62, 117–132, 135, 153, 222, 335, 416, 427, 429 Mozart, Wolfgang Amadeus 197 Musil, Robert 207, 308 f. Mynster, J.P. 243 f. N Næss, Arne 146 Nansen, Fritjof 220 Napoleon Bonaparte 145, 197 Newton, Isaac 151, 167, 255 Nietzsche, Friedrich 11, 16, 26, 36, 42, 52, 57, 62 f., 87, 92, 96, 124, 133, 228, 232, 236, 238, 242 f., 245, 274 f., 277, 279, 283, 287–298, 300–308, 315, 411, 419, 427, 430 O Obstfelder, Sigbjørn 308 Ofstad, Harald 417 f. Øhrgaard, Per 198 Olsen, Regine 227 Oppenheimer, Robert 362, 373 Origenes 79, 223 Orpheus 40 f. Ossietzky, Carl von 425 Ovid 123 P Parker, Charlie 346 Pascal, Blaise 130, 133, 140, 392, 426 Paulus 81–84, 87 f., 92, 174, 233, 267, 292 Pawlow, Iwan 271 Pelagius 79, 86 Piccarda Donati 110 Pico della Mirandola 123

439

Platon 16, 26, 29, 36 f., 40 f., 43–49, 52–54, 56–59, 61–67, 87, 91 f., 100, 119, 124, 135, 170, 178, 236, 267, 277, 292–294, 296, 320, 370, 400, 412 f., 420–422, 425 Plotin 62–73, 79, 87, 92, 225, 421 Politowskaja, Anna 426 Pope, Alexander 145 Porphyrius 65, 69 Proust, Marcel 308 Pythagoras 40 f., 49 Q Qutb, Sayyid 392 R Rabelais, François 62, 130 Rabia von Basra 395 f. Rahula, Walpola 370 Raymond, Martin 15 Richardson, Samuel 190 Rilke, Rainer Maria 415 Rohde, Erwin 36 Rousseau, Jean-Jacques 156, 166, 190–193, 197, 200, 410, 414 Rowling, Joanne K. 14 Rumi, Dschalal ad-Din 72, 382, 387, 391 Russell, Bertrand 344 f. Ryle, Gilbert 155 S Sacharow, Andrei 425 Sandemose, Aksel 273 Sartre, Jean-Paul 177 Saussure, Ferdinand de 342–344 Schelling, Friedrich Wilhelm 172, 183, 202, 234 Schiller, Friedrich 197 Schimmel, Annemarie 395 Schmid, Anton 407 Schmid, Wilhelm 426 Scholl, Sophie 425 Schopenhauer, Arthur 114, 147 f., 275, 303 Seneca 125, 176 Shakespeare, William 117, 135, 198, 309 f., 317, 319, 323, 429 Skårderud, Finn 139, 425

Skinner, B.F. 271 Snell, Bruno 35 Söderberg, Hjalmar 318, 325 Sokrates 12, 29, 40, 44 f., 47–52, 92, 100, 123, 236, 239, 365, 412 f., 420 Sophokles 44 Spinoza, Baruch 134, 146, 150, 155, 179, 186, 201, 421 Spurgeon, Charles 89 Starobinski, Jean 118 Sterne, Laurence 190 Strauß, David Friedrich 245 Strindberg, August 307 T Taylor, Charles 194 Tertullian 79 Thielst, Peter 343 Thomas von Aquin 79, 102 f., 106, 381, 392 Tolkien, J.R.R. 14 Törngren, Anna 28 Turner, William 195 Tysdahl, Bjørn 319 V Vergil 99, 101, 104 f., 110, 112, 123 Vesalius, Andreas 137 f. Voltaire 147, 156 W Wallace, Alfred Russel 257 Watson, James D. 260 Watson, John B. 271 Weber, Max 150 Wergeland, Henrik 165, 189, 346 Wiesel, Elie 105 Wilhelm von Ockham 102 Wittgenstein, Ludwig 16, 57, 199, 304, 341–350, 352–356, 366, 370, 428 Wojtyla, Karol 407 Woolf, Virginia 307 Wordsworth, William 269 Wundt, Wilhelm 270 Wyller, Egil A. 45 Z Zelter, Carl Friedrich 205 Zenon von Kition 63

440Register