Die Schriftstellerin Emmi Lewald (1866–1946): Weibliche Autorschaft, Zeitgeist und Literaturmarkt 9783412507565, 9783412224004

196 106 4MB

German Pages [512] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Schriftstellerin Emmi Lewald (1866–1946): Weibliche Autorschaft, Zeitgeist und Literaturmarkt
 9783412507565, 9783412224004

Citation preview

Literatur und Leben Band 87

Ruth Steinberg

Die Schriftstellerin Emmi Lewald (1866–1946) Weibliche Autorschaft, Zeitgeist und Literaturmarkt

2015 BÖHLAU VERLAG   KÖLN   WEIMAR   WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften (Mainz), der Oldenburgischen Landschaft (Oldenburg), der Bertha von Suttner Stiftung (Oldenburg) und des Deutschen Akademikerinnen Bundes e. V. (Berlin).

Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) an der sprach- und kulturwissenschaftlichen Fakultät der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Emmi Lewald (1909). Gemälde von Conrad Kiesel. Privatbesitz

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Julia Müller, Leipzig Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln ISBN 978-3-412-22400-4

5

Inhalt Siglenverzeichnis  .................................................................................................... 

7

1. Einleitung  . . ........................................................................................................ 

9

1.1 Emmi Lewald – eine vergessene Autorin des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik  . . .............................  1.2 Methodisch-theoretische Überlegungen  .. ................................................  1.3 Stand der Forschung  .................................................................................  1.4 Materialsichtung und Aufbau der Arbeit  .. ............................................... 

11 24 30 36

2. Emmi Lewald (1866 – 1946) – Biografie  . . ............................................................ 

41

2.1 Eine bildungsbürgerliche Biografie  ..........................................................  43 2.1.1 Das Bürgertum und die bürgerliche Frauenbewegung zur Zeit des deutschen Kaiserreichs 1871 – 1918  ..............................  43 2.1.2 Emmi Lewalds biografische Stationen  ..........................................  76 2.2 Emmi Lewald als Schriftstellerin  . . ...........................................................  101 2.2.1 Bürgerliche Autorinnen im Literaturbetrieb des Kaiserreichs  ......  101 2.2.2 Emmi Lewalds Entwicklung als Schriftstellerin . . ..........................  118

3. Positionierung der Autorin im literarischen Feld  ..............................................  151 3.1 Konzeption und Produktion: Emmi Lewald und die Verlage  ................  153 3.1.1 Die Expansion des Buch- und Zeitschriftenmarktes  ....................  153 3.1.2 Emmi Lewald und die Buchverlage  ...............................................  157 3.1.3 Emmi Lewald und die periodische Presse  .....................................  172 3.2 Rezeption I: Über Emmi Lewalds Lesepublikum  .. .................................  194 3.3 Rezeption II: Emmi Lewald in der Literaturkritik  .................................  206 3.4 Rezeption III: Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung  . . ....  232 4. Das literarische Werk Emmi Lewalds (1888 – 1935)  ............................................  245 4.1 Typische Gattungen  ..................................................................................  247 4.1.1 Lyrik  .. ...............................................................................................  247 4.1.2 Prosa  .. ...............................................................................................  265 4.2 Zentrale Themen  .......................................................................................  299 4.2.1 Kulturelle Praktiken  ........................................................................  299 4.2.2 Beziehungen im Wandel  .................................................................  335 4.2.3 Gesellschaftliche Umbrüche  ...........................................................  384 4.2.4 Die große Zäsur 1914 und der Erste Weltkrieg  . . ............................  421 4.2.5 Neue Themen in den Romanen der Weimarer Republik  ..............  437

6

Inhalt

5. „Ich hatte Schriftstellerehrgeiz.“ – Zusammenfassung und Ausblick  . . .............  453 6. Quellen- und Literaturverzeichnis  .. ...................................................................  473 6.1 Ungedruckte Quellen  . . ..............................................................................  475 6.2 Primärliteratur  ...........................................................................................  476 6.2.1 Selbständige Publikationen  .. ...........................................................  476 6.2.2 Beiträge in Anthologien  .. ................................................................  478 6.2.3 Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge  ..............................................  478 6.2.4 Unveröffentlichte Manuskripte  ......................................................  482 6.3 Zeitgenössisches Schrifttum  . . ...................................................................  483 6.3.1 Rezensionen  ....................................................................................  483 6.3.2 Artikel, Schriften und Literaturgeschichten  ..................................  485 6.4 Zeitungen und Zeitschriften  ....................................................................  487 6.5 Nachschlagewerke  .....................................................................................  487 6.6 Forschungsliteratur  .. ..................................................................................  489 Dank  .......................................................................................................................  501 Personenregister  ....................................................................................................  503

7

Siglenverzeichnis1 AdW BB BW CvO DH DWe DwP EuH Exc FadS FK Fvg FvGü GI GII GeL GdH Gk GR HdL HG IbF IjJ ILB KdZ Let Ler MB RT SchB SI SW Sy UlL

Auf diskretem Wege, Novelle (1892) Unter den Blutbuchen, Roman (1914) Büro Wahn, Roman (1935) Der Cantor von Orlamünde, Dichtungen (1889) Die Heiratsfrage, Miniaturen (1906) Die Wehrlosen, Roman (1910) Der wunde Punkt, Novellen (1914) Ernstes und Heiteres, Novellen und Skizzen (1891) Excelsior!, Roman (1914) Das Fräulein aus der Stadt, Roman (1929) Fräulein Kunigunde, Novelle (1894) Die Frau von gestern, Roman (1920) Das Fräulein von Güldenfeld, Roman (1922) Gedichte (1894) Gedichte, Neue Folge (1901) Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen (1894) Das Glück der Hammerfelds, Roman (1900) Gefühlsklippen, Novellen (1900) Griechische Reise (1912) Das Hausbrot des Lebens, Roman (1907) Heinrich von Gristede, Roman (1934) In blauer Ferne, Novellen (1898) In jenen Jahren, Novellen (1919) Italienische Landschaftsbilder (1897) Kinder der Zeit, Novellen (1897) Lethe, Roman (1924) Der Lebensretter, Roman in Briefen (1905) Der Magnetberg, Roman (1910) Die Rose vor der Tür, Roman (1911) Das Schicksalsbuch, Novellen (1904) Sein Ich, Roman (1896) Stille Wasser, Novellen (1912) Sylvia, Roman (1904) Unsre lieben Lieutenants, Charakterskizzen (1888)

1 Die Angabe zum Jahr der Erstpublikation bezieht sich grundsätz­lich auf die früheste bekannte Publikation des Werks in Form eines Zeitschriftenbeitrags oder einer Buchausgabe. Die in den einzelnen Kapiteln zitierten Werkausgaben sind entsprechend angegeben. Offensicht­liche Rechtschreib- oder Druckfehler in den gedruckten Texten wurden stillschweigend korrigiert.

8

Siglenverzeichnis

Sonstige:

DLC NLA/StaOL GSA DLM

Deutscher Lyceum-Club (Mitteilungsblatt) Niedersächsisches Landesarchiv/Staatsarchiv Oldenburg Goethe- und Schiller-Archiv Weimar Deutsches Literaturarchiv Marbach

1. Einleitung

11

1.1

Emmi Lewald – eine vergessene Autorin des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik

Das Verschwinden einer Person aus dem kulturellen Gedächtnis ist ein schleichender Prozess. Dass dieses Schicksal im Laufe der Literaturgeschichte besonders häufig Autorinnen getroffen hat, ist heute hinläng­lich bekannt. Die Schriftstellerin Emmi Lewald (1866 – 1946)1 ist auch so ein Fall: Zu Lebzeiten fiel sie in ihrer Heimatstadt Oldenburg zunächst als junge Querulantin auf, wurde um die Jahrhundertwende eine bekannte Persön­lichkeit des Berliner Gesellschaftslebens und eine geschätzte Erzählerin, die mit ihren Gesellschaftsromanen große Publikumserfolge erzielte. Am Ende des 19. Jahrhunderts gehörte Emmi Lewald der wachsenden Gruppe von Berufsschriftstellerinnen an, die, getragen von den Ideen der bürger­lichen Frauenbewegung, die vielseitigen Publikationsmög­lichkeiten des expandierenden Literatur­ markts nutzten, um an der literarischen Öffent­lichkeit teilzuhaben. Als der Erste Weltkrieg den politischen Systemwechsel und eine neue literarische Ära einläutete, begann der Bedeutungsverlust der bürger­lichen Autorin in der literarischen Öffent­lichkeit, in der Literaturkritik und in der Literaturgeschichtsschreibung. Mit dem Ende des deutschen Kaiserreichs und des „langen 19. Jahrhunderts“ versank die bürger­liche Lebens- und Wertewelt und mit ihr der Bedarf nach einer Literatur, welche diese humoristisch abbildete und kritisch-unterhaltsam reflektierte. Als Emmi Lewald kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Kleinstadt Apolda in Thüringen starb, war sie bereits nur sehr wenigen Literaturhistorikern überhaupt noch eine nament­liche Erwähnung wert. Heute wird sie weder neu verlegt noch gelesen und bleibt, wenn überhaupt, eine kurze biografische Information unter dem Buchstaben L in einigen Speziallexika. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen – mit einem Buch, einer heim­lichen Autorschaft und einem Skandal. Emmi Lewald wurde 1866 in dem nordwestdeutschen Großherzogtum Oldenburg geboren und wuchs in einer Ministerialbeamtenfamilie in Nähe zu Regierungskreisen in einer ausgeprägt bildungsbürger­lichen Lebenswelt auf. Früh setzte die junge Frau alles daran, ihren Berufswunsch der Schriftstellerin umzusetzen, und als sie im Jahr 1888 unter einem männ­lichen Pseudonym ihr erstes Buch, die humoristischen Charakterstudien Unsre lieben Lieutenants veröffent­lichte, 1 Die Autorin erhielt bei ihrer Geburt am 5. Dezember 1866 den Namen Emilie Auguste Marie Jansen. Wie aus Briefen des Vaters Günther Jansen an seine Frau Marie hervorgeht, bürgerte sich bereits in Kindertagen in der Familie für die Tochter der Spitzname „Emmi“ ein, den sie von Beginn ihrer schriftstellerischen Arbeit an als Autornamen nutzte, wenn sie unter eigenem Namen publizierte. Seit ihrer Hochzeit mit Felix Lewald am 17. August 1896 führte die Autorin privat sowie bei Buchund Zeitschriftenveröffent­lichungen neben ihrem Pseudonym den Namen Emmi Lewald; er wird der Übersicht­lichkeit halber in dieser Studie durchgehend genutzt.

12

Einleitung

war sie gerade 22 Jahre alt.2 Bald schon dämmerte der feinen Oldenburger Gesellschaft, dass die karikierten Offiziersfiguren der Militärhumoreske lebende Vorbilder im hochangesehenen städtischen Offizierskorps der Residenzstadt hatten – sogar der ehrgeizige junge Erich von Falkenhayn war dort als der „schneidige Ferdinand“ (UlL 144) verspottet.3 Als sich kurz darauf infolge einer indiskreten Enthüllung des Autorpseudonyms in der Stadt die Nachricht ausbreitete, dass die junge, hübsche und unverheiratete Tochter der angesehenen Ministerfamilie Jansen die Verfasserin der Charakterstudien sei, stieg der Fall zum Hauptgesprächsthema auf. Es folgten öffent­ liche Klatschgeschichten, Reaktionen in der lokalen Presse und nicht zuletzt einige politische Friktionen für den oldenburgischen Staatsminister Günther Jansen – Vater der unvorsichtigen jungen Schreiberin.4 Die Offiziere forderten eine Ehrenerklärung, über deren Ausgang leider keine Erkenntnisse vorliegen. Das Urteil der öffent­lichen Meinung gestaltete sich eindeutig: Wenn eine „höhere Tochter“ die Unvernunft besaß, sich als schriftstellernder „Blaustrumpf“ zu erkennen zu geben und mit einem militärischen Sujet auch noch die beliebtesten Heiratskandidaten der Epoche, die Offiziere, vergraulte, zerstörte sie nicht weniger als ihren gesellschaft­lichen guten Ruf und damit jedwede Heiratschance. Eine dunkle Prognose, denn eine ledige Existenz bedeutete im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für die bürger­liche Frau noch immer einen gesellschaft­lichen Makel, weil sie für die Verfehlung der weib­lichen Lebensbestimmung als Ehefrau und Mutter stand. Der gesellschaft­liche Skandal um Unsre lieben Lieutenants, der in einem Interview mit der Autorin 1933 spöttisch als „Sturm im Wasserglas“ 5 bezeichnet wird, endete für Emmi Lewald mit einer längeren Reise. Mit dieser Maßnahme beabsichtigten die 2 Vgl. Ruth Steinberg: Emil Roland: „Unsre lieben Lieutenants“ (1888). Eine kulturhistorische Untersuchung zu der oldenburgischen Schriftstellerin Emmi Jansen (1866 – 1946). Magisterarbeit masch. Oldenburg 2005. 3 Der spätere preußische Kriegsminister und Chef des Generalstabs im Ersten Weltkrieg Erich Georg Anton Sebastian von Falkenhayn (1861 – 1922) gehörte zwischen 1881 und 1893 als Secondeund Premierleutnant dem Infanterieregiment in Oldenburg an. Emmi Lewalds augenzwinkernde Voraussicht von Falkenhayns steiler Karriere im preußischen Militärdienst in dem Kapitel „Wahre Intelligenz“, wo sie den jungen Falkenhayn als Leutnant mit dem „Nimbus eines Zukunfts-Moltkes“ (UlL 146) charakterisiert, hat sich mit dessen Ernennung zum Chef des Generalstabs des deutschen Feldheeres als Nachfolger Helmuth von Moltkes (d. J.) im Ersten Weltkrieg schließ­lich bewahrheitet. Vgl. Steinberg: Emil Roland, S. 80. 4 Als Folge der gesellschaft­lichen Kritik und Empörung sah sich Günther Jansen veranlasst, seinen Dienstherren, den Großherzog Nikolaus Friedrich Peter von Oldenburg (1827 – 1900), um seine Entlassung zu ersuchen. Das Angebot wurde von dem Regenten mit der Begründung zurückgewiesen, er wolle den schuldlosen Vater nicht für den Fehltritt seiner Tochter verantwort­lich machen. Vgl. Steinberg: Emil Roland, S. 97 f. Vgl. zur ausführ­lichen Darstellung der Ereignisse und der Reak­ tionen auf Unsre lieben Lieutenants Kap. 2.2.2.1. 5 Fritz Strahlmann: Unsere lieben Leutnants. Eine literarische Sensation Oldenburgs. In: Der Oldenburgische Hauskalender oder Hausfreund auf das Jahr 1933. 107. Jg. Oldenburg, S. 21 – 23.

Emmi Lewald – eine vergessene Autorin

Eltern, ihre Tochter und ihre Familie aus dem Schussfeld gesellschaft­licher Kritik zu bringen. Ob die Autorin in dieser Zeit zum ersten Mal ihr bevorzugtes Reiseland Italien besuchte, ist nicht bekannt, wohl aber, dass sie im Zusammenhang mit dem Leutnantsbuch, ihrer „Jugendsünde“6, ihren späteren Ehemann Felix Lewald (1855 – 1914) kennenlernte. Vor allem aber entpuppte sich das naiv-humoristische Frühwerk unter dem Aspekt des berufsbezogenen „Self-Marketing“ als großer Wurf, denn es machte Emmi Lewald in der literarischen Öffent­lichkeit schlagartig bekannt und bildete den Ausgangspunkt ihrer literarischen Karriere. Die Autorin schuf in den 47 Jahren ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ein umfangreiches Werk und publizierte Lyrik, Reisebeschreibungen, Romane, Novellen und andere Kurzprosa in nicht weniger als 35 Einzelpublikationen und unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenveröffent­lichungen.7 Von der Autorschaft der Frauen War die gesellschaft­liche Aufregung, die Emmi Lewalds erste Publikation im direkten Umfeld in ihrer Heimatstadt Oldenburg auslöste, im Ganzen gesehen nicht mehr als eine Provinzposse, so spiegelt sie dennoch die gesamte Palette der Schwierigkeiten, Herausforderungen und Chancen weib­licher Autorschaft, die sich der jungen Schriftstellerin um 1900 darboten. Anhand der Publikations- und Rezeptionsgeschichte von Unsre lieben Lieutenants lässt sich die einflussreiche zeitgenössische Verknüpfung der Rollenerwartungen an bürger­liche Frauen, der zeitgenössischen Debatte um weib­ liche Autorschaft und der Rolle der Geschlechterdifferenz im Rezeptionsprozess von Literatur umfassend untersuchen. In vielerlei Hinsicht blieben die Produktionsund Rezeptionsbedingungen ihres Erstlingswerks für Emmi Lewalds literarisches Schaffen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestehen, auch wenn sie nach ihrem Umzug in die damalige Reichshauptstadt Berlin ein gesellschaft­liches Milieu vorfand, das die Autorschaft von Frauen weitgehend akzeptierte. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren Frauen nicht mehr nur als Leserinnen, sondern auch als Schriftstellerinnen, Journalistinnen und Übersetzerinnen ein unübersehbar fester Bestandteil der literarischen Öffent­lichkeit geworden und besaßen mehr Einflussund Gestaltungsmög­lichen als zuvor im 19. Jahrhundert.8 Dennoch waren schreibende Frauen und ihre Werke nach wie vor Gegenstand einer regen gesellschaft­lichen und kulturtheoretischen Debatte, die mit dem Anstieg der weib­lichen Beteiligung an der literarischen Öffent­lichkeit seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend geführt wurde und wesent­lich von dem langlebigen theoretischen Modell der dualistischen 6 Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 23. 7 Vgl. das Werkverzeichnis 6.2. 8 Das Ausmaß weib­licher Beteiligung an der literarischen Öffent­lichkeit dokumentiert der Band von Caroline Bland, Elisa Müller-Adams (Hg.): Frauen in der literarischen Öffent­lichkeit 1780 – 1918. Bielefeld 2007.

13

14

Einleitung

„Geschlechtercharaktere“9 in der bürger­lichen Gesellschaft genährt wurde. Im Rahmen dieses Diskurses wurde nicht nur die Berufstätigkeit der Autorinnen als Verletzung des weib­lichen Rollenmusters gebrandmarkt, sondern auch die Befähigung der Frauen zu geistig-künstlerischer Produktivität aufgrund ihres Geschlechts grundsätz­lich infrage gestellt. Mit diesem Vorurteilskatalog verknüpften sich in der allgemeinen literaturkritischen und literaturhistorischen Praxis geschlechtsspezi­ fische Wertungsmuster für die literarischen Werke von Frauen. Denselben biologistischen Argumentationsmustern folgend, wurden sie als „Frauenliteratur“10, daher als eine spezifische, sich von der Literatur männ­licher Autoren in Wert und Wesen unterscheidende Literatur bewertet und in den häufigsten Fällen als mittelmäßig von der allgemeinen literarischen Kanonbildung ausgeschlossen.11 Als Reaktion auf den Zusammenhang von Geschlechterdifferenz und Literaturrezeption entwickelte Emmi Lewald wie zahlreiche Schriftstellerinnen ihrer Zeit unterschied­liche Strategien, um der geschlechtsspezifischen Wertung zumindest zeitweise zu entgehen, beispielsweise den Gebrauch eines Pseudonyms oder die Pflege eines relativierenden, versöhn­ lichen Umgangs mit brisanten Themen, um nicht dem Vorwurf der Radikalität oder Unweib­lichkeit ausgesetzt zu sein und auf diese Weise den Absatz ihrer Werke zu gefährden.12 Auf thematischer Ebene bot den Autorinnen die Künstlerinnenthematik 9 Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Hg. von Werner Conze. Stuttgart 1976, S. 363 – 393. 10 Indem der problematische Begriff der „Frauenliteratur“ in der vorliegenden Studie nicht zur allgemeinen Bezeichnung der von Frauen verfassten Literatur verwendet wird, folge ich der Einschätzung von Becker-Cantarino, dass die Forschung sich bis heute auf keine eindeutige und klar abgrenzbare Definition des Begriffs verständigt hat. Der Begriff „Frauenliteratur“ kann daher je nach Verständnis die von Frauen verfasste Literatur ebenso bezeichnen wie die explizit für ein weib­liches Publikum konzipierten Werke mit oder ohne emanzipatorischen Gehalt. Problematisch erscheint die Verwendung des Terminus insbesondere, weil er im ausgehenden 19. Jahrhundert im feuilletonistischen und literaturkritischen Kontext verwendet wurde, um die von Frauen verfasste Literatur zu kategorisieren, und dadurch nachhaltig zu ihrer Abwertung und Ausgrenzung beigetragen hat. Für diese Arbeit greife ich auf die Formulierungen „Literatur von Frauen“, „weib­liches Schreiben“ und „für Frauen verfasste Literatur“ zurück, auch wenn damit „die problematische Verquickung von Geschlecht und Literatur weder gelöst noch erklärt“ ist. Hierzu: Barbara Becker-Cantarino: Frauen­ literatur. In: Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Hg. von Renate Kroll. Stuttgart 2002, S.  123 – 125. 11 Heydebrand und Winko haben in ihrer Untersuchung Arbeit am Kanon im Zusammenhang mit der seltenen Kanonisierung der Werke von Frauen auf die Bedeutung geschlechterdifferenter Wahrnehmungs- und Wertungsprozesse bei der Literaturrezeption hingewiesen. Renate von Heydebrand, Simone Winko: Arbeit am Kanon: Geschlechterdifferenz in der Rezeption und Wertung von Literatur. In: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Hg. von Hadumod Bußmann und Renate Hof. Stuttgart 1995, S. 206 – 261. 12 Vgl. hierzu die Untersuchung von Susanne Kord: Sich einen Namen machen. Anonymität und weib­ liche Autorschaft 1700 – 1900. Stuttgart 1996.

Emmi Lewald – eine vergessene Autorin

Raum, sich mit ihrer eigenen problematischen Position als Frau und Künstlerin und ihrer „doppelten Marginalisierung“ in der Gesellschaft auseinanderzusetzen.13 Dieser Umgang mit Schriftstellerinnen in der literarischen Öffent­lichkeit und ihre Rezeption durch die Literaturkritik und die Literaturgeschichtsschreibung spiegeln letztend­lich exemplarisch, wie stark die Lebenswelt und die Denkstrukturen in der bürger­lichen Gesellschaft geschlechtsdualistisch konzipiert waren. Die kontinuier­liche Auseinandersetzung mit dem Weib­lichkeits- und Geschlechterdiskurs bildete jedoch nur ein grundlegendes Merkmal für die schriftstellerische Arbeit von Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Emmi Lewald gehörte einer Generation von Schriftstellerinnen an, die um 1860 geboren wurden und in einer Zeit gravierender gesellschaft­licher, philosophischer, geschlechterpolitischer und künstlerisch-ästhetischer Umbrüche zwischen 1880 und 1890 zu schreiben begannen.14 Zu dieser Generation zählen so unterschied­liche Autorinnen wie Gabriele Reuter (1859 – 1941), Helene Böhlau (1859 – 1940), Ricarda Huch (1864 – 1947), Clara Viebig (1860 – 1952), Elsa Bernstein (1866 – 1949), Lou Andreas-Salomé (1861 – 1937) und Margarete Böhme (1867 – 1939), um nur einige der bekannteren zu nennen.15 Die Arbeitssituation dieser Autorinnen wurde, ebenso wie die ihrer männ­lichen Kollegen, von den massiven Veränderungen der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur seit Ende des 18. Jahrhunderts bestimmt. Die Ausbreitung der Lesefähigkeit infolge der sogenannten 2. Leserevolution, die steigende Nachfrage nach billigen Druckerzeugnissen und die technischen Neuerungen in der Buchproduktion hatten 13 Sonja Dehning weist im Rahmen ihrer Studie zur Künstlerinnenthematik in den Werken von Frauen darauf hin, dass künstlerisch tätige Frauen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität und ihrer sozialen Rolle eine ‚doppelte‘ Marginalisierung überwinden mussten, um als Künstlerin in der bürger­lichen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Während das Habituskonzept des modernen männ­lichen Künstlers, das auf die romantische Tradition des Künstlergenies aufbaut, in der bürger­lichen kulturellen Öffent­lichkeit breite Anerkennung genoss, wurde Frauen mit Verweis auf den vermeint­lichen weib­lichen Geschlechtscharakter die Befähigung zu schöpferischer Kreativität abgesprochen. Vgl. Sonja Dehning: Tanz der Feder. Künstlerische Produktivität in den Romanen von Autorinnen um 1900. Würzburg 2000, S. 53 ff. 14 Zur Rezeption literarischer Strömungen und Stile, philosophischer Einflüsse und herrschender Weib­lichkeitsdiskurse zur Zeit der Jahrhundertwende in Werken von Schriftstellerinnen, „die in der zeitgenössischen Bewertung gleichrangig neben denen männ­licher Urheber genannt wurden“ (Vorwort, o. S.) vgl. Karin Tebben (Hg.): Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle. Darmstadt 1999. 15 Die Aufzählung ließe sich fortsetzen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Weitere Autorinnen sind Lily Braun (1865 – 1916), Marie Eugenie delle Grazie (1864 – 1931) und Thekla von Lingen (1866 – 1931). Vgl. z. B. die bibliografischen Hinweise im Anhang der Bände „Frauen sehen ihre Zeit“. Katalog zur Literaturausstellung des Landesfrauenbeirates Rheinland-Pfalz. Hg. vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Umwelt Rheinland-Pfalz. Mainz 1984, S. 166 – 171 und Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1992.

15

16

Einleitung

seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Kommerzialisierung des literarischen Marktes bewirkt, welche die Arbeit aller Akteure des literarischen Feldes nachhaltig veränderte, die des Verlegers und des Buchhändlers ebenso wie die des Literaturkritikers und des Autors. Die Schnelllebigkeit des literarischen Marktes, der Verlust künstlerischer Qualität unter zunehmendem Produktionsdruck und die Auflösung der traditionellen Autor-Verleger-Bindung wurden von zeitgenössischen Autoren teils als negativer Wandel wahrgenommen, der viele freie Autoren in eine prekäre Existenz am Rand der bürger­lichen Gesellschaft abdrängte. Die Kommerzialisierung der Literaturproduktion bot jedoch vor allem günstige Bedingungen für den Eintritt der Schriftstellerinnen in den literarischen Markt, indem sie neue und vielfältige Absatzmög­lichkeiten für Texte eröffnete – hier sei insbesondere an die immense Bedeutung der Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien und Ratgeber für die Publikation von belletristischer Literatur gedacht. 16 Emmi Lewald wusste die Publikationsmög­lichkeiten der Zeitungen, Zeitschriften und Almanache intensiv und gewinnbringend zu nutzen, was organisatorisches Geschick, ein Bewusstsein für verwertbare Formate und permanente Marktaufmerksamkeit voraussetzte. Es ging hier um mehr als um die künstlerische Betätigung, auch um Netzwerkbildung und Netzwerkpflege, strategisches Arbeitsverhalten und Selbstvermarktung. Dabei mussten Schriftstellerinnen auf dem Weg zur professionellen Berufstätigkeit erst einmal fundamentale recht­liche Hindernisse überwinden: Im Gegensatz zu ihren männ­lichen Kollegen war es unmündigen und verheirateten Frauen bis zum Inkrafttreten des „Bürger­lichen Gesetzbuchs“ 1900 gesetz­lich verboten, in Geschäftsangelegenheiten selbstständig aufzutreten. Dass sich dennoch seit Mitte des Jahrhunderts immer mehr Frauen in erheb­lichem Umfang als Produzentinnen am Literaturmarkt beteiligten, wurde von den männ­lichen Kollegen gerade unter dem Eindruck schlechter werdender Arbeits- und Existenzbedingungen als starke Konkurrenz wahrgenommen und fachte die Diskussion um die Berechtigung weib­licher Autorschaft immer neu an. Emmi Lewald, die Erzählliteratur und die bürger­liche Frauenbewegung Emmi Lewalds Biografie, ihr Selbstverständnis als Autorin und die Art der Ausrichtung und Gestaltung ihres literarischen Werks lassen sich nicht verstehen ohne ihre permanente Wechselwirkung mit den Ideen, Zielen und Erfolgen der bürger­lichen Frauenbewegung, die ab den 1880er Jahren zunehmend an gesellschaft­lichem Einfluss und Prägekraft gewann. Wie sich die Autorinnen dieser Schriftstellerinnengeneration auch zur Frauenfrage positionierten, ob radikal-befürwortend, ablehnend oder kritisch, keine schreibende Frau kam umhin, sich mit dem neben der Arbeiteremanzipation 16 Vgl. zur Bedeutung von Zeitungen und Zeitschriften als Publikationsort für belletristische Literatur Eva D. Becker: „Zeitungen sind doch das Beste“. Bürger­liche Realisten und der Vorabdruck ihrer Werke in der periodischen Presse. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaft­liche Studien. Hg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969, S. 382 – 408.

Emmi Lewald – eine vergessene Autorin

akutesten gesellschaft­lichen Problem auseinanderzusetzen. Emmi Lewald stand bereits zu Beginn ihrer Schriftstellerinnenlaufbahn Anfang der 1890er Jahre in engem Kontakt mit Frauenrechtlerinnen des ‚gemäßigten‘ Flügels der bürger­lichen Frauenbewegung, der sein Wirkungszentrum in Berlin hatte.17 Die ersten Kontakte gehen vermut­lich auf die Pädagogin und Frauenrechtlerin Helene Lange (1848 – 1930) zurück, die aus einer Oldenburger Kaufmannsfamilie stammte und für deren Monatsschrift „Die Frau“ Emmi Lewald ab dem ersten Jahrgang 1893/94 als feste Mitarbeiterin belletristische Beiträge lieferte. Obwohl Emmi Lewald selbst an den von der bürger­lichen Frauen­ bewegung in Preußen erkämpften neuen Bildungsmög­lichkeiten, der von Helene Lange etablierten Lehrerinnenausbildung und der Zulassung zum Universitätsstudium 1908, nicht mehr partizipieren konnte, engagierte sie sich nach ihrem Umzug nach Berlin 1896 rege in der Frauenvereinskultur der Frauenrechtlerinnen und der berufstätigen Frauen. In den Frauenvereinen setzte sie sich insbesondere für die Berufsinteressen von Schriftstellerinnen und bildenden Künstlerinnen in der Öffent­lichkeit ein und arbeitete lange in verantwort­lichen Positionen in den Vereinsvorständen des „Deutschen Frauenklubs“, des „Deutschen Lyceum-Clubs“ und des „Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“. In den Vereins- und Klubhäusern suchten nicht nur die einflussreichen Frauenrechtlerinnen der bürger­lichen Frauenbewegungen, sondern auch Schriftstellerinnen, Journalistinnen und andere berufstätige Frauen Austausch und Resonanz – ein ideales privates und gesellschaft­liches Netzwerk für die Autorin Emmi Lewald, das sie auch beruf­lich zu nutzen verstand. Hier begegneten sich Aktivistinnen, die für Frauenrechte kämpften, und jene erwerbstätigen Frauen, die der bürger­lichen Gesellschaft und jüngeren Frauengenerationen gleichermaßen mit ihrer Arbeit beweisen konnten, dass Frauen sehr wohl zur Berufstätigkeit in der Lage waren. Denn nicht zuletzt deutet Emmi Lewalds Engagement für die Frauenberufstätigkeit darauf hin, dass sie das Schreiben nicht als Zeitvertreib, sondern als ihren Beruf und sich selbst als Berufsschriftstellerin begriff. Dass die Schriftstellerin Emmi Lewald eng mit der ‚gemäßigten‘ bürger­lichen Frauen­bewegung und deren theoretischen Konzepten verflochten war, spiegelt sich auch 17 Die Unterscheidung eines ‚gemäßigten‘ und eines ‚radikalen‘ Flügels der Bewegung, die auf zeit­ genössische Selbstbezeichnungen beider Strömungen zurückgeht, wurde in den letzten Jahren mehrfach als überholt und fragwürdig kritisiert. Gerhard weist jedoch in ihrem aktuellen Überblickswerk darauf hin, dass die Unterscheidung eines ‚gemäßigten‘ und eines ‚radikalen‘ Flügels im bürger­lichen Segment der alten Frauenbewegung zwar in neueren Studien wiederholt problema­ tisiert, aber in allen Darstellungen zum Thema weiterhin verwendet wurde. Die Kritik an der statischen Zweiteilung ist durchaus berechtigt, da sie den Blick für Verbindungen und Kooperationen zwischen den Flügeln sowie für die Entwicklungen der Aktivistinnen hinsicht­lich ihres taktischen Vorgehens in Gesellschaft und Politik lange verstellt hat. Die Begriffe werden hier als gebräuch­liche Elemente der Strukturierung verwendet. Vgl. Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848 – 1933. Darmstadt 2006, S. 3; Ute Gerhard: Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. München 2009, S. 75; Michaela Karl: Die Geschichte der Frauenbewegung. Stuttgart 2011, S. 87.

17

18

Einleitung

thematisch in ihrem Erzählwerk wider, in dem die gesellschaft­liche Situation bürger­ licher Frauen, deren Streben nach Bildung und Berufstätigkeit und die gesellschaft­ lichen Konsequenzen des Wandels der Frauenrolle einen thematischen Schwerpunkt bilden. Der enge Zusammenhang zwischen „Frauenfrage und Belletristik“18 besteht bereits seit den Anfängen der Frauenbewegung in den 1860er Jahren. Viele Akteurinnen der bürger­lichen Frauenbewegung verdienten neben ihrem publizistischen und journalistischen Engagement für die Rechte der Frauen ihren Lebensunterhalt als Schriftstellerinnen. Die frühe Frauenrechtsaktivistin Louise Otto-Peters (1819 – 1895) betätigte sich beispielsweise als Autorin von Romanen mit vornehm­lich mittelalter­ lichem Hintergrund und auch die mit radikal-polemischen Schriften für Frauen­ interessen eintretende Hedwig Dohm (1833 – 1919) verfasste mehrere Erzählungen und Romane (Sibilla Dalmar [1896], Schicksale einer Seele [1899] und Christa Ruland [1902]). Der naheliegende Gedanke, die Erzählliteratur aus dem Umfeld der Frauenbewegung könne als explizit sozialkritische Tendenzliteratur als wichtiges Medium für die Verbreitung und Diskussion der Ideen und Ziele der Bewegung fungiert haben, bestätigt sich jedoch nur teilweise, denn häufig handelt es sich um affirmative Literatur mit versöhn­lichen Erzählausgängen, bei denen die Frauenfiguren in der traditionellen Frauenrolle verharren oder zu ihr zurückkehren. Günter Häntzschel hat auf den häufig frappierenden Gegensatz von polemischen journalistischen Schriften und Erzählprosa im Werk von Autorinnen im Kontext der Frauenbewegung hingewiesen: Eindrucksvoll […] sind die Macht und Gewohnheit der patriarchalischen Strukturen daran zu erkennen, daß selbst die Protagonistinnen der Frauenbewegung wie Luise OttoPeters, Malvida von Meysenbug oder Hedwig Dohm zwar theoretisch fortschritt­lichemanzipatorische Konzepte vorlegten, in ihren gleichzeitigen fiktionalen Veröffent­lichungen aber die tradierte weib­liche Rolle weiter festschrieben.19

Auch die Mehrzahl der literarischen Weib­lichkeitsentwürfe in den Texten Emmi Lewalds scheinen im direkten Vergleich mit ihrem praktischen Engagement für die Frauenberufstätigkeit ambivalent, rückwärtsgewandt und unsicher in der Konzeption neuer Lebensperspektiven. Ob taktische Gründe der Verkaufsstrategie oder theore­ tische Prämissen für die Ambivalenz von Leben und Werk verantwort­lich sind, ist auch 18 So der nach dem gleichnamigen Aufsatz von Louise Otto-Peters aus dem Jahr 1891 gewählte Titel des Aufsatzes zu den Prosatexten von sozialkritischen Autorinnen des 19. Jahrhunderts von Ruth-Ellen Boetcher Joeres: „Frauenfrage und Belletristik“: Zu Positionen deutscher sozialkritischer Schriftstellerinnen im 19. Jahrhundert. In: „Frauen sehen ihre Zeit“. Katalog zur Literaturausstellung des Landesfrauenbeirates Rheinland-Pfalz. Hg. vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Umwelt Rheinland-Pfalz. Mainz 1984, S. 21 – 40. 19 Günter Häntzschel: Frauenliteratur. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. von Dieter Borchmeyer und Viktor Zmegač. Tübingen 1994, S. 157 – 162.

Emmi Lewald – eine vergessene Autorin

eine Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Im Ganzen gesehen wohnt jedoch dem thema­tischen Novum, dass die Schriftstellerin sich mit dem Verhältnis der Geschlechter und der Position der Frau in der bürger­lichen Gesellschaft auseinanderzusetzte und sich damit von einer traditionellen, affirmativen Literatur für Frauen abgrenzte, ein Aspekt literarischer Innovation inne (s. u.). Dem aufsehenerregenden Erstlingswerk der Autorin Unsre lieben Lieutenants folgten während ihrer Zeit in Oldenburg (1888 – 1896) zunächst Lyrikbände und unterhaltsame Novellensammlungen. Mit der 1894 in der Zeitschrift „Die Frau“ pseudonym publizierten Novelle Sturm im Wasserglas bearbeitet Emmi Lewald das Thema gesellschaft­licher Vorurteile gegenüber der Frauenemanzipation in einer Geschichte, die in vielerlei Hinsicht Ähn­lichkeit mit ihren eigenen Erfahrungen aus den Jahren 1888/89 besitzt.20 Diese Novelle bildete den Auftakt für die Auseinandersetzung mit weib­lichen Lebensentwürfen, den Normen der herrschenden Geschlechterrollenverteilung und der gesellschaft­lichen Position der Schriftstellerin, was in der Zeit von Emmi Lewalds Hochzeit 1896 und dem damit verbundenen Umzug nach Berlin in ihrer Erzählliteratur einen breiten Raum einzunehmen begann: In ihrem ersten umfangreichen Gesellschaftsroman Sein Ich (1896) beleuchtet die Autorin kritisch das Verhältnis der Geschlechter in der bürger­lichen Gesellschaft und fragt nach den Voraussetzungen für eine geistig ebenbürtige Partnerschaft von Mann und Frau, in Die Globustrotterin (1898) macht sie erstmals eine selbstbewusste Schriftstellerin zur Hauptfigur einer Novelle.21 Die weib­liche Identitätssuche in einer gesellschaft­lichen Umbruchsituation, die Notwendigkeit von Frauenbildung und die Frage nach dem Zustand von Ehe und Familie bilden zentrale Themen in Emmi Lewalds vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstandenen Novellen und Gesellschaftsromanen und tauchen nach dieser historischen und thematischen Zäsur in den späteren Romanen der Weimarer Republik wieder auf. Ab 1920 rückt die Auseinandersetzung mit dem neuen Frauenbild und der real steigenden Frauenberufstätigkeit ebenso wie mit der Langlebigkeit traditioneller Geschlechterrollenmuster über das Ende des deutschen Kaiserreichs hinaus in den Mittelpunkt, Problematiken, die selbst in Emmi Lewalds letztem Roman Büro Wahn (1935) präsent bleiben.22

20 Die Novelle beschreibt den Emanzipationsprozess des jungen Mädchens Anni, das sich mit Hilfe ihrer älteren studierten Schwester Dorothea aus den konservativen Strukturen der bürger­lichen Gesellschaft der nordostdeutschen Kleinstadt Rehfelde lösen kann. Abseits des modernen großstädtischen Lebens und fortschritt­licher Ideen sind die Denkstrukturen in Rehfelde von tief sitzenden Ressentiments gegen die Frauenemanzipation bestimmt und es herrscht ein System gesellschaft­ licher Kontrolle, das die jungen Mädchen der Stadt unter Verweis auf Moral und Sitt­lichkeit auf das traditionelle Weib­lichkeitsideal verpf­lichtet. Emil Roland: Sturm im Wasserglas (Novelle). In: Die Frau 1 (1893/94), H. 9, S. 581 – 590 und H. 10, S. 663 – 672. 21 Vgl. Emil Roland: Sein Ich. Roman. Berlin 1896 und Emil Roland: Die Globustrotterin. In: ders.: In blauer Ferne. Neue Novellen. Berlin 1898. 22 Emmi Lewald: Büro Wahn. Roman. Detmold 1935.

19

20

Einleitung

Emmi Lewald bildete in ihren literarischen Weib­lichkeits- und Gesellschaftsdarstellungen die umfassende weib­liche Erfahrung einer Umbruchs- und Übergangssituation ab, die in der Erzählliteratur vieler Autorinnen um die Jahrhundertwende eine zentrale Rolle spielt.23 Auch Emmi Lewalds Protagonistinnen sind „Übergangsgeschöpfe“24, die sich mit dem traditionellen bürger­lichen Weib­lichkeitsideal und neuen Bildungs- und Berufsmög­lichkeiten, mit gesellschaft­lichen und inneren Widerständen auseinandersetzen müssen und um ein neues Selbstverständnis ringen. Die fiktionalen Texte boten ihr die Mög­lichkeit, die von ihren Zeitgenossinnen wahrgenommene Übergangs­ situation in allen Facetten darzustellen. Auffallend präzise und sehr bewusst reflektieren die Protagonistinnen ihre Situation im Übergang von der Lebens- und Ideenwelt des 19. Jahrhunderts in eine noch nicht konkret zu fassende „neue Zeit“: „Das will ich dir sagen“, wendet sich die Philosophin Ellen an die titelstiftende Hauptfigur des Romans Sylvia (1904), du kamst eine Generation zu früh, denn du wurdest noch nach altem Zopf erzogen – oder um eine zu spät – denn du gerietest gerade an die Schwelle von zwei Zeiten–, und das sind immer die kompliziertesten Posten. Die an solchen Schwellen stehen, sind meist nicht genügend gerüstet für das Neue, aber auch nicht mehr dumm genug, um am alten Sumpf Geschmack zu finden. Es sind Halberwachte, die wohl möchten, aber nicht können.25

Aufgrund ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Wandel der Frauenrolle und der Emanzipationsthematik können die Texte von Emmi Lewald, unter Berücksichtigung ihres oft resignativen, rückwärtsgewandten und wenig optimistischen Ausgangs, 23 Die Aktivierung der bürger­lichen Frauenbewegung und die Infragestellung traditioneller Rollenvorstellungen im Zuge der einschneidenden gesellschaft­lichen Veränderungen am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sind in den Werken von Autorinnen als eine Erfahrung des tief greifenden Umbruchs spürbar. Ausgehend von Hedwig Dohms Aussage in ihren Erinnerungen, diese Zeit habe für die Frauen den Charakter einer „Weltwende“ gehabt, zeichnet Brinker-Gabler am Erzählwerk der Autorinnen Gabriele Reuter, Helene Böhlau, Franziska zu Reventlow, Ricarda Huch und Lou Andreas-Salomé die unterschied­liche literarische Verarbeitung dieser Übergangserfahrung nach. Als charakteristisch erscheinen hier die Darstellung des Widerspruchs zwischen weib­lichem Rollen­ ideal und gesellschaft­licher Realität als Doppelmoral der bürger­lichen Gesellschaft, die Auseinandersetzung mit weib­lichem Künstlertum und die Verhandlung mög­licher weib­licher Lebensund Entwicklungsperspektiven. Vgl. Gisela Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weib­liches Bewußtsein und frühe Moderne. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd.2: 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S. 169 – 205. 24 Die Wortschöpfung stammt aus Hedwig Dohms Roman Sibilla Dalmar (1896), in dem die Autorin ihre Protagonistin von sich selbst als „Übergangsgeschöpf“ sprechen lässt. Ludmila KaloyanovaSlavova verwendete den Begriff 1998 als Titel für ihre Untersuchung der Übergangserfahrung im Werk von Autorinnen um 1900: Übergangsgeschöpfe. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska zu Reventlow. New York u. a. 1998. 25 Emmi Lewald: Sylvia. Roman. In: Über Land und Meer 91 und 92 (1904), H. 25 – 41, S. 932.

Emmi Lewald – eine vergessene Autorin

als eine „gemäßigte“ Tendenzliteratur im Kontext der bürger­lichen Frauenbewegung eingestuft werden. Es darf angenommen werden, dass sie eine Funktion für die Selbstreflexion der Autorin ebenso wie für die Binnenkommunikation der frauenbewegten Öffent­lichkeit und für die Kommunikation mit einem breiteren gebildeten weib­lichen Lesepublikum erfüllten. Eine bürger­liche Erzählerin Obschon Emmi Lewald die Frauenthematik schon früh als wichtigste Motivation und zentrales Anliegen ihres Schreibens bezeichnete, würde – angesichts der Themenfülle ihres umfangreichen Œuvres – eine Studie dieser Autorin nicht gerecht, die sie auf ihre literarische Produktion im Kontext der bürger­lichen Frauenbewegung reduzieren wollte. Die Neuverhandlung der Geschlechterrollen und die Emanzipationsbestrebungen der Frauen erscheinen als eines von vielen Einzelphänomenen, die in den Texten allesamt als Ausdruck und Folge der weitreichenden technischen, ökonomischen und gesellschaft­lichen Umbrüche und Modernisierungsprozesse der Jahrhundertwende gedeutet werden. Nicht nur die bürger­lichen Protagonistinnen sind als „Übergangsgeschöpfe“ entworfen, in der Zeit der beginnenden Moderne zeigte sich die ganze wilhelminische Gesellschaft als eine Gesellschaft von „Übergangsmenschen“26. Emmi Lewald siedelt ihre Romane und Novellen vornehm­lich im bürger­lichen und adeligen Milieu an und schildert anhand einzelner Figuren das Leben, die Mentalitäten und die Konflikte der Menschen dieser Gesellschaftsschichten. Sie stehen daher in der Tradition der bürger­lichen spätrealistischen Erzählliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In der Erzählprosa ist ein starker Anspruch spürbar, die gesellschaft­liche Realität in ästhetisch gestalteter Form wiederzugeben, sie teils in kritisch-humoristischer Manier zu überzeichnen und so eine unterhaltende, kritische Zeitgeistanalyse zu schaffen. Auf diese Weise thematisiert die Autorin über Jahrzehnte die zahlreichen Facetten der gesellschaft­lichen Modernisierungsprozesse um 1900, deren Auswirkungen auf das bürger­liche Individuum sie vor allem als umfassende Rationalisierung sämt­licher Lebensbereiche und als schleichenden Niedergang der bürger­lichen Lebens- und Wertewelt darstellt.27 26 Martin Doerry entlehnt den Titel seiner Untersuchung einer Aussage des Schriftstellers Hermann Conradi, der sich und seine Zeitgenossen 1889 als eine „Generation von Übergangsmenschen“ bezeichnete. Anhand von sieben Lebensläufen zwischen 1854 und 1865 geborener Angehöriger der Gesellschaft des Kaiserreichs, hauptsäch­lich adeliger und bürger­licher Herkunft, darunter als einzige Frau Marie von Bunsen, strebt Doerry ein Generationenporträt „der Wilhelminer“ an. Das Gefühl, in einer Übergangszeit zu leben, war Teil dieser Generationenmentalität und eng verbunden mit dem gesellschaft­lichen Krisenbewusstsein in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs. Weinheim u. a. 1986. 27 Vgl. Horst Thomé: Modernität und Bewusstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix.

21

22

Einleitung

Die Zeitkritik überspannt ein thematisches Spektrum, das sehr unterschied­liche Sujets aus den Bereichen der bürger­lichen und adeligen Lebens- und Arbeitswelt abdeckt. Herausragende Themen bilden die Rationalisierung bürger­licher Geselligkeit ebenso wie die bürger­liche Bildungsreise, der Wandel der Familien- und Geschlechterbeziehungen ebenso wie die zunehmend zweckrationale Lebensgestaltung weib­ licher und männ­licher Protagonisten. Darüber hinaus werden gesamtgesellschaft­liche Umbruchprozesse wie der Aufstieg des Klein- und Wirtschaftsbürgertums, der Abstieg des Adels und die zunehmende Urbanisierung des deutschen Kaiserreichs thema­ tisiert. Im Hinblick auf die Selbstreflexion der Autorin ist die Künstlerinnenthematik von besonderem Interesse, die nicht nur das problematische Verhältnis des kreativen Individuums zu einer zunehmend auf ökonomische Interessen ausgerichteten Gesellschaft beleuchtet, sondern auch Raum für die Auseinandersetzung mit weib­lichem Kunstschaffen bietet. Eine Sonderstellung nimmt unter Emmi Lewalds Werkthemen die historische Zäsur des Ersten Weltkrieges ein, der die zwischen 1914 und 1918 publizierte Prosa verpf­lichtet ist. Das Kriegsthema bleibt von der bürger­lichen Binnenkritik der Vorkriegsliteratur weitgehend frei. Indem Emmi Lewald die gesellschaft­lichen und weltanschau­lichen Umbrüche in der Nachkriegszeit sowie die Rolle der berufstätigen Frauen in der Weimarer Republik zu literarischen Sujets macht, nimmt sie schließ­lich in ihrer letzten Werkphase den Anspruch auf eine kritisch-unterhaltsame Gesellschaftsschilderung wieder auf. Das Anliegen der literarischen Zeitdarstellung macht Emmi Lewald in ihrem Werk für den Leser wiederholt durch den Gebrauch bestimmter Wendungen kennt­ lich: Sie bezeichnet ihre Protagonisten als „Kinder der Zeit“ bzw. „Sohn der Zeit“ und präsentiert sie derart als literarische Verkörperungen einer von ihr wahrgenommenen zeitspezifischen Mentalität. Schon in dem ersten Roman Sein Ich (1896) wird der erfolgreiche, aber selbstsüchtige bürger­liche Politiker Leo „als echter Sohn seiner Epoche“ (SI 236) vorgestellt. Im Gegensatz zu seiner Gegenspielerin Ottilie Wächter, die Nächstenliebe, Opferbereitschaft, Loyalität und Treue zu sich selbst verkörpert, hält Leo die Vertretung eigener Interessen – Karrierestreben, Standesbewusstsein und Harmoniebedürfnis – vor denen der anderen für „eine höhere Form des Selbstgefühls“ (SI 203). Seines persön­lichen Standesdünkels wegen greift er manipulierend in die Beziehungen der anderen Protagonisten ein und zerstört aus reiner Selbstbezogenheit zuletzt sein eigenes Lebensglück. Durch Ottilies Charakter und Handlungsweise wird Leo als unverbesser­licher „Hoherpriester des Egoismus“ (SI 230) entlarvt, der die problematische zweckrationale Mentalität seiner Zeit zwar erkennt, jedoch um des beruf­lichen und gesellschaft­lichen Erfolges willen ihr charak­teristischer Vertreter ist.

München u. a. 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 15 – 27. S. 19 ff.

Emmi Lewald – eine vergessene Autorin

Was konnte er für die Strömungen der Zeit – für die flache Inhaltlosigkeit der Parole, die sie ausgab?… […] [U]nd er, der bald zur alten Generation gehörte, der nicht mehr jene Jugend besaß, die im Kampf um ein neues Ideal die beste Waffe ist – sollte er sich selbst einen Vorwurf daraus machen, weil er mit dem Strom schwamm, der ihn von jeher leicht und sicher zum Erfolge getragen? Mochte man dann die Zeit verdammen, nicht ihre schuldlosen Kinder… (SI 235)

Die Wendung „Kinder der Zeit“ kennzeichnet demnach auf der Inhaltsebene der Prosa­ texte im Allgemeinen die Prägung der Protagonisten durch die Epoche, in der sie leben, im Speziellen die Resignation eines an dem Ideal der bürger­lichen Kultur orientierten Werteverständnisses zugunsten eines neuen, universellen Nütz­lichkeitsprinzips, das als Haupttendenz der „modernen“ Zeit identifiziert wird. Der Wertewandel bzw. Werteverlust betrifft die Gestaltung zwischenmensch­licher Beziehungen in der priva­ten wie in der gesellschaft­lichen Sphäre ebenso wie das Verhältnis des bürger­lichen Individuums zur Kultur – und die Beziehung des Künstlers zu seinem Werk. In der Künstlernovelle Kinder der Zeit (1897) bezeichnet der Begriff den Titel eines modernen sozialen Dramas, mit dem ein junger erfolgloser Dichter zugleich seinen ersten großen Publikumserfolg feiert und seine am klassischen Drama geschulten literarischen Ideale verrät. Die Anpassung an die literarische Mode der Zeit, die naturalistische Literaturauffassung, wird als Nütz­lichkeitsentscheidung gedeutet, die von dem Prota­gonisten mit der Aufgabe seines am bürger­lichen Dichterideal orientierten Selbstverständnisses bezahlt werden muss.28 Indem Emmi Lewald die teils tragischen, teils komischen Auswirkungen der Modernisierungsprozesse auf das bürger­liche Individuum, die bürger­liche Kultur und Gesellschaft literarisch verarbeitet, spiegelt sich in ihren Texten die Krisenstimmung des Bürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts.29 Es zeugt von einem dezidiert bildungsbürger­lichen Selbstverständnis der Autorin, mittels ihrer Literatur die wahrgenommenen Fehlentwicklungen in der bürger­lichen Gesellschaft zu thematisieren und ihnen die Vorstellung einer „richtigen“, dem traditionellen Wertekanon aus Bildung, Fleiß, Bescheidenheit und Herzensbildung verpf­lichteten Bürger­lichkeit entgegenzusetzen. Die vorliegende Untersuchung soll auch klären, mit welchen literarischen Strategien Emmi Lewald die Wertvorstellungen in ihren Romanen und Novellen transportiert und wie sie eine Identifikation ihrer Rezipienten im Dienste der Bewahrung und Festigung bürger­licher Werte und Lebensweisen erreicht. 28 Vgl. Emil Roland: Kinder der Zeit. In: ders.: Kinder der Zeit. Novellen. Berlin 1897, S. 3 – 37. 29 Nicht zuletzt der inflationäre zeitgenössische Gebrauch des Begriffes „modern“ weist darauf hin, dass Gebildete und Intellektuelle die technischen Neuerungen, die demographischen Bewegungen sowie den rasanten gesellschaft­lichen und kulturellen Wandel der wilhelminischen Zeit als Zeitenwende wahrnahmen. Vgl. Thomé: Modernität und Bewusstseinswandel, S. 19 ff; Sabina Becker: Bürger­licher Realismus. Literatur und Kultur im bürger­lichen Zeitalter 1848 – 1900. Tübingen u. a. 2003, S. 35.

23

24

Einleitung

1.2

Methodisch-theoretische Überlegungen

Die Biografie, die Arbeitsbedingungen und die schriftstellerische Entwicklung ebenso wie die Rezeption und das literarische Werk dieser bisher weder von der regionalhistorischen noch von der germanistischen Forschung untersuchten Autorin zu rekonstruieren und zu untersuchen, hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt. Um dieser umfassenden Fragestellung gerecht zu werden, sollen mit der Absicht der Kontextualisierung mehrere Untersuchungsbereiche unter sozialgeschicht­lichen, literatursoziologischen und literaturwissenschaft­lichen Fragestellungen zu einem Gesamtbild verknüpft werden. Eine Studie zu der Autorschaft von Emmi Lewald und ihrem literarischen Werk kommt an erster Stelle nicht ohne die grundlegende Erschließung ihrer Lebensumstände aus, die Aufschluss über die sozialhistorischen und psychosozialen Voraussetzungen ihrer schriftstellerischen Arbeit geben können. Aufgrund der bisher sehr spär­lichen Quellenlage zu Leben und Werk von Emmi Lewald nehmen Recherche und Materialsichtung zur Rekonstruktion der Biografie notwendigerweise einen großen Raum ein. Nur mittels der Analyse ihres in der bürger­lichen Gesellschaftsformation erworbenen Habitus lassen sich grundlegende Aussagen über Emmi Lewalds Chancen auf schriftstellerischen Erfolg machen, die entscheidend von ihrem gesellschaft­lichen Status, ihren Bildungsvoraussetzungen und ihrer literarischen Sozialisation abhängig waren. Zur Untersuchung und Beschreibung von Emmi Lewalds herkunftsbedingten Einstellungen, der Einheit ihrer Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster wird als Analyseinstrument auf den von Pierre Bourdieu geprägten Begriff des „Habitus“ zurückgegriffen.1 In 1 Mit dem Begriff des „Habitus“ bezeichnet Bourdieu ein System von Dispositionen, das in Abhängigkeit von der klassenspezifischen Herkunft und Sozialisation eines Menschen steht und verinner­ lichte typische Gedanken-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster umfasst. Der Habitus erzeugt „objektiv klassifizierbare Praxisformen“ (Lebensstile) und „Klassifikationsverfahren“ dieser Formen (Werturteile) von Akteuren. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaft­lichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1982, S. 277 ff. Mit dem Habitus werden die Voraussetzungen beschrieben, die ein Akteur mitbringt, wenn er in ein gesellschaft­liches Handlungsfeld eintritt, bzw. die ein Autor mitbringt, wenn er in das literarische Feld eintritt, um eine Position/Stellung zu besetzen. Zwischen Habitus und eingenommener Stellung/Position besteht eine wichtige Relation, denn bestimmte Stellungen im Feld können nur besetzt oder geschaffen werden, wenn eine Person die nötigen charakter­lichen, materiellen und sozialen Voraussetzungen mitbringt, diese zu bekleiden. Eine wichtige Komponente des Habitus eines literarischen Produzenten stellt beispielsweise dessen Ausbildung dar, die als wichtiges Element des Sozialisierungsprozesses das Werteverständnis, das Weltbild und das Verhalten eines Menschen nachhaltig prägt. „Der Habitus ist somit gleichsam die Inkorporierung gesellschaft­ licher Strukturen, wobei der Prozeß besonders deut­lich dort wird, wo er sich tatsäch­lich in einer klassen­spezifischen Körper­lichkeit (Haltung, Mimik, Gesten) ausdrückt.“ Neben der Körper­lichkeit ist der Habitus in allen Lebensäußerungen und Zeichenverwendungen eines Menschen sinn­lich wahrnehmbar, in den Konventionen der Sprache und der gesellschaft­lichen Umgangsformen, in

Methodisch-theoretische Überlegungen

Bourdieus literatursoziologischem Konzept spielt die soziale Herkunft eines Autors bei der Besetzung von ‚Positionen im literarischen Feld‘2 eine entscheidende Rolle, weil mit ihr die Dispositionen verbunden sind, die einen Schriftsteller für bestimmte Laufbahnen qualifizieren. Dabei ist nicht allein die gesellschaft­liche Herkunft von Bedeutung, sondern seine gesamte soziale Identität, sein Verfügen über ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, Faktoren – die innerhalb einer gesellschaft­lichen Schicht noch stark variieren können. Auf diese Weise unterstützt das Konzept die Beantwortung einer der Ausgangsfragen dieser Arbeit, welche Mög­lichkeiten und Grenzen sich für Emmi Lewald als gebildete weib­liche Angehörige des gehobenen Bürgertums auftaten, als Berufsschriftstellerin langfristig erfolgreich tätig zu sein.3 In diesem Zusammenhang ist auch danach zu fragen, wie die bildungsbürger­liche Sozialisation und das spezifische bürger­liche Literaturverständnis ihr Selbstverständnis als Autorin und die Gestaltung ihrer literarischen Werke prägten. der Art des Wohnens, des sich Kleidens und des Umgangs mit Kunst, zusammenfassbar vielleicht am besten in der Matrix von Handlungs- und Denkweisen, die als Lebensstil bezeichnet wird. Weil diese Verhaltensdispositionen unbewusst angenommen werden, zeichnen sie sich durch eine besondere Trägheit und Langlebigkeit aus und bestimmen das Verhalten ihrer Träger unabhängig von ihrer Nütz­lichkeit in einer bestimmten Situation. Diese Kontinuität kommt zustande, weil der durch eine klassenspezifische Sozialisation erworbene Habitus die Individuen „so prägt, daß sie ihren Weg mit großer Wahrschein­lichkeit in der für ihre Klasse vorgesehenen Richtung wählen“. Andreas Dörner, Ludgera Vogt: Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätsgeschichte – Zivilisationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. Opladen 2. Auflage 1997, S. 134 – 158. Die Zitate stammen von S. 139. 2 Bei der Verwendung des Feldbegriffs bin ich mir bewusst, dass sich Bourdieus literatursoziolo­gisches Konzept aufgrund seiner nationalen Reichweite und seiner zeit­lichen Begrenzung nur bedingt auf das Literatursystem des Kaiserreichs und der Weimarer Republik übertragen lässt. Bourdieu entwickelte seine Methode in enger Verbindung mit seiner Untersuchung der Genese und Struktur des literarischen Feldes in Frankreich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und konzen­triert sich auf den grundsätz­lichen Autonomisierungsprozess des Feldes, den er mit der Untersuchung der nach 1848 in Frankreich hervortretenden literarischen Position des L’art pour l’art und ­dessen radikalen Bruch mit dem etablierten bürger­lichen Literaturbetrieb belegt. Die ausführ­liche theore­ tische Diskussion des Modells kann jedoch nicht das Ziel dieser Arbeit sein, weswegen ich auf die vermehrte Anwendung von Elementen des Konzepts in literaturwissenschaft­lichen und literatursoziologischen Studien verweise (beispielsweise zur Literaturkritik Christine Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen 2004). Die Verwendung einzelner Analyseinstrumente des Konzepts – die Begriffe Habitus, Feld, Kapital, Position – scheint mir legitim, da sie für die literatursoziologische Fragestellung der vorliegenden Arbeit fruchtbar sind. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M. 1999 (Französische Originalausgabe 1992). 3 Die objektiven Handlungs- und Äußerungsmög­lichkeiten, vor allem auch die stilistischen und thema­ tischen Mög­lichkeiten, die sich einem Autor/einer Autorin mit seinen spezifischen Dispositionen im literarischen Feld eröffnen, bezeichnet Bourdieu mit dem Begriff „Raum der Mög­lichkeiten“. ­Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 371 ff.

25

26

Einleitung

Über die biografische Erschließung hinaus muss sich eine Forschungsarbeit zu Emmi Lewalds Autorschaft und ihrem literarischen Werk mit ihren Beziehungen zu den verschiedenen Akteuren und Institutionen des Literaturmarkts und der literarischen Öffent­lichkeit bzw. des „Feldes der Literatur“4 auseinandersetzen. Mit dem ebenfalls von Pierre Bourdieu geprägten Feldbegriff lassen sich die an der Werkproduktion beteiligten Buch- und Zeitschriftenverlage mit den an der Werkrezeption beteiligten Instanzen, dem Lesepublikum, der Literaturkritik und der Literaturgeschichtsschreibung in Verbindung setzen und ihre Wechselwirkungen erforschen. Mit dieser berufsgeschicht­lichen Perspektivierung können die Rahmenbedingungen für Emmi Lewalds Beteiligung an der literarischen Öffent­lichkeit weiter konkretisiert werden, um anschließend ihre individuelle Arbeitsweise im Verlags- und Zeitschriften­wesen zu untersuchen. Wie das aktiv-strategische Vermögen der Autorin einzuschätzen ist, sich in der literarischen Öffent­lichkeit zu positionieren und ihre Texte gewinnbringend abzusetzen, zeigen ihre Arbeitsbeziehungen zu literarischen Vorbildern, Verlegern, Lektoren und Schriftstellerkollegen sowie die Auswahl von Verlagen und Publika­ tionsmedien. Bei der Analyse der Rezeptionsprozesse, die Auskunft über Emmi Lewalds Stellung im literarischen Leben ihrer Zeit gibt, muss die vorliegende Untersuchung zudem mit besonderer Aufmerksamkeit der Frage nachgehen, inwieweit geschlechtsspezifische Wertungsprozesse für den nachhaltigen Ausschluss der Autorin aus der Literatur­geschichtsschreibung verantwort­lich sind.5 Eine Studie zu der Autorin Emmi Lewald hat in der Erschließung, der Beschreibung und der Analyse der literarischen Texte ihre zentrale Aufgabe zu sehen. Ein Zugang zum Werk unter gattungsspezifischen und stoff­lich-thematischen Gesichtspunkten soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Wahl von Gattung und Sujet für die Positionierung der Autorin in unterschied­lichen Zusammenhängen von großer Bedeutung war. Diese „Schreibentscheidungen“ geben nicht nur Aufschluss darüber,

4 Die Schriftsteller, die Verleger, das Lesepublikum, die Literaturkritiker und die Literaturwissenschaftler bilden nach diesem Konzept bestimmte Positionen oder Stellungen im literarischen Feld, weswegen das Feld von Bourdieu auch als ein „Netz objektiver Beziehungen“, bestehend aus Stellungen, Einstellungen und Stellungnahmen definiert wird. Auch Gattungen und Untergattungen, eine Zeitschrift, ein Salon sowie ein Kreis von Schriftstellern entsprechen Positionierungen im Feld, die durch den größeren oder geringeren Besitz ökonomischer und symbolischer Macht, daher durch die Zugehörigkeit zum dominanten, etablierten Literatursystem oder zu einer alternativen Position (beispielsweise Avantgarde, Boheme) gekennzeichnet sind. Alle Akteure des literarischen Felds sind miteinander verflochten und stehen in permanenter Interaktion miteinander, sodass ein Interaktionsprozess entsteht, in dessen Verlauf literarische Produktionen in einem hierarchischen System von „hoher“, künstlerischer und „niederer“, kommerzieller Literatur klassifiziert werden. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 365, 323. Vgl. Dörner, Vogt: Kultursoziologie, S. 144 f. 5 Renate von Heydebrand, Simone Winko: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994), H. 2, S. 96 – 169.

Methodisch-theoretische Überlegungen

wie sie sich zu einer um 1900 noch weitgehend geschlechtergebundenen Genre- und Themenwahl verhielt, sondern auch über ihre Bereitschaft, konvenable Texte für den Bedarf des Literaturmarkts und seiner Publikationsorgane zu produzieren. Bei der Darstellung des Werkinhalts wird die Beschreibung und Analyse der zentralen Themen- und Stoffgebiete in Emmi Lewalds Werk im Mittelpunkt stehen. Mittels einer sorgfältigen sozial- und mentalitätsgeschicht­lichen Kontextualisierung der Texte kann hier den besonderen Arbeitsbedingungen von Autorinnen sowie den abweichenden Produktions- und Rezeptionsbedingungen ihrer Literatur ebenso wie dem von Emmi Lewald in ihren Werken deut­lich formulierten Anspruch auf Wirk­lichkeitsbezug Rechnung getragen werden. Dass Emmi Lewald sich in ihrer Erzählliteratur in der Spätphase des Kaiserreichs mit dem Zustand der bürger­lichen Gesellschaft auseinandersetzte und insbesondere an der Thematisierung des Zwiespalts zwischen sozialer Norm und gesellschaft­licher Praxis interessiert war, zeugt von einem dezidiert bildungsbürger­ lichen (Autoren-) Habitus und einem spezifischen Literaturverständnis, das bei der Untersuchung der Texte berücksichtigt werden muss. Indem sie in ihren Werken ausschließ­lich ihre eigene bürger­lich-adelige Gesellschaftsschicht mit ihren Problemen und Veränderungsprozessen darstellt, zeigt sie sich von der bürger­lichen realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts beeinflusst, die „Teil eines Prozesses der soziokulturellen Sinngebung und kollektiven Identitätsfindung des Bürgertums“ war.6 Die Literatur des bürger­lichen Realismus war eine überwiegend von bürger­lichen Autoren für ein bürger­liches Publikum verfasste Literatur, in der eine Kommunikation über die eigene Wertewelt und das eigene Selbstverständnis mittels der Beschreibung bürger­licher Lebenswelten und Mentalitäten stattfand. Wie Becker betont, ging es um die Schilderung und Klärung bestimmter Themenbereiche: „Heimat, Nation, Berufsstand, Familie, bürger­liche Mentalität, die Stellung des Individuums in der Gesellschaft, das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv, die Position des Künstlers in der bürger­lichen Gesellschaft sowie das Verhältnis zwischen Künstlertum und Bürger­lichkeit.“7 In Emmi Lewalds Beschreibungen der vielfältigen Auswirkungen der Modernisierungsprozesse um 1900 auf das bürger­liche Individuum, die mit einer umfassenden Skepsis gegenüber

6 Sabina Becker definiert den Begriff des „Bürger­lichen Realismus“ im Anschluss an ihre kulturwissenschaft­liche und kulturgeschicht­liche Herangehensweise nicht nur als literarischen Stilbegriff im Sinne von „realistisch schreiben“, sondern auch als Epochenbegriff für die litera­ rische Strömung, die ihre wichtigste Wirkungsphase in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von 1848 bis 1890 hatte, als „die kulturelle Kategorie des Bürger­lichen beziehungsweise der Bürger­ lichkeit“ und „das Leben in einer bürger­lichen Welt und die Erfahrung derselben eine im Hinblick auf Inhalte und Schreibformen erstaun­lich homogene Literatur haben entstehen lassen.“ Becker: Bürger­licher Realismus, S. 11 f. 7 Ebd., S. 20.

27

28

Einleitung

der Rationalisierung und Materialisierung aller Lebensbereiche einhergehen, lassen sich vor allem Verbindungslinien zur Literatur der späten Phase des bürger­ lichen Realismus nach der Reichsgründung 1871 ziehen, in der eine zunehmende „Binnen­kritik des Bürgertums“8 auszumachen ist. Wenn die Autorin dem von ihr kritisierten Nütz­lichkeits- und Profitdenken sowie der schwindenden Wertschätzung von Bildung, Kulturgenuss und Herzensbildung ein Plädoyer für den traditionellen bürger­lichen Wertekanon entgegensetzt, rekurriert sie auf kollektive Idealvorstellungen, die in der bürger­lichen Gemeinschaft trotz der offensicht­lich gewandelten Lebenswirk­lichkeit noch immer normsetzend waren. Eine Studie, welche die Erforschung einer heute nicht kanonisierten Autorin des deutschen Kaiserreichs zum Gegenstand hat, kann sich keine Begrenzungen durch die Qualitätskriterien einer Literaturwissenschaft auferlegen, die Werke von Frauen dieser Zeit anhand der literarischen Standards eines Kanons heute hochgewerteter Autoren beurteilt.9 Da gerade bei Forschungsunternehmen wie der Untersuchung von Emmi Lewalds Leben und Werk, die auf „die Sichtung des historisch Ausgegrenzten abzielen“10, die Wertungsproblematik immer präsent ist, plädiert Brigitte Spreitzer im Anschluss an Siegrid Weigel dafür, den Bedingungen Rechnung zu tragen, unter denen die Literatur von Frauen in der Moderne entstanden ist. Diese Arbeit versteht sich daher nicht als Beitrag zur Dokumentation eines „weib­lichen Gegenkanons“ vermeint­ lich hochwertiger und ledig­lich vergessener Literatur, noch will sie durch einen Vergleich mit den Werken heute kanonisierter Autorinnen und Autoren des Zeitraums Qualitätsurteile fällen, die Emmi Lewalds Werke als zweitrangige Literatur oder Trivialliteratur kategorisieren, womit ihr literaturhistorischer Ausschluss fortgeschrieben würde. Stattdessen leistet sie einen Beitrag zu einer sozialgeschicht­lich orientierten literaturwissenschaft­lichen Forschung, welche die Werke von Frauen im Hinblick auf ihre spezifischen Entstehungsvoraussetzungen, Funktionen und Ziele ernst nimmt und ihre formal-ästhetische sowie inhalt­liche Gestaltung beschreibt. Im Sinne dieser sozialgeschicht­lichen Forschungsprämisse besteht das Ziel der vorliegenden Untersuchung zunächst in einem Beitrag zu einer Geschichte der deutschen Literatur, die neben ihrer Orientierung an Prinzipien wie Modernität, Innovation und Elite auch auf Pluralität und Vollständigkeit abzielt.11

8 Ebd., S. 34. 9 Vgl. dazu Brigitte Spreitzers Reflexion theoretischer Prämissen zur Erforschung der Literatur von Frauen dieses Zeitraums im Rahmen ihres 1999 publizierten Werks Die österreichische Moderne der Frauen. Brigitte Spreitzer: Zur Erforschung der Literatur von Frauen in der Moderne. Theoretische Prämissen. In: newsletter MODERNE 2 (1999) H. 1, S. 15 – 18. 10 Ebd., S. 17. 11 Vgl. Günter Häntzschel: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914. Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1997, S. 10.

Methodisch-theoretische Überlegungen

In den Texten der Schriftstellerin Emmi Lewald kann jene Art stoff­lich-thematischer Modernität ausgemacht werden, die Brigitte Spreitzer für die Literatur von Frauen der Moderne konstatiert, die in Abgrenzung zur traditionellen, die weib­liche Geschlechterrolle affirmativ reproduzierenden Literatur schrieben.12 Da die formale Innovation für den Großteil dieser Literatur eine untergeordnete Rolle spielt, muss eine Untersuchung zu dem Gegenstand zwar formale Aspekte berücksichtigen, sich jedoch auf die stoff­lich-inhalt­liche Seite der untersuchten Texte konzentrieren: Das progressive Moment dieser Literatur liegt aus dieser Perspektive in der thematischen Auseinandersetzung mit den gesellschaft­lichen Modernisierungsprozessen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis und den tradierten (Rollen-) Zuschreibungen an Frauen, aber auch an Männer auf Basis eines feministischen Bewußtseins, das mit Gerda Lerner zunächst ganz allgemein definiert wird als die Einsicht von Frauen, daß sie einer untergeordneten Gruppe angehören, daß sie als Gruppe unter Mißständen leiden und daß ihr untergeordneter Status gesellschaft­lich produziert ist, und das sich in der Entwicklung eines Gruppenbewußtseins und im (literarischen) Entwurf von Gegenvisionen manifestiert, wird als im Medium der Literatur reflektierter und vorangetriebener Faktor gesellschaft­licher Modernisierung betrachtet und auf dem Hintergrund zeitgenössischer soziokultureller, psychosozialer und im weitesten Sinn mentalitätshisto­rischer Rahmenbedingungen beurteilt. Das formale Experiment spielt im zeit­lichen Untersuchungszeitraum dieser Arbeit (und, soweit ich sehe, noch weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus) gegenüber inhalt­lichen Normbrüchen eine untergeordnete Rolle.13

Bei der vorliegenden Studie, deren Untersuchungszeitraum sich aus den Lebensdaten der Emmi Lewald und ihrem Veröffent­lichungszeitraum zwischen 1888 und 1935 ergibt, steht das Interesse im Vordergrund, die Biografie der Autorin, ihr frauenrechtlerisches Engagement, ihre Arbeit als Schriftstellerin und ihr literarisches Werk nicht isoliert voneinander, sondern im Zusammenhang zu untersuchen. Zu diesem Zweck wird die Analyse von einer Reihe übergreifender Fragen begleitet: Wandte die Autorin beim Aufbau ihrer schriftstellerischen Karriere erkennbare Taktiken an, um ihre Position im literarischen Feld zu erobern und zu festigen? Lassen sich für die Dauer ihrer Laufbahn bestimmte Karrierestrategien erkennen? In diesem Zusammenhang werden auf sozialer und kommunikativer Ebene die Nutzung von familiären, gesellschaft­lichen und beruf­lichen Kontakten, die Bildung von Netzwerken und auf Textebene die strate­ gische Gattungs- und Themenwahl beleuchtet.

12 Brigitte Spreitzer untersucht die literarische Arbeit von zum Großteil noch wenig bekannten österreichischen Autorinnen aus der Zeit zwischen 1880 und 1930 unter dem Aspekt literarischer Modernität. Brigitte Spreitzer: TEXTUREN. Die österreichische Moderne der Frauen. Wien 1999, S. 27 f. 13 Ebd., S. 28.

29

30

Einleitung

1.3

Stand der Forschung

Eine umfassende sozialhistorische und literaturwissenschaft­liche Untersuchung zu Emmi Lewalds Biografie, ihrer Arbeit als Schriftstellerin und ihren literarischen Werken liegt bisher noch nicht vor. Kurze biografische Abrisse sowie teils unvollständige Bibliografien finden sich bereits in verschiedenen Autorinnenlexika und frauenspezifischen Nachschlagewerken seit den 1890er Jahren. 1 Unter den frühen Arbeiten zu Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, die sich hauptsäch­lich mit der Dokumentation der Biografien und Werke beschäftigt haben, ist vor allem ­Elisabeth Friedrichs lexikalisches Grundlagenwerk Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts (1981) wichtig, in dem ein Teil von Emmi Lewalds Zeitschriftenbeiträgen und Rezensionen verzeichnet sind. Die aktuellste Erwähnung der Autorin bietet das von Petra Budke und Jutta Schulze herausgegebene Lexikon Schriftstellerinnen in Berlin 1871 – 1945 (1995); indessen wurde sie in die Mehrzahl der wichtigen neueren literaturhistorischen Nachschlagewerke nicht aufgenommen.2 Ähn­lich kurze biografische Überblicke und unvollständige Werklisten bieten regionalhistorische Nachschlagewerke zur oldenburgischen Stadt- und Landes­ geschichte, für die hier stellvertretend das Biographische Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg (1992) und die Publikation Weiber-Geschichten. Frauenalltag in Oldenburg 1800 – 1918 (1988) genannt seien.3 Diese Bände konzentrieren sich auf die Wiederholung und Zusammenstellung gesicherter Informationen aus älteren Nachschlagewerken und enthalten kaum neue Forschungsergebnisse. Meine Studie Emil Roland, „Unsre lieben Lieutenants“ (1888), Eine kulturhistorische Untersuchung zu der oldenburgischen Schriftstellerin Emmi Jansen (Magisterarbeit, 2005) dokumentiert erstmals den aktuellen Forschungsstand zu Emmi Lewalds Biografie und stellt neue biografische Detailinformationen vor.4 Der Artikel Die tragische Liebe des Orpheus und der Eurydike (2011) leistet einen Beitrag zur Erforschung des bildungsbürger­ lichen Habitus der Autorin, indem er die in der Grabsteingestaltung des Ehepaars 1 So in den älteren Werken Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bd. 4. Bearb. von Franz Brümmer. 6., völlig neu bearb. und stark verm. Aufl. Leipzig 1913 [Reprint in Nendeln/­Lichtenstein 1975]; Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weib­licher Autoren nebst Biographien der lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme. Hg. von Sophie Pataky. Berlin 1898 [Nachdruck Bern 1971]. 2 So in dem von Gisela Brinker-Gabler herausgegebenen Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800 – 1945. München 1986 und in dem Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730 – 1900). Hg. von Gudrun Loster-Schneider und Gaby Pailer. Tübingen u. a. 2006. 3 Vgl. Biografisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Hg. von Hans Friedl u. a. Oldenburg 1992 und das von der Stadt Oldenburg in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Frauen-Geschichte in Oldenburg herausgegebene Werk Weiber-Geschichten. Frauenalltag in Oldenburg 1800 – 1918. Ausstellung und Katalog Gabriele Beckmann. 3. Aufl. Oldenburg 1988. 4 Steinberg: Emil Roland.

Stand der Forschung

Lewald prägnant zum Ausdruck kommende Antikenrezeption untersucht.5 Ebenso spär­lich wie die biografischen Informationen zu Emmi Lewald sind die bishe­ rigen Kenntnisse über ihre literarischen Texte. Der Oldenburger Historiker Harald Schieckel publizierte in den 1990er Jahren jeweils einen Aufsatz zu Emmi Lewalds Charakterstudien Unsre lieben Lieutenants (1888) und zu ihrem Roman Unter den Blutbuchen (1915), in denen er sich den Texten unter regionalhistorischen Fragestellungen nähert und die Aufschlüsselung der realhistorischen Vorbilder für Figuren und Orte anstrebt.6 Meine oben erwähnte Untersuchung Emil Roland: „Unsre lieben Lieutenants“ (2005) machte sich die erste umfassende Untersuchung des Erstlingswerks der Autorin zur Aufgabe: Im Rahmen einer sozialhistorischen Fragestellung setzt sie den gesellschaft­lichen und familiären Hintergrund sowie die Bildungs­ voraussetzungen der Autorin in einen Kontext mit dem Inhalt und der Gestaltung ihres literarischen Werks sowie dessen Publikations- und Rezeptionsgeschichte. Im Hinblick auf weiterführende Studien bietet die Arbeit ein erstes umfassendes Werkverzeichnis, das zudem den aktuellen Stand der bekannten Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften wiedergibt. Die dürftige Forschungslage macht deut­lich, dass für die vorliegende Studie nicht nur eine gründ­liche biografische Erschließung erforder­lich ist, sondern dass sie auch in Fragen der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsbeziehungen und der Gattungs- und Themen­analyse Neuland betreten muss. Hierzu müssen die allgemeinen Ergebnisse der germanistischen Forschung zur Berufsgeschichte und zur Literatur von Schriftstellerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts herangezogen werden, die in den 1970er Jahren begründet wurde und sich seitdem zunehmend entwickelt und differenziert hat.7 Auch wenn die traditionelle Nachlässigkeit der Literaturwissenschaft in Bezug auf die deutschen Schriftstellerinnen in neueren Studien nach wie vor zu Recht kritisiert wird, haben die sozial- und die literaturwissenschaft­liche Forschung in den letzten drei Jahrzehnten kontinuier­lich neue Erkenntnisse über weib­liche Autorschaft erbracht – wenn auch mit unterschied­ licher zeit­licher Gewichtung.8 So kamen Annette Keck und Manuela Günter in ihrem 5 Ruth Steinberg-Groenhof: Die tragische Liebe des Orpheus und der Eurydike. Zum Grabmal von Felix und Emmi Lewald auf dem Südwestkirchhof des Landes Brandenburg. In: Kulturland Oldenburg. Zeitschrift der Oldenburgischen Landschaft Nr. 147, 1. Quartal 2011, S. 30 – 33. 6 Vgl. die Arbeiten von Harald Schieckel: Bemerkungen zu Emil Rolands Charakterstudien „Unsere lieben Leutnants“. In: Mitteilungsblatt der Oldenburgischen Landschaft Nr. 107/108, 2./3. Quartal 2000, S.  5 – 6 und Zu Emmi Lewalds Schlüsselroman „Unter den Blutbuchen“ (1915). In: Mitteilungsblatt der Oldenburgischen Landschaft Nr. 96, 3. Quartal 1997, S. 10 – 13. 7 Seit den 1970er Jahren begegnete die feministische Literaturwissenschaft dem literaturhistorischen Defizit zunächst mit biografischen Forschungen und Werksichtungen. Vgl. Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Lexikon. Stuttgart 1981 und Brinker-Gabler: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800 – 1945 [1986]. 8 So in der Einleitung des von Bland und Müller-Adams herausgegebenen Sammelbands Frauen in der literarischen Öffent­lichkeit, S. 9.

31

32

Einleitung

Forschungsbericht Weib­liche Autorschaft und Literaturgeschichte (2001) zu dem Schluss, dass die Literatur der Zeit um 1800 unter epochen- und gattungsspezifischen sowie literaturtheoretischen Gesichtspunkten bereits gut ­eruiert ist, der Untersuchungszeitraum von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg dagegen bisher vornehm­lich in Arbeiten mit biografischem Zugang erforscht wurde.9 Keck und Günter weisen darauf hin, dass auch für diesen Zeitraum der Zugang über das Genre – besonders Autobiografie, Reise- und Briefliteratur – zunehmend wichtig wird. Tatsäch­lich sind in den Studien die Forschungen zu Biografie und psychosozialen Voraussetzungen, Arbeitskontext und literarischem Werk häufig verflochten. Umfassende Einzelstudien zu nicht kanonisierten Autorinnen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurden und deren Schaffensphase in die Zeit des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik fällt, sind heute noch selten. Anhaltendes Forschungsinteresse besteht an den in Bezug auf Biografie, Werk und Korrespondenz bereits relativ gut erschlossenen Autorinnen Else Lasker-Schüler, Hedwig Dohm, Helene Böhlau, Lou Andreas-Salomé, Gabriele Reuter, Franziska zu Reventlow und Lulu von Strauß und Torney.10 Eine erhöhte Aufmerksamkeit ziehen darüber hinaus das Leben und die literarische Arbeit der erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellerin Eugenie Marlitt auf sich, die allerdings einer früheren Generation zuzurechnen ist.11 Dagegen liegen noch kaum Untersuchungen zum Werdegang, den Arbeitsbedingungen und der Schreibmotivation der großen Zahl schreibender Frauen der bürger­lichen Gesellschaftsschicht vor, die teilweise der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung verbunden waren, teilweise aus finan­ ziellen Gründen bewusst konventionelle Konzepte pflegten.12 Hier seien die Namen 9 Anette Keck, Manuela Günter: Weib­liche Autorschaft und Literaturgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 26 (2001), H. 2, S. 201 – 233. 10 Vgl. eine Auswahl der aktuellen Publikationen zu Else Lasker-Schüler: Kerstin Decker: Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler. Berlin 2009, Siegrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie. Göttingen 2004; zu Hedwig Dohm: Isabel Rohner: Spuren ins Jetzt. Hedwig Dohm – Eine Biografie. Sulzbach/Taunus 2010 und dies.: In litteris veritas. Hedwig Dohm und die Problematik der fiktiven Biografie. Berlin 2008; zu Lou Andreas-Salomé: Kerstin Decker: Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2010; zu Franziska zu Reventlow: Gunna Wendt: Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin. Biographie. Berlin 2008. Im Fall der Lulu von Strauß und Torney befasst sich die Mehrzahl der aktuellen Publikationen mit ihrer Korres­ pondenz und den Beziehungen zu der Verlegerdynastie Diederichs, wohingegen ihrem litera­ rischen Werk weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. 11 Vgl. beispielsweise die Studien von Urszula Bonter, in der auch die Valeska Gräfin Bethusy-Huc, eine Freundin und Schriftstellerkollegin von Emmi Lewald mit Biografie und Werk behandelt wird: Der Populärroman in der Nachfolge von E. Marlitt: Wilhelmine Heimburg, Valeska Gräfin Bethusy-Huc, Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem. Würzburg 2005 und Erika Dingeldey: Luftzug hinter Samt­portieren: Versuch über E(ugenie) Marlitt. Bielefeld 2007. 12 Ein aktueller Beitrag zu dieser Thematik wurde von Dirk Hempel mit Studierenden des Masterstudiengangs „Deutschsprachige Literaturen“ an der Universität Hamburg erarbeitet: Dirk Hempel

Stand der Forschung

einiger ­S chriftstellerinnen aus Emmi Lewalds gesellschaft­lichem und privatem Umfeld genannt, die zum Teil ebenfalls Mitglieder des „Deutschen Lyceum-Clubs“ für berufstätige Frauen waren: Liesbet Dill (1877 – 1962), Anselma Heine (1855 – 1930), Agnes Harder (1864 – 1939), Margarethe Friedenthal und Josefa Metz (1871 – 1943).13 Diese Autorinnen konnten sich zu Lebenszeiten im literarischen Leben einen Namen machen, gerieten jedoch nach ihrem Tod und insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Vergessenheit. Forschungsergebnisse zur thematischen und stilistischen Gestaltung von Werken heute weniger bekannter Autorinnen des Untersuchungszeitraums finden sich zum Teil in Sammelbänden und Überblicksdarstellungen zur Literatur von Frauen der Zeit des Kaiserreichs bzw. des Fin de siècle, des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik.14 Während in Gisela Brinker-Gablers 1988 erschienenem zweitem Band des Projekts Deutsche Literatur von Frauen der Beitrag Perspektiven des Übergangs zur Übergangserfahrung in der Literatur von Frauen in der Moderne nütz­lich ist,15 widmet sich der von Karin Tebben herausgegebene Band Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle (1999) weitergehend den „thematischen und ästhetischen Innovationen der Literatur von Frauen um 1900“ und versucht auch, deren „Mängel und Grenzen aufzuzeigen.“16 Obwohl es sich bei den Aufsätzen um Studien zu einzelnen Autorinnen handelt, geben sie einen guten Überblick über zeitspezifische Sujets und Erzählstile sowie den Einfluss psychosozialer Faktoren auf das Schreiben von Frauen. Insbesondere für die Werkanalysen dieser Arbeit sind Untersuchungen zu einzelnen Themen und Stoffen hilfreich; hier sei exemplarisch Sonja Dehnings Studie zur Darstellung Künstlerische[r] Produktivität in Romanen von Autorinnen (Hg.): Literatur und bürger­liche Frauenbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Forschungsberichte und Studien. Hamburg 2010, URL: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/ index/index/docId/20370 (Zugriff 17.05.2012). Auch sei auf die Studie von Christa Kraft-Schwenk hingewiesen: Ilse Frapan. Eine Schriftstellerin zwischen Anpassung und Emanzipation. Würzburg 1985. Ilse Frapan (1849 – 1908) stammte aus dem kleinbürger­lichen Milieu Hamburgs und lebte nach kurzer Studienzeit in Stuttgart mit ihrer Lebensgefährtin Emma Mandelbaum unter schwierigen finanziellen Bedingungen in Hamburg und Zürich, wo sie naturwissenschaft­lichen Studien nachging. Die Autorin verfasste Lyrik, Novellen und Romane für Zeitungen und Unterhaltungszeitschriften, wandte sich literarisch jedoch auch problematischen Themen wie freien Liebesbeziehungen, der Unterdrückung der Frau in der Familie und der Prostitution zu. 13 Vgl. zu Josefa Metz, die wie Emmi Lewald Mitglied des Lyzeum-Clubs war, „Dichterin der Kinder­ seele“. Ein Lesebuch. Zusammengestellt mit einem Vorwort von Michael Vogt. Bielefeld 2004. 14 Als Beispiele für thematisch-stoff­lich ausgerichtete Studien, in denen die Werke wenig bekannter Autorinnen einbezogen werden, seien genannt Cornelia Pechota Vuilleumier: „O Vater, laß mich ziehn!“, Literarische Vater-Töchter um 1900: Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé. Hildesheim 2005 und Romana Weiershausen: Wissenschaft und Weib­lichkeit. Die Studentin in der Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2004. 15 Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. 16 Tebben: Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle, Vorwort (o. S.).

33

34

Einleitung

um 1900 genannt.17 Dieser kurze Überblick des aktuellen Forschungsstands kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, zeigt jedoch deut­lich, dass die Erforschung der Schriftstellerinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihrer Werke inzwischen zwar kein Desiderat der Literaturwissenschaft mehr darstellt, sich jedoch noch auf einen Kreis bekannter Autorinnen konzentriert und in der Breite wenig differenziert ist. Da sich die Mehrzahl der Untersuchungen mit den Biografien einzelner Autorinnen, ihren Themen und Schreibweisen auseinandersetzt, lassen sich nur wenige verallgemeinerbare Ergebnisse zur sozialen Herkunft, den Karrierestrategien, zu Honorarfragen, der Schreibmotivation und der Lebenssituation der Autorinnen finden. Hier besteht deut­lich der Bedarf an einem Überblickswerk zur Berufsgeschichte von Schriftstellerinnen im Stil von Britta Scheidelers Sozialgeschichte der deutschen Schriftsteller von 1880 bis 1933 (1997) oder Rolf Parrs Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930 (2008) bzw. an einem Autorinnen und Autoren umfassenden Werk, das die besondere Berufssituation schreibender Frauen angemessen berücksichtigt.18 Ein Beispiel für die Erforschung der Arbeitsbedingungen einzelner Autorinnen stellt die Studie von Charlotte Nittke über Isolde Kurz und ihre Verleger (1990) dar.19 Ein vielversprechender Schritt in diese Richtung ist auch Lucia Hackers Untersuchung Schreibende Frauen um 1900, Rollen – Bilder – Gesten (2007), die im Gegensatz zu den überwiegenden Einzelfallstudien allgemeine Aussagen über Herkunft, Lebenssituation und Schreibmotivation von Schriftstellerinnen anstrebt.20 Die breite Materialbasis für Hackers innovatives Projekt bilden Selbstzeugnisse höchst unterschied­licher Autorinnen aus dem Nachlass des Lexikonherausgebers Franz Brümmer, in dem sich auch eine handschrift­liche Kurzvita von Emmi Lewald befindet. Nach der Einbindung und den Gestaltungsmög­lichkeiten schreibender Frauen auf dem Literaturmarkt und in der Öffent­lichkeit fragt auch der von Caroline Bland und Elisa Müller-Adams herausgegebene Band Frauen in der literarischen Öffent­lichkeit 1780 – 1918 (2007) und zeigt damit ebenjenes Interesse an der Kontextualisierung weib­licher Literaturproduktion, die auch diese Arbeit anstrebt.21 17 Vgl. Dehning: Tanz der Feder und auch Stephanie Günther: Weib­lichkeitsentwürfe des Fin de siècle Berliner Autorinnen: Alice Berend, Margarethe Böhme, Clara Viebig. Bonn 2007. 18 Wie bereits Hacker (2007) kritisierte, behandeln Scheideler und Parr in ihren Sozialgeschichten die Rolle der Schriftstellerin nur am Rande. Vgl. Britta Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung. Zur Sozialgeschichte der deutschen Schriftsteller von 1880 bis 1933. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 46 (1997), S. 1 – 336 und Rolf Parr (unter Mitarb. von Jörg Schönert): Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930. Heidelberg 2008. 19 Charlotte Nittke: Isolde Kurz und ihre Verleger. Geschichte der Buchveröffent­lichungen einer Erfolgs­ autorin zwischen 1888 und 1944. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 34 (1990), S. 1 – 115. 20 Vgl. Lucia Hacker: Schreibende Frauen um 1900. Rollen – Bilder – Gesten. Berlin 2007. 21 Vgl. Bland, Müller-Adams: Frauen in der literarischen Öffent­lichkeit 1780 – 1918.

Stand der Forschung

Die vorliegende Untersuchung ist über germanistische Studien hinaus zur Erschließung des sozialgeschicht­lichen Kontextes von Leben, Arbeitsbedingungen und Werk der Autorin Emmi Lewald auf die Forschungsergebnisse verschiedener Fachgebiete zur Situation der gesellschaft­lichen Formation des Bürgertums 22 sowie der bürger­lichen Frauen zur Zeit der Jahrhundertwende, des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik angewiesen. Die Lebenswirk­lichkeit bürger­licher Frauen im 19. Jahrhundert und die Entwicklung, Ideen und Ziele der bürger­lichen Frauenbewegung sind von der Sozial- und Rechtsgeschichte, der Frauenforschung und der Soziologie bereits gut erforscht, etwa in Ute Freverts und Ute Gerhards Publikationen sowie in Günter Häntzschels Studien zur weib­lichen Kultur und Bildung.23 Die Entwicklung des literarischen Markts im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die Veränderungen der Publikationsbedingungen für Autoren und die Situation der Verlage wurden von den Teildisziplinen der Buch- und Buchhandelsgeschichte bereits gut erforscht. Die aktuellen Ergebnisse der letzten Jahre sind in den von Georg Jäger herausgegebenen Bänden zur Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert für das Kaiserreich 1871 – 1918 (2003) zusammengefasst. Zudem wurde Forschungsliteratur zur Geschichte der deutschsprachigen Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung herangezogen.24

22 Insbesondere die Studien und Überblicksdarstellungen von Jürgen Kocka (Hg. unter der Mitarbeit von Ute Frevert): Bürgertum im 19. Jahrhundert in Deutschland im europäischen Vergleich. 3 Bde. ­München 1988, Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, Peter Lundgreen (Hg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürger­tums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986 – 1997). Göttingen 2000, Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürger­lichkeit im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2009 und Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der deutschen „Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914. München 1995 sowie Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949. München 2003. 23 Beispielsweise Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen bürger­licher Verbesserung und Neuer Weib­ lichkeit. Frankfurt a. M. 1986; Ute Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Unter Mitarb. von Ulla Wischermann. Reinbek 1990; Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997; Häntzschel; Die deutschsprachigen Lyrikanthologien. 24 Beispielsweise Thomas Anz, Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. 2. Aufl. München 2007; Peter Uwe Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte und nationale Identität. Bilder vom deutschen Sonderweg. In: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3. Hg. von Jürgen Kocka (unter Mitarbeit von Ute Frevert). München 1988, S. 200 – 231. Gisela Brinker-Gabler: Die Schriftstellerin in der deutschen Literaturwissenschaft. Aspekte ihrer Rezeption von 1935 – 1910. In: Die Unterrichtspraxis / Teaching German Bd. 9, Nr. 1 (1976), S. 15 – 28.

35

36

Einleitung

1.4

Materialsichtung und Aufbau der Arbeit

Die Fragestellung und Zielsetzung dieser Arbeit machten im Vorfeld umfangreiche Recherchen zu den Primärtexten der Autorin, zu den Werkrezensionen, zu den Dokumenten in Verlagsarchiven und zu den Korrespondenzen mit Zeitgenossen notwendig. Hier eine mög­lichst breite Materialbasis zu schaffen, bildete nicht nur die Voraussetzung dafür, den Umfang ihrer literarischen Tätigkeit sichtbar zu machen, sondern stellt auch die Grundlage für weiterführende Forschungen bereit. Da Emmi Lewalds Publi­kationen weder als Neuauflage noch als Reprint verfügbar und sämt­liche Auflagen inzwischen vergriffen sind, mussten sämt­liche Buchausgaben über den antiquarischen Buchhandel oder in Scan-Kopie beschafft werden, was nur im Fall der Novelle Mut zum Glück (1901) nicht gelang. Weitaus zeitaufwändiger gestaltete sich die Recherche und Beschaffung der zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge, wobei es sich um Vorab- und Zweitdrucke von Romanen sowie um einmalig veröffent­lichte Lyrik und Kurzprosa handelt. Die Mehrzahl der Literatur- und Kulturzeitschriften sowie der Tageszeitungen sind noch nicht digitalisiert und digital recherchierbar, sodass eine starke Abhängigkeit von den teils lückenhaften Beständen, partiell mangelhaften Erschließungszuständen und Inhaltsverzeichnissen relevanter Bibliotheken bestand. 1 Die Zeitungs- und Zeitschriftenpublikationen der Autorin, die ausfindig gemacht werden konnten, sind im Anhang im Rahmen der Werkbibliografie erschlossen (VI. 2.3). Mühsam gestaltete sich zudem die Recherche von Emmi Lewalds literarischen Texten und Literaturkritiken in zeitgenössischen Tageszeitungen, da oft noch keine Volltextsuche in digitalen Ausgaben mög­lich ist. Zur Untersuchung von Emmi Lewalds Biografie und ihrer Arbeitsbedingungen wurde eine Reihe ungedruckter Quellen verwendet.2 Briefe und Briefkonvolute der privaten Korrespondenz der Autorin haben sich besonders gut in Nachlässen bekannter zeitgenössischer Persön­lichkeiten erhalten, beispielsweise Ernst von Wildenbruch und Elisabeth Förster-Nietzsche (Goethe- und Schillerarchiv Weimar), Hermann 1 Als Ausnahme sei das Projekt zur Digitalisierung der „Gartenlaube“ bei Wikisource genannt, wo bestimmte Jahrgänge des Zeitraums bis 1897 bereits im Internet zugäng­lich sind. Vgl. http:// de.wikisource.org/wiki/Die_Gartenlaube (Zugriff am 17.04.2011). 2 An dieser Stelle sei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der entsprechenden Abteilungen der folgenden Institutionen für ihre Unterstützung herz­lich gedankt: Archiv der deutschen Frauen­ bewegung (Kassel), Archiv Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 e. V. (Berlin), Bayrische Staatsbibliothek München / Handschriftenabteilung, Buchhandlung Anna Thye, Frau Fritz (Oldenburg), Deutsches Literaturarchiv Marbach, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultur­ besitz (Berlin), Klassik Stiftung Weimar / Goethe- und Schillerarchiv, Landesarchiv Berlin und Helene-Lange-Archiv (Berlin), Niedersächsisches Landesarchiv / Staatsarchiv Oldenburg, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz / Handschriftenabteilung, Stanford University Libraries / Handschriftenabteilung.

Materialsichtung und Aufbau der Arbeit

Sudermann und Karl Jaspers (Literaturarchiv Marbach). Die Korrespondenz der Familie Lewald mit dem Porträtmaler Conrad Kiesel konnte in den Stanford University Libraries in den USA/Kalifornien ausfindig gemacht werden. Ein negatives Ergebnis brachte dagegen die Recherche nach einem persön­lichen Nachlass der Autorin, der erwartungsgemäß an Emmi Lewald gerichtete Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und persön­liche Erinnerungsstücke enthalten könnte. Derart priva­tes Schriftgut befand sich wider Erwarten nicht im Besitz ihrer Großnichte Helga Krosigk (Murnau), deren Familie nach dem Tod der Autorin 1946 durch Intervention einer ihrer Freundinnen, der Berliner Konzertpianistin Marie Petersen, deren Nachlass erhielt. Dieser besteht neben einer Sammlung von Buchausgaben ihrer Werke vor allem aus diversen Kopien publizierter Zeitschriftenabdrucke und unveröffent­ lichten Werkmanuskripten aus den 1930er Jahren.3 Schrift­liche Lebenserinnerungen in gedruckter oder ungedruckter Form, wie sie einige Aktivistinnen der bürger­lichen Frauenbewegung hinterließen, sind bisher nicht aufgefunden worden. Für das zweite Hauptkapitel zur Positionierung der Autorin im literarischen Feld wurde auf die Korrespondenz der Autorin mit Verlagspartnern und Schriftstellerkollegen sowie auf Verlagsverträge und andere Dokumente zurückgegriffen. Von den Archiven der zahlreichen Verlage, in denen Emmi Lewalds Bücher erschienen, haben sich durch kriegsbedingte Verluste leider nur sehr wenige erhalten, etwa das im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwahrte Cotta-Archiv und das Autorenarchiv der Schulzeschen Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei Oldenburg, das in der Handschriftenabteilung der Landesbibliothek Oldenburg aufbewahrt wird. In den Archivbeständen der Schulzeschen Hofbuchhandlung, die zwischen 1889 und 1901 vier Werke der Autorin publizierte, finden sich ein Briefwechsel der Autorin mit dem Verleger August Schwartz, Verträge und vereinzelte Dokumente zu Druckverfahren und Honoraren. Die Archive der für Emmi Lewalds Buchveröffent­lichungen wichtigen Verlage Fontane & Co (Berlin), Deutsche Verlags-Anstalt (Stuttgart und Berlin), G. Stilke (Berlin) sowie A. Scherl (Berlin) sind entweder kriegsbedingt vernichtet oder verschollen. Dies gilt bedauer­licherweise auch für die redaktionellen Unterlagen von Helene Langes Zeitschrift „Die Frau“.4

3 An dieser Stelle sei Frau Helga Krosigk † aus Murnau für ihr Interesse an dieser Arbeit und ihre Unterstützung bei der Recherche familiengeschicht­licher Zusammenhänge der Familien Jansen, Lewald und von Krosigk herz­lich gedankt. Helga Krosigk heiratete Dr. Eschwin von Krosigk, einen Enkel von Emmi Lewalds Schwester Sophie von Goeckel und verwahrt neben Erinnerungsstücken der Familie die wenigen nachgelassenen Werke und Manuskripte der Emmi Lewald, die sie für diese Arbeit freund­licherweise zur Verfügung stellte. Vgl. die Auflistung im Quellen- und Literaturverzeichnis 6.2.4. 4 Dieses Ergebnis ergab eine Anfrage an das Landesarchiv Berlin zu den Beständen des dort verwahrten Helene-Lange-Archivs am 19.06.2007.

37

38

Einleitung

Zum Aufbau der Arbeit Die Untersuchung zu Emmi Lewald ist in drei große thematische Kapitel unterteilt. Im biografischen Teil werden als Ausgangslage die sozialhistorischen Voraussetzungen ihrer Arbeit als Autorin und der Gestaltung ihrer literarischen Texte dargestellt (2.1.1), die gesellschaft­liche, politische und kulturelle Situation des Bürgertums, insbesondere des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die gesellschaft­liche Situation bürger­licher Frauen sowie die Entwicklung und die Ziele der bürger­lichen Frauenbewegung in dieser Zeit. Im Anschluss an die Beschreibung des sozialhisto­ rischen Kontextes folgt eine chronologische Übersicht über den Lebensweg der Autorin, die nach ihren biografischen Stationen Oldenburg, Berlin und Thüringen (Weimar/ Apolda) gegliedert ist (2.1.2). Ziel dieser biografischen Darstellung ist es zum einen, in Abhängigkeit von der Quellenlage Emmi Lewalds familiären Hintergrund, ihren Bildungsweg sowie ihre Lebenssituation, daher ihre gesellschaft­lichen Beziehungen und ihre Rolle in der bürger­lichen Frauenbewegung mög­lichst detailliert nachzuzeichnen. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Aspekten einer Anpassung an gesellschaft­ liche Normen ebenso wie den Grenzverletzungen, welche die Autorin wagen musste, um ihren Berufswunsch umzusetzen. Die Beziehungen der Autorin zu Zeitgenossen stellen sich als effektives Netzwerk aus vielfach miteinander verflochtenen privaten, gesellschaft­lichen und beruf­lichen Kontakten dar, das von großer Bedeutung für ihre schriftstellerische Karriere war. Dieser Abschnitt hat zudem mit der Beschreibung der Herkunft und des Lebensstils die Aufgabe, den stark ausgeprägten bildungsbürger­ lichen Habitus der Autorin sichtbar zu machen. Für dieses Anliegen werden ergänzend zwei Beispiele aus der bildenden Kunst behandelt, eine Form der bürger­lichen Selbstdarstellung in dem Exkurs Conrad Kiesels Porträt der Emmi Lewald (1910) und die bildungsbürger­liche Antikenrezeption in dem Exkurs Das Grabmal von Felix und Emmi Lewald auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf des Landes Brandenburg. Auch der zweite Abschnitt des biografischen Kapitels, der Emmi Lewalds Entwicklung als Schriftstellerin chronologisch von 1888 bis 1935 nachzeichnet, hat einen sozialgeschicht­lichen Auftakt (2.2.1). Ausgehend von einer allgemein gehaltenen Skizze der Berufssituation der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der ökonomischen und gesellschaft­lichen Umbruchsituation des deutschen Kaiserreichs, wird der Blick auf die besonderen Voraussetzungen, Hindernisse und Formen der Autorschaft bürger­licher Frauen gelenkt. Besonders berücksichtigt werden muss hier neben dem Zusammenhang von Belletristik und den Zielen der bürger­lichen Frauenbewegung vor allem die von Emmi Lewald langjährig gepflegte Praxis des Pseudonymgebrauchs (2.2.1.3). Im Zentrum des Kapitels steht der in fünf Phasen unterteilte schriftstellerische Werdegang der Autorin (2.2.2). Dieser führt von ihrem Einstieg ins literarische Feld in der „Oldenburger Zeit“ (1888 – 1896) über die „Etablierungsphase“ in der Metropole Berlin (1896 – 1904) bis zur Hoch-Zeit ihrer schriftstellerischen Arbeit und Rezeption in der Berliner „Hauptphase“ (1904 – 1914), dann zu ihrer Literaturproduktion während des Ersten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit (1914 – 1924) und schließ­lich zu den

Materialsichtung und Aufbau der Arbeit

Arbeiten der letzten Publikationsphase (1925 – 1935). Im Rahmen dieser Darstellung ist danach zu fragen, welche Werke welcher Gattung und welchen Inhalts Emmi Lewald in der jeweiligen Arbeitsphase veröffent­lichte und welche Etikettierung sie als Autorin in der literarischen Öffent­lichkeit und in der Literaturkritik erhielt. Im zweiten Hauptteil stehen Emmi Lewalds Arbeitsbeziehungen sowie Aspekte der Produktion und Rezeption ihrer Werke im Mittelpunkt. Ausgehend von einem kurzen Überblick über den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im grundlegenden Umbruch begriffenen Buch- und Zeitschriftenmarkt werden die Verlage vorgestellt, in denen Emmi Lewald ihre Werke publizierte und ihre Zusammenarbeit mit den jeweiligen Verlegern und Redaktionen untersucht (3.1). Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den Verlegern bei der Vorbereitung und Veröffent­lichung ihrer Texte? Welche Verbindungen waren nötig, um die Texte vermarkten und rezensieren zu lassen? Bereits im Hinblick auf die im folgenden Kapitel vorgenommene Einschätzung des Lesepublikums der Autorin (3.2) muss bei der Darstellung der Buch- und Zeitschriftenverlage nach deren Qualitätsansprüchen, deren weltanschau­licher Ausrichtung und tendenzieller Leserzielgruppe gefragt werden. Wenn diese Informationen anschließend mit den Ergebnissen der Leseforschung zusammengebracht werden, wird die Vorannahme überprüft, dass Emmi Lewald ihre zeitbezogene literarische Auseinandersetzung mit der bürger­lich-adeligen Lebenswelt explizit an ein bürger­ liches Lesepublikum richtete. Die Analyse der Rezeption von Emmi Lewalds Werken durch die zeitgenössische Literaturkritik (3.3) und die Literaturgeschichtsschreibung (3.4) soll Aufschlüsse über ihre Position im literarischen Leben ihrer Zeit sowie über ihre literaturhistorische Tradierung nach 1945 geben. Von besonderem Interesse ist die Frage, ob die von der Forschung identi­fizierten Ausschlussmechanismen, welche eine Kanonisierung der meisten Schriftstellerinnen durch die Literaturgeschichtsschreibung verhindert haben, auch für die Abwesenheit der Autorin Emmi Lewald verantwort­lich sind. Wurden Emmi Lewalds Werke zu ihren Lebzeiten dem Bereich der Trivial- und Unterhaltungsliteratur zugerechnet? Wurden sie von den Literaturkritikern in spezi­ fischen Sparten für „Frauenliteratur“ besprochen? Wie wirkte sich die Verwendung bzw. Nicht-Verwendung des männ­lichen Pseudonyms auf diese Wertungen aus? Der dritte Hauptteil schließt die umfassende wissenschaft­liche Untersuchung der Schriftstellerin Emmi Lewald mit einer umfäng­lichen Werkanalyse ab, die den Zugang zu den Texten über eine gattungs- und eine inhaltsspezifische Fragestellung vornimmt (4). Ziel der Werkanalyse ist der systematische Überblick über „Typische Gattungen“ und „Zentrale Themen“, die für die zwischen 1888 und 1935 publizierten Werke der Autorin bedeutsam sind, wobei die Werkauswahl dem Interesse folgt, ein mög­lichst breites Spek­ trum der bekannten Werke zu berücksichtigen. Bei den Untersuchungen der verwendeten Genres ist zu überprüfen, welche Gattungstraditionen Emmi Lewald bemüht und in welchem Maß sie bei der Ausgestaltung der Gedichte, kurzen Prosatexte, Novellen und Romane auch die Erwartungen ihres Lesepublikums und die Interessen des Literaturmarkts berücksichtigte. In die als Überblicksdarstellungen angelegten Gattungskapitel

39

40

Einleitung

sind Einzelanalysen des Gedichts Tivoli (1901), der Novelle Das Schicksalsbuch (1900) und des Romans Die Rose vor der Tür (1911) eingebettet; sie geben einen tiefergehenden Einblick in Emmi Lewalds formale und inhalt­liche Gestaltungstechniken (4.1). Im zentralen Abschnitt der Werkanalyse werden anschließend jene Sujets systematisch vor dem Hintergrund zeitgenössischer Mentalitäten und Diskurse untersucht, die im Werk der Autorin wiederholt und detailliert thematisiert werden. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges dominieren ausführ­liche, teils humoristische, teils kritische Beschreibungen der bürger­lich-adeligen Lebenswelt, ihrer Mentalitäten und ihrer kulturellen Formen. Emmi Lewalds Darstellung „Kultureller Praktiken“ (4.2.1), etwa der großstädtischen Geselligkeit und der bürger­lichen Bildungsreise, wird durch einen Exkurs zu ihrem Gebrauch des in der bürger­lichen Literatur verbreiteten Bildungszitats ergänzt. In dem thematischen Abschnitt „Beziehungen im Wandel“ sind als weitere wichtige Themen die Geschlechterproblematik, die Situation von Ehe und Familie sowie das Verhältnis des weib­lichen Individuums zur Gesellschaft in Form der Künstlerinnenthematik zusammengefasst (4.2.2). Unter der Überschrift „Gesellschaft­liche Umbrüche“ wird auf Emmi Lewalds literarische Darstellung der gesamtgesellschaft­lichen Umbruch­ situation um 1900 eingegangen, die vor allem in kleinbürger­lichen Aufstiegs- und adeligen Abstiegstendenzen sowie in der Auseinandersetzung ihrer Figuren mit Urbanisierungs- und Großstadterfahrungen zum Ausdruck kommt (4.2.3). Die histo­rische Zäsur des Ersten Weltkrieges schlägt sich als harter thematischer Einschnitt im Werk nieder (4.2.4) und bildet den Auftakt für eine partielle thematische Neuorientierung der Autorin in ihren Romanen der Weimarer Republik (4.2.5): Ab 1922 konzentriert sie sich auf adelige Milieus und wendet sich der Auseinandersetzung mit dem Untergang der Monarchien zu, thematisiert jedoch auch im Zusammenhang mit der ansteigenden Frauenberufstätigkeit das Phänomen der „Neuen Frau“. Für die Werkanalyse sind die Fragen maßgeb­lich, welches Bild Emmi Lewald von der Gesellschaft zeichnet, welche politischen und kulturellen Grundüberzeugungen sich aus ihren Werken herauslesen lassen, welche Probleme und Spannungen sie diagnostiziert. Eröffnet sie positive und lösungsorientierte Perspektiven? Im Schlusskapitel werden die Untersuchungsergebnisse aus den drei Hauptteilen zusammengeführt und die Zusammenhänge zwischen Emmi Lewalds bildungsbürger­ lichem Selbstverständnis, ihrem Engagement in der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung und der Gestaltung ihrer literarischen Texte aufgezeigt. Welche Strategien setzte die Autorin in ihrem beruf­lichen, privaten und gesellschaft­lichen Umkreis ein, um ihre Karriere zu gestalten und trotz der teils schwierigen Bedingungen für Frauen erfolgreich zu sein? Welche Bedeutung kam für den literarischen Erfolg der Wahl von Gattung und Themen zu? Abschließend soll eine Einordnung vorgenommen und die Frage beantwortet werden, wie die Rolle der Schriftstellerin Emmi Lewald literaturhistorisch im Vergleich mit den Schriftstellerinnen ihrer Generation eingeschätzt werden kann.

2. Emmi Lewald (1866 – 1946) – Biografie

43

2.1

Eine bildungsbürgerliche Biografie

2.1.1 Das Bürgertum und die bürgerliche Frauenbewegung zur Zeit des deutschen Kaiserreichs 1871 – 1918 2.1.1.1 Das deutsche Bürgertum Der Literaturwissenschaftler Heinrich Spiero schrieb 1908 in der Literaturzeitschrift „Das literarische Echo“ in einem Bericht über die Schriftstellerin Ilse Frapan (1849 – 1908), ein Großteil der Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts stamme […] aus dem Adel, wie Anette von Droste-Hülshoff, Luise von François, Marie von EbnerEschenbach, Malvida von Meysenbug […], andere, wie Helene Böhlau oder Alberta von Puttkamer, aus dem bürger­lichen Patriziat oder, wie Bettina von Arnim, Fanny Lewald, Adalbert Meinhardt, aus reichem Kaufmannshause, wie Clara Viebig und Emmi Lewald aus dem hohen Beamtentum.1

Spieros Einschätzung, dass die Schicht des wohlhabenden und gebildeten höheren Beamtentums als eine typische Herkunftsschicht für Autorinnen gelten kann, entspricht auch den Ergebnissen aktueller Studien.2 Die 1866 in einer Ministerialbeamtenfamilie geborene Emmi Lewald erlebte in der Zeit des Kaiserreichs den ungebrochenen Aufstieg des Bürgertums, das sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert kontinuier­lich zu einer einflussreichen gesellschaft­ lichen Formation entwickelt hatte.3 Während das Bildungsbürgertum 4 im Laufe des 1 Ilse Frapan stammte dagegen aus kleinbürger­lichen Verhältnissen. Heinrich Spiero: Ilse Frapan. In: Das literarische Echo 10 (1907/08), H. 8, Sp. 540. 2 Lucia Hacker untersuchte für ihre 2007 erschienene Studie zur Berufsgeschichte schreibender Frauen um 1900 die Herkunft und den sozialen Status von 400 in Brümmers Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten verzeichneten Autorinnen (Geburtsjahrgänge 1800 – 1889) nach den Berufen der Väter und kommt zu folgendem Ergebnis: 56 % der Autorinnen entstammten der Oberschicht, 20,5 % der oberen Mittelschicht, 11,5 % der unteren Mittelschicht und nur 0,5 % der Unterschicht. Aus der Oberschicht, zu der Hacker Rittergutsbesitzer, Gutsbesitzer, große Fabrikanten, Bankiers, Großkaufleute, leitende Angestellte, Wahlbeamte, höhere Beamte, die freien Berufe, Offiziere und den qualifizierten Adel rechnet, stellt die Berufsgruppe der höheren Beamten allein 24,75 % aller untersuchten Autorinnen. Vgl. Hacker: Rollen – Bilder – Gesten, S. 45 ff. 3 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 712. 4 Obwohl viele Bürgertumsforscher auf die Problematik des Begriffs hinweisen, wird er genutzt, um das Segment des Bürgertums zu beschreiben, dessen gesellschaftspolitischer Einfluss sich auf Bildung und Leistungswissen im Gegensatz zu dem Besitz von Kapital und Produktionsmitteln der Bourgeoisie bzw. des Besitzbürgertums stützt. Vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten. In: Bürgertum im

44

Emmi Lewald

19. Jahrhunderts parallel zu den Modernisierungs- und Bürokratisierungsprozessen in den deutschen Staaten seine gesellschaft­liche Bedeutung begründen und ausbauen konnte, hatte das Wirtschaftsbürgertum von der Industrialisierung und der Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung profitiert. Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum verstanden sich gemeinsam als „Trägerschichten der als Leistungsgesellschaft konzipierten bürger­lichen Gesellschaft“5, jenes im Geist der Aufklärung unter den Prämissen von Vernunft, Individualität und Humanismus konzipierten Gesellschaftsmodells, das als Zielvision des bürger­lichen Zeitalters fungierte.6 Auch nach der Reichsgründung 1871, als mit der Etablierung der konsti­tutionellen Monar­ chie die Verwirk­lichung eines bürger­lichen Staatssystems in weite Ferne gerückt war, blieb „die Entfaltung und Konsolidierung des deutschen Bürgertums die vorherrschende Tendenz“7. Die Wertvorstellungen, Normen und der Lebensstil des Bürger­ tums strahlten fortgesetzt in nicht-bürger­liche Gesellschaftsgruppen aus, sodass die „Verbürger­lichung der Gesamtgesellschaft“8 weiter voranschritt. Wehler betont, dass die Prägekraft angesichts der numerischen Bedeutung dieser Gesellschaftsformation erstaun­lich ist: Das Bürgertum stellte vor Beginn des Ersten Weltkrieges mit 3,6 bis 3,8 Millionen Menschen nur rund 6 % der Bevölkerung des d ­ eutschen Kaiserreichs. Der Anteil des Bildungsbürgertums an der Reichsbevölkerung lag um 1913 mit 550.000 bis 650.000 Personen sogar bei nur ca. 0,75 bis 1 % von 65 Millionen Reichsbewohnern.9





19. Jahrhundert in Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 1. Hg. von Jürgen Kocka unter Mitarbeit von Ute Frevert. München 1988, S. 11 – 78, S. 60 ff. 5 Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 11. 6 Die „bürger­liche Gesellschaft“ bezeichnet das von Philosophen und Sozialtheoretikern wie Kant und Ferguson in Abgrenzung und Opposition zum Absolutismus entworfene „Modell wirtschaft­ licher, sozialer und politischer Ordnung, die in Überwindung von Absolutismus, geburtsstän­dischen Privilegien und klerikaler Gängelung das Prinzip recht­lich geregelter individueller Freiheit für alle realisiert, das Zusammenleben der Menschen nach Maßgabe der Vernunft gewährleistet, die Ökonomie auf der Grundlage recht­lich geregelter Konkurrenz marktförmig organisiert, die Lebenschancen im weitesten Sinn nach Maßgabe von Leistung und Verdienst verteilt, die staat­liche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffent­ lichkeit, Wahlen und Repräsentativorgane an den Willen mündiger Bürger zurückbindet und den Bereich von Kunst, Wissenschaft und Religion nicht nur im Sinne der […] bürger­lichen Kultur strukturiert, sondern diesem Bereich zugleich ein hohes Maß von Selbstbestimmung (Autonomie) gewährt.“ Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft, S. 34. 7 Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 11 8 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 712. 9 Die Zahlen beziehen sich auf die bürger­lichen Ober- und Mittelklassen. Werden die Großbourgeoisie und die höchsten bildungsbürger­lichen Berufsklassen separat gerechnet, stellen sie sogar nur ca. 2 % der Bevölkerung. Bei allen Zahlen wurden neben den Erwerbstätigen die Familienangehö­ rigen berücksichtigt. Zuzüg­lich des Kleinbürgertums ergibt sich ein bürger­licher Bevölkerungsanteil von rund 15 %. Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 713, 763.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Die Zugehörigkeit der Beamtentochter und Schriftstellerin Emmi Lewald zur gesellschaft­lichen Formation des Bildungsbürgertums 10 ist ein Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen ihrer Biografie, ihrem künstlerischen Selbstverständnis und der thematischen Gestaltung ihrer literarischen Werke. In einer Oldenburger Ministerialbeamtenfamilie aufgewachsen, blieb sie durch die Heirat mit dem Juristen und preußischen Staatsbeamten Felix Lewald 1896 dauerhaft in der sozialen Kategorie des höheren Beamtentums und der bildungsbürger­lichen Oberschicht verortet.11 Gemeinsam mit anderen akademisch gebildeten Berufsgruppen wie Gelehrten, Theologen, den freiberuf­lichen Akademikern, Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten, Gymnasiallehrern und Richtern bildeten die hohen Beamten den Kern des Bildungsbürgertums. Es handelt sich um einen Verband von Berufsgruppen, deren gesellschaft­liche Bedeutung parallel zu den staat­lichen Modernisierungsprozessen im Laufe des 19. Jahrhunderts gewachsen war. Ihr hochspezialisiertes Leistungswissen qualifizierte sie für die Besetzung von Schlüsselfunktionen bei der Neustrukturierung der staat­lichen Rechtsprechung, des Verwaltungs- und Finanzwesens, des Bildungssektors und der Heeresadministration. Neben den landesherr­lichen, städtischen und staat­lichen Verwaltungsapparaten boten sich den Bildungsbürgern Wirkungsfelder im Medizinalwesen, in den Kirchen, den Universitäten und den höheren Schulen sowie in den sogenannten freien akademischen Berufen.12 Diese Berufspositionen ermög­lichten ihnen neben einer Reihe gesellschaft­ licher Privilegien und einer festen Einkommensgrundlage weitreichende Kontroll- und Einflussmög­lichkeiten in politischen, administrativen und bildungspolitischen Entscheidungsprozessen. Den Erwerb von Bildungspatenten mittels einer Gymnasial- und Universitätsausbildung durch die Schaffung von Zugangsbedingungen und Leistungskriterien zu regulieren, ist nur ein Beispiel für diesen bildungsbürger­lichen Einfluss. Neben den staatsnahen Berufen gelten die Reglementierung der Ausbildungswege, eine hohe Selbstrekrutierungsrate und ein gemeinsamer kultureller Habitus als spezifische Kennzeichen des deutschen Bildungsbürgertums. Die tragende Säule des bildungsbürger­lichen Habitus und des gesellschaft­lichen Prestiges dieser Gesellschaftsformation war sein im Zuge der Aufklärung und der Hinwendung zur Geschichte und Kultur der Antike entstandenes neuhumanis­tisches Bildungskonzept 13. Es begründete im deutschen Kaiserreich den Anspruch des Bil 10 Vgl. zum Begriff des Bildungsbürgers und zur sozialen Zusammensetzung des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 60 f. 11 Emmi Lewalds Mann Felix Lewald trug 1905 den Titel eines Geheimen Oberfinanzrats und vortragenden Rats im Finanzministerium, was auf ein Einkommen von 7500 – 11000 Mark zuzüg­lich 1200 Mark Wohnungsgeldzuschuss schließen lässt. Vgl. Erich Petersilie: Die Beamtengehälter in Preußen einst und jetzt. In: Die Woche 7 (1905), Nr. 15 (15. April), S. 618 – 620. Mit diesen Angaben stimmen auch die Zahlen bei Wehler überein. Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1029. 12 Vgl. Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 9. 13 Der Begriff des Neuhumanismus wurde erst 1885 von F. Paulsen in Abgrenzung zum Renaissance-Humanismus geprägt, und um 1800 bezeichnete der Begriff ein Bildungskonzept der

45

46

Emmi Lewald

dungsbürgertums auf soziale Geltung und politischen Einfluss und spielte in Emmi Lewalds Sozialisation eine entsprechende Rolle. Vertreter der deutschen Bürger­ tumsforschung haben wiederholt auf die religiösen Aspekte des Bildungsideals hingewiesen, welches für das Bürgertum bei allgemeinen Säkularisierungstendenzen eine „quasi-religiöse Ersatzfunktion“14 einnahm. Sie [die Bildungsidee] ermög­lichte eine spezifische innerwelt­liche Lebensgestaltung, sie bot ein ‚Weltbild‘ zur Existenzdeutung, sie fungierte als ein Glaubenssystem zur Sinn­ vermittlung. Insofern prägte sie noch immer einen stereotypierten Lebensstil, privilegierte die klassischen Bildungsgüter und gewährte jenen psychischen Halt, dessen auch gerade die ‚Geistesaristokratie‘ bedurfte.15

Der Bildungsgedanke schloss neben dem Besitz von Bildungswissen und Bildungs­ patenten eine Grundhaltung des bürger­lichen Individuums mit ein, seine Bereitschaft zum lebenslangen Bildungsprozess der Persön­lichkeit, sein Streben nach der Vervollkommnung des Selbst zu einem gebildeten Menschen.16 Eine zentrale Rolle spielte in diesem Selbstbildungsprozess eine von intensiver Reflexion und Kommunikation geprägte Lebensführung, deren wichtige Elemente die bürger­lichen Geselligkeitsformen, eine ausgeprägte Schreib- und Briefkultur, Bildungsreisen sowie der regelmäßige Besuch von Kulturveranstaltungen und Kulturinstitutionen waren. Bildung war der Leitbegriff, der diese Mannigfaltigkeit des wechselseitig induzierten Erlebens reflexiv in sich zurückband. Auch wenn sich dieser Lebensstil infolge der technisch beschleunigten Kommunikationsbedingungen nicht ungebrochen durchgehalten hat, – ein Modell gebildeter Lebensführung ist gesetzt worden, das unterschwellig auch noch unsere modernen Verhaltensweisen prägt.17

Das Bildungsideal, welches auch nach der Reichsgründung 1871 seine Bedeutung als verbind­liche Lebensorientierung des Bürgertums behielt 18, zeichnete sich seinem Grund„Menschenbildung“ oder Erziehung zur „Humanität“. Vgl. Peter Lundgreen: Bildung und Bürgertum. In: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986 – 1997). Hg. von Peter Lundgreen. Göttingen 2000, S. 173 – 194. S. 174. 14 Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 9. 15 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 732. 16 Vgl. zur Begriffsgeschichte und Inhaltsbestimmung der Begriffe „Bildungsbürgertum“ und „Bildung“ Reinhart Koselleck: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Hg. von Reinhart Koselleck. Stuttgart 1990, S. 11 – 46. 17 Ebd., S. 23. 18 Innovative künstlerische Stilrichtungen wie der Naturalismus, der ab 1880 im Kultur- und Geistes­leben des Kaiserreichs an Bedeutung gewann, und radikaler noch die avantgardistischen künstlerischen

Eine bildungsbürger­liche Biografie

gedanken nach durch politische, soziale und konfessionelle Offenheit aus. Prinzipiell sollte Bildung, unabhängig von Beruf oder gesellschaft­licher Klasse, jedem Gesellschaftsmitglied zugäng­lich sein, faktisch verfügten jedoch nur die oberen Gesellschaftsschichten über ausreichend finanzielle Mittel und ein entsprechendes Freizeitkontingent für einen an Bildung orientierten Lebensstil.19 Bildungsinhalte bildeten die Basis für Interaktionsbeziehungen zwischen Bürgern mit höchst unterschied­lichen Berufen und Einkommenslagen und nicht zuletzt zwischen den Bildungsbürgern und der aufstrebenden Bourgeoisie, die sich das Modell gebildeter Lebensführung im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend zu eigen machte. Dem Wirtschaftsbürgertum, welches sich im Gegensatz zum Bildungsbürgertum vorrangig über sein Kapitalvermögen definierte, gehörten Unternehmer und Direktoren aus den Bereichen Industrie, Handel, Gewerbe und Agrarwirtschaft und ihre Familien an. Bei aller Heterogenität der Berufe, des Einkommens und des Sozialprestiges verband Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum die Zielvision eines bürger­lichen Gesellschaftsmodells und eine die Weltsicht und den Lebensstil bestimmende „bürger­liche Kultur“.20 Bürger­liche Kultur Die Zugehörigkeit einer Person zur gesellschaft­lichen Formation des Bürgertums mittels deren Berufskategorie, deren politischen Gestaltungspotenzials und deren ökonomischer Selbstständigkeit zu bestimmen, hat sich aufgrund der strukturellen Heterogenität dieser Gesellschaftsgruppe als ungenügend erwiesen. Eine große Zahl sozialhistorischer Untersuchungen folgt aus diesem Grund dem Vorschlag Jürgen Kockas, das verbindende bürger­liche Element in einer spezifischen kulturellen Praxis zu sehen, unter der ein charakteristisches „Ensemble von den Lebensstil prägenden und die Wirk­lichkeit deutenden Werten und Vorstellungen“21 verstanden wird. Der Ansatz ist auch für diese Studie fruchtbar, da sich Emmi Lewald, wie die Mehrzahl der bürger­lichen Frauen, definitorisch nicht über eine akademische Ausbildung, ökonomische Selbstständigkeit oder politische Gestaltungsmög­lichkeiten im Bildungsbürgertum verorten lässt. Darüber hinaus besaß der marktabhängige und finanziell prekäre Beruf der freien Schriftstellerin nicht den Status einer durch einen akademischen Abschluss zertifizierten bürger­lichen Profession.22 Über Emmi Lewalds Strömungen nach der Jahrhundertwende, Symbolismus, Expressionismus und Futurismus, stellten das bürger­liche Bildungsideal und seine Kulturtradition zwar infrage, konnten seine gesellschaft­ liche Geltungsmacht jedoch nicht wesent­lich beeinträchtigen. 19 Vgl. Koselleck: Einleitung, S. 27 f. 20 Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 714. 21 Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 13. 22 Literaten gehörten zwar definitorisch zum Bürgertum, doch herrschte eine große Diskrepanz zwischen der idealisierten Autorenrolle in der bürger­lichen Gesellschaft und der realen, oft schwierigen Existenz schreibender Bürger. Vgl. zur Situation der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Literaturbetrieb des deutschen Kaiserreichs 2.2.1.1.

47

48

Emmi Lewald

Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum können somit neben ihrer Herkunft und dem Berufsstand ihres Mannes vor allem ihr Lebensstil und ihre gesellschaft­lichen Verkehrskreise Aufschluss geben. Wichtige Grundwerte der bürger­lichen Kultur bilden, laut Kocka, „eine besondere Hochachtung vor individueller Leistung“, mit der die Bürger „ihre Ansprüche auf wirtschaft­liche Belohnung, soziales Ansehen und politischen Einfluß“ begründen, „eine positive Grundhaltung gegenüber regelmäßiger Arbeit, eine typische Neigung zu rationaler und methodischer Lebensführung“ und das „Streben nach selbständiger Gestaltung individueller und gemeinsamer Aufgaben“ in Vereinen, Genossenschaften und Verwaltung.23 Weitere Aspekte sind das erwähnte spezifische Bildungsideal, Respekt vor der Hochkultur und den Wissenschaften sowie die Unterteilung des bürger­lichen Lebens in eine öffent­liche und eine private Sphäre, die mit einem besonderen Familienideal und spezifischen Geschlechterrollenvorstellungen einherging. Die bürger­liche Familie und das humanistische Gymnasium stellten die wichtigsten Orte der bürger­lichen Sozialisation dar und halfen, dieses Ensemble von Werten in einen Lebensstil umzuformen. Hier lernten die jungen Bürger auch die Beherrschung jener Palette symbolischer Formen, die für die bürger­liche Identität von großer Wichtigkeit waren: die gesellschaft­lichen Umgangsformen wie Anreden, Titelgebrauch und Konversationsregeln, feine Tischsitten, Kleidungskonventionen, die repräsentative bürger­liche Wohnkultur und ein angemessenes Freizeit- und Konsumverhalten. Eine wichtige Voraussetzung für die bürger­liche Lebensführung blieb auch in der wilhelminischen Epoche das Leben im städtischen Raum, wo die an Kommunikation und Interaktion gekoppelte bürger­liche Öffent­lichkeit mit Presse­ organen, Kultureinrichtungen, Universitäten und Geselligkeitsforen wie Salons und Vereinen am lebendigsten prosperierte. Die Zugehörigkeit einer Person und ihrer Familie zur gesellschaft­lichen Formation des Bürgertums wurde über die Teilnahme an der bürger­lichen Kulturpraxis reguliert, die ein regelmäßiges, über das Existenzminimum weit hinausreichendes Einkommen sowie eine gewisse Sicherheit und Planbarkeit des Lebens voraussetzte. Nur das überdurchschnitt­liche Einkommen des Familienvaters konnte die Unabhängigkeit der Frauen und Kinder von körper­licher Erwerbsarbeit garantieren und der Familie ein ausreichendes Freizeitkontingent für den Genuss von Bildung, Kultur und Geselligkeit sichern. Die Binnenhomogenität des Bürgertums wurde mittels sozialer Vernetzung durch Eheschließungen und gesellschaft­lichem Verkehr innerhalb der eigenen Schicht gesichert und immer neu konstituiert. Auf diese Weise fungierte die kulturelle Praxis, aller theoretischen Offenheit der neuhumanistischen Bildungsidee zum Trotz, als Mittel der sozialen Distinktion: sie wirkte identitätsstiftend und homogenisierend nach innen und abgrenzend nach außen. 23 Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 27.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Eben dies meint ‚Bürger­lichkeit‘, verstanden als ein sozial bestimmter und kulturell geformter Habitus: ein in sich zwar vielfach abgestuftes und variiertes, in seinen Grundzügen jedoch verbind­liches Kulturmodell, das entscheidende Momente kultureller Identität in sich birgt. Es vermittelt bürger­liches Selbstverständnis und Selbstbewußtsein, definiert durch den Gebrauch materieller Güter, durch den Bezug auf ideelle Werte, durch die Benutzung kultu­ reller Verhaltensmuster, die zusammengenommen ein lebenswelt­liches Ensemble bilden. Es ist gleichsam die ‚zweite Natur‘ der Bürger­lichen, die sich darin verkörpert, die sich in eigenen Formen und Normen habitualisiert und damit der ‚Kultur‘ eine doppelte Funktion zuschreibt, als Identitätsmodell wie als Distinktionsmittel.24

Neben der kulturellen Praxis konstituierte sich bürger­liche Identität aus der sozialen Abgrenzung zu anderen Gruppen der gesellschaft­lichen Hierarchie, nach oben gegen den Adel, nach unten gegen die Arbeiterklasse. Die kritische Abgrenzung vom Adel, dessen Lebensstil und politischem Absolutismus, die bis 1848/49 eines der wichtigsten identitätsstiftenden Momente des deutschen Bürgertums gewesen war, hatte zu Lebzeiten Emmi Lewalds ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt. Im Zuge des Abbaus recht­licher adeliger Privilegien und der Konstitutionalisierung der Herrschaftssysteme war es zu einer ökonomischen und sozial-kulturellen Annäherung zwischen Adel und Großbürgertum gekommen, die auch in den Verkehrskreisen der Autorin erkennbar ist. Umso wichtiger wurde im Kaiserreich die Abgrenzung des Bürgertums von den nicht-bürger­lichen Mittel- und Unterschichten, besonders von der wachsenden, sich organisierenden Arbeiterklasse.25 Zur Situation des Bürgertums nach 1871 Die gesamtgesellschaft­liche Situation des Bürgertums gestaltete sich in der konstitutionellen Monarchie des Kaiserreichs grundsätz­lich günstig.26 Die Ausstrahlungskraft der bürger­lichen Kultur und des bürger­lichen Familienideals sorgte weiterhin für eine Verbürger­lichung breiter Gesellschaftsschichten und besonders der Erfolg der ehrgeizigen Unternehmerklasse in der marktförmig organisierten Ökonomie hatte dem System eine starke bürger­liche Prägung verliehen. Wichtige Eckpfeiler des Modells der bürger­lichen Gesellschaft konnten erfolgreicher umgesetzt werden als jemals zuvor: Das Privatrecht begrenzte die Regierungsmacht und sicherte den Bürgern ihre 24 Wolfgang Kaschuba: Deutsche Bürger­lichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis. In: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3. Hg. von Jürgen Kocka unter Mitarb. von Ute Frevert. München 1988, S. 9 – 44. S. 18. 25 Die Abgrenzung von anderen gesellschaft­lichen Formationen kann helfen, das Bürgertum zu definieren. Kocka weist jedoch darauf hin, dass „in dem Maße, in dem die Frontstellungen fehlen oder verblaßt sind, […] die Rede von einem umfassenden und zugleich abgrenzbaren Bürgertum an Realitätsgehalt“ verliert. Vgl. Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S.  22 f. 26 Vgl. ebd., S. 51 f.

49

50

Emmi Lewald

recht­lich verbürgte individuelle Freiheit, das Klassenwahlrecht ermög­lichte eine parlamentarische Mitsprache der (männ­lichen) Bürger und auch die Selbstverwaltung der Gemeinden lag in bürger­licher Hand. Die Publizistik des Kaiserreichs gestaltete sich vielfältig und war weitgehend frei. Gemeinsam mit dem angesehenen deutschen Wissenschaftssystem, dem Kunstleben und dem Vereinswesen bildete sie eine funktio­ nierende Öffent­lichkeit, in der das bürger­liche Ideal einer kommunika­tiven Lebensführung umgesetzt werden konnte.27 Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte ein langwieriger Prozess der gesellschaft­ lichen Annäherung zu einem graduellen Abbau der Abgrenzungsbemühungen zwischen wirtschaftsbürger­licher Oberklasse, Adel und Bildungsbürgertum geführt.28 Die ­soziale und mentale Annäherung zwischen den beiden Bürgertumsgruppen wurde im Wesent­lichen durch drei Faktoren begünstigt. Zum einen hatten die im Zuge der ökono­mischen und technischen Entwicklung zunehmend akademische Berufsausbildung der Unternehmer und eine Übernahme des neuhumanistischen Bildungsideals für ein höheres Bildungsniveau im Wirtschaftsbürgertum gesorgt. Die Mehrzahl der deutschen Unternehmer des Kaiserreichs hatte eine höhere Schulausbildung genossen und der Anteil der Akademiker in dieser Sparte wuchs bis 1914 auf durchschnitt­ lich 54,2 %.29 Das ­Distinktionsinstrument der Bildung verlor damit tenden­ziell seine abgrenzende Wirkung. Zum anderen war die gesellschaft­liche Verflechtung zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum bei der gesellschaft­lichen Kommunikation, bei den Verkehrskreisen und der gemeinsamen Kulturpflege deut­lich vorangeschritten. In der bürger­lichen Frauenbewegung und in den Berliner Frauenvereinen arbeiteten Frauen mit bildungs-, wirtschaftsbürger­lichem und adeligem Hintergrund bereits selbstverständ­lich zusammen. Dass die gemeinsame Zielsetzung die ursprüng­lich einmal bedeutsamen Herkunftsunterschiede vergessen ließ, zeigt sich an Emmi Lewalds Engagement im Vorstand des Deutschen Lyceum-Clubs mit Frauen wie Hedwig Heyl, Emilie Mosse und Ellen von Siemens.30 Für eine langfristige soziale Verzahnung sorgten darüber ­hinaus die steigende Zahl von Eheschließungen zwischen den beiden Formationen und eine wachsende beruf­liche Mobilität ihrer Mitglieder.31 27 Ebd. 28 Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 713. 29 Der Durchschnitt des Akademikeranteils betrug bei den Eigentümer-Unternehmern 41,2 % und bei den Manager-Unternehmern 77,1 %. Ebd., S. 717. 30 Hedwig Heyl (1850 – 1934) war die Tochter des Bremer Großkaufmanns Eduard Crüsemann und seit 1869 mit dem Berliner Farbenfabrikanten Georg Heyl verheiratet. Emilie Mosse war die Ehefrau des Berliner Verlegers Rudolf Mosse. Ellen von Siemens (1864 – 1941) war die Tochter des Physikers Hermann von Helmholtz und seit 1884 die Frau des Industriellen Arnold von Siemens. Vgl. die Namen weiterer Funktionsträgerinnen des Deutschen Lyceum-Clubs im Mitteilungsblatt: DLC 11 (1915), Nr. 10, S. 210 ff., 13 (1917), Nr. 9, S. 2 ff. 31 Vgl. auch Friedrich Zunkel: Das Verhältnis des Unternehmertums zum Bildungsbürgertum zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 3: Lebensführung und

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Das Bildungsbürgertum konnte zwischen 1871 und 1914 zwar eine numerische Verdoppelung verzeichnen, da mit der Gründung des Nationalstaats eine Vielzahl neuer Berufspositionen für akademisch geschultes Personal im staat­lichen Verwaltungs­apparat und im aufstrebenden deutschen Wissenschaftssystem geschaffen wurde, musste aber anderseits einen gesellschaft­lichen Bedeutungsverlust hinnehmen, der in engem Zusammenhang mit der Verwässerung des identitätsstiftenden Bildungsgedankens stand. Für diesen Prozess lassen sich vielfältige und komplexe Gründe benennen.32 Das Bildungsbürgertum hatte wegen seiner Schlüsselrolle bei den staat­lichen Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts und der Deutungshoheit seines Bildungsideals traditionell höheres gesellschaft­liches Prestige für sich beanspruchen können als das marktorientierte Besitzbürgertum, dessen Gewinnstreben noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als mit den bürger­lichen Werten unvereinbar kritisiert wurde.33 Mit dem Einsetzen der Hochindustrialisierungsphase 1873 gewann das Unternehmertum jedoch an Einfluss und sein Sozialprestige stieg in dem Maße, wie das deutsche Kaiserreich Macht und Ansehen als stärkste europäische Industriemacht errang.34 Der Besitz der Produktionsmittel und -mög­lichkeiten sowie teils gewaltiger finanzieller Mittel half der Großbourgeoisie, das Bildungsbürgertum finanziell zu überflügeln. In der gesellschaft­lichen Praxis übertrafen die Einkommensverhältnisse reicher Großgrundbesitzer, Bankiers und Unternehmer die der Beamten und Akademiker um ein Vielfaches und deren luxuriöser Lebensstil blieb für diese unerreichbar. Für die Bildungsbürger mündete diese Kräfteverschiebung […] in eine verschärfte Konkurrenz mit den steil aufsteigenden wirtschaftsbürger­lichen Oberklassen. Die aufklaffende soziale Distanz im Verhältnis zu ihnen wurde als immer bedrängender, ja degradierender empfunden. […] Mancher fühlte sich auf das Niveau des ‚neuen‘ und des ‚alten‘ Mittelstandes hinabgedrängt, aus dem andererseits wohlhabend gewordene Bürger ständig aufstiegen.35

Das Bildungsbürgertum büßte nach 1871 nicht nur ökonomisches, sondern auch kulturelles Kapital ein. Mit der steigenden Zahl der Bildungsbürger, an der Aufsteiger aus den bürger­lichen Mittel- und Kleinbürgerklassen einen wichtigen Anteil hatten, wuchs nicht nur die soziale Heterogenität der Formation, sondern auch der Andrang auf ihre Bildungsinstitutionen und traditionellen beruf­lichen Wirkungsfelder. Der elitäre ständische Vergesellschaftung. Hg. von M. Rainer Lepsius. Stuttgart 1992, S. 82 – 101. 32 Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 734 ff. 33 Vgl. Christina von Hodenberg: Der Fluch des Geldsacks. Der Aufstieg des Industriellen als Heraus­ forderung bürger­licher Werte. In: Der bürger­liche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Hg. von Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen 2000. S. 79 – 104. 34 Vgl. Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 11. 35 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 749.

51

52

Emmi Lewald

Anspruch der Bildungsidee ließ sich schwieriger aufrecht erhalten, je mehr Personen aus dem Klein- und Wirtschaftsbürgertum studierten und je nachhaltiger die Abschlüsse der Realgymnasien und technischen Hochschulen denen der humanistischen Gymnasien und Universitäten gleichgestellt wurden. Im Prozess dieser Bildungsexpansion kam es zu einer Inflationierung der Bildungspatente – Abitur, Hochschulabschlüsse, Laufbahnprüfungen – und einem Absinken der bildungsbürger­lichen Selbstrekrutierungsrate.36 Das neuhumanistische Bildungsideal behielt zwar sein Ansehen in der bürger­lichen Lebenswelt, verflachte aber zunehmend zum Qualifikationsmerkmal für attraktive Berufswege. Sein elitärer Anspruch auf allgemeine und umfassende Menschenbildung wurde zudem durch die Professionalisierungs- und Spezialisierungstendenzen in den bildungsbürger­lichen Berufen untergraben, in denen Expertenwissen gegenüber der Allgemeinbildung aufgewertet wurde. Den vielleicht schärfsten Angriff auf die normsetzende Geltungskraft der bürger­ lichen Bildungsidee bildeten die Folgen der unaufhaltsamen, gewaltigen Modernisierungsprozesse, die um 1900 in alle Bereiche der Klassengesellschaft ausstrahlten und ihre Wertewelt grundlegend wandelten. Im Zuge der gesellschaft­lichen Interessenkonflikte und Umschichtungen entstand eine Vielzahl neuer Denksysteme, die mit der Bildungsidee konkurrierten oder diese bei dem Versuch deformierten, sie mit den neuen Weltanschauungen zu fusionieren. Zu denken ist hier an das Vordringen des Reichsnationalismus, vor allem in seiner radikalisierten, seiner integralen Form, an den popularisierten Sozialdarwinismus, an den rassistischen Antisemitismus und den ideologisierten Imperialismus, an den Monismus und die Naturwissenschaftsgläubigkeit, an die Vulgärphilosophien im Anschluß an Nietzsche und Schopenhauer, an Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Houston Stewart Chamberlain, auch an den Richard-Wagner-Kult, die Lebensreform- und Jugendbewegung, sogar am hauchdünnen linken Rand an die Ausstrahlungen des Marxismus oder eines pragmatischen sozialdemokratischen Reformismus.37

Die Erosion seines soziokulturellen Status durch die Konkurrenz der Großbourgeoisie, die Inflationierung der Bildungspatente und die Erschütterung der identitätsstiftenden Bildungsidee schufen im deutschen Bildungsbürgertum um die Jahrhundertwende ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein und verhalfen kulturpessimistischen Denkströmungen zum Durchbruch. Bürgertumsforscher sehen einen engen Zusammenhang zwischen dieser Statusverunsicherung und der fortschreitenden Entliberalisierung des deutschen Bildungsbürgertums, in deren Folge der rechte ideologische Nationalismus

36 Wehler kann den Aufstieg der bürger­lichen Mittelklassen für die Berufsgruppen der Hochschullehrer, der Ärzte und der höheren Beamtenschaft belegen. Ebd., S. 734. 37 Ebd., S. 745.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

und der Militarismus zu sinnstiftenden ideologischen Instanzen werden konnten.38 Mitverantwort­lich für diesen Prozess sind auch einige vorbürger­liche Elemente des Kaiserreichs, die im unauflösbaren Gegensatz zu den Zielen der bürger­lich-liberalen Gesellschaft standen: Die militärische Prägung auf staat­licher und gesellschaft­licher Ebene sowie das Fortleben adeliger Privilegien. Entgegen den politischen Zielen des vormärz­lichen Bürgertums war bei der Reichsgründung 1871 durch den Verfassungskompromiss eine konstitutionelle Monarchie mit den Zügen eines Obrigkeitsstaates entstanden, mit der die recht­liche Stellung des Adels zwar beschnitten wurde, seine gesellschaft­lichen Privilegien jedoch erhalten blieben. Die Mehrheit der bürger­lichen Oberklassen entfernte sich zusehends von den Ideen ihres ursprüng­lichen Kultur- und Gesellschaftsideals, um sich bestehenden Machtstrukturen zu fügen. Ihre bis in die ‚Untertanenmentalität‘ reichende Staatstreue bewirkte den Schulterschluss mit den Hohenzollern sowie den militärischen und adeligen Führungsschichten, für deren machtpolitischen Ziele die Bürger­lichen 1914 bereitwillig in den Krieg zogen.39 Geschichte nach 1918: Ende des bürger­lichen Zeitalters? Mit begeistertem Nationalismus und der Hoffnung auf eine kraftvolle Kulturerneuerung haben große Teile des Bildungsbürgertums die Mobilmachung im August 1914 begrüßt und den Weltmachtanspruch der Reichsleitung unterstützt (vgl. 4.2.4). Mit dem Ersten Weltkrieg ging „das lange 19. Jahrhundert“40 zu Ende und wenn das Jahr 1918 auch nicht als Endpunkt der Idee von Bürger­lichkeit und dem Ideal einer bürger­lichen Gesellschaft zu verstehen ist, so steht es doch für eine harte Zäsur, die den Untergang der vertrauten Lebens- und Wertewelt zahlreicher Bildungsbürger markierte. Während der gesellschaft­liche Status der besitzbürger­lichen Unternehmer und Manager mit dem Ersten Weltkrieg weitgehend erhalten blieb, wurde das Bildungsbürgertum durch den Krieg und die politischen Umwälzungen hart getroffen. Die Realeinkommen des höheren Beamtentums wurden durch die Geldentwertung auf 47 % des Wertes von 1913 reduziert.41 Neben dieser tendenziellen Verarmung ließ der gesellschaft­liche Statusverlust durch den Wegfall der privilegierten, staats­ nahen Erwerbschancen nach Ende der Monarchien das Bildungsbürgertum „zu den

38 Der Begriff der Entliberalisierung bezeichnet u. a. die zunehmende Akzeptanz der traditionellen Herrschaftsschichten und ein verstärktes Abgrenzungsbedürfnis der Bürger­lichen gegenüber Arbeitern und Angestellten. Die Ablehnung der Emanzipationsforderungen der deutschen Arbeiterschaft widersprach beispielsweise fundamental der Idee der bürger­lichen Gesellschaft, eine Parlamentarisierung und eine gesellschaft­liche Verallgemeinerung der Partizipations- und Freiheitschancen anzustreben. Vgl. Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 51 ff. und Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 769 f. 39 Vgl. Ebd. 40 Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 11. 41 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 76.

53

54

Emmi Lewald

innenpolitischen Hauptverlierern des Weltkrieges“42 werden. In dieser Existenzkrise konnte ihm auch sein neuhumanistisches Bildungssystem keinen Halt mehr geben, vor allem, da es durch die Erfahrung der Inhumanität des Weltkrieges weiter an Legitimität eingebüßt hatte. Patriotismus und Nationalismus behielten dagegen in unterschied­ lichen Nuancen einen festen Platz in der Werte- und Vorstellungswelt großer Teile des Bürgertums, zu denen auch Emmi Lewald und ihr Umfeld gehörten.43 Das Ergebnis ist, aufs Ganze gesehen, nicht etwa gewesen, daß das Bildungsbürgertum, ernüchtert und realitätsaufgeschlossen, von den Exzessen seines Nationalismus beschämt Abschied genommen hätte. Vielmehr hat das Bedürfnis nach Kompensation seiner psychischen Verletzung und demütigenden Kränkung die Extremisierung seines Nationalismus weiter in Gang gehalten. Erneut erwies sich, wie tief im Verlaufe seiner kollektiven Habitus­ formung das Weltbild des Nationalismus in ihm verankert worden war.44

In der Weimarer Republik musste Emmi Lewald auch weiterhin die Entkonturierung der bürger­lichen Gesellschaftsformation erleben, deren Führungsanspruch und Werteordnung zu Anachronismen verkamen.45 Neben der andauernden Kräfteverschiebung in den bürger­lichen Oberklassen zugunsten der Großbourgeoisie sorgten die Umorganisation der staat­lichen und wirtschaft­lichen Strukturen nach dem Ersten Weltkrieg und die Folgen der Inflation in den 1920er Jahren für die endgültige Verwischung der Grenzen zwischen Bürger-, Kleinbürgertum und Arbeiterschaft. Zusammengenommen verstärkten diese Faktoren die Sinnkrise und Existenzängste innerhalb des Bildungsbürgertums und schürten von Beginn an eine kritische, teils oppositionelle Haltung zum Weimarer System. Literatur und Bürger­lichkeit Untersuchungen der Buchhandels- und Presseforschung zum Kaiserreich haben in Einklang mit der Literatursoziologie und der Bürgertumsforschung herausgearbeitet, dass „[d]er Literatur als dem bedeutendsten Faktors innerhalb d[es] kulturellen Kräftefelds 42 Ebd., S. 77. 43 Einen Hinweis darauf geben ihre Publikationen aus der Nachkriegszeit. In einem am 10. August 1924 in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ erschienenen Sonett mit dem Titel Der Jahre zehn… thematisiert Emmi Lewald anläss­lich des zehnjährigen Jubiläums des Kriegsbeginns die tief sitzende Frustration und die langlebigen Kompensationswünsche der Deutschen nach der Kriegsniederlage 1918: „Klagt nicht, klagt nicht über eure Toten! / Klagt das Leid der Lebenden! … beraubt / Aller Schätze, die sie eigen nannten, / Schätze von dem heiligsten Altare, / Tragen sie das Schicksal der Verbannten / Und des Hasses Joch, das mitleidsbare – / Sie, die keine Friedensflamme kannten, / durch zehn leidensüberfüllte Jahre!“. 44 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 296. 45 Das Bildungsbürgertum stellte nach dem Ersten Weltkrieg mit maximal 680.000 Angehörigen unverändert ca. 0,8 % der Gesamtbevölkerung. Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 294.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

[…] eine wichtige Funktion für den Prozeß bürger­licher Selbstverständigung, ästhetischer und moralischer, privater und politischer Selbstdarstellung zu[kam]“.46 Mit der Entstehung der bürger­lichen Gesellschaft bildete sich die bürger­liche Literaturkommunikation als „Umschlagplatz der öffent­lichen Debatte und der öffent­lichen Erprobung von (ästhetischen und politisch-weltanschau­lichen L. W.) Konzeptionen und Losungen“47 heraus. Die bürger­liche literarische Öffent­lichkeit des 19. Jahrhunderts ist daher als ein Ort der Diskussion bzw. des kritischen Räsonnements zu verstehen. Neben journalistischen Texten war es vor allem die Erzählliteratur des Bürger­lichen Realismus, in Unterhaltungszeitschriften abgedruckte Novellen und Fortsetzungsromane, denen eine wichtige Funktion bei der Darstellung, Reflexion und Diskussion bürger­ licher Werte und Normen zukam. Dieser bürger­lichen Literaturtradition folgt auch die Autorin Emmi Lewald, wenn sie beispielsweise die Emanzipa­tionsbestrebungen von Frauen nach 1890 mit ihren gesellschaft­lichen Konsequenzen im literarischen Raum thematisiert und anhand unterschied­licher Lebensentwürfe ihrer Protagonistinnen zur Diskussion stellt.48 Indem die Autorin in ihren Arbeiten die Perspektive der bürger­lichen Männer und Familienangehörigen mit einbezieht, schafft sie mit realistischem Anspruch eine Darstellung der verschiedenen zeitgenössischen Standpunkte zur Frauenrechts- und Bildungsbewegung. Mit Hilfe dieses literarischen Konzepts, das Figuren unterschied­licher Überzeugungen sich auseinandersetzen lässt, problematisiert Emmi Lewald in ihren Novellen und Romanen so unterschied­liche Themen wie die Urbanisierung, die Erosion des bürger­lichen Bildungsideals, den Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums, das Verhältnis des Bürgertums zum Adel, den Zerfall der bürger­lichen Familie und die Stellung der Künstlerin in der bürger­lichen Gesellschaft.49 Aus diesem Grund besitzen ihre Texte neben ihrer Eigenschaft als Kunstwerke auch den Charakter kultureller Dokumente und können Aufschluss über kollektive Dispositionen, Einstellungen und Denkmuster geben. Diese Art von Literatur diente der Unterhaltung, aber auch der kulturellen Sinngebung und bürger­lichen Identitätsfindung und Selbstvergewisserung.50 Konsequent dokumentiert Emmi Lewald schließ­ 46 Lutz Winckler: Autor – Markt – Publikum. Zur Geschichte der Literaturproduktion in Deutschland. Berlin 1986, S. 9. 47 Winckler zitiert Dieter Schiller (1965), die Anmerkung im Zitat entspricht dem Original. Ebd., S. 9. 48 Diese Thematik findet sich zentral in Emmi Lewalds Frauenentwicklungsromanen Sein Ich (1896), Sylvia (1904), Das Hausbrot des Lebens (1907), Die Rose vor der Tür (1911) und den Novellen Der Sturm im Wasserglas (in „Die Frau“ 1894), Die Globustrotterin (in In blauer Ferne 1898), Das Schicksalsbuch (in „Über Land und Meer“ 1900) und Irmengard Henneberger (in „Deutsche Roman-Bibliothek“ 1898) wieder. 49 Vgl. die Untersuchung dieser Themenbereiche in Emmi Lewalds literarischem Werk in Abschnitt 4: zur Urbanisierung 4.2.3.3, zum Verhältnis von Bürgertum und Adel 4.2.3.2, zum Zerfall der bürger­ lichen Familie 4.2.2.2, zur Stellung der Künstlerin in der bürger­lichen Gesellschaft 4.2.2.3. 50 Vgl. Becker: Bürger­licher Realismus, S. 11.

55

56

Emmi Lewald

lich literarisch das Ende des „bürger­lichen Zeitalters“: Die ideologischen Konflikte, existenziellen Herausforderungen und gesellschaft­lichen Konfrontationen, welche der Erste Weltkrieg, das Ende des Kaiserreichs und die Entstehung der Weimarer Republik für das bürger­liche Individuum bereithielten. 2.1.1.2 Die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft Der Habitus der Schriftstellerin Emmi Lewald wurde im Hinblick auf Denk- und Verhaltensdispositionen, Wertvorstellungen und Lebensstil grundlegend von ihrer bildungsbürger­lichen Sozialisation geprägt. Für das Verständnis ihres biografischen und schriftstellerischen Werdegangs sowie ihres literarischen Werks ist es unerläss­ lich, die spezifische Situation bürger­licher Frauen in der Gesellschaft des Kaiserreichs zu berücksichtigen. Das Wesen der Geschlechter – Theorie und Praxis Wurde die Geschlechterrolle bis Ende des 18. Jahrhunderts über den Stand und die soziale Position einer Person definiert, entwickelte sich mit der Philosophie der Aufklärungsepoche ein neues Geschlechterverständnis auf Basis der Annahme einer naturgegebenen Wesensverschiedenheit von Mann und Frau.51 Die gesellschaft­liche Rolle der bürger­lichen Frau, ihr soziales Verhalten in Wechselwirkung mit kulturell vorgegebenen Verhaltensmustern, wurde im 19. Jahrhundert grundlegend von der „polaristischen Geschlechterphilosophie“ bestimmt.52 Basis dieses Denkmodells ist die Auffassung, die Wesenszüge von Männern und Frauen würden durch psycho­ logische Geschlechtsmerkmale geprägt, die mit den körper­lichen Geschlechtsmerkmalen korrespondierten. Dem Mann wurden als zentrale Eigenschaften Aktivität, Rationalität, Intelligenz und Willenskraft zugeschrieben, der Frau dagegen Züge der Passivität, Emotionalität, Empfindsamkeit und Ergebenheit. Gemäß der Idee der „naturgegebenen“ Geschlechtscharaktere wurde von den angenommenen Wesensmerkmalen des Mannes und der Frau auf ihre Bestimmung in Familie und Gesellschaft geschlossen.

51 Rousseau legte seine Vorstellung von der Rolle der Geschlechter in dem Erziehungsroman Emile (1762) dar, Fichte in dem Werk Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Kant in seiner Vorlesung Anthropologie in vergleichender Hinsicht (1798) und Humboldt in seinem Plan einer vergleichenden Anthropologie (1795). Vgl. Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechts­charaktere“, S. 373 f.; Ute Frevert: Bürger­liche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechter­verhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 17 – 48. 52 Vgl. hierzu die Studie von Ute Frevert: „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Den als Kontrastprogramm konzipierten psychischen ‚Geschlechtseigenthüm­lichkeiten’ zu Folge ist der Mann für den öffent­lichen, die Frau für den häus­lichen Bereich von der Natur prädestiniert. Bestimmung und zugleich Fähigkeiten des Mannes verweisen auf die gesellschaft­liche Produktion, die der Frau auf die private Reproduktion.53

Den Grund für die Herausbildung dieses neuen Ordnungsmusters der Geschlechter ortet Karin Hausen in dem Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Prozess der „Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“54. Der Übergang von der Familie als Wirtschafts- und Konsumeinheit im „ganzen Haus“ zu einer in einen privaten und einen außerhäus­lichen beruf­lichen Bereich zweigeteilte Lebenswelt hatte tief greifende Veränderungen der sozialen Rolle der Familie zur Folge. Industrialisierungs- und Bürokratisierungsprozesse schufen neue Berufsfelder, welche die dem Mann zugeschriebene Erwerbsarbeit von der der Frau zugeschriebenen Haus­arbeit zwangsläufig trennten und den Geschlechtern unterschied­liche Lebens- und Arbeitsräume zuwiesen. Hausen interpretiert die Herausbildung der Idee der Geschlechtercharaktere als den Versuch, „ein die Verhältnisse stabilisierendes neues Ordnungsmuster an die Stelle des veralteten zu setzen“55. Neben der Anpassung an die veränderte Situation der Familie diente das neue Konzept ihrer Ansicht nach vor allem der Legitimation traditioneller patriarchalischer Herrschaftsansprüche in Ehe und Familie, die durch die Forderungen der Aufklärung nach Entfaltung der vernünftigen Persön­lichkeit aller Menschen in Gefahr gebracht schienen. Die Annahme, dass der Gegensatz von männ­lichem und weib­lichem Geschlecht Teil einer natür­lichen, vernünftigen Weltordnung sei, ließ auch viele Frauen das Geschlechterkonzept akzeptieren, verinner­lichen und letztend­lich gegen erste Emanzipationsbestrebungen verteidigen.56 Die Ideologie der Geschlechtercharaktere entwickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem elementaren Bestandteil der bürger­lichen Kultur und des bürger­ lichen Gesellschaftsmodells. Die typischen bürger­lichen Berufe in der staat­lichen und städtischen Verwaltung, im Bildungswesen und im Handel erforderten in der Regel die Trennung von Berufs- und Privatleben und verwiesen die Frauen in die häus­liche Sphäre. 53 Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, S. 367. 54 Ebd., S. 363. 55 Ebd., S. 371. 56 Die polarisierende Geschlechterphilosophie zielte nicht grundsätz­lich auf eine Minderwertigkeitsstellung der Frau ab, sondern enthielt eine Zuordnung sozialer Positionen der Geschlechter, die sich an den vermeint­lich unterschied­lichen Qualitäten und Begabungen von Männern und Frauen orientierte. Den Aufklärungsidealen folgend, wurde die Ergänzung beider Geschlechter in ihrer Unterschied­lichkeit als Annäherung an das Ideal des Menschseins verstanden. Vgl. ebd., S. 373 und Günter Häntzschel (Hg.): Bildung und Kultur bürger­licher Frauen 1850 – 1918. Eine Quellendoku­ mentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weib­lichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986, S. 7.

57

58

Emmi Lewald

Während der außerhäus­liche Gelderwerb im städtischen oder staat­lichen Dienst dem Mann zufiel, bestand die Aufgabe der bürger­lichen Ehefrau nach Ansicht gebildeter Zeitgenossen in der Kindererziehung, der Beaufsichtigung der Dienstboten und der Betreuung eines behag­lichen Heims, welches dem Mann nach hartem Berufsalltag zur Erholung dienen sollte. Das Geschlechtermodell wurde in theoretischen Schriften und in der Erzählliteratur transportiert 57 und bestimmte auch die für Frauen konzipierte pädagogische Literatur, sogenannte Anstandsbücher und Lebenshilfen, welche in Form von Ratgebern die Erziehung, Bildung, Tätigkeiten und Funktion von Frauen in der Gesellschaft dirigierten.58 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte die kapitalistische Wirtschaftsentwicklung infolge der Industrialisierung in den deutschen Staaten zu prozesshaften Veränderungen ökonomischer, demographischer und sozialer Art, aus denen eine gesellschaft­liche Realität hervorging, die einer beruf­lichen Integration bürger­licher Frauen den Weg bereitete: die „Frauenfrage“ war geboren. Bereits die frühe bürger­ liche Frauenbewegung der 1860er Jahre begründete ihr Engagement für Frauenbildung und Frauenberufstätigkeit mit der wirtschaft­lichen Notsituation lediger Frauen. Das Ledigenproblem blieb auch in den 1890er Jahren das zentrale Argument der bürger­ lichen Frauenbewegung: Da immer mehr Frauen des mittleren und höheren Bürgertums wegen sinkender Heirats­ bereitschaft und dem steigenden Heiratsalter bürger­licher Männer ledig blieben und überdies junge Mädchen zwischen Schulzeit und Ehe angemessen beschäftigt werden müßten, seien die weib­lichen Erwerbsgelegenheiten zu vermehren […].59

57 Als Beispiel für die Beständigkeit der komplementären Geschlechterideologie kann die fiktionale Erzählung Emiliens Stunden der Andacht und des Nachdenkens (1808) des Theologen Christian Wilhelm Spieker gelten, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts tradiert wurde. Vgl. Christian Wilhelm Spieker: Ueber weib­liche Würde und Bestimmung. 7. Aufl. 1856. In: Häntzschel: Bildung und Kultur bürger­licher Frauen, S. 58. 58 Bei den von Häntzschel untersuchten Ratgebern und Anstandsbüchern kann zumindest partiell davon ausgegangen werden, dass sie den weib­lichen Lebenszusammenhang in seiner historischen Realität widerspiegeln. Als Verfasser dieser Literatur traten hauptsäch­lich Vertreter des akademisch gebildeten Bürgertums wie Philosophen, Pädagogen und Theologen auf, aber auch gebildete Frauen wie Lehrerinnen, Erzieherinnen und Gesellschaftsdamen. Im Mittelpunkt dieser Texte steht die Festlegung der Frau auf das häus­liche Leben und auf die Funktion als Hausfrau, Mutter und ­Gattin. Als „Gehilfin des Mannes“ sollte sie „im Lebensleid der linde Trostengel, in Allem seine Krone und Ehre“ sein. Heinrich Büttner: Die Ehe- und Hausfrau (1863). In: Häntzschel: Bildung und Kultur bürger­licher Frauen, S. 219. Eine zentrale Aufgabe der Frau war es, dem Haushalt, der Familie und sich selber einen mög­lichst standesgemäßen, repräsentativen Charakter zu verleihen. Dazu gehörten die Pflege einer entsprechenden Geselligkeitskultur und die Führung des bürger­lichen Haushalts ebenso wie das rollen- und standesgerechte Verhalten der Ehefrau und der Töchter. 59 Frevert: Frauen-Geschichte, S.  116 f.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Die zeitgenössische Wahrnehmung eines Frauenüberschusses und der Heiratsunlust bürger­licher Männer, die auch in Emmi Lewalds literarischen Texten als Begründung für die Notwendigkeit von Frauenarbeit erscheinen, konnte bereits vor längerer Zeit durch demographische Untersuchungen widerlegt werden.60 Frevert weist darauf hin, dass sich vielmehr die Lebensbedingungen lediger Frauen in bürger­lichen Haushalten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschlechterten und diese zunehmend weniger bereit waren, ihr Schicksal vorbehaltlos zu akzeptieren. Die Struktur bürger­licher Familienhaushalte hatte sich im Zuge der ökonomischen Entwicklung in einem Maße verändert, dass die Versorgung unproduktiver Mitglieder wie Kranker, Älterer und lediger Frauen erschwert wurde. Durch die Auslagerung der Erwerbsarbeit aus der Familie und die zunehmende Erleichterung der Haushaltsführung durch technische Neuerungen hatten erwerbslose Familienmitglieder keine Mög­lichkeit mehr, eine Funktion in der klassischen Hauswirtschaft auszuüben. Neben diesem Funktionsverlust ließen die knappen Finanzmittel zahlreicher bildungsbürger­licher Familien den Unterhalt lediger Frauen zu einer finanziellen Belastung werden. Emmi Lewald hat die Versorgungsthematik wiederholt zum Thema ihrer Romane gemacht; den thematischen Mittelpunkt des Romans Unter den Blutbuchen (1914) bilden beispielsweise das Fehlen einer Aussteuer für die angemessene Verheiratung der Töchter und die Armut lediger berufsloser Frauen im Alter.61 Junge bürger­liche Frauen konnten in der Lebensphase nach dem Abschluss der höheren Mädchenschule mit ca. 16 Jahren und einer mög­lichen Heirat mit ca. 26 Jahren 62 im Familienhaushalt neben Handarbeiten, Musizieren, dem Erlernen der 60 Nach neueren Erkenntnissen wurde nicht nur die Bedeutung des Frauenüberschusses überschätzt, sondern auch die des behaupteten generellen Rückgangs an Eheschließungen und des steigenden Heiratsalters bürger­licher Männer. Vgl. Frevert: Frauen-Geschichte, S. 117. 61 Der Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung, den Standesansprüchen und der finanziellen Benachteiligung der jungen Mädchen ergibt sich nach Helene Langes Ansicht folgenderweise: „Der Kapitalismus hat, indem er in den höchsten Schichten die großen Vermögen geschaffen hat, es dem gebildeten Mittelstand schwer gemacht, mitzukommen. Es werden ihm Lebensansprüche aufgezwungen, denen er mit seinen wirtschaft­lichen Mitteln nicht gewachsen ist. Wer mit den Lebensschicksalen von Lehrerinnen bekannt ist, der weiß, daß hier sehr vielfach die Notwendigkeit für die Tochter, einen Beruf zu ergreifen, damit zusammenhängt, daß für die sogenannten Standespf­lichten der Söhne zu viel ausgegeben werden muß. Anderseits verringern eben diese an den Mittelstand, an Beamte und Offiziere gestellten Ansprüche die Heiratschancen für die Töchter dieser Kreise. Sie kommen als Heiratskandidatinnen für die Söhne ihrer eigenen Schicht unter solchen Umständen oft nicht in Betracht. Die müssen eben versuchen, sich durch eine reiche Frau die notwendige Grundlage für den Lebensstil zu verschaffen, der mehr und mehr von ihnen verlangt wird.“ Exakt die von Helene Lange beschriebene Konstellation findet sich in Emmi Lewalds Roman Unter den Blutbuchen (1914) wieder: Der mittellose Offizier Ramin zieht einer Liebesheirat mit der jungen mittellosen Hilde die Geldheirat mit der älteren geschiedenen Frau van Stelen vor. Helene Lange: Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen. 2. Auflage Leipzig 1914, S. 15. 62 Zwischen 1850 und 1899 lag das Heiratsalter bei nur 17 % der Frauen in der Erstehe bei über 30 Jahren. Vgl. Karin Hausen: „…eine Ulme für das schwankende Efeu.“ Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum.

59

60

Emmi Lewald

Haushaltsführung und karitativem Engagement kaum einer produktiven Tätigkeit nachgehen. Außerhäus­liche Berufe galten für eine Frau als statusmindernd und unschick­lich. Hinzu kam noch, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die Individualisierung der Partnerwahl die von den Eltern gestiftete Ehe abgelöst hatte 63, wodurch Bürgermädchen sich selbst für oder gegen die Ehe entscheiden konnte, die Heiratschancen jedoch auch ungewisser wurden. Die Zeit nach dem Schulabschluss, in der die bürger­lichen Frauen das Dasein einer Haustochter in Erwartung ihrer Verheiratung führten, wird in zeitgenössischen Quellen mit Gefühlen der psychischen Leere und Langeweile in Verbindung gebracht. Wo Greven-Aschoff von einer „Art parasitärer Existenz“64 spricht, klagt Helene Lange darüber, dass die Frau, wirtschaft­lich gesehen, dazu verdammt sei, als „Luxusgeschöpf“65 zu leben. Die 1848 geborene Helene Lange beschreibt in ihren Lebenserinnerungen ihre bürger­liche Jugend in der Kleinstadt Oldenburg als einen eintönigen und intellektuell wenig anspruchsvollen Lebensabschnitt: Das bedeutete: ein wenig Haus- und Handarbeit, etwas Klavierspielen, einen Spaziergang durch den Schloßgarten oder das Everstenholz und „Kaffeevisiten“, bei denen häufig der rote kalte Pudding mit weißer oder der weiße mit roter Sauce das wesent­lichste Unterscheidungsmerkmal bildete. Der geistige Bedarf wurde durch eine gründ­liche Erörterung bevorstehender oder sonstiger gesellschaft­licher Veranstaltungen, Verlobungen oder Verlobungsmög­ lichkeiten gedeckt.66

Auch die Soziologin Marianne Weber (1870 – 1954) erlebte eine unausgefüllte Jugend im kleinstädtischen Lemgo, die ihr besonders nach einem zweijährigen Pensionsaufenthalt in Hannover als geistig beengend und kulturell dürftig erschien: Die kleinen häus­lichen Pf­lichten in einem Kreise, der ihrer Hilfe im Grunde nicht bedarf, scheinen ihr unwichtig, ihr mangelt die Gabe des Zugreifens; dienendes Helfen kostet sie Ueberwindung, das harmonische, aber ereignislose länd­liche Dasein, in dem die Männer dem Ideale und Wirk­lichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 85 – 117. 63 Barbara Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland 1894 – 1933. Göttingen 1981, S. 47. 64 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 47. 65 Lange: Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen, S. 3. 66 Helene Lange (1848 – 1930) wurde eine der bekanntesten Aktivistinnen der gemäßigten Frauenbewegung. Um 1900 gründete und leitete sie die ersten Real- und Gymnasialkurse für Frauen in Berlin, 1890 gründete sie den Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein und 1893 die Monatszeitschrift „Die Frau“, 1902 wurde sie erste Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Helene Lange: Lebenserinnerungen. Berlin 1925, S. 87.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Geschäft, die Frauen ganz Haus und Kindern gehören, bietet weder dem strebsamen Geist noch ihrem Lebenshunger Nahrung. Da sind keine Gegenstände zur Entfaltung ihrer Eigenkraft. Sie fühlt ihr pulsendes Leben zum Stillstand verurteilt. Die Tage strömen nicht, sie schleichen. Sie langweilt sich einfach halb krank, ist tief unglück­lich und hat dabei ein schlechtes Gewissen.67

Über diese sozialpsychologischen Faktoren hinaus stellte die steigende Nachfrage nach weib­lichen Arbeitskräften in der Industrie, aber auch in der staat­lichen Dienstleistung und Verwaltung eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Frauenfrage dar. Während im agrarischen und industriellen Sektor die Frauenarbeit schon zu Beginn der Organisationsphase der bürger­lichen Frauenbewegung eine Selbstverständ­lichkeit war, kämpfte diese vor allem für die Integration bürger­licher Frauen in die Arbeitswelt. Frauen des unteren Mittelstands sollten im Post- und Bahnbereich als Büroangestellte und Angestellte wirken, während für Frauen des gehobenen Bürgertums Tätigkeiten als Lehrerin, Gesellschafterin oder Autorin standesgemäß erschienen. Die meisten akademischen Berufe blieben den Frauen dagegen vorerst verschlossen, da sie kein Universitätsstudium absolvieren durften. Tatsäch­lich führte auch die erfolgreiche beruf­liche Qualifikation als Gesellschafterin, Gouvernante, Erzieherin oder Lehrerin selten zu ökonomischer Emanzipation und Gleichberechtigung, da die unterschied­ lichen Qualifikationsniveaus von Männern und Frauen frappierende Lohnunterschiede mit sich brachten. Die Frauen hatten bei der Berufsausübung zudem mit Einschnitten in ihrer persön­liche Lebensführung durch die Zölibatsvorschrift zu rechnen.68 Vor dem Hintergrund dieser schlechten Berufssituation formulierten die Aktivistinnen der bürger­lichen Frauenbewegung als frühe und vorrangige Ziele die Verbesserung der Mädchenschulbildung und die Schaffung von Abiturmög­lichkeiten für Frauen. Die Bildungssituation bürger­licher Frauen vor den Reformen durch Helene Lange Die Ziele der bürger­lichen Mädchenbildung des 19. Jahrhunderts waren vor dem Hintergrund des theoretischen Rollenmodells für Frauen konzipiert. Während junge Männer in außerhäus­lichen Bildungseinrichtungen auf das akademische Studium und das Berufsleben vorbereitet wurden, orientierte sich die Ausbildung bürger­licher Mädchen an ihrem zukünftigen Tätigkeitsbereich in Haus und Familie. Nach einer 67 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Mit 13 Tafeln und 1 Faksimile. 3. Aufl. unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. 1926, ergänzt um Register und Verzeichnisse von Max Weber-Schäfer. Tübingen, S. 184 (Digitale Bibliothek 58: Max Weber). 68 Per Gesetz hieß das etwa 1902 für alle Oldenburger Lehrerinnen: „Verheiratet sich eine Lehrerin, so scheidet sie damit aus dem Schuldienste aus; ist sie bereits in den Ruhestand versetzt oder zur Disposition gestellt, so fällt der Bezug des Ruhegehaltes oder Wartegeldes weg.“ Auszug aus dem „Gesetz für das Herzogtum Oldenburg, betreffend Änderung des Schulgesetzes“ (1902), abgedruckt in dem Kapitel „Von Frauenzimmern, bürger­licher Nahrung und Tagelohn – zur Erwerbsarbeit von Frauen in Oldenburg“. In: Stadt Oldenburg, der Oberstadtdirektor (Hg.): Weiber-Geschichten: Frauenalltag in Oldenburg 1800 – 1918. Ausstellung und Katalog Gabriele Beckmann. 3. Aufl. Oldenburg 1988, S.  27 – 60.

61

62

Emmi Lewald

häus­lichen Kindheit wurden Bürgertöchter meist 7-jährig in eine städtische oder private höhere Töchterschule gegeben, wo sie bis zu ihrer Konfirmation im Alter von 15 – 16 Jahren eine allgemeine Schulbildung erhielten, die Wert auf Sprachen-, Reli­ gions- und Deutschunterricht sowie Handarbeiten und Zeichnen legte.69 Im Gegensatz zu den höheren Knabenschulen waren Mathematik und Naturwissenschaften kaum auf dem Lehrplan vertreten und auch Latein wurde nicht unterrichtet.70 Da sich die höheren Töchterschulen weitgehend in privater Hand befanden, gab es generell keine Einheit­lichkeit der Lehrpläne, der Ausbildungsdauer und der Abschlussqualifikation. Karl Wöbcken, der zwischen 1867 und 1896 als Direktor die Cäcilienschule, die einzige höhere Töchterschule in Oldenburg, leitete, formulierte seine Vorstellung von Mädchenbildung 1896 im jähr­lichen Schulbericht der Cäcilienschule: Das Weib wird mit Nachdruck von dem öffent­lichen Leben hinweg und auf die erste und letzte Pf­licht des Weibes, die Mutterpf­licht, hingewiesen, in welcher die Aufgabe der Erziehung mit eingeschlossen ist; diese aber legt der Erregbaren immer neue Entsagung und Selbstbeherrschung auf und wird ihr so mächtiges Förderungsmittel in der eigenen Heilung, falls sie die Kraft der Heilung je mehr und mehr im Glauben und in der Liebe sucht und findet.71

Diese Quelle unterstreicht, dass an der Bildung bürger­licher Mädchen kein öffent­liches Interesse bestand, sondern sie allein auf den privaten Rahmen von Ehe, Familie und häus­ licher Geselligkeit ausgerichtet war. Gemäß der Rollenerwartung sollte eine Frau einerseits zur fähigen Hausfrau und Mutter ausgebildet werden, anderseits genügend Bildung im musischen, literarischen und sprach­lichen Bereich erhalten, um als „gesellschaftsfähige junge Dame mit Talent und Geschmack“72 dem Repräsentationsbedürfnis des Bürgertums nachzukommen und ihre Heiratschancen zu steigern. Die gesamte planmäßige Erziehung junger Mädchen war auf ihre vermeint­lich wesensgemäße Bestimmung als Hausfrau und Mutter abgestimmt und vermittelte ihnen Ehe und Mutterschaft als wichtigste Existenz­ inhalte. Neben der ideellen Aufwertung der Mutterrolle machte nicht zuletzt die standesgemäße Berufslosigkeit der Frauen des gehobenen Bürgertums nach adeligem Vorbild die Versorgungsehe lange zum einzig anerkannten Lebensentwurf für bürger­liche Töchter.73 69 Vgl. zur Mädchenbildung in Oldenburg im 19. Jahrhundert: Kindheit in Oldenburg. Wie Witwe Müllers Tochter mit drei Jahren das Sockenstricken und Helene Lange das Räuberspielen lernte. In: Stadt Oldenburg, der Oberstadtdirektor (Hg.): Weiber-Geschichten: Frauenalltag in Oldenburg 1800 – 1918. Ausstellung und Katalog Gabriele Beckmann. 3. Aufl. Oldenburg 1988, S. 11 – 26. 70 Vgl. Gerda Eicke: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, untersucht an der Zeitschrift „Die Frau“ 1893 – 1914. Prüfungsarbeit masch. Oldenburg 1974, S. 16. 71 Karl Wöbcken: Das Neue Testament und die Frauenfrage. 28. Bericht der Cäcilienschule. Oldenburg 1896, S. 22. 72 Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 388. 73 Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann: Frauenleben im 19. Jahrhundert: Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit. München 1983, S. 96 ff. und Günter Häntzschel: Für „fromme, reine und stille Seelen“.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Die recht­liche Stellung der bürger­lichen Frau Die Beschränkung der bürger­lichen Frauen auf den familiär-häus­lichen Handlungsraum und ihre tendenzielle Ausgrenzung aus den Bereichen des öffent­lichen Lebens – Politik, Rechtsprechung und Kultur – wurde durch das Rechtssystem des deutschen Kaiserreichs fixiert. Nach dem „Preußischen Allgemeinen Landrecht“ von 1794 (ALR) waren unverheiratete Frauen den Männern privatrecht­lich bis auf einige Ausnahmen gleich gestellt 74, sobald sie jedoch heirateten, waren sie der Vormundschaft des Ehemannes unterworfen und wurden in ihren Bürgerrechten, der Geschäfts- und Prozessfähigkeit, eingeschränkt. Vor Gericht oder bei Vertragsabschlüssen mussten sie von ihrem voll geschäftsfähigen Ehemann vertreten werden.75 Dieser besaß nach der Eheschließung nicht nur die Nutznießungs- und Verwaltungsrechte am in die Ehe eingebrachten Vermögen der Frau, sondern auch das Recht, über außerhäus­ liche Tätigkeiten und Geschäftsangelegenheiten seiner Frau zu entscheiden. In der Familie besaß ein Vater das alleinige Recht, über die Art der Erziehung und Ausbildung der Kinder zu entscheiden; für unverheiratete Töchter besaß er bis zu seinem Tod die Vormundschaft.76 Eine Aufweichung der starren recht­lichen Situation brachte erst das „Bürger­liche Gesetzbuch“ (BGB), mit dessen Inkrafttreten 1900 jede verheiratete Frau grundsätz­ lich die Prozess- und Geschäftsfähigkeit erhielt.77 Das BGB verbesserte jedoch nur die privatrecht­liche Stellung der Frau, während die Gleichberechtigung in der poli­ tischen Öffent­lichkeit erst Bestandteil der Weimarer Verfassung von 1919 wurde. Emmi Lewald besaß weder in ihrer Oldenburger noch in ihrer Berliner Zeit das aktive oder Literarischer Markt und ‚weib­liche’ Kultur im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen. 2. Bd. 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S. 120. 74 Die Rechtsstellung der Frau war grundsätz­lich von ihrem familiären Status abhängig. Unverheiratete, volljährige Frauen hatten eine selbstständigere Position inne als verheiratete Frauen und waren privatrecht­lich, etwa in der Geschäfts- und Prozessfähigkeit, den Männern nahezu gleichgestellt. Vgl. Barbara Dölemeyer: Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Ute Gerhard. München 1997, S. 633 – 658, hier S. 634 ff. 75 Ebd., S. 640 ff. 76 Vgl. die detaillierten Ausführungen zur familienrecht­lichen Situation ebd., S. 650 ff. 77 Die Rechte konnten jedoch noch durch die Entscheidungsbefugnis des Ehemannes in ehe­lichen Angelegenheiten und dessen Güterrecht eingeschränkt werden. Das BGB sah zudem vor, dass die Kinder fortan sowohl der mütter­lichen als auch der väter­lichen Gewalt unterstanden, doch die scheinbare Gleichberechtigung in diesem Bereich wurde hinfällig mit dem Entscheidungsrecht des Vaters im Falle von Meinungsverschiedenheiten und der Tatsache, dass der Vater die Kinder weiterhin alleine nach außen hin vertrat und das alleinige Recht auf deren Vermögen besaß. Erst nach dem Tod des Mannes stand der Ehefrau die volle elter­liche Gewalt über ihre Kinder zu – heiratete sie erneut, verwirkte sie dieses Recht wieder. Vgl. Dieter Schwab: Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Ute Gerhard. München 1997, S. 790 – 827.

63

64

Emmi Lewald

das passive Wahlrecht, noch hatte sie das Recht zur Bekleidung öffent­licher Ämter.78 In Oldenburg waren Frauen nach dem „Revidierten Staatsgrundgesetz“ (1852) von den Wahlen zum Stadtrat, Magistrat und Reichstag ausgeschlossen und blieben es bis zur Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen in der Verfassung von 1919.79 In Preußen schloss die Reichsverfassung von 1871 Frauen von den Reichstagswahlen ebenso wie von den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus aus. Der Ausschluss der Frauen aus der bürger­lichen Öffent­lichkeit ist vor dem Hinter­ grund der Strukturierung der Lebenswelt in eine weib­lich-private und eine männ­ lich-öffent­liche Sphäre zu verstehen. Es gab zunächst nur zwei Ausnahmen, Betäti­ gungsfelder, welche Frauen die Mög­lichkeit boten, aus dem Privatbereich heraus an die Öffent­lichkeit zu treten: das (soziale) Vereinswesen und die Teilnahme an der Vermittlung literarischer und geselliger Interessen. Es ist daher kein Zufall, dass die bürger­liche Frauenbewegung gerade die den Frauen zugäng­lichen Organisationsformen der bürger­lichen Gesellschaft zum Erreichen ihrer Ziele nutzte.80

78 Vgl. Ute Gerhard: Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffent­lichkeit. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Ute Gerhard. München 1997, S. 509 – 546. 79 Nach dem Oldenburgischen Staatsgrundgesetz von 1849 waren wahlberechtigt „nur diejenigen männ­ lichen Bürger über 25 Jahre, die nicht unter Kuratel standen, nicht öffent­liche Armenunterstützung erhielten und nicht, ohne eigenen Herd zu haben, bei anderen in Lohn und Kost standen.“ 1852 wurde mit dem „Revidierten Staatsgrundgesetz“ ein Klassenwahlrecht eingeführt, das bis Anfang 1919 Gültigkeit besaß. Albrecht Eckhardt (Hg. in Zus. mit Heinrich Schmidt): Geschichte des Landes Oldenburg. Ein Handbuch. Oldenburg. 4. Aufl. 1993, S. 342. In den Jahren 1908 und 1911 wurden von verschiedenen Oldenburger Frauenvereinen beim großherzog­lichen Staatsministerium Petitionen zur Erlangung des Gemeindebürgerrechts für Frauen eingereicht. Die Anfragen stießen bei allen Parteien, ausgenommen den Sozialdemokraten, auf Ablehnung. Schließ­lich wurden Frauen auf Vorschlag des damaligen Staatsministers Scheer eingeschränkt zu bestimmten Gemeindekommissionen zugelassen und erhielten 1914 das passive Wahlrecht. Letztend­lich wurde ihnen durch diesen Beschluss ledig­lich Zutritt zu Gemeindeeinrichtungen mit sozialem Hintergrund wie der Armenkommission mit dem Ziel gewährt, in diesem Bereich „ihre Eigenart, ihre Kenntnisse und Leistungen verwerten [zu] können“. Auszug aus dem stenogra­fischen Bericht über die Verhandlungen des XXX. Landtages am 22.2.1912, NLA–Sta OL Best. 136, Nr. 1397. Zitiert nach Weiber-Geschichten, S. 82. Vgl. zu Frauenvereinen in Oldenburg das Kapitel „Von wohltätigen Frauen und dem Kampf um Bildung und politische Rechte“. In: Stadt Oldenburg, der Oberstadtdirektor (Hg.): Weiber-Geschichten: Frauenalltag in Oldenburg 1800 – 1918. Ausstellung und Katalog Gabriele Beckmann. 3. Aufl. Oldenburg 1988, S. 77 – 96. 80 Die Vereinsgesetzgebung von 1848, die Frauen, Schülern und Lehrlingen die Mitgliedschaft in politischen Parteien und Vereinen ebenso wie die Teilnahme an deren Versammlungen und sonstigen Veranstaltungen generell verbot, wussten Frauenrechtlerinnen kreativ zu umgehen, indem sie poli­ tische Akzente vermieden. Nachdem die Gesetzgebung insbesondere vom sozialdemokratischen und radikal-fortschritt­lichen Flügel der Bewegung heftig bekämpft worden war, stellte der Gewinn der Vereins- und Versammlungsfreiheit 1908 einen wichtigen Schritt im Kampf für die staatsbürger­ lichen Rechte der Frauen dar. Vgl. Gerhard: Grenzziehungen und Überschreitungen, S.  526 – 534.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

2.1.1.3 Der ‚gemäßigte‘ Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung Emmi Lewald war fast dreißig Jahre alt, als sie in die Reichshauptstadt Berlin umzog, die sich durch wichtige Vereinsgründungen zwischen 1888 und 1894 als neues Zentrum der Frauenbewegung etabliert hatte.81 Weder über den Auslöser noch die Umstände des Beginns ihrer intellektuellen Auseinandersetzung mit frauenrechtlerischen Themen liegen genaue Informationen vor. Die Quellen zu ihrer Jugend und Erziehung lassen nicht darauf schließen, dass die junge Frau in Oldenburg mit den Ideen und Zielen der Frauenbewegung aufgewachsen war. Es liegt jedoch nahe, dass sie durch die gesellschaft­lichen Konsequenzen ihrer Arbeit als Schriftstellerin infolge der Publi­ kation von Unsre lieben Lieutenants (1888) begann, sich mit den Rollenerwartungen der bürger­lichen Gesellschaft und deren Haltung zu weib­licher Berufstätigkeit auseinanderzusetzen. Emmi Lewalds dem Leutnantsbuch entstammende Skizze Die Brüder erschien im Februar 1894 im 5. Heft des ersten Jahrgangs der Monatsschrift „Die Frau“, die erst 1893 ins Leben gerufen worden war und rasch zum inoffiziellen Organ des gemäßigten Flügels der bürger­lichen Frauenbewegung wurde.82 Dem ersten Beitrag folgte eine langjährige Mitarbeit bei dieser Zeitschrift. Noch vor der Hochzeit der Autorin 1896 war die Novelette Alte Herzen in einer von Bertha von Suttner herausgegebenen Anthologie „deutscher Dichterinnen der Gegenwart“ erschienen.83 Während die genannten Texte ledig­lich durch ihren Publikationsort eine Verbindung mit der Frauenbewegung aufwiesen, folgten ihnen rasch literarische Arbeiten, in denen die soziale, wirtschaft­liche und beruf­liche Stellung der Frau inhalt­lich eine Rolle spielt. Zu ihnen gehören Sturm im Wasserglas (1894), der beim Verlag von Friedrich Fontane in Berlin erschienene erste Roman Sein Ich (1896) sowie die Novellenbände Kinder der Zeit (1897) und In blauer Ferne (1898). Der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung folgte im Herbst 1896 die räum­liche Annäherung. Emmi Lewald zog mit ihrem Mann in den wohlhabenden Berliner Westen in ein vornehmes Wohngebiet im Stadtteil Schöne­berg. Schöneberg hatte sich um die Jahrhundertwende mit wichtigen Treffpunkten, Vereinssitzen und Privatwohnungen engagierter Frauenrechtlerinnen zu einem Zentrum der bürger­lichen Frauenbewegung entwickelt. Die Wohnung der Lewalds befand sich um 1905 in unmittelbarer Nähe zum Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), zum Deutschen Frauenclub von 1900, zum Deutschen Lyceum-Club, zum Verein Frauenwohl und zu der Zeichen- und Malschule des Vereins der Künstlerinnen und

81 Vgl. Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 87. 82 Vgl. Emil Roland: Die Brüder. Skizze. In: Die Frau 1 (1893/94), H. 5 (Febr. 1894), S. 318 – 322. 83 Emmi Jansen (Emil Roland): Alte Herzen. In: Frühlingszeit. Eine Lenzes- und Lebensgabe unsern erwachsenen Töchtern zur Unterhaltung und Erhebung gewidmet von den deutschen Dichterinnen der Gegenwart. Hg. von Bertha von Suttner. Berlin 1896, S. 202 – 206.

65

66

Emmi Lewald

Kunstfreundinnen zu Berlin.84 Emmi Lewald fand rasch Zugang zum Vereins- und Kommunikationsnetzwerk der Frauenbewegung, denn sie nutzte die gesellschaft­ lichen Kontakte ihrer Oldenburger Familie und trat verschiedenen Frauenorganisationen bei (vgl. 2.1.2.2). Ihren Organisationsformen und Zielen nach befand sich die bürger­liche Frauen­ bewegung zur Zeit von Lewalds Umzug nach Berlin in einer Phase gravierenden Wandels, Greven-Aschoff spricht vom Beginn der „organisierten Frauenbewegung“85, mit der „der Feminismus in den zwei Jahrzehnten vor dem Weltkrieg seine Blütezeit erlebte“.86 Seit der von Louise Otto-Peters (1819 – 1895) initiierten Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenverbandes (ADF) in Leipzig 1865 im Geiste der Revolutionsideale von 1848 hatte sich die Bewegung kontinuier­lich weiterentwickelt und ihre Ziele ausgeweitet, die sich bis Ende der achtziger Jahre überwiegend auf Frauen­ bildung und Wohlfahrt erstreckt hatten. Die Diskussion der recht­lichen Stellung der Frau wurde seit 1874 intensiviert und mündete in die vermut­lich von Otto-Peters verfasste Schrift Einige deutsche Gesetzes-Paragraphen über die Stellung der Frau, deren Inhalt am 23. April 1877 in Form einer Petition dem Reichstag übergeben wurde.87 In der Phase der organisierten Frauenbewegung wurden neben der Bildungsproblematik bald auch die politische Gleichberechtigung der Frau und die staat­liche Reglementierung der Prostitution diskutiert. Dieser „Prozeß der Radikalisierung“88 ging mit einer Differenzierung des bürger­lichen Frauenvereinsspektrums einher. Neben Frauenvereine mit allgemeinen Emanzipationszielen traten Berufsorganisationen und Vereine mit sozialreformerischer, bildend-unterhaltender und wohlfahrtsorientierter Zielsetzung. Seit 1888 bestand der Verein Frauenwohl, 1889 kam es zur Gründung des Kaufmännisch-gewerb­lichen Hilfsvereins weib­licher Angestellter, 1890 wurde der 84 Emmi und Felix Lewald wohnten von 1896 bis 1914 in der Ansbacher Str. 5. Der Sitz des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF) befand sich in der Motzstraße 22, der Deutsche Frauenclub in der Kurfürstenstraße 124, der Deutsche Lyceum-Club 1905/06 in der Potsdamer Straße 118b, der Verein Frauenwohl bis 1913 in der Wormser Straße 5 und die Zeichen- und Malschule des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin in der Potsdamer Straße 39. In Schöneberg lebten u. a. Anita Augspurg, Marie von Bunsen, Minna Cauer, Hedwig Heyl, Helene Lange, Else Lüders, Lina Morgenstern, Anna Pappritz, Alice Salomon und Helene Stöcker. Vgl. den Stadtplan zur alten Frauenbewegung. In: „Ich bin meine eigene Frauenbewegung.“ Frauen-Ansichten aus der Geschichte einer Großstadt. Zur Ausstellung „In Bewegung – Frauen einer Großstadt im Haus am Kleistpark vom 21.6.–8.9.1991. Hg. vom Bezirksamt Schöneberg / Kunstamt Schöneberg. Berlin 1991, S. 22 f. 85 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 71. 86 Die Blütezeit ist gekennzeichnet durch eine Radikalisierung der Bewegung infolge der verdichteten Reformbestrebungen und dem Ansteigen der Zahl organisierter Frauen. Während beispielsweise der BDF im Jahr 1900 ca. 70.000 Mitglieder zählte, waren es 1908 bereits ca. 200.000. GrevenAschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 18, 148. 87 Vgl. Christine Susanne Rabe: Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Die Krause-Schule und die bürger­ liche Frauenbewegung im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2006, S. 35. 88 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 71.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein (ADLV) von Helene Lange und Auguste Schmidt ins Leben gerufen und 1894 formte sich schließ­lich als Dachverband der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF). Dem BDF gehörten 34 Vereine und Organisationen des bürger­lichen Spektrums an, während Frauenorganisationen mit konfessionellem oder sozialdemokratischem Hintergrund außen vor blieben. Schon auf der Gründungsversammlung des BDF war die Aufnahme sozialdemokratischer Frauenorganisationen mehrheit­lich abgelehnt worden, da deren parteipolitische Bindung als mit der politischen Neutralitätserklärung des Verbandes unvereinbar erklärt wurde.89 Doch auch ohne die sozialdemokratischen Interessen setzte sich die bürger­liche Frauenbewegung aus einer Vielzahl unterschied­licher Gruppen mit Partikularinte­ ressen zusammen, deren Ziele und weltanschau­liche Meinungsverschiedenheiten die Handlungsfähigkeit des BDF in den folgenden Jahrzehnten immer wieder lähmten und die Einheit der Bewegung gefährdeten. Der gemäßigte Flügel des BDF Sollte von einer Tendenz meiner Arbeiten die Rede sein können, so wäre sie bedingt durch meine Vorliebe für solche Stoffe, in denen es sich um die Kämpfe und Bestrebungen der Frauenwelt handelt. [Handgeschriebene Vorbemerkung von Emmi Lewald in einem Rezensionsexemplar des Romans Das Glück der Hammerfelds (1900)]

Emmi Lewald war über ihre freie Mitarbeiterschaft bei „Die Frau“ zwischen 1894 und 1915 hinaus in die verzweigte, mit der bürger­lichen Frauenbewegung verflochtene Vereinskultur eingebunden. In Frauenvereinen und Klubs verkehrte sie regelmäßig mit Aktivistinnen der Frauenbewegung wie Auguste Schmidt, Minna Cauer, Helene Lange und Gertrud Bäumer, wobei sie dort neben geselligem Austausch und geistreicher Unterhaltung auch beruf­liche Kontakte pflegen konnte (s. u.). Vor allem nahm Emmi Lewald durch ihre institutionelle Anbindung an der fortgesetzten Debatte über die theoretischen Überzeugungen und praktischen Forderungen des gemäßigten Flügels der bürger­lichen Frauen­bewegung teil, was einen nachhaltigen Einfluss auf ihre literarische Ausarbeitung der Frauenberufs- und Geschlechterthematik ausübte. In der Satzung des BDF wurde die Verbesserung der bürger­lichen Gesellschaft zum Ziel allen frauenrecht­lichen Engagements erklärt. Die gemeinnützigen Frauenvereine sollten

89 Grund für die Festlegung der politischen Neutralität in den Statuten des BDF war das seit 1850 geltende Vereinsgesetz, nach dem „Frauen die Teilnahme an Vereinen verboten [war], deren Zweck darin bestand, in Versammlungen politische Fragen zu erörtern.“ Vgl. Rabe: Gleichwertigkeit von Mann und Frau, S. 43.

67

68

Emmi Lewald

[…] durch organisiertes Zusammenwirken […] erstarken, um ihre Arbeit erfolgreich in den Dienst des Familien- und Volkswohls zu stellen, um der Unwissenheit und Ungerechtigkeit entgegenzuwirken und eine sitt­liche Grundlage der Lebensführung für die Gesamtheit zu erstreben.90

Die Idee der Gemeinnützigkeit bildet in der Zielsetzung der bürger­lichen Frauenbewegung den wesent­lichen Unterschied zu den politischen Zielen der Sozialdemokratinnen und schied rasch nach dessen Gründung 1894 innerhalb des BDF einen gemäßigten von einem fortschritt­lichen Flügel. Im Mittelpunkt der gemäßigten Mehrheit innerhalb des BDF stand der ADF, deren Vorsitzende Auguste Schmidt (1894 – 1899), Helene Lange (seit 1902) und Gertrud Bäumer (seit 1910) und dessen offizielles Vereinsblatt „Neue Bahnen“. Auch die seit 1893 von Helene Lange herausgegebene Monatsschrift „Die Frau“ vertrat die Ideen der gemäßigten Richtung und galt als deren inoffizielles Organ.91 Die fortschritt­lichere und radikalere Position innerhalb des BDF wurde von dem von Minna Cauer geleiteten Verein Frauenwohl vertreten. Die Ursachen der Mitte der 1890er Jahre zutage tretenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Strömungen lagen in ihren unterschied­lichen taktischen Vorgehensweisen und Zielsetzungen, der Gemeinwohl­ orientierung der Gemäßigten und den Gleichberechtigungsforderungen der Radikalen.92 In ihrer Gründungsphase um 1848 als Bildungsbewegung 93 hatte die bürger­liche Frauenbewegung ihren Emanzipationsanspruch ausschließ­lich mit der naturrecht­lichen Gleichheit von Männern und Frauen begründen können, die Teil der Revolutionsideale gewesen war. Mitte der 1890er Jahre änderte sich die Situation, als öffent­liche Kritik an dem Vordringen der Frauen in die männ­liche Berufswelt laut wurde. Kritiker beider Geschlechter fürchteten eine starke weib­liche Konkurrenz in den akademischen Berufen und beriefen sich in ihrer Argumentation auf die vermeint­lich naturgegebene Wesensbestimmung der Frau.94 Zur gesellschaft­lichen Rechtfertigung des Emanzipationsanspruchs formulierte Helene Lange in dieser Zeit daher ihre aus pädagogischen 90 § 2 der Satzung. Abgedruckt in: A. Simson: Der Bund Deutscher Frauenvereine – was er will und was er nicht will. Vortrag gehalten auf der 1. Generalversammlung (Schriften des BDF, H. 1), Breslau 1895, Anlage I. Hier zitiert nach Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 88. 91 Vgl. Eicke: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 24. 92 Die Differenzen führten dazu, dass die Frauen des linken Flügels seit 1898 eine oppositionelle Haltung zu den Statuten des BDF einnahmen und sich im Oktober 1899 mit der Gründung des Vereins der fortschritt­lichen Frauenvereine in Berlin von diesem abspalteten, um größere Einflussmög­lichkeiten und Selbstständigkeit zu erlangen. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand das Thema der politischen Partizipation von Frauen, insbesondere das Stimmrecht. Da jedoch die Mitgliedervereine des neuen Organs gleichzeitig dem BDF angeschlossen blieben, lag eine organisatorische Trennung nicht vor. Das offizielle Presseorgan des linken Flügels war die 14-täg­lich von Cauer herausgegebene Zeitschrift „Die Frauenbewegung“. Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 91. 93 Ebd., S. 50. 94 Vgl. Frevert: Frauen-Geschichte, S. 122.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Schriften gewonnenen Überzeugungen zur weib­lichen Rolle und Bildungsfähigkeit, die zur Leitidee des gemäßigten Flügels der bürger­lichen Frauenbewegung wurden. Langes Programmatik strebt keinen radikalen Bruch, sondern eine ethische Neubewertung der Frauenrolle in Einklang mit dem normativen Frauenleitbild der bürger­ lichen Gesellschaft an. Ihr Konzept beruht auf der Idee der „geistigen Mütter­lichkeit“95, die unter dem Einfluss der Erziehungslehren Friedrich Fröbels und Johann Heinrich Pestalozzis entstanden war.96 Die neuen Ideen sollten die Beschränkung der Frau auf die häus­liche Sphäre aufheben, indem die mütter­lichen Qualitäten der Frau von der biologischen Mutterschaft entkoppelt und als „geistige Mütter­lichkeit“ für die bürger­ liche Gesellschaft als relevant erklärt wurden. Indem die Frau durch Verbesserung ihrer Ausbildungs- und Bildungsbedingungen in die Lage versetzt werde, ihre weib­liche „Kulturaufgabe“97 nicht nur im Privaten, sondern in allen Gesellschaftsbereichen zu erfüllen, so die Legitimationsstrategie, trage sie zum Fortschritt der Gesamtgesellschaft bei. Greven-Aschoff weist auch auf den Aspekt des gesellschaft­lichen Fortschritts hin, der in der wilhelminischen Gesellschaft ein gewichtiges Argument darstellte. Daher seien in dem Modell der bürger­lichen Frauenbewegung Mann und Frau wesensverschieden […], aber funktional gleichwertig bezogen auf ein Ganzes, näm­lich auf die Reproduktion der Gesellschaft. Der Zusammenhang von individueller Emanzipation und gesamtgesellschaft­lichem Fortschritt wurde darin gesehen, daß erst die aus der Enge der Privatsphäre befreite ‚Natur‘ der Frau Bedingung der Mög­ lichkeit dieses Fortschrittes sein könnte. Formale Gleichheit wurde Mittel zum Zweck, die weib­liche Andersartigkeit in den Dienst der gesellschaft­lichen Erneuerung zu stellen.98

Das Konzept des gemäßigten Flügels definierte daher die Rolle der Frau auch weiter­ hin über die Ehe und den „Mutterberuf“99, öffnete ledigen Frauen jedoch das Tor zu weib­licher Erwerbsarbeit in spezifischen Berufsfeldern. Mit der Betonung der 95 Das Konzept der „geistigen Mütter­lichkeit“ wurde seit den 1860er Jahren von Henriette SchraderBreymann (1827 – 1899) und Henriette Goldschmidt (1825 – 1920) entwickelt. Vgl. die Definition bei Angelika Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848 – 1933. Darmstadt 2006, S. 28 f. Dazu auch Irene Stoehr: „Organisierte Mütter­lichkeit“. Zur Politik der deutschen Frauenbewegung um 1900. In: Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Karin Hausen. München 1983, S. 221 – 249. 96 Vgl. Herrad U. Bussemer: Bürger­liche Frauenbewegung und männ­liches Bildungsbürgertum 1860 – 1880. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorwort von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 190 – 203 und Herrad-Ulrike Bussemer: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit. Weinheim u. a. 1985, S. 241 – 250. 97 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 43. 98 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 39. 99 Die Frau 1 (1893/94), H. 1 (Okt. 1893), S. 1 – 4.

69

70

Emmi Lewald

gesellschaft­lichen Pf­lichterfüllung sollte der neue Ansatz im Gegensatz zu früheren egalitären Feminismustheorien den Interessenskonflikt zwischen dem Feminismus und der bürger­lich-patriarchalischen Gesellschaft aufheben helfen. In der Praxis hatte die Forderung nach einer den Wesensmerkmalen der Geschlechter entsprechenden Arbeitsteilung zur Folge, dass der gemäßigte Flügel des BDF sich zunächst vor allem für pädagogische und sozialfürsorg­liche Berufsmög­lichkeiten einsetzte, zum Beispiel für die Vergrößerung des Lehrerinnenanteils an Mädchenschulen und die Professionalisierung der Sozialarbeit.100 Die Tradierung der herkömm­lichen Geschlechtscharaktere durch den gemäßigten Flügel der bürger­lichen Frauenbewegung zielte in der Praxis darauf ab, „Konkurrenz zu vermeiden und bestimmte Berufsreservate zu schaffen.“101 Helene Langes Einsatz für die Reformierung der Lehrerinnenausbildung und der Mädchenbildung kann unmittelbar aus dem Postulat der „geistigen Mütter­lichkeit“ abgeleitet werden. War die Forderung nach besseren Ausbildungsmög­lichkeiten und Berufsmög­lichkeiten für Frauen bereits 1865 von den Gründungsmitgliedern des ADF und des Lette-Vereins formuliert worden, definierten die gemäßigten Frauenrechtlerinnen der 1890er Jahre sie als gesellschaft­liche Notwendigkeit.102 Helene Langes Gelbe Broschüre (1887), in der sie den zuständigen Minister und das preußische Abgeordnetenhaus zu einer Erhöhung des Lehrerinnenanteils an den höheren Mädchenschulen und zur Schaffung entsprechender Ausbildungswege aufforderte, ist zum Symbol für diese Haltung geworden.103 Aufmerksamkeit erregte im Zusammenhang mit der Petition vor allem eine von Lange verfasste Begleitschrift, in der sie, von ihrem Geschlechterverständnis ausgehend, die Reformierung des gesamten höheren Mädchenschulwesens forderte. Obwohl Langes Petition zunächst abgelehnt wurde, führte das andauernde Engagement der Frauenbewegung 1894 zu einer Vereinheit­ lichung des preußischen Mädchenschulwesens und zu einer Erhöhung des Lehrerinnenanteils.104 Neben zunächst privat ausgerichteten Oberlehrerinnenkursen konnte Lange ab 1893 auch Gymnasialkurse für Frauen anbieten, aus denen 1896 die ersten staat­lich anerkannten Abiturientinnen des deutschen Kaiserreichs hervorgingen.105 100 Vgl. Angela Klaßen: Mädchen- und Frauenbildung im Kaiserreich 1871 – 1918. Emanzipatorische Konzepte bei Helene Lange und Clara Zetkin. Würzburg 2003, S. 93 ff. 101 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 62. 102 Vgl. Rabe: Gleichwertigkeit von Mann und Frau, S. 30 ff. 103 Wie Lange in einer Begleitschrift zu ihrer Petition formulierte, forderte sie, dass „nament­lich Religion und Deutsch in Frauenhand gelegt werde“ sowie, „daß von Staats wegen Anstalten zur Ausbildung wissenschaft­licher Lehrerinnen für die Oberklassen der höheren Mädchenschulen mögen errichtet werden.“ Helene Lange: Kampfzeiten Bd. 1. Aufsätze und Reden aus vier Jahrzehnten. Berlin 1928, S. 7. 104 Vgl. Eicke: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 29. 105 „In einem vierjährigen, sehr sorgfältig ausgearbeiteten Kursprogramm wurde nun Absolventinnen der höheren Töchterschulen das volle Programm des humanistischen Gymnasiums geboten, konnten sich Mädchen nach einer Aufnahmeprüfung und mit dem Mindestalter von sechzehn Jahren hier auf das deutsche Abitur vorbereiten, das, solange es keine Mädchenschulen gab, extern an einem

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Die Frage des Frauenstudiums wurde im BDF kontrovers und unter großer Zurückhaltung des gemäßigten Flügels diskutiert. Obwohl für Frauen seit 1896 die Mög­lichkeit bestand, das Abitur und damit die formale Voraussetzung für das Universitätsstudium zu erwerben, blieb ihnen das Studium zunächst verschlossen, da es keine Mög­lichkeit der offiziellen Immatrikulation, Promotion und Habilitation gab. Bis zur Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium in Baden 1900 und in Preußen 1908 durften sie ledig­lich als Gasthörerinnen die Universität besuchen und waren vom Wohlwollen der Dozenten und männ­lichen Studenten abhängig. Der gemäßigte Flügel setzte sich angesichts gesellschaft­licher Widerstände nur vorsichtig für das Frauenstudium ein und warnte vor der Gefahr einer zweitklassigen Ausbildung und Kultivierung eines weib­lichen Dilettantismus, wie sie die Schaffung von reinen Frauenhochschulen seiner Meinung nach barg.106 Fortschritt­lichere Frauenvereine wie der Frauenverein Reform dagegen setzten sich uneingeschränkt für das Frauenstudium ein. Die Tradierung des herkömm­lichen Geschlechterdualismus prägte auch die Diskussion um die Berufstätigkeit der Frau, ihre Rechte in der Ehe und um die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft. Die Formulierung des gemäßigten Standpunkts beschäftigte vor allem die Soziologin und Rechtshistorikerin Marianne Weber in verschiedenen Aufsätzen.107 Weber bewertete die weib­liche Erwerbsarbeit zunächst negativ, da die meisten der (industriellen) Tätigkeiten einförmig und den hausfrau­lichen Aufgaben sehr ähn­lich seien und zudem nur aus finanzieller Notwendigkeit ausgeübt würden. Im Gegensatz zur den Lebensunterhalt sichernden Erwerbsarbeit bewertet sie die um ihrer selbst willen ausgeführte Tätigkeit in qualifizierten Berufen als positiv. Weber kommt in ihrer nach Jungengymnasium abzulegen war.“ Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die neuen Mög­ lichkeiten nur einer gesellschaft­lichen Minderheit von gebildeten, bürger­lichen Frauen offen stand. Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der Frauenbewegung, S. 155. Bereits 1893 war des dem Frauenverein Reform gelungen, in Karlsruhe das erste Mädchengymnasium zu errichten. Dort konnten Mädchen ab dem zwölften Lebensjahr in sechs Klassen das Abitur erlangen. Ebd., S. 151 f. 106 Eicke konnte in ihren Quellen Belege für einen starken Leistungsdruck in der Frauenbewegung sowie für die Angst der Aktivistinnen finden, Frauen könnten sich durch nachgewiesenen Dilettantismus und mittelmäßige Leistungen den angemeldeten Ansprüchen der Bewegung als nicht würdig erweisen. „Im Januar 1902 berichtete Helene Lange von einer Petition, die deutsche Studentinnen der Universität Halle an den preußischen Kultusminister schickten. Darin wurde darum gebeten, darauf zu achten, daß nur Frauen zu den Universitäten zugelassen würden, die eine Vorbildung nach deutschem Maßstab hatten. Die Bildungsmängel ausländischer Studentinnen, besonders der Russinnen, würden auch den deutschen zur Last gelegt. Helene Lange unterstützte diese Petition, weil ‚der augenblick­liche Zustand zu einer unerträg­lichen Kalamität für die ernsthaft studierenden Frauen geworden‘ sei und erbat ebenfalls den Schutz des Kultusministers ‚gegen den Dilettantismus‘.“ Vgl. Helene Lange: Zur „Kalamität“ des Frauenstudiums. In: Die Frau 9 (1901 / 02), H. 9, S.  243 – 247, Eicke: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 39. 107 Marianne Weber publizierte ihre Ansichten zu dem Thema beispielsweise in dem Artikel Mutterschaft und Erwerbsarbeit, der im „Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine“ erschien. Vgl. zu dem Artikel und Webers Position Greven-Aschoff, Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S.  62 ff.

71

72

Emmi Lewald

sozialen Schichten differenzierenden Argumentation zu dem Schluss: „Für die geistig führenden und besitzenden Schichten lege ich den Nachdruck auf die Forderung: Überwindung der Tradition und Disziplinierung des Frauenwillens, damit auch die Mütter entweder Berufs- oder Kulturarbeit leisten.108 Die Forderung der Gemäßigten nach weib­licher Berufstätigkeit bezog sich vorrangig auf die bildungs- und besitzbürger­liche Gesellschaftsschicht, deren Frauen – durch Dienstboten und technische Neuerungen von der Hausarbeit und Erziehungsaufgabe fast gänz­lich befreit – durch eine sinnvolle persön­lichkeitshebende Beschäftigung nicht der Langeweile und dem Müßiggang verfallen sollten.109 Diese Tätigkeit sollte aus einer Berufsarbeit oder dem Engagement im sozialen, politischen oder kulturellen Bereich bestehen. Die positive Bewertung des bürger­ lich-protestantischen Arbeitsethos im Gegensatz zu einer Hingabe an einen luxuriösen, vergnügungsorientierten und ziellosen Lebensstil begegnet dem Leser beispielsweise in Emmi Lewalds Romanen Die Rose vor der Tür (1911), Unter den Blutbuchen (1914) und Das Fräulein aus der Stadt (1929). Nur die privilegierten Frauen sind diesen theoretischen Überlegungen nach in der Lage, Mutterschaft und Beruf in idealer Weise zu verbinden, während bei den Frauen der Mittel- und Arbeiterschicht die Mutterschaft der entfremdenden (Industrie-) Arbeit vorzuziehen ist. Fortschritt­lichere Frauenrechtlerinnen kritisierten Webers Standpunkt und gingen davon aus, dass Mutterschaft und Berufstätigkeit für Frauen aller Schichten zu vereinbaren und wünschenswert sei.110 Während die radikalen Frauen- und Stimmrechtsvereine vehement Reformen der gesetz­lichen Stellung der Frauen im öffent­lich-politischen Raum forderten, hielten sich die Organisationen des gemäßigten Flügels seit Gründung des BDF bei dieser Diskussion zurück, da sie sich ihrem Selbstverständnis nach als politisch neutrale Bewegung definierten. Die Neutralitätserklärung beruhte sicher­lich einerseits auf der Angst, durch einen Verstoß gegen das preußische Vereins- und Versammlungsgesetz die Frauenbewegung öffent­lich in Misskredit zu bringen, anderseits spiegelte sie die theoretische Haltung der Gemäßigten zur Stimmrechtsfrage.111 Nach 1900 macht sich eine 108 Weber misst der Mutterschaft in den mittleren und unteren Schichten einen noch höheren Wert zu und plädiert dort vor allem für die ökonomische Selbstständigkeit der Mütter, für ihre Entlastung von der Vollerwerbstätigkeit und für eine nachhaltige Verpf­lichtung der Väter. Weber: Mutterschaft und Erwerbsarbeit, S. 84 f. 109 Vgl. Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 64. 110 Dieser Standpunkt beruhte vor allem auf der Überzeugung des fortschritt­lichen Flügels der Bewegung, dass die materielle Unabhängigkeit der Frau der Schlüssel zu ihrer Emanzipation sei. Vgl. Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 65. 111 Der Deutsche Verein für Frauenstimmrecht und der gemäßigte Flügel der Frauenbewegung hatten grundsätz­lich unterschied­liche Auffassungen über die Funktion des Stimmrechts für die Bewegung. Die Vertreterinnen des Stimmrechtsvereins sahen das Frauenstimmrecht als ‚Fundament‘ der Gleichberechtigung an und waren der Auffassung, von der Grundlage des Stimmrechts aus ließen sich alle anderen Frauenfragen leichter lösen, weil dadurch das politische Bewusstsein der Frauen entwickelt würde. Dagegen sah die gemäßigte Richtung das Stimmrecht als ‚Krone‘ der Bewegung

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Aufweichung des Neutralitätsanspruchs bemerkbar, als auf der Generalversammlung 1902 trotz gemäßigter Mehrheit im BDF eine Resolution angenommen wurde, die alle Mitgliedsvereine des Dachverbandes zur Förderung der Idee des Frauenstimmrechtes verpf­lichtete. Während Frauen durch das Reichsvereinsgesetz 1908 die Mitgliedschaft in Parteien sowie die Teilnahme an politischen Veranstaltungen gestattet wurde, konnten sie das Stimmrecht vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht erreichen. Bürger­liche Frauenbewegung und Erster Weltkrieg Beim Erwachen aber gellt die Stimme der Zeit sofort zu unsern Fenstern […] empor. Von der Straße hallt es: Extrablatt! Großer Sieg bei den Dardanellen! – Und die Wirk­lichkeit steht wieder da in ihrem gebieterischen Anrecht an jeden Gedanken unserer Stirn, mit all ihrer Qual und dem berauschenden Glücksgefühl einem Volk von Helden anzugehören. [Lewald, In schlaflosen Nächten, 23]

Obwohl in den Statuten des BDF die Erklärung seiner Neutralität und politischen Unabhängigkeit verankert war und zahlreiche Frauenrechtlerinnen ihrem Rechtsverständnis nach zum Pazifismus neigten, unterstützen die Führerinnen des gemäßigten Flügels, Helene Lange und Gertrud Bäumer, die nationalistische und militaristische Politik des preußischen Staates. Helene Lange befürwortete schon 1900 in „Die Frau“ die Flottenpolitik Wilhelms II.112 Der Beginn des Ersten Weltkrieges mit dem Mobilmachungsbefehl des Kaisers am 1. August 1914 wurde von den meisten, den liberalen Parteien nahe stehenden Mitgliedern der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung begrüßt. Gemeinsam mit der Mehrheit des deutschen Bürgertums erlebten diese Frauen die Tage der Aufrüstung zum vermeint­lichen Verteidigungsfeldzug gegen die europäischen Nachbarstaaten als Moment nationalen Aufbruchs und gesellschaft­lichen Zusammenwachsens. Die Frauen identifizierten sich weitgehend mit den nationalen und imperialen Zielen der Reichsführung und entschlossen sich der nationalen Einheit zuliebe unmittelbar nach Kriegsausbruch zu einer „Burgfriedenspolitik“113. Die Frauenrechtlerinnen waren fest entschlossen, mit ihren Emanzipationsforderungen, die sie in der Situation als sekundäre Partikularinteressen betrachteten, nicht die in ihren Augen schicksalhafte nationale Mission des deutschen Reichs zu gefährden. In der Überzeugung, die Kriegssituation stelle eine Probe für die staatsbürger­liche und gesellschaft­liche Taug­lichkeit der Frauen dar, stellten die Mitglieder des gemäßigten Flügels ihre emanzipatorischen Interessen zurück und konzentrierten ihre Energien an, die man erst nach erbrachter Leistung beanspruchen könne. Vgl. Gertrud Bäumer: „Unreife Rabiatheit“. Taktische Erwägungen zur Frauenstimmrechtsfrage. In: Die Frau 13 (1905 / 06), H. 9, S.  513 – 519, Eicke: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 57. 112 Vgl. Gerhard: Unerhört, S. 287 f. und Frevert: Frauen-Geschichte, S. 146 ff. 113 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 155.

73

74

Emmi Lewald

ganz auf die Organisation des „Nationalen Frauendienstes“.114 Gertrud Bäumer, die Initiatorin dieser Kriegsdienstorganisation, reflektiert in ihren Lebenserinnerungen: „Für uns Frauen war klar: Jetzt wurde der ganze Ertrag unserer Bewegung, alle erhöhte Kraft, gesteigerte Leistung, Gewöhnung an Organisation und Disziplin zur Rüstung und Einsatz.“115 Mit dem bedingungslosen Engagement für das Vaterland in der Kriegssituation, so hofften die Frauen, würden sie ihre gesellschaft­liche, beruf­liche und soziale Integration langfristig begünstigen. Aus dieser Überzeugung erwuchs unter anderem die Entscheidung des BDF, den internationalen Friedenskongress 1915 in Den Haag zu boykottieren. Im Verlauf des Weltkriegs unterstützten die Gemäßigten zudem die politische und militärische Führung des preußischen Staates mit Kriegspropaganda und der Rekrutierung weib­licher Arbeitskräfte für die Kriegsproduktion.116 Die schreibenden Frauen der bürger­lichen Frauenbewegung, die in journalistischer und literarischer Form für die Ziele der Frauenemanzipation gekämpft hatten, stellten ihr Engagement bei Kriegsausbruch mit ebensolchem Eifer in den Dienst der nationalen Sache. Gertrud Bäumer warb mit Flugschriften wie Der Krieg und die Frau (1914) für die Akzeptanz des Soldatentodes unter Ehefrauen und Müttern und appellierte an die Opferbereitschaft der Frauen während der „nationalen Mission“. Die Schriftstellerin Ida Boy-Ed wandte sich in der Zeitschrift „Die Woche“ An Deutschlands Frauen (1915), um sie von der Wichtigkeit ihres Engagements für den siegreichen Ausgang des Krieges zu überzeugen.117 Im Gegensatz zu Bäumer und Boy-Ed, die hier beispielhaft genannt werden, verfasste Emmi Lewald keine öffent­lichen Appelle, sondern griff die Kriegsthematik literarisch in Gedichten, Novellen und später auch in Romanen auf. Während aus ihrer Lyrik unverhohlen euphorische Kriegsbegeisterung spricht, schildert sie in ihrer Prosa vor allem das Leid des Individuums sowie den kulturellen und intellektuellen Werteverlust innerhalb des Bürgertums. Zweifel am Sinn des Ersten 114 Der Nationale Frauendienst wurde am 9. August 1914 gegründet. Der Zentralorganisation schlossen sich neben dem BDF auch konfessionelle und vaterländisch gesinnte Frauenvereine an. In enger Kooperation mit kommunalen Behörden und sozialen Einrichtungen organisierte der NFD die Bekämpfung der kriegsbedingten sozialen Probleme. Neben dieser „sozialen Mobilmachung“ (­Frevert) arbeitete der NFD mit der Verteilung von Merkblättern und der Organisation von Vorträgen zur Kriegssituation auch an der „geistigen Mobilmachung“ mit (Dies.). Dieses Engagement verstanden die Frauen als ihren Beitrag zum nationalen Kampf. Vgl. Frevert: Frauen-Geschichte, S. 156. 115 Gertrud Bäumer: Lebensweg durch eine Zeitwende. 4. Aufl. Tübingen 1933, S. 267. 116 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 158. 117 „Wir, wir Frauen haben es in der Hand, unserem Volk, das noch Jahrzehnte schwer von Waffen auf der Wacht bleiben muß, später den Frieden erhalten zu helfen. Wer wagt noch, uns anzugreifen, wenn die Tatsache monumentale Gewißheit geworden: die militärische Macht Deutschlands ist nicht nieder­ zuringen, denn Mann neben Mann steht in eiserner Einigkeit todesmutig für das Vaterland ein; die wirtschaft­liche Festigkeit Deutschlands ist ebenso unbezwingbar, denn Frau neben Frau wacht in ihrem Haus, mit sorg­lich waltender Hand die Vorräte schützend. Vielleicht ist noch niemals die Frau so sehr Mitträgerin der Volksverteidigung gewesen, wie die deutsche es in dieser entscheidenden Zeit sein darf.“ Ida Boy-Ed: An Deutschlands Frauen. In: Die Woche 17 (1915), Nr. 5, S. 144 f.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Weltkrieges oder eine Auseinandersetzung mit der mög­lichen Kriegsschuld Deutschlands sind in Emmi Lewalds Texten jedoch nicht zu finden (Vgl. 4.2.4). Die bürger­liche Frauenbewegung in der Weimarer Republik  118 In der Zeit der Weimarer Republik wurde die bürger­liche Frauenbewegung mit „zunehmenden Differenzierungs- und Polarisierungstendenzen“119 im Dachverband BDF sowie in den angeschlossenen Vereinen konfrontiert. Die fortschreitende Spezialisierung der Berufsorganisationen, Fach- und Regionalverbände führte immer wieder zu Auseinandersetzungen über das Selbstverständnis und die Zielsetzung der Bewegung. Konnten der Kampf um das Frauenstimmrecht und die gemeinsame nationale Position für die Dauer des Weltkrieges interne Differenzen überdecken, kam es nach 1918 zu einer Erosion des BDF durch den Austritt mitgliederstarker Verbände.120 Die bürger­liche Frauenbewegung litt zudem unter Nachwuchsmangel, da die jüngere Frauengeneration ihre Vereine als überholte Institutionen betrachtete. Nachdem mit der Verankerung des Frauenwahlrechts in der Weimarer Verfassung eines der wichtigsten Ziele der Frauenbewegung erreicht worden war, wurden die staatsbürger­liche Schulung von Frauen, die Werbung von Berufspolitikerinnen und die überpartei­liche Frauenpolitik zu den vorrangigen Arbeitsgebieten des BDF. Zahlreiche Frauenrechtlerinnen, wie die Vorstandsmitglieder Marie-Elisabeth Lüders und Gertrud Bäumer (beide DDP), engagierten sich zudem in politischen Parteien wie der DDP, der DVP, der DNVP oder der SPD für Fraueninteressen.121 Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 endete im Zuge der „Gleichschaltung“ aller Vereine und Verbände das selbstständige Bestehen der deutschen Frauen­vereine. Der BDF löste sich, vor die Wahl zwischen dem Beitritt zur „Deutschen Frauenfront“ und der eigenen Auflösung gestellt, am 15. Mai 1933 auf.122 Der Deutsche Lyceum-Club Berlin wurde dem im Oktober 1933 geschaffenen „Deutschen Frauenwerk“ (DFW) angegliedert.123

118 Da die Geschichte der bürger­lichen Frauenbewegung in der Weimarer Republik noch nicht ausreichend untersucht ist, liegt bisher keine umfassende und abschließende Beurteilung ihrer Gestaltungs- und Einflussmög­lichkeiten vor. Vgl. zur Situation der bürger­lichen Frauenbewegung 1918 – 1933 Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848 – 1933, S.  97 – 122. 119 1921 gehörten dem BDF nach Angaben seines Jahrbuchs schätzungsweise 57 Verbände mit 3.778 Vereinen und 920.000 Mitglieder an. Bei dieser Angabe wurden Doppelzählungen durch Mehrfachmitgliedschaften jedoch nicht korrigiert. Ebd., S. 97, 99. 120 Bereits 1918 trat der Deutsch-Evangelische Frauenbund aus, 1922 der Verband der weib­lichen Handlungs- und Büroangestellten, 1932 der Reichsverband deutscher Hausfrauenvereine und der Reichsverband Landwirtschaft­licher Frauenvereine. Ebd., S. 105 f. 121 Vgl. ebd., S. 101. 122 Die am 10. Mai 1933 gegründete „Deutsche Frauenfront“ diente als Dachorganisation der Frauenbewegung im nationalsozialistischen Deutschland. Vgl. ebd., S. 117 ff. 123 Vgl. die Geschichte des Deutschen Lyceum-Clubs Berlin auf dessen Homepage http://www.lyceumclub-berlin.de/lyc_index.php (Zugriff am 06.01.2011) und Anja von Cysewski: NS -Frauenschaft.

75

76

Emmi Lewald

2.1.2 Emmi Lewalds biografische Stationen 2.1.2.1 Oldenburg  Emmi Lewald wurde am 5. Dezember 1866 in Oldenburg unter dem Namen ­Emilie Auguste Marie Jansen als zweite Tochter des oldenburgischen Staatsbeamten ­Günther Jansen (1831 – 1914) und seiner Frau Marie (1843 – 1928) geboren.124 Ihr Vater entstammte der angesehenen jeverländischen Beamtenfamilie von Berg, aus der bereits die Staatsminister Günther Heinrich (gest. 1843) und Karl von Berg (gest. 1894) hervorgegangen waren.125 Auch Günther Jansen gelangte bald nach seinem juris­ tischen Studium in Göttingen in den oldenburgischen Staatsdienst und gehörte seit 1864 in der Hof- und Privatkanzlei zu den engeren Mitarbeitern des Großherzogs Nikolaus Friedrich Peter. 1866 wechselte er ins Staatsministerium, wo er sich vom Ministerialreferenten bis 1880 zum Minister des Departements des Inneren und des Departements des großherzog­lichen Hauses und der äußeren Angelegenheiten hocharbeitete. Mit ­seiner Ernennung zum Vorsitzenden des Staatsministeriums 1890 erreichte Günther Jansen die heute vergleichbare Position eines Ministerpräsidenten und war somit im oldenburgischen Staat einer der bedeutendsten Entscheidungsträger neben dem Großherzog. Nach dem Ende seiner erfolgreichen Amtszeit übersiedelte ­Jansen Anfang 1901 mit seiner Familie von Oldenburg nach Weimar in das Haus der Familie Frommelt, wo er 1914 starb. Emmi Lewalds Mutter Marie Sophie Emilie Frommelt stammte aus Thüringen. Sie war die Tochter Moritz Theodor Frommelts, der als Pfarrer in Etzdorf und Rauda tätig war, und dessen Frau Emilie Wilhelmine Friederike, geborene Klein. Dass Emmi Lewald zu der Heimat ihrer Mutter ein besonderes persön­liches Verhältnis hatte und schon zu Oldenburger Zeiten mehrmals dorthin reiste, spiegelt sich in ihren Gedichten, Novellen und Romanen wider, in denen die Sagenwelt und geographische Besonderheiten der thüringischen Länder mehrfach verarbeitet sind. Emmi Lewald wuchs mit ihren Geschwistern Sophie (1865 – 1945), Marie (1869 – 1947) und Gerhard Franz Karl (1872 – 1954)126 in ihrem Geburtshaus in der früheren ­Roonstrasse 3 In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Hg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß. Stuttgart 1997, S. 617 f. 124 Vgl. den grundlegenden Artikel zu Emmi Lewald von Peter Haupt in: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Oldenburg 1992, S.  420 f. 125 Vgl. zu Günther Jansens Biografie Hans Friedl: Gerhard Friedrich Günther Jansen in: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, S. 346 ff.; Harald Schieckel: Familiengeschicht­liche und autobiographische Aufzeichnungen des oldenburgischen Ministers Günther Jansen (1831 – 1914). In: Oldenburgische Familienkunde 32 (1990), H. 2/3, S. 189 – 236. 126 Die älteste Tochter Sophie wurde 1865 geboren. Sie heiratete 1888 den großherzog­lich sachsenweimarischen Bezirkskommissar und späteren Geheimen Regierungsrat Konstantin von Goeckel in Neustadt/Orla. Ihre 1890 geborene Tochter Emmi von Goeckel heiratete Karl Dedo von Krosigk.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

auf.127 Obwohl die Familie die evangelische Konfession besaß, lassen sich weder in den familiengeschicht­lichen noch in anderen Quellen Hinweise auf eine religiöse Lebensform der Autorin finden. Über den Bildungsweg der Emmi Lewald ist wenig bekannt, da weder sie noch ihre Schwestern Sophie und Marie die Cäcilienschule besuchten, welche im 19. Jahrhundert die einzige Schule für höhere Töchter in der Stadt Oldenburg war.128 Einige Hinweise auf ihre Kindheit und Jugend finden sich in Briefen, die Günther ­Jansen während seiner Reisen im Dienste des Großherzogs Nikolaus Friedrich Peter und während seiner Aufenthalte am Hof von Eutin zwischen 1865 und 1885 an seine Frau Marie schrieb.129 Aus ihnen geht hervor, dass Emmi Lewald und ihre Schwestern täg­ lich Schreibübungen, sogenannte „Tagesberichte“ anfertigten, Französisch lernten und Zeichen­unterricht bei einer Lehrerin mit Namen Fräulein Sabborth erhielten. Es ist daher wahrschein­lich, dass die Jansen-Mädchen Privatunterricht erhielten und zeitweise in Pensionaten untergebracht waren. Ferner wird eine Sprachreise der 15-jährigen Emmi und ihrer Schwester nach Frankreich erwähnt, wo sich die beiden einige Zeit in Metz aufhielten, um ihre Französischkenntnisse zu verbessern. Die Korrespondenz der Eltern gibt weiterhin Einblicke in die Teilnahme der Jansens an Landpartien in der Umgebung von Oldenburg sowie Familienreisen, etwa einen Besuch bei den Großeltern in Stadtroda im Herzogtum Sachsen-Altenburg in Thüringen 130. Die jähr­lichen Sommerreisen führten die Familie höchstwahrschein­lich in die Kurbäder verschiedener Nordseeinseln. Sicher ist, dass die Veröffent­lichung der Charakterstudien Unsre lieben Lieutenants 1888 den Beginn von Emmi Lewalds schriftstellerischer Karriere und den Endpunkt ihrer beschau­lichen Oldenburger Jugend markierte. Nach der Enthüllung des Pseudo­ nyms sah sie sich im Rahmen des gesellschaft­lichen Skandals Anfeindungen gegen ihre Person ausgesetzt und ging nach eigenen Angaben „ein paar Monate fort“131. Wohin Emmi Lewald in dieser Zeit reiste, ist nicht bekannt. Bis zu ihrer Hochzeit 1896 unternahm sie jedoch mehrere Reisen innerhalb Deutschlands und ins Ausland, wovon der Aufenthalt im nörd­lichen Teil Italiens als einziger dokumentiert ist in der Marie Jansen wurde 1869 geboren, blieb unverheiratet und lebte gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Gerhard Franz Karl Jansen in Oldenburg. Der Sohn Gerhard Heino Günther verstarb nach wenigen Monaten 1868. Vgl. Harald Schieckel: Hauch einer kleinen Residenz (Erinnerungen von Benno Eide Siebs an Gerhard Jansen, 1872 – 1954, Sohn des oldenburgischen Ministers Günther Jansen). In: Oldenburger Jahrbuch 88 (1988), S. 29 – 41, hier S. 31. 127 Das Gebäude hat heute die Adresse Roonstraße 5. 128 Vgl. die Berichte über die Cäcilienschule zu Oldenburg, welche mit der Neueröffnung der Schule 1867 beginnen und jähr­lich alle Schülerinnen mit Name und Klasse aufführen. Karl Wöbcken: Berichte über die Cäcilienschule zu Oldenburg. 1873 ff. 129 Briefe von Günther Jansen an seine Frau Marie von 1865 – 1885. NLA -Sta  OL-, Best. 270 – 29 Nr. 3. 130 Emmi Lewalds Großmutter mütter­licherseits, Emilie Frommelt, geborene Klein lebte in Stadtroda. Ihre Aufenthalte in Bebra und Roda 1885 werden in Günther Jansens Briefen an seine Frau Marie erwähnt. Vgl. Günther Jansen an seine Frau am 10. und 12.5. 1885. 131 Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 21.

77

78

Emmi Lewald

Veröffent­lichung Italienische Landschaftsbilder (1897). Neben diesen Reiseskizzen, die in den Jahren 1895/96 entstanden und zunächst in verschiedenen Zeitungen erschienen, veröffent­lichte die Schriftstellerin während der Oldenburger Zeit noch mehrere Gedicht- und Novellenbände sowie Romane. Ihr Ruf als respektable bürger­liche Tochter und gern gelesene Schriftstellerin dürfte daher durch das aufsehenerregende Leutnantsbuch nicht wesent­lich beschädigt worden sein. Außerdem war Günther ­Jansen offensicht­lich bereit, den Ehrgeiz und die Wünsche seiner Tochter zu unterstützen, da die junge Bürgerstochter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne die väter­ liche Erlaubnis schwer­lich Reisen unternehmen und in geschäft­liche Verbindung mit einem Verlag treten konnte. Kurz nach der Publikation des Romans Das Glück der Hammerfelds (1900) im Berliner Hillger-Verlag 132 versieht Emmi Lewald ein vermut­lich für die Rezension bestimmtes Exemplar mit einer kurzen schrift­lichen Widmung, die einen Abriss ihres schriftstellerischen Werdegangs enthält. Rückblickend schreibt sie über Oldenburg: Ich habe den größten Theil meines Lebens in meiner Heimatstadt Oldenburg verbracht, bin viel in Deutschland und ins Ausland gereist – mit besonderer Neigung in Italien – und habe dann rückkehrend stets dankbar empfunden, wie geeignet die Stelle einer kleinen, norddeutschen, etwas vom großen Verkehr abliegenden Residenz für ruhiges Schaffen und Gestalten ist.133

2.1.2.2 Berlin Obwohl genauere Umstände unbekannt sind, lernte Emmi Lewald im Zusammenhang mit dem Leutnantsbuch ihren späteren Mann Felix Lewald (1855 – 1914) kennen, einen Neffen der 1888 verstorbenen Schriftstellerin Fanny Lewald-Stahr. Felix Lewald war in Berlin geboren worden und hatte dort nach dem Studium der Natur-, Rechts- und Staatswissenschaften eine Karriere im preußischen Staatsdienst begonnen.134 Von 1886 bis 1890 war er als Gerichtsassessor im Justizministerium beschäftigt gewesen, 1891 zum Regierungsrat ernannt und 1894 von Minister Miquel ins Finanzministerium berufen worden, um an der Umsetzung der Miquelschen Steuerreform mitzuwirken.135 1896 132 Nach Emmi Lewalds Angaben in dem Rezensionsexemplar entstand der Roman in Oldenburg um 1891. Vgl. das in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig unter der Signatur SA 102 – 216 [SA 102 (1914.631)] verwahrte Rezensionsexemplar von 1900. 133 Ebd. 134 Vgl. zur Biografie von Felix Lewald: Deutsches Zeitgenossen-Lexikon. Biographisches Handbuch deutscher Männer und Frauen der Gegenwart. Hg. von Franz Neubert. Leipzig 1905, Sp. 868 f.; Deutsches Biographisches Jahrbuch. Überleitungsband I: 1914 – 1916. Totenliste 1914, S. 335. 135 Die „Miquelsche Steuerreform“ bezeichnete die Entwicklung eines revolutionären Steuersystems unter Leitung des preußischen Finanzministers Johannes von Miquel (1828 – 1901). Miquel war von 1890 bis 1901 im Amt.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

wurde Lewald zum Geheimen Finanzrat und vortragenden Rat im Finanzministerium ernannt, 1900 schließ­lich zum Geheimen Oberfinanzrat. Felix Lewald betätigte sich neben dem Staatsdienst als Autor und veröffent­lichte Aufsätze staatsrecht­lichen Inhalts in Fachzeitschriften. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, Otto Günther Lewald, geboren 1901 und verstorben bereits 1944 in London.136 Für oldenburgische Verhältnisse, nach denen ein Mädchen mit 25 Jahren bereits als „spätes Mädchen“ und mit 30 Jahren als alt betrachtet wurde, erfüllte Emmi Lewald die zeitgenössischen Erwartungen an sie als Frau und Mutter ungewöhn­lich spät: Sie heiratete mit 29 Jahren und brachte ihr einziges Kind im Alter von 35 Jahren zur Welt. Nach ihrer Hochzeit am 17. August 1896 übersiedelte Emmi Lewald nach Berlin, wo sie weiter produktiv als Schriftstellerin tätig war und sich schnell in den Berliner Gesellschaftskreisen etablierte.137 Die Lewalds bezogen das Haus Ansbacher Straße 5 in unmittelbarer Nähe des Wittenbergplatzes, dem ruhig-vornehmen Wohngebiet des gehobenen Bürgertums der Stadt, in dem Emmi Lewald auch den Ehrgeizling Dr. Arthur Keyser in ihrer Novelle Cunctator (1895) wohnen lässt, weil es zu dessen verwöhntem und phlegmatischem Charakter passt: „Er wohnte selbstredend in W., in einer jener stillvornehmen Straßen, die neben den Hauptrouten einsam hergehen und sich zu diesen verhalten, wie etwa schlafende Menschen zu hysterischen“ (KdZ 82).138 In Berlin baute Emmi Lewald mit großem Engagement ihre bestehenden Beziehungen zu einem weitgespannten Netzwerk aus Kontakten zu Schriftstellern, Herausgebern, Redakteuren, Wissenschaftlern und Frauenrechtlerinnen aus. Die vielfältigen, durch Korrespondenz und gesellschaft­lichen Verkehr gepflegten Beziehungen halfen nicht nur, den gesellschaft­lichen Status des Ehepaares Lewald in der Berliner Gesellschaft zu konsolidieren, sondern nützten Emmi Lewald auch bei ihrer Arbeit als Berufsschriftstellerin. Ihre initiativen Anfragen an bekannte zeitgenössische Autoren wie Ernst von Wildenbruch (1845 – 1909) und Paul Heyse, sowie an den Herausgeber der renommierten Literaturzeitschrift „Deutsche Rundschau“, Julius Rodenberg (1831 – 1914), die sie auch um Kritik an ihren eigenen literarischen Arbeiten bat, zeugen von großem Selbstbewusstsein

136 Emmi Lewalds Sohn Otto Günther Lewald (1901 – 1944) studierte Jura mit dem Abschluss Dr. jur. Nach münd­licher Auskunft von Helga Krosigk (Murnau) am 27.11.2007 emigrierte er nach Großbritannien und heiratete dort 1936 Eve Althaus, eine entfernte Cousine. Otto Lewald arbeitete als Deutschlehrer und Lektor für deutsche Literatur beim britischen Rundfunk und starb im Mai 1944 während eines Fliegerbombenangriffs auf London. 137 Emmi Lewald lebte bis zum Tod ihres Mannes in der Ansbacher Straße 5 und seit April 1915 in der Margaretenstraße 13 in Wilmersdorf. Spätestens 1930 zog sie in das Haus Zähringerstrasse 4 in Wilmersdorf, wo sie auch noch 1937/38 lebte. Vgl. Kürschner’s Deutscher Literaturkalender. Hg. von Joseph Kürschner. Stuttgart 1896 ff. Lewald wird bis 1938, jedoch nicht durchgängig erwähnt. 138 Das Haus Ansbacher Str. 5 existiert heute nicht mehr. Eine Recherche in der historischen Berliner Einwohnermeldekartei (EMK) von 1875 – 1960 des Landesarchivs Berlin blieb erfolglos. Die Melde­ kartei ist aufgrund von Kriegs- und Nachkriegsverlusten nur lückenhaft überliefert.

79

80

Emmi Lewald

und bildungsbürger­lichem Selbstverständnis.139 In den Berliner Jahren ab 1896 pflegten die Lewalds mit den Ehepaaren Wildenbruch und Rodenberg regelmäßig gesellschaft­ lichen Umgang; ein Brief der Schriftstellerin an Ernst von Wildenbruch aus dem Jahr 1905 dokumentiert beispielsweise ihre Teilnahme an einem literarischen Abend im Haus der Rodenbergs, an dem eine Werklesung von Wildenbruchs stattfand.140 Mit Justina Rodenberg und Marie von Wildenbruch verband Emmi Lewald darüber hinaus das frauenrechtlerische Engagement und die Mitgliedschaft im „Deutschen Lyceum-Club“ (s. u.). Von den zahlreichen Kontakten der Schriftstellerin Emmi Lewald, die durch ihre Publikationen und durch ihre Vereinstätigkeiten bald eine recht bekannte Person des kulturell-geselligen Berliner Lebens wurde, lassen sich nur wenige so eindeutig wie die genannten durch Quellen belegen, der Kontakt zu dem Berliner Historiker Kurt ­Breysig (1866 – 1940)141 etwa, die Freundschaft mit der Schriftstellerin Lulu von Strauß und Torney (1873 – 1956)142 und der Konzertpianistin Marie Petersen.143 Ein Großteil von Emmi Lewalds gesellschaft­licher und beruf­licher Vernetzung vollzog sich in Berlin über ihr Engagement in den der bürger­lichen Frauenbewegung nahestehenden Klubs und Vereinen. Als Mitglied des Deutschen Lyceum-Clubs, des Deutschen Frauenklubs und des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin stand die Autorin nach 1900 in einem Kreis engagierter und berufstätiger Frauen, der sich aus Kunstschaffenden ebenso wie aus Aktivistinnen der bürger­lichen Frauenbewegung und einflussreichen Berliner Gesellschaftsdamen zusammensetzte. Die Mitgliedschaft in den Frauenklubs und Vereinen bot Emmi Lewald Zugang zu 139 Aus der Korrespondenz mit Julius Rodenberg ist ledig­lich Emmi Lewalds Antwortschreiben vom 29. Januar 1899 erhalten, in dem sie ihren Dank für dessen schnelle Beantwortung ihrer Anfrage zum Ausdruck bringt. Da Rodenberg ihr offensicht­lich einige seiner Kritikpunkte an der eingesandten Arbeit mitteilte, bringt Emmi Lewald ihren Willen zum Ausdruck, diese noch einmal umzuarbeiten. Vgl. den Brief von Emmi Lewald an Julius Rodenberg am 29. Januar 1899, GSA 81/ XVII,3,19. Zu der Anfrage an Ernst von Wildenbruch siehe Kap. 2.2.2.2 zu der Etablierungsphase der Autorin in Berlin, zu dem Austausch mit Paul Heyse über die Novellenform Kap. 4.1.2.2. 140 Es handelte sich wahrschein­lich um Verse, die von Wildenbruch anläss­lich des 100. Todestages Friedrich Schillers am 9. Mai 1905 verfasst hatte. Brief von Emmi Lewald an Ernst von ­Wildenbruch am 10. Mai 1905, GSA 94/213,16. 141 Vgl. Brief von Emmi Lewald (Weimar) an Kurt Breysig am 28. Juli (o. J), Nachlass Breysig. 142 In einem Brief vom 2. Februar 1902 versucht Emmi Lewald, ihre Freundin Lulu von Strauß und Torney von einer Rückkehr in die intellektuellen Kreise Berlins zu überzeugen, da diese sich anscheinend mit ihrem Aufenthalt in München unzufrieden gezeigt hatte. Brief von Emmi Lewald an Lulu von Strauß und Torney-Diederichs am 2. Februar 1902, DLM, A:Diederichs. 143 Die Konzertpianistin und Dozentin an der Musikhochschule Marie Petersen war die Tochter eines Hamburger Bürgermeisters, mög­licherweise von Carl Friedrich Petersen (1809 – 1892). Sie führte in Berlin-Charlottenburg (Insterburger Allee 29) einen großen Haushalt, in dem Felix Lewalds Bruder Theodor Lewald seine letzten Lebensjahre verbrachte. Marie Petersen übergab der Familie Emmi Lewalds nach deren Tod einen Teil ihres Nachlasses. Dies teilte Helga Krosigk der Oldenburgischen Landschaft in einem Schreiben vom 18.10.2000 mit.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

öffent­lichen Räumen, wo sie sich mit gleichgesinnten Frauen ihrer Gesellschaftsschicht dauerhaft über die schriftstellerische Arbeit und die Position der Frau im Arbeits­ leben austauschen konnte. Da die Grenzen zwischen persön­lichen und geschäft­lichen Interessen und Beziehungen in der Vereinsgeselligkeit der Frauenklubs offensicht­lich fließend waren, zahlte sich das Engagement für Emmi Lewald auch in beruf­licher Hinsicht aus. In den Klubs konnte sie sich nicht nur mit anderen Autorinnen über literarische Themen austauschen, sondern auch ihre Beziehungen zu Journalistinnen, Redakteurinnen und den Ehefrauen wichtiger Herausgeber pflegen, die den Zugang zu potenziellen Publikations- und Rezensionsmög­lichkeiten bedeuten konnten. Ebenso wie Emmi Lewald besaßen viele dieser Frauen die Mitgliedschaft mehrerer geselliger Klubs und Berufsorganisationen zugleich, sodass sie auf vielfältige Kontakte eines weitverzweigten Netzwerks zurückgreifen und dieses als soziales Kapital strategisch einsetzen konnten. Diese Art persön­licher Beziehungen und Unterstützungsnetzwerke gehörten zu den wichtigsten Ressourcen der ersten Frauenbewegung, besaßen jedoch auch für die strategische Berufsarbeit der Autorin eine große Bedeutung.144 Die Gruppe der Frauen, die den Ideen der bürger­lichen Frauenbewegung und ihrer Vereinsgeselligkeit nahestand, stellte nicht zuletzt für die Geschäftsfrau Emmi Lewald einen außerordent­lich wichtigen Adressatenkreis und einen bedeutenden Kreis kaufkräftiger Kunden dar. Ihr Lesepublikum unter den engagierten Frauen erreichte sie, indem sie ihre Werke den Klubbibliotheken stiftete und für öffent­liche Lesungen ihrer Prosatexte im Rahmen von Veranstaltungsprogrammen sorgte (s. u.). In den Organen der Frauenbewegungspresse „Die Frau“ und „Deutscher Lyceum-Club“ fand Lewald zudem wirksame Publikationsplattformen für ihre literarischen Werke und eine zuverlässige Verdienstquelle. Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin 145 Emmi Lewald war zwischen 1900 und 1927 Mitglied des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin, eines Frauenberufsverbundes, der sich für die Belange und Interessen in der Kunst tätiger Frauen einsetzte. Der VdKKB war 1867 als Unterstützungsnetzwerk gegründet worden und wollte dem finanziellen Dilemma von Künstlerinnen sowie den schlechten Ausbildungsmög­lichkeiten für Frauen in dem Metier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entgegenwirken. Neben einer vereinseigenen Ausbildungsstätte wurden Fonds zur sozialen Absicherung in Not geratener Mitglieder geschaffen und Ausstellungen veranstaltet, um Frauen im Ber­ liner Kunstbetrieb zu etablieren.146 Neben den Künstlerinnen, zu denen auch bekannte 144 Vgl. Ulla Wischermann: Frauenbewegungen und Gegenöffent­lichkeiten um 1900. Netzwerke – Gegenöffent­lichkeiten – Protestinszenierungen. Königstein / Taunus 2003, S. 261 ff. 145 Die Zeichen- und Malschule des VdBBK zu Berlin befand sich in der Potsdamer Str. 39. Vgl. zum VdKKB Bussemer: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum, S.  219 – 223. 146 Vgl. ebd., S. 426 – 463.

81

82

Emmi Lewald

Persön­lichkeiten wie Käthe Kollwitz und Paula Modersohn-Becker gehörten, gab es unter den weib­lichen regulären Mitgliedern „Kunstfreundinnen“ wie Emmi Lewald, die in der Rolle von Mäzeninnen durch ihre hohen Mitgliederbeiträge die Belange des Vereins unterstützten.147 Die Funktion einer Kunstfreundin und ihr Verhältnis zu den Künstlerinnen trugen zu Lewalds Zeiten weniger den Charakter des ­klassischen Mäzenatentums, sondern waren Ausdruck der Solidarität in Ausbildungs- und Erwerbsfragen im Unterstützungsnetz der Frauenbewegung: Im 19. Jahrhundert wurden mäzenatische Aufgaben zunehmend von Privatpersonen übernommen, die als Kunstfreunde einem Kunst- oder Künstlerverein angehörten und gleichsam ein ‚kooperatives Mäzenatentum‘ ausübten. Die im VdBBK organisierte Kunstfreundin erteilte Aufträge, finanzierte Stipendien und vermittelte Käufer. Sie agierte weniger als Mäzen, der sich auf die Rolle des Auftraggebers in der Kunst beschränken läßt. Die Funktion der Kunstfreundin ist vielmehr als ein Beispiel für den Wandel des traditionellen fordernden Mäzenatentums in ein nur noch förderndes zu betrachten.148

Die Nähe des VdKKB zur bürger­lichen Frauenbewegung war neben seiner Verflechtung mit dem Deutschen Lyceum-Club und der Mitgliedschaft zahlreicher Frauenrechtlerinnen auch durch das Ziel der Vereinspolitik gegeben, für die Anerkennung und gesellschaft­liche Akzeptanz des Berufsstandes der Künstlerin zu kämpfen. Emmi Lewald gehörte zwischen 1905 und 1910 dem Vereinsvorstand an.149 Eine Bestätigung des Vereinsvorstandes durch den Berliner Polizeipräsidenten vom 5. Februar 1909 belegt zudem, dass Emmi Lewald seit April 1909 den Vereinsvorsitz als Nachfolgerin von Alma Lessing innehatte, während Marie von Keudell als stellvertretende Vorsitzende, Jenny Gronen als Kassenführerin und Helene Lobedan als Schriftführerin agierten.150 147 Paula Modersohn-Becker studierte 1896 – 1898 an der vereinseigenen Zeichen- und Malschule, bevor sie nach Worpswede übersiedelte, und Käthe Kollwitz lehrte an derselben Schule zwischen 1897 und 1903 Grafik und Zeichnen. 148 Die Kunstfreundinnen waren bis in das Jahr 1919 konstitutives Element des Vereins, danach ­konnten sie ihm nur noch als ‚außerordent­liche Mitglieder‘ angehören und sein Name wurde in „Verein der Künstlerinnen zu Berlin“ geändert. Susanne Jensen: „Wo sind die weib­lichen Mäzene…?“ Private Kunstförderung im „Verein der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“. In: Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen (Ausstellung 11. September bis 1. ­November 1992). Ausstellungskonzeption und Katalogredaktion Dietmann Fuhrmann, Carola Muysers. Berlin 1992, S. 299 – 310, S. 302 f. 149 Während die Chronik des Vereins von 1992 Emmi Lewald als Vereinsvorsitzende von 1909 – 1910 nennt, erwähnt das Deutsche Zeitgenossen-Lexikon von 1905 sie bereits als 1. Vorsitzende. Vgl. ebd., S. 436 und Deutsches Zeitgenossen-Lexikon, Sp. 868. Vgl. auch die Angabe zur Mitgliedschaft in: Käthe, Paula und der ganze Rest. Ein Nachschlagewerk. Hg. vom Verein der Berliner Künstlerinnen e. V., bearb. von Carola Muysers. Berlin 1992, S. 196. 150 Als Beisitzerinnen werden Liska Schroeder, Luise Begas-Parmentier, Ellen von Siemens, Johanna Kawerau und Marie Stüler genannt. Vgl. Bestätigung des Vereinsvorstandes durch den Berliner

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Wie aus einem Brief des Vereinsvorstandes an das König­liche Polizeipräsidium vom 27. September 1909 hervorgeht, konnte Emmi Lewald das Amt der Vereinsvorsitzenden jedoch aus gesundheit­lichen Gründen nur kurze Zeit ausüben und wurde bereits im September 1909 von Marie von Keudell abgelöst.151 Deutscher Lyceum-Club  152 In enger personeller Verbindung mit dem VdKKB stand der im Oktober 1905 nach Vorbild der englischen International Association of Lyceum-Clubs auf Initiative von Marie von Bunsen in Berlin gegründete Deutsche Lyceum-Club. Der Anspruch auf Internationalität wurde, wie an der „Internationalen Gruppe“ des Klubs erkennbar ist, auch weiter gepflegt, nachdem die Berliner Sektion sich 1907 aufgrund die Finanzen betreffender Differenzen formell von der britischen Mutterorganisation getrennt hatte. Der Klub verstand sich als „Vereinigung künstlerisch, wissenschaft­lich, journalistisch, literarisch und sozial tätiger Frauen“153, und die öffent­lich nachgewiesene, professionelle Ausübung eines Berufes war Voraussetzung für eine Aufnahme als ordent­liches Mitglied.154 Wenn die Frauen ledig­lich ein starkes Interesse oder die dilettierende Beschäftigung auf künstlerischem, geistigem oder sozialem Gebiet vorweisen ­konnten, wurden sie zu außerordent­lichen Mitgliedern ernannt. Diese Form der elitären Polizeipräsidenten, 5.2.1909. (Abb. 439) In: Fuhrmann, Muysers: Profession ohne Tradition, S. 402. Alma Lessing hatte den Vereinsvorsitz von 1897 bis 1909 inne und Emmi Lewalds Nachfolgerin Marie von Keudell von 1910 bis 1913, wohingegen Lewald nur ein Jahr amtierte. 151 In dem Schreiben teilt der Vorstand dem König­lichen Polizeipräsidium die Änderung mit: „Dem hohen Polizeipräsidium melden die ergebenst Unterzeichneten, daß in Folge von Krankheit und Schicksal in der Leitung der Zeichenschule des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen sich die Zusammensetzung des Vorstandes dieses Vereins geändert hat. Die Vorsitzende, Frau Geh. Ober-Finanzrat Emmi Lewald, geb. Jansen, so wie die Direktorin der Zeichen- und Malschule haben aus Gesundheitsrücksichten ihre Ämter niedergelegt.“ Brief des Vorstands des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin an das König­liche Polizeipräsidium, Abteilung II vom 27. Oktober 1909. 152 Der Lyceum-Club hatte seinen Sitz bis 1914 in der Potsdamer Straße 118b, später am Lützowplatz 8. 153 Zitiert aus § 1 der Satzung. Sabine Sander: Nur für geladene Gäste. Der „Deutsche Lyzeum-Club“. In: Bezirksamt Schöneberg, Kunstamt Schöneberg (Hg.): „Ich bin meine eigene Frauenbewegung“. Frauen-Ansichten aus der Geschichte einer Großstadt. Zur Ausstellung »In Bewegung – Frauen einer Großstadt im Haus am Kleistpark vom 21. 6.–8. 9. 1991. Berlin 1991, S. 52 – 57. S. 53. 154 Die Aufnahmebedingungen für ordent­liche Mitglieder des Klubs lauteten: „a. Frauen, die eine selbständige, grössere wissenschaft­liche oder literarische Arbeit oder eine musikalische Komposition in einem guten Verlage veröffent­licht haben oder ständige Mitarbeiterinnen an einer angesehenen Zeitschrift oder Zeitung sind, oder Werke bildender Kunst oder des Kunstgewerbes öffent­lich und zwar in den sogenannten grossen Ausstellungen ausgestellt haben. b. Frauen, die das akademische Studium entweder mit einer Promotion oder mit einer theologischen, philosophischen, juristischen, ärzt­lichen, zahnärzt­lichen usw. Staatsprüfung abgeschlossen haben. c. Frauen, welche öffent­lich anerkannte ausübende Künstlerinnen von Beruf sind oder als solche im musikalischen Lehrberuf stehen.“ DLC 11 (1915), Nr. 10, S. 214.

83

84

Emmi Lewald

Qualitätssicherung entsprach der Maxime der bürger­lichen Frauenbewegung, dass Frauen sich durch Erlangung der Bildungspatente des bestehenden Ausbildungssystems vor dem Verdacht des Dilettantismus schützen konnten. Die Grundidee des Lyceum-Clubs war es, einen Treffpunkt für berufstätige Frauen zu schaffen, einen Ort des Austauschs zwischen Kolleginnen derselben Fachgebiete, der Fortbildung und der geistreichen Unterhaltung. Für auswärtige Mitglieder des Klubs waren mehrere Logierzimmer eingerichtet und es standen ihnen neben täg­lichen Mahlzeiten aus der Klubküche eine Bibliothek sowie eine Reihe von Gesellschafts- und Veranstaltungsräumen zur Verfügung. Auch Männer durften die Empfangsräume des Klubs betreten und an den gesellschaft­lichen Veranstaltungen teilnehmen, wenn sie durch Mitglieder eingeführt worden waren. Organisatorisch war der Deutsche Lyceum-Club in einen Vorstand, einen Ausschuss zur Ergänzung des Vorstandes und eine Reihe von Gruppen und Kommissionen mit verschiedenen Fach- und Arbeitsgebieten unterteilt.155 Emmi Lewald war Gründungsmitglied des Lyceum-Clubs und gehörte der Vereinigung nach 1905 mindestens bis 1931 als Vorstandsmitglied an. Außerdem engagierte sie sich als Schriftstellerin und ordent­liches Mitglied in der literarischen Kommission und in der mit dem Klub in Verbindung stehenden Marie von Olfers-Stiftung.156 Die literarische Kommission ist in erster Linie bestrebt, den Kontakt herzustellen zwischen den auf literarischem Gebiete schaffenden Frauen und den Mitgliedern des „D. L. Cl.“ Durch die Vortragsabende, an denen ordent­liche Mitglieder, Dichterinnen und Schriftstellerinnen aus ihren Werken vortragen. Die Abende, an denen bedeutende Schriftsteller auf Einladung der Kommission aus eigenen Dichtungen vorlesen oder über ein literarisches Thema Vorträge halten, sollen das Interesse an der Literatur überhaupt pflegen. Den Sonderinteressen aufstrebender, jüngerer Schriftstellerinnen dienen die allmonat­ lich einmal stattfinden[den] anonym eingereichten Manuskript-Vorlesungen vor der litera­ rischen Gruppe mit anschliessender Kritik und Erörterung. – Zu den Veröffent­lichungen im Monatshefte der Club-Zeitung: Gedichte, Skizzen und Aufsätze liefert die Kommission, Beiträge von Mitgliedern der literarischen Gruppe.157

155 Im Jahr 1915 existierten folgende Kommissionen und Gruppen: Gesellschaft­liche Kommission, Journalistinnen-Kommission, Kunst-Kommission, Kunstgewerbe-Kommission, Literarische Kommission, Musik-Kommission, Soziale Kommission, Wirtschafts- und Haus-Kommission, Volkskunstabteilung, Nationale Gruppe und Internationale Gruppe. DLC 11 (1915), Nr. 10, S. 211 – 214. 156 Die Schriftstellerin und Malerin Marie von Olfers (1826 – 1924) führte seit 1891 in Berlin einen bekannten Salon. Die Marie von Olfers-Stiftung wurde 1906 „zur Prämierung künstlerisch wertvoller Kinder­ bücher gegründet“. Im darauffolgenden Jahr veranstaltete der Deutsche Lyceum-Club eine Ausstellung mit Marie von Olfers literarischen und kunstgewerb­lichen Arbeiten. Vgl. Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen. Berlin u. a. 2000, S. 350 – 353. 157 DLC 11 (1915), Nr. 10, S. 212.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Wie sich den Berichten des Vereinsorgans entnehmen lässt, übernahm Emmi Lewald Aufgaben bei der Organisation und Durchführung von Veranstaltung der literarischen Kommission. Im Jahr 1912 war sie beispielsweise 1. Vorsitzende der retrospektiven litera­ rischen Abteilung, die für die große Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ des Lyceum-Clubs eine literaturhistorische Porträtausstellung erarbeitete.158 Des Weiteren leitete sie Vortragsabende und Dichterlesungen, etwa von ihrer Freundin Lulu von Strauß und Torney (22. Oktober 1912) und Dora Riemann-Schlüter (14. März 1920), und trat als Preisrichterin bei literarischen Preisausschreiben in Erscheinung.159 Den Gepflogenheiten der literarischen Kommission folgend, spielten auch Emmi Lewalds eigene Werke im Lyceum-Club eine Rolle. Sie schenkte ihre Neuerscheinungen der Klubbibliothek und veröffent­lichte Gedichte in dem Mitteilungsblatt „Deutscher Lyceum-Club“. Dass ihre Texte im Rahmen von Klubveranstaltungen auch vorgelesen wurden, belegt ein Bericht über den literarischen Gesellschaftsabend der Kommission am 13. November 1913. Danach las Frl. Burckhardt, die begabte Schülerin Milans, eines der kleinen Kabinettstücke aus den „Heiratsfragen“ von Emmi Lewald. Die köst­liche Ironie und scharfe Beobachtungskunst dieser Skizzen sind bekannt und übten, mit Humor vorgetragen, ihre unwidersteh­ liche Wirkung aus. Leider war die Verfasserin durch eine Reise am persön­lichen Erscheinen verhindert. Beide Vortragenden ernteten lebhaften Beifall.160

Der Lyceum-Club war von deut­lich exklusiverem Charakter als der VdKKB, und die Mitgliederliste des Vorstandes und der Kommissionen von 1917 weist darauf hin, dass Emmi Lewald sich in Berlin wie auch in Oldenburg in den höchsten Gesellschaftskreisen bewegte.161 Für eine gewisse Exklusivität sorgten einerseits der hohe jähr­liche Mitgliedsbeitrag von 30 Mark und der Eintrittspreis von 10 Mark.162

158 Es handelt sich um die vom Deutschen Lyceum-Club vom 24. Februar bis zum 24. März 1912 in Berlin durchgeführte Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“. Die Ausstellung fand unter dem Protektorat der Kaiserin Auguste Viktoria statt. Vgl. das Programm zur Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“. Feb.–März 1912 in Berlin im Archiv der deutschen Frauenbewegung (Kassel), Sig. Arbeit ST-3; 14. 159 Vgl. das Preisausschreiben der Marie von Olfers-Stiftung („Postkarten für die Jugend“ nach ­Sprüchen von Marie von Olfers). DLC 15 (1919), Nr. 7/8, S. 2; Balladen-Preisausschreiben der Margarete ReckStiftung. DLC 15 (1919), Nr. 9, S. 3. 160 Es handelt sich um Emmi Lewalds 1906 bei der Deutschen Verlagsanstalt publizierten Gesellschaftsskizzen Die Heiratsfrage. Der unverstandene Mann, ein spätes Mädchen, der Salonphilosoph und andere Typen der Gesellschaft. DLC 9 (1913), Nr. 12, S. 461. Eine Lesung von Emmi Lewalds Texten durch Johanna Burckhardt fand auch bei dem Gesellschaftsabend der Kommission zum Saisonschluss am 6. Mai 1913 statt. Vgl. DLC 10 (1914), Nr. 7, S. 279. 161 Vgl. Organisation des deutschen Lyceum-Clubs 1917. In: DLC 13 (1917), Nr. 9, S. 2 ff. 162 Vgl. DLC 11 (1915), Nr. 10, S. 215.

85

86

Emmi Lewald

Die A ­ ufnahme eines Neumitglieds in den Lyzeum-Club war an ein persön­lich eingereichtes Gesuch in Verbindung mit Bürgschaften zweier bereits renommierter Klubmitglieder geknüpft, sodass sich die Neuzugänge ebenfalls aus der oberen Gesellschaftsschicht rekrutierten. Auf diese Weise konnten Mitglieder „nur solche Frauen werden, die eine angesehene Stellung im öffent­lichen Leben einnahmen oder anerkannte Leistungen aufwiesen“163. Aus diesem Grund liest sich die Liste der Mitglieder wie ein Who-is-Who der gehobenen Gesellschaft Berlins: ­Emilie Mosse, Mathilde Rathenau, Helene Harrasch, Ellen von Siemens, Elisabeth Förster-Nietzsche, Justina Rodenberg, Marie von Wildenbruch, Clara Sudermann, Giulietta von Mendelssohn sowie zahlreiche weitere Damen des Adels. Neben den Gesellschaftsgrößen gehörten dem Klub auch bekannte Vertreterinnen der bürger­ lichen Frauenbewegung wie ­Gertrud Bäumer, Helene Lange, Agnes Bluhm, Frida ­D uesing, Margarete Friedenthal und Alice Salomon an. Unter den Schriftstellerinnen der literarischen Kommission befanden sich unter anderem Emma Vely, Gabriele ­Reuter, Agnes Harder, Anselma Heine und Marie von Bülow.164 Im Mai 1912 hatte der Deutsche Lyceum-Club 1.076 Mitglieder.165 Die Verbindung des geselligen Lyceum-Clubs mit dem berufspraktischen VdKKB stellte ein bedeutendes Netzwerk dar, dessen personelle Überschneidungen von ­W ilhelmy-Dollinger dargestellt werden. Wie Emmi Lewald sind die Schriftleiterin des Vereinsorgans „Deutscher Lyceum-Club“ Else (Hilzheimer-) Schulhoff, als auch die Schriftführerin des Clubs, Luise Marelle, […] Kunstfreundinnen des Vereins gewesen. Die späte Berliner Salongesellschaft, der Künstlerinnenverein und der moderne Lyceum-Club trafen auch in der Person Ellen von Siemens’, welche die Funktion einer Ehrenvorsitzenden des Lyceum-Clubs und eines Vorstandsmitglieds des Berliner Künstlerinnenvereins in Personalunion ausübte, und in der Schriftstellerin Marie von Bunsen zusammen, die ihrerseits Mitglied des Künstlerinnenvereins war und als Vorstandsmitglied des Lyceum-Clubs ebenfalls für die Koordination der beiden Institutionen sorgte.166

Obwohl, so bemerkt Schröder, der Deutsche Lyceum-Club keine Vereinigung mit politischer oder sozialer Initiative war, stellte die Diskussion politischer, 163 Sander: Nur für geladene Gäste, S. 53. 164 Zur literarischen Kommission zählten neben den im Text genannten Autorinnen 1917 Gräfin M. [Margarete] von Bünau, Margarete Bruch, Margarete Danneel, Lotte Gubalke, Elisabeth Heinroth, Julia Jobst, Margarete Reck und Conradine Stinde. Vorsitzende waren Agnes Harder und Luise Marelle. Vgl. DLC 13 (1917), Nr. 9, S. 5. 165 DLC 8 (1912), Nr. 5, S. 339. 166 Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons und der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin. In: Fuhrmann, Muysers (Hg.): Profession ohne Tradition, S. 339 – 352. S. 348.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

gesellschaft­licher und sozialer Themen stets einen Programmschwerpunkt dar. Die Mitgliedschaft wichtiger Aktivistinnen der Frauenbewegung führte außerdem dazu, „daß der Verein zunächst vor allem zu einem internen Forum für frauenpoli­ tische Belange wurde.“167 Illustrierend soll hier der Erinnerungsbericht des Vorstandsmitgliedes Johanna ­Liebenow erwähnt werden, die nach 1918 ehrenamt­lich als Bibliothekarin des Deutschen Lyceum-Clubs tätig war und ihre persön­liche Sicht auf das Miteinander der im Klub versammelten Gesellschaftsdamen aufschrieb. Durch Minna Cauer und deren Freundin, Frau von Witt, welche die Patenschaft übernommen hatte, war ich als Mitglied im Deutschen Lyceumclub aufgenommen worden. Man hatte mir das gerade unbesetzte Ehrenamt als Bibliothekarin übertragen, und mich alsbald in den Vorstand gewählt. Die Frauen, die dort eine Rolle spielten, waren Hedwig Heyl, Ellen von Siemens, Marie von Bunsen, Else Schulhoff, Luise Marelle, außerdem waren noch im Vorstand Clara Mende, sowie die Schriftstellerinnen Emmi Lewald, Anselma Heine, ebenso Agnes Harder und Margarethe Friedenthal. Die Mitglieder waren meist Frauen, die in der literarischen Welt einen Namen hatten, neben der amüsanten Josefa Metz eine Reihe von Duodezgrößen. Die Frauen im Lyceumclub standen der Frauen­ bewegung nicht fern, einige waren eifrig in ihr tätig, doch bei den meisten von ihnen war der Geltungstrieb vorherrschend. Es war ein Eitelkeitsmarkt in Reinkultur, wie ich ihn nie wieder erlebte.168

Am Tag der Mobilmachung 1914 fand im Lyceum-Club die beschlussfassende Sitzung für die Einrichtung des Nationalen Frauendienstes statt, der von Gertrud ­Bäumer, Helene Lange, Dr. Lüders und Hedwig Heyl organisiert werden sollte.169 Im neuen Klubhaus am Lützowplatz im Westen Berlins wurden während der Kriegszeit Stricknachmittage und -abende veranstaltet, darüber hinaus wurden in der Klubküche Lebensmittel hergestellt.170 167 Iris Schröder: Der „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin und die Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg 1867 – 1914. In: Fuhrmann, Muysers (Hg.): Profession ohne Tradition, S. 375 – 381, S. 378. 168 Über Emmi Lewald bemerkt Johanna Liebenow des Weiteren in ihrem Bericht: „Unter den Schriftstellerinnen ist mir Emmi Lewald, die stets sehr vornehm wirkte, in besonders sym­ pathischer Erinnerung geblieben.“ Der Bericht wurde nach 1945 auf Wunsch des Berliner Frauen­bundes 1945 e. V. für das Archiv aufgeschrieben und wird im Landesarchiv Berlin verwahrt. Sabine Sander: Kein einig Volk von Schwestern. In: Bezirksamt Schöneberg, Kunstamt Schöneberg (Hg.): „Ich bin meine eigene Frauenbewegung“. Frauen-Ansichten aus der Geschichte einer Großstadt. [Zur Ausstellung »In Bewegung – Frauen einer Großstadt im Haus am Kleistpark vom 21. 6. – 8. 9. 1991] Berlin 1991, S. 64 – 69. S. 67. 169 Vgl. DLC 10 (1914), Nr. 9, S. 339. 170 Vgl. DLC 11 (1915), Nr. 1, S. 7.

87

88

Emmi Lewald

Deutscher Frauenklub in Berlin Der Deutsche Frauenklub wurde 1888 auf Initiative von Frau von Witt, einer engen Mitarbeiterin Minna Cauers, gegründet und war in der preußischen Hauptstadt der erste seiner Art.171 Das vornehme Klubhaus befand sich in der Schadowstrasse 10172 und war täg­lich von neun Uhr bis ein Uhr nachts geöffnet. Männer blieben vom Klubleben grundsätz­lich ausgeschlossen. Wie im Fall des Deutschen Lyceum-Clubs deuten der hohe Mitgliedsbeitrag von 25 Mark im Jahr und das Eintrittsgeld von 20 Mark auf einen exklusiven Charakter des Klubs hin, dessen Publikum vornehm­lich aus Damen der reichen Gesellschaftskreise bestand. Der Deutsche Frauenklub zählte 1906 ungefähr 400 Mitglieder.173 Den ersten Vorsitz hatte Maria von Leyden inne, die 1931 in einem Rückblick die Motivation für die Gründung der Vereinigung beschreibt: Mein Leitgedanke bei diesem Unternehmen war, einen neutralen Boden zu schaffen, auf dem die Frauen der verschiedensten Kreise und der verschiedensten Anschauungen sich treffen sollten, um füreinander Verständnis zu gewinnen und Vorurteile zu beseitigen, denn damals waren die Salons der ‚Dame‘ den kämpfenden Frauen verschlossen, und die aus der Enge herausstrebende ‚Frau‘ blickte mit Nichtachtung auf die nur den häus­lichen und geselligen Pf­lichten lebende ‚Dame‘ herab.174

Das wichtigste Anliegen des Klubs war die gesellige Begegnung und der Austausch, außerdem lagen für die Mitglieder verschiedene Tageszeitungen aus und ausländische Studentinnen der Universität konnten dort Mahlzeiten bestellen.175 Die Mittwochabende waren literarischen, musikalischen und wissenschaft­lichen Vorträgen gewidmet. „Als besonders beliebte Spenden“, so konstatierte die Journalistin Anna Michaelson, selbst Mitglied des Frauenklubs, in einem ihrer Artikel, galten „Vorlesungen neuer litterarischer Schöpfungen durch gefeierte Bühnengrössen und Schriftstellerinnen“.176 Überhaupt besuchten den Klub viele „Kolleginnen von der Feder“, was Michaelson mit der Beschreibung einer charakteristischen Szene aus dem Klubleben zu untermalen sucht: 171 Vgl. Maria von Leyden: Klubs und Klubhäuser. In: Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau des XX. Jahrhunderts. Hg. von Ada Schmidt-Beil. Berlin 1931, S. 504 – 506. 172 Das 1906 veröffent­lichte Handbuch Die deutsche Frau im Beruf nennt als Adresse des Deutschen Frauenklubs Berlin Kurfürstenstraße 124. Darüber hinaus ist im Unterschied zu der Angabe Maria von Leydens 1898 als Gründungsjahr angegeben. Josephine Levy-Rathenau / Lisbeth Wilbrandt: Die deutsche Frau im Beruf. Praktische Ratschläge zur Berufswahl. Berlin 1906 (= Handbuch der Frauen­ bewegung 5), S. 273. 173 Vgl. Levy-Rathenau / Wilbrandt: Die deutsche Frau im Beruf, S. 273. 174 Leyden: Klubs und Klubhäuser, S. 505. 175 Vgl. Jarno Jessen (d. i. Anna Michaelson): Im Berliner Deutschen Frauen-Klub. In: Moderne Kunst. Illustrierte Zeitschrift 13 (1899), Vierzehntagsheft-Ausgabe, H. 21, S. 340 – 342, S. 341. 176 Ebd.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Da schlüpft die holdselige junge Geheimrätin Lewald (Emil Roland) zu der klugdreinschauenden, statt­lich schreitenden Gräfin Bethusy-Huc (Moritz von Reichenbach), um sie an das Kanapee zu führen, in dessen Velvetkissen sich die träumerisch blickende Anselma Heine schmiegt. Man hat soeben die ersten Begrüßungsfloskeln ausgetauscht, als eine neue fesselnde Erscheinung in seidenrauschender Toilette die Gruppe erweitert. Ein wenig verwundert schaut man auf sie. – Die Visitenkarte ‚Hans von Kahlenberg‘ wird abgegeben! – Ein freudiges ‚Ah‘ von allen Lippen. Ja, hier steht der neuaufgehende Stern, – Helene von Montbart. Diese jugend­liche pikante Schönheit, das ist das starke Talent, – die force majeure.177

Neben den Schriftstellerinnen begegneten sich im Deutschen Frauenklub bedeutende Persön­lichkeiten der Frauenbewegung und et­liche ihrer Sympathisantinnen: Minna Cauer, die Vorsitzende des fortschritt­lichen Vereins Frauenwohl, Hedwig Dohm, die Kunstmäzenin Alma Lessing, Fräulein von Egidy, Dr. Agnes Bluhm, die Malerin Luise Begas-Parmentier, die Malerin Sabine Lepsius, Dr. Hildegard Ziegler, Dr. Elsa Neumann, Luise Dumont, die Geheimrätin Ottilie von Hansemann und Elisabeth Gnauck-Kühne. Die Nähe zur Frauenbewegung wird auch von Anna Michaelson betont, denn sie schreibt: Hier sucht das Gros der Teilnehmerinnen Gedankenaustausch, Anregung, Belehrung. ­Dieser fortschritt­liche Zeitgeist hat bereits bis in die Spitzen des Klubs, bis in den Vorstand ­hinein, wirkungsvoll ausgestrahlt. Heut sieht man die eleganten Gründerinnen häufig genug in ernstem Gedankenaustausch mit den Führerinnen der Frauenbewegung.178

Exkurs I: Conrad Kiesels Porträt der Emmi Lewald (1910) Ein von dem Maler Conrad Kiesel (1846 – 1921) im Jahr 1909 geschaffenes repräsentatives Gemälde zeugt in besonderem Maß von dem großbürger­lichen Selbstverständnis der Emmi Lewald, die sich zur Zeit der Fertigstellung des Bildes auf dem Höhepunkt ihres gesellschaft­lichen Ansehens und ihrer literarischen Karriere befand. Als wenige Jahre später die große historische Zäsur des Ersten Weltkrieges zu massiven Umbrüchen in der Gesellschaftsordnung und dem Kulturbetrieb des deutschen Kaiser­reichs führte, gehörte die auf Kiesels Porträt zum Ausdruck gebrachte privilegierte und selbstbewusste Position der Autorin bald der Vergangenheit an. Im Frühjahr 1909 berichtete der Berliner Maler Conrad Kiesel in einem Gespräch mit Emmi Lewalds Schwager Theodor Lewald von seinem Anliegen, ein Porträt der Autorin zu schaffen. Theodor Lewald berichtete daraufhin seiner Schwägerin von Kiesels Vorschlag und meldete dem Künstler in einem Brief vom 9. März 1909,

177 Ebd., S. 342. 178 Ebd., S. 340.

89

90

Emmi Lewald

1  Konrad Kiesels Porträt der Emmi Lewald (1910)

Eine bildungsbürger­liche Biografie

diese habe erst kürz­lich bei einer Ausstellungseröffnung dessen Damenporträts bewundert und würde ihm „mit Vergnügen sitzen“.179 Conrad Kiesel war um 1900 ein bekannter Porträtmaler der Berliner Gesellschaft, dessen Gemälde zu besitzen im großstädtischen Berliner Bürgertum bereits Ausdruck von Wohlhabenheit und erlesenem Geschmack war. Schon in ihrem Roman Sein Ich (1896) lässt Emmi Lewald ihren Protagonisten Leo ein Gemälde von Kiesel im luxuriös ausgestatteten Berliner Salon seiner verwöhnten Bekannten Lili bewundern: „Elegantes, indifferentes Hotelzimmer – Stiche mit Tierszenen an der Wand – eine Schönheit von Kiesel – und ein Sichelsches Kniestück: Italienerin mit sehr langem Unterkörper“ (SI 126). Der in Düsseldorf geborene Genremaler Conrad Kiesel hatte zunächst an der Berliner Bauakademie Architektur studiert und ließ sich in Fritz Schapers Atelier zum Bildhauer ausbilden. Nach einer Hollandreise wandte er sich der Malerei zu und ging zunächst bei Fritz Paulsen in Berlin in die Lehre, bevor er an der Kunstakademie Düsseldorf ein Schüler Wilhelm Sohns wurde.180 Ab 1885 etablierte Kiesel sich als freischaffender Maler in Berlin, wo seine Werke regelmäßig in der Kunstakademie und auf den Großen Berliner Kunstausstellungen gezeigt und vielfach ausgezeichnet wurden. Zu seinen bekanntesten Werken des Salongenres gehören unter anderem Mutter mit Kind, Dame mit Tauben und Mandolinata. 1886 wurde Kiesel der Titel eines könig­lichen Professors an der Berliner Akademie verliehen. Um die Jahrhundertwende wandte sich der Künstler dann fast ausschließ­lich der Bildnismalerei zu, die er in derselben Richtung mit starker Betonung des Stoff­lichen und mit seinem Sinn für blendende Anordnung mit großem Erfolg betrieb. Er ist vorzugsweise der Maler der Damen aus der Aristokratie und hohen Finanzwelt, deren Toiletten er immer in ein günstiges ­licht zu stellen weiß.181

Kiesels Werke wurden für das Genre des Gesellschaftsporträts Ende des 19. Jahrhunderts repräsentativ, das er als „der wohl beste Porträtmaler jener Jahrzehnte“182 vertrat. Neben Emmi Lewald porträtierte er aus den finanzkräftigen bürger­lichen und adeligen Gesellschaftskreisen unter anderem den Sohn von Hedwig Heyl, Otto Heyl, und dessen Frau sowie die Kaiserin Auguste Viktoria, für deren Bildnis er 1889 die kleine 179 Brief von Theodor Lewald an Conrad Kiesel am 9. März 1909, Kiesel Papers (M0407), Special Coll. Stanford University Libraries. Die Angaben gelten für alle im Verlauf des Abschnitts zitierten Briefe der Korrespondenz. 180 Hermann Alexander Müller: Biographisches Künstler-Lexikon der Gegenwart. Die bekanntesten Zeitgenossen auf dem Gesamtgebiet der bildenden Künste aller Länder mit Angabe ihrer Werke. Leipzig 1882, S. 298. 181 Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 10. 6. Aufl. Leipzig 1907, S. 893. 182 Irmgard Wirth: Berliner Malerei im 19. Jahrhundert. Von der Zeit Friedrichs des Großen bis zum Ersten Weltkrieg. Berlin 1990, S. 354.

91

92

Emmi Lewald

und 1890 die große Medaille der Berliner Kunstausstellung erhielt.183 In der Porträtmalerei war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bürger­lich-biedermeier­liche Auffassung von einer anspruchsvolleren, repräsentativeren Salonkunst abgelöst worden. Vor allem vorteilhafte, gut arrangierte Damenporträts lagen im Geschmack der Zeit. Nach Kiesels erstem Briefkontakt mit Theodor Lewald kamen alle Beteiligten wohl rasch überein, denn im Laufe des Jahres 1909 entstand in Kiesels Atelier ein großformatiges, repräsentatives Porträt der Emmi Lewald, das im April 1910 zunächst mit weiteren Werken des Künstlers auf der Großen Berliner Kunstausstellung der Öffent­lichkeit präsentiert wurde.184 Mit einer „Eröffnungskarte“, für deren Erhalt Emmi Lewald sich bei dem Künstler persön­lich bedankte, konnten Emmi und Felix Lewald das Gemälde bereits bei der Ausstellungseröffnung bewundern.185 Im Oktober 1910 empfing das Ehepaar das Porträt in seiner Berliner Wohnung und gab ihm in seinem Esszimmer auf hellblauem Hintergrund einen repräsentativen Platz. Emmi Lewald bedankte sich umgehend überschwäng­lich bei Kiesel und betonte in ihrem Brief neben der ästhetischen Vollkommenheit des Kunstwerks ihre persön­liche Beziehung zu dem Künstler: „Es sieht so wunderschön in unsern Zimmern aus – und immer auf ’s Neue bewundere ich die Reinheit der Farben und Ihren herr­lichen Pinselstrich und denke immer mit Vergnügen dabei an die Stunden in Ihrem Atelier und an all Ihre interessanten Erzählungen!“186. Dass die öffent­liche Präsentation des Porträts in nütz­licher Weise ihren Bekanntheitsgrad als Autorin in der Berliner Gesellschaft vergrößerte, gab Emmi Lewald ganz offen zu: „Sie haben mich im Moment so gut populär gemacht, wie ich es durch meine 20 Bände nie geworden bin und auch wol [sic] auf keine Weise je wieder werde!“.187 Bei dem in Ölfarben gemalten Porträt der 43-jährigen Emmi Lewald, handelt es sich um ein in warmen Braun- und Grautönen gehaltenes Kniestück.188 Vor einem sch­lichten bräun­lichen Hintergrund ist die Autorin stehend, dem Betrachter halb zugewandt, positioniert. Der rechte Arm ist nachlässig auf die Lehne eines dunklen Stuhls gelegt, dessen Lehne und Sitzfläche im unteren linken Bildbereich teilweise sichtbar sind. Die rechte Hand weist entspannt nach unten und hält ein Spitzentuch oder mög­licherweise ein Paar Handschuhe. Der linke Arm ist in die Hüfte gestützt, die Kopfhaltung im Viertelprofil vom Betrachter weggedreht und ansatzweise gesenkt, sodass der Blick der Figur über den linken Bildrand hinaus gerichtet scheint. Emmi Lewalds Kleidung auf dem Gemälde mutet großbürger­lich an und zeugt von Wohlstand. Sie trägt ein langes fließendes Kleid mit hohem Kragen aus einem hellen, glänzenden 183 Ebd. 184 Vgl. den Ausstellungskatalog Frauenbilder auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1910 und die Kopie in der Bildersammlung des NLA StaOL, Slg. 400 Nr. 1152–A. 185 Brief von Emmi Lewald an Conrad Kiesel am 26. April 1910. 186 Brief von Emmi Lewald an Conrad Kiesel am 20. Oktober 1910. 187 Ebd. 188 Das Ölgemälde von Conrad Kiesel befindet sich im Besitz der Familie von Krosigk (Murnau).

Eine bildungsbürger­liche Biografie

Stoff, der in weiten Falten nach unten ausläuft und um die Hüfte durch einen bläu­lich schimmernden Gürtel gehalten wird. Neben einem aufwändig gearbeiteten Kollier trägt die Figur einen hellen schmalen Schal aus ebenfalls glänzendem Stoff um den Hals, der bis zum unteren Bildrand hinab reicht. Bis auf einen angedeuteten Haarschmuck in der Hochsteckfrisur trägt Emmi Lewald auf dem Porträt keinen weiteren Schmuck. Die Garderobe wird vervollständigt durch eine langärmlige, nur hüftlange Jacke aus pelzartigem Material, deren Revers zurückgeschlagen ist und den Blick auf ein dunkelbraun glänzendes Innenfutter freigibt. Nach schrift­licher Aussage von Felix Lewald in einem Brief an Conrad Kiesel haben mehrere Bekannte dem Ehepaar versichert, „wie ähn­lich und wie charakteristisch und in hohem Grade gelungen und geschmackvoll sie das Bild finden“189. Neben der memorialen Funktion, die eine treffende Darstellung des Charakteristischen in der Persön­lichkeit Emmi Lewalds erfüllen soll, zielt das großformatige Bildnis vor allem auf eine repräsentative Wirkung ab. Die dezente Eleganz der Kleidung und die für Gesellschaftsporträts der Jahrhundertwende typische selbstbewusste Haltung der Figur spiegeln ein großbürger­liches Selbstverständnis. Der sch­lichte Hintergrund, der weitgehende Verzicht auf schmückende Details und der gedankenverlorene Blick der Figur passen zum bildungsbürger­lichen Habitus der Emmi Lewald und zeugen mög­licherweise von dem Anliegen, in einer geistreichen Haltung porträtiert zu werden. Kiesels Gemälde ist eines von zwei bekannten Porträts der Schriftstellerin. Ein von der Malerin Margarete Fritze geschaffenes Gemälde mit dem Titel Portrait der Frau Geh. Rath Lewald wurde bereits 1901 auf der 17. Kunstausstellung des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin ausgestellt.190 Die Kriegsjahre 1914 – 1918 Im Jahr 1914 erlebte Emmi Lewald gleich mehrere Schicksalsschläge. Nach dem Tod ihres Mannes Felix Lewald im Alter von 59 Jahren am 11. Oktober 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, starb ihr Vater Günther Jansen nach längerer Krankheit am 31. Dezember 1914 in Weimar. Mit ihrem dreizehnjährigen Sohn Otto ­Günther zog die Schriftstellerin daraufhin im März 1915 von der Ansbacher Straße in die Margaretenstraße 13 im Berliner Stadtteil Wilmersdorf um. Im Sommer 1915 reiste

189 Brief von Felix Lewald an Conrad Kiesel am 15. November 1910. 190 Vgl. XVII. Kunst-Ausstellung des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin. 1901, Bild 80. Die Genremalerin Margarete Auguste Fritze (1845–?) „erhielt ihren ersten künstlerischen Unterricht in Bremen und ging 1873 nach München, wo sie zunächst ein halbes Jahr unter ­Grützner lernte und nach einer Unterbrechung von 1½ Jahren Schülerin von Liezen-Mayer wurde, der sie ebenso sehr förderte wie A. v. Kotzebue und Alexander Wagner. In ihren Genrebildern, unter denen In der Fremde (Savoyardenknabe in Lebensgröße) das bedeutendste ist, sowie in ihren Porträten [sic] führt sie einen kräftigen, männ­lichen Pinsel. 1880 zog sie nach Stuttgart.“ Ab 1886 war Margarete Fritze in Berlin tätig. Vgl. Müller: Biographisches Künstler-Lexikon der Gegenwart, S. 188.

93

94

Emmi Lewald

sie zu einem Kuraufenthalt nach Bad Pyrmont, da sie, nach eigenen Angaben, von den Verlusten körper­lich angeschlagen war. Aus dem Fürst­lichen Kurhotel des Ortes schrieb sie am 8. Juli 1915 an ihren Bekannten Kammerherr von Mohl: „Ich brauche eine lange Kur, da ich mich nach all meiner schweren Trauer gar nicht wieder erholen kann.“191 Abseits der Hauptstadt, so berichtet die Schriftstellerin weiter, verbringe sie fast unwahrschein­lich fried­liche Wochen und würde nur durch die Präsenz grau uniformierter Soldaten an den Weltkrieg erinnert. Obwohl Emmi Lewald nach achtzehn Ehejahren nun ihren Lebensunterhalt von ihrer Witwenpension und ihren Einkünften als Schriftstellerin bestreiten musste, scheint sie daher während des Krieges keine bedeutenden finanziellen Nöte gehabt zu haben. Die Weimarer Republik Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Emmi Lewald offensicht­lich ihre Aktivitäten in den Berliner Frauenvereinen und ihre schriftstellerische Arbeit der Vorkriegszeit wieder auf. Sie engagierte sich bis 1927 im Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin und blieb bis in die 1930er Jahre hinein Vorstandsmitglied des Deutschen Lyceum-Clubs. Auch ihre rege Korrespondenz und ihren gesellschaft­lichen Umgang mit bekannten Zeitgenossen des Literatur- und Geisteslebens setzte die Autorin unvermindert fort. Gut überliefert ist Emmi Lewalds freundschaft­liches Verhältnis zu dem von ihr bewunderten Dramatiker Hermann Sudermann (1857 – 1928) seit Mitte der 1920er Jahre. Der populäre Bühnenautor des deutschen Kaiserreichs lebte nach dem Weltkrieg und dem Tod seiner Frau 1924 zurückgezogen auf seinem Schloss Blankenese bei Trebbin und verbrachte die Winter in seinem Haus in der Bettinastraße 3 in Berlin-Grunewald. Wie eine Andeutung in einem ihrer Briefe vermuten lässt, hatte Emmi Lewald Hermann Sudermann bereits um die Jahrhundertwende bei einer Gesellschaft im Haus von Friedrich Spielhagen (1829 – 1911) näher kennengelernt.192 Sudermann hatte in Emmi Lewald eine treue Verehrerin, die sein literarisches Schaffen bereits seit der Uraufführung seines Bühnendebüts Die Ehre 1889 verfolgte und ihm unvoreingenommene Bewunderung entgegenbrachte. Anläss­lich ihrer Glückwünsche zu Sudermanns 70. Geburtstag beteuert sie ungeachtet seiner zeitlebens ambivalenten Rezeption durch die Literaturkritik 193: 191 Brief von Emmi Lewald an Kammerherrn von Mohl am 8. Juli 1915. Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Sammlung Darmstaedter, Best. 2k 1907. 192 In dem Brief der Autorin aus dem Jahr 1928 heißt es: „Und wie ich Sie mir dann von Spielhagen als Nachbarn erbeten hatte, da war es dieselbe Gefühlsmischung für mich: ich fand Sie so inte­ ressant und einiges andere noch, das ich hier nicht detaillieren möchte – und dann eben ein wenig beängstigend dazu.“ Brief von Emmi Lewald an Hermann Sudermann am 1. Januar 1928. DLM Nachlass Sudermann, IV 29, Nr. 63. 193 Vgl. hierzu Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 9,1), S. 488 ff.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

[…] ich finde es ein so erfreuendes Gefühl, einem Schaffen – wie dem Ihren so lange zugeschaut zu haben und zu sehen, wie die Geisteskraft und die hohe Linie stets dieselbe bleibt und die tiefere Weisheit eines längeren Lebens mir wie ein Plus für Ihre letzten Romane ist und Sie all die schweren Probleme nur noch meisterhafter lösen läßt – 194

Emmi Lewald betrachtete den Kontakt mit Hermann Sudermann trotz ihrer Bewunderung für dessen Lebenswerk vor allem als Austausch und Dialog unter Schriftstellerkollegen. Sie sandten sich ihre Publikationen zur gegenseitigen Beurteilung und Lewald berichtete ihrem „verehrten Freund“, wie sie sich zur ungestörten Arbeit an ihren Manuskripten immer wieder aus ihrem Berliner Alltagsleben zurückzog. Dem regen Austausch mit Hermann Sudermann setzte jedoch bereits nach wenigen Jahren dessen Tod am 21. November 1928 in Berlin ein Ende. 2.1.2.3 Thüringen Über die letzten Jahrzehnte von Emmi Lewalds Leben ist wenig bekannt. Aus dem Briefwechsel mit Hermann Sudermann geht hervor, dass sich die Schriftstellerin zum ungestörten Arbeiten im Herbst 1927 zeitweise alleine auf der Wartburg in Thüringen und auf der Wilhelmshöhe in Kassel aufhielt. Immer wieder verbrachte sie längere Zeit bei ihrer Mutter und ihren Schwestern in Weimar im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, wohin ihre Familie nach dem Weggang von Oldenburg 1901 gezogen war. Emmi Lewalds Mutter, und zeitweise auch ihre jüngere Schwester Marie Jansen, lebten bei der älteren Schwester Sophie von Goeckel in Weimar in der Nähe der Residenz.195 In einer 1936 von einem ehemaligen Oberlehrer Max Kraft aus Erfurt verfassten Familienchronik der Familie Frommelt heißt es in dem Abschnitt über Emmi Lewalds Mutter Marie Frommelt: Im Sommer machte man große Reisen, insbesondere zu den lieben Verwandten in das schöne, bergige, wellige Thüringer Heimatland, das sie so liebgewann, daß nach ihres Mannes Abgang Weimar als geliebtes neues Heim gewählt wurde, wo sie 1928 starb. Hier leben im besten harmo­nischen Einklang Burgplatz 3 II aus ihrer mit Günther Jansen sehr glück­lichen Ehe drei Schwestern, näm­lich Sophie von Göckel, geb. 1865 in Oldenburg, Emmi Lewald, geb. 1866, Ehefrau des Präsidenten Lewald in Berlin und Marie Jansen, geboren 1869 in Oldenburg. Gern schwelgen die alten Damen in alten Erinnerungen und ihre Augen leuchten beim Andenken an ihre liebe Mutter, die ihre Kindheit und Jugend so hell froh und anregend machte […].196 194 Brief von Emmi Lewald (Kassel) an Hermann Sudermann am 29. November 1927. DLM Nachlass Sudermann, IV 29, Nr. 58. 195 Die genaue Adresse lautet Burgplatz 3. II. 196 Max Kraft (Erfurt, Hamburgerstraße 23): Familienchronik der Familie Frommelt(e). Brachmond ( Juni) 1935. Maschinenschrift­lich. NLA-Sta OL- Erw 70, Best. 270 – 29, Nr. 6.

95

96

Emmi Lewald

In engem Zusammenhang mit Emmi Lewalds Aufenthalten in Weimar in den 1920er und 1930er steht ihr langjähriger Kontakt mit ihrer ehemaligen Vereinskollegin im Deutschen Lyceum-Club, Elisabeth Förster-Nietzsche (1846 – 1935), die bereits um die Jahrhundertwende mit der teilweise in Weimar ansässigen Familie Jansen in gesellschaft­lichem Verkehr stand. Förster-Nietzsche leitete seit 1894 das Nietzsche-Archiv in der „Villa Silberblick“ in Weimar und befasste sich mit der Sammlung und Herausgabe von Friedrich Nietzsches Werk und Nachlass.197 Aus Emmi Lewalds Briefen an Förster-Nietzsche geht hervor, dass die Schriftstellerin sich oft im Nietzsche-Archiv aufgehalten hat und sich mit ihr über das Werk und die Wirkung Friedrich Nietzsches austauschte.198 Emmi Lewald und die anderen Mitglieder der Familie Jansen hegten offenbar eine große Verehrung für die Leiterin des Nietzsche-Archivs. Von Emmi Lewalds Bekanntschaft mit der nationalsozialistisch gesinnten FörsterNietzsche sowie ihrer Begeisterung für den von ihr geschaffenen Nietzsche-Kult dieser Zeit darf jedoch nicht auf eine spätere vorbehaltlose Sympathie der Autorin für nationalsozialistische Ideen geschlossen werden. Da das Phänomen der Nietzsche­ begeisterung in der Weimarer Republik eine ganze Generation von Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern erfasste, bringt sie einmal mehr die starke Einbindung der Autorin in die Diskurse ihrer Zeit zum Ausdruck. Emmi Lewalds poli­ tische Position kann vor dem Hintergrund ihrer literarischen Äußerungen durchaus als konservativ und deutschnational eingeschätzt werden, doch spielten in ihrem Habitus zeitlebens auch die bildungsbürger­lichen Maximen der Bildung, des Kosmopolitismus und des freien intellektuellen Austauschs eine wichtige Rolle. Diese Haltung spiegelt sich in den 1930er Jahren auch in ihren Briefkontakten mit dem aus Oldenburg stammenden Historiker Hermann Oncken (1869 – 1945)199 und dem

197 Wegen ihrer Fälschungen und Eingriffe in das Werk und den Nachlass ihres Bruders wird Elisabeth Förster-Nietzsches Rolle von der Nietzsche-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg zumeist sehr negativ gesehen. Das Maß ihrer Mitverantwortung an der fehlgeleiteten Nietzsche-Rezeption durch die Nationalsozialisten ist bis heute umstritten. Vgl. z. B. Klaus Goch: Elisabeth Förster-Nietzsche. Ein biographisches Porträt. In: Schwestern berühmter Männer. Zwölf biographische Portraits. Hg. von Luise Pusch. Frankfurt a. M. 1985, S. 361 – 413 und Christian Niemeyer: „die Schwester! Schwester! ’s klingt so fürchter­lich!“ Elisabeth Förster-Nietzsche als Verfälscherin der Briefe und Werke ihres Bruders – eine offenbar notwendige Rückerinnerung. In: Nietzscheforschung 16 (2009), S. 335 – 355. 198 Vgl. GSA Best. GSA 72 / BW 3191, GSA 72 / 1767, GSA 100 / 1261. 199 Hermann Oncken wurde 1869 in Oldenburg geboren. Er studierte in Berlin und Heidelberg und war am „Großherzog­lichen Haus- und Centralarchiv“ in Oldenburg angestellt, bevor er deutschlandweit verschiedene Lehrstühle bekleidete. 1928 kehrte er an die Berliner Universität zurück, wo er 1935 zwangsemeritiert wurde. Vgl. Wolfgang Günther: Karl Hermann Gerhard Oncken. In: Biogra­ phisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, S. 537 – 541, S. 537 f. Lewald beglückwünscht Oncken in ihrem Schreiben zu einer Rede über Washington im Radio. Vgl. Brief von Emmi Lewald an Hermann Oncken am 23. Februar 1932. NLA StaOL, Best. 271 – 14, Nr. 312.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

ebenfalls in Oldenburg geborenen Philosophen Karl Jaspers (1883 – 1969) wider, die beide wegen ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus mit Lehr- bzw. Publika­ tionsverboten belegt wurden.200 Verschiedene historische Fakten lassen annehmen, dass die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in Emmi Lewalds Leben einen neuen tiefen Einschnitt bedeutete. Die Familie ihres Ehemannes Felix Lewald stammte aus einer weitverzweigten jüdischen Familie, die 1811 den deutschen Namen Lewald angenommen hatte. Dies mag der Grund sein, warum ihr gemeinsamer Sohn Otto Günther Lewald im Laufe der 1930er Jahre gemeinsam mit seiner Frau Eve Althaus nach England emigrierte, wo er sich in London als Deutschlehrer und Lektor für Schulbücher niederließ. In einem leider nicht genau zu datierenden Brief aus London an Elisabeth Förster-Nietzsche berichtet Emmi Lewald von einem Besuch bei ihrem Sohn in London zu dieser Zeit: „Ich führe hier ein herr­liches Leben bei meinen Kindern in diesem so schönen und freien Land. Mein Sohn hat soviel Arbeit, ist an mehreren Schulen der „City“ fest als Deutschlehrer angestellt.“201 Einer der letzten großen Schicksalsschläge in Emmi Lewalds Leben war der Tod ihres Sohnes Otto Günther während des Zweiten Weltkrieges. Er starb bei einem deutschen Fliegerbombenangriff auf London 1944. Emmi Lewald selbst zog nach 1938 in die Senioreneinrichtung Carolinenheim im thüringischen Apolda um, wo sie am 29. September 1946 starb.202 Am 2. Oktober wurde ihr Körper eingeäschert und die Urne am 25. Oktober 1946 nach Berlin gesandt, wo sie später auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf des Landes Brandenburg neben Felix Lewald in einem gemeinsamen Grab bestattet wurde.203 Exkurs II: Das Grabmal Emmi und Felix Lewalds  204 Emmi Lewald ließ ihren Mann nach dessen Tod am 11. Oktober 1914 auf dem evangelischen Alten St.-Matthäus-Friedhof in dem Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg 200 Emmi Lewald wandte sich 1931 unter Berufung auf die gemeinsame Heimatstadt Oldenburg an den dort am 23.2.1883 geborenen Karl Jaspers, der 1931 als Universitätsprofessor an der Universität Heidelberg lehrte. Jaspers wurde 1933 aus der Universitätsverwaltung ausgeschlossen und 1937 zwangspensioniert. Emmi Lewald schenkte ihm 1935 ihren in der Umgebung der Stadt Oldenburg spielenden neuen Roman Heinrich von Gristede. Vgl. Kurt Salamun: Karl Jaspers. In: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, S. 351 – 354, S. 351 ff. und den Brief von Emmi Lewald an Karl Jaspers am 9. November 1931. DLA, A: Jaspers 75.12697. 201 Brief von Emmi Lewald an Elisabeth Förster-Nietzsche am 27. Juni (o. J.). GSA 72/BW 3191. 202 Es handelt sich um das Seniorenheim der Stiftung Carolinenheim Apolda, Stobraerstraße 65 – 67 in 99510 Apolda. Mitteilung über die Sterbefallanzeige des Standesamtes Apolda vom 29.09.1946 an die Verfasserin durch das Landratsamt Weimarer Land vom 06.03.2007. 203 Freund­liche Mitteilung der Friedhofsverwaltung Apolda vom 06.03.2007 an die Verfasserin. 204 Der Exkurs zum Grabmal von Felix und Emmi Lewald erschien 2011 in Form des Artikels Ruth Steinberg-Groenhof: Die tragische Liebe des Orpheus und der Eurydike. Zum Grabmal von Felix und

97

98

Emmi Lewald

2  Grabmal von Emmi und Felix Lewald

Emmi Lewald auf dem Südwestkirchhof des Landes Brandenburg. In: Kulturland Oldenburg. Zeitschrift der Oldenburgischen Landschaft. H. 147, I. Quartal 2011, S. 30 – 33.

Eine bildungsbürger­liche Biografie

bestatten.205 Für seinen Grabstein wählte sie als Motiv eine bedeutungsgeladene Szene aus der griechischen Mythologie, die zeitlose Darstellung des tragischen Wiedersehens des Sängers Orpheus und seiner Frau, der Nymphe Eurydike. Die Gestaltung des Grabsteins zeugt durch ihre Antikenrezeption unmissverständ­lich vom bildungsbürger­ lichen Selbstverständnis des Ehepaars Emmi und Felix Lewald. Auf einem im Erdboden verankerten Sockel sind als Grabinschrift die Namen, Geburts- und Sterbedaten sowie Felix Lewalds Titel und Emmi Lewalds Mädchenname eingemeißelt. Auf den Sockel ist ein rechteckiges Relief angebracht, dem abschließend ein Dreiecksgiebel aufgesetzt wurde. Bei dem gut erhaltenen Relief handelt es sich um eine Kopie des bekannten Orpheus-Reliefs, das um 420 – 410 v. Chr. in Athen entstand und in Form römischer Kopien u. a. in Rom und Neapel erhalten blieb. Emmi Lewald rezipierte die in Neapel erhaltene Kopie mit großer Wahrschein­lichkeit in Berlin oder auf einer ihrer Italienreisen.206 Auf dem Dreifigurenrelief sind der thrakische Sänger Orpheus, seine Frau Eurydike und der Gott Hermes dargestellt. Die Konstellation der Figuren sowie ihre ‚sprechenden Gesten‘ haben zu der fast einmütigen Forschungsmeinung geführt, die Szene als den tragischen Moment zu deuten, als Orpheus seine Frau für immer an die Unterwelt verlor, da er die Bedingung verletzte, die Persephone an die Rückkehr Eurydikes in die Oberwelt geknüpft hat und sich während der Wanderung zu ihr umsieht.207 Orpheus war es zuvor gelungen, die Herrscher der Unterwelt ­Persephone und Hades mit Gesang und Saitenspiel so zu rühren, dass sie der verstorbenen Eurydike unter der Bedingung des Blickverbots die Rückkehr an die Oberwelt gestatteten. Hermes leitet das Paar als Seelengeleiter durch die Gänge der Unterwelt, als Orpheus’ Zweifel an dem gött­lichen Wunder die Oberhand gewinnen und er sich umwendet. Die melancholische Stimmung der Szene, in der Orpheus’ Verbotsübertretung, das Wiedersehen mit der geliebten Frau und der endgültige, unwiederbring­ liche Verlust derselben zusammenfallen, hat dazu beigetragen, dass die Darstellung „als Idealbild tragischer Gattenliebe weite Verbreitung“208 fand. Für Emmi Lewald mag 205 Die ursprüng­liche Grabstätte von Felix Lewald auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof wurde zwar von dem Heimatforscher Willi Wohlberedt (1878 – 1950) in seinem zwischen 1932 und 1952 publizierten Werk „Grabstätten bekannter und berühmter Persön­lichkeiten in Groß-Berlin und Potsdam mit Umgebung“ aufgeführt, ist jedoch nach Mendes Erkenntnissen heute nicht mehr existent. Vgl. Hans-Jürgen Mende: Lexikon Berliner Grabstätten. Pößneck 2006, S. VIII, 305. 206 Das Orpheus-Relief gehört zu einer Gruppe von vier Dreifigurenreliefs, deren ursprüng­liche Funktion und Aufstellung in der Forschung umstritten ist. Vgl. Klaus Junker: Die attischen Dreifigurenreliefs. In: Standorte. Kontext und Funktion antiker Skulptur. Ausstellung in der Abguß-Sammlung antiker Plastik des Seminars für Klassische Archäologie an der FU Berlin, 29.11.1994 – 4.6. 1995. Hg. von Klaus Stemmer. Berlin 1995, S. 293 – 298. Anhand eines Detailvergleichs lässt sich die Replik von Neapel eindeutig als Vorbild für die Darstellung auf dem Grabstein der Lewalds identifizieren. (Freund­liche Hinweise von Dr. Jörgen Welp / Oldenburgische Landschaft). 207 Vgl. die ausführ­liche Forschungsdiskussion bei Junker, ebd., S. 294. 208 Ebd., S. 293.

99

100

Emmi Lewald

bei der Auswahl des Reliefs neben der Darstellung tragischer Liebe auch Orpheus’ Eigenschaft als Sänger und Dichter eine Rolle gespielt haben, die, wie Schuchardt hervorhebt, die Sage zu einer Fabel macht, „die vom Dichter schlechthin handelt, von der Macht seines Gesanges und seiner Liebe.“209 Die Auswahl des antiken Reliefs für das Grabmal von Felix Lewald ist Ausdruck einer bürger­lichen Bildungstradition und der ihr eigenen Säkularisierungstendenz. Dennoch ist das Relief in einem historistisch anmutenden Akt der Mischung von weltanschau­lichen Traditionen mit dem lateinischen Satz „SURSUM CORDA“ (= „Erhebet die Herzen“) untertitelt, der seinen Ursprung in der katholischen Liturgie hat. Unklar bleibt heute, wann die sterb­lichen Überreste der Schriftstellerin in das gemeinsame Grab der Eheleute auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf des Landes Brandenburg überführt wurden. Das Grab von Felix Lewald war bereits 1939 im Zuge der Räumung des Alten St.-Matthäus-Friedhofs auf den Stahnsdorfer Friedhof umgebettet worden. Bis 1940 wurden alle Schöneberger Friedhöfe geschlossen, um Platz für die nach Ideen Adolf Hitlers von dem Generalbauinspektor Albert Speer geplante Umgestaltung Berlins zur „Welthauptstadt Germania“ zu schaffen.210 Für die Grabverlegungen wurden spezielle Gräberfelder geschaffen, unter anderem der Block ‚Neue Umbettung‘, auf dem sich die Grabstätte von Emmi und Felix Lewald heute befindet. Dort wird die Stätte wegen des Grabsteins mit dem Orpheus-Relief erhalten – Mende stuft sie in seinem Lexikon Berliner Grabstätten als besondere „Sehenswürdigkeit“ ein.211

209 Walter Herwig Schuchardt: Das Orpheus-Relief. Einführung. 2. Aufl. Stuttgart 1964. 210 Vgl. Peter Hahn: Berliner Friedhöfe in Stahnsdorf. Geschichte – Geschichten – Personen. Badenweiler 2010, S.  40 – 43. 211 Die Grabstelle von Emmi und Felix Lewald befindet sich im Block neue Umbettung, Feld 15, Wahlstelle 225. Freund­liche Mitteilung der Friedhofsverwaltung Heerstraße Berlin (Herr Kraus) an die Verfasserin am 05.06.2007. Vgl. auch Mende: Lexikon Berliner Grabstätten, S. 473.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

2.2 Emmi Lewald als Schriftstellerin 2.2.1 Bürgerliche Autorinnen im Literaturbetrieb des Kaiserreichs 2.2.1.1 Schriftsteller und literarischer Markt Emmi Lewalds Veröffent­lichungszeitraum zwischen 1888 und 1935 liegt in einer Epoche, in der strukturelle Änderungen der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur die Rolle der Autoren grundlegend gewandelt und zur Herausbildung eines neuen Typus, des Berufsschriftstellers, geführt hatten. Auf der Produktionsseite hatte die technische Revolutionierung des Druckwesens die kostengünstige und massenhafte Herstellung von Druckerzeugnissen ermög­licht, während auf Seiten der Rezeption ein Massenpublikum entstanden war.1 Die heterogene Berufsgruppe der Autoren 2 erlebte durch ihre Einbindung in den expandierenden Literaturmarkt und die Verrecht­lichung der Beziehungen zu Verlegern, Herausgebern, Redakteuren und staat­lichen Organen in der Zeit zwischen 1850 und 1870 einen beruf­lichen Professionalisierungsschub. Parr betont, dass die Professionalisierungsprozesse des Schriftstellerberufs sich grundlegend von denen anderer bürger­licher Berufe unterschieden, da sich bis ins 20. Jahrhundert hinein keine festgelegten Ausbildungswege, Zugangs- und Verdienstregelungen herausbildeten.3 Diese Entwicklung hängt im Wesent­lichen mit dem am Leitbild des „freien Schriftstellers“ sich orientierenden Selbstverständnis vieler Autoren zusammen. Das auf den „Postulaten der GenieÄsthetik“4 fußende Ausgangskonzept des freien Schriftstellers bezeichnete im späten 18. Jahrhundert eher eine Mentalität als ein spezifisches Berufsbild und war „mit der Ausblendung oder Mythisierung der literarischen Arbeit zugunsten von Intuition

1 Vgl. die ausführ­liche Beschreibung der Expansion des Buch- und Zeitschriftenmarktes in Kap. 3.1.1, zum Lesepublikum 3.2. Vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Das Autonomiestreben und die Bedingungen des Literaturmarktes. Zur Stellung des „freien Schriftstellers“ im 19. Jahrhundert. In: Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe. Hg. von Bernard Cerquiglini und Hans Ulrich Gumbrecht. Frankfurt a. M. 1983, S. 556 – 581. 2 Wie Scheideler herausstellt, umfasste die Berufsbezeichnung des Schriftstellers in der Zeit zwischen 1880 und 1933 so unterschied­liche Publizierende wie „freie Pressemitarbeiter, belletristische Buchautoren, publizierende Gelehrte als auch Journalisten“. In dieser Arbeit liegt bei der Verwendung des Autorbegriffs der Fokus auf den belletristischen Autoren unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie aufgrund des gewandelten Berufsbilds seit Mitte des 19. Jahrhunderts oft eine Vielzahl von Autor-Rollen ausübten. Auf Emmi Lewald treffen gleichzeitig die Kategorien der belletristischen Buchautorin, der Reiseschriftstellerin, der Lyrikerin und der freien Pressemitarbeiterin zu. Vgl. Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 10. 3 Vgl. Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz. 4 Ebd., S. 14.

101

102

Emmi Lewald

und Kreativität verknüpft.“5 Im Laufe ihrer Einbindung in den schnell wachsenden Literaturmarkt des 19. Jahrhunderts gerieten die Autoren zunehmend in das Spannungsfeld zwischen dem weiterhin gültigen Rollenbild von autonomer Autorschaft und den Anforderungen eines ökonomischen Systems, in dem ihr Schaffen den Charak­ter einer kommerziellen Warenproduktion annahm. Jeder Autor war im Sinne des Marktes zugleich Literaturproduzent, das Manuskript seine Ware, und seine Beziehungen zu Verlegern, Lektoren, Redakteuren und Buchhändlern wurden von ökonomischen Interessen bestimmt. Für die besondere ‚Professionalisierung‘ des Schriftstellers ist daher die anhaltende Spannung von ‚Beruf‘ und ‚Berufung‘ entscheidend: hier das Wissen um Abhängigkeit vom sich etablierenden literarischen Markt und dem Interesse der Leser, dort die selbstgewisse Souveränität des ‚freien Schriftstellers‘; hier für erlernbar erachtete Könnerschaft, dort genialisches Künstlertum.6

Die Doppelnatur des Schriftstellers als literarischer Warenproduzent und ‚Dichter aus Berufung‘ verhinderte eine den anderen bildungsbürger­lichen Berufen vergleichbare Professionalisierung und eine nachhaltige Institutionalisierung des Berufs in der bürger­lich-kapitalistischen Gesellschaft, wodurch sein gesellschaft­licher Status im deutschen Kaiserreich immer wieder gefährdet war. Dass die Kommerzialisierung des literarischen Felds und die prekäre ökonomische Situation der Erwerbsschriftsteller die Attraktivität des Berufsziels „Schriftsteller/in“ dennoch nicht verringern konnten, lag, neben der freien Zugäng­lichkeit des Berufsfelds, vor allem an den langlebigen romantischen Vorstellungen, die mit dem Dichterberuf verbunden waren. Das infolge der emphatischen Klassikerverehrung entstandene Bild des Schriftstellers „als dem berufenen Vertreter menschheit­licher Ideale“7 und als bürger­licher „Kulturträger“8 behielt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges seine Gültigkeit. Eine wichtige Triebfeder für den Wandel des Autorberufs stellten die erweiterten Publikationsmög­lichkeiten in der expandierenden periodischen Presse sowie die vielfältigen, neu entstandenen journalistischen Arbeitsfelder dar. Die neuen Verdienstmög­ lichkeiten erlaubten einer wachsenden Gruppe von Berufsautoren eine ökonomisch relativ gesicherte Existenz. Dass erfolgreiche bürger­liche Realisten wie Theodor Fontane, Paul Heyse, Marie von Ebner-Eschenbach und Wilhelm Raabe die Schriftstellerei zur ökonomischen Grundlage ihrer Existenz machen konnten, trug mit Sicherheit zur allgemeinen Akzeptanz des Vorabdrucks und der Doppelverwertung literarischer Texte bei jüngeren Autorengenerationen bei.9 Mit der Integration der Autoren in

5 Ebd. 6 Ebd., S. 18. 7 Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 38 f., 63. 8 Ebd. 9 Vgl. Becker: „Zeitungen sind doch das Beste“.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

den Literaturmarkt wuchs zwischen 1850 und 1870 ein zeitgenössisches Verständnis der Schriftstellerarbeit als ‚Geistesarbeit‘, als solide Kenntnis der Techniken zur Herstellung eines Dramas, einer Erzählung oder eines Gedichtes für die Verwendung in Zeitungen, Zeitschriften und Leihbibliotheksbänden.10 Trotz dieser Anpassung schriftstellerischer Arbeit an die ökonomischen Erfordernisse bleibt das Ideal des genialen, kreativen und autonomen Künstlers bestehen. Autoren wie Wilhelm Raabe begegneten den widersprüch­lichen Berufsrollen mit einer „Aufhebung des Anspruchs, professionellen Erwerb und persön­liche Identität zu verbinden“11 und praktizierten eine strikte Trennung kommerzieller und nicht-kommerzieller Arbeiten. Eine solche Praxis ist von Emmi Lewald nicht bekannt, doch sie thematisierte diesen Zwiespalt des Künstlers in den Novellen Blaue Blume (1896) und Kinder der Zeit (1897).12 In den 1880er Jahren, in denen Emmi Lewald ihr Erstlingswerk Unsre lieben Lieutenants (1888) publizierte, stimulierten sowohl die fortschreitende Expansion der Familienblätter, Romanzeitungen und Buchverlage als auch die freie Zugäng­lichkeit des Berufsfeldes einen starken Anstieg der publizierenden Autoren und ein Überangebot an literarischen Texten. Die Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895 zugrunde legend, geht Scheideler für das Jahr 1895 von 7.407 haupt- und nebenberuf­lich tätigen Schriftstellern, Journalisten und Privatgelehrten aus, von denen etwa 3.000 bis 4.000 als freie Schriftsteller arbeiteten.13 Bei der Gesamtzahl der Publizierenden verzeichnete die Statistik einen Frauenanteil von 7,1 %.14 Die Summe der Publizierenden erhöhte 10 Parr beruft sich für die Begriffsverwendung auf die sozialpolitische Abhandlung von Heinrich Riehl, Die bürger­liche Gesellschaft (1853), 2. Buch, Teil II, Kapitel 3, Proletarier der Geistesarbeit. Vgl. Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz, S. 22 f. 11 Ebd., S. 27. 12 Der Protagonist der Künstlernovelle Kinder der Zeit ist ein talentierter junger Dramenautor, dessen nach Sprache und Technik an den Arbeiten Friedrich Schillers orientierte Bühnenstücke auf den zeitgenössischen Bühnen keine Erfolge verbuchen können. Der ideelle und finanzielle Erfolg stellt sich erst mit seiner Hinwendung zum „sozialen Drama“ (KdZ 11) ein. Der Dichter Karl Eduard Stettinger, Hauptfigur der Novelle Blaue Blume, wendet sich im Dienste des Publikumserfolgs von seiner romantischen Liebespoesie ab, um schnell geschriebene Unterhaltungsromane und „moderne“ naturalistische Theaterstücke zu verfassen. Vgl. Emmi Jansen: Blaue Blume. In: Die Frau 3 (1896), H. 12, S. 722 – 734. 13 Die Berufsstatistik des deutschen Reiches für das Jahr 1895 liefert aufschlussreiche Daten für die Berufsgruppe der Autoren. Eine Berufszählung vom 5. Mai 1882 schließt in einer Zahl von 19.380 Freiberuflern neben den Schriftstellern auch eine große Zahl weiterer Berufsgruppen wie Kopisten, Privatsekretäre, Buchhalter und Redakteure mit ein. Die Zahlen aus Kürschner’s deutschem Literaturkalender sind ungleich höher, da neben den Berufsautoren auch die Kategorie der Gelegenheitsschriftsteller geführt wird: Hier sind ca. 14.000 Namen für das Jahr 1895 und 18.000 Namen für das Jahr 1907 verzeichnet. Vgl. Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 28 f., 33. Emmi Lewalds Zeitgenosse Max Osborn zählte in Kürschner’s Kalender 1894 1.024 weib­liche Namen (492 unverheiratete und 532 verheiratete Frauen), während es 1895 bereits 1.074 sind. Vgl. Max Osborn: Die Frauen in der Litteratur und der Presse. 3. Tsd. Berlin 1896, S. 253. 14 Die Frauen stellten 1895 bei den nebenberuf­lich tätigen Publizierenden 6,3 % und bei den hauptberuf­ lich tätigen Schriftstellern, Journalisten und Privatgelehrten 7,4 % (1907 10,2 %). Ebd.

103

104

Emmi Lewald

sich bis 1907 auf 12.002, unter denen 9,6 % (1.154) Frauen waren. Den Anteil der freien Schriftsteller schätzt Scheideler für 1907 auf ca. 6.000 bis 7.000. In einer Situation massiver Ökonomisierung des literarischen Felds konnten diejenigen Schriftsteller von den Verdienstmög­lichkeiten der periodischen Presse profitieren, die bereit waren, sich auf deren kommerzielle Erfordernisse einzustellen. Ihre Professionalisierung bestand in der Anpassung an eine termingerichtete Arbeitsweise, in der Orientierung am Zielpublikum der Zeitschriften und in der Spezialisierung auf geeignete Themen und Genres.15 Die Autoren mussten die Bereitschaft besitzen, ihre Literatur (auch) als Ware zu betrachten, die in einem ökonomischen Prozess konzipiert, produziert und vermarktet wurde. Diese Anforderung zog nicht zuletzt eine neue Autorenrolle nach sich, bei der die kreative Individualität eines Schriftstellers zugunsten von unternehmerischen Fähigkeiten wie Selbstorganisation, Selbstvermarktung und Netzwerkbildung in den Hintergrund trat. Den egalisierenden Bedingungen des Literaturmarkts zum Trotz blieben die Autoren eine höchst heterogene Berufsgruppe, in der ein ganzes Spektrum von Überzeugungen vertreten war, die von einem idealistischen Autonomieverständnis bis zum Anpassungswillen an die Produktions- und Rezeptionsverhältnisse reichten. Diese spannungsreiche Konstellation blieb für das literarische Feld des deutschen Kaiserreichs bedeutsam und fand ihre extreme Ausprägung in der Betonung des Autonomiegedankens bei Boheme-Literaten oder Gruppen wie dem George-Kreis. Dementsprechend unterschied­lich gestalteten sich im Sprechen über Autorschaft um 1900 die Berufsbezeichnungen; hier fand sich der positiv konnotierte ‚Dichter‘ oder ‚freie Schriftsteller‘ ebenso wie der neutrale ‚Literat‘ und ‚Tendenzschriftsteller‘ wie auch der negativ konnotierte ‚Literaturproduzent‘ oder ‚Vielschreiber‘.16 15 Vgl. Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz, S. 33. 16 Die Diskussion um Autorschaft war zwischen 1871 und 1918 weiterhin stark durch fein abgestufte Bezeichnungen geprägt, da besonders ambitionierte, sich von den kommerziellen Anforderungen des Literaturmarkts abgrenzende Autoren Interesse an einer Binnendifferenzierung der Berufsgruppe hatten. In Parrs Überblick reicht das Spektrum von „a.) ‚Dichtern‘ (konnotiert Genialität, Alltagsferne, Welt- bzw. Lebensdeutungsangebote durch relativ umfangreiche, geschlossene Werke machen sowie dominant künstlerische Existenz führen), b.) ‚freien Schriftstellern‘ (konnotiert ein tendenziell positiv gewertetes Nebeneinander von dichterischer und bürger­licher Existenz), c.) ‚Schriftstellern / Literaten‘ (wird relativ neutral verwendet), d.) ‚Berufsschriftstellern / geistigen Arbeitern‘ (konnotiert in der Regel durchaus positiv eine Dominanz von Beruf über Berufung, Fleiß tritt an die Stelle von Genie), e.) ‚Literaturproduzenten / Auftragsschreibern‘ (eher negative Konnotationen mit Bezug auf Abhängigkeitsverhältnisse und soziale Lage, aber auch die bloße Anwendung von Regelwissen und die Qualität der produzierten Texte), f.) ‚Tendenzschriftstellern‘ (kann sowohl literarische als auch parteipolitische Tendenz konnotieren), g.) ‚Literaturfabri­ kanten‘ bzw. ‚industriöse Literaten‘ (negativ konnotiert: Menge von Texten und damit zugleich mangelnde Qualität, aber auch Fremdbestimmtheit, z. B. durch Feuilleton-Redaktionen und den Geschmack des Publikums), h.) ‚Journalisten‘ (konnotiert Alltagsnähe und kleinere Textformen, nicht unbedingt pejorativ verwendet) und i.) ‚Publizisten‘ (konnotiert ein eher politisches oder

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Auch die Einkommenssituation einzelner Autoren unterschied sich stark. Während ein kleiner Prozentsatz der Roman- und Dramenautoren ein hohes Maß an gesellschaft­ licher Anerkennung genoss und über ein gutes Jahreseinkommen verfügte, hatte die Mehrheit der Autoren unter permanenter ökonomischer Unsicherheit zu leiden.17 Das „Aschenbrödeltum“ des Schriftstellers, wie Theodor Fontane in seinem vielzitierten Kommentar Die gesellschaft­liche Stellung der Schriftsteller (1891) die schwierige Einkommenslage und die mangelnde gesellschaft­liche Anerkennung seines Berufsstandes auf den Punkt brachte, ist von Zeitgenossen mehrfach angeprangert worden.18 Da das literarische Überangebot seit den 1880er Jahren zu einem Absinken der Durchschnittshonorare führte, sahen sich die meisten Autoren gezwungen, nebenbei einen bürger­ lichen Beruf auszuüben oder ihr Einkommen mit Verdiensten aus unterschied­lichen Arbeitsfeldern zu sichern. Die Buchproduktion bot mit einer durchschnitt­lichen Auflagenhöhe von 1.000 Exemplaren nur mäßige Verdienstmög­lichkeiten und kam oft „ledig­lich als Werbeträger zur Verbreitung des Namens in Betracht“19. Vor Inkrafttreten des „Gesetzes, betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst“ am 19. Juni 1901 war es gängige Praxis, dass Autoren mit ihrer Unterschrift unter dem Verlagsvertrag sämt­liche Rechte an ihrem literarischen Werk und allen nachfolgenden Auflagen an den Verleger abtraten.20 Weit bessere Verdienstmög­lichkeiten boten daher Vorabdrucke und Nachdrucke von Werken in auflagenstarken Periodika oder direkt für den Pressebedarf produzierte Romane, Novellen und Feuilletons. Auch Emmi Lewald verwertete auf diese Weise die meisten ihrer Werke doppelt, wohingegen eine Anzahl von Gedichten und kurzen Prosatexten wie Sturm im Wasserglas (1894) und die Griechische Reise (1912) nur eine Zeitschriftenpublikation erlebten. In Emmi Lewalds Publikationszeitraum existierten vielfältige Honorarformen, die je nach Bekanntheitsgrad des Autors, Werkgattung, Berechnungsgrundlage und zumindest gesamtkulturelles als literarisches Themenspektrum) bis hin zu j.) ‚Fachschriftstellern‘ (konnotiert kein Genie, Wissen vor allem in einem Spezialgebiet).“ Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz, S. 36. 17 Zu den Spitzenverdienern gehörten im deutschen Kaiserreich Adolf L’Arronge, Gerhart Hauptmann, Hermann Sudermann, Julius Wolf, Paul Heyse, Gottfried Keller und Gustav Freytag. Sudermann brachte sein Drama Die Ehre (1889) beispielsweise bis 1903 300.000 Mark ein und Gustav Freytag verdiente mit seinem Romanzyklus Die Ahnen (1873 – 1881) bis zu seinem Tod 1895 etwa 420.000 Mark. Vgl. Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 34. 18 Theodor Fontane: Die gesellschaft­liche Stellung der Schriftsteller [1891]. In: Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890 – 1910. Hg. von Erich Ruprecht, Dieter Bänsch. Stuttgart 1970, S. 1 – 4. 19 Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 35. 20 Nach Bestimmung des neuen Gesetzes sollte das Verlagsrecht nur für eine Auflage von 1.000 Exemplaren übertragen werden. In der Praxis setzte sich die gesetz­liche Regelung jedoch erst nach und nach durch. Vgl. Stephan Füssel: Das Autor-Verleger-Verhältnis in der Kaiserzeit. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7). München u. a. 2000, S. 137 – 154, hier S. 139 f.

105

106

Emmi Lewald

Auflagenhöhe des jeweiligen Presseorgans variierten.21 In der Berufsberatung für angehende Schriftstellerinnen im Handbuch der deutschen Frauenbewegung (1906) wird folgende Übersicht über die Honorarsätze der Presse gegeben: Über die Honorierung ist kaum Bestimmtes zu sagen […]. Ganz besonders schlecht werden Gedichtsammlungen bezahlt; etwas besser wirk­lich gute Jugendschriften. Zeitungen und Zeitschriften zahlen teils nach Annahme des Artikels, teils nach Erscheinen, teils am Ende des Viertel- oder Halbjahres. Die Sätze schwanken zwischen 10 – 30 Pf. für eine Zeile bei grossen, 5 – 15 Pf. bei kleinen Blättern. Feuilletons, kleine Novellen, Übersetzungen werden mit 5 – 50 M., ganz ausnahmsweise mit 100 – 150 M., Gedichte mit 0,50 – 1 M. bezahlt.22

Die Publikation von Fortsetzungsromanen in Unterhaltungszeitschriften war um einiges lukrativer. „Die Gartenlaube“ zahlte etablierten Autoren für einen Roman zwischen 3.000 und 15.000 Mark.23 Ein unbekannter Autor konnte mit dem Erstabdruck eines Romans bei einer der erstklassigen Tageszeitungen höchstens 2.000 – 3.000 Mark verdienen, bei einem zweitklassigen Familienblatt höchstens 100 – 300 Mark. Auch die Verwertung der Werke als Zweitdruck spielte eine große Rolle, wurde aber entsprechend schlechter vergütet. Um aus diesen verstreuten Richtwerten ein Gesamtbild erstellen zu können, folgt Scheideler den Schätzungen Freds (1911), der das Jahreseinkommen der durchschnitt­lichen Tagesschriftsteller auf 1.000 bis 6.000 Mark zuzüg­lich der Einnahmen aus der Zweitdruckverwertung der Buchpublikation schätzte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden als Reaktion auf die problematische ökonomische Lage vieler Autoren eine Reihe berufsständischer Interessenvertretungen, die zugleich Ausdruck der Professionalisierungstendenzen des schreibenden Berufsstands sind. Die Schriftstellerinnen schlossen sich beispielsweise im 1896 gegründeten Deutschen Schriftstellerinnen-Bund e. V. und in der 1900 ins Leben gerufenen Freien Vereinigung Deutscher Schriftstellerinnen zusammen.24 Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verschlechterte sich die Einkommenssituation der Schriftsteller aufgrund des schrumpfenden Absatzmarktes und der steigenden Lebenshaltungskosten noch weiter. Zahlreiche Organe der periodischen Presse erschienen als Reaktion auf das abnehmende Anzeigengeschäft in verringertem Umfang oder mussten ihr Erscheinen wegen der steigenden Herstellungskosten 21 Vgl. hierzu Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 34 ff. und Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz, S. 64 ff. 22 Levy-Rathenau, Wilbrandt: Die deutsche Frau im Beruf, S. 212 f. 23 Vgl. alle Angaben diese Absatzes zu den Honoraren der periodischen Presse bei Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 35 f. 24 Zwischen 1860 und 1910 existieren um die 74 schriftstellerische Berufsorganisationen mit unterschied­ lichen Programmen und Definitionen des Schriftstellerberufs. Vgl. Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz, S. 43 ff.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

vollständig einstellen.25 Auch die Reduzierung belletristischer Beiträge zugunsten der Kriegsberichterstattung, des Abdrucks von Feldpostbriefen und anderer Texte mit Kriegsthematik sowie eine Flut kostenloser Kriegslyrik schmälerten die Absatzmög­ lichkeiten der Schriftsteller. Die Zeilenhonorare verharrten während der gesamten Kriegszeit auf dem Vorkriegsstand von 10 – 15 Pf. pro Zeile, doch obwohl die Schriftstellerzeitung „Die Feder“ einen regulären Zeilensatz von mindestens 20 Pf. forderte, mussten die Autoren sogar häufig mit nur 3 – 5 Pf. pro Zeile vorlieb nehmen. Erstdruckromane wurden mit 500 – 3.000 Mark je nach Auflagenhöhe des Presseorgans vergütet. Die Honorarforderungen der Autoren wurden nicht selten mit dem Hinweis auf die „patriotische Verpf­lichtung“ der Dichter und deren Berufung zum „Sprachrohr der deutschen Nation“ abgewehrt.26 In der Weimarer Republik wurde das Leitbild des autonomen Schriftstellers durch die ökonomische Abhängigkeit der Autoren weiter untergraben, während „die Spezia­ lisierung und Ausdifferenzierung neuer Märkte die Berufsposition der marktkonformen Schriftsteller stärkte.“27 Die Heterogenität der Berufsgruppe blieb aufgrund der großen Unterschiede bei Einkommen, gesellschaft­lichem Status und künstlerischem Selbstverständnis weiter bestehen. Einen großen Einfluss auf das Selbstverständnis der im Kaiserreich sozialisierten bürger­lichen Autoren übte die fortschreitende Entkonturierung des Bürgertums und der im Kontext des neuhumanistischen Bildungskonzepts formulierten Funktion von Literatur aus. Da sich große Teile der literarischen Intelligenz über die Herkunft, Lebensführungsart und Wertmuster dem Bürgertum sozial und kulturell zugehörig fühlten, veranlaßte der Ausfall strukturierender Leitbilder eine Neuorientierung der in ihrer gesellschaft­lichen Position und Legitimation krisenhaft verunsicherten Schriftsteller.28

Anstelle des bürger­lichen Ideals der räsonierenden Öffent­lichkeit wurden in der Weimarer Republik vonseiten der Interessengruppe der bürger­lichen Schriftsteller Rufe nach einem „überpartei­lichen, autoritären Kulturstaat[es]“ laut, „der die Interessen der Werteelite gegen überlegene Gruppeninteressen“29 durchsetzen sollte.

25 Die Zahl der Presseorgane verringerte sich bis Juni 1916 um etwa 2.500. Nach Angaben der Schriftstellerzeitung „Die Feder“ fand insgesamt ein Rückgang von 6.689 Blättern 1913 auf nur noch 3.886 Blätter im Jahr 1919 statt. Vgl. Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 114. 26 Ebd., S. 115 f. 27 Ebd., S. 315. 28 Ebd., S. 316. 29 Ebd.

107

108

Emmi Lewald

2.2.1.2 Zwischen weiblicher Geschlechterrolle und Autorschaft Die Professionalisierung der Schriftstellerinnen im 19. Jahrhundert war im Gegensatz zu jener der männ­lichen Kollegen von besonderen Formen und Schwierigkeiten geprägt.30 Zum einen konnten Frauen bis zum Inkrafttreten des „Bürger­lichen Gesetzbuches“ (1900), sofern sie minderjährig oder verheiratet waren, nicht als selbstständige Geschäftspersonen auftreten und mussten sich durch den Ehemann oder Vater vertreten lassen. Zum anderen stand eine Berufstätigkeit im Widerspruch zur traditionellen weib­lichen Rollenvorgabe, auch wenn der Schriftstellerberuf eine der wenigen standesgemäßen Erwerbsmög­lichkeiten für bürger­liche Frauen darstellte. Autorinnen machten sich, ebenso wie andere berufstätige Frauen, schnell der Grenzverletzung ihrer Rollenvorgabe verdächtig und wurden als „Blaustrümpfe“ gescholten.31 Dennoch stieg die Zahl schreibender Frauen im Laufe des 19. Jahrhunderts parallel zur Zahl männ­licher Berufsschriftsteller, aber auch prozentual sprunghaft von 323 Autorinnen im Zeitraum zwischen 1700 und ca. 1820 auf 3.617 Autorinnen zwischen 1820 und 1900 an.32 Die Gründe für diesen beacht­lichen Anstieg schriftstellerisch tätiger Frauen sind über die neuen Publikationsmög­lichkeiten des sich ausdifferenzierenden Literaturmarktes hinaus vor allem in der steigenden Nachfrage nach Literatur für ein weib­liches Lesepublikum zu suchen.33 Zur Lebens- und Arbeitssituation der Schriftstellerinnen im wilhelminischen Kaiser­reich liegen bisher wenige gesicherte, verallgemeinerbare Forschungsergebnisse vor. Die wichtige Studie von Lucia Hacker zu schreibenden Frauen um 1900 auf Basis autobiographischer Selbstzeugnisse von Autorinnen für Brümmers Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten lässt jedoch einige grundlegende Aussagen zu Herkunft, sozialem 30 Vgl. Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz, S. 75 ff. 31 Der Begriff „Blaustrumpf“ hat seinen Ursprung in der englischen Salonkultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Londoner Salons wurden wegen des dort herrschenden intellektuellen Anspruchs „Blue-stocking-Salons“ genannt. Blaue Strümpfe gehörten zur Alltagskleidung der Frauen. Die Londoner Salonnieren legten einen größeren Wert auf Bildung als die der zeitgleich existierenden Pariser Salons, auch blieben die englischen Salons Männern häufig verschlossen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden „Blaustrümpfe“ vor allem abwertend die Aktivistinnen der Frauenbewegung genannt, d. h. „Emancipations-Damen“, aber auch Frauen, die sich der Gelehrtheit in irgendeiner Form verdächtig machten. Vgl. Kord: Sich einen Namen machen, S. 119 und Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Neumann-Kloth. Frankfurt a. M. 1991, S. 31. 32 Kord ermittelte die Zahlen durch die Auswertung der wichtigsten Verzeichnisse deutschsprachiger Schriftstellerinnen. Vgl. Kord: Sich einen Namen machen, S. 52. Die wachsende Zahl schreibender Frauen dokumentierten u. a. Sophie Pataky und Max Osborm. Vgl. Pataky: Lexikon deutscher Frauen der Feder [1898], Osborn: Die Frauen in der Litteratur und der Presse, S. 250. 33 Vgl. Caroline Bland / Elisa Müller-Adams: Weib­liche Beteiligung an der literarischen Öffent­lichkeit des langen 19. Jahrhunderts. In: Frauen in der literarischen Öffent­lichkeit 1780 – 1918. Bielefeld 2007, S. 9 – 25. S. 13.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Status, Schreibmotivation, Arbeitsweise und Selbstbild von Emmi Lewalds Schriftstellerinnengeneration zu.34 Auch Emmi Lewald fertigte um 1900 eine biografische Skizze für Brümmer an und wurde 1913 in dessen Lexikon aufgenommen. Die Mehrzahl der in der Studie berücksichtigten Schriftstellerinnen des Jahrgangs 1860 – 1889 kam ihrer Herkunft nach aus der bürger­lichen und adeligen Oberschicht (55,2 %), gefolgt von der oberen Mittelschicht (19,2 %) und der unteren Mittelschicht (12 %).35 In den zeitgenössischen Berufsstatistiken wurden Frauen aus der Oberschicht wie Emmi Lewald teils als hauptberuf­lich und nebenberuf­lich tätige Schriftstellerinnen, teils als Gelegenheitsschriftsteller, berufslose Angehörige oder Selbstständige ohne Beruf geführt.36 Die Motivation der Frauen, den Schriftstellerinnenberuf zu ergreifen, gestaltete sich sehr unterschied­lich. Der Literaturhistoriker Robert Prutz stellte bereits 1859 in Deutsche Literatur der Gegenwart fest, die Frauen drängten […] mit solchem Eifer in die Literatur, theils um auf dem Wege der literarischen Öffent­ lichkeit für ihre verkannten Rechte zu kämpfen, theils und besonders, um in der idealen Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft einen Trost und eine Entschädigung zu finden für die Leiden und Ungerechtigkeiten des Lebens.37

Neben den von Prutz angesprochenen emanzipatorischen und kompensatorischen Beweggründen spielten mit Sicherheit bei vielen Autorinnen auch die finanzielle Einkommenssicherung und die schriftstellerische Selbstverwirk­lichung als Motivation eine Rolle. Emmi Lewald benannte als ihre frühe Schreibmotivation ausdrück­lich ihren „Schriftstellerehrgeiz“, während sie 1900 im für Brümmer verfassten Selbstzeugnis ihr Engagement für die Rechte der Frauen betont.38 34 Lucia Hacker untersuchte die Lebens- und Arbeitssituation von Schriftstellerinnen um 1900 auf Basis von Quellen aus dem Nachlass des Lehrers und späteren Konrektors Karl Wilhelm Franz Brümmer (1836 – 1923), der nebenberuf­lich ab 1885 das Nachschlagewerk Lexikon der deutschen ­Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart konzipierte und publizierte. Sie wertet die in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin verwahrten Autobiographien und Selbstzeugnisse aus, welche die Autoren und Autorinnen Brümmer zur Konzipierung der Lexikon­ artikel zusandten. Der große Frauenanteil, ca. 20 % der erfassten Autoren, macht die Quellen des Brümmer-Nachlasses zu einer einmaligen Dokumentation weib­licher Schriftstellerexistenzen um 1900. Von ca. 6.000 persön­lich verfassten Selbstzeugnissen wählte Hacker für ihre Untersuchung 90 Beispiele aus. Vgl. Hacker: Rollen – Bilder – Gesten und Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. 6. Aufl. Leipzig 1913. 35 Die soziale Zuordnung nimmt Hacker nach dem Beruf des Vaters vor. Vgl. Hacker: Rollen – ­Bilder – Gesten, S. 47 ff. 36 Scheideler: Zwischen Beruf und Berufung, S. 32. 37 Robert Prutz: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848 – 1858. Bd. 2. Leipzig 1859, S. 252 f. 38 Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 23. Vgl. auch die handschrift­liche einseitige Kurzvita von Emmi Lewald, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Brümmer, Biograph II., Lewald, Emmi.

109

110

Emmi Lewald

In der Tat bestand zwischen den Aspekten der „Frauenfrage“ und der fiktionalen Literatur von Frauen eine starke Wechselbeziehung. Der Schriftstellerberuf war für die Frauen nicht nur der Weg, einen der geforderten fortschritt­lichen Lebensentwürfe selbst umzusetzen, sondern ermög­lichte ihnen durch Eintritt in das literarische Feld die Präsentation ihrer Konzepte und Forderungen in der bürger­lichen Öffent­lichkeit. Somit kommt Sprengels Feststellung, dass nicht zuletzt aufgrund „der literarischen Sozialisation der bürger­lichen Frauen jener Zeit […] die Auseinandersetzung um die Emanzipation der Frau in so hohem Grade zum Objekt literarischer Verarbeitungen und Dispute wurde“39, eine zentrale Bedeutung zu. Ihrem bürger­lichen Selbstverständnis folgend, griffen die Frauen für ihr Emanzipationsanliegen auf die urbürger­liche Idee von der Literatur als ‚Umschlagplatz‘ öffent­licher Debatten und als Ort der öffent­lichen Erprobung von weltanschau­lichen Konzepten zurück.40 Zudem konnte die fiktionale Literatur in den Unterhaltungszeitschriften und den Organen der Frauenbewegungspresse der Verbreitung emanzipatorischen Gedankenguts bei einem breiten Lesepublikum dienen und helfen, die Diskussion auch in bewegungsferne Kreise zu tragen. Zu dieser sozialkritischen Frauenliteratur sind mit Sicherheit eine Reihe von Romanen zu rechnen, die seit Ende der 1880er Jahre erschienen und auf eine in der bürger­lichen Gesellschaft des Kaiserreichs als radikal empfundene Weise die Rückständigkeit der Lebenswelt und Sozialisation bürger­licher Frauen behandeln.41 Zu dieser Kategorie zählen als herausragende Beispiele Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895), Helene Böhlaus Künstlerinnenromane Der Rangierbahnhof (1896) und Halbtier! (1899) sowie Franziska zu Reventlows Roman Ellen Olestjerne (1903).42 Trotz der literaturhistorischen Bedeutung des im Kontext der sozialdemokratischen und der bürger­lichen Frauenbewegung entstandenen emanzipatorischen Schrifttums war es […] zahlenmäßig und von seiner Verbreitung her in der Entstehungszeit des 19. Jahrhunderts eher eine Randerscheinung. Man kann sogar feststellen: Je energischer die Stimmen der Frauenbewegung wurden, desto stärker rührten sich konservative Gegenkräfte, die eine auf Traditionen bauende und die Dichotomie zwischen männ­licher und weib­licher Lebensweise festschreibende Literatur hervorbrachten.43 39 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 36. 40 Vgl. Winckler: Autor – Markt – Publikum, S. 9. 41 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 35 ff. 42 Vgl. zu den Romanen Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. 43 Häntzschel: Für „fromme, reine und stille Seelen“, S. 120. Auch Susanne Kord kam zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Autorinnen, die sich dem gängigen Frauenbild verpf­lichteten, die Zahl der „Ausnahmeautorinnen“ überwog, welche dagegen protestierten. Diese Autorinnen blieben nicht nur von der vorfeministischen, sondern besonders auch von der feministischen Literaturwissenschaft weitgehend unbeachtet. Als Grund dafür nennt Kord „die ausschließ­liche Konzentration auf feministische Texte und Autorinnen und Abwertung nicht progressiver Texte und Autorinnen in

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Wie Häntzschels Studien zum weib­lichen Lektüreverhalten gezeigt haben, traten Schriftstellerinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsäch­lich mit Gattungen und Stoffen an die Öffent­lichkeit, welche die traditionelle Geschlechterrollenzuschreibung stabilisieren halfen. In diese Literaturabteilung fallen Lebenshilfen, Ratgeber, Anstandsbücher, Lyrikanthologien und für die Damenlektüre „moralisch gereinigte[n]“ Literaturausgaben.44 Im Bereich der fiktionalen Literatur bedienten Autorinnen den Bedarf konservativer bürger­licher Familienblätter und Frauenmagazine mit Romanen, Novellen, Skizzen und anderen Prosatexten für ein überwiegend weib­liches Lesepublikum. Die in diesen Texten entworfenen fiktiven Welten spiegelten das Wertesystem und den Erfahrungshorizont der bürger­lichen Autorinnen und ihres Zielpublikums wider und wurden stark von den Themen und Problemen bestimmt, welche den Frauen aus ihrem persön­lichen Lebensalltag bekannt waren.45 Dennoch war die Grenze zwischen traditioneller und progressiver Darstellung der weib­lichen Sozialisation und Lebenswelt in der Literatur von Frauen dieser Zeit fließend. Wie Emmi Lewalds Beispiel verdeut­licht, lässt sich die Mehrzahl der deutschen Autorinnen nicht explizit einer konservativen oder fortschritt­lichen Kategorie zuordnen, wie es in der literaturwissenschaft­lichen Forschung lange üb­lich war, sondern muss nach differenzierter Werkanalyse in dem großen Spektrum zwischen diesen Polen verortet werden. Aussichtsreiche Publikationsorte für Schriftstellerinnen waren die zahlreichen Frauen- und Familienmagazine des deutschen Kaiserreichs, die als dankbare Abnehmer von Unterhaltungs- und Gesellschaftsromanen sowie Novellen und Skizzen bekannt waren.46 Nicht nur erfolgreiche Prosaautorinnen wie E. Marlitt (1825 – 1887), Wilhelmine von Hillern (1836 – 1916) und Hedwig Courths-Mahler (1867 – 1950) verdankten ihre Karrieren der auflagenstarken periodischen Presse, in der ihre Gedichte, Kurzprosa und Romane ein breites Publikum erreichten. Auch die heute geschätzten Autorinnen Marie von Ebner-Eschenbach, Gabriele Reuter und Ricarda Huch publizierten regelmäßig Fortsetzungsromane, Novellen, Skizzen und Gedichte in der feministischen Literaturwissenschaft“. Vgl. Kord: Sich einen Namen machen, S. 147. Interessanterweise kommt auch Hacker nach der Auswertung der Autographien aus dem Brümmer-Nachlass zu dem Ergebnis, dass nur vier der 90 untersuchten Selbstzeugnisse von Autorinnen Hinweise auf Sympathien oder ein Engagement für die Frauenbewegung enthalten. Sie vermutet, dass der verbreitete literaturwissenschaft­liche Eindruck einer starken Korrelation zwischen weib­licher Autorschaft und Engagement für die Frauenrechte durch die bisherige Konzentration der Forschung auf die progressive Literatur zustande kam. Gezielte Forschungen mit repräsentativen Ergebnissen, die zeigen könnten, ob in Hinblick auf die „Durchschnittsautorin“ eine Relativierung dieser Annahme notwendig ist, stehen jedoch noch aus. Vgl. Hacker: Rollen – Bilder – Gesten, S.  82 – 84. 44 Häntzschel: Für „fromme, reine und stille Seelen“, S. 125. Vgl. auch Häntzschel: Bildung und Kultur bürger­licher Frauen. 45 Häntzschel: Für „fromme, reine und stille Seelen“, S. 127. 46 Vgl. Bonter: Der Populärroman in der Nachfolge von E. Marlitt, S. 185.

111

112

Emmi Lewald

den führenden zeitgenössischen Unterhaltungszeitschriften. Emmi Lewald arbeitete vorrangig mit den Zeitschriften „Die Gartenlaube“, „Über Land und Meer“, „Die Frau“, „Vom Fels zum Meer“ und „Die Woche“ sowie den Tageszeitungen „Kölnische Zeitung“, „Weser-Zeitung“ und „Deutsche National-Zeitung“ zusammen. Solche Publikationen übten seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts einen heute unvorstellbaren Einfluss aus und wurden in allen gesellschaft­lichen Kreisen gelesen, im gebildeten, wohlhabenden Bürgertum, im Kleinbürgertum, aber auch von Hauspersonal und Arbeitern. Schriftstellerinnen im literarischen Feld des Kaiserreichs waren einem höheren Anpassungsdruck ausgesetzt als ihre männ­lichen Kollegen, da sie nicht nur im Spannungsfeld zwischen künstlerischem Anspruch und Marktabhängigkeit standen, sondern zusätz­lich aufgrund ihres Geschlechts mit einer Marginalisierung und „Genderisierung“47 ihrer Autorschaft zu kämpfen hatten. Schreibübungen und ausgedehnte Lektüre stellten in der Schulzeit und der Heimerziehung einen Kern der Mädchenausbildung dar, doch fand in diesem Bereich eine Ausrichtung der Ausbildung an der weib­lichen Geschlechterrolle statt. Künstlerische Kenntnisse und Fähigkeiten wurden nur zu Beschäftigungs- und Repräsentationszwecken im privaten Bereich gefördert und sollten die Stufe der besseren Laienkunst nicht überschreiten. 48 Diese Auffassung des Verhältnisses von weib­lichem Geschlecht und Kunstschaffen untermauerten antifeministische Philosophen, Kulturtheoretiker und Mediziner des 19. Jahrhunderts mit dem Argument einer natür­lichen künstlerischen Inferiorität der Frauen.49 Während dem Mann die Fähigkeit zu schöpferischem Künstlertum zugeschrieben wurde, wurden Frauen aufgrund ihrer vermeint­lichen Geschlechtseigenschaften auf die Rolle der Konsumentin und Reproduzierenden begrenzt.50 Die Berufsschriftstellerinnen erfuhren eine Begrenzung auf bestimmte Genres und Themen, die der weib­lichen Lebenswelt und dem weib­lichen Erfahrungshorizont angemessen schienen. Verbreiteter zeitgenössischer Auffassung nach fehlten den Frauen die für die ‚höheren‘ Genres notwendigen Eigenschaften der Objektivität, 47 Parr: Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz, S. 77. 48 Vgl. Dehning: Tanz der Feder, S. 34. 49 Die These des fehlenden künstlerischen Potenzials der Frau vertraten neben den prominenten Philosophen Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche nach 1900 vor allem der Nervenarzt Paul Julius Möbius in Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900), Otto ­Weininger in Geschlecht und Charakter (1903) und der Kunsthistoriker Karl Scheffler in Die Frau und die Kunst (1908). Vgl. zur zeitgenössischen Diskussion um die künstlerische Produktivität von Frauen D ­ ehning: Tanz der Feder, S. 41 – 48 und die Ausführungen zur „Minderwertigkeitstheorie“ bei Kord: Sich einen Namen machen, S. 20 f. 50 Vgl. ebd., S. 34, 39 – 48. Ein zeitgenössischer Beleg findet sich z. B. 1896 bei F. Sintenius: Ueber Frauenliteratur I. Warum dichten Frauen? II. Was schreiben Frauen? Riga 1897, Separatdruck aus der Baltischen Monatsschrift, November 1896. Zitiert nach Irma Hildebrandt: Vom Eintritt der Frau in die Literatur. Schreibend das Leben bewältigen. München 1983, S. 47 – 54.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

der Individualität und des Formbewusstsein, weswegen sie auf bestimmte Gattungen festgelegt wurden: Nach dieser Ansicht war eine Frau durch ihre Emotionalität zur Lyrik, durch ihre konkrete Beobachtungsgabe zu Roman und Erzählung, durch ihr Einfühlungsvermögen zu Brief und Briefroman und durch ihre mütter­ lich-erzieherischen Fähigkeiten zu pädagogischen Schriften befähigt.51 Trotz der Bemühungen der Frauenbewegung, den Vorwurf der „minderwertigen künstlerischen Produktivität“ von Frauen „als kulturelles Konstrukt“52 zu entlarven, empfanden et­liche Autorinnen ihre schriftstellerische Arbeit als Grenzüberschreitung der weib­lichen Geschlechterrolle und legten sich bereitwillig Selbstbeschränkungen auf. Beispielhaft für eine solche Position ist der Aufsatz Die Schriftstellerin (1889) von Amalie Baisch, der aus der zeitgenössischen Ratgeberliteratur für Frauen stammt.53 Im Stil der verständnisvoll ratenden Freundin rät Baisch ihren Leserinnen, sich im Zweifel lieber dem lohnenderen Hausfrauen- und Mutterberuf zuzuwenden, da der Schriftstellerberuf nur geringe Aussichten auf Erfolg böte. Wer sich trotzdem dafür entscheide, solle sich statt an „den korrektesten und hochklingendsten Versen“ lieber an „kleinen amüsanten Plaudereien“ und an Kindergeschichten versuchen, die dem weib­lichen „Gesichtskreis naturgemäß noch nahe“54 lägen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde in den Argumentationslinien für die Inferiorität der Literatur von Frauen die physiologisch-anatomische Begründung zum Teil um literaturhistorische Kategorien ergänzt. Der Literaturwissenschaftler Max Osborn leitet 1896 in seinem Überblickswerk zum Schriftstellerinnen- und Journalistinnenberuf das Kapitel Der litterarische Beruf und die Frauen mit der Feststellung ein, der „Grund für die Minderwertigkeit der weib­lichen Arbeit [sei] vor allem in der Tatsache zu suchen, daß seit Jahrtausenden dem weib­lichen Geschlechte nicht die Mög­lichkeit gegeben wurde, seine Anlagen genügend zu entfalten und seine Kräfte zu bethätigen.“55 Diese ‚Spätentwicklung‘ der Schriftstellerinnen machte Osborn auch für die Neigung schreibender Frauen zur Prosaform verantwort­lich: Die Frauen, die noch nicht durch die Schulung des Geistes und der dichterischen Begabung zur bewußten Konzentration ihrer Kräfte gelangt waren, griffen naturgemäß mit Freuden zum Roman und zur Novelle, wo sie sich weit freier bewegen konnten als im Drama oder auch in der Lyrik.56

51 Vgl. Kord: Sich einen Namen machen, S. 58. 52 Dehning: Tanz der Feder, S. 43. 53 Amalie Baisch: Die Schriftstellerin [1889]. In: Bildung und Kultur bürger­licher Frauen 1850 – 1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weib­lichen literarischen Sozialisation. Hg. von Günter Häntzschel. Tübingen 1986, S. 295 – 298. 54 Ebd., S. 297. 55 Osborn: Die Frauen in der Litteratur und der Presse, S. 248. 56 Ebd., S. 254.

113

114

Emmi Lewald

Wie dieses Beispiel verdeut­licht, wurde der Literatur von Frauen in der anhaltenden Debatte über weib­liche Autorschaft ein besonderer Charakter zugesprochen, der sie über den grundsätz­lichen Unterschied zu „männ­licher“ Literatur definierte.57 Emmi Lewald und ihre Autorinnengeneration mussten bei der Veröffent­lichung ihrer Werke mit einer geschlechtsspezifischen Literaturkritik rechnen, die ihre Werturteile in Abhängigkeit vom Geschlecht des Verfassers fällte. Sicher­lich ist ein Grund für diese Skepsis gegenüber der von Frauen verfassten Literatur in der Tatsache zu suchen, dass der wachsende Einfluss der Autorinnen auf den belletristischen Markt von zeitgenössischen Autoren und Literaturkritikern als negativ wahrgenommen wurde.58 Ihre Bedeutung für die Literaturproduktion ließ sich nicht mehr ignorieren, weshalb die Mehrzahl der Rezensenten dazu überging, „sie als Zeitphänomen zu akzeptieren und [ihnen] unter Hinweis auf ihre Geschlechtszugehörigkeit die Berechtigung zu literarischer Artikulation zuzuerkennen – dies aber vornehm­lich nur in bestimmten Gattungen oder Stoffen.“59 Um den Vorurteilen der Gesellschaft und der Literaturkritik zu begegnen, konnten Schriftstellerinnen bei der Gattungs- und Themenwahl verschiedene Anpassungsstrategien nutzen oder ihr Geschlecht und ihre Identität hinter einem Pseudonym verbergen. 2.2.1.3 Emmi Lewald alias Emil Roland – das Pseudonym 1933, rund 45 Jahre nach der Veröffent­lichung von Unsre lieben Lieutenants, schrieb Emmi Lewald, mittlerweile in Berlin eine etablierte und viel gelesene Schriftstellerin, über ihre Vorbereitungen zu den Charakterstudien: Ich machte eine Einkleidung, die allen Verdacht, daß hier ein junges Mädchen schrieb, ausschließen mußte, legte die Sache einem jungen Studenten als Referenten in den Mund, stattete ihn mit einigen burschikosen Redensarten aus, nahm ein ganz fremd klingendes Pseudonym und fühlte mich durchaus entdeckungssicher.60

Emmi Lewalds Entschluss, für ihre Erstveröffent­lichung 1888 ein männ­liches Pseudonym (Pseudoandronym) zu benutzen, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht ungewöhn­lich. Susanne Kord hat festgestellt, dass in dem Zeitraum von 1820 – 1900 von 3.617 ermittelten Autorinnen 38 %, näm­lich 1.394, eines oder mehrere Pseudonyme gebrauchten.61 Aus ihrer Statistik geht hervor, dass der Gebrauch männ­ 57 Bland / Müller-Adams: Weib­liche Beteiligung an der literarischen Öffent­lichkeit, S. 15. 58 Ebd., S. 17 f. 59 Nittke: Isolde Kurz und ihre Verleger, S. 73. 60 Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 23. 61 Zu den pseudonymen Formen zählt Kord in der Statistik Initialen, abgekürzte Vor- und N ­ achnamen sowie männ­liche und weib­liche Pseudonyme. Sie wertete auch das Lexikon deutscher Frauen der Feder

Emmi Lewald als Schriftstellerin

licher Pseudonyme im Vergleich zum Untersuchungszeitraum zwischen 1700 und 1820 von 12 % auf 34 % der ermittelten Autorinnen gestiegen ist, während der Gebrauch weib­licher Pseudonyme sank. Außerdem errechnet sie, dass 70 % der im 19. Jahrhundert unter falschem Namen schreibenden Autorinnen Pseudonyme gebrauchten, die eine männ­liche Identität vermuten ließen, näm­lich 34 % ein männ­liches Pseudonym und 36 % einen abgekürzten Vornamen. Aus diesen Zahlen lässt sich schließen, dass im Pseudonymgebrauch im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Trendwende eintrat: Neben der Verhüllung der Identität einer Schriftstellerin wurde die Unkennt­lichmachung des Geschlechts zunehmend wichtig. Im steigenden Gebrauch männ­licher Pseudonyme im 19. Jahrhundert spiegelt sich Kords Ansicht nach die ‚Schizophrenie‘ weib­licher Autorschaft infolge des Gewissenskonflikts schreibender Frauen, die ihre Arbeit als Übertretung der Grenzen der weib­lichen Geschlechterrolle und damit als gesellschaft­lichen Tabubruch erlebten. In der schizophrenen Spaltung, die diese Autorinnen mit sich selber vornahmen, liegt mehr als nur eine bewußte Abwehrreaktion auf die verstärkten Sanktionen gegen weib­liches Schriftstellertum im 19. Jahrhundert bzw. die Erkenntnis, daß unter männ­lichem Namen veröffent­lichte Werke eine größere Chance hatten, ernst genommen zu werden. Vielmehr handelte es sich in vielen Fällen um den Ausdruck der an unzähligen Briefen und litera­ rischen Werken weib­licher Autoren belegbaren Überzeugung, daß eine Autorin ein Unding sei: der Autor ist männ­lich.62

Eine unbewusste Anpassung an gesellschaft­liche Geschlechterrollenvorgaben deuten sich in Emmi Lewalds Schreiben nur in ihrem Erstling Unsre lieben Lieutenants (1888) an (s. u.). Sowohl für sich persön­lich als auch für ihre Schriftstellerinnenfiguren machte sie die Berechtigung zur Autorschaft stets von dem individuellen künstle­ rischen Talent einer Person abhängig.63 In ihrem Interview von 1933 führte die Autorin dagegen praktische, alltagsbezogene Beweggründe an, ein männ­liches Pseudonym zu benutzen: um die eigene Identität zu verhüllen und damit jede Verbindung zwischen ihrer Person und dem Text aufzuheben. Dass der Aspekt des Autorgeschlechts in der literaturkritischen Praxis eine herausragende Rolle spielte, zeigt folgendes Beispiel. Als Emmi Lewald 1894, in Oldenburg als ‚Emil Roland‘ längst enttarnt, einen neuen Gedichtband veröffent­lichte, tadelte der Rezensent Wilhelm von Busch sie in seiner ansonsten positiven Rezension für das von Sophie Pataky aus und hat somit Emmi Lewald, die dort nebst ihrem Pseudonym verzeichnet ist, statistisch berücksichtigt. Vgl. Pataky, Lexikon deutscher Frauen der Feder, S. 200, 497 f; Kord: Sich einen Namen machen, S. 53. 62 Kord: Sich einen Namen machen, S. 55. 63 Diese Haltung findet sich in Emmi Lewalds Novellen über weib­liche Autorschaft Die Globustrotterin (1898), Das Schicksalsbuch (1900) und in dem Roman Das Hausbrot des Lebens (1907).

115

116

Emmi Lewald

Kapitel „Lieder eines Troubadours“, in dem der Minnedienst lyrisch thematisiert wird.64 Die Besprechung ist ein typisches Beispiel für eine geschlechtsspezifische Literaturkritik. Schon aus der Benennung tritt uns eine befremdende Thatsache entgegen, die beim Lesen der betr. Gedichte noch störender auffällt: die Verleugnung des Geschlechts der Autorin. Es ist nicht Sache des Lesers, nach den Gründen ihres männ­lichen Pseudonyms zu fragen; wohl aber kann und wird er gegen die ihm angenöthigten erkünstelten, unwahren Gefühle Verwahrung einlegen, wie z. B. in den Troubadourliedern […]. Ihr kraftvolles Fühlen gereicht dem Weibe zur Ehre, für den vorgespiegelten Mann wird es kaum genügen.65

Um zu vermeiden, dass von ihrem biologischen Geschlecht auf die Qualität des literarischen Werks geschlossen wurde, sicherten sich viele Autorinnen durch ein männ­ liches Pseudonym den Vorteil, als männ­lich und daher vorteilhafter rezensiert zu werden. Emmi Lewald wählte als Pseudonym den Namen ‚Emil Roland‘, die männ­liche Form ihres ersten Vornamens Emilie in Kombination mit einem betont männ­lichen Namen, der durch die Verbindung zum mittelalter­lichen Rolandslied eine Fülle männ­ lich-heldenhafter Eigenschaften assoziiert.66 Dass Texte von männ­lichen Autoren nicht nur von Fachleuten, sondern auch von Laien intuitiv als qualitativ hochwertiger bewertet werden als die von weib­lichen Autoren, ist auch für die Gegenwart mehrfach bewiesen worden.67 Eine zweite wichtige Motivation für die Verwendung eines männ­lichen Pseudonyms durch Autorinnen bestand in der Geheimhaltung der Identität vor der Gesellschaft. Der Aspekt der Anonymität als Person war für Emmi Lewald zu Beginn ihrer Laufbahn noch entscheidender als der Schutz vor geschlechtsspezifischer Literaturkritik. 64 Wilhelm von Busch (1868 – 1940) wurde 1894 Lehrer an der Cäcilienschule in Oldenburg und schrieb nebenberuf­lich als Journalist für die „Nachrichten für Stadt und Land“. Ab 1897 arbeitete von Busch ausschließ­lich als Journalist und prägte als Chefredakteur von 1904 – 1933 entscheidend den Charakter der Zeitung und das kulturelle Leben der Stadt Oldenburg. Vgl. Hans Friedel: Johann Wilhelm Emil von Busch. In: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Oldenburg 1992, S. 112 f. 65 Vgl. die ausführ­liche Untersuchung der Rezension in Kap. 3.3 zu Emmi Lewalds Rezeption durch die Literaturkritik. Wilhelm von Busch: Neues von Emil Roland. Gedichte. Rezension in: Nachrichten für Stadt und Land 270 (20. November 1894). 66 Tatsäch­lich wurde das Eckhaus in der Roonstraße, in dem Emmi Lewald geboren wurde und aufwuchs, in Anlehnung an ihr Pseudonym im Volksmund „Rolandseck“ genannt. Vgl. den Artikel „Rolandseck und Drachenfels“. In: Der Oldenburgische Hauskalender 1948, 122. Jg., S. 26. 67 Kord verweist auf US-amerikanische Studien der 70er und 80er Jahre, u. a. Stacy (1974) und Spender (1980, 82, 88, 89), bei der in Schulen und Colleges Texte ohne Angabe des Autorennamen, ausgeteilt wurden. Ledig­lich das Geschlecht des Autors / der Autorin war bekannt. „Alle Texte, inklusive etablierte Texte wie Werther oder Faust erhielten schlechtere Noten, wenn die Studierenden davon ausgingen, der Text stamme von einer Frau.“ Vgl. Kord: Sich einen Namen machen, S. 125.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Die Autorin wählte für ihr Erstlingswerk als Erzählschauplatz Thüringen und publi­ zierte es im Leipziger Verlag Rauert & Rocco, um jede Spur zu verwischen, die auf sie als Autorin und auf die oldenburgische Gesellschaft als Sujet hätte verweisen können. Die Verschleierung der Autorschaft geboten Emmi Lewald ihre gesellschaft­liche Stellung und die Verantwortung, welche sie für die Reputation ihrer Familie und die poli­tische Integrität ihres Vaters trug. Das Skandalpotenzial der gesellschafts- und militär­kritischen Aspekte von Unsre lieben Lieutenants für das kleinstädtisch-konservativ geprägte Großbürgertum der Residenzstadt Oldenburg dürfte ihr jedenfalls bewusst gewesen sein. Obwohl sie unter dem Schutz des Pseudonyms publizierte, nutzte Emmi Lewald im Vorwort zu Unsre lieben Lieutenants eine Reihe von Bescheidenheitstopoi und Relativierungen, die als typische Manöver von Autorinnen des 19. Jahrhunderts zur Legitimation weib­lichen Schreibens identifizierbar sind.68 Solche Legitimationstechniken sind regelmäßig in der Literatur von Frauen dieses Zeitraums feststellbar und werden als Zugeständnis an die traditionelle Geschlechterrolle zu den pseudonymen Techniken gezählt.69 Mit der Nutzung männ­licher Pseudonyme durch Schriftstellerinnen beschäftigte sich die Autorin mehrfach literarisch in der Etablierungsphase ihrer Schreibkarriere, näm­lich in den Novellen Die Globustrotterin (1898), Zwischen Stendal und Uelzen (1898) und Das Schicksalsbuch (1900). Die Pseudonyme fungieren in den Texten zunächst als Schutz der bürger­lichen Verfasseridentität und dienen im Handlungsverlauf der Beweisführung, dass weib­liches Kunstschaffen dem der männ­lichen Autoren an Quali­ tät und Originalität gleichwertig ist.70 68 So ist es z. B. nicht der junge Student, der sein Werk veröffent­lichen will, weil er schlechte Erfahrungen mit kritischen Lesern und wählerischen Verlegern gemacht hat, sondern seine Begleiterin, die seine „hübschen Geschichten“ gerne gedruckt sehen möchte. Diese Strategie des ‚Vorschlags der Veröffent­lichung von außen‘, dem sogar durch den Verfasser noch widersprochen wird, ist typisch für Literatur von Frauen des 19. Jahrhunderts. So wird beim Leser die Vorstellung erzeugt, das Werk sei nicht aus Eitelkeit und Selbstüberschätzung, sondern auf zwingenden Wunsch anderer veröffent­licht worden. Vgl. Kord: Sich einen Namen machen, S. 101 ff. 69 Im Vorwort zu Unsre lieben Lieutenants und in dem Kapitel Auf der Gedankenjagd reflektiert Emmi Lewald ihr Thema sowie ihre Position als Schriftstellerin und versucht von vornherein, ihre Gesellschaftskritik zu mildern, indem sie das Werk als „bescheidene Charakterstudien“ (Vorwort zu Unsre lieben Lieutenants) vorstellt. Dabei stimmt sie rhetorisch in die bürger­liche Offiziersverherr­lichung ein und bescheinigt, dass „unser Offizierkorps [sic!], auch das jüngere, […] in Bezug auf soldatische und mensch­liche Eigenschaften über den Offizierkorps aller anderen Völker“ (Ebd.) stehe. Gerade um das Ansehen des Militärs zu erhalten, sei es „durchaus heilsam, wenn eine wohlmeinende Feder“ die Leutnants einmal „unter die Lupe gesellschaft­licher Kritik“ (Ebd.) nähme, um ihnen die Mög­ lichkeit zu Selbsterkenntnis und Selbstverbesserung zu geben. Mit „wohlwollendem Interesse“, „ohne böse Absicht“ und wärmster Verehrung des Sujets wolle sie die Leutnants kritisieren, wobei Übertreibungen zu entschuldigen seien. Vgl. Steinberg: Emil Roland, S. 42 ff. und Kord: Sich einen Namen machen, S. 101 ff, S. 107. 70 Vgl. das Kap. 4.2.2.3 zur Künstlerinnenthematik.

117

118

Emmi Lewald

2.2.2 Emmi Lewalds Entwicklung als Schriftstellerin 71 2.2.2.1 Die Oldenburger Zeit (1888 – 1896) Emmi Lewalds schriftstellerische Karriere begann 1888 in Oldenburg mit einer von Zeitungen, Politik und Gesellschaft höchst kontrovers diskutierten „literarischen Sensation“72. Sie hatte nach eigenen Angaben bereits früh den Wunsch gehegt, Schriftstellerin zu werden. Die für den Beruf notwendige Bildung hatte Emmi Lewald der bildungsbürger­lichen Erziehung ihres Elternhauses zu verdanken, wo ihr neben einer soliden Allgemeinbildung auch literarische und historische Kenntnisse sowie eine routinierte Schreibpraxis vermittelt wurden. In der Familie ­Jansen hatte es durch regelmäßige Lektüre und Schreibübungen, zu denen Günther Jansen seine Kinder ermunterte, gute Voraussetzungen und reich­lich Anregungen zum Schreiben gegeben: Mein Vater hielt uns Kinder von klein auf zu ernster Lektüre an und sah es mit Freude, wenn wir eifrige Leser waren und uns gute Bücher aussuchten. Ihm, der einen ungewöhn­lichen Sinn für Humor besaß, machte es viel Spaß, wenn wir Scherzgedichte verfassten, unsere alljähr­lichen Sommerreisen zu Weihnachten in Verse brachten und mög­lichst viele komische Pointen dahinein mischten.73

Die humoristische Einfärbung des literarischen Gegenstandes blieb Zeit ihrer Karriere ein wichtiges Kennzeichen von Emmi Lewalds Schreibstil. Günther Jansen war seit 1877 Mitglied der Literarischen Gesellschaft in Oldenburg gewesen und hatte selbst mehrere literaturhistorische und historische Werke über Oldenburg veröffent­ licht.74 Seine drei Töchter dichteten zum ‚Hausgebrauch‘ und die Zweitälteste, Emmi, entwickelte schließ­lich „besonderen Ehrgeiz“, ihrem Vorbild, der heute vergessenen Oldenburger Schriftstellerin Lina Römer nachzueifern.75 Bereits früh zeigt sie 71 Einteilung: 1. Die Oldenburger Zeit 1888 – 1896; 2. Die Etablierungsphase in Berlin 1896 – 1904; 3. Die Hauptphase in Berlin 1904 – 1914; 4. Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit 1914 – 1924; 5. Das letzte Jahrzehnt 1925 – 1935. 72 Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 21. 73 Ebd. 74 Bis 1888 veröffent­lichte Günther Jansen die Werke Die Revision der Norddeutschen Bundesverfassung und die Oberhausfrage (1870), Rochus Friedrich Graf zu Lynar, König­lich-Dänischer Stadthalter der Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst. Zur Geschichte der Nordischen Politik im 18. Jahrhundert (1873), Aus vergangenen Tagen. Oldenburgs literarische und gesellschaft­liche Zustände während des Zeitraums von 1773 bis 1811 (1877). Vgl. Hans Friedl: Gerhard Friedrich Günther Jansen. In: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, S. 346 – 349, hier S. 348 f. 75 Lina Römer wurde am 29. Juli 1844 in Oldenburg als jüngste Tochter des Präsidenten Römer geboren und besuchte in ihrer Jugend die Cäcilienschule. Ihre schriftstellerische Laufbahn begann im Jahr

Emmi Lewald als Schriftstellerin

I­ nteresse am Kulturleben des Kaiserreichs, wie ein Brief des Vaters von einer Dienstreise nach Eutin vom 3. Oktober 1883 belegt. Seinem Brief legt der Vater einen Artikel der „Kölnischen Zeitung“ über die Eröffnung des Theaters in Berlin bei, da seine sechzehnjährige Tochter Emmi sich für die künstlerische Entwicklung (des Schauspielers?) Kainz interessiert.76 Die Verbindung ihres regen Intellekts mit einem eigenwilligen und selbstbewussten Charakter, der ihr bereits als Kind bescheinigt wurde 77, und dem Ehrgeiz, einmal ein selbstgeschriebenes publiziertes Buch in den Händen zu halten, ließen Emmi Lewald früh mit dem Schreiben beginnen. Zu Beginn der zweijährigen Arbeit an ihrem ersten Romanmanuskript Der Mächtige des Augenblicks muss sie etwa achtzehn Jahre alt gewesen sein. Das heute unbekannte Manuskript wurde schließ­lich von dem angeschriebenen Verleger abgelehnt. Wie Emmi Lewald in dem Interview von 1933 berichtete, hatte er in der Begründung seines Entschlusses, „neben allerhand Lobendem das Donnerwort ‚unreif‘“ benutzt. Die ersten Partien der Arbeit brächten zuweilen nicht ganz wahrschein­liche Situationen.“78 Im Rückblick räumte die Schriftstellerin ein: „Wenn im Mächtigen Weltunkenntnis vom Verleger getadelt wurde, so mochte er Recht haben, was auswärtige Milieus betraf.“79 Mög­licherweise scheiterte Emmi Lewald bei ihrem geplanten Erstling an der Gattungsform des Romans; ihr erster Roman Sein Ich sollte erst 1896 erscheinen. Von der Ablehnung des Verlags ließ sich die junge ambitionierte Frau jedoch nicht entmutigen und begann sogleich mit der Arbeit an einem neuen Buch. Zunächst plante sie, erneut einen Roman zu schreiben. Da sie jedoch keinen passenden Handlungsstrang ersinnen konnte, entschied sie sich für die im 19. Jahrhundert populäre kurze Prosaform der Charakterskizze. Angeregt von der ihr vertrauten Kultur und Geselligkeit der großbürger­lichen und adeligen Kreise in der Residenzstadt Oldenburg, verfasste Emmi Lewald die Charakterstudien Unsre lieben Lieutenants. Als Tochter des oldenburgischen Staatsministers nahm sie an den wichtigsten gesellschaft­ lichen Veranstaltungen des Hofes, des Kasinos und der bürger­lichen Haushalte teil. Sie hatte auf Bällen, bei Theater­besuchen und anderen geselligen Zusammenkünften ausreichend Gelegenheit, die Heiratspolitik der höheren Schichten und die 1873 mit der Novelle Die Herrin von Perlenau, die anonym in den „St. Gallener Blättern“ erschien. Später schrieb Römer für die „Berliner Bürgerzeitung“ und veröffent­lichte mehrere Arbeiten in Buchform, so Clothilde. Eine Geschichte aus der Gesellschaft (1878), Ein Dorfkind in der Stadt. Einer wahren Begebenheit nacherzählt (1879), Schloß Dornow, Eine Novelle (1879) und Zwei Frauen. Eine Erzählung aus dem Leben (1882). Sie benutzte das Pseudonym C. Lynar. Vgl. Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bd. 6, S. 37; Pataky: Lexikon deutscher Frauen der Feder, S. 201; Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 21. 76 Vgl. den Brief von Günther Jansen an seine Frau aus Eutin am 3. Oktober 1883. NLA StaOL Best. 270 – 29 Nr. 3. Die Angabe gilt auch für die im Folgenden angegebenen Briefe. 77 Vgl. die Briefe von Günther Jansen an seine Frau zwischen 1870 und 1885. 78 Vgl. Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 23. 79 Ebd.

119

120

Emmi Lewald

Charaktereigenschaften der Offiziere im Leutnantsrang sowie deren Stellung in der oldenburgischen Gesellschaftsordnung zu beobachten. Beim Entwurf der als humoristische Karikatur angelegten Charakterbilder verzichtete Emmi Lewald auf die Gestaltung rein fiktiver und allgemeingültiger Typen und nahm stattdessen stadtbekannte Offiziere der drei in Oldenburg garnisonierten Regimenter zum Vorbild. Die Identitäten der nicht nament­lich genannten Leutnants wurden jedoch durch die Beschreibung von Charaktereigenschaften und Situationen in einer Weise angedeutet, dass jeder mit den Verhältnissen der Stadt Oldenburg vertraute Leser einfach Rückschlüsse auf die realen Personen ziehen konnte. Das Manuskript wurde rasch von dem kleinen Verlag Rauert & Rocco in Leipzig angenommen und im Laufe des Jahres 1888 pseudonym publiziert. Als Emmi Lewald ihr erstes Buch in den Händen hielt, fühlte sie sich in der Entscheidung für den Schriftstellerberuf bestätigt. Unvergeß­lich ist mir der Morgen, als ich das Buch bekam. Ich begann gleich eine neue Arbeit, Charakteristiken von Frauen und Mädchen. Ein Teil der Kapitel lag schon beim Verleger, als die Revolte gegen mich ausbrach. Ich ließ die Kapitel sofort zurückkommen und schloß sie definitiv zum Manuskript des Mächtigen in meine Truhe.80

Wie Emmi Lewald 1933 berichtet, hat eine enge Freundin, der sie sich anvertraut hatte, das Geheimnis ihrer Autorschaft verraten, worauf die Information durch Zeitungen und münd­liche Weitergabe im Winter 1889 in Oldenburg und über die Grenzen des Großherzogtums hinaus bekannt wurde.81 Zeitungsannoncen des Buchhandels belegen, dass das Buch in der Region einen reißenden Absatz fand und aufgrund seines militärischen Stoffes auch in anderen Garnisonsstädten des deutschen Kaiserreichs verbreitet wurde. Die starke öffent­liche Beachtung und Diskussion der Charakterstudien hatte mehrere Ursachen. Die Kritik an dem Buch war zum einen Ausdruck der starken Offiziersverehrung bürger­licher Kreise, die eine Verspottung des preußischen Militärs und vor allem des Offizierskorps als unentschuldbaren Tabubruch empfinden mussten. Da die in Oldenburg stationierten Offiziere zum Teil aus Preußen stammten und Emmi Lewalds Vater als Ministerpräsident des Herzogtums eine verantwort­ liche Position innehatte, veranlassten die Ereignisse sogar den preußischen Gesandten ­Philipp zu Eulenburg, dem Reichskanzler Otto von Bismarck einen schrift­lichen Bericht zu senden.82 Ein weiterer Grund für die starke Aufmerksamkeit war dem Umstand geschuldet, dass Emmi Lewald als Verfasserin eines satirischen Werks, das sich thematisch mit dem Militär befasste, in Konflikt sowohl mit den Genrekonven­ tionen als auch mit der gesellschaft­lichen Rollenerwartung an bürger­liche Frauen geriet.

80 Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 23. 81 Vgl. zum Gesellschaftsskandal um Unsre lieben Lieutenants (1888) Steinberg: Emil Roland. 82 Vgl. ebd., S. 98 ff.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Die Autorin bemerkte im Nachhinein, die gegen sie gerichtete, von Frauen geschürte Empörung habe mög­licherweise darauf beruht, […] daß jemand der von Kindesbeinen an harmlos zwischen ihnen gewandelt war und dann plötz­lich mit einem Buch auf dem Plan stand, „aus dem Rahmen trat“, wie man damals sagte, […] wirk­lich wie ein rotes Tuch gewirkt haben mag.83

Die Charakterstudien erfüllten für Emmi Lewalds Laufbahn als Schriftstellerin eine wichtige Funktion, indem sie einen regional begrenzten Skandal produzierten und ihren Bekanntheitsgrad steigerten, was den Umsatz in den Buchhandlungen ankurbelte und potenziell auch für das nächste Werk eine gute Abnahme versprach. Die privaten Konsequenzen, die Emmi Lewald in der Folgezeit tragen musste, gehörten dagegen zu den Schattenseiten ihres Erstlingswerks. Ungewollt hatte sie dem Ansehen ihrer Eltern geschadet, die für die Entgleisung ihrer Tochter verantwort­lich gemacht wurden, und die beruf­liche Position des Vaters vorübergehend in Gefahr gebracht. Die Autorin selbst wurde zum Klatschthema der oldenburgischen Gesellschaft und ihre Mutter erhielt „Beileidsbesuche“ von Freunden und Bekannten, welche die Heiratschancen der Tochter durch die Veröffent­lichung herabgesetzt sahen. Wie Emmi Lewald berichtete, rieten Bekannte Marie Jansen dazu, ihrer Tochter das Schreiben zu verbieten und sie zu Erziehungszwecken in einen Pastorenhaushalt zu schicken. Tatsäch­lich entschieden sich die Eltern dafür, ihre Tochter Emmi für einige Monate verreisen zu lassen. Ob diese allerdings die mütter­liche Familie Frommelt in Thüringen besuchte, zu Bekannten in die Reichshauptstadt Berlin oder bereits ins europäische Ausland reiste, ist nicht bekannt. Im Rückblick berichtete Emmi Lewald 1933: „Nur durch das Leutnantsbuch lernte ich meinen Mann kennen und verdanke also mein Lebensglück dieser Jugendsünde, die von meinen Landsleuten so schwer gemißbilligt wurde.“84 Mit der Engstirnigkeit, Provinzialität und Konventionsstarre der Oldenburger Gesellschaft rechnete sie in der 1894 erschienenen Novelle Sturm im Wasserglas ab.85 Das Schreiben verboten Marie und Günther Jansen ihrer Tochter nicht, sie überwachten jedoch die Veröffent­lichung ihres nächsten Buches Der Cantor von Orlamünde 86 im Jahr nach dem Skandal 1889 in der Schulzeschen Hofbuchhandlung Oldenburg genau und korrespondierten begleitend mit dem Verleger August Schwartz, der die Herausgabe des Gedichtbandes besorgte. Die Sorge erwies sich als unbegründet, da es sich bei Der Cantor von Orlamünde um eine in Prosaabschnitte eingebettete Sammlung von Gedichten handelt, die von den Reisen eines Protagonisten nach Thüringen und 83 Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 23 84 Ebd. 85 Die Novelle erschien 1894 in „Die Frau“. Vgl. Emil Roland: Sturm im Wasserglas. 86 Die zweite Auflage erschien 1894. Vgl. die Neuerscheinungsliste in Schrattenthal’s Rundschau 1 (1894), Nr. 11 (1. März 1894) , S. 87.

121

122

Emmi Lewald

Italien, von Sehnsucht und unerfüllter Liebe erzählen. Dieser thematische Dreiklang begeisterte auch den Rezensenten einer meinungsführenden Literaturzeitschrift des deutschen Kaiserreichs, der „Blätter für literarische Unterhaltung“: All dies zusammen befähigt Emil Roland, seine Landschaften und Reisebilder mit einem besonderen warmen, wohlthuenden Gemüthshauche zu beseelen. Aus den vielen wohlklingenden Bildern eins herauszuheben ist schwer, denn sämmt­liche Gedichte sind fertig.87

Der Rezensent Karl Spittler lobt zwar Emmi Lewalds lyrische Arbeiten, kritisiert jedoch an den erzählenden Passagen des Cantor von Orlamünde, sie seien „im abscheu­ lichsten, blumig-sentimentalen Dilettantenstile geschrieben“ und „für den litera­ rischen Werthe des Buches […] mehr als überflüssig“.88 Das Lob der Gedichte und die Rezension in der bekannten Literaturzeitschrift müssen jedoch als erster Erfolg der jungen Schriftstellerin gewertet werden und zeigen, dass sie nach der öffent­lichen Aufmerksamkeit für Unsre lieben Lieutenants mittels des nachfolgenden Gedichtbands die Aufnahme ins literarische Feld erreichen konnte. Der Schritt vom Sensationserfolg des Erstlings zur lyrischen Gattung, mit der ein Autor kaum finanzielle Erfolge, aber Achtung für sein handwerk­liches Können erzielen konnte, war Emmi Lewald geglückt. Dass es sich bei den beiden Bänden um den-, besser dieselbe Verfasserin handelte, wurde auf dem Titelblatt des Gedichtbandes bewusst hervorgehoben. Das längst gelüftete Pseudonym Emil Roland diente nun nicht mehr ausschließ­lich dem Schutz der Autoridentität, sondern stellte eine Verkaufsstrategie dar, die sich den Publikumserfolg des Leutnantbuchs zunutze machte. Obwohl Rezensenten wie Karl Spittler und wahrschein­lich eine Vielzahl von Lesern zu diesem Zeitpunkt noch von einem männ­lichen Verfasser ausgingen, verbreitete sich die wahre Identität der Verfasserin sehr schnell. Dazu mag nicht zuletzt Emmi Lewalds früh einsetzendes, intensives Bemühen um eine optimale Vermarktung ihrer Texte beigetragen haben. In Absprache mit ihrem Oldenburger Verleger August Schwartz konnte sie bereits Auszüge aus dem ersten Gedichtband in der Unterhaltungszeitschrift „Zur guten Stunde“ als Zweitdruck veröffent­lichen.89 Dem Cantor von Orlamünde folgte bereits 1891 die Novellensammlung Ernstes und Heiteres, die in dem Jenaer Verlag von Friedrich Mauke und damit wie der Erstling in einem auswärtigen Verlag erschien. Neben Charakterskizzen und Gedichten nutzte 87 Karl Spittler: Erzählendes in dichterischer Form. In: Blätter für literarische Unterhaltung 64 (1890), Nr. 2 (9. Jan.), S. 21 – 23. 88 Ebd. 89 Vgl. Brief von Emmi Jansen an August Schwartz am 22. Juni 1890. Emmi Lewalds Korrespondenz mit der Schulzeschen Hofbuchhandlung Oldenburg befindet sich ohne Bestandsangaben im Autoren­archiv in der Handschriftenabteilung der Landesbibliothek Oldenburg. Diese Angaben gelten für alle in dieser Arbeit zitierten Briefe des Konvoluts.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Emmi Lewald mit der Novellenform eine weitere populäre Gattung des 19. Jahrhunderts. Ihre einfachen Novellen sind erneut in der gesellschaft­lichen Oberschicht angesiedelt, denn als bürger­liche Protagonisten tauchen Studenten, Offiziere, Beamte und Privatdozenten auf, auf weib­licher Seite dagegen Junggesellinnen, junge bürger­liche Frauen und Schulmädchen. Den Handlungsrahmen bilden bürger­liche Lebenssitua­ tionen wie Dienstreisen, Sommerreisen, Bälle und der kleinstädtische Alltag. Eine Kritik der „Blätter für literarische Unterhaltung“, die offensicht­lich noch stets von einem männ­lichen Verfasser ausgeht, misst der Novellensammlung einen qualitativ geringeren Wert als den vorangegangenen Gedichten bei, doch bescheinigt Rezensent M. Bensey ihnen einen guten Unterhaltungswert. „Das ist ziem­lich leichte Waare [sic], doch nicht ohne einige charakteristische Zeitwahrheit in den schnell hingeworfenen Bildchen.“90 Durch wiederholte humoristische Anflüge würden dem Leser die Lesestunden angenehm „verplaudert“. Die Gabe leichter Darstellung ist unverkennbar. Möge sie sich, sobald sie gereifter, an weniger Alltäg­lichem versuchen und dann auch der Sprache, die zwar vorwiegend leicht und einfach, aber dennoch nicht frei von Nachlässigkeit wie von Gesuchtheit ist, mehr Sorgfalt widmen.91

Aus heutiger Sicht kann die zeitgenössische Einordnung der Novellensammlung als oberfläch­liche Unterhaltungsliteratur zum Teil bestätigt werden, es muss jedoch auch der Anflug kritisch-humoristischer Gesellschaftsschilderung in den Texten berücksichtigt werden. Die Novelle Der Traum des Philosophen handelt beispielsweise von der Übernahme des militärischen Ehrbegriffs und militärischer Alltagsformen durch die bürger­lichen Schichten des Kaiserreichs. Anhand der Duellpraxis kritisiert die Novelle die paradoxe Moral einer an der Schwelle zur Moderne stehenden Gesellschaft, in deren Selbstverständnis jene archaisch-militärischen Riten eine wichtigere Rolle spielen als kulturelle und zivilisatorische Errungenschaften.92 Im Jahr 1891 korrespondierte Emmi Lewald mit dem Stuttgarter Lexikograf und Verleger Joseph Kürschner, dem Herausgeber des für zeitgenössische Autoren wich­ tigen Werks Kürschner‘s Deutscher Literatur-Kalender, über ihre Aufnahme in das Autorenverzeichnis. Diese erreichte sie durch die Zusendung biografischer Angaben und Belegexemplare ihrer bis dahin erschienenen Werke. Anbei schicke ich – wie es in dem Zirkular betreff des Litteraturkalenders verbeten wurde – ein Exemplar des bereits von mir gedruckten Buches. Die beiden anderen werden Ihnen 90 M. Bensey: Erzählungen. In: Blätter für literarische Unterhaltung 64 (1890), Nr. 48 (27. Nov.), S.  757 – 760. 91 Ebd. 92 Vgl. Emil Roland: Der Traum des Philosophen. In: ders.: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen. Jena Mauke 1891, S. 33 – 42.

123

124

Emmi Lewald

in nächster Zeit ebenfalls zugehen, das eine von dem Verlag in Jena, das andere, sobald ich ­wieder im Besitz eines verfügbaren Exemplars bin. Zugleich möchte ich bitten, ob ich vielleicht ein Belege-Exemplar der Novellette „der Pintscher“ (Romanbibliothek) erhalten dürfte? Ich schickte das meine fälsch­lich mit Korrekturen zurück […].93

Lewalds Präsenz mit Namen, Pseudonym und Werkangaben in Kürschner’s Deutsche[m] Literatur-Kalender, der alle beruf­lichen und nebenberuf­lichen Autoren und Autorinnen der Zeit aufführte, ist ein wichtiges Zeichen ihrer Etablierung im literarischen Feld.94 Unklar ist in diesem Zusammenhang, warum die Autorin Kürschner um ein Belegexemplar der in der „Deutschen Roman-Bibliothek“ der Stuttgarter Verlags-Anstalt publizierten Novelle Der Pintscher bittet.95 Nachdem ihre erste Novellensammlung veröffent­licht worden war, arbeitete Emmi Lewald an neuen Gedichten und einer Reihe kurzer Prosatexte. Es entstand die „Badenovelle“ Auf diskretem Wege (1892), deren Handlung in dem populären Nordseebad Norderney angesiedelt ist. Norderney war im 19. Jahrhundert ein beliebter Urlaubs- und Kurort der höheren Gesellschaftsschichten, wo die Autorin mit ihrer Familie wahrschein­lich mehrere Sommerurlaube verbrachte. Es gelang ihr, den Text über eine Heiratsvermittlung, der auch einige Landschaftsbeschreibungen der Insel enthält, in einem regionalen Verlag unterzubringen, dem in Norden und Norderney ansässigen Braams-Verlag. Kurze Erzähltexte wie diese Novelle waren für Autorinnen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht interessant, da sie sich einerseits in Sammelbänden bei einem Verlag zusammenfassen, anderseits leicht in Zeitungsfeuilletons und Unterhaltungszeitschriften veröffent­lichen ließen. Durch diese Doppelvermarktung ermög­lichten Novellen einen guten finanziellen Gewinn und außerdem die Mög­lichkeit, durch die Zusendung einer Arbeit den Grundstein zur langfristigen Zusammenarbeit mit der Redaktion eines Presseorgans zu legen. Auf diese Weise begann vermut­lich auch Emmi Lewalds langjährige Mitarbeit bei der in Berlin von Helene Lange neugegründeten Zeitschrift „Die Frau. Monatsschrift für

93 Brief von Emmi Jansen an Joseph Kürschner am 13. Oktober 1891. GSA 55/2195. 94 Vgl. Joseph Kürschner (Hg.): Kürschner’s Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1892. 14 (1892), Stuttgart. 95 Mög­licherweise handelt es sich ebenfalls um ein Belegexemplar für die Redaktion des Literaturkalenders. Joseph Kürschner hatte ab 1881 bis 1889 die Redaktion der Unterhaltungszeitschrift „Vom Fels zum Meer“ inne, die im Stuttgarter Spemann-Verlag erschien. Dort war er auch für die Herausgabe der „Collektion Spemann“ und der Reihe „Deutsche National-Literatur“ verantwort­lich. Neben der Publikation verschiedener Handbücher betreute Kürschner zudem die literarische Reihe „Kürschners Bücherschatz“, die im Berliner H. Hillger-Verlag erschien. Vgl. Hans Lülfing: Joseph Kürschner. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13. Berlin 1982, S. 234 – 236. Die Novelle Emil Roland: Der Pintscher. Novellette erschien 1892 in Deutsche Romanbibliothek 20 (1892), Bd. 1, H. 1, S. 39 – 46.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

das gesamte Frauenleben unserer Zeit“, die zum Sprachrohr der gemäßigten Frauenbewegung wurde.96 Bereits im ersten Jahrgang der Zeitschrift erschien Lewalds Skizze Die Brüder (1894), welche im selben Jahr unter dem Titel Gregor und seine Brüder in dem Novellenband Die Geschichte eines Lächelns veröffent­licht wurde.97 Als zweiter Text erschien im April 1894 die titelgebende Novelle des Bandes Die Geschichte eines Lächelns unter dem abgekürzten Mädchennamen der Autorin.98 Wie Emmi Lewald den Kontakt zur Redaktion von „Die Frau“ herstellte, ist nicht bekannt, allerdings stammte Helene Lange ebenfalls aus dem gehobenen Oldenburger Bürgertum. Emmi Lewald publizierte in der Zeitschrift bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Novellen und Gedichte; für die Werke Sturm im Wasserglas (1894), Blaue Blume (1896) und zahlreiche Gedichte blieb dies der einzige Veröffent­lichungsort.99 Die Orientierung zur Literatur- und Kulturmetropole Berlin ist somit schon in den ersten Jahren von Emmi Lewalds schriftstellerischer Laufbahn gegeben. Neben Kontakten zu den Aktivistinnen der bürger­lichen Frauenbewegung stellte sie Verbindungen zu Berliner Verlagen her und publizierte im Laufe ihres außerordent­lich produktiven Arbeitsjahres 1894 im Verlag von Alexander Duncker die Sammlung Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen und bei der Deutschen Schriftsteller-Genossenschaft die Novelle Fräulein Kunigunde. Der Novellenband Die Geschichte eines Lächelns wurde in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ mit größerer Anerkennung aufgenommen als Der Cantor von Orlamünde. Der Literaturkritiker bzw. die Literaturkritikerin M. Rachel lobt den Humor der Erzählungen, den „beobachtende[n] Geist und eine geschickt wiedergebende Hand“.100 Die Stoffe der Autorin seien tragisch, beinhalteten aber immer eine versöhn­liche Wendung, im Zuge derer die Protagonisten zu einer resignativen Haltung und der Erkenntnis fänden, dass das Leben bestimmte Leiden unabänder­lich für sie bereithalte. „Und nicht nur um der ernsten und doch abgeklärten Weltanschauung willen, sondern auch wegen der guten Sprache und der sorgfältigen Darstellung im einzelnen, verdienen die Roland’schen Novellen alles Lob.“101 Die Auflösung einer Problemstellung in einer resignativen Haltung der Protagonisten, die eigene Lebenssituation als unabänder­lich zu akzeptieren, kennzeichnet auch viele spätere Werke der Autorin, vor allem ihre Frauenentwicklungsromane.

96 Zu Emmi Lewalds Publikationen in der Frauenbewegungspresse vgl. auch Kap. 3.1.3.2. 97 Vgl. Emil Roland: Gregor und seine Brüder. In: ders: Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen. Berlin A. Duncker 1894, S. 91 – 104. 98 Vgl. E. Jansen: Die Geschichte eines Lächelns. In: Die Frau 1 (1893/94), H. 7 (Apr. 1894), S. 457 – 471. 99 Vgl. Emil Roland: Sturm im Wasserglas und Emmi Jansen (Emil Roland): Blaue Blume. In: Die Frau 3 (1895/96), H. 12 (Sept. 1896), S. 722 – 734. 100 M. Rachel: Allerhand Humore. In: Blätter für literarische Unterhaltung 68 (1894), Nr. 39 (27. Sept.), S.  616 – 618. 101 Ebd.

125

126

Emmi Lewald

Im Winter 1894 erschien mit Gedichte eine neue Lyrik-Sammlung, die Emmi Lewald seit Mai 1894 in Zusammenarbeit mit dem Oldenburger Verleger August Schwartz und der Schulzeschen Hofbuchhandlung vorbereitet hatte.102 Die thematisch unterschied­ lichen Gedichte des 150 Seiten starken Bandes wurden von der Autorin in acht Kapiteln geordnet.103 In den Kapiteln Adlersang, Dorf-Idyll und Vermischte Gedichte sind Reise- und Landschaftsbilder zu finden, während ein Zyklus von sieben Gedichten und Balladen dem Thema Napoleon I. gewidmet ist. Das Kapitel Im Kunstsalon enthält lyrische Betrachtungen einzelner Gemälde, Porträts und Landschaftsbilder, die Emmi Lewald mit großer Wahrschein­lichkeit in der großherzog­lichen Gemälde­galerie „Augusteum“ in Oldenburg studiert hatte (vgl. 4.1.1). Die Gedichte werden von der Literaturkritik der „Blätter für literarische Unterhaltung“ ausgesprochen positiv aufgenommen und Richard Weitbrecht, dem inzwischen bekannt ist, dass sich hinter dem Namen Emil Roland die Verfasserin Emmi Lewald verbirgt, beurteilt die Gedichtsammlung als einen „sehr werthvollen Beitrag“ zur qualitativ hochwertigen Frauenlyrik der Zeit.104 Weitbrecht lobt neben der originellen Darstellung bekannter lyrischer Stoffe vor allem die Formsicherheit der Autorin: Schon der erste Blick auf die künstlerische Form, die fast durchaus untadelhaft ist, gewinnt. Die Dichterin ringt nicht mit der Form, sondern diese wird ihr ungesucht zum Ausdruck dessen, was sie empfunden hat. Und zwar steht der Ausdruck stets auf dichterischer Höhe und sinkt weder in Prosa herab, noch bewegt er sich im landläufigen lyrischen Gang.105

Während Weitbrecht im Rahmen seines Artikels allgemein seine Verwunderung ­darüber ausspricht, warum zahlreiche zeitgenössische Autorinnen ihre hervorragenden Gedichtsammlungen unter einem männ­lichen Pseudonym publizieren, kritisiert der Oldenburger Journalist Wilhelm von Busch diesem Umstand ganz konkret an Emmi Lewalds Gedichte[n], da er das Spiel mit den Geschlechteridentitäten als störend empfindet. Dennoch lobt er die literarische Hochwertigkeit der Lyrik und befindet, der Band enthalte „eine große Anzahl schöner, tief empfundener und formvollendeter Poesien […], die in jeder Beziehung Beachtung verdienen, was man leider von dem größeren

1 02 Vgl. die zwischen Emmi Lewald bzw. ihrer Mutter Marie Jansen und August Schwartz im Jahr 1894 gewechselten Briefe. Die Gedichtsammlung erschien im Dezember 1894. Vgl. die Neuerscheinungsliste in Schrattenthal’s Rundschau 2 (1895), Nr. 8 (15. Jan. 1895), S. 72. 103 Vgl. 1. Adlersang, 2. Dorf-Idyll, 3. Lieder des Troubadours, 4. Vermischte Gedichte, 5. Sturm und Drang, 6. Napoleon, 7. Karyatiden, 8. Im Kunstsalon. Emil Roland: Gedichte. 2. Aufl. Oldenburg und Leipzig o. J. 104 Richard Weitbrecht: Frauenlyrik. In: Blätter für literarische Unterhaltung 69 (1895), Nr. 11 (14. März), S.  171 ff. 105 Ebd.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Teil des [sic] Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Lyrik nicht behaupten kann“.106 Die Dichterin befasse sich nicht nur mit der Historie oder phantastischen „Wunderländern“, sondern gehe „auch ernsten Blickes durch unsere Zeit, sieht ihre Wunden und ruft die Menschen zu helfender That auf“107 Emmi Lewalds Vermischte Gedichte geben laut von Busch „für die Mannigfaltigkeit ihres Talents glänzendes Zeugnis ab“ und er geht so weit zu bemerken, dass einige Strophen aus dieser Rubrik ihn an die Schönheit der Lyrik Lenaus und Eichendorffs erinnern. Der Rezensent lobt ausdrück­ lich das lyrische Talent der Autorin und grenzt es deut­lich von ihren erzählerischen Leistungen ab. Der literarische Wert des Gedichtbandes läge „in der formvollendeten, fein ausgearbeiteten Sprache […], zur Genugthuung aller, die ihre Vernachlässigung in den Prosaschriften der Verfasserin bedauerten.“108 Zusammengenommen wurde Emmi Lewald in der „Oldenburger Zeit“ zwischen 1888 und 1896 durch kürzere Prosaarbeiten wie Charakterstudien, Gedichte, Skizzen und Novellen einem ersten Kreis von Verlegern, Lesern und Literaturkritikern bekannt. Sie nutzte von Anfang an sowohl die traditionellen als auch die modernen Publikationsmög­lichkeiten des Verlags, der Zeitung und der Zeitschrift und knüpfte wichtige Kontakte, die sich im Verlauf ihrer schriftstellerischen Laufbahn für den Absatz der Texte als nütz­lich erwiesen. Den größten ideellen Erfolg erzielte die Autorin mit ihren Gedichtbänden, die von der Literaturkritik anerkennend gelobt und von ihrer literarischen Qualität her über ihre Prosa gestellt wurden. Nicht zuletzt dieser Zugewinn an symbolischem Kapital unterstützte Emmi Lewalds Etablierung im literarischen Feld, indem er ihr Publikationen bei wichtigen Verlagen wie Cotta und Fontane & Co. ermög­lichte und Rezensionsorgane wie die „Blätter für literarische Unterhaltung“ auf ihre Werke aufmerksam machte. Den besten ökonomischen Gewinn erzielte sie jedoch mit der Doppelvermarktung ihrer Novellen in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden. Das Einkommen aus der schriftstellerischen Arbeit dürfte für die junge unverheiratete Emmi Lewald einen wichtigen Erfolgsfaktor dargestellt haben, da es ihr in ihrer Lebenssituation im elter­lichen Haushalt ein gewisses Maß an Selbstständigkeit garantierte und ihren beruf­lichen Erfolg nach außen hin sichtbar machte. Dass Emmi Lewald sich bis Mitte der 1890er Jahre als Schriftstellerin eine gewisse Bekanntheit auf dem literarischen Markt erarbeitet hatte, mag dazu beigetragen haben, dass der Verlag von Friedrich Fontane & Co., bei dem die anspruchsvolle Literaturzeitschrift „Pan“ erschien, sich bereit erklärte, 1896 ihren ersten Roman Sein Ich zu publizieren. Mit Sicherheit kannte Emmi Lewald Theodor Fontanes Sohn Friedrich Fontane aus den Jahren 1884 – 1886, als dieser in Oldenburg in der Schulzeschen Hofbuchhandlung bei August Schwartz eine Ausbildung zum Buchhändler absolviert 106 Die Rezension von Wilhelm von Busch mit dem Titel Neues von Emil Roland erschien 1894 in den Oldenburgischen „Nachrichten für Stadt und Land“. 107 Ebd. 108 Ebd.

127

128

Emmi Lewald

hatte.109 Friedrich Fontane hatte seinen Verlag in Berlin 1888 gegründet und verlegte bis 1908 sechs Bücher von Emmi Lewald, die Romane Sein Ich (1896) und Das Hausbrot des Lebens (1907) sowie vier Novellenbände. In ihrem ersten Roman Sein Ich thematisiert die Autorin die Auswirkungen des neuen weib­lichen Selbstverständnisses auf das Verhältnis der Geschlechter in der bürger­lichen Gesellschaft, indem sie die wechselvolle Beziehung zwischen der modern denkenden, selbstständigen Ottilie Wächter und dem egoistischen bürger­lichen Karrieristen Leo ausgestaltet, dessen Denken ganz von den Konventionen und Standesvorgaben seiner Gesellschaftsschicht bestimmt wird. Die Literaturkritik nahm Sein Ich größtenteils positiv auf, wobei das Lob besonders der ethischen Tendenz des Romans gilt, die in der Verurteilung des Egoismus gesehen wird, aber auch der Figurenzeichnung sowie der eigenwilligen Handlungsführung, die mit dem resignativen Ende die Leseerwartungen des Publikums enttäuscht. Die „Kölnische Zeitung“ schreibt über Emmi Lewalds „sehr feine Studie modernen Lebens“110: Wir haben da die Charakteristik jener an sich tüchtigen Männer vor uns, die infolge ihrer Selbstsucht sich um das eigene höhere Lebensglück bringen, weil sie unbequemen Verhältnissen, gesellschaft­lichen Schwierigkeiten aus dem Wege gehen, immer nur ‚korrekt‘ handeln wollen. […] Dieses Thema wird auf einem vortreff­lich charakteristischen gesellschaft­lichen Hintergrund mit sicherer Weltkenntnis, anschau­licher Seelenkunde und geistreicher, aber keineswegs aufdring­licher Darstellungsweise in fesselnder Weise behandelt.111

Im Hinblick auf Emmi Lewalds schriftstellerische Entwicklung stimmen die Rezen­ sionen darin überein, dass ein gutes erzählerisches Talent vorliegt, das „Leipziger Tageblatt“ spricht von einem „schöne[n] schwung- und poesievolle[n] Stil“, der Rezensent von „Velhagen und Klasings Monatsheften“ meint, Emil Roland sei ein „echter Dichter“ und selbst der etwas nüchternere Kritiker Lier der „Blätter für literarische Unterhaltung“ schreibt, „der anregende Stoff“ sei „nicht ohne erzählerisches Talent, die Charakteristik flott und sicher“112. Lier findet jedoch auch kritische Aspekte, wie jenen, die Handlung sei „vielleicht etwas gekünstelt, wie denn auch im Stil hier und dort Absonder­lichkeiten, die Effect machen sollen, auffallen“113. Kennzeichnend für den Roman ist im Hinblick auf Emmi Lewalds Gesamtwerk, dass dort thematisch

109 Vgl. Gottfried Sieler: 200 Jahre Bücher am Schloßplatz. Von der Schulzeschen Hofbuchhandlung zur Buchhandlung Anna Thye. Mit einem Ausblick von Gerda Fritz. Oldenburg 2000, S. 98 f. 110 Die Rezension in der „Kölnischen Zeitung“ ist einer vom Fontane-Verlag zusammengestellten Sammlung von Rezensionen entnommen, die der Erstausgabe des Bands Kinder der Zeit (1897) angefügt ist. 111 Ebd. 112 Leonhard Lier: Neue Romane und Novellen. In: Blätter für literarische Unterhaltung 70 (1896), Nr. 48 (26. Nov.), S. 759 – 760. 113 Ebd.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

zum ersten Mal der Konflikt zwischen der im Zuge der neuen Selbstbestimmungsund Bildungsmög­lichkeiten veränderten Frauenrolle und der Haltung männ­licher Bildungsbürger behandelt wird. Der Umstand, dass Italien in Emmi Lewalds erstem Gedichtband von 1894 thema­ tisch noch keine Rolle spielt, scheint ein Indiz dafür zu sein, dass ihre erste Italienreise im Laufe der Jahre 1894/95 stattfand. Sie reiste mit einer weib­lichen Begleitperson per Eisenbahn über die Schweiz nach Süden und besuchte, ebenfalls mit der Eisenbahn, den nörd­lichen Teil Italiens. Während der Reise entstanden rund 18 kurze Landschaftsschilderungen, die Emmi Lewald zwischen 1895 und 1897 zunächst in den Feuilletons der Bremer „Weser-Zeitung“, der „Nationalzeitung“ und des „Bazar“ veröffent­lichte. 1897 erschienen sie gesammelt unter dem Titel Italienische Landschaftsbilder in der Schulzeschen Hofbuchhandlung des Oldenburger Verlegers August Schwartz, der bereits viel Erfahrung mit der Publikation der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebten Italienliteratur hatte. Emmi Lewald erhielt für das Buch, das in der zeitüb­lichen Auflage von 1.250 Exemplaren produziert wurde, das vergleichsweise niedrige Honorar von 350 Mark. Sie wagte sich mit dem Reisebericht in ein neues Genre vor und hatte auch in diesem Erfolg, weil ihr nicht zuletzt die Vorliebe bürger­licher Kreise für literarische Italienreisen zugute kam. Der Literaturkritiker der „Blätter für literarische Unterhaltung“ Ernst Lehmann empfiehlt seinen Lesern die Italienischen Landschaftsbilder als „liebenswürdige[n] Schilderungen, die mehr Vertrautheit mit italienischen Verhältnissen als manches andere bekunden“.114 Er lobt besonders die Authentizität der Darstellung, die Echtheit der Begeisterung der Autorin, ihre Sachkenntnis der modernen Zustände und der Historie sowie ihre Reise abseits gängiger und wiederholt beschriebener Routen. Kritik übt er an der formalen Ausführung des Gedichtes Romfahrt, das Emmi Lewald ihren Texten einleitend vorangestellt hat. Aber muß denn nun jede italienische Wanderung nach berühmten Mustern mit einem Gedicht ‚eingeläutet‘ werden? Ja, wenn fließende Rhythmen den leuchtenden Zauber widerspiegeln, wenn sich die Empfindungen wie von selbst zu Strophen umkristallisieren: dann wird die Begier nach dem Schatze, der im Buche verborgen liegt, merk­lich vergrößert. Wenn aber die Sprache um der lieben Reime und Verse willen mit Daumenschrauben gequält wird, dann verkümmert das Verlangen. Nicht, daß das Gedicht gerade schlecht zu nennen wäre – so ungerecht sind wir Damen gegenüber nicht! – aber Männer wie Paul Heyse und Hermann Allmers haben uns leider gar zu sehr verwöhnt.115

114 Ernst Lehmann: Italienisches. In: Blätter für literarische Unterhaltung 72 (1898), Nr. 2 (13. Jan.), S. 19 – 21, S. 21. 115 Ebd.

129

130

Emmi Lewald

Das Gedicht hatte Emmi Lewald in Absprache mit ihrem Verleger August Schwartz in den Band aufgenommen; es erschein erneut in dem 1901 ebenfalls von der Schulzeschen Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei herausgegebenen Band Gedichte, Neue Folge. 2.2.2.2 Die Etablierungsphase in Berlin (1896 – 1904) Zu Emmi Lewalds Reisezielen gehörte bereits Anfang der 1890er Jahre die Reichshauptstadt Berlin, die wegen ihrer kulturellen und literarischen Zentrumsfunktion auf die in der kleinen Residenzstadt Oldenburg lebende Schriftstellerin einen großen Reiz ausübte. Dort war der schriftstellerische Beruf auch für Frauen inzwischen eine anerkannte Existenz, dort blühte zu Beginn der 1890er Jahre die von bürger­lichen Frauen getragene Bewegung für Frauenbildung und Berufstätigkeit, dort lebten und arbeiteten von ihr verehrte Schriftsteller und andere Persön­lichkeiten. Am 22. März 1896 schrieb sie in ihrem ersten Brief an den Schriftsteller Ernst von Wildenbruch: „[W ]enn ich denke, wie oft ich schon nach Berlin gefahren bin mit der Hoffnung, Sie von Angesicht zu sehen – und sonst immer vergeb­lich – und nun ist’s mir end­ lich mal gelungen!“116 In dem Verehrungsbrief spricht sie von Wildenbruch ihre Bewunderung für dessen Werke aus, die ihren Worten nach in Oldenburger Kreisen ein begeistertes Publikum hatten, bekennt aber auch ihre Abneigung gegenüber der Kleinstadt, die sicher­lich mit ihrer gesellschaft­lichen Ächtung für das Buch Unsre lieben Lieutenants zusammenhing: „Ich bin sonst gar nicht für Kleinstädte und speziell für Oldenburg nicht und zöge viel lieber nach Berlin, was in meinen Augen das reine Paradies ist.“117 In Oldenburg war Emmi Lewald als Schriftstellerin eine Ausnahmeerscheinung und wurde misstrauisch beäugt, von Berlin dagegen versprach sie sich vermut­lich mehr gesellschaft­liche Akzeptanz, aber auch neue Impulse für ihre Arbeit sowie bessere Mög­lichkeiten des Austauschs mit anderen Autorinnen und Autoren. Noch im selben Jahr ging Emmi Lewalds Wunsch nach einem Ortswechsel in Erfüllung, als sie nach der Hochzeit mit Felix Lewald im August 1896 ihren Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegen konnte. Die Vermählung wurde wegen des politischen Amtes ihres Vaters Günther Jansen in den regelmäßigen Berichten des preußischen Gesandten in Oldenburg, Alfred von Bülow, an den Reichskanzler Hohenlohe-­Schillingfürst erwähnt. Bülow skizziert aus diesem Anlass noch einmal die Auswirkungen des Leutnantsbuchs im Jahr 1889 und bemerkt, dass die Braut,

116 Brief von Emmi Jansen (Deschowitz, Oberschlesien) an Ernst von Wildenbruch am 22. März 1896. GSA 94/200,1. 117 Ebd.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

die hübsche, begabte und liebenswürdige junge Dame […] seit einigen Jahren unter dem Pseudonym ‚Emil Roland‘ als geistreiche Novellenschreiberin vielfach an die Öffent­lichkeit getreten [sei]. […] Seitdem hielt Fräulein Jansen sich vielfach in Italien auf und hat, abgesehen von Novellen auch bemerkenswerthe Reiseskizzen, Naturbeschreibungen und Gedichte herausgegeben. In Berliner Gesellschaftskreisen, welche sich für moderne Literatur interessieren, wird Fräulein Jansen als Gattin des Geheimen Raths Lewald gewiß die beste Aufnahme und neue Anregung zu dichterischer bezw. novellistischer Thätigkeit finden.118

In der Literaturmetropole Berlin, wo Emmi Lewald bald gute Aufnahme und gesellschaft­ liche Akzeptanz für weib­liche Autorschaft fand, verlagerten sich die Herausforderungen für sie bald von der Verteidigung gegen gesellschaft­liche Anfeindungen hin zum Alltag einer Berufsschriftstellerexistenz. Die Autorin musste in der Etablierungsphase in Berlin 1896 – 1904 ihre Position im literarischen Betrieb inmitten einer Masse produzierender Schriftsteller und eines gewaltigen literarischen Überangebots erkämpfen. Bei der Etablierung profitierte Emmi Lewald zu Beginn fraglos von der gesellschaft­lichen Vernetzung der Familien Jansen und Lewald sowie von der Verwandtschaft ihres Mannes mit der angesehenen Autorin Fanny Lewald. Thematisch profilierte sich Emmi Lewald in dieser Phase mit der literarischen Verarbeitung der Lebenswelt der höheren Gesellschaftskreise, der Sozialisation und Lebenssituation bürger­licher Frauen und dies insbesondere in Form der zeitaktuellen Künstlerinnenthematik, die ihr auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Profession ermög­lichte.119 In den ersten Berliner Jahren publizierte Emmi Lewald im Verlag von Friedrich Fontane drei Novellensammlungen, Kinder der Zeit (1897), In blauer Ferne (1898) und Gefühlsklippen (1899). Die Sujets der Novellen können als exemplarisch gelten, denn sie kehren in den meisten Texten der Autorin in der Berli­ ner Zeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wieder. Emmi Lewalds Tendenz, die von ihr dargestellten gesellschaft­lichen Situationen und Problemstellungen als Zeitphänomene zu behandeln und zu deuten, spiegelt sich in der zeitgenössischen Literaturkritik wider, in der dieser Zug ihres Schreibens als ‚Schilderung gesellschaft­ licher Zustände‘ bezeichnet wird. Die Autorin stellt das bürger­liche Individuum in das problematische Spannungsfeld zwischen Idealismus und Nütz­lichkeitsdenken, vor allem aber den Dichter und Schriftsteller, der seine tradierte Rolle als Genie und Seher aufgeben und sich für den Publikumserfolg den Anforderungen der Zeit 118 Bericht Bülow an Hohenlohe vom 10.8.1896. In: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin. Best. R 3183 Staatsmänner (Oldenburg No. 36 Nr. 2) Januar 1888 – November 1918, 1. Bd. 119 Vgl. die Novellen Die Globustrotterin (1898), Irmengard Henneberger (1898) und Das Schicksalsbuch (1900) und Kap. 4.2.2.3.

131

132

Emmi Lewald

beugen muss. Emmi Lewald, die in ihrer Sozialisation wahrschein­lich von einem idealistischen Kunstverständnis geprägt worden war, thematisierte in ihrer Literatur nun im Stil der Zeitgeistanalyse den Konflikt zwischen klassischem Dichterideal und dem Wunsch nach breitem öffent­lichem und finanziellem Erfolg. Die Position des Künstlers als stilisierte Randexistenz in der bürger­lichen Gesellschaft bestimmt inhalt­lich auch die in militärischem Milieu angesiedelte Novelle Hauenstein und die Arbeit Das Loos der Schönen, in der ein bildender Künstler unverstanden an der kleinbürger­lichen Enge seines Heimatdorfs zerbricht. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit dem Leistungsstreben in der bürger­lichen Gesellschaft, das beispielsweise in der Novelle Cunctator 120 die Lebenswelt des modernen Menschen und seinen Charakter allumfassend prägt. Die Hauptfigur der Novelle ist als charakteristischer „nervöser“ Großstadtmensch mit typischen Eigenschaften wie Egoismus, Vernunft und einer Tendenz zum Phlegmatischen, Zaudernden ausgestattet. Er verkörpert, wie der Offizier in Hauenstein und der Politiker in Keine Zeit, den „Typus der modernen Karriere, der man sich ganz zu opfern hat, ganz abzuschwören allen Nebendingen, Illusionen, kurzum, all’ dem gefühlvollen Tand.“121 Emmi Lewald lässt die Figur des Karrieristen in der Regel in das Spannungsfeld zwischen Liebe und Karriere bzw. gesellschaft­lichem Ansehen geraten, woraufhin er durch seine Unfähigkeit zum persön­lichen Wandel die Chance auf sein Lebensglück verspielt. Diese Figur dient in den Novellenbänden Kinder der Zeit, In blauer Ferne und Gefühlsklippen insbesondere auch der Auseinandersetzung mit der Großstadtexistenz des bürger­lichen Menschen, wobei der Großstadt Berlin ein stark prägender Einfluss auf die Persön­lichkeit ihrer Bewohner zugesprochen wird. Die Großstadtexistenz wirkt einerseits befreiend und kulturell bereichernd, fördert anderseits aber Egoismus und Karrierismus sowie den Zerfall von Familien- und Beziehungsstrukturen. Emmi Lewalds Großstadtkritik findet ihren Ausdruck in der Beschreibung von Großstadtmüdigkeit, in der Idealisierung kleinstädtischer Lebensverhältnisse und, in Verbindung mit dem Reisemotiv, in der Gegenüberstellung reisender Großstadtmenschen und „zivilisationsferner“ Einheimischer (vgl. 4.2.1.2). Die bei Fontane verlegten Novellenbände wurden von der Literaturkritik verhalten aufgenommen. Richard Weitbrecht weist in den „Blätter[n] für literarische Unterhaltung“ noch einmal daraufhin, dass Emmi Lewalds Prosa bezüg­lich ihrer litera­ rischen Wertigkeit unter ihrer Lyrik einzustufen sei und kritisiert an Kinder der Zeit, die Autorin behandele

120 Emil Roland: Cunctator. In: ders.: Kinder der Zeit…Novellen. Berlin Fontane & Co. 1897, S. 81. Die Novelle erschien erstmals 1895 in „Die Romanwelt“. 121 Emil Roland: Hauenstein. In: ders.: Kinder der Zeit…Novellen. Berlin Fontane & Co. 1897, S. 131.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

[…] ihre Probleme trotz der modernen Titel häufig etwas backfischhaft, aber daneben, da sie eben kein Backfisch mehr [sei], mit allerlei verstandesmäßiger Ausklügelei und romanhafter Aufputzung sehr einfacher Dinge.122

Abschließend findet der Rezensent auch einige versöhn­liche Worte und ordnet sie als Schriftstellerin ein: „Ihr Stil ist von der Moderne beeinflußt, aber nicht zu stark, und ein Stück Satire und sogar Humor fehlt den Novellen nicht. Auch sind sie im ganzen gut erzählt.“123 Für den Band In blauer Ferne (1898) findet der Literaturkritiker ­Theodor von Cosnosky in „Blätter für literarische Unterhaltung“ keine lobenden Worte und kritisiert im Hinblick auf eine Reihe, seinem Exemplar angebundener positiver Rezensionen früherer Werke Emmi Lewalds, die Novellensammlung zeige […] gar nichts oder doch nur sehr wenig von den all den glänzenden Vorzügen, die jene Besprechungen der Verfasserin nachrühmen. Es ist zwar ganz vernünftig geschrieben […], aber es gebricht ihm an Kraft, Plastik und Eigenart, es ist in allen darin enthaltenen Geschichten matt und uninteressant.124

Sehr viel positiver dagegen wird in den „Blätter[n] für Volksbibliotheken und Lesehallen“ der Band Gefühlsklippen (1900) besprochen, dessen Grundthema für den Rezensenten „das Scheitern einer Hoffnung, das Versinken eines Glückstraumes, das Verzichten und Entsagen“125 darstellt. Seiner Ansicht nach wurde es „auf vortreff­lich charakteristischem Hintergrund mit sicherer Weltkenntnis, anschau­licher Seelenkunde und geistreicher, aber keineswegs aufdring­licher Darstellungsweise fesselnd von der Verfasserin […] behandelt.“126 Die partiell negativen Rezensionen ihrer Prosatexte hinderten Emmi Lewald nicht daran, sich weiterhin auf gut vermarktbare Romane, Novellen und Skizzen zu konzentrieren. Mit sichtbarer Geschäftstüchtigkeit nutzte sie initiativ bereits bestehende Kontakte und erreichte dabei häufig die Publikation. Am 5. Juni 1899 wandte sie sich beispielsweise in einem Brief an den Verleger Joseph Kürschner, den Herausgeber des bekannten Literaturkalenders und bot ihm einige Novellen zur Publikation für eine günstige Druckreihe seines Verlags an.

122 Richard Weitbrecht: Aus weib­lichen Federn. In: Blätter für literarische Unterhaltung 71 (1897), Nr. 27 (1. Juli), S. 426 – 428, S. 427. 123 Ebd. 1 24 Theodor von Cosnosky: Aus der Erzählungslitteratur. In: Blätter für literarische Unterhaltung 72 (1898), Nr. 36 (8. Sept.), S. 570. 125 N. N.: Bücherschau. In: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen. Beiblatt zum Centralblatt für Bibliothekswesen 2 (1901), Nr. 1. und 2. ( Jan. u. Feb.), S. 31. 126 Ebd.

133

134

Emmi Lewald

Ich habe ein paar, vor mehreren Jahren im „Bazar“ abgedruckten Novellen – […] kleine Romane – die ich gerne in Ihrer 20 Pf. = Bibliothek verwendet sehen möchte. Meine Freundin, die Gräfin Bethusy in Deschowitz, rieth mir, bei Ihnen anzufragen. Darf ich Ihnen die Arbeiten zusenden?127

Emmi Lewald schätzte offensicht­lich, dass sie mit ihrer Literatur gut in das Profil der Reihe „Kürschners Bücherschatz“ passte, die im Hermann Hillger Verlag erschien und unterhaltende Prosa deutscher und ausländischer Autoren aufnahm. Mit dem Verweis auf ihre Freundin und Fürsprecherin Valeska Gräfin Bethusy-Huc 128, die in Kürschners Reihe unter dem Pseudonym Moritz von Reichenbach das Stück Josefa veröffent­licht hatte, milderte Emmi Lewald ihre Anfrage an den Verleger ab, indem sie andeutet, nur dem Rat einer bekannten und erfolgreichen Schriftstellerin zu folgen. Auf die Rückfrage Kürschners nach den zur Verfügung stehenden Novellen bot sie ihm zwei Arbeiten an, Spießgesellen, die bereits im „Hamburger Correspondent“ und im „Hausfreund“ abgedruckt worden war, und die längere Novelle Das Glück der Hammerfelds.129 In Bezug auf ihre Honorarvorstellungen brachte Emmi Lewald wiederum ihre Freundin Gräfin Bethusy zur Sprache: „Die Gräfin Bethusy sagte mir, was das Honorar anbetrifft, dass sie für ihre Arbeiten für den Band 400 Mk bekommen hätte.“130 Der Herausgeber nahm Das Glück der Hammerfelds als 216. Band in die Reihe „Kürschners Bücherschatz“ auf und gab die bereits um 1891 entstandene Arbeit unter der Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ im Jahr 1900 heraus. Die Publikation ist mit Zeichnungen des Künstlers Martin Ränike bebildert und stellt Emmi Lewalds einziges illustriertes Werk dar.131 Die Aurorin versah ein Rezensionsexemplar von Das Glück der Hammerfelds für einen nicht genannten Literaturkritiker mit einer biografischen Skizze, in der sie sich vorstellt und als Schriftstellerin verortet. Es handelt sich um denselben Text, den sie dem Lexikonherausgeber Franz ­Brümmer

127 Brief von Emmi Lewald (Berlin) an Joseph Kürschner am 5. Juni 1899. GSA 55/4409. 128 Die in Schlesien geborene Autorin Valeska Gräfin Bethusy-Huc (1849 – 1926) publizierte, teils unter dem Pseudonym Moritz von Reichenbach, zwischen 1876 und 1912 zahlreiche Erzählungen, Novellen, Gedichte und Romane. Ihre Werke wurden von den Unterhaltungszeitschriften „Über Land und Meer“ und „Illustrierte Welt“, von der Romanzeitung „Die deutsche Romanbibliothek zu Über Land und Meer“, später auch von dem „Berliner Tageblatt“, „Velhagen & Klasings Monatsheften“, „Westermann’s Monatsheften“ und „Die Woche“ veröffent­licht. Es besteht die Mög­lichkeit, dass Bethusy-Huc später den Kontakt zwischen Emmi Lewald und einigen dieser Publikationsorgane herstellte. Vgl. zu Valeska Gräfin Bethusy-Huc auch Bonter: Der Populärroman in der Nachfolge von E. Marlitt, S.  174 – 236. 129 Brief von Emmi Lewald (Berlin) an Joseph Kürschner am 9. Juni 1899, GSA 55/4409. 130 Ebd. 131 Der vollständige Titel der Reihe lautet „Kürschners Bücherschatz. Bibliothek fürs Haus. Eine Sammlung illustrierter Romane und Novellen.“

Emmi Lewald als Schriftstellerin

für dessen biografisch-bibliografisches Nachschlagewerk Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten zusandte: Im Jahre 1888 habe ich mein erstes Buch „Unsre lieben Lieutenants“ veröffent­licht – später Verse, Novellen und Romane. Die nachstehende Erzählung ist vor etwa neun Jahren geschrieben, weshalb sie sich von meinen späteren Arbeiten wol unterscheiden mag. Ich habe den größten Theil meines Lebens in meiner Heimatstadt Oldenburg verbracht, bin viel in Deutschland und ins Ausland gereist – mit besonderer Neigung in Italien – und habe dann rückkehrend stets dankbar empfunden, wie geeignet die Stelle einer kleinen, norddeutschen, etwas vom großen Verkehr abliegenden Residenz für ruhiges Schaffen und Gestalten ist. Seit vier Jahren lebe ich in Berlin. Sollte von einer Tendenz meiner Arbeiten die Rede sein können, so wäre sie bedingt durch meine Vorliebe für solche Stoffe, in denen es sich um die Kämpfe und Bestrebungen der Frauenwelt handelt.132

Emmi Lewald gehörte zu den wenigen in Brümmers Lexikon vertretenen Autorinnen, welche die Frauenemanzipation und die Frauenrechte als Schreibmotivation angaben.133 „Die Kämpfe und Bestrebungen der Frauenwelt“ thematisiert Emmi Lewald neben Sturm im Wasserglas (1894) in Die Globustrotterin und Zwischen Stendal und Uelzen (beide 1898) sowie Die Erzieherin (1899).134 Am 30. April 1900 schlug Emmi Lewald ihrem Oldenburger Verleger August Schwartz in einem Brief vor, im Herbst desselben Jahres einen neuen Gedichtband herauszugeben. Die Hofbuchdruckerei in Oldenburg war jedoch in der Buchproduktion stark überlastet, weshalb Schwartz die Autorin auf das Jahr 1901 vertrösten und den Druck des Werkes an die auswärtige Buchdruckerei C. K. Schulze abgeben musste. Am 25. März 1901 sandte Emmi Lewald das etwa 60 Gedichte umfassende Manuskript an Schwartz, sodass es nach einigen Änderungen und Ergänzungen im April 1901 in den Druck gehen und im Sommer 1901 auf den Markt gebracht werden konnte. Gedichte, Neue Folge ist zugleich Emmi Lewalds letzte Zusammenarbeit mit August Schwartz, der 1904 starb, und ihre letzte Publikation lyrischer Arbeiten, obwohl sie erneut für die „schöne[n] Verse“135 ihrer Gedichte von der Literaturkritik gelobt wurde. Neben einigen nordeuropäischen Reiseimpressionen enthält der Band hauptsäch­lich Gedichte über die Italienreisen der Autorin, geordnet in den Kapiteln 132 Vgl. das Rezensionsexemplar von 1900 in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig [Sig. SA 102 – 216; SA 102 (1914.631)] 133 Vgl. Hacker: Rollen – Bilder – Gesten, S. 82 ff. 134 Emil Roland: Die Befreierin (Die Erzieherin). In: ders.: Gefühlsklippen. Novellen. Berlin Fontane & Co. 1899, S. 61 – 216. Die Novelle erschien in demselben Jahr in „Deutsche Roman-Bibliothek“. 135 N. N.: Lyrik. Sp. 104 f.

135

136

Emmi Lewald

„Herbst im Süden“, „Frühlingsfahrt“ und „An fernen Wassern“. Der Rezensent der Zeitschrift „Die schöne Literatur“ schrieb über das Buch: „Gewiß, schön ist alles, in prunkvollen Versen rauschen diese Dichtungen dahin, die Verfasserin ist ergriffen und im Innersten bewegt, aber es will ihr nicht recht gelingen, uns mit zu ergreifen und fortzureißen.“136 Dem Kritiker sind die Gedichte der ersten beiden Kapitel zu allgemein gehalten, er findet insbesondere, die Darstellung der Städte und Landschaften in Romfahrt und Assisi sei „sehr wenig charakteristisch“ und die Beschreibung träfe „auf eine Menge italienischer Städte zu.“137 2.2.2.3 Die Hauptphase in Berlin (1904 – 1914) Die Publikation der Anthologie Gedichte, Neue Folge bei der Schulzeschen Hofbuchhandlung in Oldenburg war erfolgreich beendet, als Emmi Lewald am 9. Juli 1901 ihren Sohn Otto Günther zur Welt brachte. Es folgte für die Autorin eine Zeit der eingeschränkten Publikationstätigkeit. Sie konnte einige Gedichte in „Die Frau“ unterbringen und arbeitete an humoristischen Kurzcharakteristiken von Personentypen des Gesellschaftslebens, die unter anderem als After Dinner – Skizzen aus der Saison, Der unverstandene Mann – Novelle und ‚Ein spätes Mädchen‘ – Familienszene zwischen 1902 und 1906 pseudonym in den Unterhaltungszeitschriften „Vom Fels zum Meer“ und „Die Woche“ erschienen.138 Hauptsäch­lich dürften Emmi Lewald in dieser Zeit die Vorbereitung einer umfangreichen Novellensammlung und die Arbeit an einem neuen Roman über die Frauenrolle im Kontext der bürger­lichen Gesellschaft beschäftigt haben, die beide 1904 erschienen. Das Jahr 1904 erweist sich in mehrfacher Hinsicht als Zäsur in Emmi Lewalds schriftstellerischer Entwicklung, denn es leitete eine zehnjährige Phase reger Publikationstätigkeit und starken Engagements in der Berliner Frauenvereinskultur ein, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges andauerte. Wichtige Kennzeichen dieser Berliner Hauptphase sind der weitgehende Verzicht auf das männ­liche Pseudonym, die vorrangige Publikation von Entwicklungs- und Gesellschaftsromanen sowie eine verminderte Lyrikproduktion. Zunächst veröffent­lichte der Verlag Friedrich Fontane & Co. 1904 pseudonym Emmi Lewalds Sammelband Das Schicksalsbuch und andere Novellen, der neben den umfangreichen Novellen Das Schicksalsbuch und Feierstunden auch die Texte Die Etrusker und Erdgeruch enthält. Mit Ausnahme der Novelle Erdgeruch waren alle Texte bereits 1900 und 1901 als Vorabdruck in der Romanzeitung „Deutsche

136 Ebd. 137 Ebd. 138 Die Kurzcharakteristiken erschienen 1906 in gebundener Ausgabe unter dem Titel Die Heiratsfrage bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Romanbibliothek“ und „Über Land und Meer“ erschienen.139 Die Novellensammlung wird thematisch von der Künstler- und Gelehrtenthematik bestimmt. In Das Schicksalsbuch und Feierstunden behandelt Emmi Lewald die Frage der Berechtigung weib­lichen Künstlertums in den Bereichen Literatur und bildende Kunst. Die Hauptfiguren der Novellen Die Etrusker und Erdgeruch sind Gelehrtenfiguren, die als Ausnahme­menschen der bürger­lichen Gesellschaft im Spannungsfeld von Berufung und Alltagsexistenz stehen. Der Literaturkritiker der „Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen“ hebt besonders die Novellen mit der Künstlerinnenthematik, Das Schicksalsbuch und Feierstunden, hervor: Interessante Erzählungen einer ausgereiften, talentvollen Schriftstellerin, die in ihre, im guten Sinne modern-realistischen Werke, einen tiefen Inhalt und hin und wieder einen wohltuenden Humor zu legen weiß. In der scharfen Gegenüberstellung der Personen, ihrer Charakterisierung, in der lebendigen Handlung erheben sich hauptsäch­lich die beiden mittelsten Novellen zu dramatischer Wirkung. Die Autorin verfügt über einen klaren, warmen Stil, der manchmal, aber nur ganz selten, etwas störendes, gesucht geistreiches annimmt.140

Das Schicksalsbuch war nach sechzehn Jahren vorerst die letzte Buchproduktion, die Emmi Lewald unter dem Pseudonym ‚Emil Roland‘ veröffent­lichte. Fortan verwendete sie den Decknamen als Wiedererkennungsmerkmal für den Leser nur noch gelegent­lich bei der Publikation lyrischer Arbeiten in Tageszeitungen und Unterhaltungszeitschriften.141 Offenbar war das Pseudonym für sie vor allem beim Eintritt in den Literaturbetrieb und in der Etablierungsphase bedeutsam gewesen und verlor mit zunehmendem schriftstellerischem Erfolg seine Funktion. Durch den Umzug nach Berlin hatte Emmi Lewald sich von den gesellschaft­lichen Zwängen der Kleinstadt Oldenburg befreien können und lebte nun in einer Stadt, die als Zentrum der 139 Vgl. Emil Roland: Die Etrusker. Novelle. In: Deutsche Romanbibliothek 28 (1900), Bd. 2, H. 50, S. 993 – 1002 und Emil Roland: Feierstunden. Ein Jahr aus einem Leben. In: Deutsche Roman­ bibliothek 29 (1901), Bd. 2, H. 28, S. 559 – 568, H. 29, S. 579 – 588, H. 30, S. 600 – 608, H. 31, S. 624 – 628, H. 32, S. 638 – 648. Emil Roland: Das Schicksalsbuch. In: Über Land und Meer 84 (1900), S. 630 – 632; 646 – 650; 662 – 665; 678 – 681; 696 – 697; 710 – 713. 140 E. Kr.: Emil Roland: Das Schicksalsbuch und andere Novellen. In: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen 6 (1905), Nr. 3 u. 4 (März–April), S. 76. 141 Emmi Lewald publizierte nach 1904 unter dem Namen Emil Roland hauptsäch­lich Lyrik in der periodischen Presse, aber auch einige Skizzen und Novellen. Offensicht­lich besaß ihr Pseudonym in Unterhaltungszeitschriften wie „Über Land und Meer“, „Deutsche Roman-Bibliothek“ und „Vom Fels zum Meer“ eine wichtige Wiedererkennungsfunktion, da sie dort hauptsäch­lich unter diesem Namen bekannt war. Die Pseudonym-Verwendung steht wahrschein­lich auch im Zusammenhang mit der lyrischen Gattung, die in der zeitgenössischen Gattungshierarchie eine untergeordnete Stellung einnahm. Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 534 f.

137

138

Emmi Lewald

Frauenrechtsbewegung und als literarische Metropole von einem hohen Maß an gesellschaft­licher Akzeptanz für den Schriftstellerinnenberuf und als ‚modern‘ verstandene literarische Inhalte geprägt war. Die Aufgabe des Pseudonyms kann auch als Hinweis auf Emmi Lewalds eigene Einschätzung ihrer Position im literarischen Feld gewertet werden, darauf, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt selbst als etablierte Autorin im literarischen Feld wahrnahm. Der Frauenentwicklungsroman Das erste unter Emmi Lewalds richtigem Namen erschienene Buch, der Frauenroman Sylvia (1904)142, wurde bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart verlegt. Es ist ein Bildungs- und Entwicklungsroman, in dessen Verlauf Emmi Lewald ihre Protagonistin sich im Rahmen von zwei Ehen von einer oberfläch­lichen Salonschönheit zu einer gebildeten, reifen und verantwortungsbewussten Persön­lichkeit entwickeln lässt. Die erste Ehe der naiven Offizierstochter Sylvia mit dem Kunsthistoriker Thomsen scheitert an Sylvias mangelnder Beherrschung bürger­licher Bildungsstandards und ihrem fehlenden Verständnis für dessen Gelehrtenberuf. Das in Folge aufkeimende Bildungsinteresse der jungen Frau wird wiederum in ihrer zweiten Ehe mit dem vergnügungssüchtigen Regimentskommandeur Rothenfels enttäuscht, der sie ihrer Eleganz und Schönheit wegen als gesellschaft­liches Statussymbol betrachtet und an ihrer Persön­lichkeitsentwicklung nicht interessiert ist. Statt ihren Bildungsweg weiter zu verfolgen, nimmt die Protagonistin schließ­lich eine resignative Haltung ein und findet ihre Lebensaufgabe in der Erziehung und Bildung von Rothenfels’ Töchtern aus erster Ehe. An die Stelle der weib­lichen Emanzipation durch Bildung und Arbeit oder der biologischen Mutterschaft tritt in Sylvia als adäquater Lebensentwurf die von der konkreten Mutterschaft abstrahierte „geistige Mütter­lichkeit“143. Das Konzept der „geistigen Mütter­lichkeit“, das nach 1860 in der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung egalitäre Feminismustheorien weitgehend abgelöst hatte, betont die Bedeutung weib­lichen Einflusses auf institutioneller und familiärer Ebene für den Fortschritt der Gesellschaft. Da die Sylvia-Figur in ihrer Biografie zu spät mit den Ideen der Frauen­ bewegung in Berührung kommt und keine adäquate Berufsausbildung absolvieren kann, so die Argumentation des Romans, wird die Erziehungsaufgabe als Dienst an der neuen Frauengeneration zu ihrer Lebensaufgabe (Sy 932). Nach Sylvia macht Emmi Lewald das Problem weib­licher Bildung und Sozialisation im Spannungsfeld zwischen traditionellen und neuen Frauenrollen zum Thema zweier weiterer Frauenromane. Sowohl in Das Hausbrot des Lebens (1907) als auch in Die Rose vor der Tür (1911) wird die Frage nach der Lebensgestaltung in Abhängigkeit von den 142 Emmi Lewald: Sylvia. Stuttgart und Berlin Deutsche Verlags-Anstalt 1904. Der Roman erschien in demselben Jahr in der Zeitschrift „Über Land und Meer“. Die Seitenangaben dieses Abschnitts beziehen sich auf die Zeitschriftenpublikation. 143 Vgl. zu den Zielsetzungen der ‚gemäßigten‘ bürger­lichen Frauenbewegung Kap. 2.1.1.3.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

individuellen Anlagen und Mög­lichkeiten der Protagonistinnen erneut gestellt.144 Die Romane verdeut­lichen, dass sich die Spannung zwischen weib­licher Geschlechterrolle und Berufstätigkeit verstärkte, als die Notwendigkeit weib­licher Bildung durch den Einsatz der Frauenbewegung um 1900 eine breite gesellschaft­liche Akzeptanz gefunden hatte und die beruf­liche Selbstständigkeit der Frau zu einem erreichbaren Lebensentwurf geworden war. Die bürger­liche Asta Rosenbusch in Das Hausbrot des Lebens rebelliert zunächst gegen die weib­lichen Rollenkonven­tionen und strebt eine Künstlerinnenexistenz als Dichterin an. Als Asta im Laufe der Romanhandlung an ihrem fehlenden Talent scheitert und auch ihre Verlobung mit dem exzentrischen Gelehrten Heinrich Richter zerbricht, gibt sie den Traum eines „Ausnahmelebens“ auf, kehrt zum traditionellen Lebensplan für Frauen zurück und heiratet ihren wesent­ lich älteren Onkel. Auch die gebildete Kunsthistorikerin Lida Eckhard in Die Rose vor der Tür strebt eine moderne Berufsexistenz an, muss jedoch wegen einer kompromittierenden Liebesbeziehung die Hoffnung auf eine Anstellung als Kunstdozentin aufgeben. Sie heiratet schließ­lich einen langjährigen Verehrer und übernimmt die Erziehung vierer Waisenkinder. Emmi Lewald schildert in ihren Frauenentwicklungsromanen keine radikalen Emanzipationsprozesse und entwirft keine Befreiungsvisionen, sondern konzipiert Frauenfiguren, deren Lebensführung im Rahmen der vergleichsweise traditionellen Rollenvorstellungen der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung bleibt. Die realistischen, konventionellen Handlungssituationen in Lewalds Romanen ermög­ lichten ihren Leserinnen ein hohes Maß an Identifikation mit den Figuren – diese literarische Strategie stellte einen wichtigen Erfolgsfaktor dar. Emmi Lewald pflege eine Erzählkunst, so ein zeitgenössischer Journalist der „Illustrierten Frauen-Zeitung“, deren Figurenschicksale imstande seien, das Interesse und die Anteilnahme des Lesers zu wecken. Sie [Anm. die Erzählkunst] führt uns Menschen von Fleisch und Bein vor, die wie wir leben, lieben und leiden, in deren Zuständen und Schicksalen wir uns selber wiederfinden. Je lebensvoller diese Bilder des Lebens sind, je mehr sich ihre Gestalten herausheben über das Alltäg­liche irgend einer Art, je härter die Wirkung ist, die ihr Tun und Leiden auf uns ausübt, je größer ist die Kunst des Erzählens.145

Obwohl die literarische Gestaltung des Themas aus heutiger Sicht im Vergleich zu radikaleren Ausarbeitungen von Autorinnen wie Helene Stöcker, Helene Böhlau und 144 Emmi Lewald: Das Hausbrot des Lebens. Roman. Berlin Fontane & Co. 1908. Der Roman war ab Juni 1907 als Vorabdruck in der Zeitschrift „Die Woche“ erschienen. Vgl. zudem Emmi Lewald: Die Rose vor der Tür. Roman. Berlin G. Stilke 1912. Der Roman war 1911 als Vorabdruck in der Zeitschrift „Über Land und Meer“ erschienen. Vgl. die Romanalyse in Kap. 4.1.2.3. 145 N. N.: Die schaffende Frau. In: Illustrierte Frauen-Zeitung 34 (1907), H. 19 (1. Okt.), Titelseite.

139

140

Emmi Lewald

Gabriele Reuter als eher beharrend bewertet werden muss, gehörten Emmi Lewalds Romane über die bürger­liche Frauenrolle und die Geschlechterverhältnisse nach 1900 zum Bereich der gemäßigt-fortschritt­lichen Literatur von Autorinnen.146 Die ­zeittypische Aktualität des Diskurses nutzend, konnte sie ihre Romane gewinnbringend bei bürger­lichen Unterhaltungszeitschriften wie „Über Land und Meer“, „Die Woche“, „Deutsche Romanbibliothek“ und später auch in „Die Gartenlaube“ unterbringen. Die dreifache Funktion der Berliner Gesellschaft für Emmi Lewalds Arbeit In der Reichshauptstadt Berlin waren die private Geselligkeit und das öffent­liche Vereinsleben der oberen Gesellschaftskreise bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Emmi Lewalds Lebenswelt und Arbeitsort. Sie trat zugleich als Schriftstellerin und bürger­liche Gesellschaftsdame auf, hatte als Ehefrau eines hochrangigen preußischen Staatsbeamten gesellschaft­lichen Pf­lichten im eigenen H ­ aushalt nachzukommen und engagierte sich rege in mehreren Frauenvereinen. Die Bedeutung der bürger­lichen Gesellschaft und Geselligkeit in Berlin, vor allem des Frauenvereinswesens, für Emmi Lewalds Arbeit kann nicht hoch genug bewertet werden, denn sie übten in ihrer Schriftstellerkarriere drei wichtige Funktionen aus. Das gesellschaft­liche Umfeld der Autorin war ihr wichtigster Themengeber, ihr gewichtigster Adressatenkreis und stellte durch persön­liche Kontakte ihr bedeutendstes beruf­liches Netzwerk dar. Neben dem Frauenentwicklungsroman wurde für die Autorin Emmi Lewald zwischen 1904 und 1914 vor allem die Gesellschaftsschilderung in Form der unterhaltenden Gesellschaftsskizze und des Gesellschaftsromans charakteristisch. Nach Sylvia erschienen eine Reihe seit 1902 entstandene Berliner Gesellschaftsskizzen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart unter dem Titel Die Heiratsfrage (1906). In den kurzen Prosastücken stellt die Autorin in humoristisch-satirischer Absicht charakteristische Situationen und Personen der ihr persön­lich gut bekannten oberen Gesellschaftskreise dar, wobei sie hauptsäch­lich die Dialogform einsetzt. Den Charakterskizzen Unsre lieben Lieutenants (1888) vergleichbar, überspitzt und pointiert Emmi Lewald im Dienst der Satire mensch­liche Schwächen, typische Handlungsmuster und den Lesern vertraute Gesellschaftssituationen und verdichtet sie zu einer humoristischen Momentaufnahme. Die Heiratsfrage wurde durch die Literaturkritik als anspruchslos-unterhaltende Kurzprosa eingeordnet und weitgehend positiv besprochen. Neben einer „scharfen Beobachtung“147

146 Die Thematisierung der problematischen Sozialisation bürger­licher Frauen und die Diskussion der Forderungen der Frauenbewegung wurden, wie unten noch ausführ­lich beschrieben, von Literatur­ kritikern und Literaturkritikerinnen als Modernitätskriterium der Erzählliteratur aufgefasst. Vgl. zum Modernebegriff den Abschnitt „Emmi Lewald aus zeitgenössischer Sicht“. 147 Emil Peschkau: Besprechungen. Neue Novellen. In: Das literarische Echo 8 (1906), H. 15 (1. Mai), Sp.  1071 f.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

und „psychologischem Scharfblick“ wurde in den Rezensionen die „feine, überlegene Ironie“148 der Autorin hervorgehoben. Bereits 1907 erschien in Anknüpfung an die Herausgabe von Die Heiratsfrage bei der Stuttgarter Verlags-Anstalt der im Adelsmilieu angesiedelte Briefroman Der Lebensretter (1905).149 Mittels einer fiktiven Korrespondenz der Figuren setzt die ­Autorin die Standesvorurteile einer Freiherrenfamilie gegenüber einem wohlhabenden bürger­ lichen Linoleumfabrikanten um 1900 in Szene. Mit Der Lebensretter siedelte sie erstmals ein Werk explizit im adeligen Milieu an und thematisierte den Zusammenhang von gesellschaft­lichem Stand und Heiratsverhalten. Die Gesellschaftskritik an einem anachronistischen Standesdünkel bei realgesellschaft­lichem Bedeutungsverlust der adeligen Gesellschaftsformation ist wiederum mit einer humoristisch-satirischen Darstellungsweise gepaart. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges folgten des Weiteren die Gesellschaftsromane Der Magnetberg (1910), Die Wehrlosen (1910), Excelsior! (1914) und Unter den Blutbuchen (1914). In der Familiengeschichte Der Magnetberg, 1911 vom Stilke-Verlag herausgegeben, werden die Chancen des Berliner Großstadtmilieus für die Frauenemanzipation seinen Gefahren für die bürger­liche Kleinfamilie gegenübergestellt. Der Roman entfaltet auf 443 Seiten den Zerfall der ursprüng­lich intakten Beamtenfamilie Thorensen, die an der Beschleunigung des alltäg­lichen Lebens und den Individualisierungstendenzen des modernen Großstadtlebens zerbricht. Eine ganz ähn­lich geartete Kritik an den übermächtig erscheinenden Forderungen des modernen Berliner Arbeitsund Gesellschaftslebens nach individueller Leistung, strebsamer Karriereorientierung und nüchternem Effizienzdenken wird in dem Roman Die Wehrlosen formuliert. Als Gegenpol zur modernen Lebenserfahrung findet eine Rückbesinnung auf weltanschau­ liche und motivische Versatzstücke der romantischen Literaturströmung statt. Die bürger­liche Bankdirektorengattin Helene Lucius verweigert sich durch ihre träumerische Weltflucht einer neu-bürger­lichen Lebensprämisse der Vernunft und Effizienz, wodurch sie zur gesellschaft­lichen Außenseiterin wird. Nachdem Emmi Lewald den Zerfall der bürger­lichen Familie und die Konkurrenz- und Leistungsorientierung des Berliner Lebens behandelt hatte, machte sie in dem komplexen Roman Excelsior! (1914) die Figur des kleinbürger­lichen Aufsteigers und Karrieristen zum Mittelpunkt der Romanhandlung. Auch Unter den Blutbuchen (1914) wurde von Emmi Lewald als zeitgenössischer Gesellschaftsroman angelegt, der die sozialen Verhältnisse der oberen Gesellschaftsschichten

148 B-r.: Die Heiratsfrage. In: Deutsche Revue 31 (1906), Bd. 1 (März), S. 377. 149 Emmi Lewald: Der Lebensretter. Ein Roman in Briefen. Stuttgart und Berlin Deutsche Verlagsanstalt 1907. Der Roman erschien 1905 als Vorabdruck in der „Deutschen Romanbibliothek“ pseudonym unter dem Titel Der Lebensretter. Novelle. In: Deutsche Romanbibliothek 33 (1905), Bd. 2, H. 45 – 52.

141

142

Emmi Lewald

zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisiert.150 Das großstädtische Lebensmilieu verlassend, legt dieses Werk den Fokus auf die Sozialisation der bürger­lichen Frauen im länd­lichen und kleinstädtischen Raum, wo die Mädchenerziehung trotz der Erfolge der bürger­lichen Frauenbewegung in den städtischen Zentren noch äußerst traditionell verlief. Für den Handlungsschauplatz nahm Emmi Lewald erneut die lokalen und sozialen Verhältnisse ihrer ehemaligen Heimatstadt Oldenburg zum Vorbild und siedelte die Romanhandlung geographisch und personell verschlüsselt in der Residenzstadt des Großherzogtums an. Für mehrere Töchter vornehmer Familien in der Buchenstraße des Großherzogtums Neuenkirchen verwandelt sich die roman­tische Ehe-Vorstellung in die Bedrohung eines einsamen, sinnentleerten Lebens, weil ihre Heiratsmög­lichkeiten durch die fehlenden finanziellen Mittel ihrer Familien drastisch eingeschränkt werden. Die Autorin verwebt mit der Romanhandlung erneut die Auseinandersetzung mit den Forderungen der Frauenrechtsbewegung, indem sie das Frauenstudium und die Berufstätigkeit als potenzielle Handlungsspielräume jenseits der traditionellen Geschlechterrolle aufzeigt. Emmi Lewalds gesellschaft­liches Umfeld bot ihr nicht nur ausreichend litera­ rische Anregungen für ihre Gesellschaftsromane und humoristischen Skizzen, sondern stellte zugleich ihren wichtigsten Adressatenkreis dar. Wie eng an dieser Stelle bei der Autorin bürger­liche Geselligkeit und schriftstellerische Arbeit verbunden waren, hat bereits die Untersuchung ihres Engagements im Deutschen Lyceum-Club gezeigt: Emmi Lewald stiftete dort nicht nur ihre neuen Publikationen regelmäßig der Clubbibliothek und publizierte Gedichte im Mitteilungsblatt der Vereinigung 151, sondern ließ darüber hinaus ihre Werke im Rahmen literarischer Gesellschaftsabende zur Unterhaltung der Klubmitglieder mit offensicht­lich positiver Resonanz vortragen.152 Auch im Berliner Deutschen Frauen-Klub galten „als besonders beliebte Spenden […] Vorlesungen neuer litterarischer Schöpfungen durch gefeierte Bühnengrössen und Schriftstellerinnen“153, und es ist anzunehmen, dass dort aus den Werken der schreibenden Mitglieder Emmi Lewald, Valeska Bethusy-Huc, Anselma Heine und Helene von Montbart vorgetragen wurde. Als dritter Punkt muss berücksichtigt werden, dass Emmi Lewalds gesellige Beziehungen zugleich ihr wichtigstes beruf­liches Netzwerk darstellten. Die

150 Emmi Lewald: Unter den Blutbuchen. Roman. Berlin A. Scherl 1915. Der Roman war 1914 als Vorab­ druck in „Die Gartenlaube“ erschienen. Vgl. zu Emmi Lewalds Schlüsselroman den Aufsatz von Schieckel: Zu Emmi Lewalds Schlüsselroman „Unter den Blutbuchen“ (1915). 151 Vgl. den Nachdruck zahlreicher in Emmi Lewalds Gedichtband von 1901 publizierter Italien­gedichte im DLC 10 (1914), Nr. 8, S. 315 – 331, sowie einzelner Kriegsgedichte: Oktober (DLC 10 [1914] Nr. 11, S.  373 f.), Nicht mir…/Herbstnebel (DLC 14 [1918] Nr. 10, S. 10 ff.). 152 Vgl. zu den Lesungen am 13. November 1913 und am 6. Mai 1914 den Abschnitt zum Deutschen Lyceum-Club in Kap. 2.1.2.2. 153 Jessen: Im Berliner Deutschen Frauen-Klub, S. 341.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Vereins­geselligkeit des Deutschen Lyceum-Clubs, des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin und des Berliner Deutschen Frauen-Klubs, ebenso wie die berufsbezogene Geselligkeit der Beamtenkreise ihres Mannes, boten Emmi Lewald eine Vielzahl von nütz­lichen Begegnungs- und Austauschmög­lichkeiten. Besonders wichtig waren für ihre schriftstellerische Arbeit die Kontakte zu Schriftstellerinnen wie Valeska Gräfin Bethusy-Huc und Anselma Heine, mit denen sie sich über konkrete berufsbezogene Fragen austauschen konnte, sowie zu Journalistinnen und Redakteurinnen wie Anna Michaelson und Anna Plothow, die Kontakte zu Publi­kations- und Rezensionsorganen hatten. Auch die gesellschaft­liche Verbindung zu den zahlreichen bürger­lichen Frauenrechtlerinnen sowie zu den Ehefrauen von Herausgebern wie Emilie Mosse und Justina Rodenberg konnte Emmi Lewald auf diesem Wege pflegen.154 Emmi Lewald aus zeitgenössischer Sicht Autorenporträts, Buchrezensionen und zeitgenössische Literaturlexika lassen eine gute Einschätzung dahingehend zu, wie Emmi Lewald als Autorin zwischen 1904 und 1914 in der literarischen Öffent­lichkeit wahrgenommen wurde. Als im Frühjahr 1904 der Roman Sylvia vorab in der Unterhaltungszeitschrift „Über Land und Meer“ als Fortsetzungsroman erschien, war der ersten Episode ein Porträt der Verfasserin beigefügt.155 Nach einer zusammenfassenden Bemerkung zu dem Roman weist die Redaktion ihre Leser in der biografischen Skizze darauf hin, dass Emmi Lewald ihnen durch frühere Beiträge unter dem Namen ‚Emil Roland‘ bereits bekannt sei, und stellt somit offiziell die Verbindung zwischen dem Pseudonym und dem neuen Verfassernamen her. In der Kurzvita werden des Weiteren Emmi Lewalds Oldenburger Herkunft, ihre zahlreichen Reisen, ihr Erstling Unsre lieben Lieutenants (1888), ihre Ehe mit Felix Lewald und ihre Verwandtschaft mit der Schriftstellerin Fanny Lewald betont.156 Während die Zeitschrift „Über Land und Meer“ sich auf biographische Merkmale der Autorin konzentrierte, stellte die „Illustrierten Frauen-Zeitung“ 1907 in einem Autorinnenporträt im Rahmen der Serie „Die schaffende Frau“ Emmi Lewalds literarischen Stil und ihre Stoffgebiete in den Mittelpunkt.157 Bezugnehmend auf die 154 Anna von Plothow (1853 – 1924) arbeitete als Redakteurin beim „Berliner Tageblatt“. Emilie Mosse (1851 – 1924) war die Frau des Herausgebers Rudolf Mosse, der 1872 das „Berliner Tageblatt“ gegründet hatte, in dem höchstwahrschein­lich mehrere Rezensionen von Werken Emmi Lewalds erschienen. Justina Rodenbergs Mann Julius Rodenberg war Herausgeber der meinungsführenden Literaturzeitschrift „Deutsche Rundschau“. Alle genannten Frauen waren 1917 Mitglied des Deutschen LyceumClubs. Vgl. Organisation des Deutschen Lyceum-Clubs 1917. In: DLC 13 (1917), Nr. 9, S. 2 – 9 155 Vgl. N. N.: Emmi Lewald. Verfasserin unseres Romans „Sylvia“. In: Über Land und Meer 91 (1904), H. 25, S. 562. 156 Von Emmi Lewalds Werken werden neben Unsre lieben Lieutenants (1888), der Roman Sein Ich (1896) und Italienische Landschaftsbilder (1897) genannt. Vgl. ebd. 157 Vgl. N. N.: Die schaffende Frau.

143

144

Emmi Lewald

Romane Sylvia (1904), Der Lebensretter (1905) und die Gesprächsskizzen Die Heiratsfrage (1906), wird sie, gemeinsam mit der Schriftstellerin Liesbet Dill (1877 – 1962), als Erzählerin des modernen Gesellschaftsromans vorgestellt. Der unbekannte Verfasser bzw. die unbekannte Verfasserin grenzt Lewald und Dill zum einen von den „Jünger[n] hypermoderner Literatur“ und deren „psychologische[r] Zerfaserung“, zum anderen von der „naturalistische[n] Richtung“ ab.158 Die Literatur der beiden Erzählerinnen zeichne sich durch wirk­lichkeitsnahe Figuren aus, die dem Leser eine Identifikation erlaubten, ohne dass die Figuren in alltäg­lichen Milieus angesiedelt oder einem alltäg­ lichen Schicksal ausgesetzt wären. Ihre Gestalten stehen auf dem Boden der Wirk­lichkeit. Diese Wirk­lichkeit aber ist niemals das herkömm­liche Milieu der bloßen Unterhaltungsromane, in dem sich die ebenso herkömm­lichen Gestalten, höchst edle Helden oder Heldinnen, und kohlschwarze Bösewichter schablonenhaft bewegen. Beide Künstlerinnen haben sich alle Errungenschaften der neuen Kunst zueigen gemacht, ohne in ihre Fehler zu verfallen. Sie zeigen uns Menschen, die uns mensch­lich und künstlerisch interessieren in einer Umwelt, die sich vom Alltag scharf abgrenzt, in Zuständen und Geschehnissen, die gar nichts Romanhaftes haben und doch niemals alltäg­lich sind.159

Der Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsanspruch an die Literatur war um 1900 eng mit dem literarischen Modernebegriff verknüpft, der generell „eine dem wirk­lichen Leben zugewandte – durch ‚unerbitt­liche Wahrheit‘ ausgezeichnete – zeitgenössische Dichtung“ bezeichnete.160 Die Kategorie des „Modernen“ bleibt zum Ende des 19. Jahrhunderts jedoch vage, da sie von verschiedenen literarischen Strömungen, insbesondere den Realisten, den Naturalisten, der Wiener Moderne und der Dekadenz zur Kennzeichnung ihres als kulturerneuernd verstandenen Wirkens verwendet wurde.161 Dennoch erkannten die literarischen Rezipienten, dass Emmi Lewald in ihrem Schreiben von bestimmten Forderungen der realistischen und naturalistischen Literaturauffassungen ihrer Zeit – nach Realitätsnähe der Schilderung, psychologischer Nachvollziehbarkeit der Figurenagitation, Wahrschein­lichkeit der Situation – beeinflusst war. In einer ganzen Reihe von Buchrezensionen lässt sich beobachten, dass Emmi Lewald im literarischen Feld ihrer Zeit als moderne Erzählerin eingeordnet wurde. Bereits 1897 konstatierte der Literaturkritiker Richard Weitbrecht in der Besprechung des Novellenbands Kinder der Zeit (1897), Emmi Lewalds „Stil“ 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Vgl. zum Modernebegriff Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 53 – 59, hier S. 54. 161 Zudem müssen die Modernebegriffe der Zeit zwischen 1887 – 1904 klar vom Begriff der Klassischen Moderne zur Bezeichnung der Literatur des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts abgegrenzt werden. Ebd. S. 58.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

sei „von der Moderne beeinflußt“162. Die einleitenden Worte von Weitbrechts Artikel Aus weib­lichen Federn zeigen, dass sich sein Modernitätsurteil weniger auf eine zukunftsweisende Ästhetik als auf die „modernen Stoffe“163 in der Literatur von Frauen bezieht, zu denen er die Thematisierung der gesellschaft­lichen Situation der Frau und des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern zählt. Zu einem ähn­lichen Urteil kommen Frieda von Bülow, die in ihrer Buchbesprechung des Romans Sylvia (1904) das Werk als einen „im besten Sinn moderne[n] Frauenroman“164 bezeichnet sowie der Rezensent der „Deutschen Revue“ in seiner Beurteilung der Gesellschaftsskizzen Die Heiratsfrage (1906): „Unter den modernen deutschen Erzählern, deren spezielles Stoffgebiet das Leben der ‚oberen Zehntausend‘ ist, nimmt Emmi Lewald einen der ersten Ränge ein.“165 Zu Emmi Lewalds wichtigsten literarischen Merkmalen zählt der unbekannte Verfasser des Autorinnenporträts in der „Illustrierten Frauen-Zeitung“ zudem die Gesellschaftsschilderung, die sie thematisch oft mit der „Enge der kleinen Stadt“ verbinde.166 Ihre Protagonisten würden „sehr oft vom Schicksal gewaltsam in diesen engen Rahmen eingezwängt […], dessen Enge sie dann je nach ihrem Charakter gewaltsam sprengen oder in dessen Rahmen sie sich mit weltweiser Resignation einfügen.“ Lobenswert an Emmi Lewalds Schilderung gesellschaft­licher Zustände und einzelner Persön­lichkeiten sei, dass sie diese nicht nur bewundernd beschreibe, sondern mit guter Beobachtungsgabe und erzählerischem Können die gesellschaft­ liche Realität entlarve und darstelle. Ihre Gestalten sind groß geworden in einem Milieu, das sie in ganz bestimmte Vorurteile und Formeln bannte, die für sie maßgebender sein müssen als die Wirk­lichkeit. Die meisten von ihnen fügen sich in die Fesseln, aber in ihnen lebt ein keineswegs sentimentaler, oft nur ganz dunkel empfundener Drang nach geistiger Freiheit, nach Freiwerden von dem Gesellschaftsringe, der sie einengt.167

Über die Beurteilung in dem Autorinnenporträt hinaus bestätigen zeitgenössische Buchrezensionen, dass die Milieu- und Gesellschaftsbeschreibung in der Wahrnehmung der literarischen Öffent­lichkeit nach 1904 das herausragende Merkmal von Emmi Lewalds literarischem Schaffen blieb.168 Der Rezensent der „Deutschen Revue“ 162 Weitbrecht: Aus weib­lichen Federn, S. 426 ff, S. 427. 163 Ebd., S. 426. 164 Frieda von Bülow: Neue Frauenromane. In: Vom Fels zum Meer 24 (1904/05), S. 656 – 658. S. 658. 165 B-r.: Die Heiratsfrage. In: Deutsche Revue 31 (1906), S. 377. 166 N. N.: Die schaffende Frau. 167 Ebd. 168 Vgl. B-r.: Die Heiratsfrage; Peschkau: Besprechungen. Neue Novellen; Richard Dohse: Gesammelte Frauenerzählungen. In: Die schöne Literatur 7 (1906), Nr. 8 (7. April), Sp. 164 f.; Estelle du Bois-Reymond:

145

146

Emmi Lewald

vergleicht sie 1906 mit den für dieses Genre bekannten französischen Autoren Gyp, Jeanne Marni und Henri Lavedan.169 In enger Verbindung mit dem Gesellschaftsthema stand für die Zeitgenossen schließ­lich Emmi Lewalds charakteristischer Humor, der nach Auffassung der „Illustrierten Frauen-Zeitung“ in Die Heiratsfrage „stark satyrisch angehaucht“ sei, während er in dem Briefroman Der Lebensretter situationsbezogen entstünde.170 Doch während die einen Rezensenten Emmi Lewald eine ausgesprochene „Begabung für Satire“171 und eine angenehm „heitere Ironie“172 im Erzählen bescheinigen, sehen kritische Beobachter durch die humoristische Übertreibung und die „Neigung zur Karikatur“173 die psychologische Wahrschein­lichkeit der Handlung gefährdet. In der Hauptphase ihrer Schriftstellerlaufbahn 1904 – 1914 publizierte Emmi Lewald nicht nur bis zu drei neue Bücher in einem Kalenderjahr, sondern auch zahlreiche Beiträge in Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften, die als ihre Haupteinnahmequelle betrachtet werden müssen. Während sie vor 1904, mit Ausnahme des Romans Sein Ich (1896), überwiegend Gedichte, Novellen und Prosaminiaturen verfasste, entwickelten sich nunmehr der Frauenentwicklungs- und der Gesellschaftsroman zu ihren wichtigsten Gattungen. Die Novellenform trat in dieser Zeit bei den Buchpublikationen in den Hintergrund, wie an dem zeit­lichen Abstand zwischen dem Erscheinen des Novellenbands Das Schicksalsbuch (1904) und den Novellensammlungen Stille Wasser (1912)174 und Der wunde Punkt (1914) deut­lich wird. Noch stärker reduzierte die Autorin ihre Lyrikpublikation und beschränkte sich nach 1901 auf vereinzelte, meist pseudonyme Veröffent­lichungen von Gedichten in der periodischen Presse. Einen Ausflug in das Genre des Reiseberichts stellte die dreiteilige Griechische Reise (1912) dar, die zwischen autobiografischem Bericht, literarischer Reisebeschreibung und feuilletonis­ tischer Skizze changiert.175

Mädchenschicksale. In: Das Literarische Echo 10 (1908), H. 20 (15. Juli), Sp. 1427 f. 169 Gemeint sind die heute vergleichsweise unbekannten französischen Schriftstellerinnen Sibylle ­Gabrielle Riquetti de Mirabeau (1849 – 1932), die unter dem Pseudonym „Gyp“ publizierte und Jeanne Marni (1854 – 1910) sowie der Autor Henri Lavedan (1858 – 1949). B-r.: Die Heiratsfrage. 170 N. N.: Die schaffende Frau. 171 N. N.: Der Lebensretter. In: Beiblatt der Deutschen Roman-Zeitung 44 (1907), Bd. 2, S. 35. 172 Paul Neuburger: Neue Frauenromane. In: Das Literarische Echo 10 (1907), H. 3 (1. Nov.), Sp. 176. 173 du Bois-Reymond: Mädchenschicksale. 174 Emmi Lewald: Stille Wasser. Novellen. Stuttgart Engelhorn 1912. Die Novelle Irmengard ­Henneberger war bereits 1898 in der „Deutschen Romanbibliothek“ erschienen und gehört in die Reihe der Künstlerinnen-Novellen, die Emmi Lewald zwischen 1898 und 1904 publizierte. Bei der kurzen Erzählung Die Rose handelt es sich um eine humoristische Verarbeitung des Goethe- und Klassiker­kultes des deutschen Bildungsbürgertums. 175 Emmi Lewald: Griechische Reise. Drei Teile. In: Die Frau 19 (1911/12), H. 9 – 11 ( Juni-Aug. 1912), S. 519 ff., S. 593 ff. u. S. 666 ff.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

Emmi Lewald passte ihr Publikationsverhalten den zeitgenössischen Markterfordernissen dahingehend an, dass sie bis 1908 ihre Romane und Novellenbände vornehm­lich bei traditionellen Buchverlagen wie der Schulzeschen Hofbuchhandlung (Oldenburg), dem Verlag von A. Duncker (Berlin) und dem Verlag von Fontane & Co. (Berlin) publizierte. Nach diesem Zeitpunkt nahmen die Projekte mit kleineren Individualverlagen ab und die Autorin ließ ihre Werke zunehmend bei großen Verlagshäusern verlegen, die sich auf die massenhafte Produktion von Literatur spezialisiert hatten und teils über einen angeschlossenen Zeitschriftenverlag verfügten. Zu ihnen gehörten die Deutsche Verlags-Anstalt (Stuttgart), der G. Stilke Verlag (Berlin), der Engelhorn Verlag (Stuttgart), der H. Hillger Verlag (Leipzig) und vor allem die A. Scherl GmbH (Berlin). 2.2.2.4 Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit (1914 – 1924) Die Kriegseuphorie, die im Sommer 1914 weite Teile der Gesellschaft des Kaiserreichs und auch einen Großteil der deutschen Schriftsteller erfasste, schlug sich, ebenso wie die Erfahrung des Ersten Weltkrieges aus der Perspektive der ‚Heimatfront‘, in Emmi Lewalds Werk thematisch nieder. Als die Kriegslyrik 1914/15 eine starke Konjunktur erlebte, erschienen mehrere ihrer patriotischen Gedichte in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, beispielsweise das Lied Nach Ost und West in einer ‚Sammlung von Kriegs- und Siegesliedern‘ mit dem Titel Des Vaterlandes Hochgesang (1914),176 Absage (1915) in „Die Frau“ und Ihr! (1914) in „Velhagen & Klasings Monatshefte[n]“ (vgl. 4.1.1). Die Gedichte behandeln in stark affirmativer Manier die Abgrenzung von den europäischen Kriegsgegnern oder unterstützen die ideologische Aufrüstung im deutschen Reich, wenn sie sich wie das Gedicht Ihr! als Appell direkt an die ausziehenden Truppen richten: „Im hellen Lebenssaale / Wie ist mit einem Male / Der Estrich nun so rot! / Ihr trinkt aus dunkler Schale / Euch Ruhm und Tod…; Ihr schützt wie treue Brüder / Die Glut auf unsrem Herd. / Und alte Heldenlieder / Zu neuem Klange wieder / Weckt euer Heldenschwert!“ Über den weltgeschicht­lichen Zäsur-Charakter des Jahres 1914 hinaus wirkten sich der Tod ihres Mannes Felix Lewald am 11. Oktober 1914 und ihres Vaters G ­ ünther ­Jansen am 31. Dezember 1914 in Emmi Lewalds Biografie als entscheidender Einschnitt aus.177 Die Kriegszeit wurde zu einer Phase reduzierter Publikationstätigkeit, was sich teils mit der privaten Lebenslage der Schriftstellerin, teils mit der schwierigen Situation des Verlags- und Zeitschriftenwesens begründen lässt. So endete ihre freie Mitarbeit bei „Über Land und Meer“, „Vom Fels zum Meer“, „Die Woche“ 176 Emmi Lewald: Nach Ost und West. In: Des Vaterlandes Hochgesang. Eine Auslese deutscher und österreichischer Kriegs- und Siegeslieder. Hg. von Karl Quenzel. Leipzig 1914, S. 60 f. 177 Es liegen keine Informationen darüber vor, ob Felix Lewald kurz vor seinem 59. Geburtstag eines natür­lichen Todes gestorben oder im Krieg gefallen ist.

147

148

Emmi Lewald

und „Die Frau“ im Jahr 1915 endgültig. Angesichts der angespannten Publikationslage, die nahezu alle Autoren des Kaiserreichs in eine finanziell prekäre Situation versetzte, kamen Emmi Lewald nun ihre Kontakte zu „Die Gartenlaube“, „Velhagen und Klasings Monatsheften“ und deren rasch in einen „Kriegs-Almanach“ umgewandelten Almanach sowie zum „Deutschen Lyceum-Club“ zugute, sodass sie während des Krieges immerhin noch eine Reihe von Novellen mit Kriegsthematik und einige patriotische Gedichte veröffent­lichen konnte. Auf diesem Wege erschienen die Novellen In schlaflosen Nächten (1915), Der letzte Brief (1916), Eheirrung (1916) und Ein Besuch (1917), die der Verlag von G. Stilke in Berlin nach Kriegsende als Sammel­band unter dem Titel In jenen Jahren… (1919) herausgab. Die Kriegsthematik und die weltgeschicht­lichen Umwälzungen der Jahre 1914 – 1919 beschäftigen Emmi Lewald nach Kriegsende in zwei Romanen, in denen erneut der Anspruch der Zeit- und Gesellschaftsschilderung spürbar wird. Das Fräulein von ­Güldenfeld (1922)178 erschien 1922 in den Nummern 1 bis 14 der „Gartenlaube“ sowie bei der A. Scherl GmbH in Berlin und dürfte der Autorin in Inflationszeiten einige gute Einkünfte gebracht haben. Die Hauptfigur Rixa von Güldenfeld entstammt einer alten Adelsfamilie und lebt vor Kriegsausbruch an einem kleinstädtischen Fürstenhof, der erneut Züge der Residenzstadt Oldenburg trägt. Lewald zeichnet ihre Hauptfigur als überzeugte Anhängerin des dynastischen Systems, die sich in patriotischer Begeisterung und Opferbereitschaft im Weltkrieg als Sanitäterin verpf­lichtet. Emmi Lewald bettet die Revolutionsereignisse von 1918 in eine Liebesgeschichte ein und schildert den Untergang der Monarchien und das Erlöschen adeliger Privilegien als Zusammenbruch der alten politischen und weltanschau­lichen Ordnung. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist Thema des Romans Lethe (1924), den die Max Seyfert Verlagsbuchhandlung in Dresden produzierte. Der Heimkehrer-Roman ist ebenfalls im Adelsmilieu angesiedelt und erscheint durch die männ­liche Perspektive des überzeugten Preußen und Offiziers Albrecht von Gottern als Gegenstück zu Das Fräulein von Güldenfeld, nicht zuletzt, da seine Hauptfigur wesent­lich expliziter in aktuelle politische und wirtschaft­liche Zusammenhänge gestellt wird. Im Vergleich wird Albrecht von Gottern nach dem Untergang der Monarchien und der preußischen Wertewelt ein wesent­lich größeres Maß an autonomen Handlungs- und Widerstandsmög­lichkeiten zugestanden als Rixa von Güldenfeld, die sich resignierend der neuen Lebenssituation anpasst. Dennoch scheitert der preußisch gesinnte Militär von Gottern an der historischen Zäsur und vermag keinen dem neuen demokratischen System angemessenen Lebensentwurf zu entwickeln.

178 Emmi Lewald: Das Fräulein von Güldenfeld. Roman. Berlin A. Scherl 1922.

Emmi Lewald als Schriftstellerin

2.2.2.5 Das letzte Jahrzehnt (1925 – 1935) Emmi Lewalds literarisches Schaffen war in der Weimarer Republik zunächst von einer auffallenden Kontinuität geprägt. Die Vorbilder für die Hauptakteure und Stoffe ihrer Romane bezog sie weiterhin aus den gehobenen Gesellschaftskreisen, wobei eine deut­liche Tendenz zum adeligen und besitzbürger­lichen Milieu bemerkbar ist. Auch die Lebensbedingungen und die soziale Rolle der Frau in der gesellschaft­ lichen Oberschicht blieben nach dem Ersten Weltkrieg vorrangige Themen in Emmi Lewalds Werk. Muss der um 1900 spielende Berliner Roman Die Frau von gestern (beendet 1914)179 nach Entstehungshintergrund und thematischer Gestaltung noch im deutschen Kaiserreich verortet werden, da er die bekannten Konfliktsituationen traditionell sozialisierter bürger­licher Frauen behandelt, finden die in den 1920er Jahren im Zuge der steigenden Frauenberufstätigkeit entstandenen modernen Frauenbilder ihren Niederschlag in den Romanen Das Fräulein aus der Stadt (1929) und Büro Wahn (1935). Die tendenzielle Überwindung der traditionellen bürger­lichen Frauenrolle durch die Errungenschaften des Frauenwahlrechts, des Frauenstudiums und der gesellschaft­lichen Anerkennung der Frauenarbeit bringt den Romanfiguren Dr. Gwendolyn Schulz und Dr. Astrid von Wahn jedoch nicht die von der bürger­ lichen Frauenbewegung ersehnte persön­liche Autonomie und Selbstverwirk­lichung. Zwischen erschöpfender Arbeitsbelastung in der männ­lichen Arbeitswelt, einer prekären Finanzlage und drohender Arbeitslosigkeit zeichnet Emmi Lewald die „Frau von heute“ (FadS 119) als Menschen in einer existenziell und ideell gleichermaßen unsicheren Situation. Gwendolyn Schulz ist als „Tochter dieser verdammten Zeit“ (FadS 206) der Berufstätigkeit nicht gewachsen und träumt von der unselbstständigen Frauenexistenz des 19. Jahrhunderts. Während für das „gefallene Mädchen“ (FadS 192) Gwendolyn ein traditionelles Eheglück nicht mehr erreichbar ist, kann die Juristin Astrid von Wahn als Fabrikantengattin am Ende des Romans Büro Wahn (1935) in eine berufslose Existenz zurückkehren. Die Aspekte großstädtischer, bildungsbürger­licher Lebensführung, die vor dem Ersten Weltkrieg stoff­lich Emmi Lewalds Gesellschaftsromane dominierten, verloren in der Weimarer Zeit für die Romanhandlungen massiv an Bedeutung. Während das humanistische Bildungskonzept und die klassische Gelehrtenexistenz in Die Frau von gestern noch für einen positiven Gegenentwurf zur beschleunigten modernen Lebensführung genutzt werden, treten sie in allen folgenden Romanen in den Hinter­grund. Ursäch­lich ist für diesen Prozess neben Emmi Lewalds Vorliebe für das Adelsmilieu sicher­lich die realgesellschaft­liche Entkonturierung des bürger­lichen

179 Dieser Roman wurde bereits 1914 fertig gestellt und setzt sich thematisch nicht mit dem Weltkrieg oder der Nachkriegszeit auseinander. Emmi Lewald: Die Frau von gestern. Roman. Berlin G. Stilke 1920.

149

150

Emmi Lewald

Bildungsgedankens nach dem Weltkrieg. Besonders die Handlung des historischen Hochstapler-Romans Heinrich von Gristede (1934) ist regelrecht komplementär zu Emmi Lewalds Berliner Romanen auf einem landwirtschaft­lichen Gut in Moorwarfen im Großherzogtum Oldenburg in der Zeit um 1848 angesiedelt und schlägt auch thematisch mit der Deichpflege, der Sturmflutbedrohung und der Gutsherrenschaft eine neue Richtung ein.180 Die Zeit der Weimarer Republik ist arm an Werkrezensionen der Literaturzeitschriften und Quellen über die öffent­liche Wahrnehmung der Schriftstellerin Emmi Lewald im literarischen Feld. Da sich ihre literarische Arbeit nach der Novellensammlung In jenen Jahren… (1919) ausschließ­lich auf Romane beschränkte, wurde sie in den literaturwissenschaft­lichen Überblickswerken von Mielke-Homann (1920) und Bartels (1922) als Autorin von Frauen- und Gesellschaftsromanen vorgestellt. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 und der Publikation ihrer Romane Heinrich von Gristede (1934) und Büro Wahn (1935) bei der Meyerschen Hofbuchhandlung in Detmold, geht die regelmäßige Publikationstätigkeit der Autorin ab 1935 schließ­lich zu Ende.

180 Der Literaturkritiker der Oldenburger Zeitung „Nachrichten für Stadt und Land“ macht das Großherzogtum Oldenburg zur Regierungszeit des Großherzogs Paul Friedrich August (1783 – 1853) als Schauplatz des Romans aus. Vgl. N. N.: Ein neuer Heimatroman. Heinrich von Gristede. In: Aus der Oldenburger Heimat. 4. Beilage der Nachrichten für Stadt und Land, Nr. 40 (10. Feb. 1935). Wie aus einem Brief des Philosophen Karl Jaspers hervorgeht, verwendete Emmi Lewald als Vorbild für die Hochstapler-Figur Heinrich von Gristede Motive aus der Geschichte der Stadt Oldenburg, näm­lich den Fall des österreichischen Pastors Partisch (1860 – 1928), der als Hochstapler verurteilt wurde. Vgl. Karl Jaspers an Emmi Lewald am 2. Februar 1935. DLA, Best. A: Jaspers 75.8715 und Wilhelm Friedrich Meyer: Hans Hubertus Partisch. In: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Oldenburg 1992, S. 552 f.

3. Positionierung der Autorin im literarischen Feld

153

3.1

Konzeption und Produktion: Emmi Lewald und die Verlage

3.1.1 Die Expansion des Buch- und Zeitschriftenmarktes Die Rahmenbedingungen des Literaturmarkts, die Emmi Lewalds schriftstellerische Arbeit von Beginn an bestimmten, waren grundlegend von dem massiven Kommer­ zialisierungsschub und dem sprunghaften Anstieg der Buch- und Zeitschriftenproduktion geprägt, die in der Zeit des deutschen Kaiserreichs für einen anhaltenden Wandel des Sektors sorgten. Neben dem technischen Fortschritt wurde diese Entwicklung vor allem von einer gesetz­lichen Veränderung getragen, der Aufhebung des Insertionsmonopols in Preußen 1850, die den Wettbewerb der Zeitungen um Anzeigenkunden auslöste.1 Gleichermaßen als Triebkraft und als Folge der entstehenden Mög­lichkeiten für die massenhafte Herstellung günstigen Lesestoffs gilt die „Demokratisierung des Lesens“ mit der sogenannten Zweiten Leserevolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts.2 Der Anstieg der Buchtitelproduktion während Emmi Lewalds Publikationszeitraums ab 1888 belegt eindrucksvoll die Auswirkungen dieser Entwicklung:3 1870 erschienen 10.108 Titel, 1888 waren es bereits 17.016, bei ihrem Umzug nach Berlin 1896 bereits 23.339 Titel und 1910 31.281 Neuerscheinungen. Den Höhepunkt der Verlagsproduktion bildet das letzte Friedensjahr 1913 mit 35.078 Publikationen, einer Zahl, welche bis 1918 auf 14.743 schrumpfte. Damit ist für den Zeitraum zwischen 1826 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs ein Anstieg der Neuerscheinungen und Neuauflagen um das Siebenfache festzustellen.4 Die Sparte der Belletristik war am Buchmarkt mit einem Anteil von 9,2 % 1890 und 14,2 % 1908 vertreten, wobei der Anstieg sicher auch in der seit der Jahrhundertwende zunehmenden Popularität belletristischer Reihen und 1 Preußen hob das Anzeigen- bzw. Insertionsmonopol zum 1. Januar 1850 auf. Es bestand von 1727 bis 1850 und hatte das Anzeigengeschäft auf reine Anzeigenblätter ohne weiteren Unterhaltungsund Informationsgehalt beschränkt. Die Aufhebung des Monopols ermög­lichte einem weiten Kreis von Periodika die Finanzierung durch Inserate, was eine Senkung der Bezugspreise und damit eine Ausweitung des Lesepublikums nach sich zog. Vgl. Hacker, Rollen – Bilder – Gesten, S. 95. 2 In welchem Umfang die technischen und gesellschaft­lichen Voraussetzungen dieser Zeit die Ausweitung des Lesens auf alle Gesellschaftsschichten ermög­lichten, wird in Kap. 3.2. „Rezeption I: Über Emmi Lewalds Lesepublikum“ eingehend erläutert. Der Begriff stammt von Wolfgang R. Langenbucher: Die Demokratisierung des Lesens in der zweiten Leserevolution. Dokumentation und Analyse. In: Lesen und Leben. Zum 150. Jahrestag der Gründung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler am 30. April 1825. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. Frankfurt a. M. 1975, S. 12 – 35. 3 Vgl. die von Barbara Kastner auf Basis der im Börsenblatt regelmäßig veröffent­lichten „Systematischen Übersicht über die literarischen Erzeugnisse des deutschen Buchhandels“ zusammengestellte Dokumentation. Barbara Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918. Teil 2. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 300 – 367. S. 300. 4 Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991, S. 271.

154

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Romanzeitungen begründet war.5 In diesen Zahlen spiegelt sich die wichtige Rolle der schöngeistigen Literatur und besonders der Unterhaltungsliteratur für die Lesekultur aller Schichten der wilhelminischen Gesellschaft (vgl. 3.2). Während dieser Expansion des Literaturmarkts veränderte sich die Rolle der Literatur in der bürger­lichen Gesellschaftsschicht. Estermann und Füssel sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Verlust der literarischen Gesellschaftskultur“6 nach 1870 und benennen damit das Phänomen eines massiven Anstiegs der Buchproduktion bei gleichzeitiger Abnahme der Bedeutung von Literatur für die Auseinandersetzung mit Staat, Politik und Gesellschaft. Nach der gescheiterten Revolution von 1848, die eine breite publizistische Vorbereitung und Begleitung erfahren hatte, nach dem wirtschaft­lichen Aufschwung und der Anpassung des Bürgertums an die neuen Machtverhältnisse hatte die Literatur der Gegenwart […] ihre gesellschaft­liche Funktion weitgehend eingebüßt.7

Obwohl die humanistischen Bildungsvorstellungen des Bildungsbürgertums mit Klassikerverehrung, Zitatenschatzsammlungen und der Wertschätzung sogenannter Nationalliteratur auch in der Zeit des deutschen Kaiserreichs das gesamtgesellschaft­ liche literarische Ideal bestimmten, entstand zunächst keine breite und lebendige literarische Kultur unter Einbindung der zeitgenössischen Autoren. Tatsäch­lich wurden die meisten Bücher, hauptsäch­lich Fachliteratur, von Akademikern gekauft, während wohlhabende Bürger und Adelige ihren unterhaltenden Lesestoff aus Leihbibliotheken und, ebenso wie Angehörige der Arbeiterschicht, aus Zeitschriften, Almanachen, Kalendern und Zeitungen bezogen. So gehörten etwa „[b]ei Borstell in Berlin […] die hohen Offiziere und die Hofgesellschaft ebenso zu den Kunden wie Bismarck und die preußischen Prinzen“8. Auch von Emmi Lewalds Werken ist durch die Lebenserinnerungen eines Bekannten ihres Bruders Gerhard Jansen bekannt, dass diese „zur Lieblingslektüre von Johanna von Bismarck gehörten und [dass diese] der eiserne Kanzler für die Bibliothek seines Ministeriums anzuschaffen pflegte“9. Die Konkurrenz der Leihbüchereien, des Kolportagebuchhandels und der Zeitschriftenliteratur zwang die Verleger belletristischer Werke in vielen Fällen zu einer 5 Ebd., S. 272. 6 Monika Estermann / Stephan Füssel: Belletristische Verlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918. Teil 2. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 164 – 299, S. 165. 7 Ebd., S. 164. 8 Fritz Borstell in Berlin war mit 600.000 Bänden um 1900 die bedeutendste Leihbibliothek im deutschen Kaiserreich. Die gefragtesten Autoren dieser Leihbücherei waren zwischen 1865 und 1898 Gustav Freytag, Felix Dahn, Joseph Victor von Scheffel, Eugenie John (E. Marlitt), Hermann Sudermann und Paul Heyse. Estermann / Füssel, Belletristische Verlage, S. 165, 166. 9 Schieckel, Hauch einer kleinen Residenz, S. 29 – 41, S. 35.

Emmi Lewald und die Verlage

Anpassung ihres Angebots und ihrer Herstellungsmethoden an die veränderten Marktanforderungen. Um die Jahrhundertwende hatte sich das Phänomen des „Massenbuchs“ im Gegensatz zum „Kulturbuch“10 endgültig durchgesetzt und machte mit einer Verbilligung des Lesestoffs den privaten Bucherwerb für einen großen Teil der Gesellschaft erstmals mög­lich. Resultate dieser Entwicklung sind die steigenden Publikationszahlen von Almanachen, Romanzeitungen und Romanreihen, mit denen es den belletristischen Verlagen gelang, das rentable Konzept der Zeitschrift (gemischtes Textangebot) und deren Verkaufsstrategien (Abonnement, Sammelreihen) in den Buchsektor zu übertragen. Auch die Abgabe von broschierten Ausgaben oder Taschenbüchern gehörte dazu. Deut­lich mehr noch als der Buchsektor steigerte sich der Umfang des deutschsprachigen Zeitschriftenwesens, welches in den rund 100 Jahren zwischen 1826 und 1927 um das 18-fache anwuchs.11 1890 waren 3.203 Titel im Umlauf, 1900 bereits 5.231 und im letzten Friedensjahr 1913 6.689 Titel.12 Hauptverlagsorte für deutschsprachige Zeitschriften wurden neben den traditionellen buchhändlerischen Zentren Leipzig, Stuttgart und München nun auch Berlin und Wien. Abgesehen von dem Umfang wuchs auch die fach­liche Differenzierung der Blätter, was im vielfältigen Angebot an Spezialzeitschriften für zahlreiche Berufszweige und Freizeitaktivitäten zum Ausdruck kam. Hatte die Verbreitung von Literatur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hauptsäch­lich in der Hand der Verlage gelegen, erlangten ab diesem Zeitpunkt die Familien- und Unterhaltungszeitschriften eine große Bedeutung. Mit der Familienzeitschrift „begann das Zeitalter der Massenkommunikation mit den Mög­lichkeiten einer breiten Unterhaltung.“13 Mittels Unterhaltungszeitschriften konnte ein breites Publikum unterschied­licher gesellschaft­licher Schichten sein Lektüre­bedürfnis preiswerter decken als mit dem Erwerb einzelner Buchausgaben.14 10 Die Begriffe prägte Helmut von Steinen bereits 1912. Vgl. Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 277. 11 Nach der Indexreihe von Gerhard Menz. Vgl. Georg Jäger: Das Zeitschriftenwesen. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918. Teil 2. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 368 – 389. S. 368. 12 Die Zahlen beziehen sich auf die in „Sperlings Adressbuch“ nachgewiesenen Titel, der zentralen laufenden Bibliographie des Zeitschriftenwesens im deutschsprachigen Raum. Vgl. Jäger, Das Zeitschriftenwesen, S. 368. 13 Andreas Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften. In: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918. Teil 2. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 409 – 522. S. 409. 14 Ein belletristischer Titel kostete beispielsweise 1890 durchschnitt­lich 2,60 Mark und 1908 2,20 Mark. Am teuersten waren 1890 Romane und Erzählbände mit durchschnitt­lichen 3,18 Mark gefolgt von Lyrikbänden mit 2,43 Mark und Bühnendichtungen (1,58 Mark). Ein Abonnement der „Gartenlaube“ dagegen konnte 1890 mit der Wochenausgabe schon für einen vierteljähr­lichen Bezugspreis von 1,60 Mark und mit der Monatsausgabe für einen Preis von 50 Pfennig pro Heft erworben werden. Die deut­lich exklusivere Zeitschrift „Über Land und Meer“ war als Wochenschrift immerhin schon

155

156

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Viele Zeitschriften, beispielsweise „Die Gartenlaube“ und „Über Land und Meer“, erschienen in mehreren Ausgaben unterschied­licher Ausstattung und Preisklassen. „Auf diese Weise wurden verschiedene Märkte und Öffent­lichkeiten mit ein und demselben Titel bedient, der im Erscheinungsbild dem jeweiligen Publikum angepaßt war.“15 Im Hinblick auf das heterogene Lesepublikum gestaltete sich der Zeitschriftenmarkt anpassungsfähiger als der Buchmarkt, denn er war durch Werbetechniken, Preisausschreiben, Briefkastenrubriken (erste „interaktive“ Ansätze) und vor allem durch das Abonnement in der Lage, große Käuferkreise zu binden. Dieser Umstand führte auf dem Markt zu einer starken Konkurrenz zwischen Buch, Zeitung und Zeitschrift. Die Zeitschriften waren dem Buch, aber auch den Tages- und Wochenzeitungen an Anzahl, Auflagenstärke und Wirtschaft­lichkeit überlegen.16 Vor allem das Anzeigenwesen, das nach der Aufhebung des Anzeigenmonopols zur Haupteinnahmequelle des Zeitungsverlags­ wesens wurde, begründete die Rentabilität dieses Sektors und sorgte für die Vereinigung von Wirtschaftsinteressen und Zeitungswesen. Die Herausgabe und Herstellung von Zeitschriften und Zeitungen nahm den Charakter einer Warenproduktion an, und die Auswahl der Inhalte und der ästhe­tischen Gestaltung wurde im Hinblick auf das Zielpublikum bald ausschließ­lich von ökonomischen Prämissen bestimmt. Emmi Lewalds schriftstellerische Aktivität fällt somit in die Epoche einer bis dahin nicht gekannten Expansion der Literaturindustrie und ihrer Druckerzeugnisse, in welcher sich das Berufsbild des Schriftstellers ebenso stark wandelte und den neuen Bedingungen anpassen musste wie das des Verlegers. In dem Maße, wie das Buch Ende des 19. Jahrhunderts zur massenhaft verbreiteten Ware wurde, veränderten sich auch der Charakter der Verlage und die Aufgaben des Verlegers. Parallel zur steigenden Buchund Zeitschriftenproduktion erleben das Verlagswesen und der Sortimentsbuchhandel im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Expansionsphase mit außergewöhn­lichen Wachstumswerten. Die Zahl der Buchhandelsbetriebe im deutschen Reichsgebiet wuchs von 5.410 im Jahr 1880 auf 7.474 im Jahr 1890 und bis 1907 auf 14.249.17 Eine auffallende Veränderung der Verlagslandschaft bildeten Konzentrationstendenzen für 3 Mark im Vierteljahr zu beziehen, in der 14-täg­lichen Ausgabe für 50 Pfennig pro Heft. Vgl. die statistischen Daten zur Kategorie der Schönen Literatur bei Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens, S. 346. Zu den Preisen der Unterhaltungszeitschriften vgl. Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 412. 15 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 413. 16 Von den am 1. Januar 1910 im deutschen Kaiserreich erschienenen 9.304 periodischen Druck­ erzeugnissen entfielen 3.894 auf Zeitungen und 5.410 auf Zeitschriften und Fachzeitungen. Vgl. die Untersuchung Stoklossas bei Jäger: Das Zeitschriftenwesen, S. 380. 17 Die Angaben von Langenbucher sind nur bedingt aussagekräftig. Sie beziehen sich auf „Buchhandelsbetriebe im weitesten Sinne“ und stützen sich auf unterschied­liche Quellen (Kapp, Goldfriedrich, 1886 – 1913; Umlauff, 1934; Moufang, 1921), die wegen ihrer unterschied­lichen Erhebungsmethoden nicht immer vergleichbar sind. Vgl. Langenbucher: Die Demokratisierung des Lesens in der zweiten Leserevolution, S. 22. Wittmann stützt sich auf das Adressbuch des Deutschen Buchhandels und nennt

Emmi Lewald und die Verlage

und Konzernbildungen. Neben den zahlreichen Zusammenschlüssen ehemals selbstständiger Verlage häuften sich die Vereinigungen einzelner, dem Produktionsprozess des Buches angegliederter Branchen zu rentablen Großunternehmen, bestehend aus Verlagen, Buchdruckereien und Papierfabriken.18 Wichtige Beispiele für diese Tendenz sind die Großunternehmen Mosse, Ullstein und Scherl, die sich als große Verlage und Druckereien neben der Buchproduktion zunehmend an der Herausgabe und Produktion von Zeitungs- und Zeitschriftenausgaben beteiligten. 3.1.2 Emmi Lewald und die Buchverlage Die Buchverlage und Zeitschriften als Publikationsorte von Emmi Lewalds Texten bilden wichtige definierbare Positionen, anhand derer sich die weltanschau­liche und künstlerische Positionierung der Autorin im literarischen Feld untersuchen lässt. Die genaue Auseinandersetzung mit ihren Arbeitsbeziehungen zu den jeweiligen Verlagen gibt zudem Aufschluss über ihre Gestaltungsmög­lichkeiten, ihre Arbeitsweise und ihr strategisches Vorgehen bei der Konzeption und Produktion der Werke. Emmi Lewalds erste bekannte Zusammenarbeit mit einem Verlagshaus kam im Jahr 1888 zustande. Dem kleinen Verlag von Rauert & Rocco in der Langestraße 31 in Leipzig war offensicht­lich eine äußerst kurze Lebenszeit beschieden, zudem ist er heute, ebenso wie die Mehrzahl seiner Publikationen, beinahe vollständig aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden. Der Verlag wurde am 1. Mai 1888 in Leipzig errichtet und im Dezember 1893 nach Braunschweig verlegt. Gegründet wurde die Firma von Carl Rocco, einem Buchhändler aus Leipzig, und Robert Rauert, einem Buchdruckereibesitzer aus Sorau, der bereits im September 1889 den jungen Verlag wieder verließ.19 In der Zeit, in der die Firma unter der Geschäftsbezeichnung „Rauert & Rocco Nachf. Verlagsbuchhandlung“ ihren Sitz in Braunschweig hatte, gehörte sie dem in Leer geborenen Buchhändler Dietrich Janßen und ist bis 1899 in den Adressbüchern der Stadt nachzuweisen.20 für 1875 4.614 vertreibende Firmen aller Branchenzweige, bis 1900 9.360 und 1913 schließ­lich 12.412 Firmen. Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 272. 18 Adolf Kröner besaß beispielsweise zunächst eine Druckerei in Stuttgart, kaufte 1884 „Die Gartenlaube“, übernahm 1888 den Cotta-Verlag, einen Jugendschriftenverlag und den Zeitschriftenverlag Schönlein sowie 1890 den Spemann Verlag und vereinte 1891 sämt­liche Betriebe zur „Union Deutsche Verlagsgesellschaft“. Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 277. 19 Die Informationen über den Handelsregistereintrag und die Gründer des Verlags stammen aus einer Mitteilung des Sächsischen Staatsarchivs Leipzig an die Verfasserin vom 15.6.2007. Ein Verlags­ archiv oder eine Korrespondenz zwischen den Verlegern und der Autorin konnten im Rahmen der Recherche nicht ermittelt werden. 20 Der Verlag Rauert & Rocco ist von 1894 bis 1899 in den Adressbüchern der Stadt Braunschweig nachweisbar und hatte seinen Sitz 1894 – 1898 in der Breitestraße 5, im Jahr 1899 schließ­lich in der

157

158

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Während sich als erste Publikation des Verlags Wilhelm Emanuel Backhaus Sprüchesammlung Christ­liche Weisheit aus der vorchrist­lichen Zeit von 1887 ausmachen lässt, die als zweiten Verlagsort Bremen aufweist, taucht Rauert & Rocco zuerst 1892/93 mit einem Eintrag in Joseph Kürschners Deutschem Literatur-Kalender auf.21 In den Jahrgängen 1894 und 1895 des Kalenders sind bereits keine Adresseinträge mehr zu finden. Das 1894 erschienene Werk Weltschöpfung, Sintfluth und Gott: die Urüberlieferung auf Grund der Naturwissenschaft von Arthur Stentzel erschien bei dem Verlag Rauert & Rocco mit Sitz in Braunschweig, was auf einen Umzug hindeuten könnte. Der Reisebericht Sechs Monate in Nicaragua (1896) von K. von Girsewald enthält ebenfalls den Hinweis auf den Verlagsort Braunschweig, nennt als Verlag jedoch bereits die „Nachfolger von Rauert und Rocco“.22 Thematisch beschäftigen sich die häufig grenzwissenschaft­lichen Publikationen des Verlags mit den Bereichen Religion und Mystik, Armee und Feuerwehr sowie mit dem italienischen Dichter und Philosophen Giordano Bruno.23 Der Verlag brachte zudem einige belletristische Werke, Gedichtsammlungen und Übersetzungen der Autoren Kurt Delbrück, Ernst Ludwig Rochholz, Valeska Matuszewsk heraus. In diesem kleinen Verlag erschien 1888 pseudonym Emmi Lewalds erstes Werk Unsre lieben Lieutenants, Zeitgemäße Charakterstudien aus deutschen Salons.24 Wie im biografischen Abschnitt beschrieben, gelangten Informationen zur wahren Identität der Verfasserin trotz des entfernten Erscheinungsorts und eines schützenden Autor­ pseudonyms 1888 rasch an die Öffent­lichkeit, was in Oldenburg zu einem kleinen Gesellschaftsskandal führte und ihr zu Beginn ihrer Schriftstellerinnenlaufbahn einen gewissen Bekanntheitsgrad verschaffte. Zur Rezeptionsgeschichte des Buchs gehört auch eine 1889 anonym bei Rauert & Rocco veröffent­lichte Replik mit dem Titel O, ihr Gnädigen, Charakterstudien aus der Damenwelt, in der ein unbekannt gebliebener Offizier in ähn­lich satirischer Manier eine bissige Entgegnung an die Verfasserin Emmi Lewald und an den gesamten weib­lichen Schriftstellerstand richtete.25 Unsre lieben Lieutenants blieb Emmi Lewalds einzige Publikation bei Rauert & Rocco und Cellerstraße 78. Der Inhaber der Verlagsbuchhandlung Dietrich Janßen, geboren am 21.1.1865 in Leer, kam 1889 nach Braunschweig und verzog am 30.6.1907 nach Wien. Freund­liche Mitteilung des Stadtarchivs Braunschweig an die Verfasserin am 11.07.2007. 21 Joseph Kürschner (Hg.): Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1892. 14. Jg, Leipzig. 22 K. von Girsewald: Sechs Monate in Nicaragua. Braunschweig Rauert und Rocco Nachf. 1896. 23 Die Ausführungen beziehen sich auf 26 Publikationen des Verlages, die in Antiquariatskatalogen ausfindig gemacht werden konnten. 24 Vgl. Steinberg: Emil Roland. 25 Dass die Veröffent­lichung derartiger Repliken zur gängigen Praxis des Literaturlebens der Zeit gehörte, lässt ein ähn­liches Ereignis im selben Verlag vermuten. 1890 veröffent­lichte Ludwig ­Kuhlenbeck die Spaziergänge eines Wahrheitsuchers in’s Reich der Mystik, worauf er ebenfalls 1890 mit Christian Behres Spiritisten, Occultisten, Mystiker und Theosophen: offenes Send- und Antwortschreiben an den Verfasser der „Spaziergänge in’s Reich der Mystik“ eine literarische Antwort erhielt.

Emmi Lewald und die Verlage

es muss offen bleiben, warum es nach dem erfolgreichen ersten Buch nicht zu einer weiteren Zusammenarbeit kam. Wesent­lich besser ist Emmi Lewalds Zusammenarbeit mit der Schulzeschen Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei in Oldenburg zwischen 1889 und 1901 dokumentiert, wo sie zunächst die Gedichtsammlung Der Cantor von Orlamünde (1889) publizierte, deren thematischen Schwerpunkt der Landstrich Thüringen bildet, die Heimatregion ihrer Mutter Marie Jansen. Darüber hinaus erschienen bei der ­Schulzeschen Hofbuchhandlung die Gedichtbände Gedichte (1894) und Gedichte, Neue Folge (1901) sowie die Reiseskizzen Italienische Landschaftsbilder (1897). Die Schulzesche Sortimentsbuchhandlung wurde von Johann Peter Schulze am 29. September 1800 am Schlossplatz (damals Innerer Damm) in Oldenburg gegründet und nach dem Anschluss einer Druckerei 1803 um den Verlagsbuchhandel ergänzt.26 Über den späteren Geschäftsführer Johann Wilhelm Berndt gelangte die Firma ab 1864 in Teilen und 1884 in den alleinigen Besitz des Buchhändlers August Schwartz (1837 – 1904), der sie 1893 an seinen Sohn Rudolf Schwartz (1865 – 1943) übergab. Zum 75-jährigen Firmenjubiläum am 29. September 1875 verlieh der Großherzog dem Familienverlag das Recht, sich „Schulzesche Hof-Buchhandlung und Hof-Buchdruckerei“ nennen zu dürfen, was sich erst änderte, als Rudolf Schwartz 1913 die Sortimentsbuchhandlung ausgliederte und an Hans Borcholte verkaufte.27 Der Schulzesche Verlag veröffent­lichte Fachliteratur und schöngeistige Werke, deren bildungsbürger­liche Autoren zumeist aus der Stadt Oldenburg und ihrem Umland stammten. Im Vordergrund standen Werke bürger­lichen Geistes, deren national-konservative Tendenz teils in der Verehrung des Kanzlers Bismarck, teils in verherr­lichenden Beschreibungen der Reichseinigungskriege zum Ausdruck kam. Ein wichtiger Autor des Verlags war Adolf Stahr (1805 – 1876), der seit 1836 am Oldenburger Gymnasium unterrichtete und zum Bekanntenkreis von Theodor von Kobbe, Christian Ludwig Starklof, Ferdinand von Gall und Julius Mosen gehörte.28 Auch Emmi Lewalds Vater, der ebenfalls als Autor tätige Minister Günther Jansen, veröffent­lichte bei Schulze unter anderem die historische Monographie Zur Geschichte der nordischen Politik im 18. Jahrhundert (1873) und das in Oldenburg populär gewordene kulturgeschicht­liche Werk Aus vergangenen Tagen – Oldenburgs literarische und gesellschaft­liche Zustände während des Zeitraums von 1773 und 1811 (1877).29 Darüber 26 Vgl. zur Geschichte der Schulzeschen Hofbuchhandlung Sieler: 200 Jahre Bücher am Schloßplatz, S.  33 f. 27 Bis 1941 nannte sich die Sortimentsbuchhandlung „Schulzesche Hofbuchhandlung“, dann musste die damalige Inhaberin Anna Thye den Namen auf Druck der Nationalsozialisten in „Buchhandlung Anna Thye“ ändern. Ebd., S. 98. 28 In Oldenburg erschienen unter anderem Adolf Stahrs Werke Ein Jahr in Italien (1847 – 1850), ­Goethes Frauengestalten (1892) und G. E. Lessing – Sein Leben und seine Werke (9. Aufl. 1887). Ebd., S.  87 f. 29 Ebd., S. 111 f.

159

160

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

hinaus verlegte die Hofbuchhandlung Werke mit teils regionalem Bezug von Oskar Tenge, Johann Friedrich Mosle, Peter Friedrich Ludwig Strackerjan, Carl Engel, Anna Siegel-Löhn, sowie national-konservative Lyrik des Verlegers August Schwartz selbst. Auch der zu dieser Zeit sehr populäre nordwestdeutsche Dichter Hermann Allmers (1821 – 1902), ein Freund der Familie Schwartz, veröffent­liche Werke wie das Marschenbuch und die Römischen Schlendertage in der Schulzeschen Hofbuchhandlung. Mit der Geschäftsübernahme durch Rudolf Schwartz 1893 erfuhr die Schulzesche Hofbuchhandlung einige Erweiterungen, was auch daran zu erkennen war, dass immer mehr Werke im Impressum als Erscheinungsort die Städte Oldenburg und Leipzig angaben. Außerdem baute Rudolf Schwartz im Verlagsangebot die Themenbereiche Kolonialwesen und Italienliteratur aus.30 Zu den Autoren der Ära Rudolf Schwartz gehören der Literaturwissenschaftler Heinrich Bulhaupt (Dramaturgie des Schauspiels, 1899/1900), der Nobelpreisträger von 1905 Henryk Sienkiewicz mit Briefe aus Afrika (1902) und Briefe aus Amerika (1903) sowie Ludwig Salomon, der etwa zeitgleich mit Emmi Lewald seine Reisebilder aus Italien veröffent­lichte.31 Die im Autorenarchiv der ehemaligen Schulzeschen Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei 32 verwahrten Materialien zu den geschäft­lichen Beziehungen zwischen dem Verlag und Emmi Lewald von 1889 bis 1901 geben einen guten Einblick in die Eigeninitiative, den Verdienst und die Einflussmög­lichkeiten dieser Schriftstellerin auf ihre Veröffent­lichungen. Der Cantor von Orlamünde (1889), die Gedichte (1894) und die Italienischen Landschaftsbilder (1897) erschienen in einer durchschnitt­lichen Auflagenhöhe von 1.250 Exemplaren. In fast allen Fällen ging die Publikation des Werks auf Emmi Lewalds Initiative zurück: Sie entwarf ein Konzept und fertigte ein Manuskript an, sandte einen Vorschlag an August Schwartz und wartete auf dessen Einwilligung. Eine Ausnahme bildet die den Vertragsabschluss des Cantors von Orlamünde begleitende Korrespondenz, die Emmi Lewalds Eltern Marie und Günther Jansen für ihre zu diesem Zeitpunkt 22-jährige und unverheiratete Tochter führten. Vermut­lich lag die Beaufsichtigung der zweiten Publikation seiner Tochter dem oldenburgischen Staatsminister Günther Jansen besonders am Herzen, nachdem diese ein Jahr zuvor mit ihrer pseudonym und eigenmächtig veröffent­lichten Militärhumoreske Unsre lieben Lieutenants in Oldenburg die politische Position ihres Vaters und den Ruf ihrer Familie stark gefährdet hatte. Im Fall

30 Vgl. ebd., S. 133. 31 Es handelt sich um den Titel Spaziergänge in Süd-Italien von Ludwig Salomon, der in der Schulzeschen Hofbuchhandlung 1895 publiziert wurde. Vgl. ebd., S. 135 f. 32 Das Autorenarchiv der Schulzeschen Hofbuchhandlung befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Landesbibliothek Oldenburg. Bei den Unterlagen des Autorenarchivs befindet sich ein Findbuch zu der Korrespondenz zwischen Emmi Lewald und dem Verlag, das im Rahmen der vorliegenden Studie von der Verfasserin angefertigt wurde. Die im Quellenverweis angegebenen Nummern beziehen sich auf die fortlaufende Nummerierung der Quellen im bisher nicht publizierten Findbuch.

Emmi Lewald und die Verlage

des Cantors hatten die Jansens dann 1889 vor der Druckfreigabe das Buchmanuskript in Absprache mit August Schwartz einer sorgfältigen Prüfung unterzogen.33 Am 21. Juni 1890 erfolgte eine persön­liche Anfrage Emmi Lewalds, ob die S ­ chulzesche Hofbuchhandlung bereit sei, „eine kleine Anzahl von Skizzen und Humoresken“34 heraus­zugeben, was August Schwartz jedoch ablehnte. Zu einer erneuten Zusammenarbeit, bei der die Autorin als selbstständige Geschäftspartnerin auftrat, kam es erst 1894 anläss­lich der Publikation des Bands Gedichte. Anhand der erhaltenen Briefe lässt sich der Weg des Werks vom Manuskript zum Buch verfolgen, und besieht man die spätere Entstehung der Italienische[n] Landschaftsbilder und von Gedichte, Neue Folge, war dies wohl in der Geschäftsbeziehung zwischen Emmi Lewald und der S ­ chulzeschen Hofbuchhandlung der üb­liche Weg: Nach der Reinschrift sandte die Autorin das Manuskript an den Verlag und wartete auf die zu korrigierenden Druckfahnen. Dieser Zeitraum wurde begleitet von einem regen Briefwechsel mit August Schwartz, in dessen Rahmen inhalt­liche, stilistische und organisatorische Fragen diskutiert wurden. War ein Drucktermin festgesetzt, kümmerte sie sich auf sehr diplomatische und höf­ liche, aber bestimmte Weise um die Freigabe von bereits in Zeitschriften erschienenen Texten, legte den inhalt­lichen Aufbau des Buchs fest und nahm Einfluss auf die Gestaltung von Schrift, Umschlag und Widmungen. Trotz Lewalds sehr bestimmtem Auftreten fällt an einigen Stellen ein demütiges Verhalten gegenüber Schwartz auf, das als Reaktion auf die weitreichende Abhängigkeit der Autorin vom Geschmack des erfahrenen Verlegers und Ausdruck ihrer Orientierung am Publikumserfolg gedeutet werden kann. In den Vorbereitungen zu dem Gedichtband 1894 billigte sie ihm großen Einfluss auf Inhalt, Gestaltung und Anordnung der Texte zu: Sie können streichen, was Sie für entbehr­lich halten und sollten es nicht genug sein, so kann ich immer noch andere [Anm. Gedichte] schicken. Einige lege ich gleich noch für etwaige Füllung dabei, oder falls Sie welche, die Ihnen weniger gefallen, dafür umtauschen wollen. – Wenn Sie noch hie und da feilen und verbessern könnten, so wäre das gewiß sehr gut.35

Emmi Lewalds Orientierung an dem berufserfahrenen Verleger und Geschäftsmann Schwartz erscheint aus heutiger Perspektive als Ausdruck ihrer beruf­lichen Unerfahrenheit, insbesondere, wenn sie dessen Entscheidungsgewalt über die Gestaltung der Schriftart und des Drucksatzes ausdrück­lich um die inhalt­liche Gestaltung ihres Werks erweiterte und ihm Einfluss in schriftstellerisch-künstlerischen Fragen gestattete. Nach der Überarbeitung des Gedichtmanuskripts schrieb sie an Schwartz: „Für Ihre wertvollen Änderungen bin ich Ihnen sehr dankbar, was unreine Reime betrifft,

33 Vgl. Marie Jansen an August Schwartz auf der Rückseite des Vertragsentwurfs o. D. 1889 (Nr. 1). 34 Emmi Jansen an August Schwartz am 21.6.1890 (Nr. 3). 35 Emmi Jansen an August Schwartz am 1.5.1894 (Nr. 7).

161

162

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

haben andere meist ein bessres Ohr als ich, was wol mit meiner exemplarisch unmusikalischen Veranlagung zusammenhängen mag.“36 Insgesamt orientierte sich Emmi Lewald bei ihren Veröffent­lichungen sehr am Geschmack des Publikums und hatte stets Verkaufszahlen, Neuauflagen und ihren Verdienst als Schriftstellerin im Blick. 1897 kam ein neuer Vertrag mit der S ­ chulzeschen Hofbuchhandlung zustande, da Emmi Lewald eine Reihe in den Jahren 1895/96 in Italien entstandener Reiseskizzen veröffent­lichen wollte. Da sämt­liche Skizzen zuvor in den Feuilletons der Bremer „Weser-Zeitung“, der „Nationalzeitung“ und der Frauenzeitung „Bazar“ erschienen waren, verhandelten Schwartz und Emmi Lewald gemeinsam mit den Zeitungen über die Freigabe der Texte für die Buchausgabe. Dass die Autorin bereits 1890 die Zustimmung ihres Verlegers eingeholt hatte, bereits gedruckte Gedichte aus dem Cantor von Orlamünde in der Zeitschrift „Zur guten Stunde“ noch einmal veröffent­lichen zu dürfen, deutet darauf hin, dass sie das Vorab- und Nachdruckverfahren und die damit verbundenen Verdienstmög­lichkeiten von Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn an nutzte. Emmi Lewald vertrat gegenüber Schwartz mit ständiger Aufmerksamkeit und persön­lichem Engagement ihre Interessen als Schriftstellerin. Im Jahr 1897 machte sie den Verleger darauf aufmerksam, dass die Buchhandlung ‚Asher‘ Unter den Linden in Berlin noch nicht mit Exemplaren ihrer Italienische[n] Landschaftsbilder versorgt worden war, weswegen ein Bekannter das Werk dort nicht hatte erwerben können.37 Kurz zuvor hatte sie von Schwartz die Redaktionsexemplare von Italienische Landschaftsbilder erbeten, um diese zur Rezension mit einer persön­lichen Widmung an die Redaktionen der „Nationalzeitung“, „Über Land und Meer“ sowie an Julius R ­ odenbergs 38 „Deutsche Rundschau“ senden zu können. Anfang 1891 wurde ihr bekannt, dass im Raum Oldenburg Exemplare der Zeitschrift „Das kleine Buch für uns alle“ aufgetaucht waren und der Autor eines darin enthaltenen „kolportierten Kriminal-Romans“ ein identisches Pseudonym (Emil Roland) benutzte. Um ihren Ruf und die Verbreitung ihrer Werke zu schützen, verfasste Emmi Lewald umgehend ein Inserat zum Abdruck in der „Oldenburger Zeitung“, in welchem sie ihr Publikum auf den „Doppelgänger“ aufmerksam machte.39 Dort heißt es: Seitens der Verlagshandlung des Cantors von Orlamünde von Emil Roland werden wir gebeten, mitzuteilen, daß der Verfasser eines hier kolportierten Kriminal=Romans Anna, der sich ebenfalls Emil Roland nennt, (erschienen im „Kleinen Buch für uns Alle“ – Verlag von R. H. Dietrich in Dresden) nicht identisch ist mit dem Verfasser des Cantors von Orlamünde.40 36 Emmi Jansen an August Schwartz am 28.9.1894 (Nr. 9). 37 Emmi Lewald an August Schwartz am 27.11.1897 (Nr. 28). 38 Emmi Lewald an August Schwartz am 14. 11.1897 (Nr. 27). 39 Emmi Jansen an August Schwartz am 15.2.1891 (Nr. 6). 40 Vgl. Oldenburger Zeitung 76 (1891), Nr. 38.

Emmi Lewald und die Verlage

Auch auf ein mög­lichst gutes Autorenhonorar achtete Emmi Lewald. Als August Schwartz ihr für die 1.000 Exemplare der Erstauflage der Italienischen Landschaftsbilder ein Honorar von 300 Mark anbot, machte sie ihn einige Tage später darauf aufmerksam, dass sie bei Fontane & Co. in Berlin für die gleiche Auflagenstärke ein besseres Angebot bekommen habe – woraufhin Schwartz in seinem nächsten Brief auf 350 Mark erhöhte.41 Lewalds Brief mit der Bitte um die Erhöhung des Honorars ist gleichermaßen von Geschäftssinn wie von umständ­lichen Höf­lichkeitsfloskeln geprägt – mög­licherweise ein Ausdruck des Lernprozesses, den Emmi Lewald durch wachsende Vertrautheit mit den Regeln und Bedingungen des Literaturgeschäfts durchlief: Nun möchte ich nur noch in Bezug auf Ihren vorletzten Brief fragen, ob sie mir nicht vielleicht, falls das Buch „geht“ und vielleicht mal eine Neuauflage nöthig wird, doch ein höheres Honorar in Aussicht stellen wollen. Dreihundert Mark für eine Auflage von 1000 Exemplaren ist weniger als ich für dieselbe Anzahl bei Fontanes erziehle und wenn ich mich ja auch bereits einverstanden erklärte, so möchte ich diesen Umstand doch noch gerne erwähnt haben und Ihrem Ermessen anheim stellen, ob Sie meinen Wunsch nicht billig finden? Mir liegt es gewiß fern, „Handeln“ zu wollen, weshalb ich ja auch gleich auf Ihren Vorschlag eingegangen bin; aber bei näherer Überlegung scheint es mir doch berechtigt, noch einmal auf diesen Punkt zurückzukommen, wenn ich das auch vielleicht eher hätte tun sollen.42

Die Umständ­lichkeit des Ausdrucks und die defensive Haltung der Briefschreiberin fehlen in den 1901 mit August Schwartz gewechselten Briefen anläss­lich der Vorbereitung des Bands Gedichte, Neue Folge, Emmi Lewalds letzter Veröffent­lichung bei der Schulzeschen Hofbuchhandlung. Die Haltung der Schriftstellerin hat an Deut­lichkeit gewonnen und die Zielstrebigkeit, mit der sie ihre Forderungen und Vorstellungen vorträgt, deutet auf ein gewachsenes Selbstbewusstsein hin: Ich sende Ihnen anbei das Manuscript für den bewußten Gedichtband, soweit er fertig ist. Sehr gerne würde ich an einigen Versen noch etwas feilen, und da der Druck doch wol erst im Monat Juli beginnt, dürfte ich mir vorher das Manuskript wol noch einmal zurück erbitten? vier od. 5 Gedichte würde ich auch gerne noch hinzufügen, sodaß es dann vielleicht im

41 Vgl. Emmi Lewald an August Schwartz am 12.7.1897 und den Antwortbrief von Schwartz an die Autorin aus Oldenburg am 14.7.1897. Als Vergleich für die Höhe des Honorars können die Einkommen verschiedener Berufsgruppen zu dieser Zeit dienen. Um 1900 hatte ein Minister in Oldenburg ein jähr­liches Nettoeinkommen von bis zu 11.500 Mark, kleine Handwerker verdienten 750 – 1.250 Mark, Arbeiter ca. 500 Mark und Arbeiterinnen ledig­lich 300 Mark. Vgl. Harald Schieckel: Zur Sozialstruktur der Stadt Oldenburg um 1900. In: Oldenburg um 1900. Beiträge zur wirtschaft­lichen, sozialen und kulturellen Situation des Herzogtums Oldenburg im Übergang zum industriellen Zeitalter. Hg. von der Handwerkskammer Oldenburg 1975, S. 207 ff. 42 Unterstreichung folgt dem Original. Emmi Lewald an August Schwartz am 12. 7.1897 (Nr. 17).

163

164

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Ganzen 65 Gedichte sein würden. Ich hätte den Druck sehr gern diesmal mit größeren Lettern, mit den meist üb­lichen, was wol keine Schwierigkeit macht. Meines Erachtens muß das Bändchen etwa 100 Seiten geben, da der größere Teil der Gedichte wol zwei Seiten erfordert.43

In einem der folgenden Briefe vom 16. April 1901 drängt Lewald Schwartz sogar zur Eile: „Mir wäre es sehr lieb, wenn dann der Druck bald beginnen könnte, damit ich die Korrekturen nicht zu eilig zu erledigen bräuchte.“44 Offensicht­lich fühlte sich die Schriftstellerin durch die Erfahrung, sich auf dem Literaturmarkt und in der Metro­ pole Berlin behaupten zu können, immer sicherer im geschäft­lichen Umgang mit dem Verleger Schwartz. Sie entwickelte ein Gespür für die ihr offen stehenden Mög­ lichkeiten bei der Mitgestaltung einer Publikation und vertrat, sicher in Kenntnis gängiger Autorenhonorare, nachdrück­lich ihre finanziellen Forderungen. Emmi Lewalds Zusammenarbeit mit dem Verleger August Schwartz verlief produktiv und, soweit die Quellen erkennen lassen, ohne nennenswerte Spannungen. Da August Schwartz für sämt­liche Publikationen der Schriftstellerin die Verantwortung übernahm und diese persön­lich betreute, selbst nachdem sein Sohn Rudolf Schwartz 1893 die Firma übernommen hatte, verkörpert er in seiner Arbeitsweise noch den Typus des traditionellen Verlegers. Der Briefwechsel mit Emmi Lewald zeugt von einer respektvollen, freund­lichen und recht persön­lichen Geschäftsbeziehung, die sich zunächst auf Schwartz’ persön­liche Bekanntschaft mit Emmi Lewalds Vater Günther Jansen in Oldenburg zurückführen lässt. Die Schriftstellerin lässt außerdem in einigen Briefen Grüße an die ihr bekannte Frau des Verlegers ergehen; einmal erhält sie anläss­lich der Vorbereitung der Italienische[n] Landschaftsbilder von diesem ein wahrschein­lich selbst verfasstes Rom-Gedicht.45 Eine sehr persön­liche Betreuung durch August Schwartz würde auch das Ende der Geschäftsbeziehung zur Schulzeschen Hofbuchhandlung nach der Veröffent­lichung des Gedichtbandes 1901 erklären, da der Verleger am 23. Mai 1904 starb. Der in Norden und Norderney 46 ansässige Hermann Braams Verlag, bei dem Emmi Lewald ledig­lich eine schmale Novelle publizierte, ist als kleiner Nischenverlag mit starkem regionalem Bezug zu charakterisieren. Hermann Braams führte in Norden eine Buchhandlung und entschloss sich 1874 zur Eröffnung einer Filiale der Buchhandlung mit angegliederter Buchdruckerei auf Norderney, welches zu dieser Zeit bereits als 43 Unterstreichung folgt dem Original. Emmi Lewald an August Schwartz am 25.3.1901 (Nr. 36). 44 Emmi Lewald an August Schwartz am 16. 4.1901 (Nr. 38). 45 Emmi Lewald an August Schwartz am 28.7.1897 (Nr. 21). August Schwartz’ Talent für Gelegenheitsgedichte war in Oldenburg bekannt. Vgl. Sieler: 200 Jahre Bücher am Schloßplatz, S. 94. 46 In den 1960er und 1970er Jahren existierte in Norden eine Buchhandlung mit dem Namen „Hermann Braams – Fokko Hasbargen“ in der Osterstraße, welche auch als Braams-Verlag auftrat. Daher ist es mög­lich, dass das Verlagsgeschäft nicht vollständig erlosch, sondern weitergegeben wurde und alte Verlagsunterlagen noch in einem Archiv lagern.

Emmi Lewald und die Verlage

florierendes Seebad der gehobenen Gesellschaft bekannt war.47 In Braams „Lesehalle am Strande“ lagen „über 100 der bedeutendsten Zeitungen und Zeitschriften des Inund Auslandes“ aus, zugleich führte er in dem Gebäude Damenpfad 34 die König­liche Strandbibliothek mit über 12.000 Bänden.48 Zwischen 1874 und 1915 erschienen im Braams Verlag kulturgeschicht­liche und geographische Abhandlungen und Broschüren zum ostfriesischen Raum sowie Ansichten der Nordseeinsel Norderney und des Badelebens. Sein Angebot umfasste ein „großes Lager in Unterhaltungslektüre, Reiseführern, Wörterbüchern, Jugendschriften, Bilderbüchern“.49 Unter den Publikationen befinden sich auch Karten, Fluttabellen und die „Fremdenliste für das König­liche Seebad Norderney“, eine während der Badesaison mehrmals wöchent­lich erscheinende Zeitung mit der amt­lichen Liste der eingetroffenen Badegäste und Fremden, mit Bekanntmachungen und Werbung. Die Druckerei auf Norderney warb beim Publikum für ihre „schnelle und saubere Anfertigung von Drucksachen aller Art: Besuchskarten, Speisekarten, Konzert-Programmen, Plakaten, Briefumschlägen, Briefbogen, etc.“50 Im Braams Verlag erschien 1892 Emmi Lewalds Novelle Auf diskretem Wege, die Geschichte einer Heiratsvermittlung, deren Handlung auf der Nordseeinsel Norderney angesiedelt ist. Offensicht­lich hat sich die Autorin mit Blick auf die thematische Ausrichtung des Verlagsprogramms mit ihrer kleinen, als „Badenovelle“ bezeichneten Erzählung an den Spezialverlag gewandt. Ebenso wie im Fall von Emmi Lewalds Publikation der Novellensammlung Ernstes und Heiteres (1891) im Friedrich Mauke Verlag in Jena blieb es auch bei der Herausgabe des Bands Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen (1894) durch den Berliner Verlag von Alexander Duncker  51 bei einer einmaligen Zusammenarbeit. Alexander Duncker (1813 – 1897) war der Sohn des Berliner Verlegers Karl Friedrich Duncker in dessen renommiertem Verlag Duncker & Humblot er seine Ausbildung 1829 begann. Nach weiterführender Ausbildung bei Perthes & Besser in Hamburg gründete ­Duncker 1837 in Berlin seinen eigenen Verlag, dessen Publikationsspektrum vorwiegend die Bereiche Kunst und schöne Literatur umfasste.52 Alexander Duncker pflegte brief­ liche Kontakte zu den preußischen Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. zu 47 Noch vor 1914 wurde die Druckerei auf Norderney von Otto Freund übernommen, während Braams nur die Buchhandlung in Norden weiterführte. Freund­liche Mitteilung an die Verfasserin von Herrn Bötje, Stadtarchiv Norderney. 48 Ebd. 49 Das Verlagsprogramm von Hermann Braams umfasste außerdem das Adressbuch für die Inselgemeinde Norderney, König­liches Nordseebad (Norderney 1905). 50 Ebd. 51 Der in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrte Splitternachlass Alexander Dunckers enthält keine Dokumente über die Zusammenarbeit des Verlegers mit der Autorin Emmi Lewald. 52 Vgl. zu Alexander Duncker Karl Friedrich Pfau: Alexander Duncker. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 48. Leipzig 1904, S. 168 f.

165

166

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

politischen Themen und es wurde seiner Firma von den Regenten 1841 die Erlaubnis erteilt, den Titel einer König­lichen Hofbuchhandlung zu führen. Aus heutiger Sicht gehören zu den markantesten Werken des Duncker-Verlags die Publikationen des noch unbekannten Theodor Storm, der in diesem Verlag erstmals zu einiger Bekanntheit gelangte.53 Des Weiteren realisierte Duncker die Herausgabe der „Politischen Correspondenz Friedrichs des Großen“, eines Großprojekts, welches bei seinem Tod 1897 bereits 24 Bände umfasste und erst 1939 mit insgesamt 46 Bänden abgeschlossen wurde. Als Hauptwerk des Verlages gilt eine Grafiksammlung preußischer Schlösser, welche insgesamt 960 lithografische Ansichten umfasste und zwischen 1857 und 1883 erschien. Alexander Duncker betätigte sich neben seiner Verlegertätigkeit selbst als Schriftsteller und veröffent­lichte bis zu seinem Tod Dramen, Gedichte und Novellen. Neben dem Oldenburger August Schwartz kam es auch mit dem Berliner Verleger Friedrich Fontane zu einer längeren Zusammenarbeit.54 Bereits 1896 hatte Emmi Lewald im Verlag von Friedrich Fontane & Co. ihren ersten Roman Sein Ich veröffent­licht. Es folgten die Novellenbände ihrer Berliner Etablierungsphase Kinder der Zeit (1897), In blauer Ferne (1898) und Gefühlsklippen (1900). In der Hauptphase ihrer Schriftstellerlaufbahn arbeitete Emmi Lewald erneut mit Fontanes Verlag zusammen und publizierte dort Das Schicksalsbuch und andere Novellen (1904) und den Roman Das Hausbrot des Lebens (1907). Friedrich Fontane (1864 – 1941) hatte seinen Verlag in Berlin am 1. Oktober 1888 unter dem Namen Friedrich Fontane & Co. mit dem Geldgeber Louis Levy-Fengler gegründet. Bereits 1891 trat an die Stelle Levy-Fenglers Egon Fleischel und 1893 schließ­lich Friedrich Theodor Cohn. Trotz anfäng­licher Zweifel Theodor Fontanes an den buchhändlerischen Fähigkeiten seines Sohnes und seiner ablehnenden Haltung in Bezug auf die Publikation seiner eigenen Werke in dem Verlag, erzielte Friedrich Fontane schon bald beacht­liche Erfolge. Bereits am 28. Januar 1890 sicherte der Schriftsteller seinem Sohn die Veröffent­lichung von Stine zu, sodass dieser in den folgenden Jahren bei der Vermarktung seiner Bücher gezielt mit der Werbewirksamkeit des väter­ lichen Namens arbeiten und sich erfolgreich um die Herausgabe des Erzählwerks Fontanes bemühen konnte.55 Die in der Lützowstraße 84b ansässige Firma Fontanes 53 Theodor Storm publizierte im Verlag von Alexander Duncker 1851 Sommergeschichten und Lieder, 1852 Immensee, 1854 Im Sonnenschein, Drei Sommergeschichten und 1857 Hinzelmeier, Eine nachdenk­ liche Geschichte. 54 Der Großteil des Verlagsarchivs von Fontane & Co. gilt als verschollen, während die Bestände des Archivs, die sich auf Theodor Fontane beziehen, von Friedrich Fontane dem Theodor-FontaneArchiv in Postdam übergeben wurden. Zu Emmi Lewald waren keine Funde in den Beständen zu ermitteln, auch nicht unter ihrem Mädchennamen oder ihrem Pseudonym. Freund­liche Mitteilungen von Klaus-Peter Möller (Theodor-Fontane-Archiv, Potsdam) an die Verfasserin am 11.6.2007 und am 18.6.2007. 55 Friedrich Fontane verlegte von den Werken seines Vaters Stine (1890), Gesammelte Romane und Novellen. Zwölf Bände (Bde. 10 – 12 bei Fontane 1890/91), Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum

Emmi Lewald und die Verlage

hatte sich um die Jahrhundertwende zu einem recht bedeutenden Verlag im neuen Literaturzentrum Berlin entwickelt, nicht zuletzt, weil es Fontane gelang, Verträge mit wichtigen zeitgenössischen Autoren zu schließen. Neben Helene Böhlau, Ida BoyEd, Cäsar Flaischlen, Ludwig Fulda, Georg Hermann, Arno Holz, Johannes Schlaf, Georg von Ompteda gehörten Ludwig Pietsch, Wilhelm von Polenz, Clara Viebig und Ernst von Wolzogen zu den Verlagsautoren.56 Auch Theodor Fontane bemerkt in einem Brief 1895 an seinen Sohn Theodor anerkennend über die Hinwendung Friedrichs zur Gegenwartsliteratur: Auf dem Gebiet der Belletristik ist er, nach meiner Kenntnis, Nummer-1-Verleger geworden. Selbst die großen reichen Firmen stehen literarisch weit zurück und begnügen sich mit den Erträgen, die sie aus Freytag, Ebers, Dahn, Heyse ziehn. Jeder einzelne hat einen. Friedel hat nicht bloß den hannöverschen Konditorsohn Tovote (allerdings die Hauptgeldnummer), sondern auch Rudolf Lindau, Wolzogen, Ompteda, Polenz, die, neben den jüngeren, jetzt so ziem­lich als die besten gelten und es wohl auch sind…57

Neben dem Hauptbestand an Romanen und Erzählungen umfasste das Verlagsprogramm auch Sachbücher und Broschüren zur Tagespolitik. Zum Renommee von Friedrich Fontanes Verlag im literarischen Feld der Jahrhundertwende trug vor allem seine Verknüpfung mit namhaften Literaturzeitschriften bei, mit der von Karl Emil Franzos herausgegebenen „Deutschen Dichtung“, dem modernen „Pan“ und der verbreiteten Halbmonatsschrift „Das literarische Echo“, die von Josef Ettlinger herausgegeben wurde.58 Wie der Samuel Fischer Verlag verkörperte Fontane den Typ des rein literarischen Verlages, der durch die „Qualität seiner Publikationen für eine kurze Zeit den literarischen Markt“ dominieren konnte.59 Der Aufstieg Friedrich Fontanes zum respektablen Verleger und die Erfolge seiner Firma stehen im Gegensatz zu dem ab 1900 einsetzendem langsamen Niedergang von Fontane & Co. Nachdem die Rechte an einzelnen Werken nach und nach u. a. an Samuel Fischer verkauft wurden, worunter die Einheit­lichkeit des Verlagsprogramms litt, kennzeichnete die Löschung des Firmennamens aus dem Firmenregister 1928 nur noch das formale Ende des Verlags. Herzen find’t“ (1893), Meine Kinderjahre, Autobiographischer Roman (1894), Vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten (1894), Effi Briest. Roman (1895), Die Poggenpuhls. Roman (1896), Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches (1898), Der Stechlin. Roman (1899). Vgl. Roland Berbig: Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Unter Mitarb. von Bettina Hartz. Berlin 2000, S. 374. 56 Cäsar Flaischlen, Clara Viebig und Georg von Ompteda folgten 1903 Egon Fleischel, der Clara Viebig heiratete und einen eigenen Verlag gründete. Vgl. ebd., S. 375 und 377 f. 57 Fontane an seinen Sohn Theo am 6.4.1895. Zitiert nach Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 224. 58 Berbig: Fontane im literarischen Leben, S. 377. 59 Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 224.

167

168

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Nach 1900 trat Emmi Lewald in Kontakt mit dem Verleger Gustav Müller-Mann (1862 – 1910), der 1899 in Leipzig eine Verlagsbuchhandlung gegründet hatte. In der Verlagsreihe Ecksteins Miniaturbibliothek erschienen ihre Novelle Mut zum Glück (1901) als 66. Band und eine Neuauflage von Unsre lieben Lieutenants 1902 als 72. Band.60 In dieser Zeit begann Emmi Lewald, ihre Publikationsgewohnheiten zu ändern und brachte ihre Werke immer öfter bei großen Verlagsunternehmen unter, die sich auf die massenhafte Produktion und Distribution von Literatur spezialisiert hatten. Die Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart und Berlin 61 publizierte Emmi Lewalds Romane Sylvia (1904), Die Heiratsfrage. Der unverstandene Mann, ein spätes Mädchen, der Salonphilosoph und andere Typen der Gesellschaft (1906) und Der Lebensretter (1907). Die Firma wurde von Eduard Hallberger am 1. September 1848 als Verlag Hallberger errichtet und verlegte zunächst Jugendzeitschriften und Schöne Literatur. Wenige Jahre nach der Gründung wurde das Sortiment um geschicht­liche, politische und biografische Werke erweitert, den Schwerpunkt des Verlags bildeten jedoch reich­lich illustrierte belletristische Werke und illustrierte Zeitschriften. Mit den Illustrationen, die seit den 1850er Jahren in einem verlagseigenen xylographischen Atelier entstanden, konnte der Verlag rasch auf den sich verändernden Publikumsgeschmack reagieren. Neben der Herausgabe von Prachtwerken und Übersetzungen ausländischer Autoren prägte die Zeitschriftenproduktion bereits früh das Gesicht des Verlages. 1853 erschien die erste Ausgabe der erfolgreichen Unterhaltungszeitschrift „Illustrierte Welt“ für mittlere Bildungsschichten,62 1858 die erste Nummer der Familienzeitschrift „Über Land und Meer“, welche als Kunst und Literatur vermittelndes Blatt ganz auf die höheren Gesellschaftsschichten zugeschnitten war (s. u.). An Emmi Lewalds Beispiel zeigt sich anschau­lich, wie die Deutsche Verlags-Anstalt über ihre Buch- und Zeitschriftenproduktion, aber auch mittels der Romanzeitung „Deutsche Roman-Bibliothek“ (s. u.) eine intensive Doppelvermarktung ihrer Autoren erzielte. Eduard Hallberger starb 1880 im Alter von 58 Jahren ohne einen männ­lichen Erben zu hinterlassen, weshalb der Hallberger Verlag auf seine eigene Empfehlung hin ab dem 1. Juli 1881 als Aktiengesellschaft unter der Firmenbezeichnung Deutsche Verlags-Anstalt unter der Leitung verschiedener Direktoren weitergeführt wurde. Zwischen 1911 und 1920 gewann für Emmi Lewalds Buchpublikationen auch der Georg–Stilke-Verlag (Berlin) an Bedeutung, der zunächst ihre Romane Der Magnetberg (1911), Die Rose vor der Tür (1912) und Die Wehrlosen (1912) sowie die Novellensammlung 60 Vgl. Emil Roland: Unsre lieben Lieutenants, Zeitgenössische Charakterstudien aus deutschen Salons. 11.–13. Tsd. Leipzig G. Müller-Mann 1902 (Ecksteins Miniaturbibliothek 72). 61 Das Verlagsarchiv wurde durch einen Bombenangriffs vernichtet, der in der Nacht vom 12. auf den 13. September 1944 das Verlagsgebäude der DVA zerstörte. Der Wiederaufbau des Druckereigebäudes erfolgte 1952, das Verlagsgebäude wurde 1958 eingeweiht. 62 Die „Illustrierte Welt“ erreichte innerhalb weniger Jahre die damals hohe Auflage von 100.000 Exemplaren. Vgl. Deutsche Verlags-Anstalt: 125 Jahre Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 1973, S. 1.

Emmi Lewald und die Verlage

Der wunde Punkt (1914) herausbrachte. Der Verlag überlebte die Zeit des Ersten Weltkrieges und publizierte in der Weimarer Republik Emmi Lewalds Sammlung von Kriegsnovellen In jenen Jahren… (1919) sowie den Roman Die Frau von gestern (1920). Nur jeweils ein Werk der Autorin erschien in dieser Zeit bei den Verlagen von A. Goldschmidt in Berlin (1914 der Roman Excelsior!) und von Hermann Hillger in Berlin, Eisenach und Leipzig (1917 ein Nachdruck der Novelle Die Erzieherin). Der 1894 gegründete Hillger-Verlag wurde für seine Nutzung der patriotischen Konjunktur während des Ersten Weltkrieges bekannt, als er gemeinsam mit der Firma von G. Stilke das Monopol unter den privatwirtschaft­lichen „Feldbuchhandlungen“ besaß.63 Neben den Armeebuchhandlungen hielten diese Einrichtungen in den Kriegsgebieten „ein nicht allzu qualitätvolles Buchangebot“ mit vaterländisch gesinntem Inhalt bereit.64 In der prekären Nachkriegszeit in der Weimarer Republik konnte Emmi Lewald ihre Romane Das Fräulein von Güldenfeld (1922) und Das Fräulein aus der Stadt (1929) im August Scherl Verlag (Berlin)65 unterbringen, der bereits während des Weltkrieges 1915 ihren Oldenburg-Roman Unter den Blutbuchen in Buchform veröffent­licht hatte. Sämt­liche Werke waren zuvor von dem Verlag in seiner 1904 übernommenen einschlägigen Unterhaltungszeitschrift „Die Gartenlaube“ abgedruckt worden. Deut­ licher noch als die Deutsche Verlags-Anstalt, welche Verlag, Druckerei und grafischen Betrieb unter einem Dach vereinte, ist der Verlag von August Scherl neben den ­Firmen Mosse und Ullstein ein Beispiel für die um die Jahrhundertwende einsetzende Konzernbildung unter den Buch- und Zeitschriftenverlagen. Scherl gründete zunächst einen Zeitungskonzern, erweiterte diesen im zweiten Schritt um die Zeitschriftenproduktion und schloss dann noch einen Buchverlag an. Vor 1900 gründete Scherl die erfolgreiche illustrierte Wochenzeitschrift „Die Woche“, deren Erfolg ihn vermut­lich zum Einstieg in das Zeitschriftengeschäft und 1904 zum Erwerb der von Ernst Keil gegründeten „Gartenlaube“ bewegte. Im letzten Jahrzehnt ihrer Publikationstätigkeit konnte Emmi Lewald den Roman Lethe (1924) bei der Max Seifert Verlagsbuchhandlung in Dresden und ihre späten Romane Heinrich von Gristede (1934) und Büro Wahn (1935) bei der Meyerschen Hofbuchhandlung in Detmold unterbringen. Während über den Verlag von Max Seifert, der 1924 den Nachkriegsroman Lethe herausgab, keine Informationen vorliegen, ist die Geschichte der traditionsreichen Meyerschen Hofbuchhandlung Detmold relativ gut dokumentiert. Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges am 12. Juni 1664 gründeten die Brüder Albert und Heinrich Meyer die Meyersche Druckanstalt in Lemgo, wo sie 63 Ein von Wittman ausgewertetes Adressverzeichnis von 1917 nennt 68 privatwirtschaft­liche Feldbuchhandlungen. Vgl. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 277. 64 Ebd. 65 August Scherl (1849 – 1921) begann seine Karriere in der Kolportagebuchhandlung seines Vaters und brachte seit 1883 den „Berliner Lokal-Anzeiger“ heraus, den er ausschließ­lich durch das Anzeigengeschäft finanzierte.

169

170

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Buchdruck, Verlag und Buchhandel unter einem Dach vereinten.66 Der Landesherr der damaligen Grafschaft Lippe förderte als Anhänger der Reformation die Verbreitung des neuen Gedankenguts und verlieh dem Verlag 1676 das Monopol auf sämt­liche in der Grafschaft gedruckten Bücher, Kalender und andere Schriften. Nachdem der letzte männ­liche Erbe der Familie Meyer 1754 starb, ging der Verlag an den Schwiegersohn der Familie, den jungen Gymnasialrektor Christian Friedrich Helwing über, ein „idealer Verleger, der aus der Gelehrtenwelt Deutschlands kluge Köpfe heranzog und in seinem Verlagsprogramm alle Gebiete mensch­lichen Forschens und Wirkens berücksichtigte.“67 Wegen des großen Erfolges der bald deutschlandweit bekannten Verlagsbuchhandlung wurde eine Filiale in der Landeshauptstadt Detmold eingerichtet, welche 1842 zum Hauptsitz der Firma ausgebaut wurde. Wenig später, nach dem Tod Clemens Helwings im Krieg 1870, wurden die Sortimentsbuchhandlung und die Hofbuchdruckerei von der Meyerschen Hofbuchhandlung abgespalten und verkauft, da sich der neue Eigentümer Wilhelm Klingenberg auf den Ausbau einer lithografischen Anstalt konzentrieren wollte. Im Jahr 1913 kaufte der Chefredakteur der Lippischen Landes-Zeitung Staercke die Meyersche Hofbuchhandlung und förderte in dem Verlag vor allem lippische Heimatliteratur und Mundart, etwa mit der Herausgabe des seit 1676 bestehenden „Lippischen Kalenders“. Nach dem radikalen Einschnitt des Natio­nalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges baute Hofrat Staerke die Meyersche Hofbuchhandlung wieder auf, die heute von Max Staerke geleitet wird.68 Als Ergebnis des Überblicks über Emmi Lewalds Zusammenarbeit mit Buchverlagen ergibt sich ein relativ homogenes bürger­liches Verlagsspektrum, das die Bandbreite vom kleinen Nischenverlag und Regionalverlag bis zum kommerziellen Verlagskonzern umfasst. Der Blick auf die in den Verlagen publizierten Werke weist auf bürger­ liche Themenkreise sowie politisch auf national-liberale und national-konservative bis monarchistische Überzeugungen hin. In den Verlagen dominierten die herrschende Kunst- und Literaturauffassung des bürger­lichen Lagers und selbst, wenn in der namhaften Literaturzeitschrift „Pan“ des Verlags Fontane & Co. eine modernere Literaturauffassung vertreten wird, besetzte keiner der Verlage eine Position außerhalb des etablierten Literatursystems. Als junge unbekannte Autorin publizierte Emmi Lewald ihre ersten Werke zunächst bei kleineren Nischenverlagen wie Rauert & Rocco und dem „Inselverlag“ Braams sowie bei der regionalen Schulzeschen Hofbuchhandlung, wo ihr in Oldenburg angesehener 66 Vgl. zur Geschichte der Meyerschen Hofbuchhandlung A. Ebert: 300 Jahre Meyersche Hofbuchhandlung. In: Heimatland Lippe 57 (1964), S. 110 f. 67 Ebd., S. 110. 68 Eine Firmenchronik oder ein Überblick über die Firmengeschichte der heute in eine Sortimentsbuchhandlung und einen Verlag aufgeteilten Meyerschen Hofbuchhandlung konnte zum Zeitpunkt der Recherche nicht ermittelt werden. Das Firmenarchiv wurde während des Zweiten Weltkriegs vernichtet.

Emmi Lewald und die Verlage

Vater, der Staatsminister Günther Jansen, bereits als Autor unter Vertrag stand. Ab 1896 war Emmi Lewald Autorin des um 1900 in Berlin sehr erfolgreichen belletristischen Verlags von Friedrich Fontane, zu dem sie mit großer Wahrschein­lichkeit seit dessen buchhändlerischer Ausbildung in Oldenburg in Kontakt gestanden hatte. Parallel zu der prestigeträchtigen Arbeitsbeziehung zu Fontane & Co., die bis 1908 dauerte, publizierte Emmi Lewald auch Werke in der kostengünstigen belletristischen Reihe „Ecksteins Miniaturbibliothek“ des Müller-Mann Verlags. Auf eine Ausrichtung der Autorin auf Publikationsorte, die einen mög­lichst guten finanziellen Gewinn versprachen, weist zudem ihre Zusammenarbeit mit den neu entstandenen Verlagskonzernen hin, die nach 1900 das Bild des Literaturmarkts zu prägen begannen. Sowohl bei der Deutschen Verlags-Anstalt (Berlin) mit ihrer Zeitschrift „Über Land und Meer“ als auch beim Scherl Verlag (Berlin), der seit 1904 „Die Gartenlaube“ besaß, ließ sie mehrere Novellen und Romane verlegen. Abschließend sei noch erwähnt, dass viele der Buchverlage, in denen Emmi Lewald ihre Werke veröffent­lichte, die Werke von anderen Schriftstellerinnen ihrer Generation in großem Stil verlegten.69 Obwohl als Quellenbasis für Emmi Lewalds Arbeitsbeziehungen hauptsäch­lich ihr ausführ­licher Briefwechsel mit dem Oldenburger Verleger August Schwartz heran­gezogen werden konnte, lassen sich neben der allgemeinen Erkenntnis, dass sie ihre familiären und gesellschaft­lichen Beziehungen zur Erschließung neuer Publi­ kationsorte nutzte, einige Aussagen über ihre Arbeitsweise und Arbeitsstrategien machen. Die Autorin vertrat ihre schriftstellerischen Interessen im Gestaltungs- und Herstellungsprozess der Werke bei der Schulzeschen Hofbuchhandlung, indem sie mit dem Verleger in dieser Phase in regem Briefkontakt stand. Mit ebensolcher Initia­ tive vertrat sie ihre geschäft­lichen Interessen: Einmal setzte sie gegenüber Schwartz eine Honorarerhöhung durch, einmal organisierte sie die Belieferung einer Buchhandlung mit ihrem neuen Werk, einmal die Versendung von Rezensionsexemplaren, einmal erwirkte sie die öffent­liche Distanzierung von einem Kolportageroman, dessen Verfasser dasselbe Pseudonym wie sie gebrauchte. Obwohl Emmi Lewalds frühe Geschäftsbeziehung zur Schulzeschen Hofbuchhandlung nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden darf, ergibt sich hier das Bild einer aufmerksamen, rege engagierten jungen Schriftstellerin, die mit Geschäftssinn und wachsendem Selbstbewusstsein ihre Berufsinteressen vertrat. 69 Vgl. in diesem Zusammenhang die Werkverzeichnisse der in Budke und Schulzes Lexikon aufgeführten Autorinnen: Grethe Auer (Deutsche Verlags-Anstalt), Clara Blüthgen (Hillger, MüllerMann), Marie Diers (Engelhorn, M. Seyfert), Liesbet Dill (Hillger, Deutsche Verlags-Anstalt, M. Seyfert), Dora Duncker (A. Duncker, Fontane & Co., Müller-Mann, Hillger), Gertrud FrankeSchievelbein (Fontane & Co., Hillger), Marie Gebrandt (Deutsche Verlags-Anstalt, Hillger), Ada von Gersdorff (A. Goldschmidt, Hillger, Engelhorn, Deutsche Verlags-Anstalt), Agnes Harder (Velhagen & Klasing, Deutsche Verlags-Anstalt, M. Seyfert) u. a. Petra Budke / Jutta Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk. Berlin 1995.

171

172

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

3.1.3 Emmi Lewald und die periodische Presse 3.1.3.1 Zeitschriften und Zeitungen als Publikationsort In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Familien- und Unterhaltungszeitschriften, die mit Illustrationen, Sachbeiträgen und Erzähltexten vor allem die Unterhaltung des Lesepublikums anstrebten, stetig zu. Zu den Unterhaltungszeitschriften des bürger­lichen Spektrums gehörten Organe wie „Die Gartenlaube“, „Westermanns Illustrierte Monatshefte“, „Daheim“, „Über Land und Meer“ „Velhagen und Klasings Monatshefte“. Es waren Blätter, welche die Prämisse der Unterhaltung verfolgten, sich daher nicht mehr nach ihrer Zielsetzung, sondern nach zweitrangigen thematischen Schwerpunkten (Haushalt, Mode, Satire/Witz, Roman) sowie dem Adressatenkreis (Familie, Frauen, Kinder, Männer, Leser mit konfessioneller Bindung) unterscheiden lassen.70 Als innovativ gilt heute in der Forschung, dass die Unterhaltungsprämisse nunmehr ein ganzes Medium bestimmte, was symptomatisch für ein neues gesellschaft­liches Bedürfnis nach Unterhaltung in Verbindung mit dem Lesen war. Struktur und Entwicklung der Familienzeitschriften wurden von zwei sozialen Faktoren bestimmt: Während „Familie“ anfangs ein unabdingbarer Bezugsrahmen war, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch als konstitutives und integratives Moment zweitrangig bzw. danach sogar obsolet wurde, entwickelte „Unterhaltung“ am Beginn der modernen Massengesellschaft eine Eigenwertigkeit, die sie in den achtziger Jahren aus der Einbindung in die Bildungs- und Belehrungskonzepte löste.71

Da alle Komponenten der Unterhaltungszeitschrift dem Primat der Unterhaltung unterworfen waren, bezog sich die Nachfrage nach Literatur nicht auf bestimmte Gattungen oder einen festgeschriebenen literarischen Anspruch, sondern orientierte sich vielmehr an den Einstellungen und Bedürfnissen der Leserschaft. Graf stellt fest, dass belle­ tristische Texte ein äußerst wichtiges Profilierungsmerkmal der Familienzeitschriften darstellten und beinahe die gesamte Erzählliteratur der Epoche auch oder ausschließ­ lich über das Medium der Unterhaltungs- und Tageszeitungen an das Lesepublikum gelangte. Der steigende Bedarf an Erzählliteratur stellte eine einmalige Chance für zeitgenössische Autorinnen und Autoren verschiedenen litera­rischen Rangs dar, von ihrer schriftstellerischen Arbeit leben zu können. Daher nutzten Unterhaltungsschriftsteller wie Eugenie Marlitt, Karl May und Friedrich Gerstäcker die Einnahmequelle der periodischen Presse ebenso wie Theodor Fontane, Marie von Ebner-Eschenbach, Ricarda Huch und Wilhelm Raabe. Zwischen 1909 und 1926 erschienen beispielsweise

70 Vgl. Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 409. 71 Ebd., S. 424.

Emmi Lewald und die Verlage

allein 19 Romane der Erfolgsautorin Hedwig Courths-Mahler in diversen Lokalausgaben der „Hausfrau“, welche als Nebenausgaben der Zeitschrift „Für’s Haus. Praktisches Wochenblatt für alle Hausfrauen“ entstanden war.72 Mit der Zeitungs- und Zeitschriftenliteratur konnte eine steigende Zahl von Lesern aus verschiedenen gesellschaft­lichen Kreisen und mit unterschied­lichen Interessen ihren Lesebedarf preiswert decken, auch wenn sie sich den privaten Buchkauf aufgrund der im Verhältnis zum Einkommensdurchschnitt hohen Bücherpreise nicht leisten konnten. Das Bedürfnis der Leser nach Unterhaltung spiegelt sich im ansteigenden Marktanteil der Zeitschriften mit unterhaltendem Schwerpunkt zwischen 1887 und 1914. Während in diesen 30 Jahren die jeweils anteilige Menge der Jugend- und Literaturzeitschriften an der Unterhaltungssparte relativ stabil blieb (13 bis 17 % bzw. 16 bis 22 %), spiegelt die Zunahme der Frauen-, Haus- und Modeblätter von weniger als einem Fünftel auf nahezu ein Drittel die zunehmende Ausdifferenzierung des Zeitschriftenmarktes, etwa in jenem neuen Typ von Hausfrauenzeitschrift, der durch ein sich breit entwickelndes Zusammenspiel diverser Kopfblätter und Beilagen die Bedürfnisse heterogener Publikumsschichten zu befriedigen suchte.73

In Layout und Gestaltung sowie einem Unterhaltung und Literatur verbindenden Konzept setzte vor allem die von Ernst Keil ins Leben gerufene und 1853 erstmals erschienene „Gartenlaube“ Maßstäbe, denen sich keine der nachfolgenden Unterhaltungs- und Familienzeitschriften entziehen konnte. Der expandierende Zeitschriftenmarkt bot Tausenden von Autoren die Chance, den beruf­lichen Weg des Schriftstellers einzuschlagen, weil sich mit den Honoraren der Zeitschriften besser als allein mit dem Einkommen aus einzeln veröffent­lichten Roman- Lyrik- oder Novellenbänden von der üb­lichen kleinen Auflage zwischen 1.000 und 1.500 Stück eine Schriftstellerexistenz bestreiten ließ.74 Sprengel schätzt auf Grundlage eines Briefwechsels zwischen den vergleichsweise gut bezahlten Autoren Keller und Storm, dass sich zwischen dem Honorar für den Vorabdruck eines ­Textes in einer Literaturzeitschrift und der Buchausgabe ein Verhältnis von etwa 7 zu 1 ergab.75 Einer der ersten Feuilletonromane, Karl Gutzkows Ritter vom Geiste war, von der Litera­turkritik misstrauisch beäugt, 1850 in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ des Leipziger Brockhaus-Verlags erschienen.76 Mit dem Aufstieg der an namhafte Buchverlage gekoppelten Unterhaltungszeitschriften setzte sich der Fortsetzungsroman 72 Ebd., S. 467. 73 Ebd., S. 410 f. 74 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 415, Berbig: Fontane im literarischen Leben, S. 100. 75 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 156. 76 Vgl. die Kritik des Feuilletonromans von Karl Rosenkranz bei Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 197 f.

173

174

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

in den 1870er Jahren als fester Bestandteil der unterhaltenden Periodika, aber auch der Tagespresse durch. Der dadurch entstehende literarische Markt wies einen derart massiven Bedarf an literarischen Texten für die Feuilletons der Tageszeitungen und die Beilagen und Erzählrubriken der Unterhaltungszeitschriften auf, dass die im Vergleich mit den Buchverlagen höheren Honorare der Zeitungen und Zeitschriften zur „Haupteinnahmequelle“77 vieler Autoren wurden. Allein der jähr­liche Bedarf der deutschen Zeitungen und Zeitschriften an Fortsetzungsromanen soll 1900 bei 20.000 gelegen haben.78 Trotz starken Konkurrenzdrucks veränderte die Praxis des Vorabdrucks die finanzielle Lage und das Selbstbewusstsein der Autoren positiv. So erhielt z. B. Paul Heyse für Die Kinder der Welt von der Spenerschen Zeitung 1872 ein Honorar von M 15.000, Spielhagen konnte sogar M 20.000 bis M 30.000 verdienen. Das Heer der schreibenden Männer und Frauen, das sich davon magisch angezogen fühlte, kam oft nur auf M 600,- für exklusive Erstdrucke oder M 300,- bis M 450,- für Zweitdrucke oder noch weniger.79

Die neuen Erwerbsmög­lichkeiten forderten von den Schriftstellern jedoch auch einen ganz neuen Geschäftssinn und permanente Aktivität, da sie, wollten sie erfolgreich und in den Medien präsent sein, den Markt und seine Bewegungen ständig beobachten und regelmäßig mit neuen Arbeiten beliefern mussten. Auch die Beziehung der Schriftsteller zu den Verlagen veränderte sich, nicht zuletzt durch den neuen Berufsstand des Lektors und die zunehmend kurzlebigeren und unzuverlässigeren Arbeitsbeziehungen. Die Autoren mussten nun versuchen, durch Beziehungen zu mög­lichst vielen Verlagen die Publikationsmög­lichkeiten zu erhöhen. Allein die von Emmi Lewald nachgewiesenen 35 Buchpublikationen verteilen sich auf 14 unterschied­liche Verlage, wobei sich in neun Fällen die Zusammenarbeit gar nur über eine einzelne Publikation erstreckte.80 Durch schrift­liche Anfragen, das Versenden von Arbeitsproben und den Einsatz von Empfehlungen berühmterer Schriftstellerkollegen versuchte sie regelmäßig, neue Verlagskontakte herzustellen und neue bzw. durch andere Verlage abgelehnte Manuskripte unterzubringen. 77 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 415. 78 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 293. Eine andere Zahl findet man bei Georg Jäger: Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaft­liche Quelle. Probleme und Perspektiven seiner Erschließung. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Mitteilung IV der Kommission für Germanistische Forschung. Hg. von Wolfgang Martens. Weinheim 1987, S. 53 – 71. 79 Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 200. 80 Jeweils nur ein Werk von Emmi Lewald verlegten die Firmen Rauert & Rocco (Leipzig), Friedrich Mauke ( Jena), Hermann Braams Verlag (Norden und Norderney), Alexander Duncker (Berlin), Deutsche Schriftstellergenossenschaft (Berlin), G. Müller-Mann (Leipzig), Engelhorn (Stuttgart), A. Goldschmidt (Berlin) und die Max Seyfert Verlagsbuchhandlung (Dresden).

Emmi Lewald und die Verlage

Im Gegensatz zu Publikationen in Buchverlagen boten die Zeitschriften und Zeitungen zahlreiche Abdruckmög­lichkeiten für unterschied­lichste Texte, für Romane und Reiseberichte ebenso wie für Kurzgeschichten und Lyrik. Ein neues charakteristisches Merkmal des literarischen Tagesmarktes um 1900 wurde die große Nachfrage nach literarischen Kurztexten, welche dem von Spalten bestimmten Platzangebot der Medien entgegen kamen. Dieser Umstand steht im Zusammenhang mit einem auffälligen Anstieg im Gebrauch von Gattungen wie Novelle, Novellette, Gedicht, Charakterbild oder Skizze. Die Anforderungen des Marktes führten dazu, dass zahlreiche Autoren ihre Texte nach Gattung, Form und Inhalt den Erfordernissen der periodischen Presse anpassten und den Redakteuren teils bereitwillig das Recht überließen, das Geschriebene den Notwendigkeiten der Zeichen- und Spaltenanzahl folgend zurechtzustutzen. Im Schreiben der Journalschriftsteller äußerte sich der Anpassungsdruck in einer gewissen ökonomischen Funktionalisierung der Texte.81 Um von den Redaktionen der großen Tageszeitungen und Unterhaltungszeitschriften angenommen zu w ­ erden, mussten Texte einerseits der Weltanschauung des Blattes und anderseits den Bedürfnissen und Erwartungen der Leser entsprechen. Literatur wurde zu einem maßgeschneiderten Produkt, welches, wenn es nicht den Vorstellungen der Redaktion entsprach, problem­los gegen andere eingesandte Texte konventioneller Autoren ausgetauscht ­werden konnte. Aus diesen Gründen waren die Schriftsteller bereit, auf inhalt­licher und stilistischer Ebene Kompromisse einzugehen, die dem Medium und den Ansprüchen des Publikums entgegenkamen: „[I]nhalt­liche und stilistische Reduzierung der Texte, keine Reflexionen oder psychologischen Details, Bevorzugung leicht lesbarer Prosa und Novellen vor Dramen oder Versepik, die ganz ungeeignet waren.“82 Die meisten Erzählungen in Familienblättern – Liebes-, Frauen-, Historien- und Gesellschaftserzählungen – beschäftigen sich mit historischen oder in der unmittel­ baren Gegenwart angesiedelten Stoffen. Die Erzählschemata in der Unterhaltungspresse waren in hohem Grade konventionell und anfällig für den demonstrativen Gebrauch traditioneller Gestaltungsmuster. Letztend­lich ermög­lichte aber erst der Gebrauch gesicherter Erzählmittel die populäre, nicht an den Avantgardediskursen der Modernen orientierte Kommunikation mit dem breiten Lesepublikum. Inwieweit die Autoren der Familienblätter sich den geforderten formalen und inhalt­lichen Normen unbewusst oder bewusst unterwarfen, müsste aus ihrer jeweiligen Korrespondenz mit dem Verleger bzw. Lektor zu erschließen sein. Letztend­lich kamen auch renommierte Autoren wie Theodor Fontane, Theodor Storm und Wilhelm Raabe nicht umhin, ihre literarischen Texte bestimmten Konventionen anzupassen und teils massive Kürzungen zuzulassen,

81 Vgl. zu diesem Phänomen Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 198 und Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 444 ff. 82 Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 198.

175

176

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

wollten sie finanziell erfolgreich sein. Raabes Gesamtwerk, welches von auffallenden qualitativen Unterschieden der literarischen Qualität geprägt ist, lässt eindrucksvoll eine aus finanzieller Notwendigkeit erwachsende Kompromissbereitschaft erkennen. Wahrschein­lich sind manche Züge im Erzählwerk dieses nonkonformistischen und doch auf regelmäßige Honorareinnahmen angewiesenen Autors aus seiner sozialen Lage zu erklären – etwa das schwankende Niveau seines Œuvres […] oder die Anlehnung des Handlungsgerüstes an triviale Muster, um die sich dann – auf einer zweiten Reflektionsebene – das künstlerisch hochwertige Geflecht seiner humoristisch-satirischen Anspielungen rankt.83

Buchausgaben von Raabes Erzähltexten erschienen zum Teil bei den Verlagen ­ estermann und Hallberger (später Deutsche Verlags-Anstalt), nachdem sie in den W firmeneigenen Zeitschriften vorabgedruckt worden waren.84 „Von Raabe erschienen 90 % seiner Werke als Vorabdrucke in Zeitschriften, bevor sie bei verschiedenen Verlagen in Buchform publiziert wurden. Seine Erstausgaben kamen bei 15 verschiedenen Verlegern heraus, seine Werke bei mindestens 44 Verlagen.“85 Wittmann zufolge hatten die literarischen Geschmacksnormen der wilhelminischen Gesellschaft ihren Ausgangs- und Kulminationspunkt zugleich im Staatsoberhaupt Wilhelm II. Dieser „fühlte sich auch auf kulturellem Gebiet als alleinige Autorität“86, was beispielhaft in seinem Umgang mit dem 1859 von Wilhelm I. ins Leben gerufenen Schillerpreis für zeitgenössische dramatische Werke zum Ausdruck kam. Demnach sollte „für das beste in dem Zeitraum von je drei Jahren hervorgetretene Werk der Deutschen dramatischen Dichtkunst ein […] Preis von Eintausend Thalern Gold nebst einer goldenen Denkmünze zum Werte von Einhundert Thalern Gold“87 verliehen werden. Den Preis verweigerte Wilhelm II. 1896 den von der Auswahlkommission zur Auszeichnung vorgeschlagenen Märchen- und Traumdramen Gerhart Hauptmanns, Hanneles Himmelfahrt und 1899 dessen Werk Die versunkene Glocke, um dafür 1896 das repräsentative Drama Heinrich und Heinrichs Geschlecht des staatskonformen Autors Ernst von Wildenbruch mit einer überhöhten Preissumme auszuzeichnen.88 Die Kluft zwischen Macht und Geist vertiefte sich; die herrschenden Kreise in Staat und Verwaltung fühlten sich berufen, des Kaisers Normen rigoros durchzusetzen. Zweifellos repräsentierte die repressive und reaktionäre Literaturpolitik des Kaiserreiches die Überzeugung breiter Bevölkerungskreise – darunter auch eines großen Teils der aufstiegswilligen 83 Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 139. 84 Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 199. 85 Ebd., S. 207. 86 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 275. 87 Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 141. 88 Ebd., S. 142.

Emmi Lewald und die Verlage

Sozialdemokraten, die den bürger­lich-idealistischen Kanon des Wahren, Schönen und Guten bereitwillig übernahmen.89

Ein großer Teil der jüngeren Autorengeneration mit mäßigem Bekanntheitsgrad war sicher­lich auf Honorare der Unterhaltungszeitschriften angewiesen und daher grundsätz­ lich bereit, den Blättern publikationsfähige Texte anzubieten, insbesondere was die weltanschau­lichen und moralischen Konventionen des Publikationsmediums betraf. Dies ist mög­licherweise auch ein Grund für die auffällige Anpassungstendenz der schreibenden Aktivistinnen der Frauenbewegung, die zwar in ihren politischen Kampfschriften deut­liche Forderungen zu Frauenbildung und Frauenrechten artikulierten, in ihren belle­tristischen Texten dagegen die Frauenproblematik häufig entschärften und konven­ tionelle Frauenrollen vermittelten.90 Typisch für das Familienblatt war eine ausgeprägte moralische Grundhaltung, welche die Vermeidung alles Politischen, Erotischen oder Gottesläster­lichen vorschrieb, sodass alle Familienmitglieder die Zeitschrift gefahrlos lesen konnten. Graf stellt fest, dass die moralischen Gebote nach 1900 vor allem im Bereich der Erzählliteratur eine Lockerung erfuhren und die Abstinenz der umstrit­tenen Themenbereiche nicht mehr als „Garant solider Bürger­lichkeit verstanden [wurde], sondern als enge Spießermoral.“91 Gleichzeitig weist er, einen 1906 erschienenen Aufsatz von Wolzogen zitierend, auf die Risiken hin, die manche Zeitschriften mit dem Druck als verfäng­lich geltender Texte eingingen: So habe die Zeitschrift „Vom Fels zum Meer […] Tausende von Abonnenten durch einen Roman Wilhelmine von Hillerns verloren, und ‚eine Novelle von Sudermann gab derselben Zeitschrift beinahe den Todesstoß‘“.92 Die Redaktionen taten sich lange Zeit mit Erzähltexten schwer, die Darstellungen politischer oder konfessioneller Tendenzen sowie Schilderungen von Selbstmord, Ehescheidung und unerlaubten Liebesverhältnissen sowie unehe­lichen Kindern enthielten.93 Der im Literaturbetrieb erfahrene Literaturagent Max Hirschfeld wies die Autoren 1908 darauf hin, dass ein für den eigenen Erwerb schreibender Autor in der Unterhaltungsbranche bei seiner Arbeit darauf achten müsse, […] dass die Liebesepisoden und alle erotischen Erwähnungen nicht über das Gartenlaubeniveau hinausgehen … ist es doch bei dem größten Teile der Provinzzeitungen und kleinen Familienblättern die Regel, dass keine Unterhaltungsliteratur acceptiert wird, in welcher eine Ehescheidung oder ein unerlaubtes Liebesverhältnis vorkommt.94

89 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 275. 90 Vgl. Boetcher Joeres: „Frauenfrage und Belletristik“, S. 36. 91 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 444. 92 Kursivschreibung folgt dem Original. Zitiert nach Ernst von Wolzogen: Das Familienblatt und die Literatur. In: Das literarische Echo 9 (1906/07), H. 3, Sp. 177 – 185. Sp. 178 und ebd., S. 445. 93 Ebd., S. 446 94 Zitert nach Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 446.

177

178

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Diese „Familienblattmoral“95 des 19. Jahrhunderts hatte für die nicht konfessionell gebundenen und überregionalen Unterhaltungszeitschriften „Über Land und Meer“, „Roman-Zeitung“, „Roman-Bibliothek“ und „Gartenlaube“, in denen Emmi Lewald um 1900 ihre Erzähltexte unter anderem platzierte, offensicht­lich nur noch bedingt Geltungskraft.96 3.1.3.2 Emmi Lewald und die Zeitschriften und Zeitungen Unterhaltungszeitschriften Die Untersuchung der Buchverlage als Publikationsorte für Emmi Lewalds Werke hat eine erste Einschätzung ihrer Positionierung im literarischen Feld des deutschen Kaiser­ reichs zugelassen. Doch während Verlage Bücher und Zeitschriften für unterschied­ liche Lesepublika unter einem Dach vereinten, kann eine Analyse der nach Anspruch und Zielgruppe ausgerichteten periodischen Organe noch präziser Aufschluss über Emmi Lewalds Positionierung im etablierten bürger­lichen Literaturbetrieb geben. Die Produzenten der von Friedrich Wilhelm Hackländer (1816 – 1877) gegründeten Unterhaltungszeitschrift Über Land und Meer, bei der Emmi Lewald zwischen 1894 und 1911 Gedichte, Novellen und Romane publizierte, setzten bei Konzept und Gestaltung auf eine anspruchsvolle Aufmachung und reiche Illustrationen.97 Die Wochenzeitschrift zeichnete sich durch eine exklusivere Ausstattung als die meisten vergleichbaren Blätter aus und wurde mit einem Jahrespreis von 14 Mark etwa doppelt so teuer wie „Die Gartenlaube“ verkauft.98 Die im Selbstverständnis moderne belletristische Zeitschrift sollte die gehobenen und kaufkräftigen Bildungsschichten der Bevölkerung ansprechen und hatte 1886 eine Auflage von 130.000 Exemplaren. Sie bildete die Plattform für die belletristische Produktion des Verlags, denn die Verbindungen der Deutschen Verlags-Anstalt zu ihren Autoren wurden gleichermaßen für den Buch- wie auch für den Zeitschriftenverlag genutzt.99 Daher war ein beträcht­licher Raum der Zeitschrift dem Abdruck von Fortsetzungsromanen, Novellen und anderen kürzeren Erzählungen 95 Ebd., S. 444. 96 Sowohl in der Novelle Das Schicksalsbuch (1900) als auch in dem Roman Sylvia (1904) kommt eine Ehescheidung vor. Emmi Lewalds Protagonistinnen setzen die Trennung vom Ehemann aktiv durch, um eine unglück­liche Ehe zu beenden. 97 „Über Land und Meer. Allgemeine Illustrierte Zeitung“ wurde von der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart zwischen 1858/59 und 1922/23 produziert. Vgl. dazu Berbig: Fontane im literarischen Leben, S.  245 f. 98 Vgl. zu „Über Land und Meer“ Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 430. 99 Die Zeitschrift „Über Land und Meer“ wurde zwischen 1889 und 1892 wie auch die „Illustrierte Welt“ zwischen 1890 und 1893 von Joseph Kürschner herausgegeben, dem ehemaligen verantwort­ lichen Redakteur des Familienblatts „Vom Fels zum Meer“ (1881/82 – 1888/89) und Herausgeber der Nachschlagewerke Deutscher Litteratur-Kalender (später Kürschners Deutscher Literatur-Kalender) und Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender.

Emmi Lewald und die Verlage

vorbehalten. Autoren wie Wilhelm Raabe schrieben zunächst Texte für „Über Land und Meer“ und wurden später oder zeitgleich für die zweite Verwertungsstufe als Buchautoren unter Vertrag genommen. Auch Emmi Lewald publizierte ab 1907 Kurztexte in „Über Land und Meer“100, sowie 1904 den Vorabdruck ihres Romans Sylvia, der im gleichen Jahr bei der DVA in Buchform erschien. Weitere Schwerpunkte der Zeitschrift waren […] Berichte und Bilder zur Tagesgeschichte, besonders im Hinblick auf Geschichte, Literatur und Kunst; im gleichen Geiste aktuell war eine „Rundschau“ angelegt, die alles zusammenfaßte, was in der letzten Woche auf dem öffent­lichen, sozialen und kulturellen Sektor zum Gesprächsstoff der Gesellschaft geworden war. „Correspondenzen“ aus den Metropolen des geistigen und merkantilen Lebens sowie „Notizblätter mit Kurznachrichten vervollständigten die laufende Unterhaltung des Leserkreises.101

Die verantwort­liche Redaktion für „Über Land und Meer“ hatte zwischen 1894/95 und 1903/04 Ernst Schubert inne.102 Vergleichsweise viele Texte publizierte Emmi Lewald in Zeitschriften des Berliner August-Scherl-Verlags „Vom Fels zum Meer“, „Die Woche“ und „Die Gartenlaube“. Die kaisertreue Unterhaltungszeitschrift Die Woche, die Scherl 1899 erworben hatte, gehörte zum Typ der Illustrierten.103 Die Kennzeichen dieser Zeitschrift, Aktualität und Illustration, wurden neben Mehrfachdrucken und farbigen Titelblättern vor allem durch die massenhafte Verwendung des neuen Mediums Fotografie herausgestellt. In „Die Woche“ erschienen zunächst kleinere Arbeiten von Emmi Lewald, die Skizzen Doktorfragen (1906) und Das Neutrum (1907), bevor die Redaktion 1907 den später bei Fontane erschienenen Roman Das Hausbrot des Lebens als Fortsetzungsroman abdruckte. Neben kleineren Arbeiten erschien 1910 des Weiteren der umfangreiche Roman Der Magnetberg, den der Stilke-Verlag im darauffolgenden Jahr in Buchform herausbrachte. Auch die ursprüng­lich von Spemann herausgegebene Unterhaltungszeitschrift Vom Fels zum Meer erschien wöchent­lich ab 1901 im Scherl-Verlag Berlin.104 Das Blatt 100 Im Jahr 1907 erschienen in „Über Land und Meer“ die Skizzen Jour und Geschiedene Leute, die auch in Emmi Lewalds 1906 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienener Publikation Die Heiratsfrage enthalten sind. 101 Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und Probleme. Teil 2. Vom Wiener Kongress bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1962, S. 227. 102 Vgl. Berbig: Fontane im literarischen Leben, S. 245. 103 „Die Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift“ erschien im Berliner Scherl-Verlag zwischen 1899 und 1944. Vgl. Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 281 und Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 474. 104 Die Zeitschrift „Vom Fels zum Meer“ erschien im Berliner Spemann-Verlag zwischen 1881 und 1905 zu einem Jahresbezugspreis zwischen 12 und 19,50 Mark. Vgl. Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 433 f.

179

180

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

orientierte sich in seiner Gestaltung und seinen Beiträgen an einem anspruchsvollen, kaufkräftigen Lesepublikum. Bei „Vom Fels zum Meer“ konnte Emmi Lewald den Vorabdruck zahlreicher Skizzen aus der 1906 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienenen Skizzensammlung Die Heiratsfrage und andere Typen der Gesellschaft erreichen. Scherls bekannteste Unterhaltungszeitschrift Die Gartenlaube war zu dem Zeitpunkt von Emmi Lewalds Veröffent­lichungen ab 1914 im Vergleich zu anderen Zeitschriften des Kaiserreichs bereits ein sehr altes Blatt, welches in seinem Erscheinungszeitraum wechselnde weltanschau­liche Phasen durchlebt hatte.105 Sie wurde von dem Verleger und Redakteur Ernst Keil am 1. Januar 1853 gegründet und sollte nach ursprüng­licher Zielsetzung neben der Unterhaltung auch der naturwissenschaft­lichen und politischen Aufklärung des Bürgertums dienen.106 1866 begründete Keil mit dem Roman Goldelse der Schriftstellerin E. Marlitt (Eugenie John) die Praxis der Fortsetzungsromane, welche vom Lesepublikum der „Gartenlaube“ begeistert aufgenommen wurde und rasch zu einem Markenzeichen der Zeitschrift avancierte. Die Auflage der Gartenlaube stieg von 5.000 Exemplaren der Erstausgabe bis Mitte der 1870er Jahre auf 382.000 Exemplare an, um nach Ernst Keils Tod 1883 deut­lich unter die 300.000 Exemplare zu sinken.107 Nach diesem Einschnitt gelangte die Zeitschrift unter dem Firmennamen Ernst Keils Nachfolger unter die Leitung Adolf Kröners, der als verantwort­licher Redakteur wichtige neue Autoren wie Friedrich Spielhagen, Theodor Fontane, Wilhelm Raabe, Marie von Ebner-Eschenbach und Ludwig Ganghofer für „Die Gartenlaube“ gewinnen konnte. 1898 wurden die Geschäftsanteile der Firma und damit auch „Die Gartenlaube“ an die Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart und am 1. April 1904 schließ­lich an die August Scherl G. m. b. H. in Berlin abgetreten. August Scherl, eine schillernde Verlegerpersön­lichkeit des Kaiserreichs, vereinigte die Zeitschrift in den folgenden Jahren mit einigen älteren, bekannten Konkurrenzblättern 108 und läutete eine neue Phase ein, welche vom Niedergang der „Gartenlaube“ als Massenzeitschrift gekennzeichnet war. Die Auflagenzahlen der Reichsgründungszeit konnten nicht wieder erreicht werden, sie sanken von 100.000 Exemplaren im Jahr 1906 auf 80.595 Exemplare im Jahr 1937.109 Auch in der Zeit von Scherls Herausgeberschaft, in der Emmi Lewald ab 1914 verstärkt in der Zeitschrift zu publizieren begann, stellten belletristische Beiträge eine der wichtigsten Rubriken der Gartenlaube dar. Zu den meistgedruckten Autoren dieses 105 Die Zeitschrift erschien unter dem Titel „Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt“ ab D ­ ezember 1903 im August Scherl Verlag, der 1916 in den Besitz des Hugenberg-Konzerns überging. Dort wurde sie ab 1938 unter dem Titel „Die neue Gartenlaube“ bis 1944 weitergeführt. 106 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 427. 107 Die Startauflage von 5.000 Exemplaren stieg bis 1861 auf 105.000 Exemplare, bis 1866 auf 210.000, bis 1871 auf 310.000 und bis 1875 auf 382.000 Exemplare. Nach Keils Tod sank die Auflage auf 284.000 Exemplare und pendelte sich auf diesem Niveau ein. Vgl. ebd., S.427. 108 Mit „Die illustrierte Chronik“ 1901, mit „Vom Fels zum Meer“ und mit „Die weite Welt“ 1906. Vgl. ebd., S. 429. 109 Ebd.

Emmi Lewald und die Verlage

Zeitraums gehörten neben Ida Boy-Ed, Georg von Ompteda, Ludwig Ganghofer und Hans Hyan zahlreiche heute wenig bekannte Autoren. Wie Graf konstatiert, offenbarte „die Auswahl der Autoren der Gartenlaube […] über die Jahrzehnte ihren Wandel in der Tendenz und dem Publikum, vom liberal-fortschritt­lichen zum national-liberalen Familienblatt, dann weiter zur politisch eher zurückhaltenden Frauenzeitschrift.“110 Der Ruf der „Gartenlaube“ in der literarischen Welt war zu Emmi Lewalds Zeiten bereits sehr schlecht, und nicht nur der Literaturwissenschaftler Max Osborn beklagte „die ganze Misere der ‚Familienblatt‘-Schriftstellerei“111. Osborn bemerkt 1896, es sei […] kein gutes Zeichen für die Leitung der ‚Gartenlaube‘, daß der Name dieses Blattes allmäh­lich zu einer so wenig schmeichelhaften Gattungsbezeichnung geworden ist, daß jeder, der einigermaßen nach litterarischen Gesichtspunkten urteilt, ein stilles Lächeln in sich spürt, wenn er ihn hört. Fast nie hat man sich die Mühe gegeben, den Geschmack der Leser zu heben, obwohl man es gekonnt hätte; man hat im Vertrauen auf die gleiche Höhe des Verständnisses beim Publikum in diesem Blatte, das einen so hohen Beruf ausfüllen könnte, nur zu oft mittelmäßigen und schlechten weib­lichen Schriftstellerinnen Unterschlupf gewährt.112

Trotz des schlechten Rufs der Zeitschrift zögerte Emmi Lewald insbesondere in der Zeit des Ersten Weltkrieges nicht, in „Die Gartenlaube“ Gedichte und Kurzprosa zu veröffent­lichen; auch die Romane Unter den Blutbuchen und Das Fräulein von ­Güldenfeld erschienen 1914 und 1922 im Vorfeld der jeweiligen Buchpublikation im Scherl-Verlag in „Die Gartenlaube“. Der Verlag von Velhagen & Klasing publizierte ab 1907 Texte von Emmi Lewald in Velhagen & Klasings Monatsheften sowie in seinen jähr­lichen Almanachen.113 Der Verlag war bereits 1835 entstanden, als August Klasing (1809 – 1897) in die Buchhandlung und Sortimentsbuchhandlung von August Velhagen (–1891) eintrat, und gemeinsam sollten die beiden Unternehmer bis zur Jahrhundertwende aus der Firma das größte sich in Privathand befindende buchhändlerische Unternehmen des deutschen Sprachraums machen, dessen Produktion nur von den großen Berliner Zeitungskonzernen übertroffen wurde. Der Verlag hatte sich nach seiner Gründung zuerst einen Namen in den Bereichen Theologie und Schulliteratur gemacht, begann aber nach 1871 mit der erfolgreichen Produktion von Kinder- und Jugendbüchern. 110 Ebd., S. 441, vgl. zu den Autoren auch S. 443. 111 Osborn: Die Frauen in der Litteratur und der Presse, S. 255. 112 Ebd. 113 „Velhagen & Klasings Monatshefte“ erschienen zwischen 1886 und 1953, die Almanache zu „­Velhagen & Klasings Monatsheften“ zwischen 1908 und 1931. Der sogenannte Kriegs-Almanach wurde von der Schriftleitung von „Velhagen & Klasings Monatsheften“ herausgegeben und erschien während des Weltkriegs zwischen 1916 und 1918. Vgl. die Angaben zu den Monatsheften bei Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 437.

181

182

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Im neuen Jahrhundert erlebten „Velhagen & Klasings Monatshefte“ eine rückläufige Entwicklung, da der Niedergang des deutschen Reichs und der Zusammenbruch der Monarchien der konservativen Grundhaltung des Verlags den Boden entzogen. Auch im Verlag von Velhagen & Klasing spielte die Zeitschriftenproduktion eine große Rolle. Während das Verlagsprogramm mit der Familienzeitschrift „Daheim“ christ­ lich-konservative Kreise bediente, war die illustrierte Revue „Velhagen & Klasings Monatshefte“ ganz auf ein bildungsbürger­lich orientiertes Publikum ausgerichtet. 1886 zunächst unter dem Titel „Neue Monatshefte des Daheim“ gegründet, entwickelten sich die Monatshefte rasch zu einer der erfolgreichsten illustrierten Revuen für gebildete und kaisertreue Leserschichten. Die vaterländische Gesinnung kommt wie in anderen bürger­lichen Unterhaltungsblättern, die nach der Reichsgründung entstanden, auch hier verschiedent­lich zur Geltung, wenn z. B. Artikel über den Kaiser oder auch historische Aufsätze über die preußischen Könige von Zeit zu Zeit gebracht werden.114

In dieser Zeitschrift von gehobener Ausstattung und Preisklasse, die Monatshefte wurden auf hochsatiniertem Papier gedruckt und enthielten häufig doppelseitige Holzschnitte hoher Qualität, veröffent­lichte Emmi Lewald während des Ersten Weltkrieges eine Reihe kleinerer Prosaarbeiten. Zu ihnen gehören die Novellen In schlaflosen Nächten (1915)115 und Eheirrung (1916) sowie die Ballade Am Styx (1916). Begleitet wurde die Zeitschriftenreihe durch einen Almanach bzw. „Kriegs-Almanach von Velhagen & Klasings Monatsheften“. Hier erschienen die Texte Niobe im Salon (1911), Der Backfisch (1913), Gentilezza (1914) und Der letzte Brief, Eine Stimme von der Front. (1916)116. Neben den oben beschriebenen Zeitschriften, in denen Emmi Lewald regelmäßig und über einen längeren Zeitraum Gedichte, Novellen und Romane publizierte, finden sich auch einige Organe, bei denen die Recherche bisher nur eine punktuelle Publikation ergeben hat. Zu diesen Blättern zählt die ab 1887 halbmonat­lich erschienene Familienzeitschrift Zur Guten Stunde aus dem Deutschen Verlagshaus in Berlin, die von Emil Dominik herausgegeben und von Paul Dobert (1860 – 1931) redaktionell betreut wurde.117 Die Zeitschrift war dem Konzept nach mit zahlreichen Kunstbeilagen mit Reproduktionen von Genrebildern sowie mit einem festen Bestandteil unterhaltender Beiträge ausgestattet, wodurch dem Blatt schon 1888 ein

114 Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, S. 356. 115 Später veröffent­licht in Emmi Lewald: In jenen Jahren… Novellen. Berlin G. Stilke 1919, S. 3 – 44. 116 Später veröffent­licht ebd., S. 123 – 132. 117 Die Zeitschrift „Zur guten Stunde. Illustrierte deutsche Zeitschrift“ erschien im Berliner BongVerlag zwischen 1887 und 1919.

Emmi Lewald und die Verlage

fester Leserkreis von achtzigtausend Abonnenten sicher war.118 Erstaun­lich hoch für eine Familienzeitschrift war das Niveau des literarischen Teils, der von ersten Autoren der Zeit wie Helene Böhlau, Theodor Fontane, Karl Henckell, Detlev von L ­ iliencron und Ernst von Wolzogen beliefert wurde.119 Emmi Lewald konnte 1889 einen Nachdruck von Gedichten aus ihrem ersten Gedichtband Der Cantor von Orlamünde in der Zeitschrift erreichen. Die seit 1855 im Berliner Verlag von Louis Schäfer erscheinende Zeitschrift Der Bazar 120 zählte zum Typus der im 19. Jahrhundert beliebten „Kombination von Modebzw. Frauen- und Unterhaltungszeitschrift“121. „Der Bazar“ erschien zunächst als „Technische Muster-Zeitung für Frauen“ bzw. „Berliner Illustrierte Damen-Zeitung“ alle 14 Tage, seit 1857 dann wöchent­lich zu einem Bezugspreis von 10 Mark pro Jahr (1871). Die Popularität des führenden Modeblattes – 1872 erreichte es eine Auflage von 140.000, 1883 von 100.000 Exemplaren 122 – lag in der Kombination von Mode- und Unterhaltungsanspruch begründet, die durch die frühe Angliederung eines Unterhaltungsteils mit Erzählungen und Romanen bekannter Autoren geschaffen wurde. Ein wichtiger Grund für die Konzeptänderung des zunächst als reine Modezeitschrift geplanten „Bazars“ waren die Maßstäbe, welche Ernst Keils Gartenlaube auf dem Zeitschriftenmarkt gesetzt hatte. Der Erfolg der Zeitschrift wurde fortan von der Redaktion der Unterhaltungsbeilage, welche zeitweise von Julius Rodenberg (1831 – 1914) betreut wurde, maßgeb­lich bestimmt. „Der Bazar“ veröffent­ lichte zwischen 1850 und 1880 Texte von Georg Hiltl, Friedrich G ­ erstäcker, ­Theodor Fontane, Ludovica Hesekiel, Louise Mühlbach, Karl Frenzel, Iwan ­Turgenjew und anderen.123 Emmi Lewald veröffent­lichte im „Bazar“ in den Jahren 1895 – 97 nach und nach jene Landschaftsskizzen als Feuilletons, die 1897 zusammengefasst zum literarischen Reisebericht Italienische Landschaftsbilder bei der Schulzeschen Hofbuchhandlung in Oldenburg erschienen.124 Ein Hinweis auf eine Korrespondenz zwischen Emmi Lewald und der Redaktion des bis 1934 bestehenden Blattes konnte nicht ermittelt werden.

118 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 415. 119 Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, S. 357. 120 Die Wochenzeitung „Der Bazar. Illustrierte Damen-Zeitung“ erschien in der Berliner Bazar-A. G. zwischen 1855 und 1937. 121 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 461. 122 Mit 140.000 Exemplaren im Jahr 1872 hatte „Der Bazar“ den Höhepunkt seines Erfolgs überschritten und kam in den späten 1880er Jahren über 100.000 Exemplare nicht mehr hinaus. Ebd., S. 463. 123 Graf führt auch weitere Autoren auf, allerdings beschränkt sich der Querschnitt auf die Jahre 1850 bis 1880. Ebd., S. 440, 1 24 Vgl. den Hinweis in Italienische Landschaftsbilder: „Die vorstehenden Skizzen sind in den Jahren 1895 bis 1897 zuerst in der „Weserzeitung“, der „Nationalzeitung“ und dem „Bazar“ veröffent­licht worden“ (Ilb 182).

183

184

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Ebenso wie „Der Bazar“ verkörperte die im Verlag von Franz Lipperheide (1835 – 1906) konzipierte Illustrierte Frauen-Zeitung 125 den Typ der kombinierten Mode-, Frauenund Unterhaltungszeitschrift; sie war als selbstständige Unterhaltungsbeilage mit der „Modenwelt. Illustrierte Zeitung für Toilette und Handarbeiten“ gekoppelt. Dies Periodikum im Großformat der Modeblätter gehörte zu den über den Durchschnitt sich erhebenden Frauenblättern jener Zeit, das literarisch und illustrativ Geschmackvolles und in Abwechslung künstlerischer, kulturgeschicht­licher und kostümkund­licher Themen Anregungen bot, die anspruchsvollen Leserinnen zusagen konnten.126

Die „Illustrierte Frauen-Zeitung“ wurde bis 1896 von Franz Lipperheides Frau Frieda Lipperheide (1840 – 1896) herausgegeben, die wie Emmi Lewald eine Förderin des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin war. „Unter ihrer redak­tionellen Leitung berichtete diese wohl einflußreichste Berliner Frauenzeitung der ­Bismarckzeit regelmäßig in wohlwollender Weise über den Verein und seine Mitglieder.“127 Sowohl „Der Bazar“ als auch die „Modenwelt“ waren an anspruchsvolle Leserinnen gerichtet, unterschieden sich jedoch preis­lich: Während der „Bazar“ 10 Mark im Jahr kostete, war die „Modenwelt“ für 5 Mark zu haben.128 Im Jahr 1910, als Doris Kiesewetter Redakteurin der „Illustrierten Frauen-Zeitung“ war, konnte Emmi Lewald ihre Erzählung Die Wehrlosen als Fortsetzungstext in dem Blatt veröffent­lichen. 1912 erschien Die Wehrlosen im Berliner Verlag von Georg Stilke als Roman und wurde unter anderem als Taschenbuch gedruckt. Abschließend können noch Westermanns Illustrierte deutsche Monatshefte zu Emmi Lewalds Publikationsorten gezählt werden, für dieses Organ ist jedoch ledig­ lich eine Gedichtveröffent­lichung aus dem Jahr 1907 bekannt.129 Das Blatt legte seit den 1860er Jahren einen Schwerpunkt auf belletristische, unterhaltende Literatur und wandte sich an „jene Teile eines konservativen (bildungs-) bürger­lichen Publikums mit literarischen Interessen, das um 1900 die naturalistische Richtung der modernen Literatur nicht mittragen wollte.“130 125 Die „Illustrierte Frauen-Zeitung, Ausgabe der Modenwelt mit Unterhaltungsblatt“ erschien im Berliner Verlag Lipperheide zwischen 1855 und 1932. 1911 gingen die „Modenwelt“ und ihre Unterhaltungsbeilage in den Besitz des Ullstein-Verlags über. Vgl. Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 414. 126 Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, S. 358. 127 Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons und der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin, S. 345. 128 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 462. 129 „Westermanns Illustrierte deutsche Monatshefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart“ erschienen beim Braunschweiger Verlag Westermann zwischen 1856 und 1906. Ab dem Jahrgang 1906/07 wurde das Blatt in „Westermanns Monatshefte“ umbenannt und erschien bis 1987. 130 Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 434.

Emmi Lewald und die Verlage

Romanzeitungen Mit der steigenden Nachfrage nach Erzähltexten, insbesondere nach Novellen und Romanen, die sich als Fortsetzungsromane in Zeitungen und Zeitschriften publizieren ließen, begannen einige Verleger seit den 1860er Jahren, mittels reiner Romanzeitungen ein Lesepublikum jenseits ihres Abonnentenkreises zu erschließen. Mit dem neuen Format ließen sich auch regelmäßig auftretende Absatzschwankungen im Bereich der traditionellen Zeitschriften und Kolportageromane auffangen. „Das waren Zeitschriften, die, neben einem oder mehreren Romanen in Fortsetzungen, verschiedene kleine Prosatexte, ein kleines Feuilleton und meist keine Illustrationen enthielten.“131 Zu den ersten und prägenden Exemplaren des Zeitschriftentyps gehörten die von Otto Janke (1818 – 1887) 1864 gegründete Deutsche RomanZeitung 132 und die von Eduard Hallberger in Stuttgart seit 1873 herausgegebene „Deutsche Roman-Bibliothek“133, die Jankes Roman-Zeitung aufgrund ihrer Nähe zu der beliebten Familienzeitschrift „Über Land und Meer“ und der Popularität ihres Herausgeber Friedrich Wilhelm Hackländer zur ernsten Konkurrenz wurde. Graf konstatiert jedoch für beide Romanzeitungen, dass es sich aufgrund der hohen Abonnementspreise und des wohlhabenden, kaufkräftigen Zielpublikums „um ältere, noch vorwiegend an bürger­lichen Bildungsvorstellungen orientierte Zeitschriftenkonzepte handelte.“134 Janke publizierte in seiner „Deutschen Roman-Zeitung“ hauptsäch­lich Gesellschafts-, Liebes- und Familienromane sowie historische Romane und Zeitromane zeitgenössischer Autoren.135 Durch günstige Bezugspreise gelang es dem Verleger erfolgreich, der Konkurrenz der Leihbibliotheken standzuhalten. Unter Leitung des Redakteurs Otto von Leixner, selbst Autor von Romanen, Erzählungen und Gedichten, wurden ab 1883 auch Lyrik und Buchrezensionen in die Romanzeitung aufgenommen. Von Emmi Lewalds Texten erschien dort 1892 ein Vorabdruck der Norderney-Novelle Auf diskretem Wege sowie in großem zeit­lichen Abstand 1912 das Gedicht Delphi, das im Kontext der Griechenlandreise der Autorin entstanden war. Zwar konnte Janke mit der Roman-Zeitung aufgrund ihres gemischten Programms einen guten Absatz erzielen, erntete im literarischen Feld der Massenwirksamkeit wegen aber auch viele kritische Stimmen.

131 Ebd., S. 497. 132 Die „Deutsche Roman-Zeitung“ erschien im Verlag von Otto Janke in Berlin zwischen 1864 und 1925, ab 1887 zunächst zu dem vergleichsweise hohen jähr­lichen Bezugspreis von 14 Mark, später von 16 Mark. Vgl. zu Jankes „Roman-Zeitung“ ebd., S. 498. 133 Die „Deutsche Roman-Bibliothek“ erschien zwischen 1873 und 1910 im Stuttgarter HallbergerVerlag, der später in der Deutschen Verlags-Anstalt aufging. Das Blatt kostete mit einem Bezugspreis von 8 Mark pro Jahr nur halb so viel wie Jankes „Roman-Zeitung“. Ebd., S. 502. 134 Ebd., S. 499. 135 Vgl. Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 202 ff.

185

186

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Das abgesenkte Niveau, die Bedingung für den hohen Absatz, war trotz einiger anfäng­lich berühmter Namen wie Wilhelm Raabe, Theodor Fontane oder Friedrich Spielhagen der Grund für das geringe Ansehen Jankes und seiner Romanfabrik.136

Einen renommierteren Veröffent­lichungsort stellte für die Autoren aus Emmi Lewalds Generation der Traditionsverlag Cotta in Stuttgart dar.137 Die 1659 gegründete Firma hatte im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche hochkarätige Schriftsteller wie Goethe, Schiller und Herder verlegt, wodurch ihr im 19. Jahrhundert eine Monopolstellung beim Verlag deutscher Klassiker sicher war. Neben rechts- und staatswissenschaft­ lichen, pädagogischen und naturwissenschaft­lichen Schriften machten die Klassiker mehr als die Hälfte der Gesamtproduktion Cottas aus.138 Der Wegfall der Cotta’schen ­ assive Verlagsprivilegien an den Klassikern im Jahr 1867139 bewirkte, dass dem Verlag m Konkurrenz aus dem massenhaften Nachdruck der Klassiker durch Billiganbieter erwuchs und sich seine Leitung bald gezwungen sah, mehrere Zweigbetriebe und die Stuttgarter Druckerei an Adolf Kröner zu verkaufen.140 1888 ging auch der Verlag an den bürger­lich-liberalen Unternehmer Adolf Kröner über, der mit seinem eigenen Verlag Gebrüder Kröner 1884 nach dem Tod Ernst Keils die Unterhaltungszeitschrift „Die Gartenlaube“ übernommen hatte. 1890 verschmolz Kröner einige seiner Firmen zur Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Emmi Lewald publizierte bei Cotta ledig­lich einen Vorabdruck der Novelle ­Cunctator 1895 in der verlagseigenen Romanzeitschrift Die Romanwelt.141 Die Zeitschrift „Die Romanwelt. Zeitschrift für die erzählende Literatur aller Völker“142 136 Ebd., S. 204. 137 Das Cottasche Verlagsarchiv blieb erhalten und wurde am 25. August 1952 sowie am 6. Oktober 1954 an die Stuttgarter Zeitung verkauft, die es bis heute unter der Bezeichnung ‚Cotta’sche Handschriftensammlung‘ dem Schiller-Nationalmuseum und Literaturarchiv in Marbach als Leihgabe zur Verfügung stellt. 138 Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 173. 1 39 Die Rechtslage zum Schutz von Verlagsprivilegien war in Deutschland lange uneinheit­lich. 1837 entstand in Preußen eine Initiative zum Schutz von Werken aus Kunst und Wissenschaft, welche dem jeweiligen Verlag die Privilegien am Werk eines Autors für einen Zeitraum von 30 Jahren nach dessen Tod sichern sollte. Zum Zweck der Vereinheit­lichung setzte die Bundesversammlung 1856 die Frist für die Freigabe von Werken, deren Verfasser vor dem 9. November 1837 gestorben waren, auf den 9. November 1867 fest. Vgl. Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 173. 140 Nach dem frühen Tod Carls von Cotta (1835 – 1888) ging der Cotta-Verlag durch Kauf an die Verleger Adolf (1836 – 1911) und Paul Kröner über, welche ihn unter der Firmenbezeichnung J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger weiterführten. Vgl. Lieselotte Lohrer: Cotta. Geschichte eines Verlages. 1659 – 1959. Stuttgart 1959, S. 130 f. 141 Der Text erschien später in dem bei Fontane & Co. verlegten Novellenband Kinder der Zeit. 142 „Die Romanwelt. Zeitschrift für die erzählende Literatur aller Völker“ erschien im Stuttgarter CottaVerlag zwischen 1894 und 1900, ab dem 2. Jahrgang in Stuttgart bei Cottas Nachfolger, ab dem 3. Jahrgang in Charlottenburg im Verlag der Romanwelt, dann in Berlin bei Vita. „Die Romanwelt“

Emmi Lewald und die Verlage

erschien seit 1894 in Stuttgart bei Cotta und wurde von Otto Neumann-Höfer und Felix Heinemann herausgegeben. Sie kostete pro Jahrgang 15 Mark und pro Einzelheft 15 Pfennig. Der erste Jahrgang enthielt „neben Erzählungen von P. Bourget, B. Harte, F. Dostojewski und R. Kipling auch Beiträge von Marie von Ebner-Eschenbach sowie die neusten Romane von Hermann Sudermann und Friedrich Spielhagen.“143 Die „Romanwelt“ bemühte sich durch die Auswahl ihrer Autoren um eine „moderne Profilierung“ und hob sich von der traditionellen „Deutschen Roman-Zeitung“ Otto von Leixners ab. Emmi Lewalds Novellenmanuskript wurde am 18. August 1894 durch einen Lektor geprüft und der Redaktion der „Romanwelt“ zu Annahme empfohlen.144 Aus einer weiteren Beurteilung der Redaktion geht hervor, dass die Annahme der Novelle an einige Änderungen seitens der Autorin geknüpft war, dann jedoch zu einem Spaltenhonorar von 15 Mark von Alfred Kröner persön­lich gebilligt wurde. Nach der Veröffent­lichung von Cunctator trat Emmi Lewald am 7. Februar 1902 noch einmal mit einer schrift­lichen Anfrage an die Cotta’sche Buchhandlung heran, da sie die Novellen Das Schicksalsbuch, Feierstunden und Die Etrusker dort als Sammelband publizieren wollte.145 Das Projekt kam jedoch nicht zustande und die Novellen erschienen 1904 bei Fontane & Co. Die literarische Abteilung der Cotta’schen Buchhandlung betreute beim ­Eintritt Adolf Kröners neben Hermann Kurz, Eduard Paulus und Ottilie Wildermuth et­liche Autoren, die auch bei den Gebrüdern Kröner verlegt wurden: Emanuel Geibel, Paul Heyse, Karl Mayer, Hans Hopfen und Wolfgang Menzel. Obwohl Kröner kein überzeugter Anhänger der aufsteigenden, zunächst vor allem über die Theaterbühne wirksam werdenden naturalistischen Literaturströmung war, verlegte er 1896 Carl ­Hauptmanns Drama Die Waldleute und ab 1892 das Werk Hermann Sudermanns.146 Um die Jahrhundertwende wurde im Cotta’schen Verlag zunehmend massenwirksame Unterhaltungsliteratur verlegt, was Lohrer in ihrer stark wertenden Chronik als „düsteres Kapitel“ des Verlags deutet. Die ‚Gartenlauben‘ und verwandten Größen unangenehmer Prägung fanden nun Eingang in das vornehmste deutsche Haus: Ida Boy-Ed, Wilhelmine von Hillern, Thea von ­Harbou und Felicitas Rose, Richard Voß, Rudolf Stratz und, schlimmer als alle, Rudolf Herzog. Ihre Werke erfuhren die jagend hohen Auflagen, und in ihren Reihen waren diejenigen,

ging später in der Zeitschrift „Aus fremden Zungen. Zeitschrift für moderne Erzähllitteratur des Auslandes“ auf, die zunächst von der Deutschen Verlags-Anstalt und zur Zeit von Emmi Lewalds Publikation vom Ledermann Verlag Berlin zu einem jähr­lichen Bezugspreis von 12 Mark herausgegeben wurde. Vgl. Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, S. 503. 143 Ebd., S. 503. 144 Vgl. die Beurteilungen der Redaktion im Cotta-Archiv. DLM Cotta Romanwelt B, 188. 145 Emmi Lewald an Cotta am 7. 2.1902. DLM Cotta Briefe. 146 Lohrer: Cotta, S. 151.

187

188

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

die Generalverträge bekamen. Frei­lich hat jedes Publikum die Literatur, die es verdient, und der größte Teil der Deutschen aller Stände fand sich vollkommen bestätigt in diesem Gebräu von Forschheit und Sentimentalität, in dem alle korrumpierten Ideale der Epoche zusammen­gerührt waren.147

Mit der Gründung der Romanzeitung Deutsche Roman-Bibliothek hatte der Heraus­ geber der Unterhaltungszeitschrift „Über Land und Meer“, Friedrich Wilhelm ­Hackländer, 1873 ebenfalls auf die steigende Nachfrage des Publikums nach Romanen und Novellen reagiert.148 Laut Angaben der Deutschen Verlags-Anstalt sprach das Organ ein gebildetes Damenpublikum an und war hauptsäch­lich in gebildeten und wohlhabenden Kreisen verbreitet. 1876 hatte die „Deutsche Roman-Bibliothek“ bereits 34.000 Abonnenten. Emmi Lewald veröffent­lichte ab 1896 zunächst kürzere Arbeiten in der wöchent­lich erscheinenden „Roman-Bibliothek“ und schließ­lich 1899 ihren Roman Die Erzieherin als Fortsetzungsroman in den Heften 43 bis 48, ein Werk, das als Buchausgabe erst 1917 im Hermann Hillger Verlag erschien. Neben kürzeren Novellen und Erzählungen sind von Emmi Lewalds Texten die längere Erzählung Feierstunden, Ein Jahr aus einem Leben (1901) und die als Novelle bezeichnete Arbeit Der Lebensretter (1905) zu finden, welche bei der Deutschen Verlags-Anstalt 1907 unter dem Titel Der Lebensretter, Roman in Briefen in Buchform erschien. Zum Typ der Romanzeitung ist auch die Reihe Engelhorns Allgemeine RomanBibliothek zu zählen, in deren Rahmen der Stuttgarter Engelhorn-Verlag zwischen 1884 und 1930 Novellen, Romane und Übersetzungen publizierte.149 Die Roman-Bibliothek war „Marktführer bei den billigen Reihen“150 und auch Bloch zählt „Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek“ neben „Reclams Universal-Bibliothek“ und „Kürschners Bücherschatz“ zu den umfangreichsten Unterhaltungsliteraturreihen der Jahrhundertwende. Neben fremdsprachigen Autoren und Unterhaltungsschriftstellern nahm Engelhorn auch anspruchsvolle deutsche Literatur als Erstausgabe in diese Reihe auf. Emmi Lewald ist in Engelhorns Roman-Bibliothek 1912 mit der Novellensammlung Stille Wasser vertreten, die neben den neuen Novellen Ein Mensch, Lieder eines Toten und Die Rose einen Nachdruck der Novelle Irmengard Henneberger (1898) enthält. 147 Ebd., S. 152. 148 Die „Deutsche Roman-Bibliothek zu Über Land und Meer“ erschien in der Stuttgarter Deutschen Verlags-Anstalt zwischen 1873 und 1910 zu einem jähr­lichen Bezugspreis von 8 Mark. Die verantwort­liche Redaktion für die Romanzeitschrift hatte zwischen 1894 und 1904 Ernst Schubert inne. Vgl. Berbig: Fontane im literarischen Leben, S.  245 – 249. 149 „Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek. Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker“ war eine Publikation des Stuttgarter Verlags von J. Engelhorn (ab 1910 J. Engelhorns Nachfolger). Die Romanzeitung erschien zweiwöchent­lich zu einem Preis von 75 Pfennig pro Band. Vgl. Robert N. Bloch: Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek (1884 – 1930). Eine Bibliographie. Gießen 2006. 150 Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 278.

Emmi Lewald und die Verlage

Frauenbewegungspresse Die Bewegungspresse bildete, gemeinsam mit der Versammlungs- und Vortragspraxis sowie der Schulungsliteratur, die Bewegungsöffent­lichkeit der bürger­lichen Frauen­ bewegung.151 Die mediale Kommunikation über Vereinszeitschriften, Mitteilungsblätter, Berufs- und Themenzeitschriften war unentbehr­lich für die soziale Bewegung, da auf diesem Wege die Reflexion und Verbreitung aller wesent­lichen Themen und Debatten zur gesellschaft­lichen und recht­lichen Situation der Frau stattfanden. Reichte die Entstehung der ersten Frauenpresseorgane bis in die Zeit vor 1848/49 zurück, bildete sich in den 1890er Jahren eine umfangreiche und nach den unterschied­lichen Flügeln differenzierte Bewegungspresse heraus. Die Zeitungen und Zeitschriften der fortschritt­lichen, der konfessionellen, der sozialdemokratischen und der gemäßigten Richtung dienten „als Diskussions- und Informationsforum […] der Konsensbildung nach innen“ und stellten als Bewegungsöffent­lichkeit nach außen eine „Gegenöffent­ lichkeit“ zur männ­lich geprägten bürger­lichen Öffent­lichkeit dar.152 Die Monatsschrift Die Frau wurde zunächst von Helene Lange, ab 1915/16 in Zusammenarbeit mit Gertrud Bäumer und von dieser ab 1930 wiederum allein heraus­ gegeben und erschien erstmals im Oktober 1893 im Berliner Moeser Verlag.153 Die Zeitschrift stellte innerhalb der Bewegungspresse eine bedeutende meinungsbildende Instanz dar, nicht zuletzt da der gemäßigte Flügel der bürger­lichen Frauenbewegung innerhalb des Dachverbandes BDF die Mehrheit stellte und die Zeitschrift zeitweise den Charakter eines „inoffiziellen Organs“154 des Verbandes annahm. Rückblickend kann „Die Frau“ als „Kampfblatt“ eingeordnet werden, das die Frauenbewegung entscheidend prägte.155 In der programmatischen Äußerung „Was wir wollen“ der ersten Ausgabe 156 verweist Helene Lange darauf, dass der Titel das Programm der Zeitschrift verkörpere, weil zeitgenössische Diskussionen den Begriff „Die Frau“ derart eingefärbt hätten, dass er auf die emanzipatorische Bestrebungen der Frauen verweise. Lange legt großen Wert auf den Einbezug der Männer in das Projekt und betont deren Anteil unter den Mitarbeitern.157 Des Weiteren ist es das wesent­liche Ziel der Zeitschrift, 151 Vgl. Wischermann: Frauenbewegungen und Öffent­lichkeiten, S.  176 ff. 152 Ebd., S. 198. 153 „Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. Organ des Bundes Deutscher Frauenvereine“ erschien von 1893 bis 1944 im Herbig-Verlag in Berlin-Grunewald und wurde von Helene Lange und Gertrud Bäumer herausgegeben. 154 Eicke: Die bürger­liche Frauenbewegung, S. 24. 155 Vgl. Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848 – 1933, S. 93 u. 95. 156 Helene Lange: Was wir wollen. In: Die Frau 1 (1893/94), H. 1, S. 1 – 4. 157 Lange spricht den Wunsch aus, „unter den deutschen Männern der Überzeugung Bahn zu brechen, daß es sich in der Frauenbewegung um einen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung handelt, wie er noch immer zu verzeichnen war, wo gehemmte edle Kräfte zur Entfaltung gelangten […].“ Ebd.

189

190

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

[…] unter den Frauen die lauen und trägen aufzurütteln zu dem Bewußtsein, daß die Frau die ihr durch die äußere Gestaltung der Verhältnisse gewordene größere Muße mit etwas anderem auszufüllen hat als dem Tand des Tages, daß es gilt, Kräfte zu sammeln, inner­lich zu reifen, aus dem Gattungswesen zur freien Individualität sich zu entwickeln, um dann nach Maßgabe dieser Kräfte auf die Umwelt zu wirken.158

Diese Formulierung verdeut­licht die Absicht, mit der Zeitschrift Frauen anzusprechen, die noch außerhalb der organisierten Frauenbewegung standen und ihnen deren Ideen und Ziele nahe zu bringen. Das hohe inhalt­liche Niveau des Blattes war bewusst auf den kleinen Kreis gebildeter bürger­licher Frauen (und Männer) abgestimmt, die auch die Zielgruppe der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung bildeten.159 Die Hefte wurden meistens mit einem Leitartikel eröffnet, in dem von Ereignissen und Diskussionen der Frauenbewegung berichtet und dazu Stellung genommen wurde. Dem Artikel folgten belletristische Beiträge wie Romane, Novellen, biografische Artikel und Erfahrungsberichte sowie weitere Stellungnahmen und Berichte zu den Themen Soziales, Mädchenbildung, Erwerbstätigkeit und der Situation der Frauen im Ausland. Abschließend wurden aktuelle Meldungen in den Kategorien „Erwerbsthätigkeit“, „Frauenleben- und Streben“, „Frauenvereine“ und „Bücherschau“ abgedruckt, gefolgt von Werbeanzeigen und Stellenangeboten. Schaser vermutet, dass die Beiträge für den Abdruck in „Die Frau“ mehrheit­lich angefordert wurden und stets Helene Langes hohen Ansprüchen genügen mussten. Bei den meisten Artikeln in „Die Frau“ dürfte es sich um Auftragsarbeiten gehandelt haben. Bäumer und Lange holten die Beiträge zum größten Teil aus dem weitläufigen Bekanntenund Schülerinnenkreis ein. Unaufgefordert eingeschickte Manuskripte wurden von Lange nicht selten mit einer Schärfe, die nichts an Deut­lichkeit zu wünschen übrig ließ, zurückgewiesen. Jeder Beitrag wurde genau auf Inhalt und Form hin geprüft, die Autorinnen und Autoren auch manchesmal streng zur Änderung des Textes aufgefordert.160

Emmi Lewald arbeitete an „Die Frau“ seit Heft 5 des ersten Jahrgangs mit und lieferte ausschließ­lich belletristische Beiträge, zwischen Februar 1894 und Februar 1915 eine Skizze, einen dreiteiligen Reisebericht aus Griechenland, sieben Novellen und mehr als zwanzig Gedichte.161 Sie gehörte dem „exklusiven Autorinnen- und 158 Ebd. 159 Vgl. Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln u. a. 2000, S. 74. 160 Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848 – 1933, S.  93 f. 161 Im Landesarchiv Berlin fanden sich weder im Bestand ‚Bund Deutscher Frauenvereine (BDF)‘ noch im Nachlass Helene Langes Hinweise auf Emmi Lewald oder auf einen Briefwechsel bezüg­lich ihrer Publikationen in „Die Frau“. Da die redaktionelle Korrespondenz immer im Besitz von Helene

Emmi Lewald und die Verlage

Rezensentinnenkartell“162 an, das für ein hohes Niveau der Zeitschrift bürgen und helfen sollte, das Bild der bürger­lichen Frauenbewegung nach außen hin zu gestalten. Auffallend ist, dass Emmi Lewalds Prosatexte alle zwischen 1894 und 1898 erschienen, ledig­lich die Griechische Reise erschien 1912. Nach diesem Zeitpunkt veröffent­lichte „Die Frau“ nur noch kurze Gedichte von Emmi Lewald; das Gedicht Absage 163, in dem der Erste Weltkrieg thematisiert wird, bildet 1915 schließ­lich den Abschluss ihrer Veröffent­lichungen in dieser Zeitschrift. Dies hängt wahrschein­lich mit dem Umstand zusammen, dass die Zeitschrift in jedem Jahrzehnt ihres langen Bestehens eine andere Prägung erfuhr 164: Zwischen 1893 und 1903 widmete sie sich vor allem dem Frauenbild, der Rechtsstellung der Frauen und ihrem Streben nach Bildung und Arbeit, von 1903 bis 1913 stand dann die Diskussion des Frauenstudiums und der sexuellen Freiheit bzw. Verantwortung im Vordergrund. Nach 1913 und mit Ausbruch des Weltkrieges rückten politische Themen in das Gesichtsfeld der Zeitschrift, die Organisation des Nationalen Frauendienstes, die Arbeit der Frau in der Kriegswirtschaft, aber auch das Frauen­wahlrecht und die Frage der Habilitation von Frauen. Der Publikationsverlauf bei Emmi Lewalds Texten – zunächst die Prosatexte, dann Gedichte und schließ­lich das Ende der Mitarbeit 1915 – entspricht somit dem allgemeinen inhalt­lichen Wandel von „Die Frau“, in der die zunehmende Bedeutung politischer, sozialer und wirtschaft­ licher Themen ab dem Ersten Weltkrieg den Anteil belletristischer Beiträge reduzierte.165 In die Sparte der Frauenbewegungspresse gehört auch das Mitteilungsblatt des gleichnamigen Frauenklubs Deutscher Lyceum-Club.166 Die Vereinszeitschrift behandelte die Belange des 1905 gegründeten Deutschen Lyceum-Clubs, in dem Emmi Lewald seit dem Gründungsjahr Vorstandsmitglied war. Neben einem Termin- und Veranstaltungsplan enthielt das Blatt Informationen über die Arbeit der verschiedenen Vereinskommissionen sowie über Mitteilungen des Vorstands, außerdem Rückschauen auf Versammlungen und kulturelle Veranstaltungen des Klubs. Auch literarische Beiträge von Klubmitgliedern – Emma Vely und Agnes Harder seien als Beispiele genannt – finden sich im „Deutschen Lyceum-Club“. Emmi Lewald nutzte das Mitteilungsblatt vor allem während des Ersten Weltkriegs als Publikationsort für eine Reihe von älteren Lange und Gertrud Bäumer geblieben war, wurde sie wahrschein­lich zusammen mit großen Teilen der Nachlässe beider Frauen bis 1945 vernichtet. Freund­liche Mitteilung von Dr. Susanne Knob­lich (Landesarchiv Berlin) an die Verfasserin am 19.06.2007. 162 Schaser: Frauenbewegung in Deutschland 1848 – 1933, S. 95. 163 Emmi Lewald: Absage. In: Die Frau 22 (1914/15), H. 5, S. 273. 164 Vgl. hierzu das Vorwort von Elisabeth Boedecker: Die Frau. Begründet und herausgegeben von Helene Lange, Gertrud Bäumer und Frances Magnus-von Hausen. Jahrgänge 1 – 50 – 1893/94 – 1942/43 nebst Anhang: Jahrgang 51 – 1943/44 (letzter Jahrgang). Gesamtverzeichnis der Aufsätze. Nach Fachgebieten in chronologischer Folge mit alphabetischem Verfasser- und Namensregister. Hannover 1968, S. X. 165 Vgl. ebd., S. XI. 166 Die Zeitschrift „Deutscher Lyceum-Club. Offizielles Organ des Deutschen Lyceum-Clubs, zugleich Mitteilungsblatt des Vereins der Künstlerinnen“ erschien in Berlin zwischen 1906 und 1934.

191

192

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Italiengedichten aus ihrem Gedichtband von 1901, aber auch für neuere Lyrik, etwa das Kriegsgedicht Oktober (1914), Matthias Grünewald (1916) und Nicht mir… (1918).167 Neben einigen Veranstaltungsrückblicken findet sich überraschenderweise in dem Blatt auch eine Buchbesprechung, die Emmi Lewald 1926 zu dem Gedichtband Wir dürfen nicht töricht sein ihrer Klubkollegin Charlotte Ball verfasste. Es handelt sich um die einzige bekannte von der Autorin verfasste Rezension.168 Tageszeitungen In der Tagespresse erschien im Laufe des Publikationszeitraums 1888 – 1935 mit großer Wahrschein­lichkeit regelmäßig Kurzprosa und Lyrik von Emmi Lewald, die für diese Arbeit nicht gesondert recherchiert wurden. Es soll jedoch ein kurzer Überblick über jene Tageszeitungen gegeben werden, die durch Erwähnung in handschrift­ lichen Quellen oder zufällig als Publikationsorte bekannt geworden sind, um in Ergänzung zu den Unterhaltungszeitschriften einen Überblick über das Zielpublikum und die weltanschau­liche Richtung der Organe zu gewinnen. So findet sich etwa in der Buchpublikation von Italienische Landschaftsbilder (1897) der Hinweis, die einzelnen Landschaftsskizzen seien zuvor außer im „Bazar“, in der „Weser-Zeitung“ und in der „Nationalzeitung“ abgedruckt worden. Die in der Vormärzzeit gegründete liberale Nationalzeitung 169 war 1866 auf den Kurs Bismarcks eingeschwenkt. Das Blatt erschien zweimal täg­lich und legte einen besonderen Schwerpunkt auf das Feuille­ton, in dem Gedichte, Kurzprosa und Buchbesprechungen erschienen.170 Auch in der Bremer Weserzeitung, in der rechts-konservativen Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung 171, in der Deutschen Allgemeinen Zeitung 172 und in den Leipziger Nachrichten 173 erschienen Texte der Autorin.

167 Emmi Lewald: Italienische Reise (Zyklus von 12 Gedichten). In: DLC 10 (1914), Nr. 8 (1. Aug.), S.  315 – 331; Emmi Lewald: Oktober. In: DLC 10 (1914), Nr. 11 (1. Nov.), S. 373 f.; Emmi Lewald: Matthias Grünewald. In: DLC 12 (1916), Nr. 6 (1. Juni), S. 165 f.; Emmi Lewald: Nicht mir… und Herbstnebel. In: DLC 14 (1918), Nr. 10 (1. Okt.), S. 10 – 12. 168 Vgl. Emmi Lewald: Charlotte Ball: Wir dürfen nicht töricht sein. Gedichte. Berlin Eigenbrödler-Verlag. In: DLC 21 (1926), Nr. 12 (1. Dez.), S. 14. 169 Nationalzeitung. Berlin Sittenfeld 1848 – 1933. 170 Vgl. Berbig: Fontane im literarischen Leben, S. 84 ff. 171 In der Berliner „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung“ war einem Hinweis im Mitteilungsblatt des Lyceum-Clubs zufolge ein dort abgedrucktes Gedicht zuvor erschienen. Vgl. DLC 12 (1916), Nr. 6 (1. Juni), S. 166. 172 In der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ sind zwei Sonette von Emmi Lewald unter dem Titel Der Jahre zehn… nachgewiesen. Deutsche Allgemeine Zeitung vom 10.8.1924. 173 Ein Hinweis in einem Brief der Schriftstellerin an ihre Bekannte Elisabeth Förster-Nietzsche aus den 1930er Jahren belegt den Abdruck eines Romans in den „Leipziger Nachrichten“. Vgl. Emmi Lewald an Elisabeth Förster-Nietzsche am 27.6. o. J. (um 1935). GSA 72/BW 3191.

Emmi Lewald und die Verlage

Die Analyse der Organe der periodischen Presse, in denen Texte von Emmi Lewald publiziert wurden, trägt zur präzisen Verortung der Autorin im literarischen Feld des deutschen Kaiserreichs bei. Die Mehrzahl der Unterhaltungszeitschriften, insbesondere „Über Land und Meer“, „Vom Fels zum Meer“ und „Velhagen & Klasings Monatshefte“ waren auf die gebildeten, kaufkräftigen Publikumskreise der adeligen und bürger­lichen Oberschicht abgestimmt und, wie die meisten bürger­lichen Unterhaltungsblätter des deutschen Kaiserreichs, von der in diesen Kreisen verbreiteten konservativen und kaisertreuen Gesinnung geprägt. Für dieselbe kaufkräftige bürger­liche Gesellschaftsformation waren auch die beliebten Roman-Zeitungen konzipiert, die unterhaltende Erzählprosa zu günstigen Preisen anboten und sich an älteren, bürger­lichen Bildungsvorstellungen orientierten. Emmi Lewalds Texte erreichten zudem Angehörige der gebildeten oberen und unteren Mittelschicht, die sich diese hochwertig ausgestatteten Zeitschriften finanziell leisten konnten oder diese in Bibliotheken und Lesehallen lasen. Tendenziell auf ein breiteres bürger­liches bis kleinbürger­liches Publikum waren dagegen die Unterhaltungszeitschriften „Die Woche“ und die sich nach der Reichsgründung im Niedergang befind­liche „Gartenlaube“ abgestimmt. Der Blick auf die wenigen Organe der periodischen Tagespresse, die als Publikationsorte von Emmi Lewalds Texten ausgemacht werden konnten, stimmt mit dem Gesamteindruck überein, dass die Autorin ihre Texte vornehm­lich in Zeitungen und Zeitschriften publizierte und publizieren konnte, die als ihre Zielgruppe die gebildeten, kaufkräftigen und staatstreuen oberen und mittle­ren, bürger­ lichen und adeligen Gesellschaftsschichten betrachteten. Ein Teil der untersuchten Zeitungen und Zeitschriften waren wiederum dezidiert für die weib­lichen Angehörigen dieser Gesellschaftskreise konzipiert, so die Frauenzeitschriften „Der Bazar“ und die „Illustrierte Frauen-Zeitung“, die eine Kombination aus Mode-, Frauen- und Unterhaltungszeitschrift darstellten. Insbesondere die Organe der Frauenbewegungspresse, „Die Frau“ und „Deutscher Lyceum-Club“, richteten sich auch an die wohlhabenden und gebildeten Frauen der Oberschicht, die der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung nahestanden oder als deren Adressatinnen galten. In demselben Maß, wie sich der gemäßigte Flügel der Bewegung mit seinen Frauenrechtsforderungen innerhalb der Normen und Grenzen der bürger­lichen Gesellschaft bewegte, bemühten sich dessen Presseorgane um die Anpassung an die Normen und Anforderungen des etablierten bürger­lichen Literatursystems.

193

194

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

3.2 Rezeption I: Über Emmi Lewalds Lesepublikum Die „Demokratisierung des Lesens“ im 19. Jahrhundert Die „Demokratisierung des Lesens“1 mit der 2. Leserevolution des 19. Jahrhunderts bildete den zentralen Ausgangspunkt für die Entwicklung und Gestalt des Literaturmarkts, des Pressewesens sowie für die Situation der Schriftsteller, Kritiker und Leser in der Zeit des Kaiserreichs. Der von Langenbucher als 1. Leserevolution bezeichnete Übergang des Lesens von einer „Periode der intensiven Lektüre“ zu einer „Periode der extensiven Lektüre“2 im Zuge der Aufklärungsbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte zunächst ledig­lich einen kleinen Teil der deutschen Gesellschaft betroffen, da nur ca. 10 % der Erwachsenen als Leser infrage kamen. Dennoch zeugen das Aufkommen unterhaltender und bildender Zeitschriften des Typs der „Mora­lischen Wochenschriften“, die Ausbreitung von bürger­lichen Lesegesellschaften und die steigende Produktion von Unterhaltungsromanen von einer fundamentalen Veränderung der sozialen und kommunikativen Aspekte des Lesens. Jetzt diente das Lesen nicht mehr der Bestätigung und Befestigung eines traditionellen Kanons religiöser Glaubenssätze und Lebensregeln, sondern bürger­licher Geselligkeit und Unterhaltung, der Aufklärung über die rasch zunehmenden wissenschaft­lichen Kenntnisse und Erfahrungen in der Ökonomie, in der Natur und in der bürger­lichen Politik.3

Mit der 1. Leserevolution wurde darüber hinaus der Grundstein einer weib­lichen Lesekultur für die nächsten Jahrhunderte gelegt, sodass Langenbucher von der „Emanzipation der Frauen bestimmter Gesellschaftsschichten als Leserinnen“4 spricht. Das Leseinteresse der Frauen bedienten Familien- und Briefromane sowie entsprechend ausgerichtete Zeitschriften und Almanache. Dem bürger­lichen Bedürfnis nach Unterhaltung und Bildung durch Lektüre ­traten ab Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Faktoren zur Seite, die eine Ausweitung des Lesens auf alle gesellschaft­lichen Schichten ermög­lichten. Die Gründe und Voraussetzungen für diese 2. Leserevolution finden sich in dem sprunghaft-rasanten 1 Langenbucher: Die Demokratisierung des Lesens, S. 12. 2 Der Begriff der „intensiven Lektüre“ bezeichnet die Wiederholungslektüre, die beispielsweise. bei der Bibellektüre gängig war, der Begriff der extensiven Lektüre die „einmalige Lektüre“. Ebd., S. 13. 3 Winkler: Autor – Markt – Publikum, S. 37. Das wachsende Unterhaltungsbedürfnis ist deut­lich erkennbar an der Veränderung der Marktstruktur in Bezug auf die Belletristik: „1740 nahm sie mit knapp 6 % in der Rangordnung der Sachgruppen den sechsten Platz ein, 1770 stand sie mit 16,5 % bereits an zweiter Stelle, und im Jahr 1800 hatte sie mit 21,45 % den ersten Rang erreicht und die Theologie überflügelt.“ Langenbucher, Die Demokratisierung des Lesens, S. 13. Mit ähn­lich hohen Wachstumsraten dokumentiert Wittmann die zunehmende Popularität der Gattung Roman. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 112. Vgl. auch Winckler: Autor – Markt – Publikum, S.  111 – 126. 4 Langenbucher: Die Demokratisierung des Lesens, S. 15.

Über Emmi Lewalds Lesepublikum

Modernisierungsschub, der zwischen 1880 und 1914 alle europäischen Gesellschaften erfasste und neben den Sparten Industrie, Landwirtschaft und Technik auch das Medien- und Kommu­nikationswesen radikal rationalisierte und mechanisierte. Der technische Wandel schuf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Voraussetzungen für die massenhafte Herstellung billiger Druckerzeugnisse, hier seien die Erfindung der Rotationsmaschine in den USA 1863 und deren Bau bei M. A. N. in Deutschland 1872/73 genannt, die Einführung der Autotypie 1882 und der Setzmaschine 1884 sowie die Entwicklung der Falzmaschine 1890. Dazu kamen im logistischen Bereich der reichsweite Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Entwicklung eines einheit­lichen Postwesens, wodurch Vertrieb und Verbreitung der Medien optimiert werden konnten. Anhand dieser Daten und Fakten wird erneut deut­lich, dass Emmi Lewalds literarisches Debüt Unsre ­lieben Lieutenants (1888) in einer Zeit der gravierenden Umbrüche in der Verlags- und Presselandschaft und des literarischen Markts generell erschien. Über den technischen Wandel hinaus bedingten soziale und gesellschaft­liche Entwicklungen die Ausweitung des Lesepublikums und die damit verbundene ansteigende Nachfrage nach Literaturerzeugnissen. Die zunehmende Alphabetisierung der Bevölkerung und das wachsende Freizeitvolumen der arbeitenden Bevölkerung müssen an dieser Stelle ebenso genannt werden wie die Rolle von Druckerzeugnissen und Lektüre bei den politischen Ereignissen des Vormärz und den Emanzipationsbewegungen der Arbeiterschaft und der Frauen. Besonders nachhaltige Auswirkung auf das Leseverhalten hatten jedoch das rapide Bevölkerungswachstum und die Urbanisierung. Lebten 1871 noch 3,5 % Einwohner des deutschen Kaiserreichs in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern, waren es 1900 bereits 16,2 %. Die Reichshauptstadt Berlin wuchs zwischen 1871 und 1890 von 826.000 auf 1,57 Millionen Einwohner an und 1905 lebten dort bereits 2 Millionen Menschen.5 Das Leben in der Stadt veränderte das Verhältnis des Menschen zum Lesen, denn „vor allem der Prozeß der Verstädterung ließ Informationsbedürfnisse entstehen, die vorher nicht vorhanden waren.“6 Es ist kein Zufall, dass ein wichtiger Ort der Konsumtion von Unterhaltungsliteratur der städtische Raum war. Die Urbanisierung stellte die Menschen unterschied­licher Schichten in neue Erfahrungsräume, welche auch geprägt waren von Entwurzelung und der Veränderung des Arbeitslebens dahingehend, dass seine Gestaltung sich dem Individuum zunehmend entzog und von anonymen konjunkturellen Prozessen bestimmt wurde. Der Zwang, sich in einer von rasanter regionaler und sozialer Mobilität geprägten Gesellschaft zu orientieren und sich dem neuen Milieu und den neuen Arbeitsverhältnissen der Industrie anzupassen, bildete einen fruchtbaren Nährboden für die Verbreitung der informativen Lektüre, wie der ungeheure Erfolg von Konversationslexika und Sachbüchern beweist.

5 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 22. 6 Langenbucher: Die Demokratisierung des Lesens, S. 21.

195

196

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Der Verlust der alten Bindungen und Gewißheiten, die durch die neue Umwelt erzwungene Mentalitätsänderung, die Vereinsamung und Erfahrungsarmut riefen aber auch ein akutes Bedürfnis nach psychologischem Ausgleich und kompensatorischen Erlebnissen hervor.7

Wie Martino geht auch Bayer davon aus, dass die Ausbildung eines massiven Unterhaltungsbedürfnisses und der Beginn des Industrie- und Massenzeitalters in engem Zusammenhang standen.8 Innere Leere, der Mangel an Betätigungsmög­lichkeiten und das Bedürfnis nach Flucht vor der Wirk­lichkeit stellten Motivationen der Leser dar, in den fiktionalen Welten der Belletristik und der Kolportageliteratur Abenteuer und kurzfristige Wunschtraumerfüllung zu suchen: die große Reise, die große Liebe, das große Heimweh, die großen Gefühle und Gipfelsituationen des mensch­lichen Lebens. Martino weist allerdings darauf hin, dass die massenhaft geschriebene und gelesene Belletristik nicht allein eine evasorische Funktion erfüllte, sondern dass auch „Orientierung, Information und Lernvorgänge im fiktiven Rollenspiel […] eine große Rolle gespielt [haben] – frei­lich unterschied­lich nach Art der Produkte und Leser und empirisch schwer zu fassen“9. Dieser Gedanke findet sich auch bei der Prosa von Autorinnen im Kontext der bürger­lichen Frauenbewegung wieder, die neben einem Unterhaltungsanspruch auch die Funktion hatte, neue Weib­lichkeits- und Lebensentwürfe für Frauen literarisch zu ‚erproben‘ und zu diskutieren. Das bürger­liche Lesepublikum Über die Durchsetzung der Massenproduktion im Buch- und Zeitschriftenwesen und die eigent­liche Ausdehnung des Lesepublikums hinaus benennt Schön die „soziale Differenzierung des Publikums“ als zweiten weitreichenden Wandel im Zuge der 2. Leserevolution.10 Für das Kaiserreich lassen sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine quantitative Ausweitung und Homogenisierung des Lesepublikums und eine Ausdifferenzierung der einzelnen Klassenkulturen gleichermaßen feststellen, denn es unterschieden sich die verschiedenen Publika […] nicht scharf durch unterschied­liche, ihnen jeweils zugeordnete Lektüreobjekte oder gar bereits durch Gattungen, sondern mehr durch ihr Selbstbild und das mentalitätsmäßige, auch ideologische Verhältnis, das sie zur Literatur einnahmen.11

7 Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756 – 1914). Wiesbaden 1990, S. 300. 8 Vgl. Dorothee Bayer: Der triviale Familien- und Liebesroman im 20. Jahrhundert. Mit einem Beitrag von Rudolf Schenda. 2. Aufl. Tübingen 1971, S. 157 ff. 9 Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 300. 10 Vgl. Erich Schön: Geschichte des Lesens. In: Handbuch Lesen. Hg. von Bodo Franzmann u. a. unter Mitarb. von Georg Jäger. München 1999, S. 1 – 85, S. 38. 11 Ebd., S. 43.

Über Emmi Lewalds Lesepublikum

Allein das Verhältnis der bürger­lichen Gesellschaftsgruppen – Bildungs-, Besitz- und Kleinbürgertum – zum Lesen war höchst unterschied­lich geartet und wurde bereits von Emmi Lewalds Zeitgenossen ausführ­lich diskutiert. Im Selbstverständnis des Bildungsbürgertums waren das Lesen und die Lesekultur untrennbar mit einer klar umrissenen Vorstellung von Bildung verbunden, wie sie im Rahmen der höheren Schulbildung erworben wurde. Nicht allein die Lesefähigkeit machte einen Menschen in seinen Augen zum Gebildeten, sondern der Besitz von Bildungspatenten wie dem Abitur und Universitätsabschlüssen. Vor allem die gymnasiale Bildung galt als Garant für die Vertrautheit mit der deutschen Literatur der Weimarer Klassik, des Vormärz und der Romantik sowie mit den lateinischen und griechischen Klassikern. Die Konsequenz dieser Vorstellung ist ein statischer Bildungsbegriff: Der Bildungsbürger ist gebildet, wenn er das Bildungspatent erworben hat, nicht, wenn er sich im aktiven Sinne in seiner Freizeit weiterbildet; Schön spricht daher auch von „verding­lichter Bildung“12. Der Besitz von Bildung schuf Identität, sodass das Bildungsbürgertum sich über den Austausch von Bildungsgütern – beispielsweise durch das Bildungszitat – seines eigenen Status und auch seiner nationalen Identität vergewissern konnte. Dem verding­lichten Bildungsbegriff des Bürgertums wohnte auch die Ursache des paradoxen Charakters der weib­lichen Bildungssituation inne. Frauen bildeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Hauptpublikum belletristischer Literatur und waren etwa durch die häus­liche Deklamation literarischer Texte Trägerinnen der Lesekultur in der Praxis. In der gegenüber der Jungensozialisation eingeschränkten weib­ lichen Schul- und Ausbildung war jedoch die Vermittlung wesent­licher Elemente des bürger­lichen Bildungskanons gar nicht vorgesehen, beispielsweise die Unterweisung in klassischen Sprachen und die umfassende Lektüre der Texte der deutschen Literatur. Belletristische Texte spielten zwar im Lehrplan der Mädchengymnasien im Gegensatz zu den Naturwissenschaften und politischer Bildung eine zentrale Rolle, doch „waren die Mädchen und jungen Frauen […] inhalt­lich und qualitativ stark eingeschränkt: Nicht alles ‚schickte sich‘ für sie; auch die deutschen Klassiker kamen nicht infrage: Goethe war unmoralisch, Schiller ohnehin ‚männ­licher Geist‘“13. Die bürger­liche Lesekultur war eng mit dem Anspruch verknüpft, bei der Lektüre­ auswahl, ebenso wie bei der Leseintention, ein hohes Niveau zu wahren, denn die Beschäftigung mit Literatur sollte von dem Wunsch nach ernsthafter Auseinandersetzung, nicht von der Suche nach Zeitvertreib oder vom Modegeschmack geleitet werden. Trotzdem herrschte eine auffällige Diskrepanz zwischen dem bildungsbürger­ lichen Lektüreideal und der Lesepraxis. Tatsäch­lich bestand der Lesestoff dieser Gesellschaftsschicht mehrheit­lich aus den belletristischen Beiträgen in Unterhaltungs- und

12 Ebd., S. 44. 13 Ebd., S. 47. Vgl. zu den Lyrikanthologien für Frauen und Mädchen Häntzschel: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien, S. 98 ff. und 185 ff.

197

198

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Familienzeitschriften und der zeitgenössischen Romanproduktion in den ört­lichen Leihbibliotheken. Hier gestalteten sich in Bezug auf das Lesen die Grenzen zwischen dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum fließend. Bei Letzterem spielte die dekorative und repräsentative Funktion von Literatur und Lesen noch entschiedener eine größere Rolle als das tatsäch­liche Bildungserlebnis. Auch die für städtische und länd­ liche Unterschichten produzierte Literatur wurde von bürger­lichen Gesellschaftsschichten konsumiert. Martino erinnert daran, dass der Kolportageroman nach heutigem Verständnis nur einen kleinen Teil der mittels der Kolportage vertriebenen Lesestoffe ausmachte und auf diesem Weg auch Romane von Alexandre Dumas, Eugène Sue, Émile Zola, Klassikerreihen und Unterhaltungszeitschriften an die Leser der unteren Schichten gelangten. So fand eine Durchmischung statt, in deren Folge Kunstliteratur in die Arbeiterschicht, aber auch Kolportageliteratur zum bürger­lichen Leser gelangen konnte.14 Das Massenpublikum des späten 19. Jahrhunderts entstand im Kleinbürgertum und in den städtischen Unterschichten, in der Arbeiterschaft. Doch von der faktischen Lektüre her war der Übergang vom Bürgertum zum Kleinbürgertum ebenso fließend, wie er zur Arbeiterschaft war; er war jedenfalls weit geringer als das Bewußtsein einer klassenspezifischen kulturellen Identität bei diesen verschiedenen Gruppen.15

Diese schichtenmäßige Durchmischung des literarischen Konsums war neben dem Kolportagehandel maßgeb­lich vom deutschen Leihbibliothekswesen gefördert worden, das seine Blütezeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte, als es im deutschsprachigen Raum ca. 1.500 – 2.000 Institute unterschied­licher Ausrichtung gab. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Anzeichen für eine „Krise der Leihbibliothek“16, deren Ursachen in den massiven Veränderungen des Buch- und Zeitschriftenmarkts zu suchen sind und die als „Leihbibliotheksfrage“ diskutiert wurde. Vor der Krisenzeit waren die Leihbibliotheken die wichtigsten Abnehmer der belletristischen Produktion und nahmen häufig den Großteil einer Romanauflage direkt auf.17 Mit der Expansion der Presse schwemmten Massen aktuellen Lesestoffs auf den Markt und eine Überproduktion der Belletristik setzte ein. Feuilletons, belletristische Journale und Zeitschriften wurden zum Publikationsort für Romane, Novellen und Skizzen, ein Prozess, der zwar die beruf­liche Situation der Autoren 14 Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 402. 15 Schön: Geschichte des Lesens, S. 50 f. 16 Vgl. Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 549 ff. 17 Otto Glagau bemerkte in seinem 1870 im „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ erschienenen Artikel Der Colportage-Roman, die durchschnitt­liche Auflage eines Romans von 700 – 1.000 Exemplaren entspräche ziem­lich genau der Zahl der größeren Leihbibliotheken in Deutschland. Vgl. Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 629.

Über Emmi Lewalds Lesepublikum

verbesserte, jedoch den Bezug der Lektüre aus den Bibliotheken verminderte und die Abnahme der Romanproduktion durch die Bibliotheken schwächte.18 Diese Tendenz wurde nicht zuletzt vorangetrieben durch den steigenden privaten Buchkauf, der mit der Verbilligung der Buchpreise, der Praxis des Vorabdrucks, der schnellen Produktion von Billigausgaben und dem Verramschen von Restbeständen auch mittleren und unteren Schichten mög­lich geworden war. In den 1880er Jahren gab es noch etwa 2.000 Leihbibliotheken.19 Bis 1914 wuchs vor allem die Zahl der Freiund Volksbibliotheken und der großen öffent­lichen Lesehallen wie Fritz Borstells Lesezirkel in Berlin oder die J. H. Nordmeyer’sche Leihbibliothek in Hannover, die Neuerscheinungen in großer Stückzahl anschafften und den kleineren Instituten die Kunden entzogen.20 Auf diese Weise gelang es vor allem den Betreibern großer Einrichtungen, auch in der Krise der Institution wettbewerbsfähig zu bleiben und die Leihbibliothek noch bis zum Ersten Weltkrieg als „bedeutendste Vermittlerin der Belletristik“21 zu erhalten. In Bezug auf die Bestände hat Martinos Untersuchung der zeitgenössischen Biblio­ thekskataloge zwischen 1849 und 1914 eine starke Vorherrschaft der Belletristik, insbesondere des Romans ergeben (95 – 100 %). Bemerkenswert ist an seinen Ergebnissen vor allem die schichtenunabhängige Vorliebe für Belletristik, denn […] im großen und ganzen kann man auch in den Jahren 1899 – 1914 keine wirk­lich bedeutenden Geschmacksunterschiede feststellen. Das bürger­liche wie das kleinbürger­liche und das proletarische Publikum lasen dieselben Autoren. Die Lieblingsautoren des Bürgertums und der vornehmeren Klassen wurden – frei­lich mit gewissen zeit­lichen Verschiebungen – auch zu den Lieblingsautoren der mittleren und unteren Schichten […]. Diese Homogenität des literarischen Geschmacks ist auf die vermittelnden literarischen Institutionen zurückzuführen: Leihbibliothek, Volksbibliothek, Arbeiterbibliothek, Kolportage.22

18 In diesem Prozess spielten die populären Romanzeitungen eine wichtige Rolle, in denen Original­ romane zu günstigen Preisen publiziert und angeboten wurden, ohne jemals in Buchform den Leihbibliotheksverkehr zu erreichen. Vgl. 3.1.3.2. 19 Zu den Zahlen vgl. Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 317 ff. 20 Ebd., S. 322. 21 In der Kriegs- und Inflationszeit nach 1914 erlebte die Leihbibliothek erneut einen gewaltigen Aufschwung wirtschaft­licher Art, büßte aber in der Weimarer Republik ihre Rolle als wichtigste Vermittlungsinstitution von Belletristik weitgehend ein. Ebd., S. 618. 22 Martino: Die deutsche Leihbibliothek, S. 401. Die fünfzehn meistangeschafften Erfolgsautoren in den großen Leihbibliotheken der Jahre 1889 bis 1914 waren Alexandre Dumas, Luise Mühlbach, Adolf Wilhelm Ernst von Winterfeld, Gregor Samarow, Friedrich Wilhelm Hackländer, Hans ­Wachenhusen, Ewald August König, Philipp Galen, Friedrich Gerstäcker, Balduin Möllhausen, Wilhelm Jensen, Maurus Jòkai, Maria Elisabeth Braddon, Jules Verne und Friedrich ­Spielhagen. Vgl. Tab.  5. Erfolgsautoren in den Leihbibliotheken der Jahre 1889 – 1914. Martino, S. 410 f. Das Ergebnis stammt aus der Untersuchung der deutschsprachigen Abteilungen 31 bedeutender Leihbibliotheken

199

200

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Trotz einer schichtenmäßigen Durchmischung des Publikums der Leihbibliotheken des Kaiserreichs konnte Martino feststellen, dass für die Benutzung derselben bestimmte gesellschaft­liche Gruppen ausschlaggebend waren, der Mittelstand, Beschäftigungslose, pensionierte Beamte und Frauen.23 Die Berücksichtigung des Leihbibliothekspublikums ist für die Einschätzung von Emmi Lewalds Lesepublikums relevant, da mit Sicherheit ein nicht unerheb­ licher Teil ihrer Werkauflagen die Leserschaft über die Leihbibliotheken erreichte. Zu den Leihbibliotheken, in denen heute Werke von Emmi Lewald nachzuweisen sind, gehören die Landesbibliothek Oldenburg, die Staatsbibliothek zu Berlin 24, die Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt (Halle) und die Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern (Schwerin). Bei der Betrachtung ihrer von der Großherzog­lichen Öffent­lichen Bibliothek des Großherzogtums Oldenburg in den Katalog aufgenommenen Werke fällt auf, dass das Oeuvre keineswegs vollständig angeschafft wurde, sondern der thematische Bezug zu der Region Oldenburg eine Rolle spielte. Zum einen sind alle von der S ­ chulzeschen Hofbuchhandlung (Oldenburg) verlegten Bücher vertreten, zum anderen mit Unsre lieben Lieutenants, Unter den Blutbuchen und Heinrich von Gristede solche Werke, die sich inhalt­lich auf die Stadt und ihre Umgebung beziehen. Die beiden Gedichtbände Der Cantor von Orlamünde und Gedichte, Neue Folge wurden doppelt angeschafft. Offensicht­lich stand bei den Oldenburger Lesern dieser lokale Bezug ihrer Werke im Vordergrund, was mit der Tatsache korrespondiert, dass sie in den Volkskalendern und regionalen Literaturgeschichten ihrer Herkunft nach als oldenburgische (Heimat-) Dichterin tradiert wurde.

in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Tschechien, Italien, Ungarn u. a. Dieselben Autoren waren auch die Spitzenreiter der kleineren Leihinstitute und der Arbeiterbibliotheken. Die ersten zehn der meistgelesenen Autoren schöner Literatur sozialdemokratischer und freigewerkschaft­ licher Bibliotheken zwischen 1908 und 1914 waren Friedrich Gerstäcker, Émile Zola, Ludwig Ganghofer, Clara Viebig, Maxim Gorki, Jules Verne, Charles Dickens, Alexandre Dumas, Paul Heyse und Marie von Ebner-Eschenbach. Vgl. Tabelle 38. Die meistgelesenen Autoren Schöner Literatur (Bestände und Entleihungen): Sozialdemokratische und freigewerkschaft­liche Bibliotheken 1908 – 1914. Ebd., S. 543. 23 Insgesamt wird der Anteil der Leihbibliotheksabonnenten an der Stadtbevölkerung nur auf 2 bis 6 % geschätzt; dieselben stellten jedoch 85 – 90 % des gesamten literarischen Publikums dar. Vgl. ebd., S. 657 ff. 24 Zwischen 1701 und 1918 trug die Staatsbibliothek den Namen „König­liche Bibliothek zu Berlin“, nach 1918 wurde sie zur „Preußische[n] Staatsbibliothek“. Das Institut stellte um 1900 nach Bestand und Nutzung mit 1,2 Millionen Bänden die größte nutzungsfähige Bibliothek des deutschen Sprachraums dar.

Über Emmi Lewalds Lesepublikum

Emmi Lewalds Werke in der Landesbibliothek Oldenburg  25 Jahr

Titel

Verlag

1888

Unsre lieben Lieutenants

Rauert & Rocco, Leipzig

1889

Der Kantor von Orlamünde

Schwartz, HBH Oldenburg

1893, 2. Auflage

Der Cantor von Orlamünde

Schwartz, HBH Oldenburg

1894

Gedichte

Schwartz, HBH Oldenburg

1894

Die Geschichte eines Lächelns

Duncker, Berlin

1897

Italienische Landschaftsbilder

Schwartz, HBH Oldenburg

1901

Gedichte. Neue Folge

Schwartz, HBH Oldenburg

1901, 2. Exemplar

Gedichte. Neue Folge

Schwartz, HBH Oldenburg

1915

Unter den Blutbuchen

Scherl, Berlin

1934

Heinrich von Gristede

Meyer, HBH, Detmold

Die Weimarer Republik Die Buchproduktion und Lesegeschichte nach der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war durch die Fortführung und Intensivierung der Modernisierungs- und Technisierungstendenzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt. Das Phänomen der Massenproduktion von Literatur war nun gegeben, eine Unterhaltungsindustrie etabliert und insofern in der Herstellung unterhaltender Druckerzeugnisse noch konkurrenzlos, als Medien wie Radio, Kino und Fernsehen erst in ihrer Entwicklungsphase standen. Mit der Verbilligung des Lesestoffs und dem Lektüreangebot öffent­licher Institutionen wie Leihbibliotheken und Lesehallen fiel zunehmend die finanziell-ökonomische Hemmung für die Konsumtion von Literatur weg, während die Alphabetisierungsrate annähernd hundert Prozent erreichte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Buchproduktion in den 1920er Jahren wegen der Inflation und der Wirtschaftskrise massive Produktions- und Umsatzeinbrüche zu verzeichnen.26 Die veränderten politischen, ökonomischen und gesellschaft­lichen Bedingungen der Weimarer Republik ließen die gesellschaft­liche Formation des Bildungsbürgertums seine gesellschaft­liche und kulturelle Prägekraft weitgehend einbüßen, sodass sie in ihrer alten Form zu existieren aufhörte. Damit verschwand auch die relativ geschlossene Buch- und Lesekultur der privilegierten Gesellschaftsschichten

25 Vgl. den Zettelkatalog der Landesbibliothek Oldenburg, seit 1847 offiziell „Öffent­liche Biblio­thek zu Oldenburg“. 26 Vgl. Ernst Fischer / Stephan Füssel: Kultur und Gesellschaft. Signaturen einer Epoche. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 2.: Die Weimarer Republik 1918 – 1933, Teil 1. Hg. von Ernst Fischer und Stephan Füssel. München 2007, S. 5 – 28.

201

202

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

des bürger­lichen Zeitalters und machte einer zunehmend differenzierteren und wenig überschaubaren Literaturlandschaft Platz. Emmi Lewalds Lesepublikum – Eine Einschätzung Die Ergebnisse des Abschnitts lassen, in Verbindung mit den Erkenntnissen über das Publikum der Unterhaltungs- und Romanzeitschriften sowie der Buchverlage, in denen Emmi Lewalds Werke publiziert wurden, eine Einschätzung ihres Lesepublikums zu. Der Blick auf die Leihbibliotheken hat ergeben, dass Emmi Lewalds Werke über diese Institution charakteristischerweise ein breites Lesepubli­ kum erreichten, das sich aus allen Gesellschaftsschichten zusammensetzte. Aus der Untersuchung des Zeitschriftenspektrums ging dagegen hervor, dass Emmi Lewald mit ihren Publikationen in den gehobenen Roman- und Unterhaltungszeitschriften wie „Über Land und Meer“, „Vom Fels zum Meer“, „Velhagen & Klasings Monatshefte“ sowie in der „Deutschen Roman-Bibliothek“ und der „Deutschen Romanzeitung“ die wichtigste Zielgruppe dieser Periodika, das kaufkräftige, gebildete Bürgertum erreichte.27 Periodika wie Scherls „Die Woche“, die „Gartenlaube“ oder „Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek“ sprachen vom Preis und von der Ausstattung dagegen auch ein Massenpublikum an, das Kleinbürgertum und Arbeiterschaft potenziell mit einschloss. Obwohl der Konzeption all dieser Familien- und Unterhaltungszeitschriften nach sämt­liche lesenden Familienmitglieder als Zielgruppe galten, kann davon ausgegangen werden, dass die Frauen und vor allem die Gruppe der bürger­lichen Frauen einen beacht­lichen Anteil der Leserschaft ausmachten. Dies gilt sowohl für Leserinnen, die sich in der bürger­lichen Frauenbewegung engagierten oder das vielfältige Vereins- und Kulturangebot im städtischen Raum nutzten, als auch für Frauen, deren Lebensalltag von den Ideen der Frauenbewegung noch wenig verändert worden war. Während die zahlreichen Romanzeitungen und ‚Damenzeitungen‘ wie der „Bazar“ sich mit allgemeinem Unterhaltungsanspruch an alle Frauen richteten, wandten sich Helene Langes Monatsschrift „Die Frau“ und die „Illustrierte Frauen-Zeitung“ sowohl an engagierte als auch an nicht engagierte bürger­liche Frauen, um sie über die Frauenrechtsthema­ tik zu informieren, ein Problembewusstsein zu schaffen und Lösungsansätze vorzustellen. Das Mitteilungsblatt „Deutscher Lyceum-Club“ richtete sich dagegen hauptsäch­lich an die gebildeten und wohlhabenden Mitglieder des Lyceum-Clubs, wobei die Rezeption durch einen größeren Kreis gebildeter und engagierter Frauen auch hier anzunehmen ist.

27 Vgl. Schön: Geschichte des Lesens, S. 51.

Über Emmi Lewalds Lesepublikum

Exkurs III: Preise für Belletristik Die Titelproduktion im belletristischen Bereich, dem Emmi Lewalds Werke zugeordnet sind, erfuhr um die Jahrhundertwende einen entscheidenden Aufschwung. Lag ihr prozentualer Anteil an der gesamten Buchproduktion des Reichs 1871 mit 950 Neuerscheinungen noch bei 9,0 %, stieg die Produktion bis 1890 auf 1.207 Titel an.28 Zwischen 1897 und 1900 betrug die Zahl der jähr­lichen Neuerscheinungen etwa 3.000 Titel, die Zahl erhöhte sich bis 1905 noch einmal auf 4.331 Titel. Nachdem die Zahl der Neuerscheinungen bis 1910 etwa konstant geblieben war, erlebte der belletristische Bereich vor Kriegsbeginn einen erneuten Aufschwung und konnte 1913 schließ­lich mit 5.319 neuen Publikationen einen Anteil von 15 % an der Gesamtproduktion verzeichnen. Die Ursachen dieser Entwicklung finden sich in den sinkenden Kosten für die Buchherstellung, die dazu führte, dass die Leihbibliotheken als Hauptabnehmer der belletristischen Produktion ihre Bedeutung einbüßten und das Publikum seine Bücher zunehmend privat beziehen konnte. Dennoch muss angenommen werden, dass ein Großteil der Leser den Zugang zu Emmi Lewalds Werken über die Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre fand. Insbesondere für die Unterschichten blieben der Buchkauf und das Abonnement in einer Leihbibliothek auch im deutschen Kaiserreich unerschwing­lich.29 Der Überblick über die Preise ihrer Romane, Novellensammlungen und Gedichtbände lässt angesichts der zeitgenössischen Lohnverhältnisse den Schluss zu, dass der Preis und die Ausstattung der Bände auf die gebildete und wohlhabende bürger­liche Ober- und Mittelschicht zugeschnitten waren, die bereits als Zielgruppe und Kern ihres Lesepublikums ausgemacht wurde.30

28 Vgl. die Zahlen bei Kastner: Statistik und Topographie des Verlagswesens, S.  315 f. 29 Vgl. auch Estermann / Füssel: Belletristische Verlage, S. 165. 30 Arbeiter in Industrie und Handwerk verdienten im Jahr 1894 durchschnitt­lich 732 Mark, 1905 928 Mark (Reallohn 755 Mark) und 1913 1.163 Mark (Reallohn 834 Mark). Vgl. die durchschnitt­lichen jähr­lichen Arbeitseinkommen in Industrie und Handwerk bei Wehler, Gesellschaftsgeschichte Bd. 3, S. 591 und 606. Dazu im Vergleich verdienten Beamte in Preußen 1905: Lokomotivführer 1.200 – 2.200 Mark, ministeriale Bürobeamte 3.000 – 6.000 Mark, Landräte 3.600 – 6.600 Mark, Regierungspräsi­ denten 12.000 Mark, Vortragende Räte 7.500 – 11.000 Mark, Oberpräsidenten 21.000 Mark. Vgl. Petersilie: Die Beamtengehälter in Preußen, S. 620.

203

204

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Bücherpreise Emmi Lewald  31

Preis Seiten broschiert

Preis gebunden**

Jahr

Titel*

Verlag

1888

Unsre lieben Lieutenants (SK)

Rauert & Rocco 159

2M

3,50 M

1889

Der Cantor von Orlamünde (L)

Schwartz HBH

110

1,60 M

2,50 M

1891

Ernstes und Heiteres (N) Mauke

161

1,80 M



1892

Auf diskreten Wegen (N) Braams

27

0,75 M



1894

Gedichte (L)

Schwartz HBH

151

2M

3M

1894

Die Geschichte eines Lächelns (N)

Duncker

129

2M



1894

Fräulein Kunigunde (N)

DSG

102

1M



1896

Sein Ich (R)

Fontane

236

3M



1897

Italienische Landschaftsbilder (SK)

Schwartz HBH

181

3M

4M

1897

Kinder der Zeit (N)

Fontane

309

2M



1898

In blauer Ferne (N)

Fontane

255

3M

4,50 M

1899

Gefühlsklippen (N)

Fontane

241

3M

4M

1900

Das Glück der Hammerfelds (R)

Hillger

128

0,20 M



1901

Mut zum Glück (R)

Müller-Mann

135

1M



1901

Gedichte – Neue Folge (L)

Schwartz HBH

95

1,60 M

2,50 M

1904

Das Schicksalsbuch (N)

Fontane

295

3M

4M

1904

Sylvia (R)

DVA

336

3,50 M

4,50 M

1906

Die Heiratsfrage (SK)

DVA

301

3M

4M

1907

Der Lebensretter (R)

DVA

214

2M

3M

1908

Das Hausbrot des Lebens (R)

Fontane

443

5M

6,50 M

1911

Der Magnetberg (R)

Stilke

443

Lw. 5 M 4M Wohlfeile Ausgabe 1911: 2,50 M

31 Als Quellen dienten die Angaben aus den verfügbaren Publikationen und die Angaben in den Gesamtverzeichnissen des deutschen Schrifttums. Vgl. Hilmar Schmuck / Willi Gorzny (Bearb.): Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) 1700 – 1910. Bd. 88 u. 119. München u. a. 1983 und Reinhard Overschelp: Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) 1911 – 1965. Bd. 80 u. Bd. 108. München 1978.

Über Emmi Lewalds Lesepublikum

Jahr

Titel*

Verlag

Preis Seiten broschiert

Preis gebunden**

1912

Die Rose vor der Tür (R)

Stilke

194

2,50 M

Lw. 3,50 M

1912

Die Wehrlosen (R)

Stilke

192

2M

Lw. 3 M

1912

Stille Wasser (N)

Engelhorn

160

0,50 M

Lw. 0,75 M

1914

Der wunde Punkt (N)

Stilke

160

2M

Lw. 3 M

1914

Excelsior! (R)

Goldschmidt

356

4M

Lw. 5 M

1915

Unter den Blutbuchen (R)

Scherl

376

4 M, erh. Pr. 22 M (Aufl. 1918)

geb. 6 M, erh. Pr. 30 M (Aufl. 1918)

1917

Die Erzieherin (R)

Hillger

Verm. 0,20 M



Stilke

1919

In jenen Jahren (N)

200

4M



1920

Die Frau von gestern (R) Stilke

221



4M

1922

Das Fräulein von Güldenfeld (R)

Scherl

199



Hlw. 2 M

1924

Lethe (R)

M. Seyfert

267

3,50 M

Lw. 5,50 M

1929

Das Fräulein aus der Stadt (R)

Scherl

224



Lw. 2 M

1934

Heinrich von Gristede (R)

Meyer HBH

324



Lw. 3 M

1935

Büro Wahn (R)

Meyer HBH

223



Lw. 3 M

* (Gattung: R=Roman, L=Lyrik, N=Novellen, SK =Skizzen) ** (Lw= Leinwand, Hlw= Halbleinwand)

205

206

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

3.3

Rezeption II: Emmi Lewald in der Literaturkritik

Anders als die Erforschung von Emmi Lewalds Lesepublikum kann die Untersuchung ihrer Rezeption durch die Literaturkritik und die Literaturgeschichtsschreibung Aufschluss über zeitgenössische Wertungsprozesse geben. Über den journalistischen Litera­ turkritiker lassen sich detailliertere Aussagen machen als über das Lesepublikum, da er durch seine Mitarbeit bei einem Presseorgan in die institutionalisierte literarische Kommu­nikation eingebunden war und bestimmte kulturelle und künstlerische Präferenzen vertrat. Auf diese Weise hatte er eine „repräsentative Funktion für die Meinung eines jeweils bestimmbaren Teils der Öffent­lichkeit.“1 Der Literaturkritiker als Primärrezensent und professioneller Leser urteilte nicht nur über das Werk als ästhetisches Objekt und legte fest, in welchem Maß es die Forderungen der literarischen Entwicklung erfüllte, sondern beeinflusste auch den langfristigen Rezeptionsprozess.2 Die Literaturkritik bildete die Schnittstelle zwischen zeitgenössischer Literaturbewertung und der Tradierung von Autoren und Werken in der Literaturgeschichtsschreibung – eine Rezeptionskette, die sich besonders nachteilig auf die Tradierung der Literatur von Frauen auswirkte. In der deutschen Literaturkritik hatte sich bereits vor Beginn von Emmi Lewalds Publikationszeitraum 1888 ein nachhaltiger Generations- und Stilwechsel vollzogen. Das liberale Modell räsonierender Literaturkritik des Nachmärz hatte zunehmend den Anschluss an die veränderten Bedingungen des Buch- und Zeitschriftenmarkts verloren und um 1870 zeichneten sich in der Institution zwei unterschied­liche Richtungen ab: „Im Bereich der Presse tr[a]t die Literaturkritik in den Bereich des Feuilletons und w[urde] von dort her formal wie inhalt­lich geprägt. Als räsonierende Kritik tr[a]t sie in den Bereich der Universität und schlo[ss] sich dem wissenschaft­lichen Diskurs an.“3 Die journalistische Literaturkritik wiederum, in der sich Emmi Lewalds Rezeption ausschließ­lich vollzog, erlebte in der Zeit zwischen 1890 und 1933 eine rasche Aufeinanderfolge und Überlappung literaturkritischer Stile und Modelle, die dem vielförmigen Spektrum literarischer Stile und Schulen der Zeit entsprach.4 Während einzelne Gruppen von Autoren, Kritikern und Organen sich der Förderung oder Bekämpfung literarischer Stilprinzipen verpf­lichteten, entwickelte sich die Massenpresse für ein heterogenes 1 Luise Berg-Ehlers: Theodor Fontane und die Literaturkritik. Zur Rezeption eines Autors in der zeitgenössischen konservativen und liberalen Berliner Tagespresse. Bochum 1990, S. 3. 2 Ebd. 3 Peter Uwe Hohendahl: Literaturkritik in der Epoche des Liberalismus (1820 – 1870). In: Geschichte der deutschsprachigen Literaturkritik (1730 – 1980). Hg. von Peter Uwe Hohendahl. Stuttgart 1985, S. 129 – 204, S. 204. 4 Vgl. Russel A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933. In: Geschichte der deutschsprachigen Literaturkritik (1730 – 1980). Hg. von Peter Uwe Hohendahl. Stuttgart 1985, S. 205 – 274. Russel A. Berman: Literarische Öffent­lichkeit. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 8: Jahrhundertwende. Vom Naturalismus zum Expressionismus 1880 – 1918. Hg. von Frank Trommler. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 69 – 85.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

Publikum zu einem wichtigen Schauplatz der Literaturkritik. Darüber hinaus bildeten sich drei Hauptrichtungen der ideologischen Literaturkritik heraus, die sozialdemokratische, die völkische und die konfessionelle Literaturkritik.5 Die literaturkritische Urteilsbildung vollzog sich demnach in einem breiten Spektrum kritischer Modelle zwischen einer der klassischen Ästhetik verpf­lichteten akademischen Literaturkritik, ideologischen Positionen und einer marktangepassten literarischen Berichterstattung. Die Literaturkritik des Realismus Vor der Jahrhundertwende lassen sich neben Besprechungen von Emmi Lewalds Werken in den Feuilletons der Tagespresse und der bürger­lichen Unterhaltungszeitschriften auch Rezensionen in der älteren Kulturzeitschrift „Blätter für literarische Unterhaltung“6 nachweisen, die noch der realistischen Position des Nachmärz verpf­lichtet war.7 Die Literaturkritiker des renommierten Literaturmagazins besprachen ab ihrer zweiten Publikation Der Cantor von Orlamünde (1889) sämt­liche Werke der Autorin bis zur Einstellung des Blattes 1898. Die „Blätter für literarische Unterhaltung“ erschienen seit 1826 bei Brockhaus in Leipzig und wurden in der Zeit des litera­rischen Realismus nach 1848/49 unter anderem von Rudolf von Gottschall (bis 1888), Friedrich Bienemann (bis 1892) und Karl Heinemann redaktionell betreut. Zu dieser Zeit fungierte die Literaturkritik als ein wichtiges Medium der bildungsbürger­lichen Selbstvergewisserung und stand in steter Wechselwirkung mit den Bildungsvorstellungen des Bürgertums.8 Im Zentrum der realistischen Position, die meinungsführend von Gustav Freytag und Julian Schmidt in „Die Grenzboten“ 5 Unter dem Oberbegriff der „ideologischen Literaturkritik“ werden literatur­kritische Positionen zusammengefasst, deren Werturteile nicht in erster Linie an literaturästhetischen Gesichtspunkten orientiert sind, sondern auf einem politischen Welt-, Gesellschafts- oder Menschenbild beruhen. Vgl. Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne. In: Litera­turkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. von Thomas Anz und Rainer Baasner. 2. Aufl. München 2007, S. 94 – 113. S. 106 ff. 6 Die „Blätter für literarische Unterhaltung“ erschienen bei Brockhaus in Leipzig zwischen 1826 – 1898. Das Blatt ging aus dem „Literarischen Wochenblatt“ hervor, das August Friedrich Kotzebue 1818 gegründet hatte. Nach Kotzebues Tod erwarb der Leipziger Verleger Friedrich Arnold B ­ rockhaus das Organ und konnte es ab 1826 unter neuem Namen regelmäßig, zunächst täg­lich, ab 1853 wöchent­lich, publizieren. Der Inhalt der Zeitschrift bestand aus biografischen Artikeln, Rezensionen, Zusammenfassungen ‚interessanter‘ Zeitungsbeiträge, auch aus ausländischen Zeitschriften und behandelte Themen aus Theater, Kulturpolitik und bildender Kunst. Vgl. http://www.haraldfischerverlag.de/ hfv/KLP/klp17.php (Zugriff am 02.06.2010). 7 Vgl. zu den Zeitungen und Zeitschriften allgemein: Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften 1885 – 1910. Stuttgart 1961. Ders.: Literarische Zeitschriften. Teil 2: 1910 – 1933. Stuttgart 1962; Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen; Sibylle Obenaus: Literarische und politische Zeitschriften 1848 – 1880. Stuttgart 1987. 8 Vgl. Maria Zens: Literaturkritik in der Zeit des Realismus. In: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. von Thomas Anz, Rainer Baasner. 2. Aufl. München 2007, S. 79 – 91. S. 85 ff.

207

208

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

und Robert Prutz im „Deutschen Museum“ vertreten wurde, stand die Verteidigung einer programma­tischen Ästhetik, die es der Literaturkritik erlaubte, als „Kunstwächterin“ aufzutreten.9 Die Wertungskriterien schlossen die Anerkennung von politischer Tendenzliteratur und jeder Art von abweichenden ästhetischen Experimenten von vornherein aus. Der Bezug auf die Wirk­lichkeit soll ein positiver sein, deshalb können sich auch die Formen der Literatur nicht als Antithese bilden, sondern müssen einen Kanon konkreter Anforderungen stellen. Der literarische Wirk­lichkeitsbezug soll dabei einen sozialethisch motivierten Ordnungsimpuls geben. Das Schöne im Wirk­lichen aufzusuchen und im Kunstwerk zu bergen behauptet mit der ästhetischen Geschlossenheit und Sicherheit – zunächst im fiktio­ nalen Weltentwurf des Textes, darüber hinaus aber auch in der historischen Lebenswelt.10

Der Einfluss der realistischen Programmatik lebte über die Reichsgründung hinaus in der „realidealistischen Position“11 in meinungsbildenden Organen wie den „Blättern für literarische Unterhaltung“, Julius Rodenbergs „Deutsche Rundschau“, Otto Jankes „Deutsche Roman-Zeitung“ sowie der Unterhaltungszeitschrift „Westermann’s illus­ trierte deutsche Monatshefte“ fort. Feuilletonismus und Massenpresse In Ablehnung stereotyper Kategorien, theoretischer Sprache sowie eines konservativen Umgangs mit Ästhetik entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Modell einer subjektivistischen Literaturkritik. Diese kritische Position, von konservativen Kritikern zunächst abwertend als ‚Feuilletonismus‘ bezeichnet, entsprach dem Bedürfnis der Kritiker, […] eigene Empfindungen und Reaktionen voranzustellen, ohne irgendwie für sie Allgemeingültigkeit zu behaupten. Die Eindrücke des Kritikers wurden registriert, und die Kriti­ker schienen danach als Person im kritischen Text. Zugleich bedurfte die Beschreibung dieser konkreten Eindrücke einer sinn­licheren Sprache, die durch einen Bildungsreichtum charakterisiert war, der im älteren Diskurs völlig fehlte.12

An die Stelle tradierter poetischer Ansprüche trat eine Form der literarischen Berichterstattung, die es dem Kritiker erlaubte, sich im journalistischen Stil mit sinn­licher Sprache und ohne systematische Vorgaben oder thematische Eingrenzung seinem 9 Zens übernimmt den Begriff der „Kunstwächterin“ von Julian Schmidt, der ihn im 1. Bd. seiner Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert (1856) verwendet. Ebd., S. 81. 10 Ebd., S. 82. 11 Ebd., S. 85. 12 Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, S. 210.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

Gegenstand zu nähern, einem Stil, mit dem das heterogene Zeitungspublikum besser zu erreichen war als mit wissenschaft­licher Schreibart. Die typischen Vertreter des Feuilletonismus hatten ihr Handwerk im Ausland gelernt: Paul Lindau (1839 – 1919) etwa hatte seine Karriere als Kritiker in den 1860er Jahren in Paris begonnen und die Kunst der „Plauderhaftigkeit“13 von Jules Janin gelernt. Theodor Fontane dagegen kam mit dem Feuilletonstil der „Times“ während seiner Aufenthalte in London zwischen 1852 und 1859 in Berührung. Kritiker des Feuilletonstils sahen in der Öffnung für die unsystematische Wiedergabe subjektiver und vielfältiger Eindrücke die Gefahr des Verlusts kritischer Schärfe und der Degeneration der Literaturkritik zur reinen Literaturbetrachtung.14 Tatsäch­ lich publizierten die Zeitschriften Rezensionen von Neuerscheinungen in Rubriken mit Namen wie „Vom Büchertisch“, „Bücherschau“ oder „Literarische Notizen“, die den Leser über die Grenzen zwischen Anzeige und Buchkritik im Unklaren ließen. Infolge der expliziten Theoriefeind­lichkeit des Modells entschied der Kritiker zudem scheinbar intuitiv über die Qualität eines Werks oder einer Aufführung. In den Rezensionen tauchten häufig irrationale Kategorien wie gut-schlecht, richtig-falsch oder krank-gesund auf, ohne dass der Kritiker sich bemühte, sein Urteil argumentativ zu begründen und für den Leser nachvollziehbar zu machen.15 Die Vertreter des Feuilletonismus waren bereit, „die zunehmend zum Kanon verding­ lichten Kulturgüter einer erstarrten Tradition im Namen der eigenen Sensibilität“16 anzugreifen. Hierzu gehörte die Ablehnung der herkömm­lichen ästhetischen Systematik ebenso wie die Bereitschaft, Werken Raum zu geben, die nicht den Kriterien des traditionellen Kanons entsprachen. Bermans Ansicht nach spiegelte sich daher in der „Neustrukturierung der Urteilsbildung […] sozialgeschicht­lich […] die Unterwanderung der Begriffe der altbürger­lich-aristokratischen Kultur im Kontext der rapiden Industrialisierung und gesellschaft­lichen Umwälzungen, die auf die Reichsgründung folgten: die soziale Modernisierung konnte kaum eine Vorherrschaft epigonaler kultu­ reller Formen tolerieren.“17 Einen wesent­lichen Anteil am Gestaltwandel der Literaturkritik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die von den gesellschaft­lichen Modernisierungsprozessen hervorgerufene Veränderung ihres Adressatenkreises. An die Stelle von räsonierenden bürger­lichen Literaturinteressierten, die den Diskurs über literarische 13 Paul Lindau leitete zwischen 1871 und 1881 die Wochenschrift „Die Gegenwart“ und 1878 – 1904 die Monatsschrift „Nord und Süd“. In den Periodika waren zahlreiche bekannte Gegenwartsautoren wie Theodor Fontane, Paul Heyse, Gottfried Keller, Berthold Auerbach und Karl Gutzkow vertreten. Ebd., S. 210. 14 Vgl. Zens: Literaturkritik in der Zeit des Realismus, S. 90 f. 15 Vgl. ebd., S. 82 f. und Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, S. 213. 16 Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, S. 211. 17 Ebd., S. 211.

209

210

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Gegenstände als wichtigen Bestandteil ihres Habitus pflegten, trat ein heterogenes Massenpublikum, das nach aktuellen, unterhaltsamen und polemischen Literaturkritiken verlangte.18 Diese Nachfrage führte seit den 1890er Jahren zu einer Dominanz der an die Erfordernisse der kommerziellen Massenpresse angepassten Literaturkritik. Die Kommerzialisierung der Literaturkritik zeigte sich besonders anschau­lich an der florierenden Theaterkritik der theaterbegeisterten Reichshauptstadt Berlin um 1900. Erfolg beim heterogenen Zeitungspublikum konnten die unterhaltsamen und polemischen Richtungen vorweisen: der Feuilletonismus in der Nachfolge Fontanes, die Kritiken Theodor Wolffs, Fritz Mauthners, Paul Schlenthers sowie die ästhetisch-subjektiven Besprechungen Alfred Kerrs.19 Insbesondere die Theaterkritiker der großen Tageszeitungen – „Berliner Tageblatt“, „Nation“, „Täg­liche Rundschau“, „Tag“ oder „Berliner Börsencourier“ – führten einen Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums und übten großen Einfluss auf die Geschmacks- und Meinungsbildungsprozesse des Theaterlebens aus.20 Dieser Wettbewerb, gepaart mit dem Anliegen, das jeweils vertretene literaturkritische Modell zu profilieren, steigerte die Bereitschaft der Autoren zu Polemik und Provokation. Es entwickelten sich nicht nur erklärte Protektionen von Autoren, sondern auch erklärte Feindschaften zwischen Autor und Kritiker, etwa im Fall Alfred Kerrs und Hermann Sudermanns.21 Der großenteils kommerziell motivierte Umgang mit literarischen Texten in Unterhaltungszeitschriften und Tageszeitungen veränderte die Arbeitspraxis der Literaturkri­ ti­ker ebenso wie die der Verleger und Autoren radikal. Der für die periodische Presse arbeitende Literaturkritiker der zweiten Jahrhunderthälfte geriet bei der Beurteilung 18 Vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 103, 19 Theodor Wolff (1868 – 1943), ein Vetter Rudolf Mosses, schrieb Theaterkritiken für das „Berliner Tageblatt“ und war ab 1906 Chefredakteur der Zeitung; Fritz Mauthner (1849 – 1923) gab ab 1899 die Zeitschrift „Deutschland“ heraus; Paul Schlenther (1854 – 1916) war Theaterkritiker und Schriftsteller, ein Befürworter des Naturalismus, der zunächst Theaterkritiker der „Vossischen Zeitung“ war, 1889 die Zeitschrift „Freie Bühne“ gründete und ab 1910 als Theaterkritiker des „Berliner Tageblatts“ arbeitete. 20 Vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 103. 21 Die vernichtenden Rezensionen Alfred Kerrs trugen sicher­lich dazu bei, dass Sudermann, der einst einer der meist gefeierten Bühnenautoren der neuen naturalistischen Literaturströmung war, seinen Ruf im Lauf des deutschen Kaiserreichs weitgehend einbüßte. Ein Brief von Emmi Lewald an den befreundeten Hermann Sudermann aus dem Jahr 1927 zeigt ihre Wahrnehmung dieser fehlenden öffent­lichen Anerkennung. Lewald bringt ihr Bedauern über die negative öffent­liche Aufnahme von Sudermanns Drama Die Lobgesänge des Claudian zum Ausdruck, das am 20.1.1914 am Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt wurde: „Sehr verehrter Freund! […] – Die „Lobgesänge des Claudian“ finde ich so stark und eindrucksvoll, dass ich das Schicksal des Stückes nicht verstehe – Wäre es unter einem Pseudonym erschienen, würde es wol anders gewesen sein! Es ist ein seltsames Schicksal, daß über Ihrem Namen liegt und wirk­lich empörend.“ Brief von Emmi Lewald an Hermann Sudermann vom 5. Januar 1927. Vgl. als Beispiel für Kerrs Rezensionsstil Alfred Kerr: Sudermann: Bis zum „Glück im Winkel“. In: Hans Mayer (Hg.): Deutsche Literaturkritik. Vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik (1889 – 1933). Frankfurt a. M. 1978, S. 78 – 98.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

literarischer Texte zunehmend in den Konflikt zwischen kritischer Autonomie und der Anpassung an Markterfordernisse. Das Interesse der Presseorgane, neue, mög­lichst weite Lesergruppen zu gewinnen, beeinflusste auch die Urteilsbildung der Literaturkritiker, die sich mit einem heterogenen Publikum mit verschiedenen Bildungsniveaus und Literaturbedürfnissen konfrontiert sahen. Während am einen Ende des Spektrums der anspruchsvolle Leser der bürger­lichen Bildungselite stand, erweiterte es sich zusehends um weniger gebildete Leser der kleinbürger­lichen und Arbeiterkreise, deren Literaturbedarf sich vornehm­lich auf den Unterhaltungs- und Ratgeberbereich erstreckte. Das literaturkritische Urteil im Interesse der Verkaufszahlen, daher im Sinne der Großkonzerne, die Buch- und Zeitschriftenproduktion unter einem Dach vereinten, führte bei den Literaturkritikern zu einem „Machtverlust innerhalb des kommerziellen Apparats“22 und zu einem Prestigeverlust des Berufsstands.23 In metakritischen Reflexionen der Zeit nach 1900 – ab 1905 erschien die Zeitschrift „Kritik der Kritik“ – wurden vor allem die fehlenden Qualitätsstandards des literaturkritischen Sektors beklagt. Der von kritischen Zeitgenossen als „Krise der Literaturkritik“24 empfundene Wandel erscheint aus heutiger Sicht als „Prozeß des Gattungs- und Gestaltwandels der Literaturkritik“25. Während die kritischen Texte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts formal und inhalt­lich den gelehrten Rezensionen entsprachen – Fußnoten, wissenschaft­liche Polemik, räum­lich breit angelegt – wurden die Texte um die Jahrhundertwende zunehmend dem Bedarf der Presseorgane angepasst. Rezensionen erschienen in den Feuilletons der Tagespresse oder in Beilagen und waren der journalistischen Routine unterworfen: „Rasches und immer häufigeres Erscheinen; Vorrang des Aktuellen; wenig Raum für wenig gründ­liche Mitteilungen und Werturteile; hastige Mitteilungen an hastige Leser.“26 An die Stelle von Analysen und Werkinterpretationen traten kurze Literaturinterpretationen des Kritikers, an die Stelle der Werkdeutung die Inhaltsangabe. Auf metakritischer Ebene wurde der Weiterverkauf von Büchern an Antiquariate ebenso heftig diskutiert wie die Verwendung der „Waschzettel“27, der von Verlagen den Rezensionsexemplaren beigelegten Werbetexten, die im literaturkritischen Tagesgeschäft häufig die selbst geschriebene Rezension ersetzt haben sollen. Tatsäch­lich war das mangelnde Niveau vieler

22 Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, S. 206. 23 Ebd., S. 206 24 Stellvertretend für diese kritischen Stimmen wird in der Forschung Carl Bleibtreus Artikel „Kritische Krisis“ angeführt, der in der Zeitschrift „Kritik der Kritik“ erschien (1 1905/06, S. 330 – 333). Vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 105. 25 Hans Mayer: Einleitung. In: ders.: Deutsche Literaturkritik. Vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik (1889 – 1933). Frankfurt a. M. 1978, S. 11 – 41. S. 40. 26 Ebd., S. 38. 27 Ferdinand Avenarius: „Waschzettel“. In: Der Kunstwart 20 (1907), H. 24, Bd. 2, S. 667 ff.

211

212

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Besprechungen auf den Aktualitätsdruck, die rasch wachsende Buchproduktion und die niedrigen Honorare der Rezensenten zurückzuführen.28 Die Feuilletons der regionalen und überregionalen Tageszeitungen druckten regelmäßig teils ausführ­liche Besprechungen von Emmi Lewalds Publikationen, so die Oldenburgischen Zeitungen „Nachrichten für Stadt und Land“ und „Oldenburger Zeitung“, die Berliner Organe „Berliner Tageblatt“, „Vossische Zeitung“, „Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung“ und „Berliner Neuste Nachrichten“ sowie weitere meinungsbildende überregionale Zeitungen wie das „Dresdener Journal“, die „Leipziger Zeitung“, das „Prager Tageblatt“, die „Täg­liche Rundschau“, die „Kölnische Zeitung“ und das „Wiener Tageblatt“. Diese Zeitungen repräsentierten ideologisch das konservative bis liberale Spektrum des Bürgertums in der Presselandschaft des deutschen Kaiserreichs.29 Ähn­lich verhält es sich im Bereich der Familien- und Unterhaltungszeitschriften, wo sich das Spektrum der rezensierenden Organe mit Emmi Lewalds Publikationsorten deckt, wodurch folg­lich die Adressaten der Literaturkritik mit dem Lesepublikum der Autorin übereinstimmen. Es finden sich sporadisch Buchbesprechungen in der „Deutschen Roman-Zeitung“, in dem Familienblatt „Westermanns Illustrierte deutsche Monatshefte“ sowie in den exklusiven Unterhaltungszeitschriften „Vom Fels zum Meer“ und „Velhagen & Klasings Monatshefte“. Literatur- und Kulturzeitschriften Von der Literaturkritik der Massenpresse setzten sich neben Vertretern der älteren Kritikergeneration eine Reihe von Literatur- und Kulturzeitschriften ab, die Wert auf eine qualitativ hochwertige Literaturkritik legten: die von Julius Rodenberg herausgegebene „Deutsche Rundschau“, die „Süddeutschen Monatshefte“ und die „Preußischen Jahrbücher“ sowie die 1890 von Samuel Fischer gegründete „Neue Rundschau“, die von Siegfried Jacobsohn geführte Theaterzeitschrift „Die Schaubühne“ und das 1898 von Josef Ettlinger gegründete Blatt „Das literarische Echo“.30 In der ab 1898 28 Während Kritiker nur ein Zeilenhonorar von 10 – 15 Pfennig erhielten, verdienten Feuilletonisten 20 – 25 Pfennig für ihre sogenannten „Plaudereien“. Hochgerechnet auf den gängigen Umfang einer Rezension, der bei 50 Zeilen lag, waren daher mit einer Rezension 5 Reichsmark oder weniger, mit einem Feuilletonbeitrag dagegen 15 bis 30 Reichsmark zu verdienen. Pfohlmann stützt sich bei seinen Angaben auf das Börsenblatt des deutschen Buchhandels von 1914. Vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 105. 29 Da die Rezeption durch die Tagespresse für diese Arbeit nicht systematisch recherchiert wurde, werden nur einzelne Besprechungen aus dem Bereich ergänzend zu den Kritiken der Literatur- und Kulturzeitschriften analysiert. 30 Die „Neue Rundschau“ wurde 1890 von dem Verleger Samuel Fischer und dem Theaterkritiker Otto Brahm als „Freie Bühne für modernes Leben“ gegründet und sollte besonders dem Naturalismus eine Plattform bieten, war aber nicht auf eine Kunstrichtung festgelegt. Mehrfach umbenannt, erhielt die Zeitschrift 1904 den Namen „Neue Rundschau“ und wurde ein etabliertes Forum für moderne Litera­ tur und Essayistik. Die „Schaubühne“ wurde 1905 zunächst als reine Theaterzeitschrift von Siegfried

Emmi Lewald in der Literaturkritik

von Fontane & Co., später von der Deutschen Verlags-Anstalt herausgegebenen Zeitschrift „Das literarische Echo“, die unter der Leitung des Literaturhistorikers Josef Ettlinger stand, erschienen mehrere Rezensionen von Emmi Lewalds Werken. „Das literarische Echo“ war die „führende literarische Informationszeitschrift“31 seiner Zeit und konnte in seinem großen Mitarbeiterkreis bekannte zeitgenössische Schriftsteller und Gelehrte vorweisen. Vereinzelte Rezensionen von Emmi Lewalds Büchern erschienen außerdem in „Die schöne Literatur“, einem „reinen Besprechungsblatt, das bis 1922 überwiegend nach Gattungen geordnete Sammelbesprechungen bot […], daneben selten ausführ­liche Anzeigen bzw. literarische Aufsätze, regelmäßig umfassende Zeitschriftenschau und literarische Mitteilungen“.32 Sowohl das niveauvolle Blatt „Die Schöne Literatur“ als auch „Das literarische Echo“ gehörten zu den literarischen Informationsblättern mit neutraler Haltung und sollten der objektiven literarischen Information dienen.33 Eine Besprechung ihrer Werke in Julius Rodenbergs renommierter Literaturzeitschrift „Deutsche Rundschau“ konnte Emmi Lewald nicht erreichen; dort wurden ihre Bücher ledig­lich sporadisch in die Liste der Neuerscheinungen aufgenommen. Des Weiteren sind Besprechungen aus der allgemeinen Rundschauzeitschrift „Deutsche Revue“34 bekannt, aus dem Monatsblatt „Neue literarische Blätter“, das sich für moderne Literatur stark machte 35, dem „Deutschen Dichterheim“, aus der Wochenschrift für Literatur und Kunst „Die Gesellschaft“, die sich naturalistischen

Jacobsohn gegründet und 1918 zu einer Wochenzeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft mit dem Titel „Die Weltbühne“ umgewandelt. „Das literarische Echo“ war ein reines Rezensions- und Referats­organ mit Presseschau und wurde seit 1910 von Ernst Heilborn herausgegeben. Die Aufzählung stammt von Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 105 f. 31 Schlawe: Literarische Zeitschriften 1885 – 1910, S. 43. 32 „Die schöne Literatur“ war eine Beilage zum „Literarischen Centralblatt für Deutschland“, das 1900 – 1930 im Verlag von Eduard Avenarius in Leipzig erschien und von Eduard Zarncke herausgegeben wurde. Vgl. Ebd., S. 44. 33 Ebd., S. 38. 34 Die „Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart“ erschien zwischen 1876 und 1922 zunächst in einem Breslauer Verlag, ab 1894 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart, und wurde von Richard Fleischer herausgegeben. Die Monatsschrift nationalliberal-bürger­ licher Haltung gehörte zur Sparte der allgemeinen Kulturzeitschriften und enthielt Berichte und Aufsätze zu verschiedenen Bereichen der Wissenschaft, des öffent­lichen Lebens und der Literatur. Vgl. Schlawe: Literarische Zeitschriften 1885 – 1910, S. 13. 35 „Neue Literarische Blätter. Zeitschrift für Freunde zeitgenössischer Literatur und Monatsblatt der literarischen Gesellschaft Psychodrama“ erschien zwischen 1892 und 1897 in verschiedenen Verlagen, zunächst unter Franziskus Hähnels Herausgeberschaft in J. Küthmanns Buchhandlung in Bremen. Die Ausgaben enthielten Originalbeiträge und „Arbeiten über zeitgenössische Literatur, neben wenigen Leitartikeln, Aufsätzen, biographischen Skizzen, vor allem Buchbesprechungen, daneben Notizen der Gesellschaft und allgemeine literarische und bibliographische Notizen.“ Schlawe: Literarische Zeitschriften 1885 – 1910, S. 32.

213

214

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Tendenzen verpf­lichtet hatte und als „Organ der Moderne“36 galt, sowie aus den Organen „Heimgarten“, „Jung-Deutschland“ und „Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen“.37 Negativ fiel die Recherche dagegen in den Literaturjournalen „Die Gegenwart“, „Die Bücherwelt“ und „Deutsche Dichtung“ aus. Die akademische Literaturkritik und der Feuilletonismus wurden von Vertretern neuer Literaturströmungen gleichermaßen infrage gestellt. In der Nachfolge der naturalistischen Literaturkritik tauchen um 1900 verschiedene literaturkritische Modelle auf, die im Zusammenhang mit den literarischen Strömungen des Fin de siècle, der Décadence, des Symbolismus sowie des Impressionismus standen und in der Forschung zusammenfassend als impressionistische Literaturkritik bezeichnet werden.38 Die Litera­turkritik drohte „zur bloßen Funktion des jeweiligen Veröffent­lichungsortes bzw. der anvisierten Teilöffent­lichkeit zu degradieren“.39 Diese Feststellung gilt nicht zuletzt für die ideologische Literaturkritik, die in einer bemerkenswerten Vielfalt weltanschau­lich ausgerichteter Rezensionsorgane erschien: Neben der bürger­lichen Literaturkritik entstanden eine sozialdemokratische und eine völkische Literaturkritik, welche in enger Verbindung mit der Heimatkunstbewegung stand, sowie die Literaturkritik der christ­lich orientierten Kulturzeitschriften. Geschlechterdifferenz und Literaturkritik Bevor die Rezeption von Emmi Lewalds Werken durch die Literaturkritik zur Sprache kommt, muss in Anknüpfung an die Bedingungen und gesellschaft­liche Beurteilung weib­licher Autorschaft ein Blick auf die geschlechtsspezifische Rezeption weib­licher Autoren geworfen werden. Der Zusammenhang zwischen weib­licher Autorschaft, litera­turkritischem Werturteil und späterer Tradierung der Schriftstellerinnen des deutschen Kaiserreichs in der Literaturgeschichtsschreibung wird in der Forschungsliteratur zur Geschichte der Literaturkritik im Wesent­lichen ausgespart.40 Dabei ver-

36 „Die Gesellschaft. Monatsschrift für Literatur und Kunst“ wurde von Michael Georg Conrad gegründet und erschien zwischen 1885 bis 1902 in wechselnden Verlagen. Vgl. Berbig: Fontane im literarischen Leben, S.  273 – 277. 37 Vgl. das Quellen- und Literaturverzeichnis 6.3.1. 38 Die impressionistische Literaturkritik kennzeichnet eine neuer­liche Wendung zu Subjektivität und Inner­lichkeit, da die Wiedergabe der während des individuellen Kunsterlebnisses wahrgenommenen Gefühle und Eindrücke wieder wichtiger wurde als die Bewertung literarischer Werke nach einer normativen Poetik oder einer gesellschaft­lich-kulturellen Programmatik. Bei Steinecke (1983), Fliedl (1999) und Pfohlmann (2007). Vgl. Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, S. 99. 39 Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, S. 255. 40 So bei René Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750 – 1950. Bd. 3. Das späte 19. Jahrhundert. Berlin, New York 1977, bei Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730 – 1980). Stuttgart 1985 und bei Thomas Anz / Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. München 2007.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

hinderte gerade die zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen zugrunde liegende Annahme, „daß das Schrifttum der Frau aufgrund ihres Geschlechts in Themenwahl, Form und Stil beschränkt“41 sei, vielerorts eine kritische Anerkennung ihrer Leistung und damit eine spätere Kanonisierung durch die Literaturgeschichtsschreibung. Wie oben bereits beschrieben, spielten im gesellschaft­lichen und literaturkritischen Wertungsprozess Kategorien wie die ideologische Aufwertung der Hausfrauen- und Mutterrolle, die zeitgenössische Vorstellung von männ­lich-genialischem Künstlertum sowie die wertende Rangordnung literarischer Gattungen zentrale Rollen. Wie Brinker-Gabler diagnostiziert, bildete sich mit der wachsenden Zahl der Autorinnen eine Literaturkritik heraus, die sich in ihrem Wertungsprozess auf die ideologischen Geschlechterrollencharaktere berief. Die Methode solcher Kritik besteht darin, den Frauen aufgrund einer hypostasierten weib­ lichen Natur und weib­lichen Bestimmung das Talent zur künstlerischen Betätigung abzusprechen, unter anderem mit der bewährten Taktik, die Mängel einzelner Schriftstellerinnen dem ganzen Geschlecht anzulasten. Hinzu kommt der Vorwurf mangelnder Lebenserfahrung der Frau, was aus moralischen Gründen ausdrück­lich für gut befunden wird und die Frau einzig auf die Sphäre des Häus­lichen verweist.42

Als auffälligstes Merkmal einer geschlechtsspezifischen Literaturkritik macht BrinkerGabler die häufige Wiederholung des Topos vom Geschlechtergegensatz des „AktivSchaffenden-Männ­lichen“ und „Rezeptiv-Empfangenden-Weib­lichen“ aus.43 Auch Kord hat im Kontext ihrer Forschungen zu weib­licher literarischer Anonymität und Pseudonymität darauf hingewiesen, dass Rezensenten der Zeit zum einen vom biolo­ gischen Geschlecht der Autorinnen auf ihr Werk schlossen und einen literarischen Text negativer beurteilten, wenn ihnen das Geschlecht der Verfasserin bekannt war.44 Zum anderen lassen sich zahlreiche Fälle nachweisen, in denen Kritiker vom Thema oder Stil eines Werks auf das biologische bzw. kulturelle Geschlecht der Autorin schlossen in der Annahme, Literatur zeichne sich durch geschlechtsspezifische Merkmale aus. Der Nachweis „männ­licher“ oder „weib­licher Natur“ im Werk einer Autorin konnte demnach dazu führen, dass eine Autorin für ihr ‚männ­liches‘ Schreiben gelobt wurde.45 Anhand der Rezeption der Schriftstellerinnen Marie Eugenie delle Grazie (1864 – 1931) und Elsa Bernstein (1866 – 1949), die Emmi Lewalds Autorengeneration angehörten, demonstriert Kord eindrucksvoll die unterschied­lichen Werturteile der Literaturkritik in Abhängigkeit

41 Kord: Sich einen Namen machen, S. 156. 42 Brinker-Gabler: Die Schriftstellerin in der deutschen Literaturwissenschaft, S. 26. 43 Ebd., S. 22. 44 Ebd., S. 156 f. 45 Ebd., S. 157 ff.

215

216

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

vom angenommenen Geschlecht des Autors.46 Marie Eugenie delle Grazie wurde zunächst aufgrund ihres Vornamenkryptonyms, ‚M. E. delle Grazie‘, und Elsa Bernstein aufgrund ihres männ­lichen Pseudonyms ‚Ernst Rosmer‘ als männ­licher Autor rezipiert. Kritiker, die bei der Rezension von delle Grazies Heldenepos Hermann (1883) von einem männ­lichen Autor ausgingen, lobten „männ­liche“ Merkmale des Werks wie „formelles Geschick, technisches Können, Welt- und Menschenkenntnis, Talent für „männ­liche“ Genres wie Epen, Interesse an ‚maskulinen‘ Themen, patriotische Haßgefühle, und das Genie, das in dem Vergleich mit Homer implizit konstatiert wird […].“47 Kritiker, die von einer Autorin ausgingen, wiesen dagegen auf die Ungewöhn­lichkeit ihres Talents angesichts ihres Geschlechts und ihres Alters hin oder kritisierten „unweib­lich[e]“ Züge des Epos. Im Fall der Dramatikerin Elsa B ­ ernstein flaute nach anfäng­lich begeisterter Aufnahme ihres Erstlingsstücks Dämmerung (1893), das von dem Großkritiker Alfred Kerr gelobt wurde, infolge der Aufdeckung ihres Pseudonyms der Enthusiasmus der Literaturkritik merk­lich ab. Wie die Ergebnisse von Heydebrand und Winko aus dem Vergleich der Rezeption von Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie, Leidensgeschichte eines Mädchens (1895) und Theodor Fontanes Roman Effi Briest (1895) zeigen, führte die geschlechtsspezifische Betrachtungsweise im Tagesgeschäft der Literaturkritik zu ganz bestimmten grundsätz­lichen Wertungen und Verfahrensweisen, die nachhaltig die Kanonchancen von Autorinnen verringerten.48 Die Literatur von Frauen wurde vielerorts in einer gesonderten Sparte für „Frauenliteratur“ angezeigt, was von vornherein eine ‚Abtrennung‘ weib­licher Literatur von einer männ­lichen ‚eigent­lichen‘ Literatur suggerierte. Die Platzierung erlaubte diesen Werken zwar eine Breitenwirkung, verminderte jedoch zugleich ihre Chancen auf Aufnahme in den von Literaturkritik und Literaturwissenschaft gebildeten Literaturkanon.49 Des Weiteren führte Heydebrands Untersuchung zu der Annahme, dass die Literatur von Frauen öfter in Sammelbesprechungen sowie in kurzen Erwähnungen behandelt und häufiger von vornherein den Rubriken der Unterhaltungsliteratur oder der politischen bzw. gesellschaftskritischen Tendenzliteratur zugeordnet wurde. Diese Platzierung begründete zwar ihren großen zeitgenössischen Erfolg, „verhinderte aber vor allem eine gründ­liche, perspektivische Lektüre unter den Prämissen von Kanonwürdigkeit

46 Vgl. Kord: Sich einen Namen machen, S.  158 – 164. 47 Ebd., S. 159. 48 Bei Renate von Heydebrands Beobachtungen handelt es sich um die Ergebnisse ihrer Untersuchung zu Gabriele Reuters Roman. Sie formuliert ihre Erkenntnisse als „[v]orläufige Einsichten und Hypothesen“, da zum Veröffent­lichungszeitpunkt weitere Einzelfallstudien zum Geschlechtsfaktor bei der Rezeption von Autorinnen noch fehlten. Vgl. Heydebrand / Winko: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. 49 Ebd., S. 99.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

oder ‚Modernität‘: Innovatives im Inhalt wie in der Technik wird nicht rezipiert.“50 Inhalt­lich stellten für die literarischen Texte von Frauen scheinbar zeitbezogene Thema­tiken ein Kanonisierungshindernis dar, während Literaturkritiker sie in Texten ihrer männ­lichen Kollegen „eher als modellhaft und universalisierbar“51 bewerteten. Heydebrand macht in diesem Zusammenhang vor allem die literarische Thematisierung der weib­lichen „Subjektwerdung“ durch Autorinnen als Hinderungsgrund für eine Kanonisierung aus.52 Im Folgenden soll unter anderem untersucht werden, ob bei der literaturkritischen Rezeption von Emmi Lewalds Werken die von Heydebrand auf Basis der Einzelfallstudie zu Reuter aufgestellten hypothetischen „Kanonisierungshindernisse“, näm­lich die Abhandlung in Sammelbesprechungen, die Zeitbezogenheit der Thematik und die Einordnung als Tendenz- oder Unterhaltungsliteratur feststellbar sind. Die Literaturkritik und die Autorin Emmi Lewald Eine vergleichende Untersuchung der Rezensionen von Emmi Lewalds Werken im Hinblick auf zeit­liche Entwicklungen und unterschied­liche Wertungen ist wegen der lückenhaften Rezeption durch die Literatur- und Kulturzeitschriften einerseits und wegen der schlechten Quellenlage bei der Rezeption durch die Tagespresse anderseits nur bedingt mög­lich. Aus diesem Grund erfolgt die Untersuchung der literaturkritischen Rezeption im folgenden Abschnitt nach den Kategorien der Gattung, der geschlechtsspezifischen Bewertung ihrer Werke, ihrer literarischen Einordnung und nach den Vergleichen, welche die Literaturkritiker zu anderen Autoren vornahmen.53 Lyrik Zu Beginn von Emmi Lewalds Schriftstellerlaufbahn ging ein Teil der Literaturkritiker, aufgrund der Verwendung des Pseudonyms ‚Emil Roland‘ bei der Publikation von

50 Ebd., S. 111. 51 Ebd., S. 111. 52 Heydebrand konstatiert: „,Frauenliteratur‘ mit dem Ziel der ‚Subjektwerdung‘ der Frau kommt als Literaturtypus offenbar immer schon zu spät. Wenn um 1800 bei Autoren die ‚hohe‘ Literatur autonom wird, müssen sich Autorinnen in didaktischen Romanen erst in ihre heterogene Rolle, die als ihre ‚Natur‘ ausgegeben wird, einüben oder dürfen sie allenfalls partiell in Frage stellen; wenn im Laufe des 19. Jahrhunderts für die Autoren das Konzept des rede- und handlungsmächtigen Subjekts bereits fragwürdig wird, suchen Autorinnen erst Modelle von autonomen Frauensubjekten zu entwerfen.“ Ebd., S. 112. Vgl. zu Emmi Lewalds Rückgriff auf das Genre des Bildungs- bzw. Entwicklungsromans zur Thematisierung der weib­lichen Subjektwerdung Kap. 4.1.2.3. 53 Eine vergleichende Untersuchung von Lewalds literaturkritischer Rezeption mit zeitgenössischen Autoren beiderlei Geschlechts, wie Heydebrand und Winko sie für Gabriele Reuter (und Theodor Fontane) vorgenommen haben, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden, würde jedoch zu aussagekräftigeren Ergebnissen bei der literaturhistorischen Einordnung der Autorin führen.

217

218

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Unsre lieben Lieutenants (1888) und den folgenden Romanen, Novellen- und Gedichtbänden davon aus, ihre Werke seien von einem männ­lichen Autor verfasst worden. Da die Enthüllung des Pseudonyms durch die mediale Berichterstattung rasch voranschritt und Emmi Lewald bei Publikationen in „Die Frau“ ab 1894, in „Deutsche RomanBibliothek“ ab 1892 und in der „Roman-Zeitung“ ab 1892 ihren Mädchennamen ‚Emmi Jansen‘ verwendete, dürfte ihr Geschlecht den Rezensenten bald bekannt geworden sein.54 Die Auswirkungen der Geschlechterkategorie auf die Bewertung der Werke lässt sich besonders gut anhand von Emmi Lewalds Gedichtbänden untersuchen, da bei der „subjektiven“ lyrischen Gattung nach Meinung zeitgenössischer Literaturkriti­ker die Artikulation der – vom Geschlechtscharakter bestimmten – Persön­lichkeit eine Schlüsselrolle spielte. Die Rezeption als männ­licher Autor begünstigte Emmi Lewalds positive Aufnahme im literarischen Feld zu Beginn ihrer Karriere, besonders in Verbindung mit ihrem frühen Gedichtband Der Cantor von Orlamünde (1889), einer Sammlung von Natur-, Stimmungs- und Liebeslyrik. Der Literaturkritiker des Feuilletons der „Deutschen Roman-Zeitung“ ist voll des Lobs für den „Dichter“ Roland, der über eine „nicht gewöhn­liche Formgewandtheit“ verfüge und dem Leser mit „echt dichterischen Vergleichen“ die Schönheiten der Natur nahe bringe.55 Seiner Ansicht nach dürfe sich der Autor des Cantor[s] von Orlamünde ohne Weiteres mit dem im Motto zitierten Dichter Friedrich Wilhelm Weber messen.56 Auch Karl Spittler, der Rezensent der „Blätter für literarische Unterhaltung“ lobt die Lyriksammlung und betont vor allem die Ganzheit und Abgeschlossenheit der einzelnen „harmonischen und wohlklingenden Bilder[n]“.57 Die positive Aufnahme von Emmi Lewalds früher Lyrik setzte sich mit dem Band Gedichte (1894) fort, bei dessen Publikation die meisten Literaturkritiker bereits Kenntnis davon hatten, dass sich hinter dem Namen ‚Emil Roland‘ die oldenburgische Beamtentochter Emmi Lewald verbarg. „Die Blätter für literarische Unterhaltung“ platzieren die Besprechung des Werks prompt in einer Sammelbesprechung mit dem 54 Die Gedichte Minnelied und An den Sommer erschienen 1892 in „Deutsche Roman-Bibliothek“ unter dem Verfassernamen Emmi Jansen, wobei das Pseudonym ‚Emil Roland‘ in Klammern angegeben wurde. In gleicher Weise verfuhr Bertha von Suttner bei ihrer Dichterinnenanthologie Frühlingszeit (1896), in der Emmi Lewalds Novelle Alte Herzen enthalten ist. In der Zeitschrift „Die Frau“ wurde der Zusammenhang zwischen Emmi Lewalds Mädchennamen und dem Pseudonym offiziell erstmals bei der Publikation der Novelle „Haldenbrunn – eine Minute!“ (1895) hergestellt. 55 Vgl. N. N.: Der Cantor von Orlamünde. Dichtungen. In: Deutsche Roman-Zeitung 28 (1891), Bd. 1, Sp. 356. 56 Emmi Lewald stellte dem Gedichtband Der Cantor von Orlamünde ein Motto aus Friedrich ­Wilhelm Webers (1813 – 1894) Epos Dreizehnlinden (1878) voran: „Nicht für viele, nicht für manche / Nur für diesen, nur für jenen / Der – abseits der großen Straße / Lauschen mag verlornen Tönen –,“ 57 Vgl. Spittler: Erzählendes in dichterischer Form, S.  21 – 23.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

Titel „Frauenlyrik“, die von einer Bemerkung des Rezensenten Richard Weitbrecht zur Literatur von Frauen eingeleitet wird.58 Seine Kritik gilt dem Gebrauch männ­ licher Pseudonyme, den er insbesondere bei den besprochenen Lyrikproduktionen für überflüssig hält, da sich diese auf einer „ganz respektablen Höhe“ befänden. Die Gedichtsammlung der „Dichterin“ Emmi Lewald befindet Weitbrecht aufgrund der „untadelhafte[n]“ künstlerischen Form und des guten Ausdrucks für lobenswert. Seine Besprechung ist jedoch von einem geschlechtsspezifischen Blick auf das Werk gelenkt, wie das Erstaunen beweist, in der Sammlung kein Liebesgedicht, jedoch zwei Gedichte „zum Preise des Weines“ zu finden. Auch das Talent der Verfasserin für die Ballade, das Weitbrecht in dem Zyklus „Napoleon“ manifestiert sieht, findet der Rezensent für eine Frau bemerkenswert. Die Verwendung des männ­lichen Pseudonyms für Gedichte kritisierte auch der Literaturexperte der oldenburgischen Tageszeitung „Nachrichten für Stadt und Land“, Wilhelm von Busch,59 in seiner ansonsten positiven Rezension. Seine Beurteilung der Rubrik „Lieder eines Troubadours“, in dem Emmi Lewald den Minnedienst lyrisch thematisiert, ist ein typisches Beispiel für geschlechtsspezifische Literaturkritik und wird aus diesem Grund ausführ­lich zitiert. Schon aus der Benennung tritt uns eine befremdende Thatsache entgegen, die beim Lesen der betr. Gedichte noch störender auffällt: die Verleugnung des Geschlechts der Autorin. Es ist nicht Sache des Lesers, nach den Gründen ihres männ­lichen Pseudonyms zu fragen; wohl aber kann und wird er gegen die ihm angenöthigten erkünstelten, unwahren Gefühle Verwahrung einlegen, wie z. B. in den Troubadourliedern […]. Aber wer kann diese Lieder ernst nehmen, der stets in dem Sänger das Weib sucht! Ein derartiges Spiel mit den Empfindungen läuft unserem Gefühl zuwider. In der erzählenden Dichtung gilt es uns eher gleich, ob Dichter oder Dichterin; […]. Wo es sich aber um die ureigenen Seelen­ äußerungen handelt, in denen sich Mann und Weib so charakteristisch unterscheiden, lehnt sich der gesunde Sinn gegen das Versteckspiel auf. […] Niemand kann über seinen eigenen ­Schatten springen, auch E. Roland nicht. Es gelingt ihr nicht, männ­lich zu denken und zu fühlen, beziehungsweise in dem Leser diese Täuschung hervorzurufen. Auch aus den Trouba­ dourliedern spricht das Weib zu uns. […] Ihr kraftvolles Fühlen gereicht dem Weibe zur Ehre, für den vorgespiegelten Mann wird es kaum genügen. Indem wir die Dichterin auf

58 Vgl. Weitbrecht: Frauenlyrik, S. 171 ff. 59 Wilhelm von Busch (1868 – 1940) wurde 1894 Lehrer an der Cäcilienschule in Oldenburg und schrieb nebenberuf­lich als Journalist für die „Nachrichten für Stadt und Land“. Ab 1897 arbeitete von Busch ausschließ­lich als Journalist und prägte als Chefredakteur von 1904 – 1933 entscheidend den Charakter der Zeitung und das kulturelle Leben der Stadt Oldenburg. Vgl. Hans Friedl: Johann Wilhelm Emil von Busch. In: Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Oldenburg 1992, S. 112 f.

219

220

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

ihr eigenes Gebiet zurückverweisen, über das sie hinausgegangen ist, sprechen wir den darin erwachsenen ersten Gefühlsäußerungen die wärmste Anerkennung aus.60

Die Anerkennung des Literaturkritikers gilt Emmi Lewalds Talent, in dem sich laut von Busch ihr „weib­liches Gemüt“ und eine „männ­liche[r] Entschlossenheit“ vereinen. Trotz der außerordent­lich stark an den Geschlechterkategorien orientierten Lesart beurteilt der Kritiker die Neuerscheinung als überdurchschnitt­lichen Gedichtband, der vor allem wegen seiner „formvollendeten, fein ausgearbeiteten Sprache“ Beachtung verdiene. Dieses positive Urteil findet er durch die satirisch anmutende Kritik an der modernen Malerei im letzten Abschnitt „Im Kunstsalon“ noch bestätigt. Weitaus weitreichendere Auswirkung hat die Geschlechterkategorie auf die literarische Wertung in der Werkbesprechung von Heinrich Stümke in den „Neue[n] literarische[n] Blättern“.61 Seiner Ansicht nach sind die Gedichte weit von einer künstlerischen Abgeschlossenheit entfernt und zeugen vielmehr von einem entwicklungsfähigen dichterischen Potenzial, das die Autorin in Zukunft zur Reife zu bringen hat. Ihren Versen fehle noch der „Stempel des Persön­lichen“ und der „individuelle[m] Gehalt“, vielmehr arbeite sie nach bekannten Mustern und behandle die unterschied­ lichen Themen auf ein und dieselbe Weise. Vielversprechende Ansätze sieht Stümke in dem Pathos des Napoleon-Zyklus, ebenso wie in dem Abschnitt „Im Kunstsalon“, wo ihm die satirische Schreibweise der Autorin wiederbegegnet, die er in Unsre lieben Lieutenants (1888) zu schätzen gelernt hat. Die Satire, „die am Seinestrande ihre Hauptvertreter hat, wo die Lächer­lichkeit einen Mann tötet“ klänge in einigen „Gedichtchen“ der jungen Autorin an, aber „zahmer, zu zahm, wohl weil die Versform sie noch hindert, alles zu sagen.“ Auch die Gedichte der Rubrik „Sturm und Drang“ beurteilt der Literaturkritiker als „noch schüchtern und unselbständig“, jedoch vielversprechend im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung der Verfasserin. Im Gegensatz zu den genannten Rezensionen kommt die Besprechung der zweiten Auflage des Bands Gedichte 1901 in „Das literarische Echo“ völlig ohne einen Hinweis auf das Geschlecht der Verfasserin aus. Hans Benzmann hebt die geringe formale Originalität der Gedichte positiv hervor und lobt als Gegensatz die „Tiefe der Empfindung und Bild­lichkeit“.62 Er ordnet Emmi Lewalds Lyrik formal, inhalt­lich und stilistisch einer traditionellen Lyriktradition zu, die er mit den Schlagworten Empfindung, Bild­lichkeit und Persön­lichkeit umschreibt und als deren Vorbilder er Dichter wie Lenau ausmacht. Durch seine individuelle Gestaltung, seine eigene Bildsprache und seine schöne Sprache weise das Werk jedoch eine Eigenständigkeit auf, die keine 60 Busch: Neues von Emil Roland. 61 Vgl. die Sammelbesprechung von Heinrich Stümke: (o. T.). In: Neue literarische Blätter. Zeitschrift für Freunde zeitgenössischer Literatur und Monatsblatt der literarischen Gesellschaft Psychodrama 3 (1895/96), Nr. 4, S. 101. 62 Vgl. Hans Benzmann: Lyrisches. In: Das literarische Echo 3 (1901), H. 15 (Mai), Sp. 1072 ff.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

Kategorisierung als „Epigonenlyrik“ zulasse. Der Literaturkritiker grenzt Gedichte positiv von der Formorientierung der 1901 aktuell erfolgreichen „modernen“ Lyriker Rainer Maria Rilke und Hugo Salus ab. Im Jahr der zweiten Auflage von Gedichte erschien ebenfalls Emmi Lewalds dritter Gedichtband Gedichte, Neue Folge, der überwiegend Italiengedichte enthält. Während die meisten Literaturzeitschriften die Neuerscheinung ignorieren, ist es erneut „Das literarische Echo“, das in der Rubrik „Lyrisches“ eine positive Rezension veröffent­ licht.63 Der Kritiker Ernst Ziel spricht sich begeistert über Emmi Lewald aus: „[S]ie hat einen Zug ins Weite und Ganze; sie ist eine Dichterin von entscheidender Großzügigkeit des Talents“. In der formschönen Sprache, der anschau­lichen Bildgestaltung und dem Pathos sieht der Kritiker Gemeinsamkeiten mit den Lyrikern Uli Schanz und Hermann Linggs, doch auch er betont die individuellen Züge in Emmi Lewalds Werk: „[N]ichts Angelerntes, nichts Studiertes, nichts Eklektisches wird an ihren dichterischen Erzeugnissen fühlbar.“ Die Lyrik flösse, wie alle „echte Lyrik“ aus dem „Kern ihrer Persön­lichkeit“. Dass auch Ziel in Geschlechterkategorien denkt, wird einzig an seiner lobenden Aussage spürbar, die Verfasserin besäße ein „fast männ­liches Talent“. Weniger euphorisch als im „Literarischen Echo“ wird Gedichte, Neue Folge in „Die Schöne Literatur“ besprochen.64 Der Literaturkritiker beurteilt die Gedichte zwar als gut geschriebene, wohlklingende Verse, vermisst aber seine eigene, innere Ergriffenheit. Zu „wenig charakteristisch“ erscheinen ihm die italienischen Landschaftsschilderungen, zu „abgegriffen“ auch die anderen lyrischen Themen. Obgleich die Verfasserin die stimmungsvolle Schilderung beherrsche, seien ihre Gedichte „nichts als schöne Phrasen“. Auch die kurze Erwähnung des Gedichtbandes in einer Sammelbesprechung in „Westermanns Illustrierten deutschen Monatsheften“ bleibt verhalten. 65 Das neue Werk füge der dichterischen Persön­lichkeit Emmi Lewalds keine neuen Aspekte hinzu, „atme[n] aber dieselbe gesunde, lebenswarme Empfindung“ ihrer früheren lyrischen Veröffent­lichung. Der Blick auf die Lyrikrezeption führt zu dem Ergebnis, dass die Rolle der talentierten jungen Lyrikerin nach ihrem aufsehenerregenden Eintritt ins literarische Feld mit den satirischen Charakterstudien Unsre lieben Lieutenants (1888) Emmi Lewalds erste schriftstellerische Rolle bzw. Position darstellte. Die positive Rezeption von Der Cantor von Orlamünde wurde durch die Pseudonymverwendung begünstigt, doch ist zu beobachten, dass die lobenden Besprechungen nach der Enthüllung des Pseudonyms anhalten und der Autorin auch als weib­licher 63 Vgl. Ernst Ziel: Lyrisches. In: Das literarische Echo 4 (1902), H. 20 ( Juli), Sp. 1391 ff. 64 Vgl. die Sammelbesprechung in der Rubrik ‚Lyrik‘ in: Die Schöne Literatur 3 (1902), Nr. 17 (6. Sept.), Sp.  104 ff. 65 Vgl. die Rezension in der Sammelbesprechung in der Rubrik ‚Literarische Rundschau‘ in: Westermann’s Illustrierte Deutsche Monatshefte 46 (1901/02), Bd. 91, H. 544 ( Jan. 1902), S. 616.

221

222

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Verfasserin die Beherrschung der Form, das Talent zur Ballade sowie eine sichere Stilistik attestiert werden. Emmi Lewalds satirische Schreibweise, die bereits in Unsre ­lieben Lieutenants eine zentrale Rolle spielte und auch ihr späteres Prosawerk immer wieder bestimmte, wird von der Literaturkritik auch bezüg­lich der Lyrik positiv hervor­gehoben. Dennoch ist bei den Rezensionen ein Zusammenhang zwischen der Kenntnis des Autorgeschlechts und einer geschlechtsspezifischen Sichtweise der Literaturkritiker feststellbar. Sie äußert sich in deren Kritik an der Überschreitung der Geschlechterrollenvorgabe durch den anhaltenden Pseudonymgebrauch und die männ­liche Erlebnisperspektive der Troubadourlieder, ebenso wie in dem Lob für vermeint­lich ‚männ­liche‘ Werkmerkmale und ein ‚fast männ­liches‘ Talent‘. Bei der Platzierung der Rezensionen lässt sich Heydebrands Beobachtung der Gettoisie­rung weib­licher Autoren bestätigen, da Emmi Lewalds Werke nach der Aufdeckung des Pseudonyms häufig in die Rubrik „Frauenliteratur“ eingeordnet werden; weniger auffällig erscheint dagegen die Eingliederung in Sammelbesprechungen, die bei einigen Literaturjournalen eine gängige Praxis bei der Besprechung von Autoren beiderlei Geschlechts war. Prosa Emmi Lewalds frühe Prosa fand bei der Literaturkritik keine der Lyrik entsprechende positive Aufnahme. Insbesondere die ersten beiden Novellenbände Ernstes und Heiteres (1891) und Geschichte eines Lächelns (1894) wurden von einigen Literaturkritikern dem Bereich der leichten, unterhaltenden Literatur zugeordnet. Otto von Leixner, der in seiner Rezension im Feuilleton der „Deutschen Roman-Zeitung“ von einer weib­lichen Verfasserin ausging, bezeichnet Ernstes und Heiteres als stoff­lich „harmlos“.66 Die Art des Erzählens sei von „anspruchsloser Natür­lichkeit“, die literarischen Sujets „frisch und unbefangen“ verarbeitet. Das Werk deute jedoch darauf hin, dass die Erzählerin „Gemütstiefe“ besäße und „ihr innerstes Wesen einen Reichtum von erst halb erschlossener Empfindung in sich“ trage. Für seine Zuordnung der Texte zur unterhaltenden Literatur führt Leixner „weib­liche“ Schreibeigenschaften an und schließt mit dem Hinweis auf den Entwicklungsbedarf der Autorin: „Wenn sie mit Ernst und Festigkeit weiter ringt, noch tiefere Welt- und Selbstkenntnis errungen hat, wird sie uns mit Gaben erfreuen, die weit über den Durchschnitt hinausgehen.“ In eine ähn­liche Richtung geht die Kritik von M. Bensey, der die Novellen in den „Blätter[n] für literarische Unterhaltung“ als „ziem­lich leichte Waare“ bezeichnet und zahlreiche sprach­liche Unkorrektheiten entdeckt.67 Es sei bei der Autorin bereits die „Gabe leichter Darstellung“ erkennbar, doch eine Entwicklung des erzählerischen

66 Otto von Leixner: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen von Emil Roland. In: Deutsche RomanZeitung 28 (1891), Bd. 2, Nr. 23, Sp. 719 f. 67 Bensey, Erzählungen, S.  757 – 760.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

Vermögens vonnöten: „Möge sie sich [Anm. die Gabe], sobald sie gereifter, an weniger Alltäg­lichem versuchen.“ In seinem Beitrag im Beiblatt der „Deutschen Roman-Zeitung“ nimmt der Rezensent wie sein Kollege M. Bensey einen männ­lichen Verfasser an.68 Er bemerkt an Lewalds Novellen empfindsame und poetische Züge, kritisiert jedoch die Unwahrschein­lichkeit einiger der dargestellten Situationen und sprach­ liche Nachlässigkeit. „Der Stil verrät, daß scharfes logisches Denken nicht im gleichen Maße Sache des Herrn Emil Roland ist als weiches Empfinden“, resümiert der Kritiker und deutet mit dem sprach­lichen Gegensatz an, dass er hinter dem Pseudonym eine Frau vermutet. Die Besprechungen des Novellenbandes Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen (1894) beinhalten ähn­liche Kritikpunkte wie die seines Vorgängers. Wilhelm von Busch lobt zunächst „die scharfe Beobachtung und die geistvolle Wiedergabe des Gesehenen“, die „geistvolle Reflexion“ und das „feine Naturgefühl“ der Novellen und sieht Gemeinsamkeiten zu der Lyrik Carl Busses. Die Figurenzeichnung sowie das Vermeiden „schneidender Tragik“ erinnert Busch gar „bisweilen entfernt an Theodor Storm“. Seine Kritik gilt Emmi Lewalds Abweichung von den zeitgenössischen Kennzeichen der Novellengattung, dem umständ­lichen Fortgang der Handlung sowie einer stellenweise inkorrekten Sprache. Abschließend äußert von Busch die Hoffnung auf eine neue Lyrikpublikation der Autorin, da er ihre Persön­lichkeit und Individualität in dieser Gattung am „echtesten und schönsten“ zum Ausdruck gebracht sieht. Etwas positiver wird Die Geschichte eines Lächelns von M. Rachel in den „Blättern für litera­ rische Unterhaltung“ in der Rubrik „Allerhand Humore“ besprochen. Der Rezensent bzw. die Rezensentin hebt den humoristischen Aspekt der Novellen hervor und konsta­ tiert einen „beobachtenden Geist“ und „Überlegenheit der Erkenntnis“, ergeht sich aber hauptsäch­lich in einer Inhaltsangabe der einzelnen Novellen. Im Gegensatz zu von Busch lobt er abschließend Lewalds Werk gerade aufgrund seiner „guten Sprache“ und „sorgfältigen Darstellung“. Die Zäsur in Emmi Lewalds Prosaschaffen, die der Roman Sein Ich (1896) markierte, findet auch ihren Niederschlag in den Besprechungen der Literaturkritik. Mit Sein Ich verschiebt sich in der Literaturkritik die Emmi Lewald zugeschriebene Autorenrolle von der ‚talentierten Lyrikerin‘ hin zu einer ‚guten Erzählerin‘. Der Roman, der vom moralischen Scheitern des Egoismus als Lebensprinzip erzählt, wird von der Literaturkritik wegen der moralischen Botschaft, der schlüssigen Figurenzeichnung und des interessanten Handlungsverlaufs gelobt. Der Kritiker Leonhard Lier begnügt sich in seiner Sammelbesprechung „Neue Romane und Novellen“ in „Blätter für litera­rische Unterhaltung“ im Wesent­lichen mit einer Inhaltsangabe, hebt jedoch den didak­tischen Nutzen des Romans hervor, lobt die sichere Figurencharakterisierung

68 N. N.: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen von Emil Roland. In: Beiblatt der Deutschen Roman-Zeitung 29 (1892), Bd. 1, Sp. 428.

223

224

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

und bescheinigt dem als männ­lich angenommenen Autor erzählerisches Talent.69 Neben den Literaturzeitschriften – es erschienen noch eine Kurzrezension im Beiblatt der „Deutschen Roman-Zeitung“70 und ein Beitrag in „Velhagen & ­Klasings Monatsheften“ – erschienen Rezensionen von Emmi Lewalds erstem Roman auch in diversen Tageszeitungen.71 Auffällig an den Feuilletonbesprechungen der Tageszeitungen, die der Verlag von Fontane & Co. Emmi Lewalds späterer Publikation Kinder der Zeit (1897) anschloss, ist die ausschließ­liche Rezeption des Verfassers als männ­lich. Sehr großen Anklang bei den Rezensenten fand die „bemerkenswerthe[n] ethische[n] Tendenz“ des Romans, die Verurteilung des Egoismus (Leipziger Tageblatt), in gleichem Maß jedoch auch die künstlerische Ausführung des moralischen Konflikts zwischen den beiden Hauptfiguren Leo und Ottilie. Wie in der „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung“ werden auch in anderen Besprechungen die „große Wahrheit und Sch­lichtheit der Darstellung“ gelobt, die schmückende Details und erzählerische Umwege vermeide. Das „Dresdener Journal“ dagegen hebt die „große Konzentra­tionskraft des Autors“ hervor, die für die kompositorische Verknüpfung psycholo­gischer Vorgänge mit sozial-gesellschaft­lichen Bedingungen erforder­lich gewesen sei. Die meisten Rezensionen betonen, wie jene der „Kölnischen Zeitung“, den „vortreff­lich charakteristischen gesellschaft­lichen Hintergrund“, sowie die authentische und psychologisch feinfühlige Figurenzeichnung des Romans. Diese Ausführungen der Literaturkritik lassen den Schluss zu, dass Emmi Lewald sich mit dem Roman Sein Ich, der verbreitet als „sehr feine Studie modernen Lebens“ (Kölnische Zeitung) gelesen und über dem erzählerischen Durchschnitt eingeordnet wurde (ebd.), im literarischen Feld des Kaiserreichs als Erzählerin etablieren konnte. Der Kritiker von „Velhagen und Klasings Monatsheften“ steigerte seine Begeisterung nach der Lektüre des Romans gar zu der Annahme, mit Emil Roland künftig „einen Meister der Prosadichtung begrüßen zu dürfen.“72 Ihrem Romanerstling ließ Emmi Lewald bis zu ihrem nächsten Romanerfolg Sylvia (1904) jedoch hauptsäch­lich Novellenbände, 1897 die Reiseskizzen Italienische Landschaftsbilder und ihren letzten Gedichtband Gedichte, Neue Folge (1901) folgen. Der schmale Roman Das Glück der Hammerfelds (1900) über den gesellschaft­lichen Prestigeverlust und den finanziellen Abstieg einer unbedeutenden Adelsfamilie wurde

69 Vgl. Lier: Neue Romane und Novellen, S.  759 – 760. 70 Vgl. Deutsche Roman-Zeitung 33 (1896), Bd. 4, Sp. 139. 71 Sämt­liche angeführten Rezensionen aus Zeitungsfeuilletons stammen aus einem Anhang der Publi­ kation Emi Roland: Kinder der Zeit. Novellen. Berlin Fontane & Co. 1897. Da die Rezensionen von dem Verlag von Friedrich Fontane & Co. als Werbemaßnahme verwendet wurden, kann die Auswahl nicht als vollständiger und ausgewogener Überblick über die literaturkritische Rezeption von Sein Ich gelten. 72 Die Rezension aus „Velhagen & Klasings Monatsheften“ befindet sich ebenfalls im Anhang der Novellensammlung Kinder der Zeit (1897).

Emmi Lewald in der Literaturkritik

von den Literaturjournalen kaum beachtet. In dem Maße wie die literarische Qualität von Emmi Lewalds Novellen bis 1904 variierte, ist in der literaturkritischen Rezeption ihrer vier wichtigen Novellenbände der Jahrhundertwende Kinder der Zeit (1897), In blauer Ferne (1898), Gefühlsklippen (1900) und Das Schicksalsbuch (1904) ein breites Spektrum an Werturteilen auszumachen. Die Sammlung Kinder der Zeit thematisiert wie Sein Ich wiederholt die Selbstsucht des modernen Karrieremenschen, aber auch die problematische Situation des Künstlers zwischen Marktabhängigkeit und künstlerischer Entfaltung. Richard Weitbrecht hält die Novellen in Kinder der Zeit für qualitativ minderwertiger als die Lyrik der Autorin.73 Er wirft ihr vor, die modernen Probleme „backfischhaft“ zu behandeln und einfache Gegenstände mit „allerlei verstandesmäßiger Ausklügelei“ und „romanhafter Aufputzung“ interessant machen zu wollen, wobei diese pauschalen Werturteile in keiner Weise belegt werden. Dass Weitbrecht zu den Kritikern gehörte, die ihre literarischen Werturteile mit Hilfe der bürger­lichen Geschlechterrollenklischees pauschalisieren, deutete bereits die Einleitung zu seiner Sammelbesprechung „Aus weib­lichen Federn“ an, in der es allgemein zum Reflexionsvermögen der Frauen heißt: Daß eine Frau aber eine große Auffassung der Dinge, also auch des Verhältnisses der Geschlechter habe, kann man überhaupt nicht von ihr verlangen, und Consequenz von ihr fordern, auch in der psychologischen Entwicklung ihrer Helden, hieße ihr Unmög­liches zumuthen, sintemalen es im Leben überhaupt noch keine consequente Frau gegeben hat.74

Dennoch stellt Weitbrecht das seiner Meinung nach geschlechtsspezifisch andersartige Können weib­licher Autoren mit dem ihrer männ­lichen Kollegen auf eine Stufe. Weitbrechts Meinung zufolge verrät Emmi Lewalds Novellensammlung markant die weib­liche Autorschaft. Sie sei jedoch „im ganzen gut erzählt“, der Stil „von der Moderne beeinflusst“ und zeichne sich durch gelegent­liche satirische und humoristische Momente aus. Eine „moderne[n] Farbengebung“ kann bei der Lektüre von Kinder der Zeit auch der Kritiker des „Dresdener Journals“ ausmachen und bezieht sich damit weniger auf die aus heutiger Sicht so bezeichnete literarische Epoche als auf die Verwendung ‚moderner‘, daher zeitgenössischer Thematiken, in diesem Fall die zeitgenössische Gesellschaftskritik.75 Auch sein Kritikerkollege von der „Vossischen Zeitung“ macht den gesellschaftskritischen Blick der Autorin als Hauptmerkmal ihrer Novellen aus, wenn er urteilt: „Die Verfasserin kämpft 73 Vgl. Weitbrecht: Aus weib­lichen Federn, S. 426 ff. 74 Ebd., S. 426. 75 Vgl. die Rezensionen zu Kinder der Zeit in den Zeitschriftenfeuilletons, die sich im Anhang der Erstauflage des bei Fontane & Co. verlegten Bandes befinden: Emil Roland: Gefühlsklippen, Novellen. Berlin Fontane & Co. 1900. Vgl. zum Modernebegriff Kap. 2.2.2.3.

225

226

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

mit hohem sitt­lichen Ernst und feinem Humor gegen die Fehler unseres modernen Gesellschaftslebens an“. Lob erhält Emmi Lewald darüber hinaus für ihre Perso­nencharakterisierung (Leipziger Zeitung und Prager Tageblatt) sowie für die „angemessene Form“ (Vossische Zeitung). Mit dem nächsten Novellenband In blauer Ferne (1898) präsentierte Emmi Lewald der literarischen Öffent­lichkeit erstmals eine gemäßigte frauenrechtlerische Tendenz in ihrem Erzählwerk, was von der Kritik nur sporadisch hervorgehoben und offensicht­lich mit der Schilderung des modernen Gesellschaftslebens gleichgesetzt wurde. Verschiedene Hinweise, so auch in einer Rezension des Bandes Gefühlsklippen (1900), deuten darauf hin, dass mehrere literaturkritische Instanzen In blauer Ferne als künstlerischen Rückschritt der Autorin empfunden haben.76 Der Rezensent des „Leipziger Tageblatts“ merkt bedauernd an, es fehle […] der Verfasserin diesmal die Eigenart der Erfindung in der Figurenzeichnung sowohl wie in der Motivierung, die ihrem köst­lichen Romane „Sein Ich“ und ihren ersten Novellen unter dem Gesamttitel „Kinder der Zeit“, ebenfalls bei Fontane & Co. erschienen, zu so außerordent­lichem, von Kritik und Publikum anerkanntem Erfolge verhalfen.

Auch Theodor von Cosnosky zeigt sich in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ angesichts positiver Besprechungen älterer Werke durch namhafte Tageszeitungen, die dem Band angebunden sind, in seinen Erwartungen enttäuscht.77 Das Buch sei zwar vernünftig geschrieben, so der Kritiker, „aber es gebricht ihm an Kraft, Plastik und Eigenart, es ist in allen darin enthaltenen Geschichten matt und uninteressant.“ In der Figurenzeichnung entdeckt Cosnosky keine individuellen Züge, sondern Ähn­ lichkeiten mit der „kapriciösen, affektierten Art“ der Schriftstellerin Ossip Schubin (d. i. Aloisia Kirschner).78 Durchweg positiv gestalten sich die Feuilletonkritiken der Tagespresse, die allerdings in Auswahl Emmi Lewalds Band Gefühlsklippen (1900) angefügt und in dieser Zusammenstellung als Werbemaßnahme des Verlags Fontane & Co. zu deuten sind. Wie in den Literaturzeitschriften wirkt sich die inzwischen fast durchgängige Rezeption von Emmi Lewalds Werk als ‚weib­liche Literatur‘ auf die Werturteile der Kritiker aus. Der Literaturkritiker der „Täg­lichen 76 Vgl. Eduard Höber: Gefühlsklippen. Novellen von Emil Roland. In: Das literarische Echo 2 (1900), H. 9 (1. Feb.), Sp. 657 f. 77 Vgl. Cosnosky: Aus der Erzählliteratur, S. 570 ff. 78 Die böhmische Autorin Aloisia Kirschner (1854 – 1934) veröffent­lichte unter dem Pseudonym ‚Ossip Schubin‘ Romane, Erzählungen und Novellen und bevorzugte die Gesellschaftsthematik. Wie Emmi Lewald war Schubin durch ihre Publikationen in Familien- und Unterhaltungszeitschriften eine erfolgreiche und viel gelesene Autorin, deren Werke nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit gerieten. Vgl. Thomas Kirschner: Ein schnell verglühter Stern am Literaturhimmel. Zum 150. Geburtstag der Prager deutschen Schriftstellerin Ossip Schubin (1854 – 1934). URL: http://www.radio. cz/de/artikel/61487/limit (Zugriff am 06.07.2010).

Emmi Lewald in der Literaturkritik

Rundschau“ konstatiert gar zu Beginn seiner Besprechung, „[d]ie Verfasserin [sei] Frauenrechtlerin“, relativiert sein Urteil jedoch sogleich mit der Zuordnung der Autorin zum gemäßigten Flügel der Bewegung durch die Bemerkung, sie sei es aber „in sehr verständigem und auch beschränktem Maße“. In der „Vossischen Zeitung“ wird die Autorin für die Landschafts- und Gesellschaftsschilderung ihres neuen Werks „den elegantesten neueren Erzähltalenten angerreiht“. Nicht nur die „Feinheit der Anschauung“, sondern vor allem „Spott und Ironie“ sowie die von „Geist und Witz“ geprägte Art der Gesellschaftsbeschreibung haben den Kritiker für In blauer Ferne eingenommen: „Die Verfasserin gehört zu den in Deutschland noch immer nicht so häufigen Schriftstellern, die die ‚Gesellschaft‘ im engeren Sinne des Wortes kennen und mit einer Art Selbstverständ­lichkeit der Anschauung über sie zu schreiben vermögen.“ Emmi Lewalds Talent zur Gesellschaftsschilderung steht auch in den Besprechungen der „Oldenburger Zeitung“ und des „Leipziger Tageblatts“ im Mittelpunkt. Der Kritiker des „Leipziger Tageblatts“ lobt zwar Emmi Lewalds „zündende[n] Geistesblitze“ und die „brillante Schilderungsweise“, moniert aber, ihre Tendenz zur Liebesthematik, bestimmte episodische Wiederholungen und Szenen deuteten „mehr auf weib­liche Mache“ hin, als dem Kritiker „für die begabte Verfasserin lieb“ sei. An der Novelle Haldenbrunn – eine Minute bemerkt der Kritiker „Polko’sche Sentimentalität“ und vergleicht Lewald so mit der damals besonders von Frauen gelesenen Schriftstellerin Elise Polko (1823 – 1899), deren Romane, Novellen, Skizzen und Märchen häufig im Musikermilieu angesiedelt waren.79 In der positiven Rezension der „Oldenburger Zeitung“ werden die Novellen In blauer Ferne als unterhaltsame, „reizvolle Prosaschöpfungen“ für die bevorstehenden Sommerreisen empfohlen. Der Band sei zwar „leichter“ als die früheren Werke der Autorin, biete aber in „flotte[r], rasche[r] Malart“ gefertigte, humorvolle und „elegante[n] Bilder[n] des modernen Gesellschaftslebens“, die über dem literarischen Durchschnitt anzusiedeln seien. Die gemischte Rezeption von Emmi Lewalds Novellen setzt sich bei Gefühls­ klippen (1900) fort, die ebenfalls als „feine[n] Studien modernen Lebens“ gelesen werden.80 Die Besprechung der „Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen“ lobt Emmi Lewalds Gesellschaftsbeschreibungen für den authentischen Hintergrund und die gute Figurenzeichnung. Eine „sichere Weltkenntnis“ sowie die 79 Elise Polko arbeitete nach einer Sängerinnenkarriere und ihrer Hochzeit 1849 als Schriftstellerin und bevorzugte für ihre Erzähltexte das Thema des Musikers und seiner Arbeit. Die Texte der Autorin waren auf ein überwiegend weib­liches Lesepublikum zugeschnitten. Nach ihrem Tod geriet Elise Polko wie zahlreiche der zeitgenössischen Autorinnen in Vergessenheit. Vgl. Franz Brümmer: Elise Polko. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 53, Leipzig 1907, S.  95 – 98. 80 T.: Emil Roland: Gefühlsklippen. Rezension. In: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen. Beiblatt zum Centralblatt für Volksbibliotheken und Lesehallen 2 (1901), Nr. 1 u. 2 ( Jan.–Feb.), S. 31.

227

228

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

„geistreiche[r], aber keineswegs aufdring­liche[r] Darstellungsweise“ erhöben das Buch über das Niveau des „Durchschnittsromans“. Auch in „Westernmanns Illustrierten deutschen Monatsheften“ erntete die Autorin mit der neuen Novellensammlung Lob für den „bemerkenswerten künstlerischen Aufschwung“ gegenüber früheren Leistungen.81 Besonders in der Psychologie und der Figurencharakteristik habe sie sich erfolgreich zur „Vertiefung“ weiterentwickelt. Am besten läge der Autorin das „weib­lichste Thema“ des Bandes, das in der Novelle Die Erzieherin verarbeitet wird: „die pädagogische Wirkung einer tapferen, klugen und charaktervollen Frau auf einen flatterhaften, oberfläch­lichen Lebemann.“ Auch diese Rezension bescheinigt Emmi Lewald eine „ungewöhn­liche Begabung“, die sie „der niederen Sphäre billiger Unterhaltungsliteratur“ enthebe. Der Literaturkritiker Eduard Höher hebt in „Das literarische Echo“ gleichfalls die Novelle Die Erzieherin hervor, in der die Verfasserin mit „bedeutender Darstellungskunst und eindring­licher Psychologie“ die Handlung und Charakterentwicklung der Protagonisten fesselnd gestalte.82 Emmi Lewalds „feinfühlige[r] Kunst“ mache diese Novelle zu „mehr als nur Unterhaltungsliteratur“. Kritik übt er dagegen an dem „feuilletonistisch[en]“ Stil der Novelle Die Geschichte einer Beziehung sowie an Lewalds vermehrtem Gebrauch fremdsprachiger Redewendungen. In demselben Organ hebt Theo Schäfer über vier Jahre später die Sammlung Das Schicksalsbuch und andere Novellen als das beste bisher bekannte Werk Emmi Lewalds hervor.83 Die Novellen der Erzählerin stehen Schäfers Auffassung nach der Novellentheorie Paul Heyses nahe 84 und sind, bis auf die Skizze Erdgeruch, allesamt „brillant geschrieben“: „Die Hauptsache ist stets so fest und bestimmt herausgestaltet, daß es eine Freude ist.“ Besonders die Frauenfiguren seien mit einer „heysischen Liebenswürdigkeit“ gestaltet. Als meisterhaft gelungen hebt der Rezensent in seiner Besprechung die Novellen Das Schicksalsbuch und Feierstunden hervor, die beide die Künstlerthematik in den Mittelpunkt stellen. Diese Einschätzung teilt Schäfer mit seinem Kollegen von den „Blättern für Volksbibliotheken und Lesehallen“, der an den „im guten Sinne modern-realistischen Werke[n]“ der Autorin den Humor, die Charakterzeichnung sowie den „klaren, warmen Stil“ schätzt.85 Die literaturkritischen Besprechungen des Romans Sein Ich (1896) und der Novellenbände bis 1904, insbesondere Kinder der Zeit (1897), sorgten für einen Wandel von Emmi Lewalds schriftstellerischer Rolle und brachten ihr im literarischen Feld den 81 Vgl. N. N.: Gefühlsklippen. In: Westermanns Illustrierte deutsche Monatshefte 44 (1900), Bd. 88, S. 834. 82 Höber: Gefühlsklippen. Novellen von Emil Roland, Sp. 657. 83 Theo Schäfer: Novellenbücher. In: Das literarische Echo 7 (1905), H. 24 (15. Sept.), Sp. 1762 ff. 84 Vgl. zu Emmi Lewalds Umgang mit der Novellengattung Kap. 4.1.2.2. 85 Vgl. E. Kr.: Roland, Emil: Das Schicksalsbuch und andere Novellen. Rezension. In: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen 6 (1905), Nr. 3 u. 4 (März–April), S. 76.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

Ruf einer talentierten, entwicklungsfähigen Erzählerin ein, der die Beschränkung auf die Lyrikerinnenrolle aufweichte. Während besonders Emmi Lewalds frühen Prosaschriften als qualitativ unter ihrer Lyrik stehend eingeordnet wurden, fehlt der Vergleich mit den lyrischen Erzeugnissen ab 1896, dem Jahr ihrer ersten Romanveröffent­ lichung. Die Literaturkritik hob, unabhängig von ihrer Bewertung der qualitativ höchst unterschied­lichen Prosatexte, als Merkmale der Autorin Emmi Lewald fast einmütig das Anliegen der psychologischen Figurenzeichnung und der teils spöttisch-satirischen Gesellschaftsschilderung hervor. Die Verfasser der meisten Besprechungen vertraten die Ansicht, Emmi Lewalds Prosa sei über dem literarischen Durchschnitt anzusiedeln und läge über dem Niveau einfacher Unterhaltungsliteratur. Die Romane Ab 1904 begann mit der regelmäßigen Publikation von Romanen eine neue Phase in der literaturkritischen Rezeption der Autorin Emmi Lewald. Nachdem sie sich zunächst einen Ruf als begabte Lyrikerin erarbeitet hatte, war sie 1904 aufgrund der Erfolge ihres ersten Romans Sein Ich (1896) und vereinzelter umfangreicherer Novellen „schon längst als gute Erzählerin bekannt“86. Als die Autorin acht Jahre nach ihrem Romandebüt den Frauenentwicklungsroman Sylvia (1904) vorlegte, für den in den Literaturzeitschriften nur eine Rezension von Frieda von Bülow in der Rubrik „Neue Frauenromane“ der Unterhaltungszeitschrift „Vom Fels zum Meer“ auffindbar war, bekommt sie erneut eine positive Resonanz.87 Die Rezensentin von Bülow beurteilt Sylvia als einen „im besten Sinn moderne[n] Frauenroman“, wobei das Moderni­tätsurteil auf die thema­ tische Ausrichtung des Werks auf die Frauenproblematik zurückzuführen ist. Das Buch sei nicht „originell im Sinne von Absonder­lichkeit und künstlerischer Manier“, daher einer der neuen Literaturströmungen zuzuordnen, dafür aber authentisch. Die Autorin sei eine „Persön­lichkeit“ und zeichne sich durch einen klaren, eigenen Standpunkt aus – gemeint ist sicher­lich die Forderung des Romans nach Frauenemanzipation durch Bildung, Pf­lichterfüllung und Persön­lichkeitsentwicklung. Diese Sicherheit der Botschaft sowie „sicheres Können“ machen den Roman laut von Bülow zum dankbaren Lesestoff für „jede intelligente Frau“. Emmi Lewalds neue Rolle als Autorin von „Frauenromanen“, die in den literaturkritischen Organen in einer separaten Rubrik besprochen werden, festigt sich weiter mit dem Briefroman Der Lebensretter (1905) und dem Roman Das Hausbrot des Lebens (1907). Paul Neuburger, der Der Lebensretter in „Das literarische Echo“ in der Sammelbesprechung „Neue Frauenromane“ abhandelt, lobt die unterhaltende Leistung von Emmi Lewalds Briefroman.88 Die abwechslungsreiche Handlung und

86 Schäfer: Novellenbücher, Sp. 1762. 87 Bülow: Neue Frauenromane, S. 656 ff. 88 Neuburger: Neue Frauenromane, Sp. 173 ff.

229

230

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Sentimentalität des Stoffs – es finden Lebensrettungen, späte Reue und ein tragischer Todesfall statt – ist nach Ansicht des Kritikers mit der Briefform angemessen bewältigt. Neuburger hebt darüber hinaus die „heitere Ironie“ der Darstellung sowie die lebendige Figurenzeichnung hervor, die er jedoch im Fall der Hauptfigur Ferdinand Schulze nicht gelungen findet. Auch in der „Deutschen Revue“ wird Der Lebensretter insgesamt positiv besprochen, obgleich deut­licher als in „Das literarische Echo“ als Satire eingeordnet.89 Der Kritiker begeistert sich an Emmi Lewalds Vermögen, „die ernstesten dichterischen Analysen mensch­licher Schwächen und Vorurteile in die amüsanteste Form zu kleiden“ und sieht in Der Lebensretter Anknüpfungspunkte an die 1906 erschienenen humoristisch-satirischen Gesellschaftsskizzen Die Heiratsfrage. Der Standesdünkel und die gesellschaft­lichen Vorurteile des verarmten Adels seien in der Briefform des Romans so geistreich und „fesselnd“ beleuchtet, dass er der Autorin manche Übertreibungen in der Figurencharakterisierung nachsehen könne. Die Besprechung schließt mit der Leseempfehlung, dass der Roman „jeden modern empfindenden Leser in höchstem Grade anziehen“ und für das Talent der Verfasserin empfäng­lich machen müsse. Nach Geschmack des Kritikers der „Deutschen Roman-Zeitung“ hat Emmi Lewald jedoch ihre satirische Absicht in Der Lebensretter stark übertrieben und dadurch die „künstlerische Wahrschein­lichkeit“ gefährdet, da mehrere Figuren und Situationen des Romans „psychologisch kaum denkbar“ seien. Emmi Lewalds Neigung zu einer humoristischen Darstellungsweise spielt erneut in den Besprechungen ihres Frauenentwicklungsromans Das Hausbrot des Lebens (1907) eine zentrale Rolle. Die Literaturkritikerin Estelle du Bois-Reymond bezeichnet in der Sammelbesprechung „Mädchenschicksale“ in „Das literarische Echo“ Das Hausbrot des Lebens als Emmi Lewalds „reifste[s]“ Buch und möchte die Autorin unter den besten Romandichterinnen einreihen, vorausgesetzt sie gäbe ihrer „Neigung zur Karikatur“ nicht in so weit gehendem Maß nach.90 Darüber hinaus fällt das Urteil positiv aus: […] so sind die Personen kräftig und lebendig erdacht, ihre Entwicklung ist gesund und folgerichtig durchgeführt und der leicht ironische Ton, sowie der fixe, überraschend natür­ liche Dialog machen das ganze Buch zu einer höchst lesbaren Sittenstudie.

Der Vorwurf der übermäßigen Karikatur findet sich auch in der Sammelbesprechung „Moderne Frauenromane“ in „Die schöne Literatur“, deren Verfasser Adolf Watzke Emmi Lewalds moderne Frauenfiguren „grotesk und grob“ angelegt findet.91 Jedoch 89 Vgl. R. D.: Der Lebensretter. Rezension. In: Deutsche Revue 32 (1907), Bd. 1, S. 378. 90 du Bois-Reymond: Mädchenschicksale, Sp.  1423 ff. 91 Adolf Watzke: Moderne Frauenromane. In: Die schöne Literatur. Beilage zum Literarischen Zentral­ blatt für Deutschland 9 (1908), Nr. 2 (18. Jan), Sp. 17 ff.

Emmi Lewald in der Literaturkritik

beurteilt auch dieser Kritiker Emmi Lewald als „gewandte Erzählerin“, die das Publi­ kum „mit ihrer Persön­lichkeit zu interessieren“ vermag. Resümee Nach der Publikation des Romans Das Hausbrot des Lebens ging die literaturkritische Rezeption von Emmi Lewalds Werken in den deutschen Literaturzeitschriften signifikant zurück, sodass für eine Analyse der Zeit zwischen 1908 und 1935 b ­ isher die Materialbasis fehlt. Für eine differenzierte Analyse ihrer literaturkritischen Rezeption während des deutschen Kaiserreichs und für eine generelle Untersuchung der Zeit bis 1935 müsste eine umfangreiche Recherche der Tagespresse stattfinden. Auf Basis der bisher erfolgten Analyse der kritischen Rezeption Emmi Lewalds in Literaturjournalen sind jedoch bereits gute Befunde zu den Positionswechseln der Autorin im literarischen Feld der Zeit zwischen 1888 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mög­lich. Wie oben ausgeführt, wurde Emmi Lewald in der deutschen Literaturkritik nach ihrem Eintritt ins literarische Feld zunächst als begabte und entwicklungsfähige Lyrikerin, nach 1896 auch als gute Erzählerin rezipiert. Nach 1904 konnte die Autorin ihren Ruf als Prosaautorin zunehmend festigen und wurde darüber hinaus von der Literaturkritik verstärkt auf das Etikett „Verfasserin von modernen Frauenromanen“, daher auf die Behandlung von Gesellschafts- und Frauen­themen festgelegt. Mit den im bürger­lichen und adeligen Milieu angesiedelten zeitaktuellen Stoffen, ihrer an die Satire grenzenden humoristischen Darstellungsweise sowie ihrer Verteidigung bildungsbürger­licher Wertvorstellungen gegenüber den ‚Verformungen‘ des modernen Lebens fand Emmi Lewald eine weitgehend positive Aufnahme bei der zeitgenössischen Literaturkritik. Dieser Erfolg vollzog sich allerdings in der engen Kategorie der ‚Frauenliteratur‘, sodass von einer „Gettoisie­rung“ im Sinne Heydebrands und den damit verbundenen Konsequenzen für spätere Wertungs- und Kanonisierungsprozesse gesprochen werden kann.

231

232

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

3.4 Rezeption III: Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung Neben dem Lesepublikum und der Literaturkritik stellt die Literaturgeschichtsschreibung einen weiteren Aspekt der zeitgenössischen und posthumen Rezeption dar, anhand derer sich die Position Emmi Lewalds im literarischen Feld untersuchen lässt. Während die Untersuchung der Rezeption durch die Literaturkritik Aufschluss über ihre Aufnahme und Bewertung im literarischen Tagesgeschäft gibt, zeigt die Analyse der Literaturgeschichtsschreibung, ob und aus welchen Gründen Literaturhistoriker ihre Texte auch langfristig als erwähnenswert und erinnerungswürdig bewerteten. Grundsätz­lich kann festgestellt werden, dass Emmi Lewald, wie die Mehrzahl der schreibenden Frauen, von der akademischen und pädagogischen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Angaben zu ihren biografischen Daten und literarischen Werken finden sich jedoch mit unterschied­licher Schwerpunktsetzung in den seit den 1880er Jahren vermehrt publizierten populären Literaturgeschichten nicht-wissenschaft­licher Autoren, etwa in regionalen Literatur- und Kulturgeschichten, frauen­spezifischen Literaturgeschichten und Literaturlexika.1 Emmi Lewalds Rezeption durch die Literaturgeschichtsschreibung stand daher in grundsätz­licher Abhängigkeit von der spezifischen Zielsetzung der einzelnen Werke und von dem Anspruch der Autoren, regionale Verhältnisse bzw. die zeitgenössische deutsche Literaturentwicklung mög­lichst vollständig und unter Berücksichtigung der Literatur von Frauen darzustellen. In dieser Hinsicht lassen sich nur zum Teil Parallelen zwischen Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung des für diese Arbeit relevanten Zeitraums feststellen. Nichtakademische Literaturgeschichtsschreibung nach 1871 Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung wurde über die Zeit des Vormärz hinaus von Projekten zu einer Geschichte der deutschen Nationalliteratur bestimmt, die dem gebildeten bürger­lichen Publikum zur Selbstverständigung im Zeichen der Konstituierung einer nationalen Identität dienen sollten.2 Die frühen Literaturhistoriker 1 Die Forschungsliteratur zur Literaturgeschichtsschreibung befasst sich kaum mit der Geschichte literaturhistoriographischer Massenliteratur, sondern bleibt oft auf die akademische und pädagogische Literaturgeschichtsschreibung beschränkt. Eine Ausnahme bildet Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981. 2 Zu den Vertretern der nationalen Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz zählen vor allem Georg G. Gervinus mit seiner Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1836 – 1842), Robert Prutz, Hermann Hettner, Julian Schmidt und Rudolf von Gottschall. Obwohl die Literatur­ geschichtsschreibung nach 1849 einen Funktionswandel erlebte und nicht mehr direkt für politische Ziele in Anspruch genommen wurde, lebte die nationale Orientierung während des deutschen Kaiserreichs fort. Bei Josef Nadler und Adolf Bartels mischen sich im 20. Jahrhundert nationale mit biologistischen und rassistischen Argumenten. Vgl. Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte, S. 200 – 231 und Peter Uwe Hohendahl: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830 – 1870. München 1985, S. 225.

Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung

waren teils Lehrstuhlinhaber, teils freie Schriftsteller und schrieben nicht vorrangig für den Universitätsgebrauch, sondern für die allgemeine literarische Öffent­lichkeit. Der Wandel der Literaturgeschichtsschreibung zu einer Fachdisziplin und ihre Institutionalisierung an den Universitäten vollzogen sich erst nach der Reichsgründung im Zuge des positivistischen Wissenschaftsideals.3 Bis dahin war die Literaturgeschichte des Nachmärz weniger von akademischen Literaturhistorikern als von Autoren und Herausgebern geprägt, die aus dem Bereich der journalistischen Literaturkritik stammten: Julian Schmidt, der die Geschichte der deutschen Nationalliteratur im 19. Jahrhundert (1853) schrieb, gab gemeinsam mit Gustav Freytag (Bilder aus der deutschen Vergangenheit, 1862) seit 1848 „Die Grenzboten“ heraus; Rudolf von Gottschall war Verfasser von Die deutsche Nationalliteratur in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und publizierte seit 1865 die „Blätter für literarische Unterhaltung“; Robert Prutz schrieb Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848 – 1858 (1859) und war Herausgeber der Zeitschrift „Deutsches Museum“. Für das historisch-kritische Arbeiten dieser anspruchsvollen Vertreter der nichtakademischen Literaturgeschichtsschreibung war die literarische Zeitschrift das wichtigste Medium, durch das sie bedeutenden Einfluss auf die literarische Meinungsbildung breiter Schichten ausübten. Ihre Literaturgeschichten gingen zu großen Teilen in die populären Literaturgeschichten ein, welche ab den 1880er Jahren den Literaturmarkt überschwemmten und ebenfalls eine wesent­lich engere Beziehung zur zeitgenössischen Literaturproduktion hatten als die Literaturgeschichten der akademischen Tradition.4 Emmi Lewalds literaturgeschicht­liche Rezeption vollzog sich vor allem in der historiographischen Massenliteratur und in Literaturlexika, die nach der Reichsgründung von zahlreichen hauptberuf­lichen Schriftstellern, Journalisten, Literaturkritikern und Deutschlehrern vorgelegt wurden.5 Diese auf ein Massenpublikum zugeschnittenen, einbis mehrbändigen Gesamtdarstellungen sowie zahlreiche Neuauflagen älterer Werke zeugen von einer steigenden Nachfrage nach lesbaren, leicht zugäng­lichen Informationswerken zur deutschen Literatur, insbesondere auch der Gegenwartsliteratur. Das Aufkommen der Massenliteraturgeschichtsschreibung ist in engem Zusammenhang mit den Tendenzen des zeitgenössischen literarischen Lebens zu sehen, auch zeitgenössische Literatur in den Bestand dessen aufzunehmen, was ein gebildeter Bürger las. Folgerichtig fanden auch Regional- und Unterhaltungsliteratur sowie die Literatur von Frauen Eingang in einige Literaturgeschichten. Rosenberg beobachtet, dass 3 Als Hauptvertreter der akademischen Literaturkritik nach der Reichsgründung gelten Wilhelm Scherer und seine Nachfolger. 4 Für die Literaturgeschichten mit akademischer Tradition dieser Zeit steht exemplarisch die „SchererSchule“ in Nachfolge von Wilhelm Scherers Standardwerk Geschichte der deutschen Literatur (1883). Vgl. Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte, S. 201. 5 Vgl. hierzu vor allem das Kapitel „Konjunktur in der deutschen Literaturgeschichte nach 1871“ bei Rosenberg: Zehn Kapitel, S.  128 – 138.

233

234

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

[…] mit der Entwicklung dieser populären Darstellungen zu einer speziellen Sorte von Massenliteratur […] die Literaturgeschichtsschreibung eine ähn­liche Schichtung wie die literarische Kunstproduktion [erfuhr], wobei belletristische und historiographische Massenliteratur gleiche oder vergleichbare Merkmale aufweisen.6

Auf die genannten Merkmale geht Rosenberg an dieser Stelle nicht direkt ein, beschäftigt sich aber später mit allgemeinen Merkmalen, die er aus der exemplarischen Untersuchung von rund vierzig im Text genannten Werken gewonnen hat.7 Die „triviale Literaturgeschichtsschreibung“ weise durchgehend eine konservative Tendenz auf, übernehme ihre Interpretationen und Wertungen meist aus älteren literaturhistorischen Werken, strebe aber keine Auseinandersetzung mit der Methodendiskussion der zeitgenössischen akade­ mischen Disziplin an. Außerdem sei ihnen ein negatives Verhältnis zur Gegenwartsliteratur eigen, „die entweder als noch nicht einschätzbar eliminiert oder als dekadent abgewertet wird“. Rosenbergs Thesen treffen auf Emmi Lewalds Rezeption durch die Literaturhistorik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts jedoch nur bedingt zu. Die Konjunktur literaturhistorischer Überblicke nach 1871 muss in engem Zusammenhang mit dem Ideal einer Nationalkultur des gebildeten bürger­lichen Publikums der wilhelminischen Zeit gesehen werden. Die durch die Reichseinigung hervorgerufene nationale Euphorie breiter bürger­licher Schichten begründete ein gewaltiges Interesse an identitätsstiftenden Kulturleistungen der Deutschen. Wie bereits im Vormärz wurde „der geschicht­liche Zusammenhang der Kunstwerke, den sie [Anm. die Literaturhistoriker] rekonstruierten, […] als Teil eines größeren Ganzen konzipiert, näm­lich als Teil einer Nationalgeschichte, in der sich die Identität des deutschen ­Volkes äußerte“.8 Die Tendenz zur Inventarisierung von Kulturgütern und ihre Einordnung in den natio­nalhistorischen Zusammenhang spiegelten sich auch in der Aufstellung zahlreicher Denkmäler, in der Neueröffnung historischer Museen und in der Geschichtsschreibung wider. Mentalitätsgeschicht­lich ist das Bedürfnis auszumachen, […] die großen Leistungen der Vergangenheit als geschicht­liche Tradition und kulturellen Besitzstand des neugegründeten Deutschen Reiches auszustellen und damit zu einer Repräsentation nationaler Größe beizutragen, die von den herrschenden Klassen in diesem Reich zunehmend auch zur ideologischen Begründung ihrer expansiven außenpolitischen Ziele eingesetzt wurde.9

6 Rosenberg: Zehn Kapitel, S. 128. 7 Unter den genannten Werken befinden sich nicht die Literaturgeschichten von Emil Pleitner, Johannes Wiegand, Max Geißler, Heinrich Spiero und Mielke / Homann, in denen Texte zu Emmi Lewald nachgewiesen werden konnten. Unter den von Rosenberg erwähnten Literaturhistorikern ist Adolf Bartels der einzige, der Emmi Lewald in seine Werke aufnahm. Vgl. ebd., S. 130 ff. 8 Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte, S. 202. 9 Rosenberg: Zehn Kapitel, S. 133.

Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung

Emmi Lewald Im Raum Oldenburg wurde Emmi Lewald mit Namen und Werkverzeichnis erstmals 1897 in dem von dem Oldenburger Lehrer und Schriftsteller Franz Poppe (1834 – 1915) herausgegebenen Album Oldenburgischer Dichter erwähnt.10 Poppe nennt Geburts­datum und Geburtsort und hebt unter ihren Werken den Erstling Unsre lieben Lieutenants sowie die in der Schulzeschen Hofbuchhandlung erschienenen Gedichtbände Der Cantor von Orlamünde (1889) und Gedichte (1894) hervor. Des Weiteren vermerkt er: „Novellen erschienen in den letzten Jahren im ‚Bazar‘, der ‚Kölnischen Zeitung‘ und ‚Die Frau‘“. Über die bibliografischen und biografischen Angaben hinaus bietet Poppe keine weiteren Informationen oder Wertungen. Zu einer ausführ­licheren Erwähnung kommt es in der Geschichte Oldenburgs im 19. Jahrhundert (1899 – 1900) des Oldenburger Lehrers Emil Theodor Pleitner (1863 – 1925), ein Werk, welches neben Militär- und Dynastiegeschichte auch die kulturgeschicht­liche Entwicklung des Großherzogtums Oldenburg berücksichtigt. Bei Pleitner begegnet dem Leser die seit dem Vormärz beobachtbare literaturhistorische Auffassung, dass die deutsche Kunstepoche mit Goethes Werk ihren Höhepunkt und Abschluss erreicht habe und seitdem eine Abwärtstendenz feststellbar sei. Seine Ausführungen zum literarischen und künstlerischen Leben Oldenburgs beginnen mit einer Feststellung: Nach den glorreichen Kriegsjahren und der Wiederauferstehung des deutschen Reiches erwartete man vielfach eine neue Blütezeit deutscher Dichtung für die nächste Zukunft. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Andererseits sind aber viele Leistungen der deutschen Dichtung aus den ersten Jahrzehnten des jungen Reiches bedeutend genug, um ihr auch für die Zukunft Anerkennung und Teilnahme zu sichern. Auch der oldenburgischen Dichtung war keine neue Blütezeit beschieden, wie sie eine solche an der Wende und im dritten und vierten Jahrzehnt des Jahrhunderts erlebt hatte. Aber der Dichter schwieg nicht […].11

Pleitner weist in seinem materialreichen Werk zunächst auf Emmi Lewalds Pseudo­nym hin und kommt dann auf ihre „Sammlung origineller Skizzen aus dem Offiziersleben“12 und den Skandal in der Stadt zu sprechen, der für ihn als Oldenburg-Historiker offensicht­lich wichtig ist. Des Weiteren hebt er Roman und Novelle als ihre bevorzugten Genres hervor und betont die „rasche Folge“ der Veröffent­lichungen, die Verarbeitung von Reiseerinnerungen in Gedichten sowie ihre auffallende Vorliebe für die Landschaft Thüringens. Als Beispiele für Lewalds wichtigstes Metier, die Gesellschaftsschilderung, hebt Pleitner lobend die Novellensammlung Ernstes und 10 Franz Poppe: Album Oldenburgischer Dichter. Eine Festgabe. 2. neu bearb. und erg. Aufl. Oldenburg u. a. 1897, S. 293. 11 Emil Pleitner: Oldenburg im 19. Jahrhundert. Bd. 2: 1848 – 1900. Oldenburg 1900, S. 288. 12 Ebd., S. 299.

235

236

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Heiteres (1891) sowie die Erzählung Die Erzieherin (1899) hervor. Er kommt zu einem positiven Urteil und resümiert: „Witzig und geistvoll entwirft sie mit scharfer Feder Bilder aus den Kreisen der oberen Zehntausend, wie sie sich ihr am Ende des Jahrhunderts darstellen.“13 Neben Emmi Lewalds Prosaarbeiten hebt Pleitner gleichgewichtend die lyrische Begabung der Autorin hervor und räumt dem vollständigen Gedicht Wir können auch, wenn es die Zeit gebietet… aus Gedichte (1894) Platz in seinen Ausführungen ein.14 Auffallend an Pleitners Ausführungen ist, dass seine Angaben zur Erstveröffent­lichung der Werke sich auf deren erste Zeitschriftenpublikation beziehen.15 Emmi Lewald wurde nach dem Erscheinen ihrer ersten Werke auch über die Grenzen des Großherzogtums Oldenburg hinaus als Schriftstellerin bekannt und in die wichtigen zeitgenössischen Autorenverzeichnisse aufgenommen. In dem von Joseph Kürschner herausgegebenen Deutschen Literatur-Kalender, dem wichtigsten Gesamtverzeichnis deutschsprachiger Schriftsteller der Zeit, war sie seit 1892 vertreten. Der Literaturwissenschaftler Max Osborn erwähnt sie in seinem Überblickswerk Die Frauen in der Litteratur und der Presse (1896) im Telegrammstil gemeinsam mit einer Reihe anderer Autorinnen ihrer Zeit. Hermine Villinger sei nicht vergessen, und auch der Name der ausgezeichneten Münchner Bühnenkünstlerin Marie Conrad-Ramelo, die frei­lich nur als Schauspielerin berühmt bleiben wird, ferner die gewandte und fleißige E. Vely (Emma Couvely-Simon), Marie von Bunsen, Bianca Bobertag, E. Liß-Blanc (Lisa Weise), Emmi Jansen (Emil Roland), Luise Westkirch, Adelheid Weber, Anna Croissant-Ruß, Carry Brachvogel, Antonie Andrea, Frida von Bülow, Sophie von Khuenburg seien noch genannt, dazu die früh verstorbene Sarah Hutzler-Kainz.16

Osborn grenzt Emmi Lewald zu diesem Zeitpunkt von Autorinnen wie ihrer Freundin Valeska Bethusy-Huc und Dora Duncker ab, die seiner Ansicht nach schon „bedenk­ lichere Produktionen“ verfassten und ihre Arbeiten „für anspruchslose Zeitschriften und für die ‚Fortsetzung folgt‘-Rubrik der Tagesblätter“17 produzierten. Tatsäch­ lich zählten auch für Emmi Lewald seit Beginn ihrer schriftstellerischen Arbeit die Unterhaltungszeitschriften und die Tagespresse zu den wichtigsten Abnehmern ihrer 13 Ebd., S. 300. 14 Vgl. Emil Roland: Wir können auch, wenn es die Zeit gebietet… In: Gedichte. 2. Aufl. Oldenburg 1901, S. 94. 15 Unsere lieben Lieutenants (1888) datiert Pleitner auf 1887, Ernstes und Heiteres (1891) auf 1890 und Der Cantor von Orlamünde (1889) auf 1892. Da er sich bei dem 1917 in Berlin bei Hillger erschienenen Roman Die Erzieherin auf dessen ersten Abdruck in der „Deutschen Romanbibliothek“ 1899 bezieht, ist es mög­lich, dass diese Daten von bisher unbekannten Zeitschriftenvorabdrucken stammen. Pleitner: Oldenburg im 19. Jahrhundert, S. 299 f. 16 Osborn: Die Frauen in der Litteratur und der Presse, S. 258. 17 Ebd.

Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung

Texte, sodass Osborns Einschätzung mög­licherweise im Zusammenhang mit ihrem literarischen Prestige als Lyrikerin steht. Das wichtige Lexikon deutscher Frauen der Feder von Sophie Pataky führt Emmi Lewald in seiner Erstausgabe von 1898.18 Pataky liefert Emmi Lewalds wichtigste biografische Daten, den Hinweis auf das Pseudonym und ein lückenloses Werkverzeichnis bis 1897. 1902 taucht ihr Name in dem mit dem Literarischen Jahrbuch verbundenen Lexikon der lebenden deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen von Peter Thiel auf.19 Johannes Wiegand kategorisiert Emmi Lewald in seinem Werk Die Frau in der modernen Literatur (1903) als eine der jüngeren Schriftstellerinnen, die bei der Schilderung der „modernen“ gesellschaft­lichen Verhältnisse hervorragen. Wiegands Urteil über die Literatur von Frauen wurzelt spürbar in den Bewertungskategorien seiner Zeit, so zweifelt er an der Begabung des weib­lichen Geschlechts für Lyrik und die Dramatik und gesteht Frauen am ehesten die Prosagattung zu. Von allen Dichtungsarten ist die epische der schreibenden Frau stets am sympathischsten gewesen. Sie erforderte keine solche energische Konzentration als das Drama, keine so heiße Empfindungsverdichtung als die Lyrik. Im Roman und in der Novelle konnte sich die Frau frei gehen lassen, konnte sie ihre beste Gesellschaftsgabe offenbaren: über einen Gegenstand angenehm, witzig, anschau­lich und mit schärfster Beleuchtung der Einzelheit zu plaudern. Eine große künstlerische Komposition zu schaffen, gelingt der Frau sehr selten. Sie ist meist nur Beherrscherin des Details, und ihre Schöpfungen sind daher meist Mosaikgebilde.20

In Wiegands Augen ist die Literatur „moderner“ Autorinnen vorrangig von Engagement, Problematisierung und didaktischen Absichten geprägt. Seine Aussagen über Schriftstellerinnen, die von den Ideen der Frauenbewegung beeinflusst wurden, lassen sich zwischen Anerkennung und Kritik am künstlerischen Vermögen der Frauen verorten: In seinen Augen kann ein Werk nur als „physiologisch-philosophische Untersuchung“ oder als ästhetisches Kunstwerk geschaffen werden, da eine didaktische Intention den Kunstwerkcharakter zerstöre. Die Werke der Autorinnen seien […] aus Leidenschaft geboren, und es kommt ihnen weniger auf die künstlerische Schönheit und Fülle, als auf die vorwärtstreibende Wirkung an. Die Frau ist heute auf dem Kriegspfad, sie steht im Streite mit der Gesellschaft, und sie fühlt sich voll als Soldat der Entwicklung.21 18 Vgl. Pataky: Lexikon deutscher Frauen der Feder, S. 200 und S. 497 f. 19 Vgl. das Literarische Jahrbuch. Jahres-Rundschau über die literarischen Erzeugnisse deutscher Zunge auf schöngeistigem, dramatischem und musikdramatischem Gebiet verbunden mit einem Lexikon der lebenden deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Hg. von Peter Thiel. Köln a. R. 1903, S. 240. 20 Johannes Wiegand: Die Frau in der modernen Literatur. Plaudereien. Bremen 1903, S. 38. 21 Ebd., S. 39.

237

238

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Seinem Blickwinkel bei der Einschätzung des modernen Frauenromans folgend, hebt Wiegand an Emmi Lewalds Werken besonders die Thematisierung ihrer frauenrechtlerischen Anschauungen in den Novellenbänden Kinder der Zeit und In blauer Ferne hervor. Für ihn ragt sie aus der „Schar der jüngeren Damen, deren Stärke […] die Schilderung der gesellschaft­lichen Verhältnisse ist“, hervor. Trotzdem grenzt Wiegand Emmi Lewald gegen radikalere Schriftstellerinnen auf dem Gebiet der Gesellschaftssatire wie Juliane Déry und Helene von Monbart ab und bescheinigt ihr in künstle­ rischer als auch in stoff­licher Hinsicht das „Maß“ einer gewissen „Liebenswürdigkeit“22. Wiegand beurteilt die Autorinnen insgesamt nach ihrem Umgang mit Themen der Frauenemanzipation und lässt eine ästhetische Wertung oder die Erwähnung anderer Stoffe vermissen. Das verbreitete zeitgenössische Urteil, die Literatur von Frauen sei zwar unterhaltend, aber qualitativ nur mittelmäßig, bildet den zentralen Aspekt von Max Geißlers Kritik in seinem Führer durch die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts (1913)23. Emmi Lewald sei eine „Unterhalterin aus dem gebildeten Durchschnitt mit dem Mangel dichte­rischer Persön­lichkeit“, die schreibt, was „in tausend Variationen vor ihr erzählt worden“ ist, aber keinen Ehrgeiz besäße, künstlerisch etwas wirk­lich Neues zu schaffen. Das Fehlen von „lokaler Färbung“ und „charaktervollem Gepräge“ in ihrer Litera­ tur führt er auf „die abgeschliffene Art der gebildeten Frau zurück, die zufällig in die Litera­tur sich fand“, daher Dilettantin und nicht professionelle Autorin ist. Ganz im Gegensatz zu Geißler beurteilt Heinrich Spiero (1876 – 1947) in dem wichtigen Werk Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800 (1913) Emmi Lewalds Schreibstil als „durchaus sicher und frei“.24 Ihre Romane Sylvia (1904) und Das Hausbrot des Lebens (1907) ordnet Spiero als „zumal auch in den berlinischen Teilen, gute Gesellschaftsbilder ohne Übersteigungen“ ein. Er bescheinigt der Schriftstellerin „sicheren Weltblick, einen raschen Stil und Erfindungsgabe genug, den Gesellschaftsroman zu tragen“ und lobt auch ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet der Novelle. Ihr fehle nur „die rechte Wärme“. Neben Sylvia und Das Hausbrot des Lebens wird noch die Novelle Gefühlsklippen (1900) erwähnt. Heinrich Spieros literaturhistorische Arbeiten beschäf­tigen sich mit Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und solchen, die Spiero als Zeitgenossen gekannt haben dürfte, unter anderem Theodor Fontane, Julius ­Rodenberg, Gerhart Hauptmann, Detlev von Liliencron und Wilhelm Raabe. Die Überblicksdarstellungen Geschichte der deutschen Lyrik seit Claudius (1909) und Geschichte der deutschen Frauendichtung (1913) erschienen in der erfolgreichen populärwissenschaft­ lichen Reihe „Aus Natur und Geisteswelt“ des Teuber-Verlages in Leipzig.25 22 Ebd., S. 43. 23 Vgl. Max Geißler: Führer durch die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Weimar 1913, S. 324 f. 24 Vgl. Heinrich Spiero: Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800. Leipzig 1913, S. 118. 25 Heinrich Spiero war ein 1876 in Königsberg geborener Jurist und Kaufmann, der sich auch als Schriftsteller und Literaturhistoriker betätigte. Er hatte an den Universitäten von Berlin, Freiburg,

Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung

Im Jahr 1913 nimmt Karl Wilhelm Franz Brümmer (1836 – 1923) Emmi Lewald in sein Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart auf.26 Brümmer ging es bei seinem 1885 erstmals erschienenen Nachschlagewerk um Vollständigkeit, nicht um eine Selektion nach vermeint­licher literarischer Qualität, was ihm zeitgenössische Kritik einbrachte.27 Aufgrund dieses Vorgehens ist die Präsenz von Autorinnen in Brümmers Lexikon im Vergleich zu anderen nichtfrauenspezifischen Werken um 1900 außerordent­lich hoch und die Informationen zu ihnen besonders detailreich. Eine weitere Besonderheit des Lexikons stellt B ­ rümmers Bearbeitungsmethode dar, denn er erbat sich für seine Lexikonartikel ausführ­liche Biografien und Informationen von den Autorinnen und Autoren selbst. Emmi Lewald sandte Franz Brümmer bereits 1900 eine biografische Selbstauskunft zu, die der Bearbeiter Brümmer zu einem biografischen Artikel mit ausführ­licher Werkaufzählung bis 1911 verarbeitete.28 Lewalds Hinweis auf ihre Vorliebe für Stoffe, „in denen es sich um die Kämpfe und Bestrebungen der Frauenwelt handelt“, ließ Brümmer in seinem Nachschlagewerk jedoch unbeachtet. Die Beschreibung von Emmi Lewalds Werk in Mielke und Homanns Der deutsche Roman des 19. und 20. Jahrhunderts (1920) fällt im Gegensatz zu Wiegand, Geißler und Spiero äußerst knapp aus.29 In einem Nebensatz des Kapitels „Der Frauenroman“ wird ledig­lich erwähnt, dass „E. Roland (Pseudonym für Emmi Lewald) […] in ihrem Roman Das Hausbrot des Lebens […] mit feiner Ironie an die Bildungsbestrebungen des weib­lichen Geschlechts rührt“ und damit „zu den bekannteren Schriftstellerinnen, die aus der Fremde anmutige Schilderungen in Verbindung mit novellistischen und romantischen Motiven zu geben wissen“ gehört. Unter Reduktion von Emmi Lewalds Romanwerk auf einen einzigen Roman verzeichnen Mielke und Homann Emmi Lewald in ihrer 1920 über dreißig Bände umfassenden Literaturgeschichte pro forma und mit minimalem Informationsgehalt. Die gemäßigte Ausprägung von Emmi Lewalds frauenrechtlerischer Tendenz wird durch die Aussage zu ihrer Kritik an weib­lichen Bildungsbestrebungen sogar bedenk­lich verfälscht. Leipzig und Lyon zunächst Germanistik und später Jura und Geschichte studiert. 1915 kam er nach Berlin, um eine Sektion des preußischen Kriegsministeriums zu leiten und ließ sich nach Kriegsende 1919 als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Spiero publizierte u. a. die Essaysammlung Deutsche Geister (1910) und die Geschichte des deutschen Romans (1950). Vgl. Reinhard Müller: Heinrich Spiero. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Bd. 18. Hg. von Carl Ludwig Lang. 3. Aufl. Bern, München 1998, S. 549 f. 26 Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, S. 246. 27 Vgl. Hacker: Rollen – Bilder – Gesten, S. 11 ff. 28 Vgl. die handschrift­liche einseitige Kurzvita von Emmi Lewald im Nachlass Brümmer Biograph. II. in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. 29 Vgl. Hellmuth Mielke / Hans-Joachim Homann: Der deutsche Roman des 19. und 20. Jahrhunderts. 7. Aufl. Dresden 1920 (Neuausgabe), S. 402.

239

240

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Bemerkenswert ist für Emmi Lewalds literaturhistorische Rezeption zu Lebzeiten, dass der Informationsgehalt frauenspezifischer und nicht-frauenspezifische Lexika ungefähr ausgeg­lichen ist. Die Verfasser von allgemeinen Überblickswerken, Kürschner, Brümmer und Geißler, legen auf biografische Angaben und ein vollständiges Werkverzeichnis ebenso viel Wert wie Sophie Pataky bei ihrem Frauenlexikon. Eine Reduktion des Informations­ gehalts und die Auswahl eines oder mehrerer vermeint­lich repräsentativer Werke lassen sich bei Wiegands und Spieros frauenspezifischen Werken ebenso feststellen wie bei Mielke / Homann und später bei Adolf Bartels, einem Vertreter der völkischen Literaturgeschichte. Emmi Lewald in der völkischen Literaturgeschichtsschreibung Neben der seit der Vormärzzeit verbreiteten national-liberalen Position gewannen im deutschen Kaiserreich antisemitische und völkische Tendenzen wachsenden Einfluss in der Literaturgeschichtsschreibung.30 1901/02 erschien die Geschichte der deutschen Literatur von Adolf Bartels, der sein literaturhistorisches Material als erster konsequent auf diese Gesichtspunkte hin untersucht und bewertet.31 Im Gegensatz zur national orientierten Literaturgeschichtsschreibung, die im literarischen Material Indizien für in die Nationenbildung mündende Prozesse suchte, findet sich bei Bartels eine Methode, die „in der geschicht­lichen Mannigfaltigkeit das Identische hervorzuheben und zu erkennen versuchte, eben die germanisch bestimmte Deutschheit“.32 Für ihn stellte die deutsche Literatur das Kulturgut derjenigen Deutschen dar, die eine biologisch-rassische Zugehörigkeit zum germanischen Volk und damit eine deutsche Identität besaßen. Nicht die Literatursprache Deutsch, sondern die ‚Stammeszugehörigkeit‘ ihrer Verfasser bestimmte bei Bartels die Aufnahme eines Werks oder eines Autors in den Kanon oder die Litera­ turgeschichte, ein Konzept, welches reich­lich Gelegenheit zur Ausgrenzung bot. Der Literaturhistoriker zählte beispielsweise Heinrich Heine als ‚jüdischen‘ Lyriker nicht zu einer deutschen Literaturtradition. Um einen Eindruck von Bartels’ Argumentationslinie zu geben, sei folgender Abschnitt aus Hauptwerke zur Deutschen Literaturgeschichte (1928) über Emmi Lewald und eine weitere zeitgenössische Schriftstellerin zitiert. Zahlreich genug sind selbstverständ­lich auch die kleineren Begabungen für den Roman unter den Frauen. Für eine Jüdin hielt ich früher Jassy Torrund (aus Preetz in Holstein, 1860 geb.), die eigent­lich Josepha Mose heißt. Aber sie hat mir ausreichende Nachweise über ihre deutsche Herkunft gegeben. Von ihren Werken seien Was das Leben bringt, Sonjas Rache, Ein dunkler Punkt genannt. Die kleineren Novellen von ihr sind meist bei Reclam. – Jüdisch verheiratet, mit dem Geh. Oberfinanzrat Felix Lewald, war Emmi Lewald, geb. Jansen, ps. Emil Roland (aus Oldenburg, Gr., 1866 geb.), die außer den Romanen Sein Ich,

30 Vgl. Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte, S. 216 ff. 31 Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur. 2 Bde. Leipzig 1901/02. 32 Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte, S. 220.

Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung

Sylvia, Der Lebensretter, Die Wehrlosen, Die Rosen vor der Thür [sic!] auch Gedichte, Novellen und Italie­nische Landschaftsbilder verfaßte.33

Bartels zählt Emmi Lewald zwar zu den „kleineren Begabungen“ und grenzt sie von Autorinnen wie Hedwig Courths-Mahler und Annie Hruschka ab, die er als „gewöhn­liche Unterhalterinnen“34 bezeichnet und deren Werke er aus diesem Grund nicht nennt, geht aber ebenso wenig auf ihre Werke ein. Es handelt sich bei Bartels um eine Aufzählung von Autoren und Werken, bei der die Bestimmung ihrer „rassischen“ Zugehörigkeit oder NichtZugehörigkeit zu den Deutschen und ihrer Literatur das einzige Anliegen des Autors ist. Bartels Schriften werden in der Sekundärliteratur einstimmig nicht der wissenschaft­ lichen Literaturgeschichtsschreibung zugerechnet, Dainat bezeichnet sie zu Recht als „Hetzschriften“ und „Literaturpolitik übelster Art“35. Hohendahl betont, dass Bartels’ Schriften noch nicht als Eingang der völkisch-rassischen Begründung deutscher Identität und Literatur in den Wissenschaftsbetrieb gewertet werden können: Zweifellos war Bartels’ Literaturgeschichte für die wilhelminische Zeit nicht repräsentativ, stellte aber eine Randposition dar, die innerhalb der Grenzen des zeitgenössischen Diskurses lag. Bartels rabiater Antisemitismus konnte frei­lich in der literarischen Öffent­lichkeit noch nicht mit allgemeiner Unterstützung rechnen.36

Dennoch stellte Bartels’ Ansatz eine Antwort auf die Probleme einer Literaturgeschichtsschreibung dar, die um 1900 den nationalen Gedanken als methodisches Ordnungs- und Einheitsprinzip bei der Bearbeitung ihrer Forschungsergebnisse eingebüßt hatte. Diese Leerstelle füllt Bartels mit dem Orientierungsangebot eines völkischrassischen Bewertungsschemas, nach dem die „deutsche Literatur und Gesellschaft in Gut und Böse ( Juden, Liberale, Moderne usw.)“37 eingeteilt werden konnte. Sein literaturhistorisches Konzept zählt, ebenso wie die Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912 – 1928) von Josef Nadler, zur direkten Vorgeschichte des Umgangs mit Literatur in der Zeit des Nationalsozialismus.38 33 Adolf Bartels: Hauptwerke zur deutschen Literaturgeschichte. Erster bis dritter Band: Teil 3: Die neuste Zeit. Große Ausgabe, Leipzig 1928, S. 831. Vgl. die identisch lautende Erwähnung Emmi Lewalds bei Adolf Bartels: Deutsche Dichtung von Hebbel bis zur Gegenwart (Die Alten und die Jungen). Ein Grundriß. Dritter Teil. Die Jüngsten. 10.–12. Aufl. Leipzig 1922. 34 Bartels: Hauptwerke, S. 831. 35 Holger Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart u. a. 1994, S. 494 – 537. S. 520. 36 Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte, S. 218. 37 Dainat: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte, S. 520. 38 Erst mit dem literaturhistorischen Werk von Josef Nadler erlangte die völkische Richtung in der Literaturgeschichtsschreibung Anerkennung im Wissenschaftsbetrieb, obwohl auch Nadlers Ansatz

241

242

Positionierung der Autorin im literarischen Feld

Nach 1945 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges und Emmi Lewalds Tod 1946 beschäftigte sich die Literaturgeschichtsschreibung merk­lich weniger mit der Autorin und ihrer Literatur; sie bleibt jedoch mit Namen und Werknennung in einigen allgemeinen Lexika und frauenspezifischen Werken vertreten, die es sich zum Ziel setzen, eine mög­lichst umfassende Dokumentation der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts vorzulegen. Zu ihnen gehören das Deutsche Literaturlexikon (1984) von Lang und Rupp, dessen Artikel über biografische Informationen und eine Werkaufzählung nicht hinausgeht 39, und das Lexikon der Frau (1953), welches der Autorin Emmi Lewald über die biografischen Informationen hinaus einige Zeilen widmet, obwohl es als Personenlexikon angelegt ist.40 Der nicht näher bezeichnete Autor ordnet Emmi Lewalds Werke in die mittlerweile überlieferte Sparte des Gesellschaftsromans ein und nimmt eine Reduktion ihres Werks auf zwei Romane und eine Novelle vor. Der Kontext der Frauenemanzipation, der für die genannten Romane wichtig ist, wird in dem Lexikoneintrag nicht erwähnt: Pflegte den durch Weltkenntnis u. Erfindungsgabe ausgezeichneten gehobenen Gesellschaftsroman. Aus zahlr. Novellen, Skizzen, Ged. u. Reiseberichten (bes. aus Italien) ragen hervor die z. T. in Berlin spielenden Romane Sylvia (1905) u. Das Hausbrot des Lebens (1908) sowie die psycholog. feine Novelle Cunctator (in der Slg. Gefühlsklippen, 1899).41

Mög­licherweise wurden für diese Ausführungen ältere Literaturlexika als Vorlage benutzt. Der Schweizer Verleger und Schriftsteller Gustav Keckeis war noch ein Zeitgenosse von Emmi Lewald. 1884 in Basel geboren, ließ der Germanist sich nach seiner Promotion 1907 in Basel, Leipzig, München und London zum Buchhändler ausbilden und wurde 1918 Verlagsdirektor bei Herder & Co. in Freiburg / ­Breisgau. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging er nach Zürich, wo er den Benziger-Verlag übernahm. Nachdem er in Zusammenarbeit mit anderen Verlegern das Schweizer Lexikon (1945 – 48) herausgegeben hatte, folgte 1953/54 das Lexikon der Frau.42

zahlreiche Kritiker besaß. Nadler legte seiner Klassifizierung literarischer Werke ein Ordnungsprinzip zugrunde, das von der Zugehörigkeit der Autoren zu Stämmen, Landschaften und Provinzen ausgeht. Emmi Lewald findet in Nadlers Werk keine Erwähnung. Vgl. Hohendahl: Bürger­liche Literaturgeschichte, S. 221. 39 Deutsches Literaturlexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begr. von Wilhelm Kosch, Hg. von Carl Ludwig Lang, teilw. von Heinz Rupp. Bd. 9. 5. Aufl. Bern u. a. 1984, Sp. 1336 f. 40 Vgl. Gustav Keckeis (Chef der Red.): Lexikon der Frau in zwei Bänden. Bd. 2. Zürich 1953. 41 Ebd., S. 411. 42 Vgl. Karl August Kutzbach: Keckeis, Gustav. In: Neue deutsche Biographie (NDB). Bd. 11. Berlin 1977, S. 388.

Emmi Lewald in der Literaturgeschichtsschreibung

Als sich ab den 1970er Jahren im Rahmen feministischer literaturwissenschaft­ licher Forschungen das Bewusstsein für den Nachholbedarf der Literaturgeschichtsschreibung in Bezug auf die Literatur von Frauen schärfte, entstanden eine Reihe von frauenspezifischen Lexika und Literaturgeschichten. Elisabeth Friedrichs nennt die Autorin in ihrem bibliografischen Grundlagenwerk Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts (1981), das neben Biografie und Werkinformationen Hinweise auf Zeitschriftenliteratur und Rezensionen enthält.43 Die FrauenLiteratur-Geschichte (1985) von Gnüg und Möhrmann sollte erstmals „die literarische Produktion von Frauen in einem größeren Zusammenhang darstellen und einer breiteren Öffent­lichkeit bekannt machen.“44, lässt jedoch die Werke Emmi Lewalds wie zahlreiche vergleichbare lexikalische Werke ungenannt.45 Eine Ausnahme bildet das regional gebundene, frauenspezifische Lexikon Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945 (1995) von Budke und Schulze.46 Die Autorinnen führen neben einem vollständigen Werkverzeichnis eine biografische Skizze und eine kurze Personencharakterisierung auf, die auf den Informationen einschlägiger Handbücher basieren, jedoch in den Angaben zum Werk teilweise fehlerhaft sind.47 Die aus Sicht der allgemeinen und frauenspezifischen Literaturgeschichtsschreibung schlechte Quellenlage zu Emmi Lewald ist durch den Umstand verschuldet, dass eine umfassende und detaillierte Auseinandersetzung mit der Autorin und ihren Werken schon zu ihren Lebzeiten von der deutschen Literaturgeschichtsschreibung versäumt wurde. Das auffälligste Merkmal der literaturhistorischen Überlieferung bleibt Emmi Lewalds Etikettierung als „Autorin von kritischen Gesellschaftsromanen“.

43 Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, S. 183. 44 Hiltrud Gnüg / Renate Möhrmann (Hg.): Frauen-Literatur-Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 1985, S. VIII. 45 So auch in Brinker-Gabler, Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800 – 1945 und Gisela BrinkerGabler: Deutsche Literatur von Frauen. Zweiter Band 19. und 20. Jahrhundert. München 1988 und der aktuelleren Publikation von Loster-Schneider / Pailer: Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen 1730 – 1900. 46 Petra Budke / Jutta Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk. Berlin 1995. 47 So kann die Aussage, dass Emmi Lewald nach ihrer Ankunft in Berlin 1896 mit Fanny Lewald-Stahr in Verbindung gebracht wurde und den förder­lichen Ruf als „die Nichte der bekannten Lewald“ genoss, leider nicht belegt und in diese Untersuchung einbezogen werden. Widersprüch­lich und fehlerhaft ist angesichts des guten Werkverzeichnisses die Angabe, Gedichte (1894) sei Emmi Lewalds „erste selbständige Publikation“ gewesen. Auch handelt es sich bei Gedichte, Neue Folge (1901) nicht um eine Neuauflage, sondern um einen neuen Lyrikband. Vgl. Ebd., S. 241 f.

243

4. Das literarische Werk Emmi Lewalds (1888 – 1935)

247

4.1

Typische Gattungen

4.1.1 Lyrik Wie aus der Analyse von Emmi Lewalds Schriftstellerlaufbahn (2.2.2) und der Aufnahme ihrer Werke durch die Literaturkritik (3.3) ersicht­lich wurde, spielte die Lyrik bei der anfäng­lichen Profilierung der Autorin auf dem Literaturmarkt um 1890 eine entscheidende Rolle. Die Publikation der Gedichtbände Der Cantor von Orlamünde (1889) und Gedichte (1894) fällt in eine Zeit, in der die Expansion des Buch- und Zeitschriftenmarkts zu einem fast unüberschaubaren Anstieg der Publikationen von Gedichtbänden und Lyrikanthologien geführt hatte.1 Sprengel führt die steigende Produktion und Konsumtion von Lyrik vor allem auf die vielfältigen Publikationsmög­ lichkeiten in den Unterhaltungszeitschriften und Zeitungen zurück: Als probater Lückenfüller, wenn der Spaltenumbruch noch Platz läßt, als schöngeistiges Aushängeschild eines sonst vielleicht sehr ‚prosaischen‘ Periodikums waren Gedichte dem Verleger umso eher willkommen, als er für ihren Abdruck oft nicht einmal Honorar zu zahlen brauchte.2

Denn diese Praxis öffnete den Lyrikmarkt auch für zahlreiche Dilettanten, die mit der Bereitschaft zum kostenfreien Abdruck ihrer Gedichte zunehmend die Honoraransprüche lyrischer Autorinnen und Autoren drückten.3 Parallel zu ihrer massiven Kommerzialisierung erlebte die Gattung der Lyrik im Laufe des 19. Jahrhunderts einen zunehmenden Ansehensverlust. Seit der Vormärz­ epoche hatte die Lyrik den „Status einer universellen Dichtungsform“4 eingebüßt und wies mehrheit­lich noch zwei thematische Grundformen auf: In der Kategorie des heroischen Gedichts fasst Sprengel die Revolutions- und Kriegslyrik sowie die historische Ballade zusammen, in der Kategorie des sentimentalen Gedichts die Liebes-, Natur- und Stimmungslyrik.5 Die quantitativ außerordent­lich große Bedeutung des sentimentalen Gedichts im 19. Jahrhundert geht vor allem auf seine wichtigste 1 Häntzschel schätzt die Gesamtzahl der Veröffent­lichungen für das Jahr 1890 auf 800 – 1.000 Titel. Er stützt sich bei seiner Einschätzung auf die Angabe Joachim Barks, dass etwa 20.000 Autoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Lyrik publiziert haben. Vgl. Günter Häntzschel: Lyrikvermittlung durch Anthologien im Jahr 1890. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hg. von Robert Leroy und Eckhart Pastor. Bern u. a. 1991, S. 147 – 169. S. 148. Vgl. auch Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 533 ff. 2 Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 533 f. 3 Diese Entwicklung führte 1902 zur Gründung des Kartells lyrischer Autoren. Ebd., S. 534. 4 Ebd. 5 Ebd.

248

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Zielgruppe, das weib­liche Lesepublikum, zurück.6 In starker Wechselwirkung mit der weib­lichen Lebenswirk­lichkeit und den Normen der gegenüber der Jungenbildung reduzierten Mädchenerziehung des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein spezifischer Literaturmarkt für Frauen. Autorinnen und Autoren, Herausgeber und Verleger konzipierten Erzählliteratur, gereinigte Klassikerausgaben, Anstandsbücher und Lebenshilfen sowie Gedichtbände nach ganz bestimmten Kriterien für ihre weib­liche Zielgruppe. ­Häntzschel konstatiert bei den Lyrikauswahlen für Frauen und Mädchen eine „gravierende Niveausenkung“7 gegenüber den Sammlungen für männ­liche Schüler: Der literaturwissenschaft­liche und historische Zusammenhang gerät aufgrund der in solchen Anthologien üb­lichen zyklischen Anordnung der Texte nach Themen und Motiven aus dem Blick. Die Sammlungen zielen vor allem auf eine gefühlsmäßige, intuitive, unmittelbare Rezeption ohne kritische Distanz. Auch ihre äußere Aufmachung ist auf den weib­lichen Rezipientenkreis abgestimmt. […] Ein überlegtes Konzept fehlt, Qualitätsunterscheidungen werden hinfällig, so daß entweder Gedichte von hochgewerteten Autoren aufgrund gleicher Themen neben denen von Epigonen stehen oder die Ausrichtung auf das Lieb­liche und Harmonische dazu führt, nur noch Texte trivialer Modeautoren […] zu veröffent­lichen.“8

Diese „Feminisierung“ der Lyrik führte darüber hinaus zu einer ideologisch motivierten Auswahl unter lyrischen Gattungen und literaturhistorischen Epochen, denn als leicht rezipierbar für Frauen galten das Lied, die Romanze und die Ballade, wogegen Gedankenlyrik und philosophische Gedichte aber auch Oden, Hymnen und Elegien ausgegrenzt wurden. Bei der Epochenauswahl schieden vor allem Gedichte des Barock und der Frühromantik aus. Die Anpassung der Lyrik an das weib­liche Lesepublikum wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als tendenzielle Sentimentalisierung und Trivialisierung der Gattung wahrgenommen und in dem Maße, wie sie zu einer „weib­lichen Domäne“ wurde, wuchs das Desinteresse des männ­lichen Lesepublikums an ihr.9 Zwar hatten Autoren und Rezensenten bereits seit den 1860er Jahren wiederholt Kritik am Anthologiewesen sowie an Inhalt und Qualität der verbreiteten Lyrik geübt, doch zeichneten sich ernsthafte Neuerungsversuche in Form einer „modernen“, zeitgenössischen Lyrik

6 Häntzschels Untersuchung der über viertausend Lyrikanthologien, die zwischen 1871 und 1914 auf dem Literaturmarkt erhält­lich waren, ergab, dass fast 60 % der Bände ausschließ­lich für Mädchen und Frauen konzipiert wurden. Günter Häntzschel: Geschlechterdifferenz und Literaturvermittlung im ausgehenden 19. Jahrhundert. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 53 – 63. 7 Ebd., S. 55. 8 Ebd., S. 56. 9 Häntzschel: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien, S. 100.

Typische Gattungen

erst Mitte der 1880er Jahre ab.10 In den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende vollzog sich dann „auf der Grundlage eines radikal veränderten, anti-idealistischen Kunstbegriffs […] eine graduelle Transformation traditioneller lyrischer Gestaltungsstandards“11, die ihren Niederschlag unter anderem in den Werken Arno Holz’, Richard Dehmels, Otto Julius Bierbaums und Detlevs von Liliencron gefunden hat. Dieser von literarischen und weltanschau­lichen Modernisierungstendenzen getragene Innovationsschub erfasste auch die Lyrik von Frauen. Hatten Autorinnen die Produktion affirmativer Gedichte und eigens auf Mädchen und Frauen abgestimmter Anthologien nach 1849 weitgehend unterstützt, zeichnete sich in der Lyrik von Frauen Mitte der 1880er Jahre, getragen von den Ideen und Erfolgen der Frauenbewegung, eine neue Richtung ab.12 Häntzschel ist im Rahmen seiner Forschung zu deutschsprachigen Lyrikanthologien zwischen 1840 und 1914 zu dem Ergebnis gekommen, dass sich kurz vor der Jahrhundertwende im Schaffen von Autorinnen „Anzeichen einer substan­tielleren, ernsthafteren und ästhetisch anspruchsvolleren Lyrik einstellen, die auch das männ­liche Interesse zurückgewinnt“13. Nicht mehr die für Frauen konzipierte Lyrik, sondern die von Frauen verfasste Lyrik fungierte nun als sprach­lich-literarisches Mittel für die Auseinandersetzung mit weib­licher Sozialisation und Lebenswirk­lichkeit. Obwohl sich die literarische Artikulation der Schriftstellerinnen in der Öffent­lichkeit vorrangig über die Erzählliteratur vollzog, wurden auch Gedichte zum Ort der Imagination neuer Lebensmög­lichkeiten und neuer Partnerschaftsmodelle, wie Thekla von Lingens (1866 – 1931) in der Sammlung Frauenlyrik unserer Zeit (1907) enthaltenes Werk Befreiung eindrucksvoll zeigt.14 Häntzschel zeigt an von Lingens Text ebenfalls 10 In diesem Zeitraum wurde auch die Lyrik vom literarischen Stilpluralismus erfasst und es entwickelten sich im Zuge naturalistischer, sozialistischer, pazifistischer, frauenemanzipatorischer und regionaler Strömungen neue formale und inhalt­liche Ansätze in der Gattung. Auf dem Anthologiemarkt nahmen Lyriksammlungen mit innovativem Inhalt neben den herkömm­lichen Publikationen jedoch zunächst nur wenig Raum ein und erreichten nur kleine Rezipientengruppen. Vgl. ebd., S. 260 ff. 11 Vgl. hierzu Elke Austermühl: Lyrik der Jahrhundertwende. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 350 – 366. Zitat S. 352. 12 Vgl. Häntzschel: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien, S. 103, S. 292 ff. 13 Häntzschel: Geschlechterdifferenz, S. 53. 14 Thekla von Lingens strophenloses Gedicht mit dem programmatischen Titel Befreiung plädiert beispielsweise für eine neue Form der Partnerschaft zwischen Mann und Frau: „Reiß meine Seele aus dunklem Traum / Gieb meinen wachsenden Schwingen Raum / Hoch laß mich fliegen, weit laß mich gehen / Bis ich das Leben, das Leben gesehen / Nicht dir als Herrin, noch Sklavin – nein – / Deine Genossin will ich sein – / So bin ich dein!“ Häntzschel, Die deutschsprachigen Lyrikanthologien, S. 298. Häntzschel teilt die in dieser Zeit publizierten Lyrikanthologien mit Gedichten von Autorinnen in drei Kategorien ein. Die von Karl Schrattenthal (eigent­lich Karl Weiss) herausgegebenen Anthologien Deutsche Dichterinnen und Schriftstellerinnen aus Böhmen, Mähren und Schlesien (1885) und Unsere Frauen in einer Auswahl aus ihren Dichtungen (1888) dokumentieren zunächst ein Interesse an der Bestandsaufnahme weib­licher Lyrik. Beispiele für die Lyrik von Frauen mit

249

250

Das literarische Werk Emmi Lewalds

auf, dass die neuen Inhalte der Lyrik von Frauen stellenweise mit der Überwindung bzw. Befreiung von der lyrischen Gestaltungstradition des 19. Jahrhunderts und den strengen Formprinzipien von Reim, Strophe und Metrum korrespondieren. Emmi Lewalds frühe Lyrik Diese von unterschied­lichen Literaturströmungen und lyrischen Innovationsbestrebungen ebenso wie von der Geltungsmacht traditioneller Formprinzipien bestimmte Situation bildet den Hintergrund für Emmi Lewalds Lyrikproduktion.15 Ihre ersten Gedichtsammlungen Der Cantor von Orlamünde (1889) und Gedichte (1894) erschienen unter dem Pseudonym ‚Emil Roland‘ in der Phase ihres Eintritts ins literarische Feld und gehörten neben den satirischen Charakterskizzen und den frühen Novellen­bänden zu den ersten von der Literaturkritik wahrgenommenen Publikationen der jungen Schriftstellerin. Der Band Der Cantor von Orlamünde, der mit der Gattungsbezeichnung „Dichtungen“ eine Konkretisierung der Textsorte aufweist, enthält ausschließ­ lich konventionelle Themen der Bereiche Stimmungs- und Naturlyrik. Die Gedichte werden, ähn­lich wie die Charakterskizzen in Unsre lieben Lieutenants (1888), durch eine Rahmenerzählung in Prosa in einen Kontext eingebettet: Der Protagonist und Ich-Erzähler, ein junger Kantor und Schulmeister der Stadt Orlamünde, verlässt seine thüringische Heimat, um sein Fernweh zu stillen und um seiner großen Liebe Clementine nach Norden zu folgen.16 Nach einer gewissen Zeit der Abwesenheit, der Enttäuschung seiner Liebe erfasst ihn ein starkes Heimweh und er beschließt, nach Thüringen zurückzukehren. Schon die Rahmenerzählung des Cantor von Orlamünde enthält zahlreiche Parallelen zu Novalis’ Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) und legt das romantische Grundthema des Bandes fest, den als unlösbar empfundenen emanzipatorischer Tendenz finden sich dagegen erst in dem von Paul Grabstein herausgege­benen Band Liebeslieder moderner Frauen (1902) und dem von Paul Remer herausgegebenen Buch der Sehnsucht (1900). Als dritte Stufe wertet Häntzschel die Anthologien Frauenlyrik unserer Zeit (hg. von Julia Virginia 1907) und Frauenlyrik der Gegenwart (hg. von Margarete Huch 1911), bei denen Frauen auch als Herausgeberinnen auftraten und damit eine selbstständige Position auf dem Litera­ turmarkt einnahmen. Vgl. ebd., S. 294 ff. 15 Neben den drei hier vorgestellten Gedichtsammlungen, die 1889, 1894 und 1901 bei der ­Schulzeschen Hofbuchhandlung in Oldenburg verlegt wurden, publizierte Emmi Lewald auch zahlreiche Vorabdrucke, Nachdrucke und Originalabdrucke von Gedichten in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, u. a. in „Die Frau“, „Deutsche Roman-Bibliothek“, „Über Land und Meer“, „Velhagen & Klasings Monatshefte“ und „Der Gesellschafter“. 16 In den beiden Teilen der Rahmenerzählung (S. 1 – 20 und S. 99 – 110) findet jeweils ein Bruch der Erzählperspektive statt, bei dem jeweils der personale Erzähler zum Ich-Erzähler wechselt. Der Cantor berichtet von seinem Fernweh, seiner Liebe, seinem Weggang und seiner Rückkehr nach Thüringen in der dritten Person. Die Präsentation der Lieder und Gedichte einige Jahrzehnte nach den Ereignissen sowie die Kommunikation mit dem Lesepublikum finden dagegen in der ersten Person statt. Vgl. Emil Roland: Der Cantor von Orlamünde. Dichtungen. Oldenburg u. Leipzig Schulzesche Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei A. Schwartz 1889.

Typische Gattungen

Widerspruch zwischen gesellschaft­licher Pf­lichterfüllung und „poetischem“ Lebensentwurf. Emmi Lewalds Kantor wächst wie Novalis’ Protagonist Heinrich in Thüringen auf, und ebenso wie dieser hat er zu Beginn des Gedichtbands einen Traum, in dem er von einem freien Leben als wandernder Sänger träumt: Hätte er nach seinem eigenen Geschmack leben dürfen, so würde er eine Harfe auf dem Rücken, einen Wanderstab in die Hand genommen und so nach eigener Lust die Welt durchzogen haben, wie die glück­liche Jugend früherer Jahrhunderte gethan, als es noch keine Schulen und Seminare gab und das Wort „Pf­licht“ des Lebens Poesie noch nicht darniedertrat wie heutzutage. (CvO 2)

Als der Kantor von einem durchreisenden Reeder eingeladen wird, in seinem Handelshaus an der Nordsee in seine Dienste zu treten, lernt er wie Heinrich von Ofterdingen die Welt des Handels kennen. Hier enden die Parallelen der beiden Werke, denn während Heinrich sich auf eine lange Reise durch die verschiedenen Bereiche der Welt macht, kehrt der Kantor nach der Enttäuschung seiner Liebe zu der Tochter des Reeders in seine Heimat zurück. Emmi Lewalds Protagonist erkennt durch seine Reise, dass Thüringen mit seiner idyllischen Landschaft, seinem Sagenschatz und heimat­lichen Liedgut sowie seinen mittelalter­lichen Bauwerken eigent­lich der gesuchte romantische Sehnsuchtsort ist: „Hier ist alles Poesie“ (CvO 100). Im Rahmen einer fiktiven Publikationsgeschichte wendet sich der Kantor schließ­ lich mehrere Jahrzehnte nach seiner Rückkehr in der ersten Person an die Leser des Buches, um „die Lieder des Spielmanns mit der kranken Harfe“ (CvO 19) einem heimatliebenden Publikum zu präsentieren. Bei den dem Erzähler zugeordneten Liedern und Gedichten handelt es sich vor allem um Heimat-, Natur- und Liebesgedichte; sie erzählen von Wanderschaft, Heimweh, Erinnerungen und verlorenem Liebesglück. Kompositorisch wird in Der Cantor von Orlamünde der Verherr­lichung der landschaft­ lichen Schönheit Thüringens und des Liebesglücks in der Rubrik Thüringer Wandertage die Beschreibung eines fernen nörd­lichen „Exils“ und des dort stattfindenden Liebesverlusts in der Rubrik Am kalten Strande entgegengestellt. So wird im II. Gedicht des Thüringer Zyklus die Annäherung der beiden Liebenden beschrieben: Auf weltentferntem Pfad am Quellenrande Ging ich mit dir im ­lichten Abendroth; Ich trat in deiner Füße Spur im Sande Und nahm den Zweig, den deine Hand mir bot, Den jungen Lindenzweig voll duftger Blüthen, Mit süßem, müden Wohlgeruch getränkt – Mir war, als habest du im Waldesfrieden Der Sage blaue Blume mir geschenkt! (CvO 25) […]

251

252

Das literarische Werk Emmi Lewalds

In der idyllischen Naturschilderung sticht besonders die Erwähnung der „Blauen Blume“ hervor, die das zentrale Motiv in Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen bildet und „seither als romantisches Motiv par excellence gilt“17. Neben der symbolischen Funktion der „Blauen Blume“ als Ausdruck „der intuitiven Weltschau und der Bemühung um Erkenntnis der Natur“18 muss im Kontext des Lewaldschen Gedichtbands vor allem der Ursprung des Motivs im thüringischen Sagenschatz berücksichtigt werden. Im I. Gedicht des Zyklus Am kalten Strande ist an Stelle des Thüringer Frühlings der Herbst getreten und mit ihm das Ende der Liebe: […] Du stehst allein am sturmumsausten Strande, Und von dem Wellenschlag, der dich umtönt, Bringt mir der kalte Nachtwind rauhe Kunde, Denn immer steh ich in der Abendstunde In deiner Nähe, wenn der Fluthschwall dröhnt. Im Nebel, denkst du, wandelt dir zur Seite Aus Wolk und Wind ein blasser Schemen nur, Wie längst erb­lichener Erinnerung Schatten, Wie eine Blume von verwelkten Matten, Wie aus verloschnen Stunden eine Spur. (CvO 41)

Beide Beispiele von Emmi Lewalds früher Lyrik illustrieren ihren Gebrauch konventioneller Formen und gebräuch­licher Bildsprache. Die vierzeiligen Strophen des ersten Gedichtbeispiels sind in einfachen Kreuzreimen geordnet, die fünfzeiligen Strophen des zweiten Gedichts bestehen aus umarmenden Reimen, denen jeweils ein reimloser Vers vorangestellt ist. Jede Strophe enthält einen langen, vollständigen Aussagesatz mit korrekter Interpunktion, wobei die Satzenden durch Semikola und Gedankenstriche abgemildert sind. Diese Technik, die im ersten Gedichtbeispiel mit Hilfe eines Enjambements die Ausdehnung des Satzes über zwei Strophen ermög­licht, verleiht den Gedichten einen eingängigen, getragenen Klang. Auch die Bildsprache entspricht gebräuch­lichen poetischen Mustern, indem sie sich der Identifikation des Lebensrhythmus der Natur mit dem des Menschen bedient. Die Beschreibung von Liebesglück und Liebesleid mittels der poetischen Urmetaphern Frühling und Herbst, Süden und Norden war auch für breite Leserkreise ohne ästhetische Vorbildung verständ­lich.19 Auf 17 Dieter Burdorf: Einführung in die Lyrikanalyse. Stuttgart 2. Aufl. 1997, S. 223. 18 Horst S. und Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen u. a. 1995, S. 76 f. 19 Vgl. hierzu Anne-Susanne Rischke: Die Lyrik in der „Gartenlaube“ 1853 – 1903. Frankfurt a. M. u. a. 1982, S.  156 ff.

Typische Gattungen

eine gewisse Unbeholfenheit im Sprachgebrauch deuten die Häufung sinnverwandter Ausdrücke im zweiten Gedicht (blass – erb­lichen – verwelkt – verloschen) und der Gebrauch der Pleonasmen „duftige Blüten“ und „blasse Schemen“ hin. Dieser Eindruck wird durch den Gebrauch sprach­licher Versatzstücke aus der Wanderlyrik wie „weltentfernter Pfad“, „Quellenrand“ und „Waldesfrieden“ gefestigt. Natur- und Wandergedichte wie jene, die hier in Abstimmung mit der Rahmenhandlung dominieren, waren in der Zeit der Erstauflage von Der Cantor von Orlamünde in „Die Gartenlaube“ und verwandten Familienzeitschriften außerordent­lich populär. In der Begeisterung für die Lieder wandernder Spielleute und Handwerksgesellen realisiert sich […] ein nostalgischer Effekt, ein sentimentales Fluchtverhalten vor der Prosa der ökonomischen und urbanen Realität. Die Figur des Wanderers in der trivialen Lyrik des späten 19. Jahrhunderts ist des symbolischen Gehalts längst entkleidet, der ihr bei Goethe und den Romantikern fundamentale Bedeutsamkeit verlieh; auch von der biedermeier­lichen Beschau­lichkeit einer frommen Naturbetrachtung ist in den Liedern wenig geblieben […].20

Diese zeitflüchtige Tendenz durchzieht auch Emmi Lewalds erste Gedichtsammlung, in der alle Anzeichen der Industrialisierung und Modernisierung ausgespart werden. Im Mittelpunkt steht ein Motiv des wandernden Sängers, das stellenweise auf die Tradition des mittelalter­lichen Dichters und Spielmanns bezogen wird, so durch die Stücke Innsbruck. Walter von der Vogelweide und Franziskaner-Hofkirche.21 Das Motiv des mittelalter­lichen Sängers verstärkt noch einmal den mit der „Blauen Blume“ im Gedichtteil zunächst punktuell gehaltenen Bezug zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Thematisch verschränkt Emmi Lewald in dieser Lyrik die Erfahrung von Liebesglück und Liebesleid mit dem Wandel der Natur im Laufe der Jahreszeiten und verwebt sie mit der Beschreibung einer romantischen Landschaft aus Tannenwald, Burgen, Bergen und Wasserfällen einer sentimentalen Lyrik: „Des Waldbachs Lied, den Duft der Linden, Des Herzens Treu, das für dich schlägt“ (CvO 88). Zeittypisch ist an diesen Gedichten neben dem Gebrauch des Wandermotivs auch die vielfache Verwendung von mythischen Wassergeistern wie Nymphen, Nixen und Wasserfeen. In dem Kollektivsymbol Flut/Nixe verarbeitete die „Mehrheit der damaligen Autoren“ unterschied­ liche Phänomene der Modernisierung.22 20 Einer der populärsten Vertreter der Natur- und Wanderlyrik dieser Zeit war Rudolf Baumbach, der die Gedichtbücher Lieder eines fahrenden Gesellen (1878), Von der Landstraße (1882) und Spielmannslieder (1882) veröffent­lichte. Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 539. 21 Das Gedicht Franziskaner-Hofkirche enthält Anspielungen auf die Hildebrand- und die Nibelungen-Sage (CvO 81 u. 83). 22 Im „Schreckbild der Flut“ und in den Figuren der rätselhaften Wasserwesen verarbeiteten Autoren Ängste und Erfahrungen im Zusammenhang mit der Entstehung von Großstädten und eines Massenproletariats, aber auch dem Wandel der traditionellen Geschlechterrollenverteilung im Zuge

253

254

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Den beiden gegensätz­lich gestalteten Kapiteln „Thüringische Wandertage“ und „Am kalten Strande“ folgen noch die Rubrik „In der Fremde“ mit Wandergedichten und erster Italienlyrik sowie die „Rückkehr nach Thüringen“. Am Ende des Cantors von Orlamünde steht eine zweite Prosapassage, in welcher der Protagonist, nun wieder in Form des Ich-Erzählers, von seiner Rückkehr nach Thüringen berichtet. Der Band schließt mit einer Beschwörung der Heimatliebe als der Liebe ebenbürtiges mensch­liches Gefühl: „Wie seltsam mir zu Muthe war, als ich wieder dort oben stand im Bannkreis der Heimath, ein reuig Rückgekehrter, der seiner Sehnsucht, seinem Hoffen nur auf dieser Höhe Erfüllung finden konnte.“ (CvO 107) Emmi Lewald präsentiert ihrem Lesepublikum in ihrem ersten Lyrikband unmissverständ­lich ein männ­liches lyrisches Ich, indem sie einerseits ein männ­ liches Autorpseudonym verwendet und zudem auf fiktiver Ebene einen männ­lichen Protagonisten als Autor der gesammelten Gedichte und Lieder auftreten lässt. Diese doppelte Verschleierung der weib­lichen Autorschaft findet sich bereits in ihrem Erstlingswerk Unsre lieben Lieutenants (1888) und kann sicher­lich als „Schutzschild“ der im literarischen Feld unbedeutenden Autorin gegen eine geschlechtsspezifische Rezeption gedeutet werden.23 Tatsäch­lich korrespondierte die männ­liche Perspektive in Der Cantor von Orlamünde weitgehend mit der verbreiteten Auffassung in der Literaturkritik, es handle sich bei Emil Roland um einen männ­lichen Verfasser: Die Gedichte erhielten positive Rezensionen.24 Emmi Lewalds ebenfalls pseudonym erschienene zweite Gedichtsammlung Gedichte (1894), ihre mittlerweile fünfte Veröffent­lichung, traf fünf Jahre später auf eine stark veränderte Rezeptionssituation, da der Literaturkritik und dem Lesepublikum die Identität und das Geschlecht der Autorin nun weitgehend bekannt waren.25 In diesem Kontext erhalten die Wahl der männ­lichen lyrischen Perspektive und die bewusste Verwendung als „männ­lich“ geltender Sujets eher die Funktion eines Beweises, dass Emmi Lewald sich jenseits des sentimental-weib­lichen Liebes- oder Stimmungsgedichts als Lyrikerin (bzw. „echte Dichterin“) behaupten kann. Bereits Richard Weitbrecht, dem Rezensenten der „Blätter für literarische Unterhaltung“ fiel an Emmi Lewalds Gedichten der „durchaus eigenartige Inhalt“26 auf: „Zwar die alten lyrischen Stoffe müssen ja immer wieder-

des Engagements der Frauenbewegung und anderen Modernisierungsprozessen. Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 44 ff. 23 Vgl. zum Gebrauch von Pseudonymen und pseudonymen Techniken durch Autorinnen Kap. 2.2.1.3. 24 Vgl. N. N.: Der Cantor von Orlamünde. Dichtungen von Emil Roland, Sp. 356 und Spittler: Erzählendes in dichterischer Form, S.  21 – 23. 25 Dies gilt für die Rezensionen der „Neuen literarischen Blätter“, der „Blätter für literarische Unterhaltung“, der Oldenburger „Nachrichten für Stadt und Land“ und des Blattes „Das literarische Echo“, allerdings handelt es sich im letzten Fall bereits um eine Rezension der 2. Auflage des Gedichtbands von 1901. 26 Weitbrecht: Frauenlyrik, S. 171.

Typische Gattungen

kehren; indessen enthält die Sammlung nicht ein Liebesgedicht, dagegen zwei zum Preise des Weines – für die Sammlung einer Dichterin immerhin bemerkenswerth.“27 In der Tat muss der Band Gedichte (1894) aufgrund seiner inhalt­lichen Vielfalt als Emmi Lewalds bemerkenswerteste Gedichtveröffent­lichung gewertet werden. Neben den mit harmlosen Titeln überschriebenen Rubriken „Adlersang“, „Dorf-Idyll“ und „Vermischte Gedichte“, die Landschafts- und Stimmungseindrücke von einer Alpenreise enthalten, mussten für den zeitgenössischen Leser vor allem die Kapitel „Lieder des Troubadours“28, „Sturm und Drang“, „Napoleon“ und „Im Kunstsalon“ aus dem Rahmen der für Frauen üb­lichen lyrischen Themen fallen. Besonders die Tatsache, dass es sich bei dem lyrischen Ich der sechzehn „Lieder des ­Troubadours“ um eine Art mittelalter­lichen Minnesänger handelt, erregte die Gemüter der Rezensenten. „Aber wer kann diese Lieder ernst nehmen, der stets in dem Sänger das Weib sucht!“ moniert Wilhelm von Busch in seiner Rezension des Gedichtbands in den „Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land“, „Ein derartiges Spiel mit Empfindungen läuft unserem Gefühl zuwider.“29 Der Kritiker begründet seine Ablehnung mit dem Wesen der lyrischen Gattung, die im Gegensatz zur Prosa die „ureigenen Seelenäußerungen“ des Menschen behandle, „in denen sich Mann und Weib so charakteristisch unterscheiden.“30 Da von Busch offensicht­lich das lyrische Ich mit der Verfasserin identifizierte, kann er die musikalische Werbung des ritter­lichen Troubadours um die Gunst einer schönen, unerreichbaren Frau nicht mit seiner der traditionellen Geschlechterhierarchie entsprechenden Vorstellung der weib­lichen Rolle in Einklang bringen. Exemplarisch mag das Gedicht I. des Zyklus die aktivwerbende Rolle des lyrischen Ich und die zahlreichen Anspielungen auf mittelalter­ liches Rittertum illustrieren. Nein – nicht begehren will ich dich wie andre… Nur wie ein Pilger laß mich ferne stehn, Und wenn ich einsam dann von hinnen wandre, Wirst du ein Kreuz auf meinem Mantel sehn. Dein Ritter, will ich schweifen durch die Wälder,

27 Ebd. 28 Bemerkenswerterweise verwendet Emmi Lewald für ihren zweiten Gedichtband 1894 erneut die Dichterrolle des mittelalter­lichen Sängers, die bereits in Der Cantor von Orlamünde (1889) mit Bezug auf Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802) als zentrales Motiv fungierte. Mög­licherweise beabsichtigte die Autorin, sich konsequent von der weib­lich-sentimentalen Liebeslyrik ihrer Zeit abzusetzen, indem sie die romantisch idealisierte männ­liche Sängerfigur als lyrische Sprecherinstanz bei Liebesgedichten einsetzte. 29 Busch: Neues von E. Roland. 30 Ebd.

255

256

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Aus heil’gen Bronnen trinken auf dein Glück; – Dem schönsten Sommerstrauß erblühter Felder, Dem Veilchenhage gleiche dein Geschick! Und wenn einst reich und mächtig strömt hernieder Auf dein geliebtes Haupt ersehnte Luft, So denk: sie kam gelockt durch meine Lieder! Geboren ward dein Glück in meiner Brust. – (GI 25)

Indem Emmi Lewald für die Minnethematik ihres Troubadour-Zyklus die männ­liche Perspektive wählt, beansprucht sie dichterische Freiheit im Umgang mit den Rollenzuschreibungen und demonstriert, dass sie sich literarisch nicht auf den traditionellen lyrischen Themenkreis für Frauen festlegen lässt. Diese Tendenz ist mit anderer Schwerpunktsetzung auch in weiteren Rubriken des Sammelbandes Gedichte spürbar. Die kämpferisch-appellierenden Gedichte der Abteilung „Sturm und Drang“ lassen aus heutiger Sicht mehrere Interpretationsmög­lichkeiten zu. Durch die Titelgebung als Reminiszenz an die literarische Strömung angelegt, scheinen die Gedichte von naturalistischen Positionen inspiriert worden zu sein und rufen die Schreibenden und Dichtenden zu Kampfbereitschaft, Fortschrittswillen und Tatkraft auf. Unklar bleibt jedoch, ob die Aufrufe zum Engagement in der gegenwärtigen Zeit („Wach’ auf und laß die Saiten tönen / Schlag klingend an den eh’rnen Schild“ [GI 94]) der gesamten Dichterschaft gelten oder dezidiert an die schreibenden Akteurinnen der Frauenbewegung gerichtet sind. Kennzeichnend ist für die Lyrik des Kapitels „Sturm und Drang“ die Forderung nach einer neuen Literatur, die den Idealen einer vergangenen Epoche abschwört und sich durch Gegenwartsbezug, Tatkraft und Engagement auszeichnet. Wir können auch, wenn es die Zeit gebietet, Mit scharfen Liedern ziehen in das Feld, Wir, die so lange friedvoll gehütet Das Heiligtum der Schönheit in der Welt! Von Sommernächten, Blumen und Cypressen, Der alte Sang, er mag vertönen nun! Die Menschheit will den Maienduft vergessen, Und große Thaten will sie jetzo thun! Kein elfenhaftes Fabelwesen schwebe Als Muse lilientragend dir voran – Nein! stahlbeschwert die Göttin sich erhebe, Mit Schild und Panzer schimmernd angethan.

Typische Gattungen

Nicht taste du vorbei an Qual und Jammer, Zeig mutvoll deiner Zeit beflecktes Bild! Geh zu des Armen nothgewohnter Kammer, Nicht dorthin nur, wo Reichtums Truggold quillt! Sei du kein Mädchen, das verstohlen wimmert! Sei Mann vom Scheitel nieder bis zum Fuß; Der Bau der Zukunft steht noch ungezimmert – Ihr fühlt es Alle, daß es werden muß! (GI  94 f.)

Die Gedichte, deren traditionelle Formgebung im Gegensatz zur kämpferischen Forderung nach literarischer Erneuerung steht, gehören zu den seltenen Texten, in denen Emmi Lewald eine Position zur Rolle des Dichters und der Literatur in der Gesellschaft formuliert. Der Abteilung „Sturm und Drang“ folgt der heroische Balladen-Zyklus ­„Napoleon“, in dessen Mittelpunkt die historische Figur des französischen Kaisers Napoleon ­Bonaparte steht. Die sieben Balladen sind der Reflexion seiner Eroberungsphantasien, der entscheidenden Niederlage der französischen Armee im Russlandfeldzug 1812 und seiner Verbannung auf die Insel Helena gewidmet. Eine Bearbeitung des Themas in Balladenform hatte wenige Jahre zuvor Richard Dehmel in seinem Gedichtband Erlösungen (1891) mit Dahin… publiziert.31 Emmi Lewald stellt Napoleon als grausamen, machtbesessenen Feldherren dar, betont aber vor allem die historische Größe und Einzigartigkeit seiner Person: Ein Dämon war er, der beim Engelsfalle Hinabgestürzt in allertiefste Nacht, Und – trotzend dann des Himmels gold’ner Halle – Gigantenstark sich selbst zum Gott gemacht; Ein Riese, in dem Schwarme der Pygmäen Bestimmt als helle Leuchte dazustehen.32

Dämon, Gigant, Riese – durch Vergleiche mit Figuren aus Märchen, Mythen und Sagen findet eine Verklärung der Napoleon-Figur statt und erhalten die Ereignisse seiner Herrschaftszeit den Anstrich des Legendenhaften. Die Stilisierung des französischen 31 Dehmel thematisiert ebenfalls Napoleons Flucht aus dem winter­lichen Russland in einem Pferde­ schlitten. Dasselbe Bild findet sich in dem Gedicht Todesgruß, in dem die sterbenden Soldaten dem flüchtenden Kaiser einen Fluch nachsenden: „Da – horch, ein Klingeln! horch, ein Sausen! / Im Fluge naht’s – der Athem schnaubt – / Seht ihr den Schlitten westwärts brausen, / Darin das große, fahle Haupt?“ (GI 103). Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 549 32 Aus der Ballade Invalidendom (GI 99).

257

258

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Kaisers zur überragenden historischen Einzelpersön­lichkeit kann vor dem Hintergrund des im Bürgertum verbreiteten allgemeinen Persön­lichkeitskults in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesehen werden.33 Noch kaum 75 Jahre nach dem Tod Napoleon Bonapartes (1821) erscheint der Kaiser in Emmi Lewalds Balladen-Zyklus als „Heroen­ bild aus sagenhafter Zeit“ (GI 101). Thematisch bemerkenswert für eine junge Schriftstellerin des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind auch die 26 Gedichte der letzten Rubrik „Im Kunstsalon“ über Werke der bildenden Kunst. Die Entstehung dieser „ikonozentrischen Gedichte“34 oder auch Ekphraseis steht mit großer Wahrschein­lichkeit im Zusammenhang mit Emmi Lewalds Besuchen des 1867 eröffneten Kunstmuseums „Augusteum“ der Stadt Oldenburg.35 Die Gedichte thematisieren das individuelle Kunsterlebnis eines Betrachters oder einer Betrachterin beim Anblick des betreffenden Gemäldes und geben die Seheindrücke, Assoziationen und Werturteile in Versform wieder.36 Die Gedichte tragen neutral-beschreibende Titel wie Italienische Landschaft, Mönchsbilder, Portrait eines Philosophen oder Großstadtstraße im Winter, die auf den Inhalt und charakteristische Eigenschaften des jeweiligen Gemäldes verweisen, ohne mit dessen Original­ titel übereinzustimmen. In Abhängigkeit von den Bildbeschreibungen und Werturteilen lassen sich Emmi Lewalds Ekphraseis in zwei Kategorien unterteilen. Die eine Gruppe von Bildern behandelt sie mit Wohlwollen und offensicht­licher Anerkennung der künstlerischen Leistung des Malers, die andere Gruppe trifft eine teils ironische, teils ins Satirische tendierende Kritik. Die Art dieser Polarisierung gibt Aufschluss über Emmi Lewalds Kunstverständnis und lässt deut­lich erkennen, dass sie die Historien- und Genremalerei 33 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 106. 34 Werner Jost: Gedichte auf Bilder. In: Neun Kapitel Lyrik. Hg. von Gerhard Köpf. Paderborn u. a. 1984, S. 202 – 212. Vgl. auch Gisbert Kranz: Das Bildgedicht: Geschicht­liche und poetologische Betrachtungen. In: Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hg. von Ulrich Weisstein. Berlin 1992, S. 152 – 157. 35 Diesen Hinweis lieferte das sich in Oldenburg in Privatbesitz befindende Rezensionsexemplar ­Wilhelms von Busch, der den Band in den „Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land“ besprach. Der Journalist trug in sein Exemplar mit Bleistift et­liche Anmerkungen zu mög­lichen Künstlern ein. Eine genaue Analyse, welche Gemälde Emmi Lewald für die Gedichte der Rubrik „Im Kunstsalon“ als Vorbild dienten, steht jedoch noch aus. 36 In den meisten dieser Gedichte auf Bilder tritt ein lyrisches Ich als Sprecherinstanz auf und beschreibt seine Emotionen, Assoziationen und ästhetischen Werturteile bei der Betrachtung der Gemälde. Als Beispiel sei hier der Kommentar in Bauern am Sonntag angeführt „Wie nasse Stiefel duftet’s mir entgegen“ (GI 127). U. a. in den Gedichten Berühmtes Sensationsgemälde, Plein-air, Bild eines Modemalers und Farben-Kunststück wendet sich das lyrische Ich an den Maler des Gemäldes, in anderen Gedichten wie Bauern am Sonntag, Portrait eines Dichters, Portrait eines Philosophen und Mädchenportrait eines Modernen werden dagegen die dargestellten Figuren und porträtierten Personen angesprochen. Emil Roland: Gedichte. Oldenburg o. J. (Schulzesche Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei A. Schwartz 1894).

Typische Gattungen

des 19. Jahrhunderts den neuen Strömungen der 1880er und 1890er Jahre vorzog.37 In dem zur ersten Gruppe zählenden Gedicht Italienische Landschaft assoziiert die Autorin die Bildeindrücke mit persön­lichen Italienerinnerungen und komponiert eine sehnsuchtsvolle Hymne an das für das Bildungsbürgertum bedeutsame Kulturland: „Südlandsgestade, drin ich selig bade / Den lang’ umflorten, sonnendurst’gen Blick, / Du süßes, blaues, schönes Bild der Gnade – / Mach’ es lebendig du, mein ­todtes Glück!“ (GI 128). Während die Autorin hier aus dem Kunsterlebnis eine direkte literarische Inspiration ableitet und wenig Worte über den Stil und die künstlerische Technik des Kunstwerks verliert, stehen ebendiese bei ihrer Kritik an den Erzeugnissen neuer impressionistischer und naturalistischer Kunstströmungen im Vordergrund. Die experimentelle Maltechnik des in Concertgarten beschriebenen Bildes reizt Emmi Lewald zu der ironischen Bemerkung: „Drehst du das Bild, so scheint es ganz dasselbe / hängst du es seitwärts, dennoch bleibt sich’s gleich […]“ und ein paar Zeilen weiter drückt sie ihr Erstaunen über den Gegenstand des Gemäldes in nicht minder spöt­ tischen Versen aus: „Ein rother Punkt, ein blaugeschweifter Streifen, / Dies schwärz­ lich dunkel – unergründ­lich dies – / Liest du den Titel erst, wirst du begreifen: / Ein Nachtconcert ist’s in der Stadt Paris“ (GI 144). Eine noch spitzere Satire herrscht in Mädchenportrait eines Modernen: Wie sehr hast du den Maler wol gekränkt, Daß seine Hände dir mit solchen Farben Dein liebes Kinderangesicht verdarben, Daß er so wenig Anmut dir geschenkt? „Ach!“ – klagte sie – „die arme Schönheit jagte Er samt den Grazien fluchend vor die Thür; Ich weiß nicht, wie er so zu handeln wagte – Ich weiß nur: ich bin der Beweis dafür!“ (GI 149)

Hatte die Autorin in Unsre lieben Lieutenants die Angehörigen ihrer Gesellschaftsschicht zur Grundlage ihrer satirischen Weltbetrachtung gemacht, vermengt sie in Gedichte (1894) die Rezeption zeitgenössischer Malerei mit Elementen der Kunstund Gesellschaftssatire. Ebenso wie sie für ihre lyrischen Arbeiten konventionelle Gestaltungsmuster bevorzugte und keine Formexperimente wagte, bevorzugte sie offensicht­lich in der bildenden Kunst die Bildnis- und Genremalerei in der Tradition der historisierenden und idealisierenden Darstellungsweise des 19. Jahrhunderts. Die 37 Die Schriftstellerin begeisterte sich beispielsweise für das repräsentative Gesellschaftsporträt, welches der Genremaler Conrad Kiesel 1909 von ihr anfertigte. Kiesel gestaltete das großformative Ölgemälde in idealisierendem Stil unter starker Betonung des Stoff­lichen. Vgl. den Exkurs I „Conrad Kiesels Porträt der Emmi Lewald (1910)“ in Kap. 2.1.2.

259

260

Das literarische Werk Emmi Lewalds

neuen Kunstauffassungen der frühen Moderne machte Emmi Lewald dagegen zum Gegenstand ihrer satirischen Betrachtungen und übte auf diese Weise Kritik an der künstlerischen Darstellung alltäg­licher Sujets (Bauern am Sonntag), an dem neuen Umgang mit Farb- und ­lichteffekten (Plein-air, Concertgarten) und an einer als verzerrt empfundenen, skizzenhaften Gestaltungstechnik (Im Paradise – moderne Auffassung) (GI 127, 136, 140, 144). Italienlyrik Inhalt­lich wesent­lich homogener als die Gedichtsammlung von 1894 ist der Band Gedichte, Neue Folge (1901), den Emmi Lewald in der frühen literarischen Phase in ­Berlin ebenfalls bei der Schulzeschen Hofbuchhandlung in Oldenburg publizierte.38 Den Hauptteil der ihrem Mann Felix Lewald gewidmeten Sammlung bildet wieder Reise-, Natur- und Stimmungslyrik, die hauptsäch­lich im Kontext verschiedener Italien­reisen der Autorin vor 1900 entstand. In den Abteilungen „Herbst im Süden“ und „Frühlingsfahrt“ sind die lyrischen Reflexionen Besuchen italienischer Städte, Dörfer und Landschaften zugeordnet. Die Rubrik „An fernen Wassern“ enthält Gedichte über verschiedene italienische und deutsche Gewässer. Die Informationen zu den einzelnen Sehenswürdigkeiten, der italienischen Bevölkerung und Einzelheiten zur Kultur- und Landesgeschichte bleiben jedoch wenig konkret und dienen vorrangig als Folie für die Beschreibung von individuellen Reise­ eindrücken und Stimmungen. In einem der einleitenden Gedichte (An der Grenze) hält das lyrische Ich bei seinem Eintreffen an der italienischen Grenze inne, um den mit euphorischen Sehnsuchts- und Glücksgefühlen angefüllten Moment der Ankunft festzuhalten: „Und da lag es in des Abends Strahl / Meine Seele fühlte sich zu Hause!“ (GII 16). Die Ankunftsfreude fußt auf dem stark stilisierten Gegensatz von tristem, winter­lichem Norden und lieb­lichem Süden der auch in Abschied und Romfahrt zum Ausdruck gebracht wird und als Grundmotiv den gesamten Gedichtband durchzieht. Das Land Italien ist erklärtes Sehnsuchtsziel des Reisenden und wird fortlaufend mit landschaft­licher Schönheit, sinn­lichen Genüssen und kulturellem Reichtum assoziiert. Bei dieser lyrischen Verklärung und Idealisierung bewegt Emmi Lewald sich in den traditionellen Bildfeldern, welche die Italienrezeption in der deutschen Literatur bereits im vergangenen 19. Jahrhundert bestimmt haben: Wein, Trauben, Oliven und Orangen als landestypische Genussmittel, Pinien, Zypressen und Magnolien als exotische Vegetation, marmorne Götterstatuen, Ruinen und Kloster als Zeugen der untergegangenen antiken Kulturwelt. Die Bilder von Früchten, Pflanzen und typisch südländischen Natureindrücken wiederholen sich in den meisten Gedichten fast schematisch, indem sie mit Eindrücken des jeweiligen Kulturdenkmals und einer

38 Emil Roland: Gedichte. Neue Folge. Oldenburg und Leipzig Schulzesche Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei A. Schwartz 1901.

Typische Gattungen

historischen Reminiszenz zu einem reinen Stimmungsbild kombiniert werden. Infolge dieser Technik weisen beispielsweise die Gedichte Subiaco, Latinum, Amalfi und Tivoli, das hier wiedergegeben wird, eine starke Ähn­lichkeit der Komposition auf: An dem steilen Rand der Felsentiefe Hebt ihr grünes Blätterhaupt die Pinie; In den Silberschimmer der Olive Rankt den blauen Reichtum die Glycinie. Leicht und herr­lich ragt aus fernen Tagen Unzerstörbar in die Frühlingsstille, Hold umkränzt vom Schleier alter Sagen, In die Luft der Tempel der Sybille. Wie ein Heer von ungestümen Ringern Stürzen sich zur Schlucht des Anio Wogen, Und die Sonne malt mit güldnen Fingern In den Sturzbach ihre Regenbogen. Opfernd einem weltvergeßnen Gotte, Singt des Zauberliedes süße Töne Immer in der schattenkühlen Grotte Noch die ungestorbene Sirene. Leise schweben um die Felsenpforte Eines müden Kaiserlieblings Träume – Hadrians gedankenschwere Worte Murmeln als Erinnern durch die Bäume… (GII  32 f.)

Der formale Aufbau und die Gestaltung des Gedichts Tivoli (1901) zeigen erneut eindrück­lich, wie stark Emmi Lewalds Lyrik konventionellen Gestaltungsmustern des 19. Jahrhunderts verpf­lichtet war. Es handelt sich um ein während oder nach einer Italienreise entstandenes Stimmungs- bzw. Reisegedicht über den Besuch von Sehenswürdigkeiten in dem öst­lich von Rom gelegenen Ort Tivoli. Inhalt­lich beschreibt das Gedicht keine mensch­lichen Handlungen oder außergewöhn­lichen Ereignisse, sondern konzentriert sich auf die lyrisch verklärte Beschreibung von Naturphänomenen, Bauwerken, Sagen und historischen Persön­lichkeiten. Dabei genügte der Autorin offenbar die Nennung einzelner Namen und Schlagworte, um auf das Bildungswissen ihrer bürger­lichen Leser über Italien rekurrieren zu können. In der ersten Strophe baut Emmi Lewald das italienische Stimmungsbild auf, indem sie eine gebirgige Landschaftsszene mit den typisch süd­lichen Pflanzen Pinie,

261

262

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Olive und Glyzinie beschreibt. In der zweiten Strophe wird eine architektonische Sehenswürdigkeit in das Bild eingefügt, der als alt und sagenumwoben beschriebene „Tempel der Sibylle“, bei dem es sich um den römischen Rundtempel „Tempio della Sibilla e di Vesta“ handelt.39 Die dritte Strophe lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers von dem Bauwerk weg und einer natür­lichen Sehenswürdigkeit zu, den bei Tivoli gelegenen Wasserfällen des Aniene, hier mit seinem lateinischen Namen „Anio“ bezeichnet. Die Beschreibung konkreter Natur und Architektur tritt in der vierten Strophe dann endgültig in den Hintergrund zugunsten einer mit den Seheindrücken assoziierten mythologischen Szene, die dem Stimmungsbild eine akustische Komponente hinzufügt: Die Sirene, ein Fabelwesen der griechischen Mythologie, singt in einer „schattenkühlen“ Grotte ein „Zauberlied“ zur Huldigung eines nicht näher beschriebenen Gottes.40 Der aufgezeigte Zusammenhang zwischen dem römischen Kaiser Hadrian und dem Ort Tivoli in der fünften Strophe bleibt schließ­lich im Bereich des Assoziativen und Atmosphärischen, ohne dass die „Villa Adriana“ als eigent­liche Sehenswürdigkeit noch konkret benannt wird. Wie die formale Struktur des Gedichts Tivoli zeigt, blieb Emmi Lewald auch in ihrem letzten Gedichtband 1901 konventionellen Gestaltungsmustern verhaftet. Für die fünf vierzeiligen Strophen verwendete sie die verbreitete Reimstellung des Kreuzreims; die trochäischen Verse sind fünfhebig und enden mit zweisilbigen, weib­lichen Reimen. Das Fehlen jeg­licher Zäsur in den Versen sowie ihre regelmäßige Alternation, die sich aus dem jeweiligen Anschluss der betonten Silbe des folgenden Verses an die unbetonte Silbe des letzten Verses ergibt, erzeugen eine ruhige Atmosphäre, die zu der im Gedicht beschriebenen Stimmung passt. Der Satzbau des Gedichts Tivoli weicht stark von der alltagssprach­lichen Norm ab, wie es bei Gedichten des 19. Jahrhunderts verbreitet war.41 Er enthält zahlreiche Inversionen zur Steigerung der poetischen Wirkung, die sich jedoch teilweise nachteilig auf die Klarheit der Strophenaussage auswirken, so in den Strophen zwei und vier, in denen das Satzsubjekt erst mit dem letzten Wort genannt wird. Die Satzsubjekte werden infolge der Inversionen fortgesetzt durch Umstandsbestimmungen am Satzanfang verdrängt, wodurch eine gewisse Eintönigkeit des Satzbaus entsteht. So auch gleich zu Beginn des Gedichts: „An den steilen Rand der Felsentiefe / Hebt ihr grünes Blätterhaupt die Pinie“. Unter den Gestaltungsmitteln stechen darüber hinaus die Natur-Personifikationen der ersten Strophe und der Vergleich des Aniene mit 39 Mit der Sibylle dürfte die mit dem Ort Tivoli (Tibur) in Verbindung stehende mythologische Gestalt der „Tiburtinischen Sibylle“ gemeint sein, welcher der römische Rundtempel der Vestalinnen in der Nähe der Wasserfälle als Heiligtum zugeordnet ist. 40 Die mythologische Szene kann als Anspielung auf die zahlreichen Brunnen, Wasserspiele und Grotten in den Gärten der im 16. Jahrhundert entstandenen Villa d’Este in Tivoli verstanden werden, die ebenfalls als bedeutende Sehenswürdigkeit des Ortes gelten. 41 Vgl. Burdorf: Einführung in die Lyrikanalyse, S. 61.

Typische Gattungen

einem Heer von Ringern in der dritten Strophe hervor, die den Eindruck erzeugen, Pflanzen, Wasser und Sonne wirkten bewusst an der atmosphärischen Gestaltung des Stimmungsbildes mit. Es ist eine Stilisierung des italienischen Ortes zur regelrechten Märchenwelt, zu der in besonderem Maße auch die Wortwahl des Gedichts beiträgt, die mit Begriffen wie Silberschimmer, Schleier, güldene Finger, Zauberlied, Grotte, Felsenpforte und Träume an die Sprache von Märchen und Sagen erinnert. Emmi Lewalds Verklärung Italiens zu einer Märchenwelt und Gegenwelt zur Moderne, die auch die Sammlung Italienische Landschaftsbilder (1897) bestimmt, prägt somit auch ihre Italienlyrik (Vgl. 4.2.1.2). Noch eindring­licher als in der frühen Lyrik der Autorin weist Tivoli durch die simple Aneinanderreihung einzelner Bilder einen rein dekorativen Charakter auf. Hinter der farb- und formenreichen Bild­lichkeit, mit der sie die antike „Welt des Schönen“ als Sehnsuchtsort bürger­lichen Bildungsstrebens verherr­licht, eröffnen sich keine Mög­lichkeiten einer komplexen Deutung. Emmi Lewalds Weltkriegslyrik Von einer ganz anderen Seite zeigt sich die Lyrikerin Emmi Lewald, in deren Werk zeitpolitische Ereignisse bis 1914 kaum eine Rolle gespielt hatten, in ihrer Kriegslyrik. Wie die Mehrheit der deutschen Schriftsteller ihrer Generation verfasste sie in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs und im weiteren Kriegsverlauf zahlreiche Kriegsgedichte mit affirmativ-patriotischem Charakter.42 In der frühen Kriegslyrik von 1914 kommen der starke Nationalismus und die Kriegssehnsucht dieser Autoren zum Ausdruck, die vom Krieg eine Erlösung von der als statisch und überlebt empfundenen Vorkriegskultur erhofften.43 Formal und inhalt­lich stützt sich diese Lyrik „auf die Traditionen der patriotischen Lyrik seit 1813, also auf Theodor Körner und die Vormärzdichter.“44 Emmi Lewalds Gedichte wurden einzeln in Zeitungen, Zeitschriften und im Mitteilungsblatt des „Deutschen Lyceum-Clubs“ abgedruckt.45 Eine Ausnahme bildet das Gedicht Nach Ost und West, das bereits im Oktober 1914 unter der Rubrik „Unser braves Heer“ in der von Karl Quenzel herausgegebenen Kriegsliedersammlung Des Vaterlandes Hochgesang 42 Mit Beginn der Mobilmachung setzte in Deutschland eine Massenproduktion von Kriegslyrik ein, die von Schriftstellern ebenso wie von Laiendichtern getragen wurde. Die Zeitungsredaktionen sahen sich von eingesandten Gedichtmanuskripten überschwemmt, deren genaue Anzahl trotz der oft zitierten Schätzung Julius Babs, im August 1914 seien täg­lich ca. 50.000 Gedichte mit Kriegsbezug entstanden, noch nicht nachgeprüft ist. Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 9,2), S. 770 ff. 43 Vgl. hierzu auch Kap. 4.2.4 und Sprengel: Geschichte 1900 – 1918, S. 794. 44 Ebd. 45 Die in diese Arbeit einbezogenen Gedichte bilden nur einen Teil der tatsäch­lich publizierten Kriegsgedichte der Autorin. Der Großteil von Emmi Lewalds Lyrik erschien wahrschein­lich in den Tageszeitungen des Kaiserreichs, die aufgrund des umfangreichen Rechercheaufwands nicht abschließend recherchiert werden konnten.

263

264

Das literarische Werk Emmi Lewalds

erschien.46 Nach Ost und West thematisiert den Auszug des kampfbereiten deutschen Heeres als schicksalshaften Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Die als stolz und opferbereit charakterisierten Soldaten ziehen durch ein fried­liches Deutschland, das in den schönen Herbsttagen „vom Erntesegen schwer“47. Der Krieg wird zur „große[n] Schicksalsstunde“ und zum unbeeinflussbaren, übermächtigen Ereignis der Weltgeschichte verklärt, wie in der letzten Strophe deut­lich wird: Eine nahe Zukunft, blutumflossen, Wie ein dunkler Riese stand sie auf… All die Züge, die das Land durchlaufen, Nachts und tags auf deutschen Schienen brausen, Wie das Schicksal gehn sie ihren Lauf ! Eherne, verborgene Gesetze Walten sicher voll erhabner Ruh’ … In des Sommers mildem Himmels­lichte Braust mit Waffenklang die Weltgeschichte Neuen, unbekannten Zielen zu…48

Der Mensch erscheint hier ledig­lich als fremdbestimmter Protagonist in einem Kräfte­ messen höherer Mächte (Riese, eherne Gesetze, Weltgeschichte). Er ist nicht mehr das aktiv gestaltende Individuum der bürger­lichen Ideenwelt, das in der Vormärzzeit nach politischer Partizipation strebte, sondern Werkzeug in einer vorgeschriebenen Entwicklung Deutschlands (Schienen, Schicksal) zu nationaler Größe. Formal auffällig sind an diesem Gedicht der partielle Reimverzicht und die Öffnung der Satzenden, welche die Aufbruchsstimmung der Mobilmachungsphase 1914 in Deutschland und die Erwartung einer glorreichen und besseren, jedoch noch wenig konkretisierbaren Zukunft zu spiegeln scheinen. Bemerkenswerterweise ist es die Kriegslyrik, die Emmi Lewald zu einer gewissen formalen Modernität veranlasst. Die Verzahnung von militärischen Ereignissen und privater Lebenswelt im Zeichen persön­licher national-patriotischer Überzeugung kommt in Emmi Lewalds acht Strophen umfassendem Gedicht Absage zum Ausdruck.49 Das lyrische Ich wen-

46 Der Absicht des Herausgebers folgend, soll die Sammlung von „Kriegs- und Siegesliedern“ „unsern Kindern eine dauernde Erinnerung an den Geist einer großen Zeit und zugleich eine stete Mahnung sein, einer solchen Zeit würdig zu bleiben“ (Einführung). In der Anthologie erschien unter anderem auch patriotische Lyrik von Julius Hart, Richard Dehmel, Alfred Kerr, Gerhart Hauptmann und Hermann Sudermann. Karl Quenzel (Hg.): Des Vaterlandes Hochgesang. Eine Auslese deutscher und österreichischer Kriegs- und Siegeslieder. Leipzig 1914. 47 Emmi Lewald: Nach Ost und West. In: Quenzel: Des Vaterlandes Hochgesang, S. 60 f. 48 Ebd., S. 61. 49 Emmi Lewald: Absage. In: Die Frau 22 (1914/15), H. 5 (Feb.), S. 273.

Typische Gattungen

det sich an einen ausländischen Seelen- und Brieffreund der Friedenszeit, der jedoch mit Ausbruch des Weltkrieges automatisch zum Feind wird, da er einer Feindesmacht angehört (maritime Motive wie „Stolze Schiffe deines Volks“ deuten auf England hin). Die Entscheidung zwischen patriotischen und freundschaft­lichen Gefühlen fällt dem Sprecher dann auch nicht schwer: „Heißer als die Neigung unserer Seelen / Brennt die Leidenschaft zum Vaterlande!“50 Die Gewaltphantasie der abschließenden Strophe ist von prahlerischer Siegesgewissheit gekennzeichnet und räumt die letzten Zweifel über die vollständige Identifikation des lyrischen Ich mit dem deutschen Kaiserreich aus: „Wo von unsichtbaren Wurfgeschossen / Stolze Schiffe deines Volks zerschellen / Werf ich unsrer Freundschaft welke Rosen / In des Meeres wildempörte Wellen!“51 Hier agiert selbst die personifizierte Natur im Sinne eines emotional aufgeladenen deutschen Nationalismus. Während es in Emmi Lewalds literarischem Werk vor 1914 abseits der Frauen­ thematik keine Auseinandersetzung mit der Innen- und Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs gegeben hatte, in der sich die politische Einstellung der Schriftstellerin hätte manifestieren können, bringt die Weltkriegslyrik klar erkennbar ihre nationalkonservative Position zum Ausdruck. Wie zahlreiche deutsche Autorinnen und Autoren ihrer Zeit stellte sie ihre literarische Arbeit bereitwillig in den Dienst nationaler Kriegspropaganda und arbeitete auf diese Weise an der Festigung und Verbreitung des heroisch verklärten deutschen Selbstbildes, stilisierter Kriegsdarstellungen und stereotyper Feindbilder mit. Die inhalt­liche und ideologische Ausrichtung der Gedichte korrespondiert mit ihrer wenig experimentellen, der Formtradition des 19. Jahrhunderts affirmativ verpf­lichteten Gestaltungsweise. 4.1.2 Prosa 4.1.2.1 Studie, Skizze, Bild – kleine Prosaformen Die für die Jahrhundertwende zeittypischen kleinen Prosaformen Kulturbild, Studie und Skizze haben in Emmi Lewalds Werk einen festen Platz.52 Bereits ihr litera­risches Debüt Unsre lieben Lieutenants, Zeitgemäße Charakterstudien aus deutschen Salons (1888), die Sammlung satirischer Charakterstudien über den preußischen Offiziersstand, trug wesent­lich zu ihrer Profilierung im literarischen Feld des Kaiserreichs bei. In mehrseitigen Charakterbeschreibungen überspitzt die Autorin in dem Werk die mensch­lichen 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Vgl. Simone Winko: Novellistik und Kurzprosa des Fin de siècle. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 339 – 349.

265

266

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Schwächen real existierender Vorbilder und die von ihr wahrgenommenen Eigentüm­ lichkeiten des militärischen Berufsstands in einer komisch-satirischen Gesellschaftsdarstellung. Im Vorwort der Erstausgabe formuliert die Autorin explizit ihr Vorhaben, „den und jenen aus der Menge unserer lieben Lieutenants unter die Lupe gesellschaft­ licher Kritik zu nehmen.“53 Die Charakterbilder beabsichtigen jedoch keine mög­ lichst objektive und umfassende Darstellung gesellschaft­licher Verhältnisse, sondern konzen­trieren sich bewusst auf einzelne Szenen, die schlag­lichtartig und aus subjektivwertender Perspektive präsentiert werden. Solche kurzen, von naturalistischen Literaturströmungen inspirierten Prosatexte im Übergangsbereich zwischen Erzählung und Reflexion waren in Emmi Lewalds Schriftstellergeneration sehr beliebt.54 Das Genre bot den Autoren die Mög­lichkeit, individuelle Eindrücke aus ihrer unmittelbaren Lebensumwelt ohne strenge Formvorgaben literarisch umzusetzen. Die kurzen und pointierten Texte waren für die Autoren zudem aufgrund ihrer Feuilletontaug­lichkeit von ökonomischem Interesse, da sie sich mit schnellem Gewinn in den expandierenden Massenmedien publizieren ließen.55 Bisher sind keine Quellen bekannt, in denen Emmi Lewald ihre Arbeit mit den kurzen Prosaformen Studie, Skizze und Bild theoretisch reflektiert hat. Aufschluss über ihre Vorstellungen vom Wesen und der Konstruktionsart dieser Textarten geben ansatzweise jene Erzähltexte, in denen sie das Motiv des „Werks im Werk“ als literarisches Gestaltungsmittel verwendet.56 Aus diesen literarischen Beschreibungen der Genres lässt sich eine Anzahl gattungstheoretischer Merkmale der Charakterskizze erschließen, die in der Künstlerinnennovelle Die Globustrotterin (1898) eine zentrale Rolle spielt (Vgl. Kap. 4.2.2.3). Die fiktive Skizzensammlung Die reisende Menschheit der Schriftstellerin-Figur Rosa Rotteck erfüllt in der Novelle die Rolle eines praktischen Beweisstücks für die Existenz des literarischen Talents von Frauen und erscheint umso brisanter, als sie ein literarisches Charakterbild des männ­lichen Protagonisten und

53 Emil Roland: Unsre lieben Lieutenants. Zeitgemäße Charakterstudien aus deutschen Salons. Leipzig 1888, Vorwort. 54 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 162 ff. 55 Vgl. Winko: Novellistik und Kurzprosa, S. 342. 56 Dieses Gestaltungsmittel findet sich auch in den Novellen Blaue Blume (1896), Das Schicksalsbuch (1900) und in dem Roman Excelsior! (1914). In Blaue Blume veranschau­licht der modische Gedichtband des Protagonisten Karl Eduard Stettinger den zentralen Konflikt der Novelle und steht als Symbol für den Verrat des Dichters an seiner idealistischen Liebeslyrik bzw. einer Literaturauffassung, die durch die „Blaue Blume“ verkörpert wird. Die Erwähnung des Bandes zieht sich motivisch durch die Novellenhandlung und steht im Zentrum der letzten Szene, in der die Literaturliebhaberin Anna den Heirats­ antrag des Literaten wegen der Modeorientierung seiner Werke zurückweist. In der Handlung des Romans Excelsior! spielt dagegen eine von dem adeligen Protagonisten Clothar von Geldern verfasste politische Streitschrift über Arnold von Brescia eine wichtige Rolle. Die Abhandlung führt wegen ihrer demokratischen Tendenz zum politischen Sturz Gelderns. Vgl. zu dem Motiv in Das Schicksalsbuch 4.2.2.3 zu den Künstlerinnen-Figuren, zu dem Motiv in Excelsior! 4.2.3.2 zur Adelsthematik.

Typische Gattungen

Widersachers der Rosa enthält. Der auch als „Studie“ (IbF 55) bezeichnete Band enthält „kurze Kapitel, […] einzelne Skizzen, lose aneinander gereiht, nur eine gemeinsame Grundidee zog sich wie ein roter Faden hindurch“ (ebd. 51). Der lesende Protagonist identifiziert darüber hinaus verschiedene Techniken der Verfasserin bei der charakteristischen Beschreibung ihrer Zeitgenossen, eine „mokant[e] und etwas schnöde“ Schreibweise sowie die Verwendung „scharfe[r], vollster Überlegenheit entspringende[s] Aperçu[s]“ (ebd. 54). Emmi Lewalds literarische Beschreibung des Genres enthält auch Hinweise auf ebenjene „impressionistische[n]“57 Schreibhaltung, die Winko für Skizzen und Prosa­gedichte als charakteristisch bezeichnet: „Eine flotte, rasche Malart, die zwar keine Menschenseelen zu erschöpfen fähig war, aber des Menschen sichtbares Ich doch so deut­lich vor den Leser hinstellte, daß er die Pulse der Opfer schlagen hörte“ (IbF 54). Sämt­liche literarischen Gestaltungsmittel der fiktiven Autorin, vor allem ihr Vorgehen, die Personenporträts ihrer „scharfen Satire“ (ebd. 55) sehr konkret auszugestalten und den landschaft­lichen und gesellschaft­lichen Hintergrund ledig­lich als Rahmen anzudeuten, finden sich auch in Unsre lieben Lieutenants (1888) wieder. Obwohl das Genre der Charakterskizze für Emmi Lewalds Eintritt ins literarische Feld höchst bedeutsam wurde und ihr die militärischen Charakterstudien ein hohes Maß an gesellschaft­licher Aufmerksamkeit verschafften, verzichtete sie zunächst auf eine konsequente Fortführung des Konzepts und wandte sich der Novelle zu.58 Erst 1897 stellte die Autorin mit ihrer literarischen Reisebeschreibung Italienische Landschaftsbilder wieder eine ähn­lich komponierte Sammlung von Kurzprosa vor, deren Einzelstudien allerdings weniger satirisch-kritische Gesellschaftsdarstellungen als Reise- und Kulturbilder sind. In 18 Kapiteln, die mit Städtenamen wie „Ravenna“, geografischen Angaben („Am Trasimenischen See“) oder Bezeichnungen von Sehenswürdigkeiten („Im vatikanischen Garten“) überschrieben sind, schildert eine Erzählerin, die Teil einer Reisegruppe ist, einem Reisetagebuch vergleichbar die Stationen einer Norditalienreise.59 Die Landschafts- und Städtebeschreibungen sind von einer impressionistischen Erzählhaltung bestimmt, die Wert auf die Schilderung individueller Sinneseindrücke, Gefühle und Erfahrungen legt: 57 Winko: Novellistik und Kurzprosa, S. 342 f. 58 Der Sammelband Emil Roland: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen. Jena Mauke 1891 enthält zwar noch einzelne Studien und Skizzen wie König Enzio’s Leidenschaften, Backfischchen und Die Schülerflamme, die mög­licherweise auf Emmi Lewalds nicht realisiertes Projekt einer Sammlung weib­licher Charakterstudien aus dem Jahr 1888 zurückgehen. Der Sammlung fehlt jedoch ein thema­tischer Grundgedanke und eine entsprechend überspannende Rahmenerzählung, wie sie Unsre lieben Lieutenants aufweist (vgl. EuH). 59 Einen Hinweis auf die Gruppe der Italienreisenden enthält das Kapitel „Subiaco“, das mit den Worten beginnt:„Wir fuhren – zwei Damen, ein Secundaner und vier photographische Apparate – früh Morgens von Olevano aus in die Berge.“ Da es im Laufe des Kapitels heißt, „Der Secundaner und ich wandern zu Fuß vorauf“, wird eine der Damen als Erzählerin identifiziert. Obwohl die Schlussfolgerung des Lesers naheliegt, dass es sich bei der reisenden Erzählerin um die Schriftstellerin Emmi Lewald handelt, fehlt dafür der endgültige Textnachweis (ILB 96, 100).

267

268

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Wer mit dem Romzuge, von Florenz kommend, früh Morgens hier vorüber gen Süden saust, sieht den Trasimenischen See meist von Nebelschleiern umhüllt wie eine mythische Erscheinung in der Ebene liegen. Geisterhaften Luftbildern gleich schwimmen die Inseln auf dem bläu­lichen Grau und nur wie ein zarter Schatten zeichnet sich jenseits der schöne Monte Gualandro auf dem Morgenhimmel ab. (ILB 23)

Neben emphatischen Landschaftsschilderungen beschreibt Emmi Lewald vor allem das individuelle Bildungserlebnis der Erzählerin, das sie mit intertextuellen Bezügen zu Werken einer Tradition literarischer Italienrezeption anreichert und zu einer quasi­religiösen Erfahrung überhöht. Der politische und soziale Kontext des deutschen Kaiser­reichs und Italiens tritt in den Reisebeschreibungen nur am Rand auf; bestimmte realgesellschaft­liche Verhältnisse wie die Armut der italienischen Landbevölkerung und der Verfall der Kulturdenkmäler werden weitgehend zu einem atmosphärischen Detail des Reiseeindrucks verklärt.60 Der subjektiv-reflexive Charakter der Italienischen Landschaftsbilder auf der Inhalts­ ebene spiegelt sich in der sprach­lichen Ausarbeitung der Texte wider. Der Gedankenund Wahrnehmungsfluss des Erzählers weist ein erhöhtes Vorkommen von spontanen Ausrufen, Gedankenstrichen und offenen Satzenden auf, wie anhand eines Beispiels aus dem Kapitel „Perugia“ demonstriert werden kann: Wieviel Blut ist in den Gassen Perugias geflossen, auf dem hohen Felsen, der die Hauptstadt Umbriens so diademartig am Scheitel trägt! […] „Über ihre Thore statt der Muse ­meißeln die Baglioni die Meduse“, heißt es im Liede – und wahr­lich! Medusenhaft blickt es einem überall aus der Geschichte der Stadt entgegen – immer wieder Mord und ­Schrecken, ­Schrecken und Mord… (ILB 37)

Das Liedzitat dieses Textbeispiels gehört zu einer Fülle intertextueller Bezüge, die Emmi Lewald ihre Erzählerin in ihren Italienbericht einflechten lässt. Passagen aus Romanen und Reiseberichten fließen wie Gedankenimpulse aus dem persön­lichen Bildungskontingent der Erzählerin in ihren Bericht ein, ebenso die italienische Modemelodie, welche die Reisegruppe im Vorübergehen auf der Straße vernimmt.61 Besonders stark versinnbild­licht werden die subjektive Perspektive und die sinn­liche Wahrnehmung 60 Vereinzelte Erwähnungen des politischen Kontexts werden von der Erzählerin nicht kommentiert, etwa die im Kapitel „Ninsa“ geschilderte Begegnung der Reisenden mit dem Dorfschullehrer ­Insegnante Telemacchi: „Als er glück­lich herausgefragt hat, daß wir „da Germania“ sind, erkundigt er sich theilnahmevoll nach dem Befinden von Bebel und Liebknecht und sagt uns ein Compliment, wie gut der deutsche Kaiser bei seinem Rombesuch ausgesehen habe – nicht nur „bello“ und „elegante“, sondern vor allem so „maestoso!“ (ILB 146). 61 Vgl. die Textstelle: „Im Vorübereilen schlägt uns aus einer Osteria die Modemelodie ans Ohr, die ganz Italien von Nord nach Süd durchklingt: „Funiculì, Funiculà…“ (ILB 64).

Typische Gattungen

des Erzählers der Landschaftsbilder in der Vermischung des Prosatextes mit lyrischen Elementen. Neben dem von Emmi Lewald verfassten und den Landschaftsbildern vorangestellten Gedicht Romfahrt und den zahlreichen Lyrik-Zitaten geschieht dies auch in einigen impressionistisch anmutenden Prosapassagen, hier die Beschreibung eines Nebenwegs der Via Appia: „Die Hügel hemmen den Blick. Tausend Blumen schmücken mit vollen Sträußen das Tal. Ein Zittern geht über die Halme, nun der erste Abendwind sie streift“ (ILB 78). Die Doppelvermarktung der kleinen Prosaformate gelang Emmi Lewald im Falle der Italienischen Landschaftsbilder besonders gut. Die Texte erschienen in den Jahren 1895 und 1896 in den Feuilletons der Bremer „Weser-Zeitung“, der „Nationalzeitung“ und des „Bazar“ und wurden 1897 von der auf Italienliteratur spezialisierten Schulzeschen Hofbuchhandlung in Oldenburg als Sammelband herausgebracht. Indem die Texte jeweils eine Stadt oder Sehenswürdigkeit separat thematisieren, eigneten sie sich als einzelne anschau­liche Reiseskizze für das Feuilleton ebenso wie sie sich im späteren Sammelband als Reisestation in einen Kontext eingliederten. In die Reihe von Emmi Lewalds thematisch verbundenen literarischen Einzelstudien gehört auch die erstmals 1906 publizierte Sammlung großstädtischer Miniaturen Die Heiratsfrage. Der unverstandene Mann, ein spätes Mädchen, der Salonphilosoph und andere Typen aus der Gesellschaft.62 Die 20 enthaltenen Gesprächsskizzen tragen Titel wie „Das ‚späte‘ Mädchen“, „Der Salonphilosoph“ und „Die Mondänen“ und zeichnen sich durch eine Vermischung typischer Elemente der dramatischen Form mit der von Prosatexten aus. In dramatischen Szenen mit Figurenrede und dramatischen Nebentexten illustriert Emmi Lewald eine Reihe aus ihrer Sicht „typischer“ Gesellschaftssituationen, Personengruppen und Konversationsthemen und entwirft eine Typenlehre der bürger­lich-adeligen Gesellschaftsschicht. Wie bereits an den militä­ rischen Charakterstudien Unsre lieben Lieutenants (1888) lässt sich an diesen Texten der Wunsch nach der Klassifizierung und humoristischen Bearbeitung überindividueller zeittypischer Verhaltensweisen und Mentalitäten erkennen. Von der Literaturkritik wurde das Werk folg­lich als „Gesellschaftssatire“63 rezipiert. Emmi Lewald legte ihre gesellschaft­lichen Momentaufnahmen nach einem wiederkehrenden Schema an: Eine kurze Hinführung in Prosa macht den Leser mit dem Schauplatz, dem gesellschaft­ lichen Status der Figuren und deren Äußerem vertraut, dann folgt eine Gesprächsszene mit zwei oder mehreren Figuren, in deren Verlauf der Habitus der typisierten Figur in der Auseinandersetzung mit anderen Figuren herausgearbeitet wird. Die Prologe und Regiebemerkungen dienen nicht nur der Kontextualisierung der Dialoge, sondern sind der Ort des Erzählerkommentars und der humoristisch-satirischen Wertung des „Gesellschaftsschauspiels“. Die Sprache der Figurenrede dagegen ist der gestelzten

62 Die in diesem Abschnitt verwendeten Zitate stammen aus der 4. Auflage von 1913. 63 N. N.: Die Heiratsfrage, S. 377.

269

270

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Konversationssprache der ‚guten Gesellschaft‘ nachempfunden, je nach Bildungsstand des Sprechers angereichert mit französischen, italienischen und englischen Fremdwörtern und geistreichen Bemerkungen… Sie: „Sie sind aber arrogant, den Geist nur für das Zivil in Anspruch zu nehmen!“ Er (seufzend): „Geist! Dieses grand mot! Wer hat ihn denn noch, den sogenannten? All diese dress people um uns herum doch gewiß nicht? […]“ (DH 283)64

…oder durch eine entsprechende Wortwahl den niedrigen Bildungsstand des Sprechers entlarvend… Sie (lebhaft): „Ach, ich kann mir schon denken – so etwas im Archipel – Sie haben ja auch einmal mit ausgebuddelt auf den ägäischen Inseln –„ Er (seufzend): „Immer können Sie auch nicht mit, gnädige Frau – Sie vergreifen sich manchmal tüchtig mit den Verben…“ Sie (pikiert): „Aber man sagt doch nun einmal ‚buddeln‘?“ (DH 278)

In Die Heiratsfrage treten die Prosapassagen gegenüber den dramatischen Passagen in den Hintergrund, sodass einige zeitgenössische Kritiker die schwierige Lesbarkeit des Werks konstatierten und die Lektüre separater Szenen empfahlen.65 4.1.2.2 Novelle Wesent­lich häufiger als die oben beschriebenen Formen der Kurzprosa ist in Emmi Lewalds Werk die Gattung der Novelle vertreten. Die Autorin publizierte zwischen 1891 und 1919 acht Novellensammlungen 66 sowie drei einzelne Novellen, Auf diskretem Wege (1892), Fräulein Kunigunde (1894) und Mut zum Glück (1901). Neben den Charakterstudien und den frühen Gedichtbänden stellen die Novellen für die junge Autorin die wichtigste Gattung zur Profilierung im literarischen Feld des Kaiserreichs dar, die mit Sicherheit wegen ihrer guten Absatzmög­lichkeiten auf dem Zeitschriftenmarkt einen starken finanziellen Anreiz besaß.67 Die Gattung der Novelle hatte im 19. Jahrhundert 64 Aus Emmi Lewald: Der Salonphilosoph. In: dies.: Die Heiratsfrage. Der unverstandene Mann, ein spätes Mädchen, der Salonphilosoph und andere Typen der Gesellschaft. Stuttgart, Berlin Deutsche VerlagsAnstalt 1906, S. 269 – 291. 65 Vgl. Peschkau: Besprechungen Neue Novellen, Sp. 1071 f. 66 Vor allem in der Oldenburger Zeit bis 1896 und der Etablierungsphase in Berlin bis 1904 publizierte Emmi Lewald hauptsäch­lich Novellen: Ernstes und Heiteres (1891), Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen (1894), Kinder der Zeit (1897), In blauer Ferne (1898), Gefühlsklippen (1899) und Das Schicksalsbuch und andere Novellen (1904). Nach 1904 folgen noch die Bände Stille Wasser (1912), Der wunde Punkt (1914) und die Kriegsnovellen In jenen Jahren… (1919). 67 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 162 ff.

Typische Gattungen

nicht nur von der Kommerzialisierung des Buchmarkts profitiert, sondern auch durch die Spezialisierung angesehener Autoren wie Paul Heyse, Theodor Storm, Conrad ­Ferdinand Meyer, Gottfried Keller, Isolde Kurz, Arthur Schnitzler auf dieses Genre eine allgemeine Aufwertung erfahren. Literaturhistorisch spiegelt sich die wachsende Bedeutung der Gattung in einer regen gattungstheoretischen Diskussion der Autoren ebenso wie in viel beachteten Publikationsprojekten wie der von den Novellisten Paul Heyse (1830 – 1914) und Hermann Kurz in den Jahren 1871 – 1876 im Münchener OldenbourgVerlag herausgegebenen monumentalen Sammlung Deutscher Novellenschatz. Emmi Lewalds literarischer Umgang mit der Novelle stand unter dem Eindruck der Gattungsdiskussion des 19. Jahrhunderts und war besonders von den Werken und den poetologischen Überlegungen der Novellenautoren Theodor Storm (1817 – 1888) und Paul Heyse geprägt. Ihre ersten Novellenbände Ernstes und Heiteres (1891) und Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen (1894) sowie die „Badenovelle“ Auf diskretem Wege (1892) enthalten kleinere Arbeiten über verschiedene Gesellschaftscharaktere, deren Alltagserfahrungen, Erinnerungen und Träume; viele von ihnen müssen streng genommen wegen ihrer Kürze und des Fehlens eines zugespitzten Handlungsverlaufs eher dem Genre der Skizzen und Studien zugeordnet werden.68 Auch in den Augen des in den 1890er Jahren anerkannten Novellenschriftstellers und späteren Nobelpreisträgers Paul Heyse, den die Autorin 1895 um dessen Meinung zu ihrer Sammlung Die Geschichte eines Lächelns bat, war der Novellencharakter von Emmi Lewalds frühen Arbeiten nur schwach ausgeprägt.69 Unumwunden beginnt der 65-jährige Autor nach der Lektüre des Bandes seinen Antwortbrief mit den Worten: „Das sind frei­lich keine richtigen Novellen, geehrtes Fräulein, vielmehr Charakterskizzen, Cápriccios, Stimmungsbilder […].“70 Heyse sieht Emmi Lewalds Novellen stark von den Arbeiten seines Freundes und Kollegen Theodor Storm beeinflusst, was mit den zahlreichen Traumsequenzen und Erinnerungssituationen zusammenhängen mag.

68 Das Kriterium der Skizzenhaftigkeit trifft auf fast alle Texte der Sammlung Ernstes und Heiteres zu, nur in den längeren Stücken „Der Mensch mit seiner Qual“ und Der Kellner vom Drusenthal entwickelt sich eine Handlung mit Ereignisabfolge. Der kurze Prosatext Der Traum des Philosophen behandelt in Form der Tagtraumsequenz eines Ballteilnehmers das Thema des Ehrenduells in der bürger­lichen Gesellschaft. 69 Aus dem Briefwechsel zwischen Emmi Lewald und Paul Heyse ist Heyses Antwortschreiben auf die Anfrage erhalten, in dem er Stellung zu Emmi Lewalds novellistischen Arbeiten in Die Geschichte eines Lächelns (1894) nimmt. In Emmi Lewalds offensiver und unbefangener Kontaktaufnahme mit dem um 1890 hochgeschätzten und einflussreichen Schriftsteller kommt ihr großes Selbstbewusstsein als Person und Autorin zum Ausdruck. Wie bereits im biografischen Abschnitt dieser Untersuchung deut­lich wurde, betrachtete Emmi Lewald den geistigen Austausch mit ihren lebenden litera­ rischen Vorbildern und anderen zeitgenössischen Intellektuellen als selbstverständ­lichen Teil ihrer bildungsbürger­lichen, kommunikativen Lebensführung. Paul Heyse an Emmy Jansen am 4. Februar 1895. Autogr. Heyse, Paul II. Jansen, Emmy, Handschriftenabteilung Bayrische Staatsbibliothek. 70 Ebd., Blatt 1.

271

272

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Ihre novellistische Bildung haben Sie wohl zumeist Storm zu verdanken, und zwar dem Storm der Immensee-Periode. Halten Sie sich an den späteren Storm, den Aquis submersusStorm, da sind Sie besser aufgehoben.71

Heyse vermisst in Emmi Lewalds Texten ein erkennbares Novellenmotiv, das der erzählten Geschichte eine deut­liche Struktur verleiht. Darüber hinaus kritisiert er die mangelnde Singularität und narrative Tragfähigkeit der verwendeten Stoffe. Um diesen Kritikpunkt zu verdeut­lichen, analysiert er in seinem Brief beispielhaft die Titelnovelle des Bands und kann als deren stoff­liches Grundgerüst nur die „dürftige Anekdote“ ausmachen, „daß ein in Adelskreisen erzogenes blaublütiges Fräulein doch lieber unglück­lich werden, als einen Mann mit einem plebejischen Namen heirathen wollte.“72 Auch die Stoffgrundlage der Novelle Gregor und seine Brüder erscheint Heyse für die Novelle nicht ausreichend und er rät der jungen Autorin für die Vervollkommnung ihrer Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit seiner eigenen Novellentheorie: „[L]esen Sie die Einleitung zum Deutschen Novellenschatz und beherzigen Sie die sehr nütz­liche Lehre vom „Falken“.73 Der „Falke“ steht hier stellvertretend für Paul Heyses im 19. Jahrhundert breit rezipierte theoretische Überlegungen zur Gattung der Novelle, die er in der Einleitung der Erzählsammlung Deutscher Novellenschatz (1871) und in dem Beitrag Meine Novellistik (1900) formulierte.74 Kindt fasst Heyses gattungstheoretischen Beitrag zur Novelle prägnant zusammen: Eine Novelle habe nicht von der Weltanschauung, sondern vom „Ereigniß“ auszugehen; ihre Aufgabe bestehe darin, „ein seelisches oder geistiges Problem in einem kräftig begrenzten Fall zum Austrag“ (S. 153) zu bringen. Als gelungen lässt sich eine novellistische Erzählung nach Heyse dann bezeichnen, wenn ihr Grundproblem markant herausgearbeitet ist und zugleich symbolisch veranschau­licht wird. Als folgenreich für die gattungstheore­ tische Debatte des zurückliegenden Jahrhunderts wird sich Heyses Vorschlag erweisen, im Hinblick auf das Profil der Handlung einer Novelle von deren „Silhouette“ (ebd.) zu sprechen; noch einflussreicher sind seine Überlegungen zur Veranschau­lichung des zentralen Konflikts in novellistischen Texten durch Ding-Symbole, die von ihm anhand der Funktion des Falken-Motivs in einer Novelle aus Boccaccios Decamerone illustriert werden – die betreffende Geschichte handelt von einem Edelmann, der seinen gesamten Besitz mit Ausnahme eines Falken durch ein langes erfolgloses Werben um eine adelige Dame

71 Ebd., Blatt 3. 72 Ebd., Blatt 2 – 3. 73 Ebd., Blatt 2. 74 Vgl. Tom Kindt: Novelle. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 540 – 548. S. 543. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 162 ff.

Typische Gattungen

verliert, um deren Gunst schließ­lich dadurch zu gewinnen, dass er ihr bei einem Besuch aus dem edlen Vogel ein Mahl zubereitet (vgl. Heyse 1871, S. 148 f.).75

Emmi Lewalds Auseinandersetzung mit Paul Heyses Überlegungen zu den Gattungsmerkmalen der Novelle macht sich in ihren nach 1895 publizierten Novellensammlungen Kinder der Zeit (1897), In blauer Ferne (1898), Gefühlsklippen (1900) und Das Schicksalsbuch (1900) bemerkbar. In den meisten Texten werden zum einen die Handlungs- und Gesprächssituationen gegenüber den Reflexions- und Erinnerungspassagen aufgewertet, welche die frühen Novellen dominierten. Zum anderen wird die Absicht der Autorin spürbar, einen zentralen mensch­lichen, gesellschaft­lichen, künstlerischen Konflikt zu bearbeiten und durch ein „Ding-Symbol“ oder einen bedeutungsgeladenen Begriff zu veranschau­lichen. Das Grundthema der Novelle Cunctator bildet die berechnende und karrieristische Lebenshaltung des Ehrgeizlings Dr. Arthur Keyser, die ihn so lange den entscheidenden Heiratsantrag hinauszögern lässt, bis die Geliebte mit einem anderen Bewerber eine Vernunftehe eingeht: „Nicht verscherzt hatte er sein Glück in blinder Leidenschaft, wie wohl andre – nein! Thörichter noch, hatte er es – ein ewiger Cunctator – nur verzaudert!“ (KdZ 126). Ganz im Sinne Heyses nutzt Emmi Lewald hier die Novellenform, um die Konflikte und Unzuläng­lichkeiten des von Rationalisierungs- und Modernisierungsprozessen bestimmten Menschen der Jahrhundertwende anhand eines Einzelschicksals darzustellen. Thematisch ähn­lich gestaltet die Autorin später die Novellen Die Geschichte einer Beziehung und Die Erzieherin (beide 1899). Die Offenheit der Novelle für mannigfaltige Stoffe, die Heyse in der Einleitung zum Deutschen Novellenschatz mit der Losung „Nil humani a me alienum puto – Alles, was die Menschenbrust bewegt, gehört in meinen Kreis […]“76 unterstreicht, erlaubte Emmi Lewald die Verarbeitung der für sie relevanten zeitgenössischen Themen in dieser Gattung: die Auswirkung der Modernisierungsprozesse auf das Individuum, der Werteverlust des Bürgertums, das Verhältnis der Geschlechter, die Frauenemanzipation und der gesellschaft­liche Abstieg des Adels, jene Themen, die sie später auch mit differenzierter, panoramatischer Technik in ihren Romanen entfaltete. Perspektivisch geht die Autorin, wie die Verfasser zahlreicher Erzählungen und Novellen des Fin de Siècle, vom Individuum aus und behandelt die „Problematisierung des Subjekts, als einzelnes oder in seiner Beziehung zu einer Gruppe bzw. Gesellschaft.“77 Die Perspektive des Individuums spiegelt sich auf Textebene in der Verwendung von fiktiven Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, welche dem Leser 75 Kindt: Novelle, S. 543. Kindt zitiert aus Paul Heyses Einleitung [1871]. In: Theorie und Kritik der Novelle von Wieland bis Musil. Hg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 1970, S. 141 – 149 sowie Paul Heyses Meine Novellistik [1900]. In: Novelle. Hg. von Josef Kunz. Darmstadt 1973, S. 74 – 78. 76 Heyse: Einleitung, S. 145. 77 Winko: Novellistik und Kurzprosa, S. 347.

273

274

Das literarische Werk Emmi Lewalds

den Eindruck der subjektiven Sicht einzelner Figuren auf das Geschehen vermitteln, aber auch deren Charakterisierung dienen sollen.78 In Bezug auf die Stoffwahl stechen in Emmi Lewalds Novellenwerk zwei Spezialfälle hervor, die Künstlernovellen der Jahrhundertwende und die im Kontext des Ersten Weltkrieges entstandenen, ab 1915 publizierten Kriegsnovellen. Die Künstlernovellen erlaubten der Autorin, Grundprobleme ihrer eigenen Existenz als Schriftstellerin wie das Spannungsverhältnis von künstlerischem Ausdrucksbedürfnis und gesellschaft­lichen Konventionen, Kunstanspruch und Tagesgeschäft offen zu thematisieren (Vgl. 4.2.2.3). In der Novelle Kinder der Zeit (1897) fristet der Dichter Erhardt als Verfasser von Dramen nach Vorbildern der deutschen Klassik ein trostloses Dasein. Er erscheint als anachronistische Dichterfigur in einer literarischen Öffent­lichkeit, in der die sozialen ­Dramen naturalistischer Bühnenautoren als Inbegriff literarisch-künstlerischer Innovation gefeiert werden. Der Anschluss des Dichters an die aktuellen Literaturströmungen der Zeit um 1880 wird als Hinwendung zu einem Massenpublikum und als Entscheidung für den finanziellen Erfolg und die öffent­liche Anerkennung bei gleichzeitiger Aufgabe des künstlerischen Anspruchs gedeutet.79 Dem Aspekt der gesellschaft­lichen Außenseiterposition des Künstlers widmet sich die Novelle Das Loos der Schönen (1897), in der die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben für den bildenden Künstler im Selbstmord endet. Im Zentrum von Emmi Lewalds novellistischem Interesse steht um 1900 vor allem das Selbstverständnis von Künstlerinnen sowie ihre spezifische Position in der partnerschaft­lichen und der gesellschaft­lichen Beziehung. Weib­liche Autorschaft ist das Grundthema und konfliktauslösende Moment der Novellen Die Globustrotterin, Zwischen Stendal und Ülzen (beide 1898) und Das Schicksalsbuch (1900), wobei themengebunden die Enthüllung des männ­lichen Pseudonyms in allen genannten Texten als überraschender Wendepunkt im dramatischen Aufbau der Novelle fungiert. In Feierstunden (1901) und Irmengard Henneberger (1898) wird das Problem weib­lichen Künstlertums auf die Figur der bildenden Künstlerin übertragen. Die Novellen mit Kriegsthematik, die im Laufe des Weltkrieges zum Teil in sogenannten Kriegs-Almanachen erschienen waren, sind literaturhistorisch der „Erzählprosa von der Heimatfront“80 zuzuordnen (vgl. Kap. 4.2.4). ­Notwendigerweise 78 Vgl. in den Novellen der Sammlung Kinder der Zeit (1897) beispielsweise die lange Tagebuchpassage in Cunctator (S. 41 – 81), mittels der ein Teil des Geschehens aus Sicht der Hauptfigur Dr. Arthur Keyser geschildert wird, den Brief in Hauenstein (S. 142 – 143), der die Perspektive des toten ­Hauenstein vermittelt, und die fast vollständig als Entschuldigungsbrief angelegte Künstlernovelle Das Loos der Schönen (S. 149 ff.), in der die Briefform zum Medium für die radikal-subjektive Weltsicht des zum gesellschaft­lichen Außenseiter stilisierten Künstlers wird. 79 Erhardts modernes Erfolgsdrama Kinder der Zeit steht somit symbolisch für die Anpassung des Autors an den Zeitgeist. Im Sinne des Novellentheoretikers Heyse fungiert das Drama in gedruckter Form sowie als Theateraufführung als „Ding-Symbol“ für den in der Novelle bearbeiteten mensch­ lich-künstlerischen Konflikt. 80 Vgl. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, S. 774 ff.

Typische Gattungen

zumeist aus Sicht der Frauen und der Kriegsuntaug­lichen schildert Emmi Lewald die weltanschau­lichen Einschnitte der Kriegssituation, die Begeisterung der Kriegsfreiwilligen und die Sorgen der zurückgebliebenen Mütter und Ehefrauen. Das weltanschau­liche Grundkonzept der Novellen ist durchweg affirmativ, patriotischloyal und kriegsbegeistert. Während die deutschen Soldaten zu opferbereiten und mutigen Helden stilisiert werden, wird die Diskreditierung der Kriegsgegner Russland, England und Italien über die Verzerrung und Übertreibung der Nationalstereotypen erreicht. Der Weltkrieg erscheint als schicksalhafte Zerstörung der hergebrachten Welt- und Werteordnung, als historische Zäsur mythologischen Ausmaßes, welche der Ich-Erzähler aus In schlaflosen Nächten „als größte Angelegenheit des Jahrhunderts“ begrüßt, „als eine Steigerung aller aus Büchern erlernten Heldenzeiten von Thermophlä [sic] an“ (IjJ 16). Der lange innere Gedankenmonolog des kriegsuntaug­ lichen Philologieprofessors, in dem sich Kriegsbegeisterung mit bürger­lichen Bildungsvorstellungen und unbedingtem Fortschrittsglauben vermischen, ist eines der Gestaltungsmittel, das Emmi Lewald in der Sammlung In jenen Jahren… (1919) für die Kriegsdarstellung verwendet. Die Situation des Fronturlaubs in Der Mangel an Ernst ist aus Sicht der bangenden Soldatenmutter geschrieben; in Der letzte Brief erweitert Emmi Lewald ihr Kontingent an Erzählperspektiven um die des Frontsoldaten, indem sie die Form des Feldpostbriefs literarisch adaptiert. Für den Text Eheirrung wählt die Autorin erneut die Form der literarischen Gesellschaftsskizze und thematisiert in dialogischer Form den weltanschau­lichen Konflikt zwischen Patriotismus und Kulturbegeisterung, in den die Kriegsgegnerschaft Italiens das deutsche Bildungsbürgertum stürzt. Emmi Lewalds Sammlung von Kriegsnovellen In jenen Jahren… (1919) bildet den Abschluss ihres Novellenwerks. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es für den traditionellen Novellentypus und die inhalt­lichen Schwerpunkte der Autorin auf dem literarischen Markt offenbar kaum noch Absatzmög­lichkeiten.81 Einzeltextanalyse: Das Schicksalsbuch (1900) Die Künstlerinnennovelle Das Schicksalsbuch stammt aus Emmi Lewalds Berliner Hauptschaffensphase und zeugt bezüg­lich der Thematisierung eines mensch­ lichen Grundkonflikts sowie der Verwendung eines markanten „Ding-Symbols“ zur Veranschau­lichung des Konflikts vom Einfluss der Heyseschen Novellentheo­rie.82 Der Text war 1904 in Lewalds pseudonym bei Fontane & Co. publizierter 81 „Die Gartenlaube“ ist die einzige bisher bekannte Unterhaltungszeitschrift, in der nach 1919 noch Kurzprosa von Emmi Lewald erschien. Aus dem Jahr 1935 stammt die Erzählung Das Reisebett. Vgl. Emmi Lewald: Das Reisebett. In: Die Gartenlaube 1935, Nr. 2, S. 32 f. 82 Der Einfluss von Heyses Novellentheorie wurde auch von dem Literaturkritiker Theo Schäfer hervorgehoben, der den Sammelband Das Schicksalsbuch und andere Novellen 1904 in „Das literarische Echo“ besprach. Vgl. Schäfer: Das Schicksalsbuch und andere Novellen, Sp.  1762 f..

275

276

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Novellensammlung Das Schicksalsbuch und andere Novellen enthalten, muss jedoch aufgrund ihrer Erstpublikation in der Unterhaltungszeitschrift „Über Land und Meer“ 1900 entstehungsgeschicht­lich früher eingeordnet werden.83 Die ebenfalls in dem Band enthaltenen Novellen Die Etrusker, Feierstunden und Erdgeruch gestalten, ebenso wie die untersuchte Titelnovelle, die Künstler- und Gelehrtenthematik und insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer bzw. wissenschaft­ licher Berufung und bürger­licher Existenz. Zum zentralen Konflikt der Novelle Das Schicksalsbuch macht Emmi Lewald das sich um die Jahrhundertwende problematisch gestaltende Verhältnis von weib­lichem Künstlertum und den gesellschaft­lichen Rollen­erwartungen an die Frau als Ehefrau und Mutter. Der Inhalt der Novelle lässt sich pointiert zusammenfassen als vergeb­licher Versuch der jungen Schriftstellerin Ulrike Gade, ihre künstlerische Begabung für eine Liebesehe mit dem konservativen Offizier Julian von Reifenstein zu unterdrücken. Reifenstein, der weib­liche Autorschaft grundsätz­lich ablehnt, bleibt bei der überstürzten Verlobung der Protagonisten durch ein Missverständnis zunächst in Unkenntnis von Ulrikes Erstlingswerk Moderne Leiden. Einige Monate nach der Eheschließung eskaliert der unterschwellige Konflikt der Eheleute nach der zufälligen Enthüllung von Ulrikes Schreibpseudonym, die Ehe scheitert und Ulrike kann wieder ungehindert als Schriftstellerin arbeiten. Erzählperspektiven und Komposition Das zentrale Problem der Novelle schildert Emmi Lewald mittels wechselnder personaler Erzähler aus Sicht des Offiziers Julian von Reifenstein, der Autorin Ulrike Gade und des Freigeists Fritz Travers. Im Gegensatz zu den Novellen Die Globus­ trotterin und Irmengard Henneberger, die den Konflikt weib­lichen Künstlertums vorrangig aus der Perspektive des männ­lichen Protagonisten erzählen, rückt die Autorin in Das Schicksalsbuch die Bewusstseinslage der Künstlerinnen-Figur Ulrike stärker in den Mittelpunkt und schildert zentrale Ereignisse der Handlung aus ihrer Perspektive. Die Erzählperspektiven und die Schauplatzwechsel sind mit den wichtigen Handlungsabschnitten zu einer dramatischen Komposition der Novelle verwoben. Im ersten Abschnitt (S. 35 – 54) wird aus Sicht des Offiziers Julian das Treffen und Kennenlernen der Hauptfiguren während eines Sommerurlaubs am Luganer See beschrieben. Während seines als persön­liche Ausnahmesituation beschriebenen Urlaubs akzeptiert Julian Ulrikes ungebundene Existenz, die in ihrem Alleinreisen und dem Kontakt zu der skurrilen Künstlerin Doris Katz zum Ausdruck kommt. Bereits in diesem frühen Abschnitt taucht Ulrikes pseudonyme Publikation Moderne Leiden auf, die als Ding-Symbol („Schicksalsbuch“) den zentralen Konflikt der Novelle

83 Emil Roland: Das Schicksalsbuch In: ders.: Das Schicksalsbuch und andere Novellen. Berlin Fontane & Co. 1904, S. 33 – 126. Die Novelle war 1900 als Zeitschriftenvorabdruck in „Über Land und Meer“ erschienen. Die Zitate in diesem Abschnitt stammen aus der Buchpublikation von 1904.

Typische Gattungen

veranschau­licht: Doris Katz übergibt Julian das Buch beim Abschied zur Lektüre und verschweigt ihm Ulrikes Autorschaft. Julian lehnt die moderne Tendenz des Werks ab, ohne es mit Ulrike in Verbindung zu bringen und zieht im zweiten Abschnitt der Novelle (S. 54 – 61) nach Rückkehr in seine deutsche Garnison brief­liche Erkundigungen über Ulrikes Vergangenheit und Lebenssituation ein. Julians Entschluss, seiner Reise­bekanntschaft einen Heiratsantrag zu machen, führt den Offizier im dritten Teil der Novelle (S. 61 – 68) in Ulrikes Schweizer Heimatort ­Rapperswil. Im emotional-aufwühlenden Moment des aus Ulrikes Perspektive geschilderten Antrags gibt sie Julians Werben nach, ohne auf einer klärenden Aussprache über ihre Autorschaft zu bestehen. Ulrike ist der festen Überzeugung, die – ohnehin bis zu diesem Zeitpunkt erfolglose – schriftstellerische Arbeit aufgeben zu können, um ihr Lebensglück in der Ehe zu finden. Die Handlung setzt nach einem Zeitsprung mit dem privaten und gesellschaft­ lichen Alltag des verheirateten Paars in Julians namenlos bleibender Garnisonsstadt wieder ein, dem vierten und längsten Abschnitt der Novelle (S. 68 – 118). In diesem Teil wird aus Ulrikes Sicht die künstlerische Selbstverleugnung in der Ehe als zunehmend problematische Situation beschrieben und eine mög­liche Zuspitzung des Konflikts mehrfach angedeutet. Julians Erzählperspektive wird von der seines Cousins Fritz Travers abgelöst, der aus Berlin ebenfalls in die Garnison versetzt wird. Dem fortschritt­lichen Schöngeist Travers, der die Autorschaft von Frauen generell befürwortet, bleibt Ulrikes literarisches Interesse nicht lange verborgen. Als er den Zusammenhang zwischen Ulrike und dem verspätet zum Bestseller avancierten Buch Moderne Leiden zu ahnen beginnt, forciert er ihren inneren Konflikt, um sie für sich zu gewinnen. Ulrike selbst deutet die überraschende Anerkennung ihres Werks durch die literarische Öffent­lichkeit jedoch als schicksalhafte Wendung und Bestätigung ihres künstlerischen Talents, woraus sie als Konsequenz die Rückkehr in die Schriftstellerinnenexistenz beschließt. Nachdem die Offenbarung ihrer Autorschaft zur Trennung von Julian geführt hat, zeigt der fünfte und letzte Handlungsabschnitt der Novelle (S. 118 – 126) Ulrike erneut als selbstständige Schriftstellerin in ihrem Haus in Rapperswil. Der Grundkonflikt der Novelle „Das Schicksalsbuch“: Weib­liches Künstlertum 84 Als Grundkonflikt der Künstlernovelle Das Schicksalsbuch gestaltet Emmi Lewald das Spannungsverhältnis zwischen freier Künstlerexistenz und bürger­licher Identität aus, das hier in der Übertragung auf die problematische Beziehung zwischen weib­lichem Künstlertum und den weib­lichen Rollenvorgaben der bürger­lichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts radikalisiert und als grundsätz­lich unauflösbarer Konflikt gedeutet wird. Die junge Schriftstellerin Ulrike Gade wird bereits zu Beginn der Novelle als 84 Vgl. die Untersuchung der Künstlerinnenthematik in Kap. 4.2.2.3.

277

278

Das literarische Werk Emmi Lewalds

individuelle Künstlerinnenpersön­lichkeit charakterisiert, obwohl ihre Berufung seitens des offiziellen Literaturbetriebs noch nicht bestätigt worden ist. Dennoch deuten für den Leser zahlreiche Hinweise auf ihre Künstlernatur hin, ihre selbstständige Lebensweise im eigenen Haus in der Schweiz, ihre finanzielle Unabhängigkeit, ihre unbegleitete Reisetätigkeit, ihr Desinteresse an Männerbekanntschaften und insbesondere ihr unter dem Pseudonym ‚Ulrich Krieger‘ publizierter Tendenzroman Moderne Leiden. Nur Ulrikes Unsicherheit und Zweifel bezüg­lich ihres künstlerischen Potenzials, die auf die mangelnde Anerkennung ihres Erstlingswerks in der literarischen Öffent­ lichkeit zurückgeführt werden, ermög­lichen die unüberlegte Zustimmung zu der Ehe mit ihrer Reisebekanntschaft, dem ihr weitgehend unbekannten konservativen Offizier Julian von Reifenstein. Trotz früh aufkeimender innerer Zweifel ist Ulrike zu Beginn der Beziehung fest davon überzeugt, ihre künstlerischen Ambitionen zugunsten ihres Liebesideals und einer bürger­lichen Existenz aufgeben zu können. Mit dieser Vorgeschichte, die eine künstlerisch begabte Frau in die restriktiven Bedingungen einer Ehegemeinschaft nach bürger­lichen Maßstäben mit einem konservativ denkenden Anhänger des traditionellen Frauenbildes führt, schafft Emmi Lewald die Konstellation für die Ausgestaltung des Grundkonflikts der Novelle. Emmi Lewalds eindimensionale Zeichnung des Offiziers Julian von Reifenstein, der trotz seines adeligen Namens und seiner militärischen Laufbahn die ablehnende Haltung vieler bildungsbürger­licher Männer gegenüber der Frauenemanzipation und der Frauenberufstätigkeit zur Schau trägt, bildet die wichtigste Voraussetzung für die Zuspitzung des Konflikts. Die Entscheidung für die Ehe nach bürger­lichem Ideal ist für beide Protagonisten mit Ulrikes konsequentem Verzicht auf die kreative Tätigkeit und die frühere persön­liche Freizügigkeit zugunsten ihrer Aufgaben als Ehe- und Hausfrau verbunden. Als Ulrike im Laufe der Zeit mit der existenziellen Bedeutung ihres künstlerischen Ausdrucksbedürfnisses konfrontiert wird, da ihr persön­licher Leidensdruck infolge ihrer beschränkten Entfaltungsmög­lichkeiten und ihrer gewaltsamen Selbstverleugnung stetig wächst, versucht sie, mit ihrem Ehemann einen Kompromiss auszuhandeln, der künstlerische und bürger­liche Existenz versöhnen soll: Sie bittet Julian, Feuilletonbeiträge über Reisethemen schreiben zu dürfen (SchB 85). Doch der altmodische Ehemann ist längst zu ihrem erbitterten Gegenspieler geworden, der seiner Frau die erbetenen Freiräume mittels seiner gesetz­lich verbrieften ehe­lichen Entscheidungsgewalt über sämt­liche beruf­lichen Tätigkeiten der Frau verbietet. Emmi Lewald zeigt hier auf kritische Weise die Konsequenzen des privatrecht­lich festgeschriebenen ehe­lichen Abhängigkeitsverhältnisses für verheiratete Frauen auf, das auch mit Inkrafttreten des „Bürger­lichen Gesetzbuches“ 1900 keine Änderung erfahren sollte. Julian kann darüber hinaus auch Ulrikes persön­liche Freiheit vehement einschränken, indem er ihr das selbstständige Reisen und den Umgang mit ihren alten Freunden und Künstlerkollegen untersagt und ihren Wirkungskreis auf die Organisation des ehe­lichen Haushalts sowie die repräsentative Rolle als seine Ehefrau an seinem Regimentsstandort beschränkt.

Typische Gattungen

Die Zuspitzung des Grundkonflikts der Novelle wird zunächst durch Ulrikes charakter­liche Veränderung in der Ehe und ihre stärker werdende Unruhe insbesondere nach dem Zusammentreffen mit dem ebenfalls literarisch tätigen Offizier Fritz Travers angedeutet. Die Situation wird weiter forciert, als Ulrikes Roman mit zeit­licher Verzögerung von der Literaturkritik gewürdigt wird, ein Talentbeweis, der nicht nur der offiziellen Legitimierung der Autorschaft gegenüber der Gesellschaft, sondern auch ihrer Selbstvergewisserung dient. Auf diese Weise selbstbewusst von ihrer künstlerischen Berufung überzeugt, kann Ulrike sich, als der Konflikt mit J­ ulians Entdeckung ihres männ­lichen Autorpseudonyms endgültig eskaliert, zweifelsfrei für die freie Künstlerexistenz entscheiden. Die mit Ulrikes weib­lichem Künstlertum verbundenen Freiheits- und Entfaltungsansprüche stehen in grundsätz­lichem Widerspruch zu einer bürger­lichen Identität, die mit einer Anerkennung der weib­ lichen Geschlechterrollenvorgaben in der ehe­lichen Gemeinschaft verbunden ist. Das Zustandekommen eines auswegweisenden Konzepts einer Verbindung von Ehe und Künstlertum scheitert in Das Schicksalsbuch grundsätz­lich an der konservativ-beharrenden Haltung des Ehemannes, der mit seiner gesetz­lich gestützten Machtposition in der Ehe die künstlerische und beruf­liche Entfaltung seiner Frau in seinem eigenen Interesse verhindern kann. Den Bruch der Künstlerin mit der gesellschaft­lichen Konvention legitimiert schließ­lich allein ihre kreative Begabung. Diese Position wird in der Novelle von dem freigeistigen Offizier Travers vertreten, der in dem Konflikt als Anwalt weib­lichen Kunstschaffens auftritt, dieses eindeutig mit dem männ­licher Künstler auf eine Stufe stellt und damit auch für Künstlerinnen eine Sonderstellung in der bürger­lichen Gesellschaft reklamiert, die das Recht auf uneingeschränkte Freiheit zur schöpferischen Entfaltung mit einschließt. Schluss Wie das Beispiel der Textanalyse zeigt, nutzte Emmi Lewald die Gattung der Novelle im Sinne ihres Vorbilds Paul Heyse zur literarischen Bearbeitung mensch­licher Grundkonflikte in Verbindung mit einer Zeitdiagnose und im Fall der Novelle Das Schicksalsbuch, die biografische Parallelen zu den Ereignissen um Unsre lieben Lieutenants zulässt, auch zur Thematisierung von Grundproblemen ihrer eigenen Schriftstellerinnenexistenz. Trotz ihrer Rezeption und Auseinandersetzung mit den renommierten Novellenautoren und Gattungstheoretikern ihrer Zeit legte Emmi Lewald auf den ökonomischen Gewinn aus der Veröffent­lichung ihrer Erzähltexte offensicht­lich mehr Wert als auf die Arbeit mit Gattungsmustern und die Treue zu einmal gewählten Gattungsbezeichnungen. Wie ihre Verwendung unterschied­licher Gattungsbezeichnungen für die gleichen Texte in verschiedenen Publikationszusammenhängen zeigt, war die Schriftstellerin bereit, sich den Ansprüchen des Zeitungs- und Zeitschriftenmarkts in dieser Hinsicht anzupassen. Der Prosatext Irmengard Henneberger trug beispielsweise bei seiner Erstveröffent­lichung 1898 in der „Deutschen Roman-Bibliothek“ die Gattungsbezeichnung „Erzählung“, während er 1912 in dem Sammelband Stille Wasser

279

280

Das literarische Werk Emmi Lewalds

als Novelle erschien. Der Text Die Erzieherin dagegen erschien in der „Deutschen Roman-Bibliothek“ 1899 als „Roman“, wurde im Kontext seiner Publikation in dem Sammelband Gefühlsklippen (1899) durch Fontane & Co. zur „Novelle“, um dann 1917 bei seiner Einzelpublikation im Hillger Verlag erneut die Gattungsbezeichnung „Roman“ zu tragen. Auch der Erzähltext in Briefform Der Lebensretter erhielt in der „Deutschen Roman-Bibliothek“ 1905 zunächst die Gattungsbezeichnung „Novelle“, bevor er als Einzelpublikation bei der Deutschen Verlags-Anstalt 1907 zum „Roman in Briefen“ wurde.85 Ökonomischen Gewinn und schriftstellerischen Erfolg zugleich versprachen auch die populären kleinen Prosaformen Charakterskizze, Landschaftsbild und Gesprächsskizze, auf die Emmi Lewald sich zeitweise neben ihrer Novellenproduktion einließ. Wie Winko konstatiert, war die auffällige Ausdifferenzierung der Gattungen um die Jahrhundertwende die praktische Folge der Expansion der Massenmedien und des steigenden Profilierungszwangs junger Autoren. Sie stellte jedoch auch eine litera­ rische Reaktion auf eine weitverbreitete Kontingenzerfahrung infolge gesellschaft­ licher Modernisierungs- und Differenzierungsprozesse dar, die zu der zunehmenden Auflösung verbind­licher Werte- und Welterklärungsmuster führten. Im Bereich literarischer Formen entspricht dieser Kontingenz der Verlust fragloser Geltung tradierter Muster; der einzelne Autor sieht sich nicht mehr ‚automatisch‘ in eine Traditionskontinuität gestellt, sondern hat die Wahl zwischen immer mehr Alternativen.86

4.1.2.3 Roman Emmi Lewalds wichtigste Gattung neben der Novelle war der Roman mit seinen Spielarten Gesellschafts-, Familien- und Entwicklungsroman. Die zumeist als Zeitromane angelegten Gesellschaftsromane sind im bürger­lich-adeligen Milieu angesiedelt und erschienen in wöchent­lich oder monat­lich herausgegebenen Zeitschriften und Journalen als Fortsetzungsromane sowie als separate Buchausgabe.87 Koopmanns 85 Die bei der Deutschen Verlags-Anstalt verlegte Romanfassung erschien zudem nicht pseudonym und weist eine Reihe von Veränderung der Personen- und Ortsnamen auf. Vgl. die Publikation von Der Lebensretter in „Deutsche Roman-Bibliothek“ von 1905 und die Buchausgabe der Deutschen Verlags-Anstalt von 1907. 86 Winko: Novellistik und Kurzprosa, S. 341. 87 Den Gesellschafts- und Berlin-Romanen Theodor Fontanes vergleichbar, haben Emmi Lewalds Romanwerke nichts mit dem von den Naturalisten geforderten „sozialen Roman“ gemein, der verschiedene Aspekte großstädtischen Lebens, daher auch soziale Missstände aufdecken sollte. Ihre Gesellschaftsromane thematisieren die Sphäre der gesellschaft­lichen Oberschichten, ihre Konversa­ tionskultur sowie den Habitus und die Sozialbeziehungen ihrer Angehörigen. Vgl. Sprengel, Geschichte 1870 – 1900, S. 185 ff. und 342 f. und Helmut Koopmann: Gesellschafts- und Familienromane der frühen Moderne. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix.

Typische Gattungen

allgemeine Aussage über den Gesellschafts- und Familienroman der frühen Moderne, seine Grenzen seien „unscharf, da er zuweilen gleichzeitig das eine und das andere [sei] und darüber hinaus noch Komponenten für viele andere Romantypen“88 liefere, trifft auch auf Emmi Lewalds Texte zu, in denen Merkmale des Gesellschaftsromans mit denen des Berliner Romans, des weib­lichen Entwicklungsromans, des Familienromans und des historischen Romans vermischt sind. Als verbindender Grundzug in Emmi Lewalds Romanproduktion zwischen 1896 und 1935 lässt sich vorrangig der Anspruch einer adäquaten Darstellung der zeitgenössischen Lebenswirk­lichkeit ihrer Gesellschaftsschicht ausmachen. Hinsicht­lich dieses Anliegens der Autorin, eine als Zeitdiagnose angelegte ‚realistische‘ Gesellschaftsschilderung zu schaffen, ist ihr Werk deut­lich vom „sentimental-trivialen Frauenroman“89 des 19. Jahrhunderts abzugrenzen, der ebenfalls bürger­liche Leserinnen als Zielgruppe hatte. Emmi Lewalds vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Werke stehen durch die Schilderung bürger­licher Alltagswelten und Mentalitäten in der literarischen Tradition der Spätphase des bürger­lichen Realismus. Sie schafft keine idealen Romanwelten und verweigert ihrer Leserschaft in den allermeisten Fällen einen versöhn­lichen Romanausgang in Gestalt der Auflösung der Lebenskonflikte ihrer Protagonisten in einem „traditionellen Verlobungs- oder Heirats-Happy-End“90. Die harmonische Lebenswelt einer intakten bürger­lichen Gesellschaft sucht man in Emmi Lewalds Romanen vergebens, denn ihr Interesse gilt den Auswirkungen des radikalen gesellschaft­lichen und ökonomischen Wandels seit der Jahrhundertwende auf die psychische Haltung bürger­licher und adeliger Individuen, auf ihre Geschlechterverhältnisse, ihre Familienverbände, ihr Verhältnis zur ursprüng­lichen bürger­lichen Werteordnung. Das Ergebnis dieser teils satirisch eingefärbten Gesellschafts-Diagnose ist oft ernüchternd, denn die Autorin konfrontiert ihr Lesepublikum mit Protagonisten, die dem rasanten Wandel ihrer traditionellen Lebens- und Wertewelt ohnmächtig gegenüberstehen. Besonders der krasse Gegensatz von Tradition und Moderne lässt in den Romanwirk­lichkeiten subtile Brüche und unauflösbare Problemkonstellationen in der bürger­lichen Lebenswelt entstehen, der die Figuren mit Resignation, Anpassung oder der Entscheidung für rückwärtsgewandte Lebensmodelle begegnen. Die bürger­lichen Denk- und Lebensformen erscheinen in Emmi Lewalds Romanen des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik angesichts politischer, gesellschaft­licher und ökonomischer Umwälzungen von einem schleichenden Verfall gezeichnet und im Prozess der Auflösung begriffen. Dennoch behalten traditionelle bürger­liche Moral- und Sitt­ lichkeitsvorstellungen einen überragenden Einfluss und ersticken insbesondere den München u. a. 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 323 – 338. 88 Koopmann: Gesellschafts- und Familienromane, S. 323. 89 Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 203 ff. 90 Ebd., S. 205.

281

282

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Frauenfiguren die neuen Ideen individueller Persön­lichkeitsentfaltung bereits im Keim. Emmi Lewalds Darstellungen der „Krankheiten“ der oberen Gesellschaftschichten sind einem ähn­lichen schriftstellerischen Grundgedanken wie die Gesellschaftsromane ihres Zeitgenossen Theodor Fontane verpf­lichtet. Koopmann weist dennoch darauf hin, dass der Gesellschafts- und Familienroman der Jahrhundertwende […] sein Aufkommen weniger dem Programm des poetischen Realismus [verdankt] als vielmehr einem veränderten Gesellschaftsbewußtsein, das sich von den poetischen Idealen des gelassenen Episierens ebenso verabschiedet hatte wie von der Vorstellung, daß die bürger­liche Gesellschaft eine intakte Form mensch­lichen Zusammenlebens sei. Kurzum: der Gesellschaftsroman kam erst in dem Augenblick auf, als die Gesellschaft sich selbst immer problematischer geworden war, und analog war auch der Familien­roman ein Familienuntergangsroman.91

Die Mehrzahl der von Emmi Lewald entworfenen Romanmilieus weist sichtbare Parallelen zu dem persön­lichen Erfahrungshorizont der Autorin auf, wie er durch die Analyse ihrer biografischen Stationen und ihrer Bildungsreisen nach Italien und Griechenland rekonstruiert werden konnte. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass sie die Vorbilder für die Figurensoziologie, Habitus und Sprache ihrer Hauptfiguren und deren Konfliktfelder sowie die Schauplatzgestaltung hauptsäch­lich in ihrem persön­ lichen Lebensumfeld fand, sei es durch eigene Erfahrungen, Erzählungen, Vorträge oder Lektüre.92 Diese Annahme scheint vor allem auf die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstandenen Romane zuzutreffen, die in der Lebenswelt der bürger­lich-adeligen Gesellschaft des Berliner Westens und kleinerer Residenzstädte angesiedelt sind. Bereits in ihrem ersten Roman Sein Ich (1896) vermischt sie thematisch den Wandel der Frauenrolle mit einem grundsätz­lichen Mentalitätswandel des großstädtischen Bürgertums. Die weib­liche Hauptfigur Ottilie Wächter steht mit ihrem selbstständigen Lebensentwurf, einer starken Prinzipientreue und ausgeprägter Herzensbildung am Anfang einer Reihe von Romanheldinnen, die trotz eines resignativen Romanausgangs die moralische Überlegenheit davontragen. Ihre geistig ebenbürtige Beziehung zu dem Berliner Karrieristen Leo scheitert an dessen Egoismus und Standesdünkel, als Ottilie die Loyalität zu ihrem inhaftierten Bruder nicht aufgeben will. Für den schmalen Roman Das Glück der Hammerfelds (1900) wählt Emmi Lewald das Milieu einer verarmten Adelsfamilie, das sie dem Leser allerdings aus Sicht des Gymnasiallehrers Wolfgang Schreiner präsentiert. Der ererbte Reichtum des idealistischen Bildungsbürgers Schreiner weckt hier die Begehrlichkeit der 91 Koopmann: Gesellschafts- und Familienromane, S. 327. 92 In dieser Hinsicht zieht sich die aus Emmi Lewalds Erstlingswerk Unsre lieben Lieutenants (1888) bekannte Praxis der Figurengestaltung nach Vorbildern des persön­lichen Lebensumfelds durch das gesamte Prosawerk der Autorin.

Typische Gattungen

Familie von Hammerfeld, die seine Liebe zu der schönen Doris von Hammerfeld ausnutzen will, um ihren finanziellen und gesellschaft­lichen Status wieder zu festi­ gen. Nach der Aufdeckung der familiären Intrigen steuert die Handlung auf ein Happy End zu, als die Wahl des Protagonisten auf Doris’ gebildete und eigensinnige Schwester Ellen fällt und sie sich im Zeichen einer bescheidenen bürger­lichen Existenz die Ehe versprechen. Das Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum steht auch im Mittelpunkt des polyperspektivischen Briefromans Der Lebensretter (1905), in dem Emmi Lewald dem blasierten Standesdünkel der heruntergekommenen Barone von Windisch die humanistische Bildung und Gutartigkeit des Linoleumfabrikanten Ferdinand Schulze gegenüberstellt. Die moralische Entwicklung der Figur Else von Windisch, die sich ihrer Zuneigung zu Schulze erst nach dessen heroischem Flammentod bewusst wird, weist hoffnungsvoll über das Romanende hinaus: Sie wird ihren Bruder Fritz bei seinen Plänen für eine Liebesheirat mit einem jüdischen Mädchen unterstützen.93 Mit dem Familienuntergangsroman Der Magnetberg (1910) und den Frauenromanen Die Rose vor der Tür (1911), Die Wehrlosen (1910) und Die Frau von gestern (beend. 1914) kehrt Emmi Lewald in das Berliner Milieu der reichen Bankiers und Beamten zurück und durchleuchtet die Folgen des modernen Großstadtlebens mit seinen Nervenleiden, seinem Leistungsdruck, Materialismus und Individualisierungstendenzen für das Individuum, die Geschlechterbeziehungen und die Familie als gesellschaft­liche Einheit. In den vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstandenen umfangreichen Romanen Excelsior! (1914) und Unter den Blutbuchen (1914) wendet sich die Autorin vom zeitgenössischen Berliner Gesellschaftsroman ab und thematisiert vor dem Hintergrund der politisch-gesellschaft­lichen Situation kleiner deutscher Residenzstädte vor 1900 kleinbürger­liche Aufstiegstendenzen, die Frauenemanzipation und die gesellschaft­ liche Situation des Adels. Auch nach der Zäsur des Weltkrieges bleibt das Adelsmilieu der zentrale Schauplatz in Emmi Lewalds Romanen. Mit Das Fräulein von Güldenfeld (1922) und Lethe (1924) schafft sie zwei Nachkriegsromane über die weltanschau­lichen Konsequenzen des Krieges und den Untergang der Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs, der vor allem dem Adel seine finanzielle Grundlage und politische Legitimation entzieht. In der Weimarer Republik entsteht noch der Gesellschaftsroman Das Fräulein aus der Stadt (1929), in dem Emmi Lewald erneut die aktuelle gesellschaft­liche Rolle der Frau auszuloten versucht, indem sie zwei großstädtische Frauenfiguren einen 93 Der bürger­liche Unternehmer Ferdinand Schulze rettet zunächst die junge Else von Windisch vor dem Ertrinken, wodurch er Zugang zu dem Milieu der blasierten, aber mittellosen Adelsfamilie von Windisch erhält. Die Baroness Else von Windisch weist Schulzes Heiratsanträge mit der Begründung des Standesunterschieds zurück und lernt dessen (bürger­liche) Tugenden erst nach einer Reihe schmerzhafter Lebenserfahrungen zu schätzen. Im letzten, tragischen Romanabschnitt erhält Else von Windisch wenige Tage nach ihrem Entschluss zur Ehe mit Schulze die Nachricht, dass dieser bei der Rettung eines Jungen aus einem brennenden Haus ums Leben gekommen ist.

283

284

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Landaufenthalt in der norddeutschen Provinz antreten lässt. Doch auch zehn Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts leben die literarischen Frauenfiguren in einem Rollendilemma. Während die wohlsituierte Ellen Arneborg zahlreiche L ­ iaisons unterhält und zum Zeitvertreib an einer philosophischen Dissertation arbeitet, erlebt die Juristin Gwendolyn die modernen Lebens- und Arbeitsbedingungen ihres Angestelltendaseins als mentale und körper­liche Ausbeutung. Sie wünscht sich die traditionelle Hausfrauen- und Mutterrolle zurück, ebenso wie die mit zwei Berufstätigkeiten belastete Juristin Astrid von Wahn in Emmi Lewalds letzter Publikation, dem Adelsroman Büro Wahn (1935). Die Frauengeneration dieser späten Romane ist durch den Verlust bürger­licher und adeliger Standesprivilegien zu einer Berufstätigkeit gezwungen, deren Grundlage nicht die Verwirk­lichung individueller Anlagen und Talente sondern die reine wirtschaft­liche Not bildet. Unter Emmi Lewalds Gesellschaftsdarstellungen bildet der weib­liche Entwicklungsroman eine Spielart, die in engem Zusammenhang mit ihrem Engagement für die bürger­liche Frauenbewegung besonders beachtet werden muss.94 Während der übermächtige Einfluss der Tradition des Bildungsromans mit männ­lichen Protagonisten auf die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts zur Zeit der Jahrhundertwende tenden­ziell rückläufig war, findet sich, so konstatiert Sprengel, „eine konsequente Ausrichtung auf die Problematik […] am ehesten in mehreren Romanen von und über Frauen“95. Wie besonders an Emmi Lewalds Romanen Sylvia (1904), Das Hausbrot des Lebens (1907) und in Teilen von Die Rose vor der Tür (1911) bemerkbar wird, eignete sich dieser Romantypus aufgrund seines charakteristischen Merkmals, der Darstellung individueller Bildungsund Wandlungsprozesse, hervorragend zur Thematisierung der „Anpassungsproblematik der Frau in der wilhelminischen Gesellschaft“96. In Emmi Lewalds Frauenentwicklungsromanen durchleben die bürger­lichen Protagonistinnen alle einen ähn­lichen Entwicklungsprozess, der Stationen des traditionellen Bildungsromans enthält. Nach

94 Der offene Begriff des Entwicklungsromans bezeichnet treffender als der des Bildungsromans die literarischen Darstellungen von Sozialisations-, Wandlungs- und Reifungsprozessen von Frauen, da sich die für den Bildungsroman relevanten Bildungskonzepte des 18. und 19. Jahrhunderts vorwiegend auf die männ­liche Adoleszenz bezogen. Vgl. Sprengel, Geschichte 1870 – 1900, S. 170 ff. und Ortrud Gutjahr: Einführung in den Bildungsroman. Darmstadt 2007, S. 62 – 69. 95 Sprengel, Geschichte 1870 – 1900, S. 171, 175. In den bekanntesten Frauenentwicklungsromanen der Jahrhundertwende, Aus guter Familie (1895) von Gabriele Reuter und Halbtier! (1899) von Helene Böhlau, enden die Entwicklungsprozesse der Protagonistinnen in der Nervenkrankheit und im Selbstmord. Der Weg der freiwilligen Selbstverleugnung und der Eingliederung in gesellschaft­ liche Zusammenhänge, den Emmi Lewalds Protagonistinnen gehen, findet sich dagegen in Hedwig Dohms Roman Christa Ruland (1902). Gutjahr nennt im Zusammenhang mit den Bildungsforderungen von Frauen um 1900 den Roman Ruth (1895) und die Erzählung Fenitschka (1898) von Lou Andreas-Salomé sowie den Roman Ellen Olestjerne (1903) von Franziska zu Reventlow, die beide erfolgreiche Bildungsprozesse thematisieren. 96 Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 245.

Typische Gattungen

einer herkömm­lichen Sozialisation im Elternhaus und der Vorbereitung auf die Rolle der Ehefrau und Mutter sammeln sie individuelle Erfahrungen in unterschied­lichen Lebensbereichen, auf Reisen und durch das Scheitern einer Liebesbeziehung. Alle Frauenfiguren setzen sich zudem mit den Selbstständigkeits- und Bildungsforderungen der Frauenbewegung auseinander, scheitern aber bei deren Umsetzung im eigenen Leben daran, dass sie keine professionelle Berufsausbildung absolviert haben. Innerhalb ihres begrenzten Entfaltungsspielraums in der bürger­lichen Familie und Gesellschaft entwickeln die Frauenfiguren zunächst vielversprechende persön­liche Ausbruchsvisionen, bei deren versuchter Umsetzung sie jedoch auf unüberwindbare persön­liche und gesellschaft­liche Grenzen stoßen. In letzter Konsequenz finden eine Selbstbeschränkung der Figuren und ihre freiwillige Unterordnung unter bestehende gesellschaft­liche Ordnungsstrukturen statt – in bester Tradition des Bildungsromans. Die Krise der weib­ lichen Identität führt bei Emmi Lewald nicht zu Selbstverwirk­lichung und Subjektwerdung der Frau, sondern zu ihrer selbstgeförderten „Redomestizierung“, auch wenn die erneute Übernahme der Mutterrolle im Sinne des gemäßigten Flügels der bürger­lichen Frauenbewegung um eine gesamtgesellschaft­liche und zukunftsweisende Bedeutung für nachfolgende Frauengenerationen erweitert wird. Mit der Beschreibung von Resignation und Anpassung der Protagonistinnen beabsichtigte Emmi Lewald offensicht­lich mehr als die Abbildung eines individuellen literarischen Schicksals. Wie die von der Autorin oft wiederholte Wendung „Kinder der Zeit“ sowie weitere Romanpassagen pointiert zum Ausdruck bringen, soll der Leser die Erlebnisse und Erfahrungen der literarischen Figuren als repräsentativ für das Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen verstehen (s. u.). „Der Roman muß durch das Schicksal eines einzelnen das Bild der Zeit transparent machen. Das ist eine Formel, die auch den Typus des Gesellschafts- und Familienromans der frühen Moderne bestimmte.“97 Einen ganz anderen Zuschnitt als Emmi Lewalds zahlreiche Zeit- und Gesellschaftsromane zeigt der historische Roman Heinrich von Gristede (1934), dem Emmi Lewald eine überlieferte Hochstaplergeschichte aus ihrer Heimatstadt Oldenburg zugrunde legt.98 Die Autorin verzichtet in dem Werk auf einen humoristischen erzählerischen Grundton, auf eine Thematisierung der Frauenrolle und auf eine Darstellung der städtischen Lebenswelt. Die Handlung ist im geschlossenen gutsherr­lich-bäuer­ lichen Milieu eines ostfriesischen Landstrichs angesiedelt und spielt um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines einfachen Dieners, der sich als der Landadelige Heinrich von Gristede ausgibt, steht die Idee einer machtvollen Einzelpersön­lichkeit, die durch außergewöhn­liche Führungs- und Gestaltungsqualitäten gesellschaft­liches Ansehen erlangt.

97 Koopmann: Gesellschafts- und Familienromane, S. 329. 98 Vgl. zu den realen historischen Ereignissen, die der Handlung des Romans Heinrich von Gristede zugrunde liegen, Kap. 2.2.2.5.

285

286

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Einzeltextanalyse: Die Rose vor der Tür (1911) Emmi Lewalds Prosaerzählung Die Rose vor der Tür entstand in der Hauptschaffensperiode der Autorin und wurde zwischen Oktober und Dezember 1911 unter der Gattungsbezeichnung „Roman“ als Vorabdruck in der wöchent­lich erschienenen illustrierten Unterhaltungszeitung „Über Land und Meer“ publiziert.99 Die Herausgeber veröffent­lichten den Text in 13 Folgen, die in der großformatigen Zeitung jeweils drei Seiten (die letzten beiden Folgen jeweils zwei Seiten) mit dreispaltig gesetztem Text einnahmen. 1912 wurde der Roman von dem Berliner G. Stilke-Verlag als Buch publiziert. Der Text Die Rose vor der Tür erhielt in der Vorabdruckversion eine Grundstruktur von 26, durch Asterisken getrennte Sinnabschnitte, welche im Folgenden als Kapitel bezeichnet werden. Grundsätz­lich als Liebes- und bürger­licher Gesellschaftsroman angelegt, wird Die Rose vor der Tür in der zweiten Hälfte und besonders in den Kapiteln 15 bis 19 stark von Elementen des Frauenentwicklungs­ romans bestimmt, wodurch er sich thematisch mit Emmi Lewalds früheren Romanen Sylvia (1904) und Das Hausbrot des Lebens (1907) berührt. Emmi Lewald schildert in Die Rose vor der Tür über den Zeitraum von ungefähr fünf Jahren die komplizierte Liebesbeziehung zwischen der zu Beginn der Geschichte 24-jährigen kunstinteressierten Lida Eckhard und ihrem entfernten Cousin, dem wesent­lich älteren Ministerialbeamten Axel Eckhard. Der Großteil der chronologisch erzählten Handlung spielt in den Städten Berlin und Lüneburg sowie an Reiseschauplätzen in Griechenland und Italien zur Zeit des deutschen Kaiser­reichs unter der Regierung Wilhelms II. Wie durch verschiedene Hinweise erkennbar, diente Emmi Lewald die Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges als historisches Vorbild.100 Die von einem auktorialen Erzähler geschilderte Romanhandlung beginnt mit dem ersten Zusammentreffen der beiden Protagonisten, als Lida ihren Verwandten Axel Eckhard in seinem Berliner Büro aufsucht, um ihn um ein Empfehlungsschreiben zu bitten. Die aus einer kleinstädtischen Beamtenfamilie stammende unverheiratete Lida Eckhard hält sich zu kunstgeschicht­lichen Studien in Berlin auf, um sich für eine Anstellung als Dozentin an der Mädchenschule ihrer Heimatstadt Lüneburg zu qualifizieren. Axel dagegen hat durch seine erfolgreiche Karriere im preußischen Staatsdienst Einlass in die obersten Berliner Gesellschaftskreise des Adels und der Hochfinanz gefunden. Die beiden Protagonisten sind durch gemeinsame, auf einer bildungsbürger­lichen Sozialisation beruhende kulturelle Interessen und eine starke persön­liche Anziehungskraft verbunden und entwickeln im Laufe einiger 99 Die Zitate in diesem Abschnitt stammen aus dem Zeitschriftenbeitrag Emmi Lewald (Emil Roland): Die Rose vor der Tür. Roman. In: Über Land und Meer 54 (1911 – 1912), Bd. 107, H. 1 – 13. 100 Auf diesen Zeitraum lässt zum einen der Umstand der Romanwirk­lichkeit schließen, dass die Familie Schröder mehrere Automobile besitzt, zum anderen der Hinweis, dass Evelinas Schwager sich als Stammgast des Kurhotels „Dapper“ in Kissingen bezeichnet, das dort um 1900 eröffnet wurde.

Typische Gattungen

Jahre ein zwischen Verwandtschaft, Freundschaft und Liebesbeziehung changierendes Verhältnis. Während einer gemeinsamen Griechenlandreise kommt es zu einem folgenschweren Kuss, der von einem Mitglied der Reisegruppe beobachtet und in Gesellschaftskreisen Berlins und Lüneburgs öffent­lich gemacht wird. Trotz seiner Liebe zu der finanziell schlecht gestellten Lida kann Axel sich aus Angst vor einem gesellschaft­lichen Abstieg nicht zu einer Heirat mit ihr entschließen. Zu weit ist der Ministerialbeamte bereits bildungsbürger­lichen Denk- und Lebensformen entfremdet und insgeheim dem luxuriös-verschwenderischen Lebensstil seines gesellschaft­lichen Milieus verfallen, das im Roman von der Berliner Bankiersfamilie Schröder und ihrer verwöhnten Tochter Evelina verkörpert wird. Der Roman endet schließ­lich für beide Protagonisten in Resignation: Nachdem Lida Eckhards Selbstentfaltungs- und Berufsbildungsprozess als Kunsthistorikerin durch die gesellschaft­lich kompromittierende Beziehung zu Axel einen jähen Abbruch erfahren hat, da ihr eine Anstellung als Kunstdozentin verweigert wird, stimmt sie einer Vernunftehe mit dem Lüneburger Museumskonservator Andrian zu.101 Axel dagegen kann durch die Heirat mit Evelina Schröder seinen gesellschaft­lichen und finanziellen Status konsolidieren, muss jedoch bereits während der Hochzeitsreise realisieren, dass er an der Seite der ihm wesensfremden, bildungsfernen Evelina einer freudlosen Ehe entgegenblickt.102 Zwischen dem Roman Die Rose vor der Tür und weiteren Werken aus Emmi Lewalds Romanproduktion bestehen zahlreiche Parallelen hinsicht­lich der Figurensoziologie, der Raumgestaltung, der Lenkung der Lesersympathie, des Gebrauchs einer symbo­lischen Bildsprache und intertextueller Bezüge, weswegen sich eine Analyse des Romans als „typisches“ Gattungsbeispiel anbietet. Figurensoziologie und Raumgestaltung Wie sämt­liche von Emmi Lewald geschaffenen Romane ist Die Rose vor der Tür im gesellschaft­lichen Milieu des Bildungs- und Besitzbürgertums sowie des Adels und der oberen militärischen Rangklassen verortet. Es treten sowohl Figuren aus dem klein- und großstädtischen Beamtentum als auch aus der Hochfinanz und dem Unternehmertum auf. Unter den Nebenfiguren befinden sich Grafen und Offiziere, ein Philologe, 101 Der Rückzug der angebotenen Dozentur wird von der Direktorin der Lüneburger Mädchenschule mit dem Argument begründet, dass Kunstgeschichte ein Fach sei, in dem „es sehr auf Takt und Sitt­ lichkeitsgefühl“ ankomme. Ihrer Meinung nach würde Lidas beschädigter Ruf auch dem Ansehen der Schule schaden, da die Eltern der Schülerinnen Angst vor der Verbreitung frauenrechtlerischer und frauenfreiheit­licher Ideen hegten (RvdT 211 f.). 102 Die Heiratskonstellation am Ende des Romans erinnert an den vordergründig harmonischen Ausgang von Theodor Fontanes Roman Irrungen und Wirrungen (1887). Nach der Auflösung der inoffiziellen und nicht-standesgemäßen Liebesbeziehung von Lene Nimptsch und Botho von Rienäcker gehen beide Protagonisten die Ehe mit einem ungeliebten, aber gesellschaft­lich gleichgestellten Partner ein, Botho mit einer reichen Erbin und Lene mit einem presbyterianischen Prediger.

287

288

Das literarische Werk Emmi Lewalds

zwei Lehrer, eine Mädchenschulleiterin und ein Museumskonservator. Angehörige der Arbeiterschicht wie Dienstboten spielen in dem Roman nur eine untergeordnete Rolle, indem sie in der Figurenrede vorkommen (Chauffeure) oder als marginale, nicht individualisierte Figuren auftreten (Kustodentochter). Die Raumgestaltung des Romans entspricht dem sozialen Hintergrund der Figuren, denn die Handlung spielt sich an ihren Wohn- und Arbeitsstätten sowie an den Orten ihrer Freizeitgestaltung und geselligen Zusammenkünfte ab. Die wichtigsten Schauplätze bilden Büros, Stadtwohnungen, Wohnhäuser, ein Fürstenschloss, ein Frauenklub, bei den Reiseszenen jedoch auch Hotelunterkünfte und verschiedene Außenräume. Besonders auffällig ist die raumsymbolische Markierung des Gegensatzes von bildungsbürger­lichem und besitzbürger­ lichem Habitus der konkurrierenden Frauenfiguren Lida und Evelina. Lidas Räume sind Räume der Bildung und der bescheidenen bürger­lichen Lebensverhältnisse: ihre Pension an der Berliner Goethestraße, ein Frauenklub, die Kleinstadt Lüneburg und das abgelegene italienische Dorf Mirandola. Evelinas Räume dagegen sind Orte eines mondänen großbürger­lichen Lebensstils, die Familienvilla der ­Schröders in BerlinGrunewald, das Feudalschloss vor Berlin und auf der Hochzeitsreise die Luxushotels in Monte Carlo und St. Moritz. Axel Eckhard – eine „Paschanatur“ (RvdT 1) Die Erzählung beginnt mit dem aus Axels Sicht geschilderten ersten Zusammentreffen des Paares in einem Berliner Ministerium, sodass dem Leser zunächst die Figur des männ­lichen Protagonisten vorgestellt wird. Der zu Beginn des Romans 47-jährige alleinstehende Geheimrat Axel Eckhard stammt aus einer Lüneburger Patrizierfamilie und hat sich durch seine Karriere im preußischen Staatsdienst eine privilegierte Existenz erarbeitet, die ihm den gesellschaft­lichen Verkehr mit den obersten Berliner Gesellschaftskreisen ermöglicht. Die literarische Figur steht somit stellvertretend für eine kleine Gruppe wohlhabender Bildungsbürger, der ein überdurchschnitt­liches Einkommen einen luxuriösen Lebensstil erlaubte, wie er um 1900 vorrangig von der finanziell mächtigen Großbourgeoisie und dem Adel gepflegt werden konnte. Im einleitenden Gespräch Axels mit seinem Arbeitskollegen Hafner wird deut­lich, dass der materielle Luxus maßgefertigter Kleidung und feudaler Landaufenthalte dem „verwöhnten Eckhard“ (RvdT 1), wie er von der Erzählerstimme vorgestellt wird, bereits zum unverzichtbaren Bestandteil seiner Existenz geworden ist und selbst seine Heiratspläne bestimmt. Vor dem Hintergrund seiner beruf­lichen Position, seiner sozialen Stellung und seines anhaltenden Erfolgs beim weib­lichen Geschlecht macht Eckhard eine Eheschließung ebenso von der romantischen Liebe wie von einer Verbesserung seiner Einkommensverhältnisse abhängig. Diese Positionierung Eckhards als anspruchsvolle „Paschanatur“ (ebd.) unmittelbar vor seiner ersten Begegnung mit der gebildeten und attraktiven, aber finanziell durchschnitt­lich situierten Cousine Lida im ersten Kapitel des Romans deutet bereits die zentrale Ursache ihres Liebeskonflikts an. Denn das Ideal der romantischen Liebe und die von Axel gewünschten überdurchschnitt­lichen

Typische Gattungen

Vermögensverhältnisse seiner ‚Heiratspartie‘ fallen in Emmi Lewalds Roman erwartungsgemäß nicht zusammen, sondern werden von zwei charakter­lich gegensätz­lich angelegten Frauenfiguren verkörpert, wodurch die Motivkonstellation des Mannes zwischen zwei Frauen entsteht. Zentrum und Ursache der Figurenkonstellation des Romans Die Rose vor der Tür bildet die komplexe psychologische Disposition der männ­lichen Hauptfigur Axel Eckhard. Dass der Ministerialbeamte sein Selbstverständnis eigent­lich aus einer bildungsbürger­ lichen Sozialisation bezieht, wird in der Figurenzeichnung durch seine Begeisterung für Kunstgeschichte und Literatur und seinen Gebrauch von Bildungszitaten markiert. Zudem setzt sich Axel Eckhard im Laufe der Handlung in einem fortwährenden Reflexionsprozess mit seinem von Urbanisierung und Technisierung geprägten Lebensstil auseinander. Diese Passagen der Bewusstseinsschilderung offenbaren Eckhards zutiefst widersprüch­liche Denk- und Empfindungswelt, da er sein gehetztes Leben, seine Arbeitsüberlastung und seinen feinen Lebensstil zwar nicht entbehren kann, diese aber als künst­lich, ungesund und entindividualisierend empfindet. „[…] wir haben ja alle etwas künst­lich Getriebenes, dachte er weltschmerz­lich. Die gesteigerte Kultur dieser großen Städte ist wie ein Moloch, dem wir alle anheimfallen. Immer ferner kommen wir der Natur. Unsere Gedankengänge sind überreizt und differenziert. Wir sind keine normal fühlenden Menschen mehr – wir sind wie Bäume auf Asphalt…“

Axel Eckhard sehnt sich in seiner Alltagsroutine einerseits nach dem Zugang zu einer „höheren Welt“ (RvdT 1) der Bildung und persön­lichen Beziehungen, anderseits nach einer Art naturverbundener, originärer Lebensform, wenn er fragt: „Wo ist denn noch Gesundes und Natür­liches, richtig Erdgewachsenes, Unverbogenes?!“ (RvdT 2). Angesichts seiner radikalen Ablehnung von Lidas kleinstädtisch-provinzieller Existenz in Lüneburg bleibt jedoch offen, welche alternative Existenzform ihm eigent­ lich vorschwebt. In dem gleichen Maß, wie Axel zwischen zwei Werte- und Lebensmodellen schwankt, begehrt er in Lida Eckhard und Evelina Schröder zwei Frauen, die jeweils eines der Konzepte repräsentieren. Die Reflexion dieser Gegensätz­lichkeit legt Emmi Lewald der klugen Lida im Gespräch mit ihrem Gönner Herrn Schröder in den Mund: „Evelina und ich hatten schon seit länger einen soliden Haß aufeinander,“ versetzte Lida leise, „vielleicht einen theoretischen Haß. In uns bekämpften sich eben zwei Anschauungswelten. Und unsre beiden Welten bekriegten sich in dem Kampfe um ein und denselben Mann.“ (RvdT 152)

Die bildungsbeflissene und eigenständige Lida, der als Symbol die duftende rote Rose zugeordnet ist, füllt durch ihre Jugend­lichkeit, ihre Begeisterungsfähigkeit und ihren Idealismus Eckhards Sehnsuchtsvision von einer erfüllenden und sinnvollen Existenz

289

290

Das literarische Werk Emmi Lewalds

aus. Lidas kompromissloses Streben nach kunsthistorischer Bildung und Entwicklung ihrer Persön­lichkeit faszinieren ihn als unverfälschte (bildungsbürger­liche) Lebenshaltung, die noch nicht durch die entfremdende Lebens- und Denkweise der Großstadtkultur korrumpiert wurde. In Eckhards gesellschaft­lichem Berliner Milieu fällt die junge Frau durch ihr Bildungsinteresse und ihre Unempfäng­lichkeit für Statussymbole und Äußer­ lichkeiten geradezu als Exotin auf. Im wohlwollenden Urteil des ebenfalls kunstbegeisterten Bankiers Schröder hebt sich Lidas geschlossene und „unbeeinflußbar[e]“ (RvdT 43) Persön­lichkeit als positiv von den abgebrühten, oberfläch­lichen und geldsüchtigen Berliner Charakteren ab, und auch Eckhard kommt nicht umhin zu bemerken: „Wie die Dinge jetzt liegen, bildet doch nur mehr die Provinz volle Menschen aus. Wir alle sind doch höchstens dreiviertel, haben hier und da Ansätze zu einer vollen Persön­lichkeit; aber bei Ansätzen bleibt es. Aus Zeitmangel wird es nicht komplett. Die Kräfte werden zersplittert […]. Lida ist eine volle Natur ohne Mankos.“ (RvdT 99)

Axel verliebt sich zunehmend in seine junge Verwandte Lida, auch weil sie die in seinem Habitus von Materialismus und Karrierismus mit der Zeit verdrängten bildungsbürger­ lichen Werte der Bildung und Persön­lichkeit wieder aufleben lässt. Abseits seiner gesellschaft­lichen Repräsentationspf­lichten, seiner Beamtenkarriere und dem Konsum von Luxusartikeln findet Eckhard durch Gespräche, Korrespondenz und gemeinsame Kulturerlebnisse mit Lida zum „Feuer eines angeborenen Idealismus“ zurück, „das beinahe ganz in ihm erloschen war“ (RvdT 42). Die geistig ebenbürtige Liebesbeziehung der beiden Hauptfiguren findet auf Erzählerebene ihren Ausdruck in den sprach­lichen Wendungen des „Füreinander-geboren-Seins“ und des „Gehens im gleichen Takt“. Die ideale Verbindung der Liebenden, die nach den Konventionen der bürger­lichen Gesellschaft durch eine Hochzeit sanktioniert werden müsste, ist jedoch durch Axel Eckhards charakterschwache Persön­lichkeit zum Scheitern verurteilt. Von seiner Gier nach materiellem Wohlstand bestimmt, wandelt sich Lida in seiner Wahrnehmung vom reizvollen Zeitvertreib zur gefähr­lichen „Melusine“ (RvdT 306)103, da er sie zwar liebt, sie in seinen Augen aber nicht über eine ausreichende Mitgift für eine Heirat 1 03 Mit dem Bild der Melusine bemüht Emmi Lewald auch in der Prosaform ein Kollektivsymbol des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Wie Sprengel betont, stand das Bildfeld der gefähr­lichen Flut und der weib­lichen Nixe für höchst unterschied­liche mensch­liche Erfahrungen und Ängste im Zusammenhang mit den ökonomischen und gesellschaft­lichen Modernisierungsprozessen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zu diesen „Epochenerfahrungen“ zählt insbesondere auch „die Infragestellung der herkömm­lichen Geschlechterhierarchie durch die Frauenbewegung“, in deren Kontext Emmi Lewald die Figur der Melusine einsetzt. Die zunächst als fortschritt­liche Frauenfigur entworfene Lida vereint in ihrem Habitus Selbstständigkeit und Bildung mit den Prinzipien der Persön­lichkeit und Herzensbildung. Ihre Beschreibung als Melusine versinnbild­licht die von Axel zunehmend als Bedrohung für seine rationalen Lebenspläne empfundene starke emotionalsinn­liche Anziehungskraft der jungen Frau. Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S.  44 – 48.

Typische Gattungen

verfügt: „Sie war wie eine Versuchung, eine lockende, reizende Versuchung – nur daß sie in ihrem Geleit Alltagsnöte, Armseligkeiten, Einschränkungen aller Art unerbitt­lich in sein Leben schleppen würde“ (RvdT 98). In seinem emotionalen und moralischen Konflikt empfindet Axel Lida gegenüber zugleich Liebe, Hass und Angst. In dem Maße wie für Axel Eckhard durch die Konfrontation mit Lida die Frage der Eheschließung bedeutsamer wird, wächst sein Interesse an der jungen Evelina Schröder, die so zu Lidas Konkurrentin und Gegenspielerin wird. Evelina stammt aus einer neureichen Berliner Bankiersfamilie und wird vom Erzähler im 5. Kapitel als elegante, aber oberfläch­liche und snobistische Gesellschaftsdame vorgestellt (RvdT 42). Sie verkörpert in ihrer seelenlosen Schönheit den kapitalistischen Materialismus eines Besitzbürgertums, das die traditionelle bürger­liche Bildungsidee zu Versatzstücken demontiert hat und diese ledig­lich noch zu gesellschaft­lichen Repräsentationszwecken benutzt. Emmi Lewalds Lenkung der Lesersympathie ist in der gegensätz­lichen Charakterisierung der beiden Frauenfiguren eminent enthalten: Für die engagierte und berufstätige Lida liegt die Macht des Individuums in Persön­lichkeit und Wissen, für die bequeme und berufslose Evelina in der äußer­lichen Schönheit und dem Reichtum; mit Lida erlebt Axel eine erfüllende Bildungsreise nach Griechenland, mit Evelina eine gehetzte und anspruchslose Automobilreise durch Europa. Die gegensätz­liche Anordnung der Frauen­figuren setzt sich noch in ihrer physiognomischen Beschreibung fort, wenn Axel in der verbalen Auseinandersetzung den Blick von Lidas Augen abwenden muss, als er bemerkt, dass es „wie […] blauem Feuer gleich in ihren Augen blitzte“ (122), während Evelina „große[n], leere[n], von keinen durchwachten Nächten jemals geränderte[n] Augen“ (151) besitzt. Um die überdeut­lich präsente Gegenüberstellung abzurunden, stattet Emmi Lewald die Figur der Evelina noch mit einem eigenen symbolischen Gegenstand aus, mit einer luxuriösen weißen Federboa, deren Federn zum Zeichen des besonders Exquisiten lebendigen Vögeln ausgerissen wurden. In seiner inneren Zerrissenheit träumt Axel Eckhard davon, beide Frauen zugleich zu besitzen und ihre jeweiligen Vorteile in einer Person vereinen. In der bedeutungsgeladenen Schlüsselszene des 11. Kapitels imaginiert er eine Montage aus Lidas und Evelinas fotografischen Porträts: Warum konnte man nicht den Kopf der einen auf das Kleid der anderen setzen? – Warum stak Lidas zartes Profil nicht in der märchenhaften Boa der jüngsten Schröder? Warum streckte es sich – idéalement joli, wie es war – aus einem viereckigen Blusenausschnitt von dünner Seide mit mäßigem Spitzenbesatz ringsum? (RvdT 98)

In seiner Selbstbezogenheit und Ignoranz gegenüber den Gefühlen beider Frauen versucht Axel noch nach seiner Heirat mit Evelina Schröder, Lida bei ihrer letzten Zusammenkunft im italienischen Mirandola von einer Rolle als ‚Hausfreundin‘ in seinem ehe­lichen Haushalt zu überzeugen (RvdT 359). Dieses Gespräch am Romanende verdeut­licht abschließend die fehlende Entwicklung der männ­lichen Hauptfigur, die

291

292

Das literarische Werk Emmi Lewalds

für die von Lida vorgestellte Option der Persön­lichkeitsentwicklung unempfäng­lich bleibt und zur dumpf-materialistischen Geisteshaltung des Romanbeginns zurückkehrt. Im Moment seiner Verbindung mit Evelina Schröder hört Axel faktisch auf, ein Bildungsbürger zu sein, da ihm der Verlust der individuellen Persön­lichkeit durch die geistige Assimilation an den Schröder-Clan, wie sie bereits seine beiden Schwäger durchlaufen haben, unmittelbar bevorsteht. Lida Eckhard – „eine vom Leben Erzogene“ (RvdT 360) Die bildungsbürger­liche Beamtentochter Lida Eckhard ist die eigent­liche Heldin und Sympathieträgerin des Romans, obwohl ihr persön­licher, aufs engste mit der Frauenrolle in der bürger­lichen Gesellschaft verknüpfter Entwicklungsprozess erst ab dem 15. Kapitel in den Mittelpunkt des Romangeschehens gerückt wird. Zunächst entwirft Emmi Lewald den besonderen Habitus ihrer Protagonistin im Hintergrund der Liebes­geschichte und des männ­lichen Heiratskonflikts: Als Tochter einer kleinstädtischen Beamtenfamilie verfügt Lida in Berlin nur über ein begrenztes materielles und sozia­les Kapital und kann im Gegensatz zu Axel nicht mit einem automatischen Zugang zur reichen Berliner Gesellschaft rechnen. Zu Lidas Vorteilen gehören dagegen ihre außergewöhn­liche Schönheit – Axel vergleicht sie bei ihrer ersten Begegnung mit der mythologischen Königstochter Psyche, später mit der Renaissance-Schönheit ­Simonetta Vespucci  104 – und ihre umfangreiche Bildung. Die junge Frau verfügt durch ihre bildungsbürger­liche Sozialisation neben einer guten Allgemeinbildung über umfassende Kenntnisse des literarischen Kanons und der Kunst- und Kulturgeschichte. Neben Lidas körper­licher Attraktivität und ihrer Fähigkeit zur geistreichen Konversation fühlt sich Axel vor allem von den individuellen Zügen ihrer Persön­ lichkeit angezogen. Sowohl Axel als auch Herr Schröder bewundern an Lida eine im Gegensatz zu den Großstadtbewohnern geschlossene, „unzersplittert[e]“ (RvdT 43) Denk- und Wertewelt, die sich ausschließ­lich auf die bildungsbürger­lichen Paradigmen von Bildung, Bescheidenheit, Berufstätigkeit und Persön­lichkeitsentwicklung bezieht. Die grundsätz­liche Opposition zu Axels materialistisch und karrieristisch ausgerichteter Großstadtexistenz, die in Lidas traditionell-bürger­licher Geisteshaltung begründet liegt, bildet jedoch nur einen Aspekt dieser Frauenfigur. Emmi Lewald verknüpft in der weib­lichen Hauptfigur – und das hat diese mit zahlreichen ihrer „Romanschwestern“ gemein – ausdrück­lich die Bildungskompetenz und das bürger­liche Persön­ lichkeitsideal mit dem weib­lichen Emanzipationsanliegen. Lida ist eine Vertreterin 104 Mit dem Hinweis auf Simonetta Vespucci (1453 – 1476) vergleicht Lewald ihre Protagonistin mit einem überzeit­lichen Schönheitsideal der bildenden Kunst. Vespucci galt zu Lebzeiten als schönste Frau von Florenz und wurde von renommierten Künstlern der italienischen Renaissance porträtiert, u. a. von Piero di Cosimo und Sandro Botticelli. Lida Eckhard wird entsprechend als blondes, junges Mädchen mit leichtem Gang, gut geformten Händen und nervösen Bewegungen (RvdT 121) beschrieben. Axel erlebt sie bei ihrem ersten Zusammentreffen als „frisch und jung“ (RvdT 2).

Typische Gattungen

der „neuen Frauen“ (RvdT 121), die sich in Ablehnung der traditionellen bürger­lichen Frauenrolle als emanzipierte, daher selbstständige und berufstätige Frau versteht. Wie Lida während ihres Spaziergangs mit Axel im Grunewald im 12. Kapitel bemerkt, zählt sie sich selbst zu den „arbeitende[n] Frauen […], die dauernd damit beschäftigt sind, die Waffen ihres Geistes blank zu putzen“ (RvdT 122). Die Protagonistin wird als fortschritt­lich denkende Frau vorgestellt, die im Rahmen eines eigenständigen Bildungsaufenthalts in Berlin und verschiedener Auslandsreisen ihre „Bildung in Kunstdingen […] erweitern“ (RT 41) möchte, um später als Dozentin für Kunstgeschichte an der Mädchenschule ihrer Heimatstadt lehren zu können. Obwohl Lida in ihrer bürger­ lichen Herkunftsfamilie eine Benachteiligung wegen ihres Geschlechts erfahren hat und keine professionelle Berufsausbildung in Form eines Kunststudiums absolvieren durfte, befindet sie sich zu Beginn der Handlung im mühevollen, aber erfolgreichen Aufbau einer selbstständigen beruf­lichen Existenz. Lidas aufrichtige Liebe zu ihrem Verwandten Axel Eckhard scheint zunächst in eine ideale gleichberechtigte Partnerschaft zu münden, erweist sich im Laufe der Handlung jedoch vor allem als massiver Störfaktor ihres persön­lichen Entwicklungsprozesses. Mit gesellschaftskritischer Schärfe zeichnet Emmi Lewald anhand dieser Frauenfigur ein detailliertes Bild der Ohnmachtsposition der Frau in der bürger­ lichen Gesellschaft und der zentralen Hemmnisse weib­licher Emanzipationsbestrebungen. Es ist im Roman vor allem die Verantwortungs- und Gewissenlosigkeit des bürger­lichen Mannes, der aus einer Charakterschwäche heraus einen Moment der Intimität einzig zu Lasten der Frau ausnutzt. Denn obwohl Axel während der Griechenlandreise der aktive Part bei der Überschreitung der Anstandsgrenze ist und Lida „ganz passiv“ (RvdT 70) bleibt, ist die Schuldfrage aus Sicht der bürger­lichen Gesellschaft und auch in Axels Augen von Anfang an eindeutig: „Es war gewissermaßen auf Lidas Veranlassung geschehen – denn das sichere Bewußtsein von ihrer großen Loyalität, aus keiner noch so ausgiebigen Situation Nutzen zu ziehen, hatte ihn so unvorsichtig gemacht (ebd.).“ Indem Axel in seiner großstädtisch-korrumpierten Moralauffassung keine Verantwortung für seine Normverletzung übernimmt, so die Romanaussage, liefert er Lida dem Ostrazismus der kleinstädtisch-bürger­ lichen Gesellschaft Lüneburgs aus, in der die traditionellen Geschlechterrollen auch in der Zeit nach 1900 noch einen machtvollen Einfluss besitzen. Neben einer inhärenten Großstadtkritik zielt Emmi Lewald hier vor allem auf die gesellschaft­liche Doppelmoral in Bezug auf die Geschlechterrollen ab, wenn sie den Lebenslauf der Hauptfiguren nach der Griechenlandreise als krassen Gegensatz gestaltet: Während Lidas ,Lüneburger Spaziergang‘ 105 der Kapitel 16 bis 19 offenbart, dass sie ihr 1 05 Bei einem in den Kapiteln 16 bis 19 dargestellten Gang durch die Stadt Lüneburg besucht Lida nacheinander ihre Schwester, die mit dem Bürgermeister verheiratet ist, die Leiterin der ört­lichen Mädchenschule und zwei ältere Tanten der Familie. In den jeweiligen Dialogen wird sie mit ihrer gesellschaft­lichen Außenseiterrolle konfrontiert (RvdT 179 – 213).

293

294

Das literarische Werk Emmi Lewalds

gesellschaft­liches und familiäres Renommee eingebüßt und zudem die Perspektive einer selbstständigen, beruf­lichen Existenz verloren hat, erlebt Axel Eckhard durch seine Beförderung zum Ministerialpräsidenten und seine Geldheirat gerade einen Prestigezuwachs in diesen Bereichen. Wie in der Darstellung des Handlungsverlaufs bereits angedeutet wurde, entwirft Emmi Lewald den Entwicklungsprozess ihrer Protagonistin als Geschichte einer umgekehrten Emanzipation, als resignative Rückkehr in die traditionelle Geschlechterrolle und als gesellschaft­lichen Anpassungsprozess unter Aufgabe individueller Lebensziele. Die Autorin lässt ihre Figur im Laufe des Romans einen fundamentalen Bewusstseinswandel durchleben, in dessen Verlauf sie sich vom Lebensentwurf der alleinstehenden berufstätigen Frau löst und zur traditionellen Rolle einer Ehefrau und Adoptivmutter findet. Zum Romanbeginn strebt Lida mit Idealismus und der „Siegerinnenkraft der unverbrauchten Gesundheit“ (RvdT 2) ihrem persön­lichen Lebensziel der Anstellung als Kunstdozentin entgegen, wobei sie ihre eingeschränkten Arbeitschancen infolge der fehlenden akademischen Ausbildung realistisch einschätzt. Durch ihre kompromittierende Beziehung zu Axel stößt sie schließ­lich nicht nur an gesellschaft­liche Grenzen, die ihre Arbeit an der Lüneburger Mädchenschule unmög­lich machen, sondern auch an persön­liche und innere Schranken, die sie zur Aufgabe ihres fortschritt­lichen Lebenswegs bewegen. Bereits infolge ihrer Erkenntnis, in der weltanschau­lichen Auseinandersetzung mit ihrer Gegenspielerin Evelina die Unterlegene zu sein, setzen sich bei der Protagonistin erste Anzeichen der Resignation durch: „Ach,“ rief sie und streckte ihre Arme aus, „alles, was mir so lieb war, ist mir verleidet. Ich kann keine Kompromisse machen… Ich will nicht mehr!“ (RvdT 152). Letztend­lich führen weitere Stationen des Erkenntnisgewinns, besonders das Gespräch mit der Philosophin Dr. Becker und die Konfrontation mit der Ablehnung der Lüneburger Gesellschaft Lida zu dem Ergebnis, dass sie noch zu sehr in persön­lichen und gesellschaft­lichen Abhängigkeitsverhältnissen gefangen ist, um die unabhängig-kämpferische Position der „neuen Frau“ in der Gesellschaft einnehmen zu können. Die kluge Klubfreundin hatte Recht gehabt! Lida war zu sehr der Typus „junges Mädchen“. Sie emanzipierte sich allenfalls mal in einer Einzelheit, einer Ausnahmestunde, aber der Sittenkodex der Weltecke, aus der sie stammte, hatte doch Macht über sie. Sie hatte eine zu feine Haut für Nadelstiche, ein zu empfind­liches Unterbewußtsein auch den unverschuldeten Mißgeschicken des Lebens gegenüber. Sie litt. (RvdT 213)

Zum Schlüsselerlebnis wird für Lida schließ­lich die Begegnung mit vier Waisenkindern, die ihr langjähriger Verehrer, der Museumskonservator Andrian, aus Mitgefühl adoptiert hat. Sie kommt nunmehr zu der Überzeugung, ihr Studium der Kunst sei als Lebensinhalt ledig­lich „eine sehr ästhetische Form eines ungewöhn­lichen Egoismus“ (RvdT 241) gewesen, während „der hilfreiche Dienst für lebendige, hilfsbedürftige

Typische Gattungen

Geschöpfe etwas moralisch viel Höherstehendes sei“ (Ebd.). Nach einem letzten Zusammentreffen mit Axel, bei dem Lida ihren endgültigen Abschied gegen dessen Willen durchsetzt, entschließt sie sich zur Vernunftehe mit Andrian, kehrt in ihre Heimat zurück und nimmt sich der Waisenkinder an. Am Ende des weib­lichen Entwicklungsprozesses steht in Die Rose vor der Tür nicht die freie Entfaltung des Individuums, sondern die Selbstverleugnung der Protagonistin im Zeichen ihrer Eingliederung in genau jene Gesellschaftsverhältnisse, denen sie sich ursprüng­lich entziehen wollte. Lidas Akzeptanz der Ehefrauen- und Mutterrolle ist jedoch nicht mit der Ohnmachtsposition ihrer Schwester in der Ehe mit dem Lüneburger Bürgermeister gleichzusetzen, sondern erscheint durch die freiwillige Wahl als Hinwendung zu einer nütz­lichen Tätigkeit und Akt der Übernahme gesellschaft­ licher Verantwortung.106 Indem Lida sich von der zweifelhaften Liebesbeziehung abund der Rolle der Mutter und Erzieherin in Not geratener Kinder zuwendet, erringt sie ihre moralische Integrität zurück und gilt in der bürger­lichen Gesellschaft nicht mehr als „am Leben Gescheiterte“, sondern als „vom Leben Erzogene“ (RvdT 360). Lida Eckert ist zu den literarischen Frauenfiguren des Übergangs zu rechnen, die in der Literatur von Frauen um 1900 vermehrt anzutreffen sind, so auch in Emmi Lewalds Romanen Sylvia (1904) und Das Hausbrot des Lebens (1907) sowie in der Novelle Feierstunden.107 Sie sind literarische Vertreterinnen einer Übergangsgeneration von Frauen, die sich zwischen den Direktiven der traditionellen bürger­lichen Geschlechterrollen und den neuen Ideen der Frauenbewegung um Identitätsfindung bemühten. Mit großer Wahrschein­lichkeit gab die literarische Darstellung der spezi­ fischen weib­lichen Konflikte und Herausforderungen den Autorinnen ebenso eine Mög­lichkeit der Auseinandersetzung mit dem Wandel der Geschlechterrollen wie ihren bürger­lichen Leserinnen.

106 Lidas bewusste Entscheidung für die mütter­liche Verantwortung steht in Die Rose vor der Tür konträr zu der von ihrer Lüneburger Schwester als Nebenfigur verkörperten traditionellen Frauenrolle. Als junges Mädchen mit dem ört­lichen Bürgermeister verheiratet, führt die im Roman namenlose Schwester in der von den Ideen der bürger­lichen Frauenbewegung weitgehend unberührten Kleinstadt ein eintöniges und sinnentleertes Leben. Ihr selbstgefälliger Ehemann hat nicht nur über das persön­liche Vermögen seiner Frau verfügt, das die Großmutter für eine Bildungsreise der Enkelin bestimmt hatte, sondern verweigert seiner kinderlosen Frau auch die Adoption bedürftiger Kinder. Im Gespräch der Schwestern wird die traditionelle bürger­liche Ehe als Auslöschung weib­licher Identität gedeutet: „Er war ein so verliebter, demütiger Bräutigam.“ sagte Lida. „Ich weiß noch – die Landpartie damals zum Blauen Krug, wie er hinter dir ging und immer seine Füße in die Spuren der deinen setzte – es sah komisch aus, denn die seinen waren so groß und verschlangen die Spuren deiner Sohlen ganz.“ „Das war symbolisch – mein Wesen verlischt ganz unter diesen Tritten“ (RvdT 180). 107 Vgl. zu der Übergangserfahrung Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weib­liches Bewußtsein und frühe Moderne.

295

296

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Kommunikation mit dem bürger­lichen Lesepublikum: Bilder und Intertext Schon der Romantitel Die Rose vor der Tür verrät Emmi Lewalds Vorliebe für die Verwendung aussagekräftiger Bilder wie Metaphern und Symbolen in ihren Prosatexten. Die Symbolik des Titels bezeichnet in dem Roman in Erweiterung des tradi­tionellen Symbolbilds der Rose als Liebe und Jugendfrische das gesamte Lebens- und Liebesglück der Protagonisten. Sinnbild­lich verweist die Blume im Verlauf der Handlung wiederholt auf das erste Zusammentreffen der Hauptfiguren in Eckhards Büro im Berliner Ministerium, bei dem Lida eine der Rosen verliert, die sie am Gürtel ihres Kleides trägt. Der gebildete Axel Eckhard deutet die Rose noch im Augenblick des Ereignisses als ein bedeutungsvolles Zeichen: „Es ist eigent­lich wie ein Symbol, dachte er – eine Rose vor der Tür?“ (RvdT 2). In seiner Wahrnehmung wird die Rose zugleich zum Symbol für die junge und schöne Lida Eckhard. Ein Bezug zu Goethes Heideröslein wird in der Eingangsszene nicht konkretisiert, so doch angedeutet, wenn Eckhard die verlorene Rose in einem Seitenfach seines Schreibtisches zu einer Ausgabe von Goethes Gedichten legt (ebd.). Indem die Rosensymbolik sich allgemein auf eine erfüllende, sinnhafte und geglückte Existenz bezieht, funktioniert sie im Roman als Zusammenführung der sehr unterschied­lichen Entwicklungsprozesse der Protagonisten, die sich im Laufe der Handlung parallel und mit Hilfe von Wechseln der Erlebnisperspektive entfalten. Ähn­lich bildhafte Romantitel verwendet Emmi Lewald für ihre Werke Das Hausbrot des Lebens (1907), Der Magnetberg (1910) und Lethe (1924). Auffällig erscheint in dem Roman neben dem Symbolbild der Rose der wiederholte Gebrauch der Daseinsmetapher der Schifffahrt für den Lebensgang des Menschen. Bilder des Schiffbruchs und Untergangs für das Scheitern des Menschen und die Bilder des sicheren Hafens (RvdT 152), des „Rettungsufer[s]“ (RvdT 241) und des Anker-Werfens (ebd.) für den Neubeginn nach einer Lebenskatastrophe sind über diesen Roman hinaus in zahlreichen Romanen und Novellen der Autorin nachweisbar. In der Darstellung von Lidas Neubeginn nach Axels Hochzeit kommt es in Die Rose vor der Tür allerdings zu einer verwirrenden Vermengung der Bildfelder, wenn die Vernunftehe mit dem Konservator Andrian abwechselnd mit dem Seefahrtsvokabular „Neuland“ und „Rettungsufer“, mit dem Motiv des idyllischen Gartens (RvdT 240) und mit der „Rose […] vor ihrer Tür“ (RvdT 360) verknüpft wird. In zahlreichen Werken der Autorin findet sich schließ­lich auch die allgemeine Pflanzen- und Blumen­metapher für Frauen, welche in Die Rose vor der Tür zunächst als Erweiterung von Lidas Rosensymbol erscheint. Der Vergleich weist in den meisten Fällen auf die traditionelle weib­liche Geschlechterrolle und den dekorativen Charakter weib­licher Schönheit hin: In den Augen von Axels älterer Freundin Frau von Heimel sind junge weib­liche Jourgäste „wie schöne Blumen auf dem Tisch“ (RvdT 2). Emmi Lewald sorgte mit einer für gebildete bürger­liche Rezipienten klar erkennbaren Motiv-, Metapher- und Symboltradition für Wiedererkennungs- und Bildungserlebnisse während des Lesens. Diese Funktion übten auch die Vielzahl der in die Figurenrede eingeflochtenen intertextuellen Bezüge aus, die darüber hinaus einen gemeinsamen

Typische Gattungen

Kanon an Bildungswissen repräsentierten, das die Autorin mit ihrem Lesepublikum verband. Ein mit Axel Eckhard befreundeter Offizier zitiert beispielsweise das Gedicht Das ist im Leben häß­lich eingerichtet… des im 19. Jahrhundert als Nationaldichter verehrten Joseph Victor von Scheffel, während Lida Eckhard nach einem Grundsatzstreit mit Axel aus Friedrich Schillers Gedicht Brutus und Cäsar (1780) zitiert. Darüber hinaus f­licht Emmi Lewald in die Dialoge ihrer Figuren reihenweise kleinere Anspielungen auf die römische und griechische Mythologie sowie auf Persön­lichkeiten und Ideen der italienischen Renaissance ein. Kinder der Zeit In ihrem Roman Die Rose vor der Tür setzt Emmi Lewald zwei Themenkomplexe um, die sie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wiederholt literarisch beschäftigt haben. Dies sind zum einen die Statusveränderungen innerhalb des Bürgertums und die Auswirkungen der ökonomischen Dominanz des Besitzbürgertums auf die urbürger­ lichen Ideale der Bildung, der Persön­lichkeit, der Tüchtigkeit und der Bescheidenheit, zum anderen die aktuelle Frauenthematik mit den Aspekten Frauenberufstätigkeit, gesellschaft­licher Sittenkodex und Verhältnis der Geschlechter. Die Autorin erreicht eine literarische Präsentation der beiden Themen über die Darstellung zweier Individualschicksale, wobei der männ­liche Protagonist dem Konflikt Materialismus – Bildung, die weib­liche Protagonistin dem Rollenkonflikt der bürger­lichen Frauen um 1900 zugeordnet ist. Mittels in erlebter Rede präsentierter Reflexionspassagen werden die Konflikte, Denk- und Verhaltensweisen der Romanfiguren als überindividuelles Phänomen gedeutet. Axel Eckhard ist sich bei seinem übergroßen Luxusbedürfnis und dem damit einhergehenden zöger­lichen Heiratsverhalten sicher: „[D]enselben Prozeß machten alle seine in gleicher Sphäre lebenden Altersgenossen durch“ (RvdT 71). Axel verkörpert den für Emmi Lewalds Prosawerk charakteristischen Männertypus des „großstädtischen Karrieristen und Egoisten“, der eine vielversprechende Beziehung zu einer jungen Frau aufbaut und dieser dann persön­lich und gesellschaft­lich schadet, indem er einer Verlobung ausweicht. Erste Ausarbeitungen dieser Männerfigur schuf Emmi Lewald bereits in dem Roman Sein Ich (1896) und der Novelle Cunctator (1896). Auch die Schicksale der Hauptfigur Lida Eckhard und der Nebenfigur ihrer Schwester werden überindividuell gedeutet. Während Lida von ihrer Klubkollegin Dr. Becker in ein Typenschema von Frauenfiguren eingeordnet wird („neues Weib“ vs. „Typ junges Mädchen“), deutet vor allem die traditionelle Frauenrolle der Schwester, die hinter dem Titel einer Bürgermeistersfrau eine entrechtete und unterdrückte Existenz erträgt, auf ein Massenschicksal hin: Was war sie? Eine vom Schicksal früh Verbogene, die sich nicht hatte auswachsen können – ein Geschöpf mit allerhand Ansätzen von Eigenart und Idealismus – eine Verkümmerte und Unterjochte – nicht von großen Unglücksfällen unterjocht, sondern von den kleinen, entwürdigenden Reibungen des Alltags – eine von Millionen… (RvdT 181)

297

299

4.2 Zentrale Themen 4.2.1 Kulturelle Praktiken 4.2.1.1 Bürgerliche Geselligkeit als repräsentatives Schauspiel Wir sind keine freien Renaissancemenschen, die ihre Geselligkeit als Kunst betreiben und in dem geistigen Raffinement den Hauptzweck des Zusammenkommens sehen – wir haben ein durch Herkommen und Mode gestempeltes Klischee für unsere gesellige Betätigung, in der die intellektuelle Blüte etwas immer Nebensäch­licheres wird.1

Die Schriftstellerin Alberta von Puttkamer (1847 – 1921) beklagt 1909 in der konservativen illustrierten Zeitschrift „Die Woche“, die moderne bürger­liche Geselligkeit habe „etwas Maschinenmäßiges bekommen, das mechanisch sich abrollt nach gegebenen Formeln“2. Die Autorin spiegelt in dem Artikel die Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen, dass die Folgeerscheinungen des modernen Lebens, Beschleunigung, Hast und Zeitmangel, nicht nur das Arbeits-, sondern auch das Gesellschaftsleben prägten und auch dort eine Konkurrenzsituation kreierten, in der die erlahmenden Kräfte des Bürgers schließ­lich nur noch eine oberfläch­liche Geselligkeit zuließen. Zur Besserung der Situation schlägt Puttkamer vor, sich auf die zwanglose Geselligkeit der früheren Jahrhunderte zu besinnen, in deren Mittelpunkt nicht die Betonung des materiellen Genusses zwecks Repräsentation, sondern der intellektuelle Austausch über Kunst, Wissenschaft und Politik in individueller und durchgeistigter Atmos­ phäre stand. Auch die bürger­liche Geselligkeit im Berlin der Jahrhundertwende, die Emmi Lewald in ihren Texten beschreibt, hat mit der schöngeistigen, materiell bescheidenen Geselligkeit in den Salons der Henriette Herz und der Rahel Levin im Berlin des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nicht mehr viel gemein. Sie gleicht jener von Puttkamer kritisierten „Zwangsgeselligkeit“3: Die Bürger sehen sich genötigt, Saison für Saison eine Reihe von Dinners, Visiten und Bällen zu absolvieren, um den ihrer Gesellschaftsstellung entsprechenden Repräsentations­ pf­lichten nachzukommen.

1 Ada Robert: Die Pf­lichten des Gesellschaftslebens. Die Familie. Plauderei. In: Die Woche 10 (1908), Nr. 39 (26. Sept.), S. 1675 – 1677. S. 1675. 2 Alberta von Puttkamer: Die Pf­licht zur höheren Geselligkeit. In: Die Woche 11 (1909), Nr. 11 (12. März), S. 454 – 456. S. 455. 3 Vgl. den Begriff bei Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1982, 371 ff.

300

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Emmi Lewald thematisiert in ihren Romanen und Novellen wiederholt den Zwangsund Repräsentationscharakter großstädtischer Geselligkeitsformen. Bei der Ausrichtung von Dinners, Jours oder Routs und bei Theaterbesuchen steht weniger die Pflege eines kommunikativen bürger­lichen Lebensstils als die Demonstration von Reichtum, luxuriösem Geschmack, gesellschaft­lichem Status und Weltgewandtheit im Vordergrund. Die sozialen und kommunikativen Funktionen der frühen Salongeselligkeit, deren grundlegende Anliegen Gast­lichkeit, Bildung und geistiger Austausch bei einfacher Bewirtung waren, sind selten geworden oder gar verloren gegangen. Die Wendung „Geselligkeit als Schauspiel“4 trifft auf die kritische Darstellung der großstädtischen Geselligkeit um 1900 in Emmi Lewalds Werken in zweierlei Hinsicht zu. Zum einen bezeichnet der Ausdruck das berechnende Anliegen der bürger­lichen Protagonisten, das Repräsentationspotenzial geselliger Veranstaltungen für sich zu nutzen, daher sie vorrangig als Mög­lichkeit der Statusdemonstration und Statussicherung im Konkurrenzkampf der bürger­lichen Gesellschaft zu sehen. Zum anderen weist der Begriff auf die Spiegelung des „Schauspielhaften“ auf Sprach- und Textebene hin. In Szenen mit geselligen Situationen finden sich zahlreiche Assoziationen mit dem Theater, mit dem Schauspielen und mit der künstlerischen Inszenierung; darüber hinaus sind diese Szenen zum Teil mit dramatischen Mitteln wie Regieanweisungen und Figurenrede dargestellt. Die auffällige Verknüpfung bürger­licher Geselligkeit mit dem Sprach- und Bildfeld „Theater“ bleibt in Emmi Lewalds Werk über Jahrzehnte erhalten, sodass ein Bogen von den im weiteren Verlauf beschriebenen Beispielen aus den frühen Novellen und Skizzen Viel zu brav (1894), Herr Philipp (1897) und Après Diner (1906) hin zu dem Roman Der Magnetberg (1910) geschlagen werden kann. Die bürger­lichen Protagonisten empfinden das Dinner in dem Großstadtroman als „dienst­liche Abfütterung“, „bei der fast niemand sein Gesicht zeigte, fast alle nur Masken, höf­liche, konventionelle, seelenlose Masken zur Schau trugen“ (MB 167). Das Dinner Das Dinner  5 gehörte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten häus­lichen Geselligkeitsformen des Bürgertums und diente vornehm­lich der Erfüllung 4 Sibylle Meyer: Das Theater mit der Hausarbeit. Bürger­liche Repräsentation in der Familie der Wilhelmi­ nischen Zeit. Frankfurt a. M. 1982, S. 47. 5 Was Emmi Lewalds Zeitgenossen um die Jahrhundertwende unter einem Dinner verstanden, verrät Meyers Konversations-Lexikon: „Diner […] Im Deutschen versteht man unter D. ein feier­liches Mittagsessen, zu welchem Gäste geladen sind. Die Dinerstunde (nicht die Stunde des täg­lichen Mittagsmahls) fällt zwischen 3 und 5 Uhr, sehr selten später. Die Art und Weise, ein D. anzurichten, hängt von dem Geschmack des Gastgebers und von der Größe des beabsichtigten Aufwandes ab. Doch haben sich gewisse Regeln festgestellt, die befolgt werden müssen, wenn ein Mittagsessen den Namen D. verdienen will. Zunächst eine Anzahl von Gängen und zwar mindestens sieben: Suppe, Hors d‹œuvre (ein Nebengericht unmittelbar vor oder nach der Suppe), ein Entrée (Fleischvorgericht), ein Relévés (neues, auf ein andres folgendes, pikantes, den Appetit wieder anreizendes

Zentrale Themen

von Repräsentationspf­lichten. Aus diesem Grund konnte das Dinner in einem bürger­ lichen Haushalt nicht umgangen werden, ohne den gesellschaft­lichen Status des Ehemannes und der gesamten Familie zu gefährden. Insbesondere in Offiziers- und Beamtenkreisen stand das Dinner als Instrument der Karrieregestaltung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Berufstätigkeit des Ehemannes. Diese Form der häus­lichen Geselligkeit war daher nicht vollständig vom öffent­lichen Raum abgeschirmt, sondern trug, weil sie für den Ehemann eines der „wichtigsten und durchschlagendsten Mittel für Konkurrenz und Karriere“6 darstellte und beiden Geschlechtern gleichermaßen offen stand, einen halböffent­lichen Charakter. Zu einem Dinner fanden sich Berufskollegen des Ehemannes mit ihren Frauen sowie weitere Angehörige der oberen Gesellschaftsschichten ein, deren Platz in der gesellschaft­lichen Hierarchie sich üb­licherweise in der Tischordnung widerspiegelte. Diese Veranstaltungen wurden von zahlreichen Bürgern aufgrund ihrer zeit­lichen Dauer, ihres steifen, ritualisierten Ablaufes und der nach dem Willen des ‚guten Tons‘ eingegrenzten Gesprächsthemen eher als lästige gesellschaft­liche Verpf­lichtung denn als vergnüg­liche Freizeitgestaltung betrachtet. Der durch zahlreiche zeitgenössische Quellen belegte „Zwangscharakter bürger­licher Repräsentation“7 findet sich regelmäßig in Emmi Lewalds Texten wieder: So leidet die Beamtengattin Agnes Thorensen in dem erstmals 1910 erschienenen Roman Der Magnetberg an der „Öde der Zwangsgeselligkeit“ (MB 168). Dieser Art enervierender gesellschaft­licher Veranstaltungen widmet Emmi Lewald auch eine pointiert humorvolle Szene in der Novelle Herr Philipp (1897), in der ein großstadtmüder Protagonist seine Teilnahme an einem verhassten Dinner in Berlin beschreibt: Dann das Diner. Zwei Dutzend Gäste, alle eingezwängt in Frack und Seide; Scherze über die banalsten Dinge, daneben Langeweile, öde, niederdrückende Langeweile; endlose Bediente, Trüffeln in der Serviette, Sekt, echt französisch und normal frappiert – nachher giftig starker Mokka, Liqueurauslese von Foking; eine immer müder werdende Konversation, Kunstpausen von erschreckender Länge, grabesstill wie Kirchhofsmausoleen; dann Abschied, verlegte Claques, gestammelter Dank gegen die Hausfrau für das reizende Diner, draußen Dank gegen Gott, daß die Qual vorüber! (KdZ 239)

Gericht), Entremets (eine Zwischenspeise), Braten (rôt) und Dessert. Dazu die entsprechende Folge verschiedener Weine.“ Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 4. gänzl. umgearb. Aufl. Leipzig 1885 – 1890, Bd. 4., S. 984. Vgl. auch Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866 – 1918. München 1983, S. 27 ff. 6 M. Freudenthal: Gestaltwandel der städtisch-bürger­lichen und proletarischen Hauswirtschaft unter besonderer Berücksichtigung des Typenwandels von Frau und Familie, vornehm­lich in Südwest-Deutschland zwischen 1760 und 1933, Teil 1 (einziger): Von 1760 – 1910. Würzburg 1934, S. 93, zitiert nach R ­ osenbaum: Formen der Familie, S. 371. 7 Vgl. Meyer: Das Theater mit der Hausarbeit, S. 47 und als zeitgenössisches Beispiel Puttkamer: Die Pf­licht zur höheren Geselligkeit.

301

302

Das literarische Werk Emmi Lewalds

In dem Zitat kommt nicht nur die Abneigung des Menschenverächters Philipp gegen die Geselligkeitspraxis seiner Gesellschaftsschicht zum Ausdruck, sondern auch der exquisite Charakter der gereichten Getränke und Speisen, der auf einen hohen finanziellen Aufwand der Gastgeber schließen lässt. Budde schätzt, dass ein bürger­liches Ehepaar für eine Abendeinladung von 16 bis 20 Gästen – Einladungen, Menü, Getränke, Tischschmuck – zwischen drei- und vierhundert Mark veranschlagen musste.8 Bei der Statusdemonstration bürger­licher Paare gegenüber ihren Bekannten, Nachbarn und Berufskollegen spielten neben Aufwand und Exklusivität des gebotenen Menus die Stellung des Ehemannes in der beruf­lichen Hierarchie sowie die gesellschaft­liche Promi­nenz des Ehepaares eine zentrale Rolle. Von der bürger­lichen (Haus-)Frau wurde erwartet, dass sie durch die sorgfältige Planung und Durchführung des Dinners die beruf­liche Karriere ihres Mannes unterstützte und seinen gesellschaft­lichen Status zu festigen und bestätigen half. Nicht zufällig kommt das Außenseitertum der verträumtromantischen Direktorinnengattin Helene Lucius in der bürger­lichen Gesellschaft des Romans Die Wehrlosen (1910) am sinnfälligsten in ihrem Versagen bei den streng ritua­ lisierten gesellschaft­lichen Veranstaltungen Jour und Dinner zum Ausdruck. Bereits in der Vorbereitung muss ihr Mann anstelle seiner überforderten Ehefrau die Einladungen versenden, die Gangabfolge zusammenstellen, die Blumen bestellen und das Tischzeug ordnen. Doktor Lucius fürchtet, Helene könne die Gerichte bei falscher Temperatur servieren, die Getränke vergessen oder sich bei der formellen Vorstellung der Gäste blamieren. Viele Nächte vorher lag das Diner wie ein Alp auf Helene. Sie graute sich, Menschen einander vorstellen zu sollen. Artur ging die Titel mit ihr durch. Wer ein ‚Wirk­licher Geheimer‘ war, durfte nicht um dies schwererrungene Prädikat betrogen werden. Er examinierte und repetierte […]. (DWe 92)

Obwohl Helene von ihrem Mann im Vorfeld intensiv auf die Gesprächsthemen des „Spitzendiner[s]“ (DWe 91) vorbereitet wurde, blamiert sie sich in Gegenwart eines Ministers, da sie ihre der Höf­lichkeit geschuldete Rolle in der Konversation nicht bewältigen kann. In der Gesprächsskizze Après Diner (1906) versammelt Emmi Lewald in einer Berliner Tiergartenvilla Geheimratstöchter, eine Multimillionärsfamilie, hohe Beamte, einen ehemaligen Politiker, Offiziere, Schöngeister und Landschaftsmaler zu einem geselligen Beisammensein nach dem Dinner. Die Gäste unterhalten sich in wechselnden Gruppen über die im Haus der Gastgeber ausgestellten Kunstwerke, ihre Karrie­ ren, Reisen und das gesellige Leben Berlins. Die als Regieanweisungen angelegten Einführungen zu den Gesprächsszenen und die Dialogform der gesellschaft­lichen 8 Vgl. Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 89.

Zentrale Themen

Unterhaltungen unterstreichen das Schauspielhafte der Situation.9 Bei dem Dinner treffen Vertreter verschiedener bürger­licher und großbürger­licher Berufsgruppen aufeinander – Beamten, Militärs, Wirtschaftsbürger, Intellektuelle und Künstler – und während die Einen die Gesellschaft zur Selbstdarstellung nutzen, erleben die Anderen sie als unausweich­liche, ermüdende Verpf­lichtung. Ein resignierter Dinnergast bemerkt pointiert: „Nein, man kann eben nicht absagen. […] Unentrinnbar zieht einen solch eine Saison in ihren Strudel. Man kann nur zweierlei: ganz abseits stehen oder ganz hinabtauchen“ (HF 371). Am schärfsten tritt der Kontrast zwischen ‚Sein und Schein‘ beim gastgebenden Ehemann zutage, der nach dem Diner seine Frau mit Vorwürfen über zu heiß servierten Spargel und das fehlende Aroma der Trüffel überhäuft, um abschließend gähnend auf ihre Frage nach den Gästen zu antworten: „Ach! Ich könnte jahrelang ohne die alle leben…“ (HF 408). Salons, Jours und Routs Neben den offiziell von dem bürger­lichen Ehepaar gemeinsam veranstalteten Dinners, nutzt Emmi Lewald als Kulisse für einige Konversationsszenen Formen großstädtischer Geselligkeit, die speziell von den bürger­lichen Ehefrauen ausgerichtet wurden. Die Empfangstage der bürger­lichen Damen – Salons und Jours 10 – die im 9 Das Gespräch zwischen den Figuren Frau Bernheim und Frau Ley wird beispielsweise mit den Worten eingeleitet: Auf einem Diwan unter der Estrade, die voll Palmen steht… Zwei hübsche Damen, die wie dreißig aussehen und fünfzig sind. Die eine rotblond, die andere strohblond, enorm elegant und schmuckbehangen. (HF 373) Zu dem Gespräch eines weiteren Paares wird wie folgt hingeführt: In der Ecke des haut pas unter einem flämischen Altarschein mit blaßschimmernden, verblichenen Goldleisten… Die Gattin eines Multimillionärs mit wunderbaren Perlen. Anerkannte Schönheit, äußerst wohlkonserviert. Große, dunkle, törichte Augen, die wie an Drähten auf- und niedergeschlagen werden, vollbewußt, daß sie damit einen in diesen ­Kreisen berühmten Augenaufschlag zuwege bringen. Träge, indolent, gutmütig. Neben ihr ein entfernter Verwandter, dem gleichen wohlsituierten Familienclan angehörig, der sich jedoch von dem Typus Geldmensch, den die anderen repräsentieren, durch einen starken Seelenzusatz von Idealismus vorteilhaft unterscheidet, der zwar auch gelegent­lich wie die anderen auf die Börse geht, aber sich nebenbei in seinen Mußestunden gern in höheren Lebenstockwerken aufhält. Er spricht mit einer heiseren, sarkastischen, nicht unsympathischen Stimme, sehr schnell und leicht… (HF 380 f.) Alle zitierten Passagen aus Die Heiratsfrage stammen aus einem Exemplar der 4. Auflage von 1913. 10 Der Begriff „Jour fixe“ bezeichnet einen festgesetzten Empfangstag der Woche oder des Monats, an dem ein Haushalt seine Türen einem kleinen Kreis von Besuchern ohne vorherige Einladung zu einem geselligen Treffen öffnete. Die Besuche dienten der Pflege und Vertiefung privater sowie gesellschaft­licher Kontakte. Der Begriff stammt aus dem Gesellschaftsleben des 18. Jahrhunderts.

303

304

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Rahmen der Forschung zu den ersten Salons der Zeit um 1800 den Ruf legendärer gesellschaft­licher Zusammenkünfte erlangten 11, werden in den Texten jedoch nicht besonders hervorgehoben. Der Empfangstag der Ehefrau ist wie das Dinner als Repräsentationsmittel im gesellschaft­lichen Verkehr jedes großbürger­lichen Ehepaars üb­lich. Der Bankdirektor Artur Lucius in dem Roman Die Wehrlosen (1910) empfindet es als unmodern und seinem gesellschaft­lichen Status nicht angemessen, dass seine Frau Helene keinen Jour pflegt und richtet ihr aus diesen Gründen einen wöchent­lichen Empfangstag ein, an dem Bekannte und Freunde sie zu Höf­ lichkeitsbesuchen zu Hause antreffen können (DWe 77). Bei Helenes Jour handelt es sich um einen Fünfuhrtee, in dessen Verlauf der Tee durch die Hausfrau persön­ lich zubereitet und in einem eigens angeschafften Samowar und silbernen Service serviert wird. Neben Teegebäck werden auch Zigarren und Zigaretten gereicht. Der Empfangstag hat nach Lucius’ Willen mehrere nütz­liche Funktionen: Er soll ­Helenes Einübung der repräsentativen Rolle einer Ehe- und Hausfrau ebenso dienen wie dem Anknüpfen nütz­licher und statusfördernder Bekanntschaften, aus denen das Ehepaar für die nächste Dinner-Saison eine Reihe „ansehn­licher Tischherren“ auswählen kann. Zu Jours und Salongeselligkeiten wie dem in der Novelle Viel zu brav (1894)12 dargestellten Rout 13 treffen sich in den Texten bürger­liche und adelige Protagonisten zum Zweck des Austauschs über gesellschaft­liche Ereignisse, der Pflege persön­licher Beziehungen und des Musikgenusses. Es sind ideale Veranstaltungen für die wachsende Zahl der Karrieristen und Großstadtneulinge, die durch ihre Militär- oder Beamten­laufbahn zu berufsbedingten Ortswechseln und zum häufigen Einleben in neue Gesellschaftskreise gezwungen sind. Den jungen „Salon-Neuling“ (GeL 47), aus dessen Perspektive die Novelle erzählt wird, beeindrucken vor allem die luxuriöse Ausstattung des Salons, die exotischen Accessoires – „man trank japanischen Thee aus Silbertassen, die, wie fremde, langblättrige Blumen geformt, an die Lotus erinnerten, von denen Heine singt“ (GeL 41) – und die stilsicheren Salongäste. „Schließ­lich schien es mir, als lehnte ich im Theater, in einen Logenwinkel gedrückt, und sähe der Komödie zu, die mit melodischem Wortgeklinge, rauschender Seide und wehenden Federfächern lustig über parquettierte Bretter ging“ (GeL 41).

Vgl. Philippe Ariès (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Bd. 4: Von der Revolution zum großen Krieg. Hg. von Michelle Perrot. Frankfurt a. M. 1992, S. 212 – 214. 11 Vgl. Wilhelmy-Dollinger, Die Berliner Salons. 12 Emil Roland: Viel zu brav. In: ders.: Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen. Berlin A. Duncker 1894, S. 39 – 70. 13 Der Begriff bezeichnet eine vornehme Abendgesellschaft. Vgl. den zeitgenössischen Lexikonartikel: „Rout […], eigent­lich Rotte, zusammengelaufene Pöbelschar, seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts Bezeichnung für eine vornehme Abendgesellschaft.“ Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 4. gänzl. umgearb. Aufl. Leipzig 1885 – 1890, Bd. 13, S. 1036.

Zentrale Themen

Die geselligen Salonveranstaltungen dienen Emmi Lewald meist ledig­lich als Schauplatz für die Roman- und Novellenhandlung, ohne dass sie um ihrer selbst willen thematisiert werden oder eine entscheidende Rolle bei der Darstellung zeitgenössischer politischer oder kultureller Ereignisse einnehmen. Auf diese Weise verhält es sich auch in der Skizze Jour (1906)14, in der ein Empfangstag der bürger­ lichen Gesellschaftsdame Nora zum Anlass für eine Zusammenführung verschiedener Typen der vornehmen Berliner Gesellschaft genommen wird. Die Gäste stehen in verschieden gearteten Beziehungen zu der Hausherrin und sind einander teils flüchtig, teils gar nicht bekannt. So wird mittels der Dialoge zwischen Noras Freundinnen, ihrem schwärmerischen Verehrer Eberhard, dem Hauptmann von Bernwart, der Frauenrechtlerin Fräulein von Wendstern, einem Marineoffizier, einem Kammer­ herrn, einem Museumsdirektor und Noras Ehemann eine Momentaufnahme der Gesellschaft entworfen. Der Rahmen der Salongeselligkeit erlaubt es der bürger­lichen Hausfrau, platonische Liebesbeziehungen zu verschiedenen männ­lichen Bekannten, den „Jourfreunden“ (HF 164), zu pflegen und auf diese Weise die emotionalen Entbehrungen in ihrer Ehe zu kompensieren. Repräsentation in der Öffent­lichkeit – die Oper Der Besuch der Kunsthalle, der Oper, des Konzerts und des Theaters bildet in der wilhelminischen Zeit einen festen Bestandteil der bürger­lichen Freizeitgestaltung. Dass der Kunstgenuss und Kunstkonsum dem gebildeten Bürger neben der Ausbildung seines ästhetischen Urteilsvermögens und der Vervollkommnung der eigenen Persön­lichkeit auch der Statusdemonstration im öffent­lichen Raum diente 15, pointiert Emmi Lewald in ihren Texten auf zugespitzte und kritische Weise. In der Novelle Herr Philipp (1897) wird ein Opernbesuch geschildert, bei dem drei bürger­ liche Männer die Zeit zwischen einem Dinner und einem Rout zum zerstreuenden Kunstgenuss nutzen. Der Besuch des Opernhauses dient ihnen und anderen Bürgern zum Zeitvertreib, aber auch der Repräsentation und Demonstration der Zugehörigkeit zum wohlhabenden Teil der Gesellschaft. Im Saal treffen sie auf „die üb­liche Ausstellung von Schönheit, Reichtum und Geschmack, das bekannte Gemisch von musikalischer Verzückung und Mitspielen ohne Gage“ (KdZ 307). Der Veranstaltungsort erscheint einer Kunsthalle gleich als Ausstellungsfläche für den gesellschaft­lichen Status, das kulturelle und ökonomische Kapital der Besucher. Dieses Bild wird noch intensiviert durch den Vergleich des Publikums mit Schauspielern, die an der gesellschaft­lichen Veranstaltung wie an einer Theaterinszenierung teilnehmen. Die drei Freunde sind sich bewusst, mit dem Opernbesuch zudem 14 Vgl. Emmi Lewald: Jour. In: dies.: Die Heiratsfrage. Der unverstandene Mann, ein spätes Mädchen, der Salonphilosoph und andere Typen der Gesellschaft. Stuttgart u. Berlin Deutsche Verlags-Anstalt 1906, S.  123 – 166. 15 Vgl. Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 61.

305

306

Das literarische Werk Emmi Lewalds

ihr Qualitätsbewusstsein und ihre Vertrautheit mit modernen Kunstformen unter Beweis zu stellen, denn auf der Bühne wird das Allerneuste, eine zeitgenössische Oper des italienischen Komponisten Mascagni 16 gezeigt. Die Geselligkeit der Frauen – zwischen Kränzchen und Frauenverein Trotz ihrer eigenen langjährigen Mitgliedschaft in Berliner Frauenvereinen und Frauen­ klubs zeichnet Emmi Lewald in ihren späteren Romanen ein widersprüch­liches Bild dieser in enger Verbindung mit der Frauenbewegung stehenden Geselligkeit bürger­ licher Frauen. Das gesellige Beisammensein in Vereinen und Klubs war traditionell eine Angelegenheit der bürger­lichen Herren, bis die Frauenbewegung den Bedarf an außerhäus­lichen Geselligkeitsformen für Frauen begründete und die ersten Frauenvereine und Klubs entstanden. Obwohl die großstädtische Frauenvereinsgeselligkeit für die gemäßigte bürger­liche Frauenbewegung eine wichtige Funktion als Ort der Geselligkeit, des Austauschs über Berufsfragen und Kulturpflege hatte, wird sie von Emmi Lewald in ihren Texten nur am Rande thematisiert. Berufstätige und studierende Frauen­figuren wie die Archäologiestudentin Dorothea von Liris in dem Roman Die Frau von gestern (1920), die regelmäßig in „ihrem Klub“ (Fvg 65) verkehren, bilden im Werk der Autorin durchaus eine Minderheit. Eine ausführ­liche Beschreibung des Klublebens sucht man in Die Frau von gestern vergeb­lich ebenso wie in dem Roman Die Rose vor der Tür (1911), wo ein Berliner Frauenklub für die Hauptfigur, die Kunsthistorikerin Lida Eckhard, kurzzeitig zum Refugium avanciert, weil sie von einer Vereinskollegin einen rettenden Rat und Unterstützung für ihre weitere Lebensplanung erhält.17 Eine tiefergehende Beschreibung oder gar Reflexion der Frauenvereinsgeselligkeit und ihrer Bedeutung für die Frauenbewegung findet jedoch nicht statt. Bemerkenswert ist dagegen Emmi Lewalds kritische Darstellung der Frauenvereinsgeselligkeit in dem Familienroman Der Magnetberg (1910), in dem die Berliner Frauenklubs im Rahmen der leitmotivischen Großstadtkritik eine entscheidende Rolle im Niedergang der Familie Thorensen in der Metropole Berlin spielen. Bereits zu Beginn der Handlung deutet der Hinweis, die beiden jungen Töchter der Familie Thorensen frühstückten meistens in „ihren Klubs“ (MB  15) darauf hin, dass das Klubleben in Konkurrenz zum im bürger­lichen Wohnhaus verorteten Familienleben steht. Dieser Hinweis wiederholt sich eindring­lich in der Szene des Romans, in der es der nachlässigen Mutter Agnes Thorensen nach einer späten Heimkehr von einem 16 Die Opern des italienischen Komponisten Pietro Mascagni (1863 – 1945) erlebten ihre Uraufführung in Italien zwischen 1890 und 1935. Mascagni war ein Vertreter der veristischen Oper, die sich durch einen gesteigerten Realismus auszeichnete. Vgl. Hans-Joachim Wagner: Pietro Mascagni. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. von Ludwig Finscher. 2. Aufl. Kassel u. a. 2004, Sp. 1242 – 1249. 17 Die Darstellung des Frauenklubs als Refugium nimmt Emmi Lewald über die Verwendung des Gartenmotivs vor. Vgl. 4.1.2.3 zur Analyse des Romans Die Rose vor der Tür (1911).

Zentrale Themen

Klubempfang als zu lästig erscheint, sich des Wohlergehens ihres kleinen Sohns Olaf zu vergewissern. Die Frauenklubs und Vereine bieten den Frauen, die aus der Kleinstadt Attenrade nach Berlin gezogen sind, „tausend verlockende[n] Bildungsmög­lichkeiten“ (MB 21) und eröffnen ihnen eine Fülle neuer Lebens- und Bildungsperspektiven. Auf diese Weise erhalten auch die berufslosen jungen Frauen Anka und Hilde Thorensen, ihre Mutter Agnes und ihre Tante Johanna die Mög­lichkeit, an den Errungenschaften der Frauenbewegung zu partizipieren. Sie besuchen verschiedenartige Veranstaltungen, u. a. die Gründungsfeier eines literarischen Salons, Vorträge, Theaterpremieren, Bazare und literarische Diskussionen. Die Beamtentöchter Anka und Hilde Thorensen geraten jedoch durch die Nachlässigkeit ihrer Eltern in den „Klub der Bannbefreiten“ (MB 109), einen der Boheme zuzurechnenden Zirkel um einen provozierenden Dichter mit dem Namen Henry X., in dem die Themen der Persön­lichkeitsentwicklung und der freien Liebe diskutiert werden. Junge Großstädter beiderlei Geschlechts bilden die „Jüngerschar“ (MB  124) des Boheme-Autors und versuchen sich ihrerseits auf dilettierendem Niveau als Dichter. Die in dem Roman erwähnte Schriftstellerin Gräfin Adelaide Plessow wird „der äußersten Linken der Frauenbewegung“ (MB 123) zugezählt. Die moralische Diskreditierung der traditionell erzogenen Beamtentöchter Anka und Hilde in den Kreisen der bürger­lichen Gesellschaft wird perfekt, als sie mit Klubgenossen unter Missachtung aller Sittenkonventionen in gemischter Gesellschaft einen Sommerurlaub auf der Nordseeinsel Far-Oer verbringen. Zu den potenziellen ,sitt­lichen Gefahren‘, die eine großstädtische Geselligkeitskultur für bürger­liche Töchter bereithält, kann auch die kleinstädtische Geselligkeit der Frauen, wie sie in dem Roman Unter den Blutbuchen (1914) dargestellt wird, keine adäquate Alternative mehr bieten. Traditionelle weib­liche Geselligkeitsformen wie das Kränzchen sind hier mit einem überlebten Frauenbild assoziiert und werden als anachronistische Geselligkeitsform verurteilt, die nach der Jahrhundertwende überhaupt nur noch in Regionen angetroffen werden kann, in denen frauenrechtlerische Ideen noch unbekannt sind. Die Veranstaltung des Kränzchens, zu dem Freunde und Freundinnen zu Tee und Gebäck, Plaudereien und Spielen, zum Vorlesen und Musizieren zusammenkommen, stammt aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.18 Dabei handelte es sich um eine alltäg­liche und weitverbreitete Form häus­licher Geselligkeit, „die für beide Geschlechter eine Mög­lichkeit des Austausches und der gemeinsamen Willensbildung eröffnete[n], in denen Debatten geführt, Informationen ausgetauscht und Kontakte geknüpft wurde[n]“19. In Lewalds Texten haben die Kränzchen diese Aufgaben in Ermangelung anderer Geselligkeitsformen in den Kleinstädten bis in die Zeit des deutschen Kaiserreichs behalten. Der nach 1900 in einer kleinen Residenzstadt

18 Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 – 1850). Göttingen 2000, S. 224 f. 19 Ebd., S. 257.

307

308

Das literarische Werk Emmi Lewalds

spielende Roman Unter den Blutbuchen zeigt das Mädchenkränzchen der Präsidententochter Erika Winfried als wichtigen Ort des weib­lichen Austauschs über Lebens­ perspektiven, Heiratschancen und die Entwicklung der Frauenfrage. Aus Sicht der emanzipierten, wohlhabenden Großstädterin Irmgard Waltersberg sind die Mädchen mit ihren traditionellen Lebensläufen und der entsprechenden rückständigen Geselligkeitsform allerdings „köst­liche Hinterwäldler“, die „mit Scheuklappen dahin leben“ (BB 50). Die Mädchenfigur Hilde Busche, die sich von der kleinstädtischen Frauenexistenz lösen und eine Haushaltsschule besuchen wird, stellt folgerichtig im Laufe des Romans den obsoleten Charakter der Kränzchenpraxis fest: Waren nicht Mädchenkränzchen überhaupt eine Institution, die in das zwanzigste Jahrhundert gar nicht hätte hinübergenommen werden sollen? Waren sie nicht Brutstätten für Sentimentalitäten und Stumpfsinn? Anderswo hatten die Mädchen Klubs und Vereine. Geistige Interessen waren da die Grundlage, die Zauberformel, durch die man sich gleichsam als etwas Höheres zu erkennen gab, die einem die Aufnahme in Frauenklubs erschloß, einen von altmodischen Zuständen abtrennte. (BB 225)

Das Kränzchen verliert in dem Roman mit dem Wandel der Frauenrolle als Geselligkeitsform seine Berechtigung, während das Vereinsleben der modernen Frauen als adäquate Form weib­licher Geselligkeit entdeckt und als angemessene Plattform für den Austausch mit Gleichgesinnten über Beruf und Bildung geschildert wird. Kleinstädtische Geselligkeit – zwischen Rückständigkeit und Nostalgie Einer in weiten Teilen als dekadent, künst­lich und unpersön­lich geschilderten Großstadtgeselligkeit stellt Emmi Lewald im Rahmen des Provinz-Großstadt-Gegensatzes eine Reihe kleinstädtischer Geselligkeitsformen gegenüber, die teils als altmodisch und kleinbürger­lich-primitiv, teils mit einem wohlwollend-nostalgischen Blick beschrieben werden, der ihnen Unverfälschtheit und echte Herzenswärme unterstellt. Aus Sicht der von raffinierten Kulturgenüssen verwöhnten Großstadtfiguren erscheinen die Kränzchen, Bälle, Landpartien und Soupers abseits der Metropolen oft provinziell und altbacken. Der gebildete Offizier Travers in der Novelle Das Schicksalsbuch (1900) leidet unter dem fehlenden Kulturangebot der oberschlesischen Garnisonsstadt, wo ihm nach seiner Versetzung weder Kunsthallen, noch Theater, noch ein anspruchsvolles Gesellschaftsleben zur Verfügung stehen. Auf den an kulturelles und geselliges Raffinement gewöhnten Berliner wirkt die Geselligkeit des militärischen Milieus provinziell, vorhersehbar und glanzlos. „Man tanzte bei schlechter Musik in engen Zimmern; man gab Diners, bei denen alles unfehlbar nach der Rangliste saß und jeder im voraus berechnen konnte, wer sein Nachbar sein und was der reden werde“ (SchB 93 f.). Ein formeller und standardisierter Charakter prägt auch das jähr­liche stattfindende Familiendinner der Unternehmerdynastie Rosenbusch in Das Hausbrot des Lebens (1907) anläss­lich des Geburtstags ihres Familienoberhauptes Arend Rosenbusch. Die

Zentrale Themen

aufwändige Speisefolge wird von Festreden und Trinksprüchen der bedeutenden männ­lichen Familienmitglieder auf das Geburtstagskind begleitet. Die Tischordnung spiegelt, für alle Dinierenden sichtbar, die soziale Hierarchie in der Familie: „Unten am Tisch saßen das jüngste Familienmitglied und dasjenige, welches im Leben am wenigsten reüssiert hatte, zusammen“ (HdL 116), die noch unverheiratete Tochter Tilla Rosenbusch und ein beschäftigungsloser Onkel. Des Weiteren wird bei dem Familien­ fest „nach Rang und Würden placiert – die ganz Korrekten in der Nähe des Hausherrn“ (HdL 118), der ehrwürdige Onkel Herrmann und ein Onkel, der es zum Amt des Stadtrates gebracht hat. In die Reihe der von den Familienfeier­lichkeiten ausgeschlossenen „Entgleisten“ reiht sich neben Tilla, der ihre Arbeit als Redakteurin einer Berliner Zeitschrift den vernichtenden Ruf einer „la bohémienne“ einbringt, schließ­lich ein jüngerer Vetter Astas ein, der ‚unter Stand‘ eine Münchener Kellnerin geheiratet und den Beruf des Zahnarztes ergriffen hat. Auch Asta wird nach dem Scheitern ihrer Verlobung mit Professor Richter ein volles Jahr von den offiziellen Familienfesten ausgeschlossen (HdL 321) und als sie wieder daran teilnehmen darf, wird ihr ein Platz am unteren Ende der Tafel zugewiesen, der „Platz, wo es immer ‚zog‘, der von Tilla stets als ‚Schandplatz‘ bezeichnet worden war“ (HdL 322). Mit der kleinstädtischen Geselligkeit sind in Lewalds Texten anderseits auch jene Romantik, jene intensiven zwischenmensch­lichen Beziehungen und jener ehr­liche bildungsbürger­liche Kulturgenuss assoziiert, die den großstädtischen Veranstaltungen verloren gegangen sind. Diese zivilisationskritisch anmutende Stilisierung kleiner Städte zur intakten Gegenwelt findet sich auch in der zeitgenössischen Presse wieder: Es ist alles gemütvoll, ohne Schablone, nicht immer korrekt, keineswegs tip-top – und doch viel einprägsamer für die Erinnerung, dem eigent­lichen Geselligkeitsbegriff viel näher kommend als jene zahllosen Großstadtabende, wo man sich kaum die Mühe nimmt, den Namen des Visavis festzustellen […].20

Einen positiven, nostalgischen Blick wirft Emmi Lewald in der Novelle Aus guter alter Zeit (1891) auf das literarische Kränzchen einer namenlos bleibenden Kleinstadt, das als verschwindende Geselligkeitsform charakterisiert wird. Die Tradition des Schillerkränzchens zweier weißhaariger Damen verkörpert „ein Stückchen alter Zeit […], das den modernen Flügelschlag der neuen Tage überhört und rückwärts lebt in einer Epoche, in der sonst fast alles vorwärts stürmt, was weiterkommen will“ (EuH 45). Zu dem monat­lich abgehaltenen Kränzchen versammelt sich die Gesellschaft der städtischen Universität, unter anderem bekannte Professoren, für die das altmodische Kränzchen einen wohltuenden Gegensatz zu der Schnelllebigkeit der Zeit darstellt. 20 Robert: Die Pf­lichten des Gesellschaftslebens, S. 1677.

309

310

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Jeder empfindet hier eine angenehme Behag­lichkeit, wie sie nur dort herrscht, wo Menschen nicht aus Zwang oder Repräsentation, sondern aus freier Neigung zusammenkommen. Das Theewasser summt über der blauen Flamme. Hochbeinige Lampen mit großen, seltsamen Papierschirmen gießen ein ruhiges l­ icht über die Gesichter. In den blumenbemalten Tassen dampft der Trank und leise tickt eine ungeheure Wanduhr, einst das Prunkstück des Hauses, jetzt ein getreues Memento der Rococozeit, bei deren Anblick man an Schäferidylle und Versailler Feste denken muß. (EuH 47)

Die Besucher des Kränzchens werden in die Zeit nach der napoleonischen Besetzung zurückversetzt, als „die romantischen Dichter ihre Balladen und Liebeslieder sangen, die Tage, da man für Schiller geglüht, für Jean Paul geschwärmt, da noch fast jeder einen entfernten Bekannten besaß, der sich um den jungen Werther todtgeschossen hatte“ (EuH 48). Die Lektüre der Kränzchenbesucher besteht aus Werken der Empfindsamkeit, der Klassik und der Romantik; Schlagworte, die im Text in Gegensatz zu einem als abgeklärt, emotionskalt und kulturlos beschriebenen industriellen Zeitalter gebracht werden. Neben dem Kränzchen ist es die Veranstaltung der Landpartie, die in besonderem Maße den Charakter einer bodenständig-einfachen Kleinstadtgeselligkeit trägt. Der länd­liche Ausflug der großbürger­lichen und adeligen Familien zu Pfingsten in Unter den Blutbuchen (BB 115 ff.) ist zugleich Zeitvertreib, gesellschaft­liches Event und Anlass für die Anbahnung neuer Bekanntschaften und Verlobungen. Nach einer Wanderung durch das Umland von Neuenkirchen kehrt die Gesellschaft hier in einem länd­lichen Gasthaus mit Kegelbahn ein, wo als Abschluss des Ausflugs Kaffee und selbstgebackener Kuchen im Freien verzehrt und anschließend auf einer Wiese gemeinsame Spiele und Wettrennen veranstaltet werden. Auf den Großstadtmenschen Georg Werther macht die Veranstaltung einen anachronistischen, aber vor allem behag­lichen und nostalgischen Eindruck: Diese Partie zum grünen Krug war gewissermaßen die Landpartie an sich, ein Unternehmen ganz nach altem Schnitt, genau wie es in einem früheren Jahrhundert sich abgerollt haben mochte. Er dachte an die Berliner Landpartie, den kurzen Freizeitgenuß, eingezwängt zwischen Vorortzügen und Motorfahrten, wo der sogenannte Naturgenuß stets mühselig erkauft war […]. (BB 117)

Adelige Gegenwelten – der Ball In der Verklärung der kleinstädtisch-länd­lichen Geselligkeit zeigt sich bereits deut­lich, dass Emmi Lewald der von ihr missbilligten und kritisierten modernen Geselligkeit die idealisierten Werte vergangener Zeiten gegenüberstellt. Diesen Eindruck bestätigt insbesondere ihre Darstellung der adeligen und großbürger­lichen Ballkultur in Excelsior! (1914) und Unter den Blutbuchen (1914), zwei Romanen, die im Gegensatz zu den

Zentrale Themen

Berliner Gesellschaftsromanen in kleinen Residenzstädten spielen und eindeutig in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende angesiedelt sind. Die Institution des Balls als „sozial höchststehende Tanzveranstaltung mit Reglements“ war immer auch ein Spiegelbild von politischen Strukturen und sozialen Abhängigkeiten.21 Die soziale Distinktion vollzog sich über den Zutritt zu einem Ball, der nur bestimmten Gesellschaftskreisen gestattet war, und fand bei der Veranstaltung selber über die spezielle Ballordnung statt. Ein Ball bot auch den Raum für die Zurschaustellung von Geld, Macht und Status mittels der Präsentation von Orden und entsprechend kostbarer Ballkleidung. Emmi Lewald beschreibt in ihren Texten vornehm­lich Hofbälle, in der Novelle Der Traum des Philosophen (1891) auch einen im bürger­lichen Salon stattfindenden Hausball. Die fest­lichen Bälle in den Romanen Excelsior! und Unter den Blutbuchen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lebenswelt des Adels, zu der die bürger­ lichen Protagonisten nur bedingt Zutritt hatten. In der Romanwirk­lichkeit stehen die gehobenen Tanzveranstaltungen der adeligen Gesellschaftsschichten in der französischen Balltradition und tragen die klassischen Merkmale von Hofbällen: Sie werden im Fürstenschloss oder einem repräsentativen Bau der Residenz veranstaltet und sind in Ausstattung und Verlauf von der Anwesenheit des Fürstenpaares und ihres Hofstaates bestimmt. Es handelt sich demnach um einen Akt adeliger Repräsentation, nicht um die demonstrative Zurschaustellung von Bürger­lichkeit. In der histo­ rischen Realität stand der Besuch des Hofballs nur ‚hoffähigen‘ Familien zu, die durch adelige Abstammung, eine repräsentative Stellung des Mannes als Würdenträger am Fürstenhof oder als Vertreter der städtischen Honoratioren zur ersten gesellschaft­ lichen Rangklasse des Fürstentums zählten. Die regelmäßigen Tanzveranstaltungen dienten den oberen Gesellschaftsklassen als wichtiges Instrument der Heiratspolitik, denn wenn ein junges Mädchen sechzehn- bis siebzehnjährig offiziell das Heiratsalter erreichte, wurde es als Debütantin der Landesfürstin vorgestellt und auf diese Weise in die Gesellschaft eingeführt. Die Partnerwahl wurde vom zeremoniellen Ablauf eines Balles und der ritualisierten Form des sozialen Kontakts erleichtert, etwa indem sich die männ­lichen Ballteilnehmer für die in fester Reihenfolge abgehaltenen Tänze in die Tanzkarten der jungen Frauen eintragen konnten.22 Zu diesen Tänzen gehörten u. a. der Eröffnungstanz, der Tischwalzer und der im 19. Jahrhundert besonders beliebte Kotillon, ein Gesellschaftsspiel in Tanzform, bei dem die Herren ihren Tanzpartnerinnen sogenannte Kotillonbuketts überreichen.23 Im Rahmen des Kotillons werden in Der Traum des Philosophen (1891) zudem Sketche aufgeführt und Harlekin-Witze erzählt. 21 Monika Fink: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 1996, S. 19. 22 Vgl. hierzu ebd., S. 52 ff. 23 Der Tischwalzer eröffnete die zweite Tanzabteilung und gab dem männ­lichen Part das Recht, die Tanzpartnerin zu Tisch führen zu dürfen. Zu den Tänzen, besonders dem Kotillon vgl. ebd., S. 54 und S. 172 ff.

311

312

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Das Neuenkirchner Hoffest in Unter den Blutbuchen (1914) (BB 147 ff.) gestaltet sich demnach als gesellige, repräsentative Zusammenkunft des Fürstenpaares, der adeligen Familien, der in der Garnison stationierten Offiziere und der hohen Verwaltungsbeamten. Die Gäste demonstrieren durch die Ballteilnahme ihre Zugehörigkeit zu der vornehmsten Gesellschaftsschicht des Residenzortes. Während der Veranstaltung entwickeln sich Gespräche über militärische Beförderungen und Versetzungen im Rahmen dienst­licher Karrieremög­lichkeiten. Im Mittelpunkt der Beschreibung steht jedoch die wichtige Funktion des Balls als standesinterner Heirats­markt, weil das Ereignis den Figuren ideale Mög­lichkeiten des Kennenlernens, des Flirtens und der Vertiefung neuer Bekanntschaften bietet. Das zweite wichtige Gesprächsthema bilden in diesem Zusammenhang die Informationen und Spekulationen über Liebschaften, Verlobungen und Entfremdung einzelner Paare. Den Vergleich des Balls mit der Großstadtgeselligkeit legt Emmi Lewald im Fall des Romans Unter den Blutbuchen dem Offizier Ramin in den Mund, den sie in wehmütiger Stimmung den Charakter und Zweck des Hofballs reflektieren und mit den Gesellschaftsbällen des reichen großstädtischen Adels und Bürgertums kontrastieren lässt. Der Offizier empfindet die Veranstaltung im Unterschied zu den „Ostender Bälle[n], wo alles bunt und laut und schreiend war, wie Reklame oder Plakat“ als „so würdig und aristo­ kratisch, eine Stück Kulturgeschichte, noch ungestempelt von all den sogenannten neuen Errungenschaften – eine anziehende Welt im Aussterben!“ (BB 152). Auf diese Weise wird auch die Institution des Balls als Teil einer idealisierten vormodernen Gegenwelt dargestellt – hier der sich im Niedergang befind­lichen aristokratischen Lebenswelt – und dient indirekt der Kritik an den zeitgenössischen Geselligkeitsformen der Romangegenwart. Während sich auf dem Neuenkirchner Hofball vorrangig der Adel vergnügt, beschreibt Emmi Lewald in Excelsior! (1914) mit dem um 1860 datierten Ball im städtischen Kasino der kleinen Residenz Altenhausen die Zusammenkunft einer „nicht ungemischte[n] Gesellschaft“ (Exc 36) von Bürger­lichen und Adeligen. Neben der Fürstenfamilie und einigen Adelsfamilien setzt sich das Ballpublikum aus Militärangehörigen, Universitätsgrößen, einer Fechtmeistersfamilie und einem Rechtsanwalt zusammen. Literarisch nutzt die Autorin den Ball als Kulisse, um auf die Abgrenzungsbemühungen des Adels gegenüber der bürger­lichen Schicht zu illustrieren: Die adelige Familie von Geldern erscheint demonstrativ erst eine Stunde nach Veranstaltungsbeginn und bestimmt durch ihren gesellschaft­lichen Status das Geschehen. Der ehrgeizige kleinbürger­liche Rechtsanwalt Brauer nutzt den Ball ganz im Sinne des modernen bürger­lichen Repräsentationsdenkens, um seinen Aufstieg ins Bildungsbürgertum und seine Kontakte zum Altenhausener Adel demonstrativ zur Schau zu stellen.

Zentrale Themen

4.2.1.2 Bürgerliche Reisekultur Wie ein Flügelroß der Phantasien,

von der Erdenflamme Gluth genährt, zwischen Echoklang und Funkensprühen, Südlandwärts die Wagenkette fährt. [Roland, Italienische Landschaftsbilder (1897)]

„Welch ein Zauber … Rom in siebzehn Stunden!“ beginnt das den Skizzen Italie­ nische Landschaftsbilder vorangestellte Gedicht zum Lobpreis der Eisenbahn, die wie kein anderes Verkehrsmittel um die Jahrhundertwende das Reisen für Angehörige des Bürgertums zu einer erschwing­lichen, bequemen Angelegenheit machte. In Emmi Lewalds Jugendzeit war das Reisen bereits ein fester Bestandteil der bürger­lichen Lebensführung und Freizeitgestaltung.24 Vor allem die Bildungsreise war Teil der kulturellen Praxis und diente der Demonstration der Zugehörigkeit des Reisenden zum gebildeten Bürgertum. Die Bildungsreise hatte ebenso wie andere Formen des Reisens, die Geschäftsreise, die Erholungsreise und die Hochzeitsreise ihren Platz in der bürger­lichen Biografie. Die Reisetätigkeit unterschied sich in Bezug auf Anlass, Dauer und Zeitpunkt des Reisens je nach Geschlecht. So reisten Männer lebenslang, zumeist allein, häufig zu Ausbildungszwecken und je nach ihrer beruf­lichen Tätigkeit auch geschäft­lich. Frauen dagegen reisten weniger, und wenn sie es taten, meist in gleichgeschlecht­licher Gesellschaft oder anläss­lich ihrer Hochzeitsreise.25 Eine Ausnahme stellten die Selbstbildungsreisen jener Frauen dar, die künstlerische oder literarische Ambitionen hegten. Konnten es sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur wenige Bürger finanziell und zeit­lich erlauben, aufwändige Reisen zu unternehmen, wurde das Reisen im Laufe des Jahrhunderts durch die Beschleunigung des Verkehrs, den Ausbau wirtschaft­licher Beziehungen und das Aufkommen der Tourismusindustrie vereinfacht und für immer mehr Angehörige des Bürgertums mög­lich. Im späten 19. Jahrhundert war das Reisen bereits auf dem Weg, ein Massenphänomen zu werden. Emmi Lewald war eine fleißige Reisende. Bereits als Jugend­liche unternahm sie Sprachreisen nach Frankreich und Urlaubsreisen in die Nordseebäder und nach Thüringen, die Herkunftsregion ihrer Mutter, die mit der Wartburg zu den bekannten nationalen Sehenswürdigkeiten gehörte. Für die Zeit nach dem Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn sind mehrere Italienreisen, Englandreisen, Reisen nach Schlesien, in die Niederlande und eine Griechenlandreise durch Quellen belegt. Familien- und 24 Vgl. Barbara Wolbring: „Auch ich in Arkadien!“ Die bürger­liche Kunst- und Bildungsreise im 19. Jahrhundert. In: Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. Hg. von Dieter Hein / Andreas Schulz. München 1996, S. 82 – 101. Philipp Prein: Bürger­liches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen. Münster 2005. 25 Prein: Bürger­liches Reisen, S. 48 f.

313

314

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Verwandtschaftsbesuche führten sie zudem regelmäßig von Berlin nach Weimar und Oldenburg. Dass die Autorin nur die Reiseberichte ihrer Aufenthalte in Italien und Griechenland publizierte, erklärt sich mit der wichtigen Rolle dieser Reiseländer für die bürger­liche Bildungspraxis. Die Reiseaufzeichnungen der Italienreise zu Beginn der 1890er Jahre erschienen in einer Reihe von Zeitungsfeuilletons zwischen 1895 und 1897 und schließ­lich als Sammelband mit dem Titel Italienische Landschaftsbilder 1897 in der Schulzeschen Hofbuchhandlung in Oldenburg. Emmi Lewalds Erinnerungen an einen Griechenlandaufenthalt um 1911 fanden ihren Niederschlag in der dreiteiligen Griechische[n] Reise (1912). Die Reiseerfahrungen der Schriftstellerin bildeten darüber hinaus die Grundlage für eine breite Präsenz des Reisemotivs in ihren Prosatexten.26 Das Thema der Italienreise ist zudem in den Gedichtbänden Der Cantor von O ­ rlamünde (1889), Gedichte (1894) und dominierend in Gedichte, Neue Folge (1901) präsent. Der literarische Reisebericht erfreute sich bereits im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit, da er „grundsätz­liche Bedürfnisse nach Belehrung, Unterhaltung und Abenteuer in der lesenden Öffent­lichkeit“27 befriedigte. Trotz steigender Zahl der Publikationen verlor die Reiseliteratur dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusehends „ihre führende Rolle als Medium der intellektuellen Reflexion und literarischen Innovation. Während immer mehr Menschen immer öfter reisten, verflachte der Reisebericht zur unverfäng­lich-unterhaltsamen oder sach­lich-informativen Beschreibung.“28 Während die Reiseberichte literarischer Größen wie Goethe, Heine und Humboldt neu aufgelegt wurden, hinterließen die zeitgenössischen Reiseschriftsteller bis auf ­Fontane kaum wegweisende Beiträge zu dem Genre. Erhalten blieb jedoch die Funktion des Reiseberichtes als Kommunikationsmittel bei der Verständigung über die soziale Zugehörigkeit. Die Beschreibung des privaten Erlebens war immer auf einen bürger­lichen Adressatenkreis bezogen und so Teil eines Kommunikationsprozesses über das Selbstverständnis der bürger­lichen Schicht. In diesem Kontext spielte die Italienreise eine besondere Rolle, denn das Land war dem humanistischen Bildungsverständnis nach besonders geeignet zur Bildung der Persön­lichkeit, des Geschichtsbewusstseins und des ästhetischen Empfindens. Die Produktion italienischer Reiseberichte war derart umfangreich, dass sich einige Verlage, so auch die Schulzesche Hofbuchhandlung in Oldenburg, regelrecht auf Italienliteratur spezialisierten.29 Emmi Lewald stellte demnach ihre Reise, ihr Empfinden und ihren Reisebericht bewusst in eine lange kulturelle 26 Die Variante der Kurreise findet sich in den auf den ostfriesischen Inseln angesiedelten frühen Novellen Fräulein Kunigunde (1894) und Auf diskretem Wege. Bade-Novelle. (1892), die Italienreise in den Novellenbänden In blauer Ferne (1898) und Gefühlsklippen (1900) sowie in dem Roman Das Hausbrot des Lebens (1907). Mehrere Texte der Novellensammlung Der wunde Punkt (1914) spielen dagegen in Griechenland. 27 Prein: Bürger­liches Reisen, S. 55. 28 Ebd., S. 58. 29 Vgl. Sieler: 200 Jahre Bücher am Schloßplatz, S. 133.

Zentrale Themen

und literarische Tradition: „Griechenland und Italien sind die beiden Zaubernamen, deren Klang das deutsche Herz elektrisch berührt. Sie sind wie die Beschwörungsformeln ersehnter Schönheitsträume“ (IlB 175). Emmi Lewalds Reisebericht Griechische Reise nach zu urteilen, erlangte nach 1900 Griechenland als Ziel bildungsbürger­licher Reisender eine gewisse Popularität, wohl auch als Reaktion auf die zunehmende touristische Frequentierung Italiens. Der Bildungsreisenden Emmi Lewald wird das Erlebnis der klassischen Italienreise durch den Massentourismus, die Kommerzialisierung des Reisens sowie die fortschreitende Modernisierung der italienischen Landschaft und Architektur verdorben. Erst auf einer Griechenlandreise um 1910/11 kann sie das klassische Bildungserlebnis wieder ungestört genießen: „Italien hat mehr und mehr aufgehört, dem Fremden jene innere Sammlung und den stillen Frieden gewähren zu können, den er an den von jedem Weltbetrieb fernen Ufern Achajas und Attikas findet“ (GR 521). Reisemotivation und Formen der Reise Die in Emmi Lewalds Texten am häufigsten anzutreffende Reisemotivation ist die Hoffnung der Schriftsteller-, Maler- oder Gelehrtenfiguren auf kreative und künstle­ rische Inspiration für den persön­lichen Schaffensprozess. Diese Form des Reisens ist der Bildungsreise verwandt und als Arbeitsaufenthalt zu verstehen, der mehrere Jahre dauern kann und den kreativen Reisenden zumeist an ruhige, für konzentriertes Arbeiten geeignete Rückzugsorte führt. Die starke Ähn­lichkeit mit der Bildungsreise ergibt sich im Falle der Maler und Schriftsteller daraus, dass sie ihre künstlerische Inspiration aus dem Erleben von Landschaften, Bevölkerung und kulturhistorischen Stätten beziehen. Der mittelmäßig begabte Schriftsteller in Die Globustrotterin (1898) reist nach I­ talien mit der Überzeugung: „In Rom mußte ihm ja allerhand einfallen!“ (IbF 5). Auch in dem Roman Das Hausbrot des Lebens (1907) bricht die junge bürger­liche Asta, die als Schriftstellerin bereits erste Erfolge verzeichnete, in Begleitung ihrer Tante Ida zu einer Italienreise auf. Sie sucht in der alltagsfernen Reisesituation in Italien künstlerische Inspi­ ration: „Ich mache Verse. Ich kann nicht so beliebig Verse machen im Alltag, ich muß mich künstlerisch in Stimmung bringen, meine Phantasie aufstacheln. Irgend etwas ganz fabelhaft Schönes muß um mich sein – so wie hier – dann geht’s“ (HdL 17). Auch Astas Reisebekanntschaft, dem Geschichtsprofessor Richter, hat ein länger zurückliegender Aufenthalt in Italien „einmal in seinem Leben die Kraft zu etwas Außerordent­lichem verliehen“ (HdL 28), womit seine renommierte Studie über Hadrian gemeint ist. Die inspirative Kraft des Landes gleicht in seiner Wahrnehmung magischen Kräften, denn Richter hat kaum das Gefühl, das Werk bewusst verfasst zu haben: Das heißt: er schrieb sie [Anm. die Studie] eigent­lich nicht. Irgendwie floß sie ihm von selbst in die Feder… wie er überhaupt fest davon überzeugt war, daß unsere Produktionen eigent­lich gar nicht die unsern sind, sondern uns aus unerklär­licher Ferne durch unbekannte Gesetze der Übertragung rätselhaft zugehen. (HdL 28)

315

316

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Es sind Italiens legendäre Landschaft und seine als gegenwärtig empfundene bedeutsame Geschichte und Kultur, die diesen Protagonisten als Inspira­tionsquelle für künstlerische und wissenschaft­liche Leistungen dienen.30 Obwohl sich die Autorin vermutlich neue Inspiration für ihr eigenes Schreiben erhoffte, beschreibt sie als Erzählerin in Italienische Landschaftsbilder (1897) die eigene Reise weniger als Arbeitsaufenthalt denn als Pilgerfahrt und stellt damit den Bildungsaspekt in den Vordergrund. Die Reisemotivation ist das Erreichen und Erleben des mit fast religiöser Inbrunst verehrten und langersehnten Reiseziels selbst. Schon in dem vorangestellten Gedicht erscheint der Vergleich mit der Pilgerreise: „Dein Mekka naht, Du Sehnsuchtsreicher“, und auch in den folgenden Landschaftsskizzen wird der Reisende immer wieder als suchender Pilger bezeichnet. Später beschreibt Emmi Lewald auch Griechenland emphatisch als „ein Mekka, vor dem wir uns andächtig die Schuhe lösen, wie der gläubige Moslem vor der Pforte der Moschee“ (GR 523). Die alten Kulturländer Italien und Griechenland können in der säkularisierten Weltsicht des protestantischen Bildungsreisenden ohne Weiteres mit dem religiösen Zentrum des Islam verg­lichen werden. Die christ­liche Variante der Pilgerfahrt ist dagegen in dem Roman Sein Ich (1896) zu finden, in dem der gebildete Leo angesichts der bevorstehenden Bahnreise der jungen phlegmatischen Fanny durch den Gotthardtunnel bezweifelt, dass sie „geistig reif [sei], das gelobte Land jenseits zu schauen“ (SI 50). Nach der Reise muss Leo erwartungsgemäß feststellen, dass die italienische Landschaft und Kultur auf Fanny überhaupt keinen Eindruck gemacht haben: „Wie hat Dir denn Italien gefallen?“ „Gar nicht!“ sagte sie lakonisch. „Du bist ein Heide!“ (SI 153)

Die Motivation für diese Verklärung der Bildungsreise ist in dem Kulturverständnis und der Lebensführung der bildungsbürger­lichen Schichten zu suchen, in denen die Bildung eine quasireligiöse Bedeutung angenommen hatte.31 Sowohl in Emmi Lewalds Reisebericht als auch in den fiktionalen Texten findet sich mehrfach die Wendung,

30 Auch der Philologe und Aussteiger Heinrich Nebendanck in der Novelle Der wunde Punkt (1914) reiste ursprüng­lich auf die damals noch griechische Insel Imbros, um ein wichtiges Buch zu verfassen (DwP 6), bevor er sich gegen den Willen seiner Familie dort niederließ. Die Hoffnung auf künstlerische Inspiration ist auch die Motivation, welche den mittelmäßigen Schriftsteller und die junge Malerin Rosa in der Novelle Die Globustrotterin (1898) nach Italien führt. 31 Das in Emmi Lewalds Texten vermehrt anzutreffende Motiv stimmt mit der Beobachtung der Bürgertumsforschung überein, dass Bildung im Zuge der generellen Säkularisierungstendenzen im 19. Jahrhundert für weite Teile des Bürgertums „eine quasi-religiöse Ersatzfunktion“ übernommen hat. Vgl. Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 9.

Zentrale Themen

der Reisende empfinde seine nörd­liche Heimat als ‚Exil‘, das süd­liche Land dagegen als eigent­liche ‚Heimat seines Geistes und seiner Seele‘, in deren Umgebung er erst zu einer angemessenen Daseinsform finden könne. Der aus dem Heimatgefühl abgeleitete Besitzanspruch paart sich in Das Schicksalsbuch (1900) mit einem kulturellem Überlegenheitsgefühl der Reisenden: […] wir sind die Eindringlinge, und doch haben gerade wir aus dem Norden das Gefühl, daß Italien unsre wahre Heimat ist. Wir würdigen es, und darum ist es eigent­lich mehr unser Land als das seiner Bewohner! Denen gibt es Sonne und Polenta, – uns Schönheit und Kunst. (SchB 168)

Die Hochzeitsreise, die junge Paare wie das Ehepaar Thomsen in dem Roman Sylvia (1904) nach Italien führt, ist ebenfalls eng mit der Bildungsreise verknüpft. In dem Text reist der Philologe Thomsen mit seiner zu Romanbeginn nach bürger­lichen Maßstäben noch ungebildeten Frau Sylvia nach Rimini, wo ihm der „unbeschreib­ liche Zauber des Südens […] wie eine große Sinfonie erscheint“ (Sy 626), während Sylvia den Bildungsdruck auf der Reise ledig­lich als Belastung empfindet. Italien war bei den Hochzeitsreisenden des deutschen Bürgertums offensicht­lich derart in Mode, dass Emmi Lewald in Der Magnetberg den humoristischen Seitenhieb anbringt, an den oberitalienischen Seen würden „die jungen Paare scharenweise, wie die Tiere aus der Arche Noah, willenlos und vorschriftsmäßig, von See zu See getrieben werden“ (MB 276). Während der gebildete Bürger seine Bildungs- oder Hochzeitsreise nach Italien und Griechenland im Frühling und Herbst antrat, diente die Sommerreise oder sogenannte Sommerfrische in den Bergen oder an der Nordsee der Entspannung und Stärkung der Gesundheit. Im Zusammenhang mit den Bergreisen in dem Roman Sein Ich (1896) und der Novelle Cunctator (1895) sowie in der ‚Bade-Novelle‘ Fräulein Kunigunde (1894), die vermut­lich auf der Nordseeinsel Juist spielt 32, wird die Erholung vom Alltag der bürger­lichen Berufe besonders betont. Aber erquickend war dieser Wind! Er blies den Druck von all‘ den Stirnen, die winterlang gedacht und gesonnen hatten und jetzt an diesem Strande ausruhten – vier kurze Wochen, um dann in der alten Tretmühle die Gesundheit für die nächste Sommerkur neu zu ruinieren. (FK 6) 32 Hierauf lässt zum einen die Angabe in der Novelle schließen, dass der Strand der Insel nicht „jener bekannten Mode-Insel“ angehört, „über die zur Sommerzeit die reiche Welt vieler Großstädte dahinhastet“ (FK 12) – damit ist Norderney gemeint. Zum anderen gibt es einen Hinweis aus der Geschichte der Insel: „Links, ganz am anderen Inselende, wehte der geheimnisvolle Fabelschleier einer versunkenen Welt. Dort hatte einst der zürnende Meergott des Nordens das alte Kirchdorf niedergerissen, weggespült mit allen Mauern, Herdflammen und Glockentönen […]“ (FK 14 f.).

317

318

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Die Badegäste leben in kleinen Fischerhäusern und verbringen ihre Tage am Strand, auf der Jagd, mit Spaziergängen und geselligen Hotelveranstaltungen. Sehenswürdigkeiten und Bildungsmomente spielen bei den Erholungsreisen eine untergeordnete Rolle. Den jungen Beamten Hanselt in der Novelle Auf diskretem Wege (1892) bewegen noch andere Motive, seinen Urlaub in dem lebhaften Modebad Norderney zu verbringen. Er sucht zum einen Unterhaltung, Gesellschaft und einen passenden Rahmen für seine Selbstdarstellung – „Warum sollte er sich langweilen und seine ‚perfekten Civils‘ unbewundert über einen menschenleeren Strand tragen?“ (AdW 6 f.) – zum anderen möchte er mit Hilfe des „Heiratsbüreaus“ der Stadt Norderney eine Heiratskandidatin finden. Die Partnersuche ist ebenfalls ein wiederholt genanntes Motiv für eine Reise.33 Beschreibung des bereisten Landes Sowohl in Emmi Lewalds Berichten ihrer Italien- und Griechenlandreisen als auch in ihren fiktionalen Texten fallen detaillierte kunsthistorische und historische Informationen auf, die wohl aus älterer Reiseliteratur sowie aus zeitgenössischen Reiseführern stammen. Astas Aufstieg auf den Berg der Venus in der Nähe von Terracina in Das Hausbrot des Lebens wird z. B. von folgendem Gedankengang der jungen Frau begleitet: Man hatte mit Sicherheit herausgefunden, daß die gebrochenen Mauern auf dem Berges­ gipfel nicht von einem Palaste des Theodorich stammten, sondern von einem uralten Tempel der Venus – so hatten sie ihren festen, kunstgeschicht­lichen Platz in den Verzeichnissen der Tempelruinen erhalten mit dem Vermerk, daß die Untermauern noch erhalten wären und der Platz noch heute festzustellen sei, auf dem das Kultbild der Göttin gestanden habe…(HdL 7)

In Italienische Landschaftsbilder finden sich zahlreiche dieser detaillierten Beschreibungen von Landschaften und Sehenswürdigkeiten wie Klöstern, Kirchenbauten, Palästen und Gärten. Die Erzählerin, die hier gleichzeitig Reisende ist, schildert ausdrück­lich ihre persön­lichen Eindrücke und Gefühle, als wolle sie dem Leser gegenüber betonen, dass sie neben dem tradierten Italienerlebnis und seinem fest stehenden Kanon von Sehenswürdigkeiten auch von individuellen Erfahrungs- und Seherlebnissen berichten kann. Im Zusammenhang mit der Beschreibung ihres Besuches in Assisi rät sie dem Leser gar, sich bei seinem Erlebnis nicht vorher durch die literarischen Autoritäten beeinflussen zu lassen, die Italienreisende des 19. und 20. Jahrhunderts gewöhn­lich im Handgepäck mitführten.

33 Vgl. hierzu auch die Novelle Der wunde Punkt (1914) in der gleichnamigen Novellensammlung und den Roman Das Glück der Hammerfelds (1900).

Zentrale Themen

Nein, man soll nicht Goethe, nicht Hase, nicht Sabatier lesen – nicht sich vorbereiten – nicht durch anderer Leute Augen sehen, und wenn diese Anderen auch Autoritäten sind. Nachher mag man es thun, um der Erinnerung den festen Hintergrund und dauernden Halt zu verleihen; aber wer begnadet ist, diese seltsame Welt zu schauen, soll es zuerst mit eigenen Augen thun, unbefangen den mächtigen Eindruck auf sich wirken lassen […]. (ILB 49)

Diese Aufforderung ändert nichts an der Tatsache, dass der Bezug zu literarischen Autoritäten und Reisehandbüchern in den Texten fortlaufend hergestellt wird. Die Verwendung von Bildungszitaten gestattete der Autorin einerseits, ihre Belesenheit zum Ausdruck zu bringen, anderseits rekurrierte sie auf den bürger­lichen Bildungskanon, den sie mit ihrem Adressatenkreis teilte, und stellte auf diese Weise eine Verbindung zu ihren Lesern her.34 Eine ähn­liche Funktion dürften die wiederholten und detaillierten Verweise auf Begebenheiten der europäischen Geschichte in den Landschaftsskizzen erfüllt haben, beispielsweise die Erwähnung der Plünderung Ravennas durch Karl den Großen. Das „Nach-Erleben“ berühmter literarischer Italienrezeptionen und historischer Ereignisse während und nach der Reise war offensicht­lich ein Mittel, mit dem sich die Leser mit anderen Reisenden über ihr Italienerlebnis verständigen konnten. Auch eine Passage der Landschaftsskizzen, in der Ravenna als „schöne[s], alterthüm­liche[s] Museum“ (ILB 20) bezeichnet wird, bringt die Charakterisierung Italiens als eines gemeinsamen Kulturerbes anschau­ lich zum Ausdruck. Der verklärten und verehrten Kultur und Geschichte der Reiseländer Italien und Griechenland stehen in den Texten Gegenwart und Alltag oft als unliebsame Realität gegenüber, die den Genuss des Reiseerlebnisses mindert.35 Der Karren aus einem Schwefelbergwerk auf Sizilien und die ausgezehrten Arbeiter erscheinen dem Reisenden in Die Flucht ins Unpersön­liche (1914) als etwas „Störendes, Quälendes“ (DwP 55), das in der malerischen Landschaft und der erhabenen Geschicht­lichkeit des Landes geradezu deplatziert wirkt. Die Erzählerin der Italienischen Landschaftsbilder bemerkt in Bezug auf die Ankunft in Rom, dass die modernen Teile – hier die Eisenbahn, elektrisches l­icht und die Tramways – für den Besucher „Anfangsenttäuschungen“ darstellen (ILB 59). In allen Landschaftsskizzen ist zu beobachten, dass Vergangenheit und Gegenwart in Gegensatz gesetzt und mit ganz bestimmten Adjektiven verknüpft werden. So ist die Vergangenheit verzaubert, märchenhaft, heilig, stolz, die Gegenwart dagegen ist „allzu wirk­lich, allzu handfest“ (ILB 67). Das Moderne wird als Bedrohung des Alten gesehen, sei es die „moderne Bauwuth auf dem entheiligten Boden“ (ILB 67) in den neuen Stadtteilen oder der „Überfall modernen Getriebes“ (ILB 69)

34 Vgl. den Exkurs zum Bildungszitat bei Emmi Lewald im Anschluss an diesen Abschnitt. 35 Vgl. Italienische Landschaftsbilder, wo von den „triviale[n] Gemüsefelder(n) kleiner Bauern“ die Rede ist (ILB 45, 51).

319

320

Das literarische Werk Emmi Lewalds

auf die alten römischen Friedhöfe. In den Augen der Erzählerin stellt unter den Friedhöfen die moderne Begräbnisstätte Campo Berano ein besonders störendes Element im Ensemble der alten Stadtanlagen dar: „Der Fremde besucht den Campo Berano ledig­lich um dieser Bella vista willen. Im Übrigen tadelt er an ihm dasselbe, was er am neuen Rom – am Rom der könig­lichen Residenz – auszusetzen hat: das Moderne, Unzerstörte, das Nichtantike!“ (ILB 75). Die Anerkennung der Reisenden – der Erzählerin und der Figuren – gilt nur dem alten, antiken Italien.36 Den unversehrten, neuen Gebäuden sowie allen anderen Elementen, die ihrem Bild vom historischen Italien nicht entsprechen, können sie kein Wohlwollen entgegenbringen. Die Reise besteht aus dem Erleben und Suchen des unberührten historischen Italiens der Antike und der Renaissance. Wenn der römische Fremde zu heftig unter dem Anfangszorn leidet, daß die Hauptstadt Italiens moderner ist, als er sie haben möchte, so atmet er auf, wenn er Palestrina vor sich sieht in seiner unverdorbenen Einheit­lichkeit, wenn er das antike Pflaster unter seinen Sohlen fühlt […] Vergangene Jahrhunderte haben diesen Ort gestempelt und das gegenwärtige ihn nicht entweiht. Ja, selbst die Eisenbahn ist rücksichtsvoll genug, sechs Kilometer vor dem Ziel inne zu halten und das Thal nicht zu entheiligen. (ILB  111 f.)

Im Vergleich zu Italienische Landschaftsbilder (1897) fällt an der Griechische[n] Reise (1912) auf, dass Emmi Lewald an Griechenland positiv eine vermeint­liche Weltabgeschiedenheit und eine Einheit­lichkeit des historischen Erlebnisses hervorhebt. Ihrer Schilderung nach stört nichts „dieser heiligen Landschaft himmlische Einheit­lichkeit“, sodass der Besucher „geht wie in verronnenen Jahrhunderten“ (GR 523). Der Blick auf Italien fällt dagegen wesent­lich nüchterner aus, da die Modernisierung des Landes und der Massentourismus den historischen und kulturellen Reiz dieses Reiseziels aus Sicht der Autorin schon stark gemindert haben. Aber auch Teile Griechenlands scheinen ihr bedauer­ licherweise bereits von dem Einfluss der Gegenwart geprägt, vor allem die Großstädte Athen und Korinth, die sie „wie ein Hohn auf den Glanz von einst“ (GR 670) erlebt. Schöne Einheimische und furchtbare Touristen – die anderen Menschen Emmi Lewald bezieht in ihre Reiseberichte und in ihre fiktionalen Ausarbeitungen der Reisesituation durchgängig den Umgang des Erzählers bzw. des bürger­lichen Protagonisten mit den Angehörigen verschiedener gesellschaft­licher Schichten in die Darstellung mit ein, weshalb ihre Texte Aufschluss über konkrete soziale Distinktions- oder Identifikationsreaktionen geben können.37 Tatsäch­lich grenzen sich

36 Vgl. diese Wertschätzung des antiken Italiens auch in Emmi Lewalds Roman Das Hausbrot des Lebens (1907). 37 Vgl. hierzu Prein: Bürger­liches Reisen, S. 191 ff.

Zentrale Themen

die bürger­lichen Reisenden aus den deutschen Ländern in Reiseberichten und Erzähltexten gleichermaßen sowohl von der einheimischen Bevölkerung als auch von ihren deutschen und europäischen Mitreisenden ab. Der Blick der Reisenden auf die einheimische Bevölkerung ist von wohlwollender Bewunderung ebenso geprägt wie von Arroganz und wissenschaft­licher Neugierde. In Italienische Landschaftsbilder haben die Angehörigen der ärmsten Bevölkerungsschichten für die Reisenden den „Status einer vormodernen Sehenswürdigkeit“38 und werden unversehens in das verklärte Italienbild der bürger­lichen Besucher eingefügt. Die traditionell gekleideten Einheimischen werden zu „malerische[n] Menschen“ (IlB 98) stilisiert, mit Figuren auf bekannten Gemälden, Fresken oder aus litera­ rischen Darstellungen verg­lichen und somit ein Teil des kulturellen Italienerlebnisses. Die Erzählerin beschreibt wohlwollend das „unverfälschte Dorfleben Italiens“, eine um Almosen „bettelnde Schönheit in Lumpen im Staube des Weges“, einen „Kutscher mit seinem alten, echten, streng geschnittenen Römerprofil“ (ILB 58) und einen Hirten mit „dunklen Märchenaugen“, der ihr gar als „verkappter Göttersohn“ (ILB 3) erscheint. Die große Armut der Bewohner von Paestum um 1900 verklärend, beschreibt Emmi Lewald sie als Kunstfiguren, die „wie mit künstlerischem Verständnis in die eigenartige Umgebung hineingedichtet“ (ILB 181) sind. In ihren Augen bilden die mageren, in Lumpen gekleideten Menschen einen Teil ihres als Kunstwerk imaginierten Italiens, sodass sie schließ­lich befindet, dass keine andere Kleidung ihnen besser stehen könnte als „die Lumpen der Armuth, die sie mit solchem Anstand zu tragen wissen…“ (ebd.).39 Wo die Einwohner und Bediensteten des bereisten Landes in Emmi Lewalds Reiseliteratur nicht als Teil der imaginierten Antike wahrgenommen werden, findet häufig eine romantische Verklärung dieser Figuren zu „naiven Naturkindern“ statt.40 Die zivilisationskritische Aussage, die der Gegenüberstellung der reisenden Großstadtbewohner und der einfachen Einheimischen innewohnt, korreliert eindeutig mit der Gesamtdeutung des Reiseerlebnisses als Flucht aus der modernen Lebenswelt (s. u.). Die junge einheimische Frau des nach Griechenland ausgewanderten Heinrich Nebendanck in Der wunde Punkt entspricht ganz der Vorstellung einer ‚edlen Wilden‘ und wird in Gegensatz zum Bild der modernen, gebildeten und sich emanzipierenden Frau gebracht. Aus der Sicht von Heinrichs Schwester ist sie ein „Naturprodukt“, eine 38 Ebd., S. 168. 39 Vgl. auch Rudolfs Bewunderung der „stilvollen Armseligkeit“ in Roland, Die Erzieherin (Gk 79). 40 Das Bild des „naiven Naturkindes“ zählt zum Themen- und Motivkomplex des „Edlen Wilden“. Die Darstellung „Edler Wilder“ dient in zahlreichen Werken der Literaturgeschichte der Kontrastierung des an den negativen Auswirkungen der Zivilisation erkrankten Europäers. „Das vorbild­liche Wesen des Naturmenschen beleuchtet den beklagten Niedergang der Zivilisation und begründet die Sehnsucht nach der Wiederherstellung der Unschuld.“ Vgl. Horst S. und Ingrid G. Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen u. a. 1995, S. 110 – 114. S. 110 f.

321

322

Das literarische Werk Emmi Lewalds

„schweigende[n] Frau, die zeitlos, von allen geistigen Zwangsentwicklungen befreit, wie eine Blume auf der Insel blühte, den Pflanzen und Früchten näherstehend als unsereinem“ (DwP 33 f.). Auch in dem Roman Sein Ich wird mithilfe der Pflanzenmetapher die Überzeugung des Schweiz-Reisenden Leo illustriert, die Einheimischen lebten ein naives, von Unbildung und Immobilität geprägtes Leben. Er wandert „auf Almen, wo kleine Sennbuben mit weltunkundigem Auge ihr Pflanzendasein lebten, Kinderseelen, die von allem, was außerhalb des Gebirgsthals lag, nur undeut­liche Begriffe hatten“ (SI 6). In ihrem scheinbar unschuldigen und „unverdorbenen“ Naturzustand verkörpern diese Nebenfiguren die Wunschvorstellung einer von den negativen Auswirkungen der gesellschaft­lichen und technischen Moderne unberührten Existenzweise. Zu einem bestimmenden Motiv wird das Bild des „Naturkindes“ in der Novelle Herr Philipp (1897). Dem Pessimisten und Menschenverächter Philipp, dem seine deutschen Zeitgenossen zuwider sind, „all‘ die berechnenden, kalten, vertrauenslosen Ameisen des großen Haufens…“ (KdZ 224), erscheinen die Tiroler Einheimischen als „naive Naturkinder, denen die reine Harmlosigkeit stadtfremden Lebens aus den Augen schaut“ (KdZ 224 f.). Er möchte sie mit „wandelnden Blumen vergleichen […], ähn­lich jenen rätselvollen Meerpflanzen, die wie Blüten aussehen und wie Lebendige atmen.“ (Ebd.). Die Naivität und zivilisatorische Abgeschiedenheit der Bergbewohner assoziiert der Protagonist mit Authentizität und Charakterstärke: „Da stehen sie im Sonntagsschmuck, eben aus der Kirche herabgekommen, fromm und unschuldig, den letzten Gesangbuchvers noch auf der Lippe, die Männer ehr­lich und treu, die Frauen braunäugig und gut“ (KdZ 225). Philipps idealisierende Sicht auf die Tiroler Bevölkerung erweist sich jedoch im Laufe der Novelle als Illusion, als der großstadtmüde Reisende auch in der vermeint­ lich idyllischen Bergwelt mit Missgunst und Gewalt konfrontiert wird. Der Blick auf andere Reisende aus dem eigenen Heimatland sagt in einem Reisebericht etwas über die Überzeugung des Autors aus, wie die angemessene, ‚richtige‘ Art des Reisens auszusehen habe. In einem fiktionalen Text gilt dies entsprechend für die Haltung des Erzählers oder der Hauptfigur. Der gebildete Protagonist der Novelle Die Flucht ins Unpersön­liche (1914) stößt sich während seiner Sizilienreise fortwährend an dem Verhalten und Erscheinungsbild seiner Mitreisenden. Eine unvorteilhaft gekleidete deutsche Malerin erscheint ihm als „das kleine Ungeheuer im Waterproof“ und ihr abgelaufenes Schuhwerk als eine „Abart der Sandalen“, sodass er sich fragt, „was für Ungeheuer das Vaterland unter Umständen ausspeit!“ (DwP 53). Auch eine weitere bürger­liche Reisende, die ihre hübsche lustlose Tochter mit dem Reiseführer in der Hand von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten zwingt, erregt sein Missfallen. Eine typische, nicht sehr interessante Gruppe: Mutter und Tochter, die Italien pf­lichtschuldig abgrasen und dabei ebenso pf­lichtschuldig und beinah gewohnheitsgemäß dauernde Umschau halten unter den Söhnen aller Länder, die auf den internationalen Pfaden herum­wandern. (DwP 89)

Zentrale Themen

Neben den störenden Erlebnissen während einer Denkmalsbesichtigung sieht der sensible Ästhet sein Kulturerlebnis zudem von der geselligen Fröh­lichkeit und den trivialen Gesprächsstoffen seiner Landsleute während der Hotelmahlzeiten beeinträchtigt. Die Haltung der Figur zeugt von der Überzeugung, der Nutzen und Wert einer Reise hinge von der individuellen Haltung des Reisenden ab. Die Zugehörigkeit zur bürger­lichen Gesellschaftsschicht, die entsprechenden finanziellen Mittel und Bildungsvoraussetzungen müssen notwendigerweise um Muße, Reflexions- und Kontemplationsvermögen ergänzt werden, um die Reise zu einem persön­lichkeitsbildenden Kulturerlebnis werden zu lassen. Wer nur durch Italien „hetzt“ und die Reise als Repräsentations­ instrument begreift, den trifft die Verachtung des Protagonisten. Formen der Tourismuskritik wie sie auch in den Novellen Die Globustrotterin (1898) und Die Erzieherin (1899) vorkommen, finden sich bereits bei Goethe und Hehn sowie in zahlreichen nachfolgenden Reiseberichten, die mit wachsender Popularität der Italienreise im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden.41 Die Kritik bezieht sich vor allem auf Zeitmangel und durch schlechte Vorbereitung verursachte Unkenntnis der Kulturstätten und der Sprache. „Auf das innere Erlebnis, den Genuß der Kunst kam es an, nicht auf das Abspulen eines quantitativ ehrgeizigen Programmes.“42 Als idealen Italienreisenden, der durch seine Bildung und sein Qualitätsbewusstsein in Gegensatz zum Massentourismus gebracht wird, zeichnet Emmi Lewald den jungen Juristen Rudolf Anders, Protagonist der Novelle Die Erzieherin. Andere klammerten sich an die Hauptrouten und wanderten ab, was andere vor ihnen abgewandert hatten, er aber liebte es, in Seitenthäler zu tauchen, wenn ein unerklär­liches Etwas verlockend aus ihren Fernen winkte – er rastete an Orten, zu denen irgend eine unbestimmte Sehnsucht ihn trieb – und dann fand er goldene Stunden abseits vom Wege, die er als Kenner genoß, raffiniert, wie er war. (Gk 80)

Dass sich die Haltung ihrer Protagonisten zumindest teilweise mit den Ansichten der Autorin deckt, ist ihrem Reisebericht Griechische Reise (1912) zu entnehmen, in dem sie bemerkt, „der Fremde – diese Pest der heiligen Kulturstätten“ komme in Athen nicht in Schwärmen vor, sondern nur „in Einzelexemplaren“ (GR 599). Bemerkenswerterweise spielt die Nationalität eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der anderen Reisenden, denn die Figuren fühlen sich vor allem durch deutsche Landsleute, Bewohner der eigenen Heimatstadt und am meisten durch Bekannte gestört. Eine positive Bewertung erfahren dagegen in die englischen Touristen: „Sie halten keine Tiraden, erklären nicht das Land, das sie bereisen, begeistern sich nicht mit Getöse“ (DwP 101).

41 Wolbring: „Auch ich in Arkadien!“, S. 98 f. 42 Ebd., S. 99.

323

324

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Topoi einer Reise in die Vergangenheit oder in eine andere Welt Was ist das Reisen in fremde Länder anders als Flucht vor sich selbst, vor den eigenen Gedanken? Was sucht man? [Lewald, Der wunde Punkt (1914)]

Bei der Darstellung des Reisethemas in Emmi Lewalds fiktionalen und nicht fiktio­nalen Texten lassen sich einige übergreifende Merkmale erkennen. Wenn Emmi Lewald in der Skizzensammlung Italienische Landschaftsbilder ihre Italienreise beschreibt, die ja zunächst eine räum­liche Bewegung ist, beschreibt sie die Fahrt zugleich als Reise in eine andere Zeit und in eine nicht (oder nicht mehr) existierende Welt.43 Als Reise in die Vergangenheit wird das Erleben der antiken, der mittelalter­lichen und der Renaissanceepoche empfunden. Beim Anblick eines Kloster in Subiaco, bemerkt die Erzählerin: „Das Mittelalter ist es, das dort mit einem Male vor uns aufsteigt mit seinen großen Tugenden und noch größeren Schwächen“ (ILB 97). Nach der Besichtigung Orvietos erleben die Reisenden ihre Rückkehr zum Bahnhof und den Anblick des Eisenbahnrauches als unsanfte Zeitreise: „Uns ist dabei zu Muth, als geriethen wir aus einem verronnenen Jahrtausend mit einem Zauberschlage in die Gegenwart zurück“ (ILB 35). Der Arbeitsaufenthalt des Schriftstellers in Die Globus­trotterin, der sich von seiner Italienreise umfassende künstlerische Inspiration erhofft, wird bild­lich als Wanderung in die Vergangenheit auf einer Zeitleiste beschrieben: Und mit jedem Schritt, den er weiter dieser verfallenen Romantik entgegen that, wurde es ihm sonderbar zu Mute, geradeso, als schreite er aus seiner Gegenwart heraus, rückwärts in eine andere Zeit, die eigent­lich längst vergangen war und von Rechts wegen nur mehr in die Geschichtsbücher gehörte […]. (IbF 8)

Die Reise als Zeitreise absolvieren die Protagonisten jedoch nicht nur in Italien, auch der Berliner Leo, der seinen Urlaub wandernd in der Schweiz verbringt, geht auf Wegen, die „nicht gestempelt sind mit einem Merkmalszeichen der gegenwärtigen Epoche – Wege, auf denen man auch in einem früheren Jahrhundert hätte wandeln können…“ (SI 3). Die Reisenden in Italienische Landschaftsbilder wähnen sich in eine andere Welt versetzt, die als Gegenstück zur gegenwärtigen, alltäg­lichen Welt erscheint und mit Begriffen aus dem Religiösen, Märchen- und Legendenhaften beschrieben wird. An manchen Stellen spricht die Autorin dem bereisten Land einen poetischen Charakter

43 Der Topos der Vergangenheitsreise ist in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts typisch, wie Prein auf breiter empirischer Grundlage an nicht publizierten Reiseerzählungen nachweisen konnte. Vgl. Prein: Bürger­liches Reisen, S. 190.

Zentrale Themen

zu: „Ja, hier wohnt Poesie auf den lustigen Bergen, nicht die schwermüthige Poesie der Campagna – nein, eine heitere, leichte und farbenreiche.“ (ILB 91); später spricht sie von der „ganzen Poesie antiker Zeit“ (ILB 117).44 Des Öfteren arbeitet sie in Bezug auf Landschaften auch mit dem Märchenvergleich: „Träumerisch schauen die Gebirgsorte auf sie [Anm.: die Frühlingslandschaften] nieder, jeder wie ein Sitz der Romantik, wie ein Märchen, in Stein erzählt“ (ILB 90).45 Der vatikanische Garten erscheint als „eine kleine, zauberhafte Welt für sich […], eine Welt, so zier­lich und anmuthsvoll, wie man sie in Romanen findet“ (ILB 132). Der Märchenvergleich wird von Emmi Lewald dauerhaft gebraucht, denn auch einem fiktiven Sizilien-Reisenden in einer Novelle von 1914 ist zumute als „lebte er im Märchen, wo in den Zauberschlössern immer neue Türen zu neuen gesteigerten Herr­lichkeiten aufgemacht“ (DwP 47) werden. Das Märchenmotiv bestimmt ferner den Seheindruck des aus Schlesien angereisten Landratsvertreters Rudolf Anders in der Novelle Die Erzieherin (1899), der dem Reiz des abgeschiedenen Dorfes Tuoro am Trasimenischen Meer beim Blick aus dem Fenster in den Garten seiner kleinen verwinkelten Pension verfällt: „Wie eine Schar verzauberter Riesen standen kerzengerade Cypressen um den kleinen Rasenplatz, auf dem zwei prächtige Pfauen einherstolzierten, majestätisch und weihevoll, wie die verzauberten Bewohner einer Fabelwelt…“ (Gk 80). Das Reisen erscheint zunächst als Bewegung durch den Raum in dem Sinne, dass die Reisenden sich von ihrem Heimatort entfernen, um ein fremdes Land zu bereisen. Ihre deutsche Heimat verlassen sie jedoch nicht nur räum­lich, indem sie die bekannte Landschaft und klimatischen Bedingungen hinter sich lassen, sondern auch ideell, indem sie sich von ihrem beruf­lichen, familiären und gesellschaft­lichen Alltag entfernen. Die Reisemotivation der Figuren bezieht sich unmittelbar auf die als positiv empfundene räum­liche und ideelle Entfernung vom deutschen Heimatort und trägt eskapistische Züge.46 Die idealen Landschaften und Märchenwelten, die Italien und Griechenland in der Wahrnehmung der Reisenden zu bieten haben, stellen für sie einen positiven Gegensatz zu der Landschaft und Kultur ihrer deutschen Heimat dar und bieten eine zeit­lich begrenzte Fluchtmög­lichkeit aus dem Alltag in der „Welt der Kompliziertheiten“ (DwP 34). Auf der Reise finden sie „Wege, auf denen man immer wandern möchte, Zeit und Raum vergessend, alles Leid des Lebens von sich abstreifend“ (ILB 134). Für den namenlosen Reisenden in der Novelle Die Flucht ins Unpersön­liche stellt die Kargheit und Traurigkeit der sizilianischen Landschaft gar 44 Vergleiche auch den Ausdruck „Poesie des Verfalls“ (ILB 139). 45 In Italienische Landschaftsbilder finden sich weitere Beispiele für den Märchenvergleich. Der Monte Rosa am Lago d’Orta erscheint der Erzählerin „märchenhaft wie eine Fata morgana des Gebirges“ (ILB 8). Die drei Kirchen auf dem Aventin in Rom stehen gar „wie in einer anderen Welt“, „wie in einem Traum“ und „weltfern“ auf ihrer Höhe und wecken im Betrachter die Erinnerung an zahlreiche Legenden (ILB 122 f.). 46 Vgl. zur Interpretation des Reiseerlebnisses als Übergangsritual Prein: Bürger­liches Reisen, S. 116 ff.

325

326

Das literarische Werk Emmi Lewalds

einen „Rettungsmantel gegen die kleinen Traurigkeiten seines Daseins“ (DwP 47) dar. Er bemerkt in Sizilien deut­lich eine starke Entfremdung von seiner Heimat: Er fühlte sich so fremd geworden gegen das alles, gegen die ‚graue Stadt am Meer‘, die wider seinen Willen ihm Heimat geworden war, gegen die Menschen dort, die blassen, müden, vom Leben abgehetzten Menschen, die selber an den Kompliziertheiten des Daseins krankten […]. (DwP 59)

In der Novelle Keine Zeit steht der Gegensatz von bürger­licher Alltagsexistenz und Reiseerfahrung ganz im Mittelpunkt.47 Der mehrwöchige Kuraufenthalt in der Schweiz stellt für den bürger­lichen Protagonisten, einen bekannten und erfolgreichen Politiker, die bislang erste und einzige Entfernung aus dem hektischen Lebens- und Arbeitsalltag dar. Nicht zufällig verfasst der Reisende in Lugano seine Lebenserinnerungen, ein Dokument, in dem er abseits seiner Alltagspf­lichten einmalig das „Fazit seines intimen Lebens“ zieht und „Aufschluß über sein innerstes Fühlen und Denken“ (IbF 187) gibt. Während der Alltag die Verstandesseite des Menschen beansprucht, fördert das Reisen seine Gefühlsseite zutage. In der Schweiz wird dem Karrieremenschen klar, dass er die Gefühlsseite in seinem Leben vernachlässigt hat, dies äußert sich in den gescheiterten Verhältnissen zu Frau und Sohn und in einer gehetzten, daher so gut wie versäumten Italienreise. Auch der bürger­liche Cäsar in der Novelle Die Geschichte einer Beziehung erfährt auf seinen zwei Italienreisen, die er unternimmt, um die junge Therese zu treffen, eine wohltuende Entfernung aus dem nüchternen Lebens- und Arbeitsalltag.48 Die Italienreise versetzt Cäsar, insbesondere durch die Verknüpfung der Erfahrung mit seiner Zuneigung zu Therese, in einen Zustand intensiv empfundener Emotionen: „Alles, was zu unterst in seiner Seele gelegen, was so lange niedergehalten war von Berufszwang und dem Alltagsschwalle nüchterner Gedanken, jetzt versuchte es, aus der Tiefe mächtig emporzusteigen und das kaltgewordene Herz zu erwärmen!“ (Gk 43). Emmi Lewald verknüpft in dieser Novelle den Gegensatz von Alltagsleben und Reiseerfahrung mit dem Gegensatzpaar Verstand und Gefühl, indem sie das Reisen als Zustand des Menschen deutet, in dem er zum reinem, unmittelbaren Erleben seiner Gefühlswelt fähig ist (ähn­lich wie der Künstler auf der Reise zu fruchtbarster Kreativität imstande ist), ein Zustand, der dem Menschen im modernen großstädtischen Alltag abhanden gekommen ist. In den modernen Lebensverhältnissen ist der Mensch folgerichtig sich selbst, seinem Gefühlsleben entfremdet und als Mensch unvollkommen.

47 Emil Roland: Keine Zeit. In: ders.: In blauer Ferne. Neue Novellen. Berlin Fontane & Co. 1898, S.  183 – 207. 48 Emil Roland: Die Geschichte einer Beziehung. In: Gefühlsklippen. Novellen. Berlin Fontane & Co. 1900, S. 1 – 60. S. 42 ff.

Zentrale Themen

Die räum­liche Bewegung des Reisens ermög­licht den bürger­lichen Reisenden aus Emmi Lewalds Texten zum einen die Flucht vor den Ansprüchen des Berufs und der Gesellschaft, zum anderen eine zeit­liche Reise in die Vergangenheit, daher die Flucht aus der Gegenwart in die Geschichte. Auch die zeit­liche Reise ist Teil der Reisemotivation und eng mit dem bürger­lichen Bildungsideal verknüpft. Mit intensiver Lektüre bereiten sich die Reisenden auf die Bildungsreise vor und sehen in den Reiseländern nur noch Schauplätze historischer Ereignisse und Standorte bedeutender Kunstschätze, an denen ihnen die Vergangenheit lebendig wird. Wie auch Prein betont, geht mit diesem erwarteten Geschichtserlebnis die Ablehnung aller Anzeichen zeitgenössischer Architektur, Arbeit und Kultur einher: Die Sehnsucht der Reisenden verlangte nach mög­lichst authentischen, ursprüng­lichen, unvermischten Ansichten der Vergangenheit. Eine Sehenswürdigkeit wurde für eine ganz bestimmte Zeit geschätzt. Was dieser Zeit nicht entsprach, passte nicht ins Bild, insbesondere wenn es sich um Zeichen der Moderne handelte.49

Die Protagonisten und Erzählerfiguren bereisen letztend­lich eine dem bildungsbürger­ lichen Bildungs- und Gedankenkosmos entsprungene kulturgeschicht­liche Imagination eines Landes, die vor, während und nach der Reise mit Hilfe der bürger­lichen Bildungsschätze – Literatur, bildende Kunst, historische Forschung – genährt und reproduziert wird. Die Vorstellung des bürger­lichen Reisenden von einer Flucht aus dem modernen Leben „in ein besseres Land“ (KdZ 244) hat Emmi Lewald jedoch bereits in der Novelle Herr Philipp (1897) als Wunschtraum entlarvt. Exkurs III: Das Bildungszitat bei Emmi Lewald Die Bildungsidee blieb auch nach der Gründung des Kaiserreichs für die Identität und Lebensgestaltung des Individuums in der bürger­lichen Gesellschaft von zen­ traler Bedeutung, da sie Mög­lichkeiten der Identifikation und der Abgrenzung gegen andere Gesellschaftsformationen schuf. Gemeinsames Bildungswissen wurde zu einer Form des kulturellen Kapitals, mit dessen Demonstration sich die gebildeten Bürger untereinander verständigen, aber auch von den „Halbgebildeten“ der eigenen Klasse und den Ungebildeten anderer Gesellschaftsschichten absetzen konnten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen die traditionellen sozialen und kulturellen Abgrenzungsbemühungen des Bildungsbürgertums gegenüber dem Adel nach und verstärkten sich in Bezug auf das aufsteigende Wirtschaftsbürgertum, sodass „die gebildete Fraktion dieser Klasse“ sich bemühte, „der ökonomischen Dominanz

49 Prein: Bürger­liches Reisen, S. 169.

327

328

Das literarische Werk Emmi Lewalds

der besitzenden Fraktion auch das Bildungsgut der Literaturzitate als kulturelles Kapital“50 entgegenzusetzen. Unter den Wissensgebieten des neuhumanistischen Bildungskanons 51, der seine wesent­liche Voraussetzung in der europäischen Antikenrezeption hatte 52, nahm das literarische Bildungswissen eine wichtige Position ein. Mit welchen Autoren, Werken und literarischen Stilen der gebildete deutsche Bürger vertraut sein sollte, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts in einem relativ fest umrissenen Lektürekanon festgelegt. Der Charakter dieses Lektürekanons lässt sich an den Curricula der humanistischen Gymnasien ablesen, deren Unterrichtslektüre in der Zeit des deutschen Kaiserreichs von einer in national-humanistischer Tradition stehenden, über die Grenzen Preußens ausstrahlenden wilhelminischen Literaturdidaktik bestimmt wurde.53 Im Mittel­punkt der in zahlreichen Programmschriften vorgeschlagenen Literaturkanones standen ­Lessing sowie die durch Schiller und Goethe repräsentierte Weimarer Klassik, die sowohl quantitativ als auch mit der normsetzenden Autorität ihrer Ästhetik den Unterricht dominierte. Von Werken der Romantik waren nur jene mit einer volkstüm­ lichen oder patriotischen Dimension für den Schulunterricht zugelassen.54 Märchen, Balladen, Wander- und Heimatgedichte sowie die Lyrik der Befreiungskriege fügten sich besonders gut in das „Konzept einer literarischen Nationalbildung“55 der wilhelminischen Literaturdidaktik. Auffällig ist dagegen eine prinzipielle Vernachlässigung von Erzählprosa, sodass auch der bürger­liche Realismus nicht zu schulischer Lektüre wurde.56 Der Lektürekanon und die Unterrichtsmethoden des humanistischen Gymnasiums bestimmten nachhaltig die ästhetischen Wertvorstellungen und den Geschmack des künftigen bürger­lichen Lesepublikums. 50 Norbert Mecklenburg: Zur Poetik, Narratologie und Ethik der Gänsefüßchen: Theodor Fontane nach der Postmoderne. In: Instrument Zitat. Über den literaturhistorischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren. Hg. von Klaus Beekman und Ralf Grüttemeier. Amsterdam u. a. 2000, S. 165 – 185. S. 170. 51 Fuhrmann ordnet dem Bildungskanon des bürger­lichen Zeitalters die Bereiche Literatur, Enzyklopädie, Philosophie, Geschichte, Theater, Konzertwesen, Museum, Bildungsreise, Mathematik und Naturwissenschaften zu. Vgl. Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürger­lichen Zeitalters. Frankfurt a. M. u. a. 1999. 52 Zu den Voraussetzungen für die Herausbildung des Bildungskanons gehört die fortgesetzte geistesgeschicht­liche Rezeption der Antike in Europa, die auch Basis des Neuhumanismus seit Mitte des 18. Jahrhunderts war. Wissenschaft vermittelte Antikenbild, Weimarer Klassik lieferte Weltanschauung dazu, beides wurde in den auf Humboldt zurückgehenden humanistischen Gymnasien vermittelt. Die griechisch-römische Kultur, ihre Mythologie, Kunst, Literatur und Geschichte bildeten Eckpfeiler des bildungsbürger­lichen Kanons des Allgemeinwissens. ­Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon, S. 45 ff. 53 Wolfgang Hegele: Literaturunterricht und literarisches Leben in Deutschland (1850 – 1990). Historische Darstellung – Systematische Erklärung. Würzburg 1996, S. 11. 54 Ebd., S. 13. 55 Ebd., S. 10. 56 Ebd., S. 29.

Zentrale Themen

Das prominenteste Zeugnis der bürger­lichen Zitierkultur des 19. Jahrhunderts stellt die Zitate-Sammlung des Philologen Georg Büchmann Geflügelte Worte – Der Citatenschatz des Deutschen Volkes (1864 ff.) dar. Sie enthält literarische Zitate, die als Redewendung dauerhaft Einlass in die Konversations- und Standardsprache gefunden haben und somit den „Kanon eines Bildungsdialektes“57 bildeten. „Der Büchmann“ wurde bis zu seiner 20. Auflage 1900 ständig erweitert. Der Erfolg der Zitatenschätze als Hausbücher verdeut­licht, ähn­lich wie das mit Enthusiasmus erwartete „Klassikerjahr“ 1867, die soziale Funktion der Literatur für die Konstituierung bildungsbürger­licher Identität.58 Im Zuge der Gemeinfreiheit der ‚Klassiker‘ nach 1867, welche die Produktion verhältnismäßig kostengünstiger Leseausgaben für ein breites Publikum ermög­lichte, entspann sich bald eine ausgedehnte Kanondiskussion, in deren Verlauf dem Begriff der „klassischen deutschen Literatur“ zunächst die unumstrittenen Autoren Lessing, Goethe, Schiller und Shakespeare zugeordnet wurden.59 Neben der Bibel, Luther-Texten sowie der römischen und griechischen Mythologie nahmen Zitate aus Texten dieser Autoren in allen Auflagen des „Büchmann“ quantitativ eine führende Stellung ein. In dem Maß wie das literarische Bildungszitat in der Konversations- und Alltagssprache der Verständigung über die Zugehörigkeit zur gebildeten Klasse diente, fand es seit dem Vormärz verstärkt Eingang in die Literatur, wo es das Verhältnis zwischen Autor, Text und Lesepublikum entscheidend prägte. Indem die Texte sich zunehmend nicht mehr nur auf außerkulturelle Realität, sondern auf kulturelle Erzeugnisse bezogen, trat für das Publikum an die Stelle „der kontemplativen Lektüre existentiell verbind­ licher Werke“ die „historische Quellensuche, […] das déjà-vu-Erlebnis des sich selbst bestätigenden Bildungswissens“.60 Umgekehrt ergab sich für die Autoren bald eine von den Gesetzen des Literaturmarktes geschaffene Notwendigkeit, sich auf kanonisierte Texte zu beziehen. Emmi Lewalds Bezugnahme auf die Literatur des bürger­lichen Bildungskanons soll exemplarisch anhand der häufig anzutreffenden Verfahren in ihren Texten, der Verwendung von „Geflügelten Worten“, Motto- und Titelzitaten sowie ihrer einmaligen Bearbeitung einer literarischen Adaption von Friedrich Schillers ­Ballade Der Handschuh vorgestellt werden. Als Prätexte spielt die Literatur der deutschen Klassik, vor allem Goethe und Schiller, aber auch die Literatur von populären Autoren des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle.

57 Wolfgang Frühwald: Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitats in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Hg. von Reinhart Koselleck. Stuttgart 1990, S. 197 – 219. S. 199. 58 Vgl. zum „Klassikerjahr“ Kap. 3.1.1. 59 Zur Aufnahme Shakespeares in die Reihe der Klassiker hat laut Frühwald die Popularität der Shakespeare-Übersetzung Ludwig Tiecks und Friedrich Schlegels ebenso beigetragen wie die Einzelveröffent­lichung seiner Dramen bei Reclam 1865, besonders aber die Tatsache, dass sich die Vertreter der Genie-Ästhetik auf ihn beriefen. Vgl. Frühwald: Büchmann und die Folgen, S. 202 f. 60 Ebd., S. 206.

329

330

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Die „landläufigen Zitate“ in Büchmanns Zitatensammlung, die ihren Ursprung in der Bibel, der griechischen Mythologie, Predigten, Liedern und Dramen haben, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um immer neue Lektürezitate ergänzt. Da die „Geflügelten Worte“ als Kanon des bürger­lichen Bildungsdialekts einen selbstverständ­ lichen Teil der gebildeten Konversationssprache bildeten, ist ihre Verwendung in Emmi Lewalds Novellen und Romanen häufig nicht mehr als bewusste Zitatbenutzung der Autorin identifizierbar. Ausdrücke und Namen aus dem Bereich der griechischen Mythologie, die vor allem aus Homers Werken überliefert sind, gehören zum festen Bestand von Emmi Lewalds literarischen Texten. In den häufigsten Fällen wird mit der unmarkierten Nennung einer mythologischen Figur auf deren, in der entsprechenden Sage thematisierten, spezielle Eigenschaften verwiesen. In der Novelle Fräulein Kunigunde (1894) bemüht die Figur Nancy die sprichwört­liche Herkules-Kraft, um die Dimension ihrer Bemühungen zum Ausdruck zu bringen, der vorurteilsvollen und arroganten Freundin bürger­liche Tugenden einzubläuen: „Dir Vernunft zu predigen, ist eine Arbeit, mit der am Ende Herkules selbst nicht fertig geworden wäre!“ (FK 29). Die Lage eines gefangenen Seehundes wird mit Nennung des Tantalus veranschau­licht, mit dessen Namen der gebildete Leser die Tantalusqualen assoziiert. Der Gebrauch der „Geflügelten Worte“ bleibt in Lewalds Werken vor dem Ersten Weltkrieg charakteristisch für die Konversationssprache der bildungsbürger­lichen Figuren, so etwa in der Novelle Die Rose (1912), in der Herr Becker die idealistisch-sentimentale Neigung seiner Tochter Ina als deren „Achillesferse“ (o. P., SW 101) und der Hausfreund der Familie Becker die Entwicklung Melittas zur Emanzipierten als „Metamorphosen“ (o. P., SW 102) bezeichnet. Neben den Mythologiebezügen haben von Bibelzitaten abgeleitete sprichwört­liche Wendungen und Ausdrücke aus dem deutschen Sagenschatz, hier sei beispielhaft die „Blaue Blume“ als Losungswort der Romantik genannt, einen festen Platz in Emmi Lewalds Werken, in der Konversationssprache der Figuren ebenso wie in der Erzählerrede. Über Klassiker, Mythos und Bibel hinaus stellt Emmi Lewald Bezüge zu stark rezipierten Autoren des gesamten 19. Jahrhunderts her, die unterschied­lichen Stilrichtungen und Epochen zuzurechnen sind. Vertreter des Jungen Deutschland wie Heinrich Heine und Franz von Dingelstedt sind ebenso darunter vertreten wie Heinrich von Kleist, der Lyriker Theodor Körner und Ernst von Wolzogen mit seinem Die tolle Comteß, dessen Publikation beim Erscheinen von Fräulein Kunigunde gerade einmal vier Jahre zurücklag. Neben Sentenzen und Redewendungen verwendet Emmi Lewald für ihre Werke Bildungs- und Literaturzitate häufig in Form von Mottozitaten. Als Motto und damit in der Form des Zitats angebracht, „das im allgemeinen an den Beginn eines Werkes oder eines Werkabschnittes gesetzt wird“61, erhält der Verweis auf Bildungsklassiker

61 Gerard Genette: Paratexte. Mit einem Vorw. von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Honig. Frankfurt a. M. 1989, S. 141.

Zentrale Themen

eine exponierte Stellung. Der zitierte Autor und die Funktion der Motti geben weiteren Aufschluss über den Zitatbereich und über eine Literaturtradition, in die Emmi Lewald ihre Texte stellt, wenn sie die „Bürgschaft“ kanonisierter Autoren nutzt.62 Die Wirkung der indirekten Bürgschaft, bei der die Nennung des Namens des zitierten Autors die Hauptsache darstellt, spielt insbesondere in Emmi Lewalds Etablierungsphase im literarischen Feld eine Rolle, in der sie häufig Motti benutzte. Ihrem ersten Gedichtband Der Cantor von Orlamünde (1889) stellt Emmi Lewald auf dem Titelblatt unter Nennung des Autorennamens und der Quelle ein Zitat aus dem 1878 erschienenen Epos Dreizehnlinden von Friedrich Wilhelm Weber (1813 – 1894) voran: Nicht für viele, nicht für manche Nur für diesen, nur für jenen, Der – abseits der großen Straße Lauschen mag verlornen Tönen – –. Weber (Dreizehnlinden.)

Mit der Bezugnahme auf Webers in der Zeit des Kaiserreichs hoch geschätztes natio­nalistisches Geschichtsepos, das einen Abschnitt der deutschen Geschichte, den Kampf zwischen Sachsen und Franken, heidnischen Glaubensformen und Christentum mit Perspektive auf die Reichsgründung ausgestaltete, beschwört Emmi Lewald die Tradition einer deutschen Nationalliteratur.63 Die national-romantische Tendenz des zitierten Werks korrespondiert hier mit der großen Zahl an romantischen Bezügen in Der Cantor von Orlamünde sowie der dominierenden Wander- und Heimatthematik des Gedichtbands. Auch das Motto aus Goethes West-öst­liche[m] Diwan (1819), das Emmi Lewald ihrer Novelle über weib­liches Emanzipationsstreben und 62 Beispiele für Emmi Lewalds Verwendung von Motti finden sich neben diesen exemplarisch ausgewählten Beispielen in Werken ihrer gesamten Schreibperiode. In Italienische Landschaftsbilder (1897) ist ein durch Anführungsstriche markierter Vers Paul Heyses als einziges Motto dem Kapitel „Der Hain der Egeria“ vorangestellt [„Du sagumklungen, quellenkühles Thal / Dem zwei Jahrtausende vorübergingen / Seit Numa sich zu seiner Nymphe stahl…“]. Der Novellenband Kinder der Zeit (1897) trägt als Motto einen Vers aus Goethes Torquato Tasso (3. Aufzug, 2. Auftritt), wobei der zitierte Autor nament­lich genannt wird [„So selten ist es, daß die Menschen finden, / Was ihnen doch bestimmt gewesen schien, / So selten, daß sie das erhalten, / Was auch einmal die beglückte Hand ergriff ! / Es reißt sich los, was erst sich uns ergab,/Wir lassen los, was wir begierig faßten. / Es giebt ein Glück, allein wir kennen’s nicht: / Wir kennen’s wohl, und wissen’s nicht zu schätzen.]. Direkt unter dem Titel der Novelle Erdgeruch (1904) erscheint der vorläufig anonym bleibende Vers „Hinter den Gittern schlafgebannt / Rauschen im Traum meiner Jugend Gärten…“. Der als Aufsatz in Velhagen & Klasings Almanach erschienene Text Der Backfisch. Eine zeitgemäße Betrachtung (1912) trägt als Motto einen Vers von Heinrich Heine [„Wo sind die Rosen, deren / Blüten mich einst erquickt?!“]. Noch dem Nachkriegsroman Lethe (1924) stellt Emmi Lewald auf dem Titelblatt als Motto einen Vers des Dichters Emanuel Geibel voran [„Oh, gib mir Lethe! Lethe, / mich zu tränken!“]. 63 Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 231.

331

332

Das literarische Werk Emmi Lewalds

kleinstädtische Vorurteilsstrukturen Sturm im Wasserglas (1894) voranstellt, hat zum einen die Funktion, die Bürgschaft des großen Dichternamens zu nutzen, stellt zum anderen bereits einen Kommentar zum Text dar, dessen Sinn sich dem Leser im Laufe der Lektüre erschließt. Das Motto „Höchstes Gut der Erdenkinder, Ist doch die Persön­lichkeit“64 schließt an den Toleranzgedanken des Prätextes an und nimmt ihn für die in der Novelle propagierten Rechte der Frauen auf persön­liche Entwicklungs- und Bildungsfreiheit in Anspruch. Auch für die ebenfalls exponierten Titelzitate nutzt Emmi Lewald den Verweis auf Werke zeitgenössischer Dichter ebenso wie auf die der deutschen Klassiker. Für den Titel des Stimmungsbildes Im Zwie­licht der Gefühle (1897) greift die Autorin auf eine Zeile aus Paul Heyses Gedicht Melusine (1850) zurück. Neben der Verbeugung vor dem von ihr verehrten Dichter, den sie erst 1895 um dessen kritische Beurteilung eines frühen Novellenbandes gebeten hatte, lassen sich deut­liche Parallelen zwischen dem von Emmi Lewald oft genutzten epochetypischen Bild der weib­lichen Nixe und dem Inhalt des kurzen Prosatextes erkennen. Die unberechenbare, für den Menschen gefähr­liche Weib­lichkeit der Melusine steht für die Gefühlsseite des Protagonisten, eines rational denkenden und handelnden Großstädters, der durch die Erinnerung an das schmerzhafte Ende einer Liebesbeziehung kurzzeitig intensiv mit der Gefühlsseite seiner Persön­lichkeit konfrontiert wird. Als Titelzitat fungiert in einem weiteren Stimmungsbild der Autorin, „Der Mensch mit seiner Qual“ (1898)65, ein Zitat aus dem 5. Aufzug von Friedrich Schillers Trauerspiel Die Braut von Messina. Der Vers aus dem Chorgesang wird in der Novelle erneut zitiert: Auf den Bergen ist die Freiheit! Der Hauch der Grüfte Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte, Die Welt ist vollkommen überall, Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.66

Das Zitat steht zu Beginn der Handlung mit den Ereignissen des Prosatextes nur in einem losen Zusammenhang, da es dem bürger­lichen Protagonisten willkür­lich während seiner Wanderung in einer idyllischen thüringischen Waldlandschaft durch den Kopf geht. Die düsteren Zeilen aus Schillers der Tradition der griechischen Tragödie verpf­lichtetem Drama erweisen sich jedoch als Vorbote für die tragische Lebensgeschichte, die der Wanderer später von seiner Reisebekanntschaft erzählt bekommt, einem Offizier, dessen Freundin einst durch seine Mitschuld ums Leben gekommen war. 64 Vgl. Roland: Sturm im Wasserglas, S. 581. 65 Roland, Emil: (Emmi Lewald): „Der Mensch mit seiner Qual.“ In: Die Frau 5 (1897/98), H. 11 (Aug. 1898), S.  649 – 662. 66 Ebd., S. 649.

Zentrale Themen

Eine in ihrem Werk einmalige Form der Klassiker-Rezeption stellt Emmi Lewalds Adaption von Friedrich Schillers Ballade Der Handschuh (1797) in der pseudonym publi­zierten Novelle Fräulein Kunigunde (1894) dar. Im Rahmen eines Gattungswechsels überführt die Autorin Schillers mehrstrophiges erzählendes Gedicht in die Form einer „Bade-Novelle“, wie die Gattungsangabe des Textes Fräulein Kunigunde lautet.67 Dabei übernimmt sie vom Prätext nicht nur die beiden Hauptfiguren Ritter Delorges und Fräulein Kunigunde, die sie unter den Namen Arthur Otfried und Lucy zu den Protagonisten der Novelle macht, sondern auch dessen Grundthema und zentrale Handlungselemente. Neben dem nach der weib­lichen Hauptfigur von Schillers Ballade benannten Titel, der dem Leser bereits vor Lektürebeginn die intendierte Bearbeitung signalisiert, verweist zusätz­lich eine ganze Reihe von markierten und unmarkierten wört­lichen Zitaten auf die Vorlage. Schillers achtstrophige Ballade, die er nach einer wahren Begebenheit am Hof des französischen Königs Franz I. angefertigt haben soll, handelt vom Missbrauch einer Liebe.68 Emmi Lewald überführt die Handlung in ihrer Novelle in die Zeit um 1900 und siedelt sie auf einer Nordseeinsel an, wo sich der bürger­liche Gelehrte Arthur Otfried und die verwöhnte Adelige Lucy während einer Erholungsreise begegnen. Während Otfried bald um die anmutige Lucy zu werben beginnt, begegnet diese ihm aufgrund des Standesunterschieds mit hochmütiger Kälte. Im gesellschaft­lichen Kontext kommt es eines Tages zu einem Gespräch über Literatur, in dessen Rahmen sich die beiden Protagonisten in eine Diskussion über Schillers Handschuhballade verstricken (FK 64 ff.). Das Gespräch dient der Figurencharakterisierung, indem es Otfrieds umfassende Kenntnis kanonischer Texte sowie die Bildungsferne der Adeligen Lucy aufzeigt. Diese deutet näm­lich entgegen dem herkömm­ lichen Interpretationsansatz und ihrer Natur gemäß das Edelfräulein Kunigunde als überlegenen Part der Ballade. Neben dem deut­lichen Verweis auf den Balladentitel kennzeichnet Lucys Abschiedssatz „Gute Nacht, Ritter Delorges!“ (FK 70) an dieser Stelle die Übertragung der Balladenhandlung auf die Novelle. Neben dem Standesunterschied der Protagonisten und deren charakter­lichem Gegensatz von Ritter­lichkeit und Hochmut übernimmt Emmi Lewald auch die von dem gebildeten Leser zu erwartende Mutprobe des Ritters, der in Auseinandersetzung mit den 67 Vgl. zum Gattungswechsel Bernd Lenz: Intertextualität und Gattungswechsel. Zur Transformation literarischer Gattungen. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich, Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 158 – 178. 68 Während König Franz und sein Gefolge im Löwengarten einem Tierkampf beiwohnen, lässt die Edelfrau Kunigunde ihren Handschuh zwischen die Raubkatzen fallen und fordert ihren Bewerber Ritter Delorges auf, ihr das Kleidungsstück als Beweis seiner Liebe zurückzubringen. Unter Staunen und Grauen der Zuschauer erfüllt Delorges Kunigundes Wunsch. Auf die ­Tribüne zurückkehrend schlägt er jedoch ihren Dank aus, wirft ihr den Handschuh ins Gesicht und verlässt sie. Vgl. Friedrich Schiller: Der Handschuh. Erzählung. In: Schillers Werke, 4. Bd. Dramen IV, Gedichte. Köln 1999, S. 254 – 256.

333

334

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Naturgewalten unter existenzieller Gefahr einen Liebesbeweis erbringt. Verlangt das Edelfräulein in Schillers Ballade, der Ritter möge ihren Handschuh aus einem Zwinger voller Raubkatzen bergen, ist es in der Novelle ein Armband, das Lucy Arthur Otfried bei steigender Flut zu suchen auffordert. Doch Otfried hatte kurz zuvor bereits die unvernünftige Lucy selbst aus einer lebensbedroh­lichen Situa­tion bei Springflut gerettet, was diese allerdings als Zudring­lichkeit empfand und ihn als „Plebejer“ (FK 83) beschimpfte. Die Beleidigung löst Otfrieds Abwendung von der Angebeteten aus, die er sich verabschiedend als „Fräulein Kunigunde“ (FK 85) bezeichnet. Als ihm die Gerettete, von ihrem Vater zur Räson gebracht, ihren Dank antragen möchte, antwortet Otfried brief­lich mit Schillers Worten: „Den Dank, Dame, begehr’ ich nicht – “ (FK 93). Zwischen dem Prätext Der Handschuh und dem Text Fräulein Kunigunde ist daher „eine Übereinstimmung in wesent­lichen Textmerkmalen und -elementen zu registrieren“69. Darüber hinaus schafft Emmi Lewald eine zweite, selbstreferenzielle Bezugsebene, indem sie ihre beiden Hauptfiguren ein Literaturgespräch über die Handschuhballade führen lässt (FK 68 ff.) und deren Standpunkt und Interpre­tation der Balladenaussage wiederum zur Figurencharakterisierung einsetzt: Otfrieds Wunsch, das Sprechen über Literatur als Mittel der Konversation einzusetzen, mittels der Verständigung über gemeinsame Bildungsinhalte den Standesunterschied zu überwinden und eine gemeinsame Basis mit der verehrten Frau herstellen, kennzeichnen ihn ebenso als echten Bildungsbürger wie seine angemessene Interpretation der Balladenaussage. Die hochmütige Lucy dagegen offenbart in dem Literatur­gespräch nicht nur ihr mangelndes Schillerverständnis, sondern auch genau jene Charakterschwächen, die der Protagonistin der Ballade, Fräulein Kunigunde, ebenfalls zu eigen sind. Die Autorin führt ihre Thematisierung der mit dem bildungsbürger­ lichen Selbstverständnis eng verbundenen Bezugnahme auf kanonisierte Literatur in Fräulein Kunigunde sogar noch einen Schritt weiter und eröffnet eine selbstreflexive Ebene, wenn sie Gesprächssituationen gestaltet, in denen sich die Figuren über die gesellschaft­liche Praxis des Zitierens selbst unterhalten. Während der Betrachtung eines Sonnenuntergangs auf der Insel zitieren einige Badegäste eifrig aber fehlerhaft ihre Lieblingsdichter, wofür sie von den gebildeten Figuren Arthur und Nancy ironisch und schonungslos als „Halbgebildete“ entlarvt werden: „Armer Heine! Fuhr sie [Anm. Nancy] fort, ich glaube immer, er würde es besonders schmerz­lich empfin­den, wenn er sich von so emphatischen Nachgeborenen korrigieren hörte“ (FK 58). Emmi Lewalds literarische Adaption von ­Schillers Handschuh-Ballade in der Novelle Fräulein Kunigunde spiegelt daher nicht nur die ausgesprochene Schillerbegeisterung des 19. Jahrhunderts wider, sondern trägt durch die kritische Betrachtung der Zitatverwendung in der bürger­lichen Konversationskultur auch Anzeichen 69 Lenz: Intertextualität und Gattungswechsel, S. 162.

Zentrale Themen

einer Ende des Jahrhunderts populär werdenden selbstreflexiven Bildungskritik, die auf den verding­lichten Charakter des Bildungswissens und die soziale Funktion der bürger­lichen Zitierkultur abzielte.70 Besonders der Bereich der Prätexte lässt darauf schließen, dass Emmi Lewald sich der bürger­lichen Bildungstradition verpf­lichtet fühlte und mittels des Bildungszitats, der Nennung kanonisierter Autoren und Werke im Titel- und Mottozitat bzw. der Adaption von Schillers Handschuh-Ballade gezielt eine Kommunikationssituation mit dem bildungsbürger­lichen Lesepublikum herzustellen versuchte, die auf einer Wiedererkennung des Bildungswissens durch den Leser beruhte und letztend­lich als Marktstrategie fungierte. 4.2.2 Beziehungen im Wandel 4.2.2.1 Frauenfiguren – von Blaustrümpfen und Kleinstadtmädchen Die Frauenfiguren in Emmi Lewalds Werk zeigen viele Facetten und sind im Laufe des Produktionszeitraumes der einzelnen Texte einem Wandel unterworfen. In den frühen Novellen sind sie im Rahmen der allgemeinen, teils humoristischen Gesellschaftsschilderung noch stark typisiert. Aber bereits mit dem Roman Sein Ich (1896) legt die Autorin ihre erste literarische Auseinandersetzung mit den Ideen der bürger­ lichen Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor und führt mit der bürger­lichen Ottilie Wächter die erste ihrer komplexen, individuellen Frauenfiguren ein, die im Laufe der Novellen- oder Romanhandlung eine persön­liche und weltanschau­ liche Entwicklung durchleben.71 Im Folgenden werden die wichtigsten Frauentypen, zu denen beispielsweise die ‚fremde‘ Mutter, das kleinstädtische Mädchen, das ‚späte‘ Mädchen, die moderne arbeitende Frau und die oberfläch­liche Großstädterin gehören, vorgestellt. Von besonderem Interesse sind dabei die drei erkennbaren Ausprägungen der ‚neuen Frau‘, die Großstädterin, die Frau zwischen alter und neuer Frauenrolle und die berufstätige Frau. Diese modernen Frauenfiguren hat Emmi Lewald häufig als Protagonistinnen verwendet und ihrer Darstellung besondere Sorgfalt angedeihen lassen, was darauf hindeutet, dass die literarische Präsentation dieser Frauenfiguren das besondere Anliegen der Autorin war. Es handelt sich um die komplexeren Hauptfiguren der großen Frauenentwicklungsromane Sein Ich (1896), Sylvia (1904), Das Hausbrot des

70 Vgl. Julia Encke: Kopierwerke. Bürger­liche Zitierkultur in den späten Romanen Fontanes und Flauberts. Frankfurt a. M. 1998, S. 29 ff. 71 Eine Ausnahme bilden die talentierten Künstlerinnen in den Novellen Die Globustrotterin (1898), Irmengard Henneberger (1898) und Das Schicksalsbuch (1900), die Emmi Lewald mit einer ‚abgeschlossenen‘ Persön­lichkeit ohne Entwicklungsbedarf ausstattet. Vgl. zu den Künstlerinnenfiguren 4.2.2.3.

335

336

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Lebens (1907) und Die Rose vor der Tür (1911) sowie der Romane Die Wehrlosen (1910), Das Fräulein aus der Stadt (1929) und Büro Wahn (1935). Frauentypen Emmi Lewalds Vorliebe für typisierende Charakterbilder zu Beginn ihrer Schaffensperiode, die insbesondere in den Offizierstypen der satirischen Charakterstudie Unsre lieben Lieutenants 1888 ihren Ausdruck fand, findet sich auch bei ihren frühen Frauen­ figuren wieder. In der Novelle König Enzio’s Leidenschaften (1891) erzählt ein junger „Damenherr“ (EuH 3) einem Schriftsteller in einer Weinschenke von den Lieben seines Lebens, und dieser nutzt die Gelegenheit, um für seine literarische Arbeit Mädchencharakteristiken anzufertigen.72 In diesem Rahmen begegnen dem Leser der „Blaustrumpf“ (EuH 5), die nicht-standesgemäße Angebetete, mit der eine Heirat für den jungen Mann unmög­lich ist, sowie die unattraktive, aber finanziell „brillante Parthie“ (EuH 9), die als pragmatisch-vernünftige Heiratsmög­lichkeit den Beifall der Familie und der Gesellschaft findet. Des Weiteren werden als Typen die als ‚reine Unschuld‘ verehrte Schauspielerin und die gegensätz­lichen Schwestern (EuH 15) behandelt. Bei dem letzten Typ der romantischen, schüchternen und sensiblen Angebeteten, die an das Frauenideal des 18. Jahrhunderts erinnert (EuH 17), handelt es sich um die Braut des jungen Erzählers und somit um seinen bevorzugten Frauentyp. Diese in Emmi Lewalds früher Novelle genannten, eindimensionalen Typen kehren in den späteren Texten häufig als Nebenfiguren wieder. Stereotype Frauenbilder wie der ‚Blaustrumpf‘, das ‚späte Mädchen‘, der ‚Goldfisch‘73 oder die ‚Schauspielerin‘ werden als selbsterklärend angenommen und ihre Verwendung setzt voraus, dass der Leser mit ihnen ganz bestimmte Personenzeichnungen und gesellschaft­liche Rollen verbindet.74 Die junge Philosophiestudentin Ellen Schmidt aus dem Roman Sylvia (1904) kann beispielsweise als exemplarisch für die Figur des ‚Blaustrumpfes‘75 genannt werden, weil die so bezeichneten Frauenfiguren sich in Emmi Lewalds Texten durch ein relativ verläss­ liches Profil auszeichnen: sie sind intelligent und erfolgreich, körper­lich unattraktiv, gesellschaft­liche Außenseiterinnen, üben keine Mutterrolle aus und stehen nicht im Mittelpunkt männ­lichen romantischen Interesses.

72 Emil Roland: König Enzio’s Leidenschaften. In: ders.: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen. Jena Mauke 1891, S. 3 – 18. 73 Der Begriff bezeichnet in dem Roman ein Mädchen, das aufgrund des ökonomischen Kapitals ihrer Familie umworben wird (vgl. BB 194). 74 Zur Darstellung der Frau und ihrer gesellschaft­lichen Rollen in der französischen Kunst und Literatur vgl. Beatrix Schmaußer: Blaustrumpf und Kurtisane. Bilder der Frau im 19. Jahrhundert. Hg. von Peter Dinzelbacher. Zürich 1991. 75 Vgl. zur Geschichte des Begriffs „Blaustrumpf“ ebd., S. 144 ff.

Zentrale Themen

Sie war doch ziem­lich häß­lich und mucksch dazu, und niemand mochte sie recht. […] Auf dem Parkett blühten ihre Lorbeeren doch nicht; sie wollte sich frei machen und nach Zürich gehen und ihren philosophischen Doktor machen. Philosophie sei immer ihr Steckenpferd gewesen, aber das hätte in Gnesen niemand verstanden – höchstens Landeck, aber für den sei weib­licher Geist nur dann anziehend, wenn er in einer schönen Hülle steckte. (Sy 560)

Die relative Geschlechtslosigkeit der emanzipierten Frau wird bei Ellen Schmidt durch ihren kurzen Haarschnitt, einen „resoluten Schritt“ (Sy 834) und die Tatsache angedeutet, dass sie mit ihrem späteren Ehemann, dem Historiker Herrmann, keine Liebesbeziehung, sondern eine „Kameradenehe“ (Sy 932) eingeht. Die fremde Mutter Der Typ der zugezogenen, angeheirateten und daher ‚fremden Mutter‘ findet sich des Öfteren in Emmi Lewalds Texten und erfüllt die Funktion, eine vom bodenständigen, konventionellen Familiencharakter abweichende Mentalität einer Tochter oder eines Sohnes zu erklären. Die Mutter stammt in diesen Fällen aus dem europäischen Ausland wie die Dänin Agnes Thorensen in Der Magnetberg (1910) und die Belgierin Gräfin Othmar in Fräulein von Güldenfeld (1922) oder kommt aus einem entfernten deutschen Kleinstaat. In die Familienkonstellation bringen diese Mutterfiguren aufgrund ihrer Abstammung teilweise besonders freisinnige, unkonventio­ nelle Ansichten ein, die sich als fremder „Einschlag“ auf einzelne Kinder vererben.76 Teilweise verkörpern die Mütter auch ledig­lich eine mensch­lichere, tolerantere und herz­lichere Mentalität in einer in Konvention und Tradition erstarrten Familie. Die Mutter von Ottilie Wächter in Sein Ich (1896), so wird am Rande erwähnt, kommt aus einem nicht näher bezeichneten Kleinstaat (SI 90) und war seit ihrer Hochzeit in der dekadenten Industriellenfamilie Wächter durch ihre Emotionalität, Mitgefühl und Faible für klassische Bildung als wesensfremde Person aufgefallen. Nach dem Tod ihrer Mutter und dem Zusammenbruch der Familie reist Ottilie in deren Heimat 76 Emmi Lewalds Gestaltung des Frauentypus der „fremden Mutter“ verweist auf den Einfluss zeitgenössischer Bevölkerungs- und Rassentheorien. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich im Zuge des naturwissenschaft­lichen Fortschritts (Charles Darwins Schrift Die Abstammung des Menschen erschien in Deutschland 1871) Gesellschaftstheorien entwickelt, die einem rein biologistischen Denken verpf­lichtet waren und soziale Prozesse mit Naturgesetzen zu erklären versuchten. Mit dem Soziallamarckismus und Sozialdarwinismus entstanden zwei konkurrierende Positionen, welche die zeitgenössischen Vorstellungen von der mensch­lichen Natur und von gesellschaft­lichen Entwicklungs- und Verstädterungsprozesse nachhaltig beeinflussten. Die soziallamarckistische Lehre vertrat den Gedanken, die Umweltbedingungen und das soziale Milieu eines Menschen schlügen sich unmittelbar in seinem Erbgut nieder und würden als geistige und körper­liche Veränderung an die Nachkommen weitervererbt. Zu den bedeutendsten Vertretern des Soziallamarckismus gehörten Auguste Comte und Herbert Spencer. Rolf Peter Sieferle / Clemens Zimmermann: Die Stadt als Rassengrab. In: Die Großstadt als „Text“. Hg. von Manfred Smuda. München 1992, S. 53 – 71. S. 54 ff.

337

338

Das literarische Werk Emmi Lewalds

und sucht die entfernten Verwandten, „Menschen in den denkbar einfachsten Verhältnissen, aber Menschen mit gesunden Sinnen und warmen Herzen“ (SI 90). Die Mutterfigur Erika in der Novelle Der Mangel an Ernst (1919) stammt aus Thüringen und wird vom Bruder des verstorbenen Mannes für den leichtlebigen Charakter ihres Sohnes Erich verantwort­lich gemacht.77 Er billigt den ruhigen, ernsten Charakter ihrer Zwillingstöchter, den sie seiner Meinung nach von dem aus Hannover stammenden Vater ( Jurist) geerbt haben, […] während die Mutter da so irgendwo aus dem Thüringischen stammte, wo bekanntermaßen zwar die Leute lustiger sind, aber durchaus nicht immer jene wünschenswerten Schwergewichte in der Seele tragen, wie das seiner Ansicht nach die in der Provinz H ­ annover Geborenen fast ausnahmslos in erfreu­licher Weise tun… (IjJ 56)78

Die ehemalige Hofdame Gräfin Othmar in dem Roman Fräulein von Güldenfeld (1922) stammt aus dem französischsprachigen Teil Belgiens und hat den Grafen Othmar der kleinen norddeutschen Residenz geheiratet. Dort erscheint sie als „Wesen aus einer ganz anderen Welt“ und verkörpert zudem noch den „Gegensatz von schwerfälligem deutschen Norden und leichter belgischer Beweg­lichkeit“ (FvGü 95, 99). Wird der Charakter der ‚fremden Mutter‘ in Emmi Lewalds Texten meist als positiver Einfluss gedeutet, führt er im Falle der Gräfin zu einem Betrug und dem unglück­lichen Ende der Ehe. Kleinstädtische Mädchen Einen weiteren wichtigen Frauentyp stellt das länd­liche oder kleinstädtische Mädchen aus den höheren, bürger­lichen Gesellschaftskreisen dar. Diese ‚echten jungen Mädchen‘ verkörpern aus Sicht des Erzählers und der anderen Figuren das traditionelle bürger­ liche Frauenideal, da angenommen wird, dass sie in kleinstädtischer Abgeschiedenheit im Gegensatz zu den Großstädterinnen einen tugendhaften, naiven, ‚unverbildeten‘ Charakter behalten haben und mit den modernen Strömungen der Frauenbewegung noch nicht in Berührung gekommen sind.79 Um solch ein natür­liches, ruhiges und demütiges Mädchen nach konservativem Schema zu finden, reist der heiratswillige 77 Emil Roland: Der Mangel an Ernst. In: ders.: In jenen Jahren. Novellen. Berlin G. Stilke 1919, S. 45 – 80. 78 Die Ehekonstellation der Thüringerin mit einem aus dem nordwestdeutschen Raum stammenden Juristen mag ihr Vorbild in der Ehe der Eltern Emmi Lewalds gehabt haben. Ihr Vater, der Jurist Günther Jansen, stammte aus einer jeverländischen Beamtenfamilie, während ihre Mutter Marie Frommelt aus Thüringen stammte. 79 Neben den ausgewählten Beispielen vgl. auch die Verwendung der Frauenfigur in dem Roman Der Magnetberg (1910). Anka Thorensen betrachtet ihr altes Leben in Kleinstadtverhältnissen als rückständig und unselbstständig und fällt ein negatives Urteil darüber: „Die Bildungssphäre derartiger kleiner Nester ist eben doch so rückständig, daß man sich, von dort kommend, eigent­lich kaum zu den Menschen im höheren Sinne, rechnen kann. Die Knechtschaftsexistenz, die wir zwischen

Zentrale Themen

Beamte Georg Werther in dem Roman Unter den Blutbuchen (1914) in seine Heimatstadt Neuenkirchen und trifft dort in Gestalt der hübschen Präsidententochter Erika Winfried und ihren sechs jüngeren Schwestern vermeint­lich sein Ideal an: „Und neben ihm Erika, immer wechselnd zwischen rot und blaß, lieb und gutartig in allem, was sie sagte, eine junge, ihrer selbst unbewußte Schönheit, die sich mit ein paar tadellosen Kleidern beinahe zu etwas Preisgekröntem machen ließ“ (BB 111). Einen festen Bestandteil der Darstellung kleinstädtisch-bürger­licher Mädchenund Frauenexistenzen bei Emmi Lewald bildet die Klage über die Eintönigkeit des Alltags, die Langeweile und Erlebnisarmut. So lebt beispielsweise die Jugendliebe des Protagonisten in der Novelle Erdgeruch (1904) im Gegensatz zu ihm noch in seiner norddeutschen Heimatstadt und ist seiner großstädtischen Auffassung nach die „Reinkultur einer Mädchengattung, die anderswo im Aussterben begriffen ist und nur in Winkeln noch in der Vollendung gedeiht“ (SchB 290). Die Frauenexistenz in dem konservativen Milieu unterscheidet sich in ihrer Eintönigkeit, Korrektheit aber auch existenzieller Zufriedenheit stark von den ihm bekannten städtischen Frauenexistenzen. […] so, wie sie heute dasaß, konnte sie sitzen allabend­lich, bis sie hundert Jahre alt wurde. Die ganze Verwandtschaft behäkeln, Blumen begießen, durch den Schloßpark wandern – damit war ihr Leben ausgefüllt. Linchen dankte ihrem Schöpfer, wenn sie nur Ruhe hatte, ihre Häkelarbeit, reich­lich Nahrung und Achtung der Mitmenschen – vielleicht noch jedes zweite Jahr eine Reise zur Porta Westfalika, dem süd­lichsten Punkt, an dem sie gewesen. (SchB 290)

Eine ähn­liche Darstellung des Frauenlebens im kleinstädtischen Milieu findet sich in dem Roman Das Hausbrot des Lebens (1907), in dem der fortschritt­lich gesinnten Asta beim Lesen des literarischen Lebensberichts einer alten unverheirateten Bekannten bewusst wird, welches Schicksal die ledigen Frauen ihrer Heimatstadt durchleben. Überall in den kleinen Städten, die so harmlos und fried­lich in deutschen Ebenen liegen, sitzen Mädchen an Blumenfenstern und machen Handarbeiten und gießen Tee ein, Tag für Tag und Jahr für Jahr. Ihre Zeit gehört anderen, ihre Gedanken gehören anderen, sie dienen dem Familienverband ohne Anrecht, jemals kündigen zu können. […] Was nützt es ihnen, daß anderswo mit Erfolg gekämpft wird? Sie dürfen ja nicht mitkämpfen! Sie müssen Bettdecken häkeln, sie müssen die Wäsche der Brüder in Ordnung halten – sie sind unentbehr­lich im Kleinbetrieb des Hausstands. All ihre Lebensenergien zerreiben sich im Alltagskampf. (HdL 432 f.)

den vielen Tanten und Onkeln geführt haben, und die wir bei einem etwaigen Logierbesuch sofort wieder aufnehmen müßten, erfüllt uns nachträg­lich mit Grausen“ (MB 31).

339

340

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Während die meisten Texte das Thema ledig­lich streifen, stellt der Roman Unter den Blutbuchen (1914) das Alltagsleben und die Zukunftssorgen einer Gruppe junger bürger­ licher Mädchen in der Kleinstadt Neuenkirchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr detailliert dar. Ihre Chance auf ein „zweckvolles Dasein“ (BB 37) ist in dem kleinstädtischen Milieu aufgrund der finanziellen Mög­lichkeiten ihrer Eltern, den wenigen Heiratsmög­lichkeiten und den fehlenden gesellschaft­lich akzeptierten Alternativen zum Eheleben äußerst gering. Die Gespräche bei ihren geselligen Zusammenkünften drehen sich um die Hoffnung auf einen passenden Ehekandidaten unter den Offizieren, Verwandten oder Beamten Neuenkirchens oder die Anstellung als Hofdame. Die Chancenlosigkeit der Mädchen führt in Verbindung mit einem strengen familiären und gesellschaft­lichen Rahmen, der ihnen eigenständiges Handeln, weitergehende Bildung und das Ergreifen eines Berufes verwehrt, zu der unbefriedigenden Existenz des kleinstädtischen Mädchens. Aus Sicht der aus Berlin nach Neuenkirchen gereisten Großstädterin Irmgard von Waltersberg leben die Mädchen in einer anachronistischen Situation und müssen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Konflikten stellen, die moderne Frauen im großstädtischen Milieu bereits seit über vierzig Jahren überwunden haben (BB 49). Die Neuenkirchener Elterngeneration ist selbstredend über den Besuch der großstädtischen Dame, obwohl diese keine Frauenrechtlerin ist, zutiefst beunruhigt und versucht, die Konfrontation der jungen Mädchen mit der modernen Frauenexistenz zu verhindern. Das ‚späte‘ Mädchen Eine enge Verbindung besteht zwischen den literarischen Frauenfiguren des kleinstädtischen und des ‚späten‘ Mädchens, an dessen unerfüllter Existenz die gesellschaft­liche Notwendigkeit illustriert wird, unverheirateten Frauen die Berufstätigkeit zuzugestehen. Die Wendung bezeichnet dem Heiratsalter entwachsene, ledige bürger­liche Frauen, die aus unterschied­lichen Gründen in Ehelosigkeit leben.80 In der litera­rischen Darstellung dieser Figuren werden oft eine degenerierte Körper­lichkeit, fehlender sozia­ ler Anschluss, die Rückbesinnung auf eine vielversprechende Jugend und eine entscheidende verpasste Lebenschance betont. Die Frauen führen in den Texten häufig eine Schattenexistenz als „Stütze des Haushalts“ (BB 89), leben mit ebenfalls ledigen Familienmitgliedern zusammen und engagieren sich im karitativen Bereich. In der literarischen Darstellung der Wedell-Schwestern in Unter den Blutbuchen (BB 36) wird die bedrückende finanzielle Situation lediger Frauen hervorgehoben. Für die jungen heiratsfähigen Mädchen um Erika Winfried, Lilli, Ebba und Hilde

80 Neben den ausgewählten Beispielen vgl. auch die Verwendung der Frauenfigur des ‚späten Mädchens‘ in der Gesprächsskizze von Emmi Lewald: Ein ‚spätes‘ Mädchen. In: dies.: Die Heiratsfrage. Der unverstandene Mann, ein spätes Mädchen, der Salonphilosoph und andere Typen der Gesellschaft. 4. Aufl. Stuttgart u. Berlin Deutsche Verlags-Anstalt 1913, S. 9 – 34. Das Werk erschien erstmals 1906.

Zentrale Themen

[…] saßen […] die Schwestern Wedell wie eine dauernde Mahnung an der Straße, wie eine Warnung für die jüngeren Geschlechter, ein Zukunftsbild, was mit allen diesen Jungfrauen werden würde, wenn sie nicht beizeiten Öl auf die Lampe taten… Wenn die Jahre ungenutzt hingingen, wenn sie mit ihren Schwestern einst auf der Veranda an der Buchenstraße sitzen mußte, handarbeitend Jahr für Jahr? So viel blühendes Leben ungenutzt – so viele Schicksale, nicht zur Reife gekommen? Zur Seite geschoben vor der Zeit? (BB  102 f.)

Georg Werthers Cousine Beate, die als „älteres Mädchen“ (BB 96) den Haushalt seiner Großtante führt, wird bereits auf der Beschreibungsebene ihrem gesellschaft­lichen Status zugeordnet. Ihre Jungfräu­lichkeit und soziale Einsamkeit werden mit dem geist­lichen Zölibat verg­lichen, da ihr Gesicht für Werther „nonnenhafte[n] Züge[n]“ (BB 100) hat. Die ledige Existenz trägt in Beates Fall jedoch nicht zu einer Abnahme, sondern zur Konservierung ihrer Schönheit und ihrer Lebenskraft bei, sodass Werther nicht umhinkommt, ihre ungewöhn­liche Vitalität zu bewundern, die sich in der Schönheit ihres langen Haars (BB 100) und der guten körper­lichen Kondition zeigt. Bei einer Landpartie des Neuenkirchener Bürgertums gewinnt Beate „leicht und elastisch wie eine Diana“ (BB 124) ein Wettrennen gegen einen jüngeren Offizier. Die positive Beschreibung der ledigen Beate bleibt in Emmi Lewalds Texten jedoch eine Ausnahme. Zumeist stellt die Verheiratung der Töchter eine sorgenvolle Familienangelegenheit dar, die über das Lebensglück der Tochter und über das gesellschaft­ liche Ansehen und den Wohlstand der Angehörigen entscheidet. Aus diesem Grund denkt Kammerherr von Busche in Unter den Blutbuchen in erster Linie mitleidsvoll an seine Tochter Hilde, deren Verehrer Ramin durch die Bekanntschaft mit einer reichen geschiedenen Frau von seinen Heiratsabsichten abgelenkt wird. Die öffent­lichen Klatschgeschichten haben Hildes Heiratschancen derart verschlechtert, dass ihr mög­ licherweise das Schicksal eines ‚späten‘ Mädchens bevorsteht und ihr Vater befürchtet, sie könne „hinwelken und verblühen […] ohne Liebe und eigenen Herd, […] ohne Glück und ohne Kinder hinvegetieren“ (BB 64). Die unverheirateten Frauen nehmen in den kleinstädtischen Milieus der Romane Das Hausbrot des Lebens (1907) und Unter den Blutbuchen (1914) eine untere Position in der Hierarchie der bürger­lichen Gesellschaft ein, da soziales Ansehen an den Status der Ehefrau und Mutter geknüpft ist. Diese Geringschätzung äußert sich auch bei Familienessen und gesellschaft­lichen Dinners in der Sitzordnung, die ledigen Frauen wie Aurelie in der Novelle Der Gast (1914) einen der untersten Plätze an der Tafel in der Nähe der Kinder und kompromittierten Familienmitglieder zuweist (DwP 145). Die ungleichen Schwestern Auch im Motiv der gegensätz­lichen Schwestern findet eine Auseinandersetzung mit den traditionellen Weib­lichkeitsvorstellungen und den neuen Frauenbildern der

341

342

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Jahrhundertwende statt.81 Nicht die vorlaute, ungezügelte, gutmütige Cilly Larholtz in der Novelle Cunctator (1895), sondern ihre ängst­liche, sanfte und zurückhaltende Schwester Lilly wirkt auf den jungen Arzt Arthur Keyser anziehend. Der Gegensatz der beiden Frauenfiguren spielt in der Novelle eine zentrale Rolle, indem er die Handlung voran­bringt und der Charakterisierung des männ­lichen Protagonisten als konservativen Bildungsbürgers dient, wie beispielsweise in der Situation eines Spazierganges, die der junge Arzt in seinem Tagebuch festhält: Cilly rannte querfeldein; sie ist übrigens gar nicht mein Fall; daran fühlte ich, daß ich noch Nerven habe. Lilly ging neben mir auf der Landstaße. Sie hielt genau Takt mit meinen Schritten. Sie hat etwas so Nervenberuhigendes in ihrem ganzen Wesen, dabei ist ihr Organ so weich, so gleichförmig. Gar nicht dies knarrende Gequieckse der Cilly. (KdZ 77)

Der Charakter der beiden Mädchen spiegelt sich in ihrem Äußeren, so fallen Keyser an der fröh­lichen Cilly zuerst ihre schiefgelaufenen Stiefel, ihre große Nase, runden Augen und „unvernünftig langen Hände[n]“ auf (KdZ 43). Auch ihr extrovertiertes freimütiges Verhalten passt dazu, ihre „indiskrete Art“, den in der Bahn gegenüber Sitzenden zu fixieren (ebd. 56), ihre Offenheit und Kommunikationsfreude sowie ihr wenig damenhafter Riesenhunger (KdZ 76). Lilly dagegen lernt er als träumerische, höf­liche und passive Persön­lichkeit kennen (KdZ 55), die Fremden gegenüber eine furchtsame Regung zeigt und unter einem allgemeinen „Mangel an Energie“ (KdZ 71) leidet. Äußer­lich wird sie als „hübsche, kopfhängerische Bleichsuchtskandidatin“ (KdZ 93) beschrieben. Ein nächt­licher Mädchenstreich der beiden Schwestern auf einer Ferienreise setzt ihr im Gegensatz zu der sorglosen Cilly körper­lich so stark zu, dass sie erkrankt. Von einem traditionellen Frauenideal geprägt, gibt Arthur Keyser vom Moment der ersten Begegnung an Lilly den Vorzug und bemerkt: „Ich wollte, ich hätte eine Schwester, die wie Lilly wäre! Diese hübsche Beschränktheit in vielen Dingen… Kluge Frauen sind gar nicht mein Fall, sie strengen so an!“ (KdZ 78). Durch sein zöger­liches Verlobungsverhalten erfüllt sich Keysers vager Wunsch nach einer Verbindung mit Lilly letztend­ lich nicht, während Cilly aufgrund ihrer eigensinnigen und durchsetzungsstarken Persön­lichkeit eine Liebesheirat eingehen kann. Das Motiv der gegensätz­lichen Schwestern bestimmt auch den kleinen Roman Das Glück der Hammerfelds (1900). Zunächst verliebt sich der Protagonist der Novelle 81 Neben den ausgewählten Beispielen vgl. auch die Verwendung des Motivs der „gegensätz­lichen Schwestern“ in dem Roman Der Magnetberg (1910), in dem die Schwesternfiguren Anka und ­Gunhilde Thorensen die gegensätz­lich angelegten Typen der ‚neuen Frau‘ und den des kleinstädtischen Mädchens verkörpern.

Zentrale Themen

Wolfgang Schreiner auf einer Bodenseereise in die schöne, aber lethargische Doris, die als „reine, stille Wunderblume“ (GdH 39) sein Frauenideal verkörpert. Bei seinem Verlobungsbesuch in dem Gutshaus der verarmten Adelsfamilie in Lindenheim lernt Schreiner auch Doris’ jüngere Schwester Ellen kennen, die mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Verhaltensnormen und ihrem nachlässigen Äußeren einen krassen Gegensatz zu der wohlerzogenen Doris darstellt. Im Kontext ihrer Familie wird Ellen vom Erzähler als problematisches, „ungebärdige[s] Naturkind“ charakterisiert, als „eine Art undressierter Wildling, der naturgemäß bei jedem zivilisierten Menschen auf Widerspruch stoßen mußte“ (GdH 47). Nach der Demontage von Schreiners bürger­lichem Frauenideal, die in der Handlung parallel zu seiner Aufdeckung der geldgierigen Heirats­politik der Familie Hammerfeld entwickelt wird, entpuppt sich schließ­lich die eigensinnige Ellen als positive Frauenfigur, die das Herz des Protagonisten gewinnen kann. Aufgrund ihrer bürger­lichen Ideale Bildung, Pf­licht, Arbeit und Ehr­lichkeit setzt sie sich positiv vom materiellen Nütz­lichkeitsdenken ihrer Familie und ihrer unehr­lichen Schwester ab. In dem Roman Die Frau von gestern (1920, beend. 1914) wird das Motiv der gegensätz­ lichen Schwestern umfunktioniert und dient der Gegenüberstellung zweier Varianten der modernen Frauenexistenz. Die Schwägerin der Hauptfigur Wanda, Anna von Liris, ist mit dem preußischen Staatsbeamten Georg von Liris verheiratet und hat in Edda und Dorothea zwei gegensätz­liche Töchter modernen Zuschnitts. Dorothea ist gebildet, „ein blasses, übermüdetes Geschöpf, diese junge Wissenschaftsleuchte“ (Fvg 52), und beschäftigt sich intensiv mit dem Studium der Hieroglyphen. Ihr Äußeres ist von einer „seltsam herben Apartheit“ (Fvg 55) und von einer „zarten, blutarmen Körperbeschaffenheit“ (Fvg 65). Ihre Schwester Edda dagegen ist eine selbstbewusste und unternehmungslustige Großstädterin vom Typ der „neuen“ Frau, die an der Universität Vorlesungen hört und Florett ficht (Fvg 55). Anna bereiten vor allem Eddas gesellschaft­licher Umgang und ihre Vergnügungen im Berliner Nachtleben Sorgen, die offensicht­lich gegen traditionelle bürger­liche Sitt­lichkeitskonventionen verstoßen und von der Mutter im Gegensatz zu früheren Zeiten nicht mehr kontrolliert werden können. Auch Eddas Äußeres wird von der Mutter kritisiert, denn diese findet ihren modernen Kleidungsstil und ihre Frisur mit falschen Haarteilen zu künst­lich und wünscht sich ein natür­licheres Erscheinungsbild ihrer Tochter. Die Kritik der älteren bürger­lichen Frauengeneration am Lebensstil der modernen Frauen, der hier von der Töchtergeneration übernommen wird, beruht auf der Gegenüberstellung von positiv und negativ besetzten Verhaltensformen, die als Wohlerzogenheit und Unsitt­lichkeit sowie Natür­lichkeit und Künst­lichkeit ausgelegt werden. Die Neue Frau: Die Profiteurinnen Die modernen Frauenfiguren in Emmi Lewalds Texten, die direkt oder indirekt von den Errungenschaften der Frauenbewegung profitieren und eine nicht-traditionelle Existenz führen können, erscheinen als eine recht negativ gefärbte literarische Ausarbeitung des

343

344

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Weib­lichkeitsverständnisses der „Neuen Frau“.82 Es handelt sich bei dieser Figurengruppe um selbstständige und selbstbewusste Großstädterinnen, denen eine finanzielle Absicherung einen luxuriösen berufslosen Lebensstil ermög­licht, der von gesellschaft­ lichen Vergnügungen und einer gelockerten Sexualmoral geprägt ist. Bei den „bleichen nervösen Großstädterinnen“ (BB 86) Irmgard von Waltersberg und Hilda van Stelen stehen gesellschaft­liche Erlebnisse, Reisen und moderne Vergnügen wie Automobilfahrten im Mittelpunkt des Interesses. Eine tiefe Kluft trennt sie von dem traditionellen Frauenbild, wie an der Rolle Irmgards im Gespräch mit der Gruppe Kleinstadtmädchen zu erkennen ist, besonders an ihrem Bewusstsein, „ihrer Überlegenheit, der Weite ihres erdumspannenden Horizontes, ihrer kosmopolitischen Denkungsart“ (BB 51). Irmgard von Waltersberg ist für ihren Bekannten Werther […] ein Wesen, das an sich mit der Frauenfrage gar nichts zu tun hatte, da es ihr auf irgendeine Form ernsthafter Arbeit keineswegs ankam, das sich aber von den Errungenschaften der Streiterinnen doch allerhand Vorteile nahm, das ungenierte Selbstbestimmungsrecht und ein offen zur Schau getragenes Selbstbewußtsein, durchaus unfehlbar auf der Höhe der Zeit zu stehen. (BB 24)

Während die Kleinstadtmädchen in Unter den Blutbuchen (1914) als traditionell sozialisierte junge Mädchen von natür­licher Schönheit beschrieben werden, ist die äußere Attraktivität der Großstadtdamen eine künst­liche Schönheit, der durch moderne Mittel wie Makeup, Haarfarbe und raffinierte Mode nachgeholfen wird. Hilda von Stelen wird von Erika Winfried als eine „Modeblattschönheit“ (BB 101) bezeichnet, und während sie selbst für Georg Werther „eine holde Blume aus einem wohlbehüteten Garten“ (BB 132) ist, gehören die Berlinerinnen Hilda und Irmgard zu den „Treibhauspflanzen“

82 Der Begriff der „Neuen Frau“ findet sich bei Emmi Lewald erstmals 1929 in dem Roman Das Fräulein aus der Stadt (FadS 48). Er bezeichnete in der Zeit der Weimarer Republik das zum Teil durch Medienbilder konstruierte neue Weib­lichkeitsverständnis einer jungen Frauengeneration, die sich weder am Hausfrauendasein der Muttergeneration noch an der ledigen Existenz vieler berufstätiger Frauen des Kaiserreichs orientierte, sondern nach Berufstätigkeit und einer selbstbewussten weib­lichen Sexualität strebte. In der Literatur der Weimarer Republik erscheint das Bild der Neuen Frau in Verbindung mit der Figur der Angestellten oft als Reflexion der gesellschaft­lichen Wahrnehmung neuer Formen weib­licher Berufstätigkeit. Drescher weist darauf hin, dass das im Bild der Neuen Frau verkörperte Weib­lichkeitskonzept von der bürger­lichen Frauenbewegung abgelehnt wurde. „Vor allem [die] finanzielle und sexuelle Unabhängigkeit, welche entweder den bürger­lichen Geschlechtervertrag und somit das volkswirtschaft­liche Überleben in Gefahr brachte oder aber […] die Ziele der feministischen Müttergeneration verriet, machte die Neue Frau in den Augen dieser Interessenvertreter zum Inbegriff der konsumorientierten, politisch apathischen Egoistin.“ Barbara Drescher: Die ‚neue‘ Frau. In: Autorinnen der Weimarer Republik. Hg. von Walter Fähnders und Helga Karrenbrock. Bielefeld 2003, S. 163 – 186. S. 168.

Zentrale Themen

(BB 160). An dieser Stelle kommt wieder die von Emmi Lewald bei der Charakterisierung der Frauenfiguren häufig verwendete Pflanzenmetapher zum Tragen.83 Auch die wohlhabende Freundin der Hauptfigur des Romans Das Hausbrot des Lebens (1907), Anna Melitta, profitiert von den Erfolgen der Frauenbewegung und führt als vermeint­liche Bildhauerin von ihren Eltern weitgehend ungestört in Rom eine zweifel­ hafte Boheme-Existenz mit Freunden und Bekannten beiderlei Geschlechts. Da sie den Egoismus für die größte Errungenschaft der modernen Frauen hält, missdeutet sie die am gesellschaft­lichen Nutzen orientierte Zielsetzung der Frauenbewegung. Das ist doch das große Geheimnis unserer Lebenskunst, daß wir grundsätz­lich nur das tun, was uns Spaß macht! […] Es ist das, was ich am meisten an unserer Generation bewundere, dies absolute Ich-Bewußtsein – dies totale Aufgeräumthaben mit all dem Gerümpel weib­ licher Demuts- und Aufopferungsbegriffe, derentwegen längst verstorbene Dichter unsere armen Ahnfrauen verherr­licht haben… (HdL 153)

Ein weiteres Beispiel für die erste Gruppe der modernen Frauen ist die reiche und schöne Ellen Arneborg in dem Roman Das Fräulein aus der Stadt (1929). Während ­Irmgard von Waltersberg, Hilda von Stelen und Anna Melitta von den Errungenschaften der Frauenbewegung durch die gesellschaft­liche Anerkennung ihrer selbstständigen Existenz profitieren, nutzt Ellen Arneborg die Mög­lichkeit des Studiums. Sie bezog Universitäten. Sie studierte Philosophie. Aber sie hatte es ja gar nicht nötig. Sie betrieb es etwas de haut en bas wie eine intellektuelle Spielerei. Das Studium gab eine sehr bequeme Plattform ab, um das Dasein einer ‚Junggesellin‘ ganz unbeanstandet mit allen neuen Frauenrechten zu genießen. (FadS 9)

In der Beschreibung klingt bereits eine latente Kritik an Ellens wissenschaft­licher Arbeit an – sie bemüht sich im Laufe der Handlung, eine Doktorarbeit zu verfassen –, die darauf gründet, dass sie nicht aus ernsthafter Passion und finan­zieller Notwendigkeit studiert. Dem Charakter nach wird Ellen als „moderne[s] und raffinierte[s] Geschöpf“ (FadS 9) beschrieben, als Egoistin, die unfähig zur Selbstlosigkeit und

83 Die Pflanzenmetapher verwendet Emmi Lewald in dem Roman Unter den Blutbuchen auffallend häufig bei der Charakterisierung junger Mädchen. Sie findet sich beispielsweise in der Formulierung, dass während der längeren Abwesenheit des Offiziers Ramin in Neuenkirchen eine neue Mädchengeneration „emporgeblüht“ sei (BB 56), und in jener, die jungen Mädchen „blüh[t]en und vegetier[t]en wie die Weinreben am Fenster, wie die Stockrosen auf den Beeten“ (BB 44). Eine Übertragung der Pflanzenmetapher ins Physiognomische stellt die Charakterisierung der Frauen als die „kind­lichen Kleinstadtmädchen mit den Blumengesichtern“ (BB 48) dar, ebenso wie Georg Werthers verklärende Beschreibung seiner verehrten Angebeteten Erika, diese sei „eine holde Blume aus einem wohlbehüteten Garten“ (BB 132).

345

346

Das literarische Werk Emmi Lewalds

zu authentischen Gefühlen ist. Auch das Äußere dieser Protagonistin ist mit Hilfe neuer kosmetischer Produkte verschönt, was von ihrem länd­lich lebenden Onkel Arneborg als „billige Dämonie“ (FadS 126) wahrgenommen wird. Die bürger­lichen Bewohner der Kleinstadt Süderfehn, wo Ellen mit einer Freundin Recherchen für ihre Doktorarbeit unternimmt, hängen noch dem traditionellen bürger­lichen Frauenideal an und bringen ihr schwere Vorurteile entgegen. Die konservative Pastorin Bollenhagen beschimpft sie als „gefallene Mädchen“ (FadS 192): „[D]iese Mädchen sind welche vom neuen Geschlecht! Das sind die wildgewordenen, die sich einfach alles vom Dasein nehmen, was ihnen paßt – sie umgarnen die Männer. Sie haben so verderbte Sitten“ (FadS 190). Die Protagonistin des Romans Die Frau von gestern, die ungefähr vierzigjährige Wanda von Liris, ist mit dem vielbeschäftigten Assyriologen Philipp verheiratet und unterhält nebenbei Beziehungen zu mehreren männ­lichen Freunden. Wandas Schwägerin Anna dagegen verkörpert auf vorbild­liche Weise die im Verschwinden begriffene traditionelle Frauen- und Mutterrolle (Fvg 101 ff.). Dennoch muss Anna im Laufe der Handlung feststellen, dass die an Luxus gewöhnte und in den Tag hinein lebende kinderlose Wanda nur aufgrund ihrer körper­lichen Attraktivität nachhaltigen Erfolg beim männ­lichen Geschlecht hat, während ihre eigene Konzentration auf die Rolle der Mutter und sorgenden Ehefrau vom männ­lichen Geschlecht, von der großstäd­ tischen Gesellschaft und ihrer eigenen Familie kaum gewürdigt wird. Wie Bouillon zustande kommt, ahnt sie nicht. Sie ist nicht produktiv, schreibt keine Bücher, ‚kunstgewerbelt‘ nicht einmal die kleinste Sache. Aber beim anderen Geschlecht zieht sie! Unbeirrt durch Wandlungen der Frauenfrage will das andere Geschlecht ja doch immer nur dasselbe wie immer schon! Unbelehrbar sind sie! Eine gut aussehende Eva schlägt in ihren Augen dauernd die hingebendste Menschenfreundin – Schönsein bleibt nun doch immer das wichtigste und entscheidende für eine Frau. (Fvg 58)

Da Anna unter dem Zerfall ihrer Familie im Großstadtalltag und der Überflüssigkeit ihrer Mutteraufgabe leidet, hat sie beschlossen, eine kranke Tante zu pflegen und sich in einem Säuglingsheim der Stadt Weinheim zu betätigen. In dem Roman wird das Potenzial der traditionellen Frauenrolle grundlegend infrage gestellt, da sie von gesellschaft­licher, männ­licher und familiärer Seite nicht mehr gewürdigt wird. Die „Übergangsgeschöpfe“: Zwischen den Zeiten und zwischen den Stühlen 84 Eindring­licher als die bisher genannten Frauenfiguren durchleben die Protagonistinnen der Romane Sein Ich, Sylvia und Das Hausbrot des Lebens den Konflikt zwischen der

84 Vgl. die Herkunftserklärung des Begriffs und seine Verwendung als Titel der Studie von Ludmila Kaloyanova-Slavova (1998) in der Einleitung. Neben den ausgewählten Beispielen vgl. die Präsenz

Zentrale Themen

traditionellen Frauenrolle und den sich im Zuge der Initiativen der Frauenbewegung eröffnenden neuen Bildungs- und Existenzmög­lichkeiten für Frauen. Emmi Lewalds Frauenfiguren ziehen aus dem Konflikt je nach ihren persön­lichen Veranlagungen und Mög­lichkeiten unterschied­liche Konsequenzen. In dem Roman Sein Ich (1896) erkennt der Politiker Leo – und dies kann tendenziell als Apell an ein männ­liches Bildungsbürgertum gedeutet werden – durch die Begegnung mit Ottilie Wächter die grundsätz­liche Ebenbürtigkeit der Frauen an. Entscheidend ist vor allem seine ­Reflexion über die Berechtigung der Frauen, je nach ihrem persön­lichen Potenzial alternativ zur Hausfrauen- und Mutterrolle zwischen mehreren mög­lichen Lebensentwürfen wählen zu können. Die eine, die ihre geistigen Fähigkeiten über ein paar umgestürzte Vorurteile weg kühn auf das Feld des Studiums trägt – die andere, die für die Ausübung irgend eines Talentes mutig die Berechtigung erficht – und die dritte, wie sie [Anm. Ottilie], die, ungelehrt zwar, ohne ein blendendes Talent, ihren Weg durch die Welt geht, still, einer bescheidenen Pf­licht nach, ohne ehrgeiziges Ziel, weitergedrängt von der Gewalt dunkler Verhältnisse, über die sie nicht Herr war, aber in der Art wie sie ihre Pf­licht thut, wie sie die Bürde des Lebens auf ihre jungen Schultern nimmt, wortlos einwirkt auch auf die trägsten Gemüter um sich herum. (SI 148)

Die Protagonistin ist die erste komplexe Frauenfigur in Lewalds Werk, auch wenn sie ihren wichtigsten Entwicklungsschritt bereits vor Beginn der Handlung absolviert hat. Geboren in eine reiche Industriellenfamilie, wuchs sie zur arroganten und verschwendungssüchtigen höheren Tochter heran, für die erst der Tod der Mutter und die damit verbundene Entdeckung ihrer Korrespondenz zum Wendepunkt für ihre moralische Weltsicht und Lebenspraxis wird (SI 86 f.). Mit neuen Idealen der Bescheidenheit, Pf­lichttreue, Bildung und Fürsorg­lichkeit ausgestattet, muss sie fortan hilflos den moralischen, finanziellen und gesellschaft­lichen Verfall ihrer Familie mit ansehen, der mit dem Selbstmord des Vaters, der gericht­lichen Verurteilung ihres Bruders und dem Zusammenbruch von Ottilies gesicherter Existenz endet. Auf sich allein gestellt, kommt die Begegnung mit den Ideen der Frauenbewegung für Ottilie auf ihrem Lebensweg jedoch zu spät, und sie ist nicht mehr in der Lage, sich durch Bildung eine eigenständige Existenz aufzubauen. Wenn ich von Frauen hörte oder las, die, von Anfang an geschult, auf sich selbst zu stehn, mutig hinaus treten in das Leben und ein volles Wissen, eine langausgebildete Tüchtigkeit in die Wagschale werfen, so überkam es mich fast wie Neid. Das hätte ich auch gekonnt, als ich noch jung war. […]

von ‚Frauenfiguren des Übergangs‘ in den Romanen Der Magnetberg (1910) (Gunhilde Thorensen) und Die Rose vor der Tür (1911) (Lida Eckhard).

347

348

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Ich hatte viel gelesen, ich fühlte auch, daß ich viel verstand, aber je ernst­licher ich ans Lernen ging, umso mehr sah ich: es war Stückwerk. Ich hätte am liebsten ein Seminar besucht, mich mit 25 Jahren noch zwischen die Schulkinder hingesetzt […]. (SI 100)

Bei Ottilies erstem Zusammentreffen mit dem selbstsüchtigen Karrieristen Leo erscheint die junge Frau dem verwöhnten Lebemann äußer­lich eher durchschnitt­lich attraktiv, da sie sch­licht gekleidet und einfach frisiert ist. Ihre Vergangenheit „hatte diese Züge blaß gemacht, ihnen vor der Zeit den blühenden Schmelz der Jugend geraubt, aber fein waren sie, regelmäßig und durchgeistigt, ja die Profillinie zeigte jenen Madonnenschnitt, der viele langweilt, aber auch viele begeistert“ (SI 14). Leo stört sich zunächst stark an Ottilies Unabhängigkeit und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaft­ lichen Konventionen, die insbesondere in ihrer unbegleiteten Reisetätigkeit und ihrer gesellschaft­lichen Vorurteilslosigkeit zutage tritt. Dennoch hinterlässt sie bereits nach der ersten Begegnung einen tiefen Eindruck bei ihm, da sie sich durch ihre Klugheit von den ihm bekannten Großstadtdamen abhebt und „so sicher und unbefangen und dabei so ungewöhn­lich, so anders“ (SI 27) ist, dass sie sich „wie zwei Kameraden“ (SI 28) auf gleichem Niveau unterhalten können. Im Verlauf der Handlung lernt Leo zudem Ottilies mensch­liche Qualitäten zu schätzen, ihre Charakterfestigkeit (SI 134), ihre Offenheit und ihre „aufopfernde Hingabe“ (SI 137) als Haushälterin für die Kinder seines verwitweten Bruders Oskar. Als Höhepunkt der Romanhandlung kann Leos Erkenntnis gelten, dass „so unebenbürtig, wie er geglaubt, […] die Frauen anscheinend doch nicht“ (SI 148) sind. Die Ehe zwischen ebenbürtigen Partnern ist somit zum Ideal erhoben und wird durch die langsame Annäherung Leos und Ottilies als glück­liches Ende des Romans in Aussicht gestellt. Die beidseitige Zuneigung Ottilies und Leos scheitert schließ­lich an der Unfähigkeit des charakterschwachen Leo, seinen Ehrgeiz, seinen Standesdünkel und seine Selbstsüchtigkeit überwinden und Ottilies Solidarität mit ihrem inhaftierten Bruder akzeptieren zu können. Während die männ­liche Hauptfigur zuletzt als moralischer Verlierer dasteht, trägt Ottilie durch ihre Charakterfestigkeit, die Loyalität und die Verurteilung von Leos egoistischer Position den moralischen Sieg davon, auch wenn dieser von Resignation und Entsagung begleitet wird. Ottilie muss in Auseinandersetzung mit den Erwartungen der Gesellschaft und des geliebten Mannes eine Entscheidung zwischen der traditionellen bürger­lichen Frauenrolle und den von emanzipatorischen Ideen geprägten neuen Lebensmög­lichkeiten treffen. Der Roman Sylvia (1904) ist ebenfalls ein Frauenentwicklungsroman, der die junge schöne Offizierstochter Sylvia auf dem Weg durch zwei Ehen zu der ihr angemessenen Frauenrolle aufzeigt.85 „Die kleine blonde Sylvia“ (560) ist zunächst eine ungebildete

85 Die Zitate in diesem Abschnitt stammen aus der Zeitschriftenausgabe Emmi Lewald (Emil Roland): Sylvia. Roman. In: Über Land und Meer 46 (1903/04), Bd. 46, Nr. 25 –Nr. 41.

Zentrale Themen

Offizierstochter, die allein durch ihr Äußeres zu bestechen vermag; hier ist die Rede von ihrer „blonden Schönheit“ und ihrem „reizende[n] Kopf“ (beide Sy 603). Nach bildungsbürger­lichen Maßstäben hat sie kaum literarische, historische und kunsthistorische Bildung genossen, weshalb sie bei der Begegnung mit dem potenziellen Heiratskandidaten Professor Ulrich Thomsen Angst vor einem „geistigen Hereinfall“ (Sy 580) hat. Trotz ihrer Bevorzugung des militärischen Milieus heiratet sie schließ­ lich auf Wunsch der Mutter den zivilen Gelehrten Thomsen, der seine Aufgabe nach der Hochzeit in der Hebung von Sylvias unterentwickeltem Bildungsstand sieht. Auf der Hochzeitsreise nach Italien zeigt Sylvia jedoch wenig Verständnis für die geistigen und kulturhistorischen Genüsse, welche die Reise ihrem gelehrten Mann bereitet (Sy 626). Sie selbst ist von den Reiseeindrücken schnell gelangweilt und empfindet sich angesichts der Bildungsexamina ihres Mannes bald als unzuläng­lich. In der Charakterzeichnung der Frauenfigur wird früh betont, dass ihre Stärken nicht im Bereich der Bildung, sondern in der Emotion und Fürsorge liegen: „Mein Hauptinteresse ist doch wohl meine Familie, sagte sie, besonders mein jüngster Bruder – den hab’ ich sehr lieb“ (Sy 602). Zudem zeichnet sie sich durch naive Aufrichtigkeit, „innere verläss­liche Tüchtigkeit“ (Sy 603) und sehr gute hausfrau­liche Qualitäten aus (Sy 668). Obwohl Ulrich Thomsen ihre eigent­lichen Talente nicht erkennen kann und rasch das Interesse an ihrer Person verliert, beginnt Sylvia in der Ehe, unbemerkt von ihrem Mann und zur Verwunderung ihrer alten Bekannten, geistig zu erwachen. Sie beginnt, anspruchsvolle Bücher zu lesen, besichtigt die Weimarer Bibliothek und freundet sich immer enger mit der begabten jungen Philosophiestudentin Ellen Schmidt an, die in ihren Augen einen auf persön­liche Freiheit und erfolgreiche Berufstätigkeit gegründeten Lebensentwurf umsetzt (Sy 646). Die Frauen kennen sich aus der gemeinsamen Jugendzeit, in der die hübsche Sylvia der als „Blaustrumpf“ stigmatisierten Ellen mit ihren Ballerfolgen gesellschaft­lich überlegen war. In dem Moment der Romangegenwart beneidet sie Ellen jedoch um ihr Studium und hält diese aufgrund ihrer freien Existenz für die glück­lichere der beiden Freundinnen. Sylvia verlässt schließ­lich ihren Mann und nimmt lieber den gesellschaft­lich ruinösen Umstand einer Scheidung in Kauf als weiter in der lieblosen Ehe zu leben und die Arbeit ihres Mannes zu gefährden. Sylvia unterwirft sich daher nicht den gesellschaft­lichen Konventionen und Erwartungen, sondern trifft die Entscheidung im Bewusstsein aller Konsequenzen, da ihr die Treue zu sich selbst als höchstes Lebensprinzip gilt. „Es gibt zweierlei Arten von Korrektheit‘, sagte sie langsam, ‚die eine, die man gegen die Welt haben muß, die andere, gegen sich selbst. Die letztere ist die meine“ (Sy 738). Auch ihrem Bruder Alack gegenüber betont Sylvia, „nicht wie einen die Leute ansehen – wie man sich selbst erscheint, das ist die Haupt­sache“ (Sy 740). Nach der Trennung kehrt sie als Haustochter in das Haus ihrer Eltern zurück und beschäftigt sich derart ausgiebig mit Literatur und historischen Themen, dass sie in ihrem neuen Umfeld bald selbst den Ruf eines ‚Blaustrumpfes‘ erhält. Als sie in zweiter Ehe Oberst Rothenfels heiratet, einen lebensfrohen Genussmenschen,

349

350

Das literarische Werk Emmi Lewalds

durchlebt sie die Erfahrung ihrer ersten Ehe in umgekehrter Konstellation: Rothenfels’ Oberfläch­lichkeit, Vergnügungssucht und Missachtung kultureller Genüsse werden von ihr als etwas Trennendes in der Ehe e­ mpfunden (Sy 834). Sowohl dem akademischen als auch dem großstädtisch-militärischen Milieu entfremdet, findet Sylvia schließ­lich ihre Lebensaufgabe in der Unterstützung ihres Mannes, der ihr „wie ein großes, liebenswürdiges Kind“ (Sy 877) erscheint, und der Erziehung seiner beiden Töchter aus erster Ehe zu dem, was sie selbst nicht sein konnte, zu modernen, selbstständigen Frauen. Wie viel hatte sie plötz­lich in der Welt zu tun, zwei junge Menschenkinder zu erziehen, sie zu schützen vor dem großen vanity fair, ihnen freie, schöne Wege zu bahnen. Und Pläne auf Pläne schwirrten ihr durch den Kopf, wie sie mit ihnen lernen, mit ihnen reisen wollte, wie sie lernen sollten, mit festen Füßen in der neuen Zeit zu stehen, an deren Schwelle sie selbst so unsicher gestanden hatte. (Sy 935)

Einen ähn­lichen Ausgang nimmt in der Novelle Die Erzieherin (1899) der Entscheidungsprozess der Bürgermeistersfrau Judith von Edeltraut, die als junge Frau gegen ihren Willen und ihrer Familie zuliebe einen einfältigen und unselbstständigen Mann heiratete.86 Aus Pf­lichtgefühl und Prinzipientreue bleibt sie an ihrem ‚Platz im Leben‘, auch als sie sich zu dem gebildeten Regierungsassessor Rudolf Anders hingezogen fühlt, der ihr die Aussicht auf ein neues Leben eröffnet. Die bürger­liche Tochter Asta in Das Hausbrot des Lebens (1907) befindet sich trotz ihres Selbstverständnisses als Schriftstellerin auf ihrer Italienreise in Begleitung und unter Aufsicht einer älteren Tante. Sie wehrt sich energisch gegen die familiäre Bevormundung und besteht auf einer eigenständigen Existenz im Sinne eines modernen weib­lichen Selbstverständnisses: „Du kannst dich eben nicht hineindenken, wie es in unsereinem aussieht, die wir eigene Wege gehen, eigene Ziele suchen wollen, die wir nur das eine Ziel verfolgen – das aber auch rücksichtslos: die Entwicklung der Persön­ lichkeit“ (HdL 94). Asta bemüht sich um die Verkörperung des modernen Frauentyps, der sich nach ihrem Verständnis durch Rücksichtslosigkeit, Selbstständigkeit und Eitelkeit auszeichnet: „Ich bin intelligent, ich bin energisch, ich bin successful!‘ sagte Asta, ‚was soll ich da auch noch gutmütig sein?“ (HdL 196). Eine Existenz als unverheiratete Schriftstellerin, die ihre gesamte Energie auf die Entfaltung ihres Talentes richtet, strebt Asta jedoch nicht an. Als sie in Italien den Historiker Heinrich Richter trifft, ist die junge Frau sofort bereit, ihre vermeint­lich selbstständige Schriftstellerexistenz gegen eine Ehe einzutauschen, da sie sich eine schöngeistige, kreative Beziehung zu dem außergewöhn­lichen, aber

86 Emil Roland: Die Erzieherin. In: ders.: Gefühlsklippen. Novellen. Berlin Fontane & Co. 1900, S.  61 – 216.

Zentrale Themen

charakter­lich schwierigen Gelehrten verspricht. Bei einem Besuch von Richters Schwester ­Kunigunde von Hüttenrauch (!) in Freiburg wird Asta mit einem dritten Lebensentwurf konfrontiert. Kunigunde hatte zunächst ein aufopferungsvolles, einsames Leben im Haus ihres berühmten Bruders geführt und ihn bei seiner Arbeit unterstützt, bevor sie sich durch die Heirat mit dem Witwer Benno von Hüttenrauch zu einem behag­lichen, glück­lichen Familienleben findet. Die beiden gegensätz­ lichen Existenzen Astas und ­Kunigundes werden als die Wahl zwischen „erlesene[m] ­Ambrosia“ und dem „Hausbrot des Lebens“ (HdL 185), zwischen einem Leben mit geistigem Anspruch und einem Leben der „trivialen Werte“ (HdL 183), besonders der ‚Herzensgüte‘, versinnbild­licht. Nachdem Astas Verlobung mit dem anspruchsvollen Akademiker Richter gescheitert ist, da dieser ihre mäßigen Publikationen und ihre kleinstädtische Großfamilie als unpassend für sein Lebensniveau empfindet, ist Asta gezwungen, sich zunächst mit einem Dasein als Haustochter zufrieden zu geben und ihre kränk­liche Mutter zu pflegen. Mit wachsender Gleichgültigkeit begegnet sie dem Hohn ihrer Verwandten, unter denen sie seit der Trennung von Richter als gesellschaft­lich kompromittiert gilt (HdL 321 ff.). Mit der Zeit muss Asta erkennen, dass ihre schriftstellerische Begabung im Gegensatz zu dem echten Schreibtalent ihrer Cousine Tilla nicht für den Autorenberuf ausreicht und die Rolle der Ehe- und Hausfrau für sie aufgrund ihres Aussehens, ihrer körper­lichen Konstitution und ihres Wesens den passenden Lebensentwurf darstellt. Sie beschließt nunmehr, die klassische Frauenrolle zu akzeptieren und nimmt den Heiratsantrag ihres wesent­lich älteren Onkels an. Bei der Verlobung der beiden ist Astas vollständige Revision des freiheit­lichen Lebensentwurfs perfekt, es überkommt sie […] ein ganz ungewohntes Gefühl… das weib­liche Bedürfnis nach Schutz und Anlehnung… das bequeme Behagen, das darin liegt, die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen nunmehr einem Vernünftigeren auf die Schultern zu packen… eine Ahnung von jener altmodischen Seligkeit, die für unsere Mütter und Großmütter in dem Begriff von der demütigen Hingebung lag, jenem romantischen Begriff, der vom modernen Weib als abgestanden und antiquiert seit so langer Zeit verächt­lich in den Winkel gestellt ist… (HdL 442 f.)

Frauenfiguren und Berufstätigkeit in Emmi Lewalds vor 1914 entstandenen Prosatexten Die „Frauenfiguren des Übergangs“ Ottilie Wächter, Sylvia, Judith und Asta verfügen über keine nennenswerten intellektuellen oder künstlerischen Begabungen, die sie zu einer Berufstätigkeit qualifizieren würden, schaffen es jedoch alternativ, in ihrer berufslosen Existenz eine mit Pf­licht, Fürsorge und Liebe verbundene Lebensaufgabe zum Nutzen der Familie oder Gesellschaft zu finden. Neben den weitgehend negativ dargestellten Frauenfiguren der ersten Gruppe ‚neuer‘ Frauen steht den „Frauenfiguren des Übergangs“ die Gruppe berufstätiger Frauen gegenüber, die aus finanziellen Gründen oder zur Ausbildung ihres Talentes einer ernsthaften Arbeit nachgehen. Zu

351

352

Das literarische Werk Emmi Lewalds

dieser Gruppe gehören in erster Linie die Schriftstellerinnen Rosa Rotteck 87, Ulrike Gade 88, Tilla Rosenbusch 89 und die bildende Künstlerin Irmengard Henneberger 90, die ihr Leben der Ausbildung ihres außergewöhn­lichen Talentes widmen und als Künstlerinnenfiguren in der vorliegenden Arbeit gesondert behandelt werden (Vgl. 4.2.2.3). Tatsäch­lich finden sich darüber hinaus in Emmi Lewalds vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Prosatexten auffällig wenig berufstätige Frauenfiguren, die zudem in der Regel Nebenfiguren sind, wie die eben genannte Philosophin Ellen Schmidt 91. Das Thema wird erst in Emmi Lewalds Romanen der Weimarer Republik, Das Fräulein aus der Stadt (1929) und Büro Wahn (1935), raumgreifend thematisiert und einer kritischen Reflexion unterworfen (vgl. 4.2.5.2). Als vereinzeltes Beispiel für eine berufstätige Frauenfigur sei Fanny von Geldern in dem Roman Excelsior! (1914) genannt, die aus einer verarmten Adelsfamilie stammt. Fanny hat ein Lehrerinnenexamen absolviert, kann aber ihren Beruf nicht ausüben, da sie nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei wohlhabenden Verwandten der GeldernFamilie lebt und diese die Berufstätigkeit von Frauen aus Schick­lichkeitsgründen verbieten. Im Haus ihrer Verwandten wird Fanny einerseits mit „einem gewissen Mitleid wegen des Stammbaumfehlers“ ihrer Familie betrachtet (Ex 44), anderseits wird ihr einer bediensteten Hausdame gleich die Verantwortung für die Führung des anspruchsvollen Haushalts übertragen. Aus ihrem arbeitsreichen Alltagsleben flüchtet sich die gebildete Frau in ihren freien Stunden in das Schreiben ihres Tagebuchs und in die Literatur, für sie „die selige Welt neben der alltäg­lichen, die für jeden da ist“ (Ex 44). Erst nach der Heirat ihrer Cousine Ada kann Fanny der abhängigen Existenz in dem kleinadeligen Haushalt entkommen und eine Stelle als Gesellschafterin in einer wohlhabenden englischen Familie annehmen. Fanny muss für die Erlangung der Berufstätigkeit ihrer Familie gegenüber ein Opfer bringen, ihren adeligen Namen ablegen und jeg­lichen Kontakt zur Familie aufgeben. Sie nimmt jedoch alle Verluste gesellschaft­lichen und familiären Renommees in Kauf, um das Ziel der persön­lichen Freiheit auf dem Wege von Arbeit, Bildung und Selbstständigkeit zu erreichen. Nach ihrem Englandaufenthalt arbeitet Fanny als gutbezahlte Sprachlehrerin für Englisch und Italienisch an einer Berliner Mädchenschule und erringt den Ruf einer „vorzüg­ liche[n] Übersetzerin englischer Bücher“ (Ex 109). In einer reflektierenden Passage beschreibt die Frauenfigur ihre Entscheidung für die Berufstätigkeit als Wahl zwischen einem erfüllten Leben und der persön­lichen Selbstaufgabe: „Mir standen damals zwei Wege offen: entweder eine vergrämte alte Jungfer zu werden oder mich kopfüber in

87 Hauptfigur der Novelle Die Globustrotterin (1898). 88 Hauptfigur der Novelle Das Schicksalsbuch (1900). 89 Nebenfigur des Romans Das Hausbrot des Lebens (1907). 90 Hauptfigur der Novelle Irmengard Henneberger, Novelle (1898). 91 Nebenfigur des Romans Sylvia (1904).

Zentrale Themen

eine ernste Arbeit zu stürzen, zu streben, alle Kümmernisse totzulernen. Ich bin den zweiten Weg gegangen“ (Ex 82). Die Untersuchung der Thematik „Frauenberufstätigkeit“ soll mit einem kurzen Blick auf den Roman Die Wehrlosen (1910) abschließen, in dem Emmi Lewald die Frage der Berufstätigkeit von Frauen mit einer starken Kritik an der bürger­lichen Leistungsethik und der aufkommenden Massengesellschaft verknüpft und mit der Figur Helene Lucius einen regelrechten Gegenentwurf zum fortschritt­lichen Frauenbild schafft. Helene, die Offizierstochter und Frau des Bankdirektors Arthur Lucius, ist trotz äußer­licher Zugehörigkeit durch die „Aufmachung der wohlsituierten Dame vom höheren Stande“ (DW e 13) in der wohlhabenden Gesellschaft Berlins eine Außenseiterin, weil sie nicht dem modernen, sondern dem traditionellen Frauenbild entspricht. Von den anderen Figuren wird sie als „zarte[s], schweigsame[s] Geschöpf“ (DW e 42) beschrieben, als „verträumt“, müde und „gedankenabwesend“ (DW e  24 – 29). Statt den gesellschaft­lichen Ehrgeiz ihrer Standesgenossinnen zu teilen, ein repräsentatives Haus zu führen, die Karriere ihres Mannes zu unterstützen und sich in einer Form kulturell, sozial oder künstlerisch zu betätigen, verbringt Helene ihre Zeit mit Lesen und dem nächt­lichen Studium des Sternenhimmels. Da Helene nicht in der Lage ist, ihre Abneigung gegen das Großstadtleben und die ihr auferlegten gesellschaft­lichen Konversations- und Repräsentationspf­lichten als Bankdirektorengattin zu verbergen, enttäuscht sie fortwährend die Erwartungen ihres Umfelds und ihres karriereorientierten Ehemannes. „Ja“, sagte eine statt­liche Geheime Kommerzienrätin, „ihre Besuche dauern nie länger als vier Minuten. Alles Gesellschaft­liche ist ihr ja eine ‚Crux‘. Der arme Ehemann ist wirk­lich zu bedauern. Wenn er einen Pas voranmacht, seufzt sie über die ihr erwachsenden Pf­lichten.“ „Ja“, fiel eine andere ein, „und wenn sie noch sonst etwas leistete – ! Aber sie betätigt sich nicht einmal gemeinnützig. Weder sozial noch in der Wohltätigkeitssphäre. Nicht einmal Klavier spielt sie. Es ist rätselhaft, wie sie ihre Tage hinbringt. Dabei wird sie nie pünkt­lich fertig.“ (DWe  27 f.)

Helene verweigert sich der zunehmend von Leistung, Erfolg und gesellschaft­ lichem Ansehen bestimmten Mentalität der bürger­lichen Gesellschaft ebenso wie der selbstverständ­lichen Übernahme dieser Maximen durch die fortschritt­lichen Frauen, die im Text ebenfalls mit Skepsis geschildert wird: „Betätige dich, Helene! Jede Frau heutzutage betätigt sich.“ (DWe 49) wirft ihr der Ehemann vor und bringt damit eine im Zuge der Emanzipationsbewegung gewachsene Leistungserwartung an die Frauen zum Ausdruck, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Dass die Frauen inzwischen aus ihrer passiven Rolle herausgelöst und in das Leistungsdenken der bürger­lichen Gesellschaft eingebunden sind, zeigt die Figur von Helenes erfolgreicher Schwägerin Alberta, die Helene als „inferioren Geist“ (DWe 31) in der neuen Zeit für deplatziert hält:

353

354

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Nach der Leistung wird die Frau gewogen. Viele Geschlechtsgenossinnen haben aus ihren Gehirnzellen soviel Bedeutendes herausgepreßt, daß gewissermaßen das ganze Geschlecht in den Maßstab höherer Verpf­lichtungen gerückt ist. Auch unsereins, die wir ja die Betätigung – im praktischen Sinn genommen – gar nicht nötig haben, betrachten es doch sozusagen als eine Ritterspf­licht gegen das eigene Geschlecht, uns auch ohne direkten Zweck ideell oder kulturell zu betätigen. […] Nur das Gefühl eigener Leistung verleiht Befriedigung. (DWe  32 f.)

Alberta, die von Helenes Freund Dr. Bernwart als „Knalleffekt[e] der Frauenbewegung“ bezeichnet wird, ist eine moderne „Superfrau“, die ihrem Mann das Diktat abnimmt, ihren Sohn erzieht, den großen Haushalt führt, sich im Vorstand mehrerer Vereine engagiert, philosophische Feuilletons schreibt, Korrespondenzen mit Gelehrten und Bekannten im In- und Ausland führt und ihren geselligen Verpf­lichtungen tadellos nachkommt. Der Kontrast zwischen den beiden Frauen ist Helenes Mann Arthur Lucius bewusst, der den Bruder um die aktive und selbstbewusste Frau beneidet (DWe 43). Helene leidet unter der Oberfläch­lichkeit und Hektik des städtischen Lebens, dem Ehrgeiz und der Kontrollsucht ihres Mannes, dessen penibler Planung der Bildungsreisen und unter seinem Unverständnis für ihr Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit. Ihre Weltsicht enthält neben der Leidenschaft für die Sterne viele literarische Motive aus Texten der Romantik wie die Realitätsflucht, das Auffassen der Welt mit der Seele und die Suche nach Einsamkeit. Während sie von der Mehrzahl ihrer Angehörigen und Bekannten als „Hereinfall“ (DWe 96) empfunden wird, wird sie für ihre Reisebekanntschaft, den Diplomaten Dr. Bernwart und Albertas Sohn Arwed zur Muse. Während der unverstandene Arwed in ihr seine Jugendschwärmerei findet, sieht ­Bernwart in ihr sein Frauenideal, das stark an die klassische weib­liche Geschlechterrolle angelehnt ist, schutzbedürftig, passiv, unpolitisch, ohne Interesse an Wissenschaft und Frauenbewegung: „Wo sind die ‚Stillen im Lande‘ – die tiefen Wasser, die gar keinen Lärm machen wollen?“ (DWe 82). In der Art und Weise, wie Emmi Lewald ihre Frauenfiguren gestaltet, zeigt sie die unterschied­lichen Reaktionen auf die neuen weib­lichen Berufs- und Arbeitsmög­ lichkeiten seit den 1890er Jahren auf. Die Mehrzahl der Figuren, die der Großmutterund Muttergeneration angehören sowie einige junge Frauenfiguren wie Beate Werther (BB 1914) oder Helene Lucius (DWe 1910) werden von den Neuerungen aufgrund der strukturellen Randlage ihres Wohnorts oder wegen ihrer persön­lichen Entscheidung für die traditionelle Frauenrolle fast überhaupt nicht beeinflusst. Die Protagonistinnen der Gruppe der ‚neuen‘ Frauen setzten sich dagegen aktiv mit den Ideen der Frauenbewegung auseinander, integrieren die Berufsmög­lichkeiten in den eigenen Lebensentwurf oder profitieren auf andere Weise von den neuen Freiheiten. Diese Gruppe muss in drei sehr unterschied­lich zu bewertende Kleingruppen unterteilt werden: Die negativ konnotierte Figur der wohlhabenden modernen Großstadtdame im Stil Ellen Arneborgs in Das Fräulein aus der Stadt (1929) profitiert von den Errungenschaften der Frauenbewegung, obwohl sie nicht auf die Berufstätigkeit, die den eigent­lichen Kern

Zentrale Themen

der Forderungen der Bewegung darstellte, angewiesen ist. Sie nutzt in egoistischer Manier das neue Recht der Frau zur akademischen Ausbildung, um sich gesellschaft­ lich zu vergnügen und Männerbekanntschaften anzuknüpfen. Die Frauenfiguren der zweiten Gruppe wie Asta (Das Hausbrot des Lebens) und Sylvia (Sylvia), die nach einer Gastrolle in einer modernen Frauenexistenz ein an das traditionelle Frauenbild angelehntes Leben wählen, werden positiv gezeichnet, da sie eine ihrer persön­lichen Veranlagung gemäße Aufgabe im Bereich der Familie und Fürsorge annehmen. Auf dem Wege der Heirat und der Fürsorge für den jüngeren Bruder entgehen die schriftstellernden Frauenfiguren Asta und Gunhilde (Der Magnetberg) auch der Gefahr einer unwürdigen dilettantischen Ausübung einer Kunst. Die Frauenfiguren der dritten Gruppe sind aus ökonomischen Gründen berufstätig oder streben die Ausbildung einer überdurchschnitt­lichen literarischen, künstlerischen oder wissenschaft­lichen Begabung an. In Lewalds vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Romanen besteht der Großteil dieser Gruppe aus alleinstehenden Künstlerinnen; zudem tauchen berufstätige Frauenfiguren überwiegend als Nebenfiguren auf. Insgesamt ist in den frühen Romanen der Umstand auffallend, dass der jeweilige Lebensentwurf aus den individuellen Fähigkeiten und Talenten der einzelnen Frauenfiguren abgeleitet wird und keine vorbehaltlose Befürwortung oder Ablehnung von Berufstätigkeit, Künstlertum oder Hausfrauen- und Mutterrolle als Lebensinhalt der Frauen ausgesprochen wird. 4.2.2.2 Ehe und Familie Wie ist es in Emmi Lewalds literarischen Texten um die bürger­liche Ehe und Familie bestellt? Die bürger­lichen Vorstellungen von Ehe und Familie waren im Laufe des 19. Jahrhunderts nachhaltig durch ideologische Entwürfe in philosophischem und literarischem Schriftgut geprägt worden. Zum Programm des Ehe- und Familienideals gehörten neben der Neigungsheirat die bipolare Geschlechterrollenverteilung und die Auffassung, Familie und Privatheit stellten eine harmonische Gegenwelt zur Öffent­lichkeit und zur Arbeitssphäre des Mannes dar.92 Die bürger­liche Familie wurde verstanden als […] eine sich selbst begründende, als Selbstzweck begreifende Gemeinschaft, als eine durch emotionale Beziehungen statt durch Zweckhaftigkeit und Konkurrenz geprägte Sphäre in Absetzung zu Wirtschaft und Politik, […] als recht­lich geschützte[r] und durch ‚dienstbare Geister‘ freigesetzte[r] Innenraum der Privatheit im Unterschied zur Öffent­lichkeit.93

92 Vgl. Karin Hausen: „…eine Ulme für das schwankende Efeu.“ Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirk­lichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 85 – 117. 93 Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 27.

355

356

Das literarische Werk Emmi Lewalds

In dem Maße wie sich die gesellschaft­liche Wirk­lichkeit des Ehe- und Familienlebens von den theoretischen Idealen unterschieden haben dürfte, sind auch die in Emmi Lewalds Romanen und Novellen dargestellten Familien- und Eheverhältnisse weit von dem bürger­lichen Ehe- und Familienideal entfernt. Vielmehr thematisiert die Autorin mittels der fiktionalen Form die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirk­lichkeit. Auffällig gering ist die Zahl der glück­lichen Eheschließungen, bei denen die Neigung der Protagonisten mit ihren sozialen und finanziellen Interessen und denen ihrer Familien übereinstimmt.94 Besonders die heiratsfähigen Töchter b ­ ildungsbürger­licher Gesellschaftsgruppen sind aufgrund der schlechten finanziellen Lage ihrer Eltern 94 Vgl. hierzu die Resultate der Verbindungen und Ehen in Emmi Lewalds zwischen 1892 und 1935 publizierten Romanen und Novellen: Auf diskretem Wege (1892): Die Vernunftehe des Prota­ gonisten mit einer ihm unbekannten Heiratskandidatin wird durch ein Heiratsbüro vermittelt; Fräulein Kunigunde (1894): Die Werbung des Lehrers Arthur scheitert am Standesdünkel der adeligen Lucy, die unverheiratet in einem Damenstift endet; Sein Ich (1896): Die Verbindung von Leo und Ottilie scheitert an Leos Vorurteilen, Leos verwitweter Bruder geht mit einer Witwe eine Konvenienzehe ein; Das Glück der Hammerfelds (1900): Die von der Familie aus finanziellen Interessen angebahnte Verkupplung des Lehrers Schreiner mit der Tochter Doris scheitert, Schreiner kann eine glück­liche Verbindung mit deren gebildeter Schwester Ellen eingehen; Sylvia (1904): Sylvia durchlebt zwei unbefriedigende Ehen und eine Scheidung und findet ihren Lebensinhalt schließ­lich in der Ausbildung der beiden Töchter ihres zweiten Ehemannes; Der Lebensretter (1905): Die Verbindung von Baroness Else von Windisch mit dem Fabrikanten Schulze scheitert am Standesdünkel der Adeligen, die eine unglück­liche Ehe mit dem gewalttätigen Norbert von Heroldingen eingeht und nach ihrer Scheidung ihre beiden Töchter alleine aufzieht; Das Hausbrot des Lebens (1907): Astas Verlobung mit dem Akademiker Richter scheitert, und die junge Frau geht eine Vernunftehe mit ihrem 50-jährigen Onkel ein; Der Magnetberg (1910): Die Ehe der Eltern Thorensen endet in der Entfremdung, ihre gesellschaft­lich diskreditierte Tochter Anka heiratet einen indischen Advokaten, die Eheanbahnung der zweiten Tochter Hilde scheitert; Die Rose vor der Tür (1911): Nachdem die Verbindung der Hauptfiguren scheitert, geht die junge Lida eine Vernunftehe ein; Die Wehrlosen (1910): Die Hauptfiguren sind ein unglück­liches und kinderloses Ehepaar; Excelsior! (1914): Die Protagonistin Ada erlebt zwei unglück­liche und kinderlose Ehen mit Clothar von Geldern und dem Rechtsanwalt Reinhard; Unter den Blutbuchen (1914): Die Verlobung der Hauptfiguren Georg und Erika kommt nicht zustande. Erika geht eine Vernunftehe ein, während Georg eine ältere Cousine heiratet; Die Erzieherin (1899): Die junge Judith lebt in einer Vernunftehe mit einem älteren Baron. Die Verbindung der Protagonistin mit dem Juristen Anders scheitert an ihrem Pf­lichtgefühl, sodass Anders ebenfalls eine Vernunftehe eingeht; Die Frau von gestern (1920): Die unglück­liche Ehe des Paars von Liris endet mit dem Ehebruch der Wanda von Liris; Wandas Tochter Edda von Liris geht nach einer unglück­lichen Liebesbeziehung eine Vernunftehe ein; Das Fräulein von Güldenfeld (1922): Bei der Verbindung von Rixa von Güldenfeld und Dietrich Esens spielen neben Vernunftinteressen aufrichtige Gefühle eine Rolle; Lethe (1924): Die Beziehung zwischen Theresa von Karssenbrook und ihrem Vetter Harald scheitert, sodass beide in ein Kloster eintreten, der überzeugte Preuße Albrecht von Gottern findet in Stella von Gottern eine Frau mit der gleichen Weltanschauung; Das Fräulein aus der Stadt (1929): Eine der Protagonistinnen ist Junggesellin, die Eheanbahnung der zweiten weib­lichen Hauptfigur scheitert; Heinrich von Gristede (1934): Glück­liche Ehe Heinrichs und Karens von Gristede; Büro Wahn

Zentrale Themen

häufig gezwungen, die abhängige Existenz einer ledigen Frau zu führen oder eine Vernunftehe einzugehen. Besser stehen die Chancen der Protagonistinnen aus dem wirtschaftsbürger­lichen Milieu, denen die umfangreiche Mitgift mitunter eine selbstständige und unbeschränkte Partnerwahl ermög­licht. Mit der Thematisierung der Vernunfts- oder Konvenienzehe setzt Emmi Lewald sich mit einem wichtigen und verbreiteten Instrument zeitgenössischer Heiratspraxis auseinander. Die „Diskrepanz zwischen [dem] unverändert angestrebten Ideal, der sitt­lichen Forderung nach Liebe als allein ausschlaggebendes Motiv für eine Eheschließung, und der Praxis der ‚standesgemäßen‘ und Geldheiraten“95 wurde in der gesellschaft­lichen Realität des Kaiserreichs weitgehend akzeptiert. Das Thema bot der Autorin zudem einen guten Hintergrund für ihre Kritik an der Prämisse des Nütz­lichkeitsdenkens, die sie für alle Bereiche des bürger­lichen Lebens diagnostiziert. Die Schwierigkeiten bei den Verbindungen zwischen bürger­lichen und adeli­ gen Heiratskandidaten sind auf literarischer Ebene anders geartet als jene bei den Eheanbahnungen bürger­licher Protagonisten. Mit dieser Konstellation bildet Emmi Lewald einen Aspekt der bürger­lichen Lebenswelt ab, der im Zuge der wachsenden Annäherung des Bürgertums an den Adel, seinen Lebensstil und seine Werte­welt nach 1848 bedeutsam wurde. In der gesellschaft­lichen Realität schufen der gesellschaft­liche bzw. finanzielle Abstieg des Adels und der parallele Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums die Basis für eine steigende Zahl von Eheschließungen zwischen den beiden Gesellschaftsgruppen.96 In Roman und Novelle scheitern die Verbindungen teils am ‚Standesdünkel‘ der umworbenen adeligen Frau, teils an weltanschau­lichen Differenzen sowie an den erwachenden Berufs- und Bildungsansprüchen der Frauen. Das Heiratsalter der Verlobungskandidaten stimmt in etwa mit den von der histo­ rischen Sozialforschung ermittelten Zahlen überein.97 Die Frauen befinden sich im

(1935): Die adeligen Protagonisten gehen Vernunftehen mit ökonomisch gut gestellten Angehörigen des Wirtschaftsbürgertums ein. 95 Rosenbaum: Formen der Familie, S. 337. 96 Die exemplarische Studie von Augustine und Kaelble zu den 502 reichsten bürger­lichen Millionären in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg hat ergeben, dass 8,9 % von ihnen in den Adel einheirateten, während in der Generation der Söhne ein knappes Viertel die Ehe mit einer Adeligen einging. Wehler zitiert die Studie im Rahmen seiner argumentativen Auseinandersetzung mit einer pozentiellen ‚Aristokratisierung‘ des Bürgertums. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 719 f. 97 Von den bürger­lichen Heiratskandidaten gingen zwischen 1850 und 1899 nur 4 % der Männer unter 25 Jahren, dagegen 58 % über 30 Jahren die Ehe ein. Von den Frauen heirateten 57 % in einem Alter unter 25 Jahren, während 17 % bereits das 30. Lebensjahr überschritten hatten. Das Heiratsalter der Frauen stieg während des 19. Jahrhunderts an und erreichte zwischen 1900 und 1914 einen Durchschnitt von fast 27 Jahren. Ein extremer Altersunterschied zwischen den Eheleuten war üb­lich und zur Sicherung der Versorgung des Mannes im Alter auch durchaus gewünscht. Vgl. Hausen: „… eine Ulme für das schwankende Efeu“, S. 95.

357

358

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Alter zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren, die Männer dagegen beginnen ab etwa vierzig Jahren mit der Brautschau. Neben dem sich daraus ergebenden Altersunterschied von durchschnitt­lich etwa fünfzehn Jahren gibt es auch Verbindungen mit extremem Altersunterschied wie in dem Roman Das Hausbrot des Lebens (1907), in dem die 24-jährige Asta ihren über 50-jährigen Onkel heiratet. Die Kinderzahl stimmt ebenfalls mit der zeitgenössischen sozialen Realität überein.98 Eheschließungen Der Themenkomplex „Ehe und Familie“ spielt in den analysierten Texten eine wichtige Rolle, denn zahlreiche Protagonisten befinden sich zum Zeitpunkt der Handlung in der Phase der Eheanbahnung und setzen sich mit dem Wesen der Ehe, ihres Ehepartners und der Bedeutung der Eheschließung für ihre eigene Existenz auseinander. Die Eheschließungen sind stark von finanziellen, emotional-psychologischen und weltanschau­lichen Faktoren abhängig. Bereits in den frühen Texten der Autorin werden die Prota­gonisten mit einer Eheabsicht vor das Problem gestellt, einen Kompromiss zwischen emotionalen Interessen und sozialem bzw. finanziellem Kalkül finden zu müssen – und scheitern daran. Neben der sozialen Potenz der Ehekandidaten bestimmen vor allem die finanziellen Mög­lichkeiten die Heiratspolitik der beteiligten Parteien. Faktisch müssen die Mitgift der Braut und das Jahreseinkommen des beruf­ lich gefestigten Bräutigams zur Pflege eines standesgemäßen Lebensstils ausreichen. Waren die finanziellen Mög­lichkeiten eines der Heiratskandidaten durch die fehlende ökonomische Potenz seiner Familie eingeschränkt, verschlechterten sich dessen Chancen, eine Versorgungsehe oder gar eine Liebesheirat eingehen zu können. Bereits in Auf diskretem Wege (1892), einer ihrer ersten Novellen, thematisiert Emmi Lewald die Konvenienzehe, zu der sich zwei bürger­liche Heiratskandidaten über das Heiratsbüro der Insel Norderney zusammenfinden. Während die nach einer unglück­lichen Liebesgeschichte gegen das Leben gleichgültig gewordene Braut von ihrer ehrgeizigen Mutter verkuppelt wird, treibt den Protagonisten, den blasierten Großstädter Hansfelt, seine rationalistische Weltsicht zu der kalkulierten Verlobung. Für ihn hat bild­ lich der Liebesgott Eros […] nie einen Köcher mit verwundenden Pfeilen in der Hand gehalten, immer nur Portemonnaies und Bankanweisungen. Das Wort ‚reelles Gesuch‘ hat in seinen Augen nicht jenen perfiden Prosaklang, der das, was im Leben das Beste und Daseinswerteste sein kann, zum trivialsten Handel herabwürdigt. (AdW 13)

98 Hatte die Durchschnittskinderzahl in Bürgerfamilien bis Mitte des 19. Jahrhunderts bei fünf bis sieben Kindern gelegen, sank sie im Kaiserreich auf zwei bis vier Kinder pro Familie. Vgl. Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 34.

Zentrale Themen

Emmi Lewald setzt das Zustandekommen der auf Übereinkunft von Stand, Vermögen und Renommee beruhenden Ehe mit satirisch-kritischem Blick in Szene und spielt am Ende der Novelle auf dessen krassen Gegensatz zum bürger­lichen Ideal der Neigungsheirat an, als ein junges Mädchen sich das Kennenlernen der beiden auf Norderney unwissend als „hochromantische Geschichte“ (AdW 25) ausmalt, als „ein plötz­liches Begegnen zwischen zwei Dünen beim Hinabtauchen der Sonne, ein Sehen und Lieben; wie es vorkam in den Büchern für ‚höhere Töchter‘, ein Träumen voneinander […], end­lich ein erstes Umarmen am schweigenden Sommerabend […]“ (ebd.). Ähn­lich pragmatisch kommt die Eheschließung in der Erzählung Die Erzieherin (1899) zustande, in der die Protagonistin Judith Schulze als junges Mädchen trotz ihrer Zuneigung zu einem jungen Leutnant, den Neffen des Gutsbesitzers heiraten muss, bei dem ihr Vater angestellt ist. Ihre anfäng­liche Weigerung zieht den massiven Druck ihrer Familie nach sich, die durch die Verbindung einen entscheidenden Zugewinn an sozialem und ökonomischem Kapital für alle Familienmitglieder erhofft. Nun gab es aber Szene auf Szene. Alles übte moralischen Druck, die Brüder als Studenten, die sich nach Zuschuß sehnten, die Schwestern, die nie mit ihrem Taschengeld auskamen, die Eltern, die es sehr gut meinten, aber die auch durch ewige Geldnöte die Widerstandsfähigkeit gegen das Verlockende einer sicheren Versorgung verloren hatten. (Gk 133)

Judith entschließt sich letztend­lich aus Mitleid und Opferbereitschaft für die Vermählung mit dem ihr intellektuell weit unterlegenen Baron Edeltraut – und wird lebenslang unter der emotional und geistig unbefriedigenden Ehe leiden. Das Scheitern der Liebes­beziehung an finanziellen Aspekten wird noch in dem Kleinstadtroman Unter den Blutbuchen (1914) anhand der „Tragödie“ (BB 63) der Kammerherrentochter Hilde von Busches vorgeführt, deren Verehrer, der Offizier Ramin, ihr die ältere Großstadtdame Hilda von Stelen vorzieht, weil deren Reichtum ihm die Perspektive einer luxuriösen Lebenshaltung eröffnet. Da die Entscheidung des Offiziers in ein fortgeschrittenes Stadium des Kennenlern- und Verlobungsprozesses fällt, zerstören im weiteren Verlauf der Handlung Gerüchte, schlechte Nachrede und Klatsch die Heiratschancen des jungen Mädchens (BB 307). Die eingeschränkten Entscheidungsmög­lichkeiten der weib­lichen Protagonisten mit unzureichender Mitgift für eine Liebesheirat stellt Emmi Lewald besonders ausführ­ lich und anschau­lich dar. Auf ihnen lastet wie im Falle Judiths (Die Erzieherin) und Erika Winfrieds (Unter den Blutbuchen) die familiäre und gesellschaft­liche Erwartung, die Versorgungsehe dankbar anzunehmen, um ihre Eltern zu entlasten. Die jungen Frauen sind entsprechend der weib­lichen Rollenvorgabe zu Pf­lichtbewusstsein und Opferbereitschaft angehalten, während das Streben nach dem persön­lichen Lebensglück als selbstsüchtige und undankbare Handlung gebrandmarkt wird. Im Gegensatz zu mittellosen jungen Männern, die auch außerhalb der Ehe eine selbstständige Existenz

359

360

Das literarische Werk Emmi Lewalds

aufbauen konnten, standen die jungen bürger­lichen Frauen des 19. Jahrhunderts in weitreichender finanzieller und juristischer Abhängigkeit von ihrer Familie und ihrem Ehemann. Erst die ideologischen und praktischen Kämpfe der gemäßigten Frauen­ bewegung begannen, diese Umstände zu ändern, und der Roman Unter den Blutbuchen zeigt anschau­lich, wie sich eine Gruppe unversorgter junger Frauen mit dem Beruf als Alternative zur tatenlosen Existenz auseinandersetzt.99 Die Auswirkungen der neuen Berufs- und Selbstbestimmungsmög­lichkeiten der Frauen auf das Verhältnis der Geschlechter in der Ehe, auf die bürger­liche Familien­ form, auf die Haushaltsführung und die Kindererziehung waren für die Denkerinnen der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung seit ihren Anfängen offensicht­ lich ein ungelöstes Problem.100 Obwohl Emmi Lewald selbst ihre schriftstellerische Arbeit und ihr gesellschaft­liches Engagement mit der Führung des Haushaltes und der Erziehung ihres Sohnes Otto Günther zu vereinbaren wusste, werden ihre weib­ lichen Romanfiguren durchweg vor die Wahl zwischen Mutterrolle und Beruf gestellt. Die talentierten, berufstätigen Frauen – Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen und Künstlerinnen – gehen in der Realität der Romane erst gar keine Ehe ein, da ihre Entscheidung zugunsten des Berufs die Rolle als Ehefrau und Mutter, den „Mutterberuf“ von vornherein ausschließt (Vgl. 4.2.2.3).101 Beispiele für die erfolgreiche Bewältigung der Doppelbelastung einer berufstätigen Ehefrau und Mutter bietet Emmi Lewald auf fiktionaler Ebene nicht. Ebenso wenig wie den einzelnen Frauenfiguren gelingt es den Ehepaaren und Familien, eine der neuen Frauenrollen erfolgreich zu inte­ grieren und Schritte in Richtung eines neuen, lebbaren Geschlechterverhältnisses zu wagen. Die bürger­lichen Männerfiguren fühlen sich im Gegenteil durch die neuen Bildungs- und Berufsperspektiven der Frauen von der Ehe abgeschreckt, da durch sie die traditionelle „innerfamiliäre Aufgabenteilung, die den Bürgermännern die familienferne Berufswelt und den Bürgerfrauen die Familiensphäre zuwies“102, außer Kraft gesetzt wird. Sie teilen die Meinung der meisten konservativen und liberalen Denker und Politiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass eine außerhäus­ liche Beschäftigung der Frauen die bürger­liche Familienform gefährde, die als ein Grundpfeiler der bürger­lichen Gesellschaft verstanden wurde.103 Die Romanmänner fürchten, ebenso wie die Schwiegermutter der jungen Edda von Liris vor ihrer ersten 99 Ebba von Brage nimmt eine Anstellung bei einer deutschen Konsulfamilie in der deutschen Kolonie in China an, während die Zwillinge Winfried eine Haushaltsschule besuchen und Erika Winfried sich vor ihrer Heiratsentscheidung zunächst für eine Ausbildung bei den Johanniterschwestern anmeldet (BB 246, 252). 100 Vgl. hierzu Bussemer: Bürger­liche Frauenbewegung und männ­liches Bildungsbürgertum, S.  190 – 203. 101 Eine Ausnahme bildet die Philosophin Ellen Schmidt in dem Roman Sylvia (1904). Sie geht mit dem Historiker Herrmann eine pragmatische und kinderlose „Kameradenehe“ (Sy 932) ein, die als „vernünftiges Glück“ (ebd.) dem Ideal der Liebesheirat nicht entspricht. 102 Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 25. 103 Vgl. Bussemer: Männ­liches Bildungsbürgertum, S. 198.

Zentrale Themen

Begegnung in Die Frau von gestern (1920), ihre potenziellen Ehefrauen könnten der „sogenannte[n] moderne[n] Mädchenart“ angehören, „deren Verstand ihr Gemüt ist und welche die Ehe nicht als Lebensinhalt, sondern nur als Durchgangsstadium auffassen“ (Fvg 217). Emmi Lewald zeigt diese Problematik besonders anschau­lich an den konservativen Junggesellenfiguren Georg Werther in Unter den Blutbuchen (1914) und Doktor Meister in Der Magnetberg (1910) auf. Georg Werther bekommt es mit der Angst zu tun, als sich die vermeint­lich naive Angebetete Erika Winfried als bildungshungrige junge Frau entpuppt, die von ihrem zukünftigen Ehemann geistige Anleitung und die Förderung und Ausbildung ihrer sechs jüngeren Schwestern erwartet: „Er müßte mir den Faust erklären und die gött­liche Komödie mit mir durcharbeiten. Das ist mein geistiges Ideal, solch geistiges Sich-Fördern!“ (BB 131). Werther fühlt sich den Ansprüchen und Bedürfnissen der modern denkenden Frauen nicht gewachsen und heiratet schließ­lich seine berufslose und fürsorg­liche Cousine Beate, die dem traditionellen Frauenbild entspricht. An dem sich infolge der Ausbreitung frauenrechtlerischer Ideen wandelnden weib­lichen Selbstverständnis scheitert in dem Roman Der Magnetberg (1910) auch die Verbindung des Juristen Meister mit der kleinstädtischen Beamtentochter Gunhilde Thorensen, die durch die Versetzung ihres Vaters nach Berlin mit den Ideen der Frauenbewegung in Kontakt kommt. Als aus dem naiven jungen Mädchen eine bildungsbeflissene und selbstständige junge Frau geworden ist, die sich in der Reichshauptstadt sicher in der Frauenvereinslandschaft bewegt, die literarische Zirkel besucht und in Begleitung einer Boheme-Gesellschaft, des „Klubs der Bannbefreiten“, eine Dänemarkreise unternimmt, ist sie in Meisters Augen als Ehefrau moralisch diskreditiert. Er empört sich, Gunhilde riskiere „ihren guten Ruf an Kreise und Gepflogenheiten, wo der Umstand des Dabeigewesenseins allein schon richtend“ (MB 207 f.) sei. Gerade in den kleinstädtischen Milieus der Handlung, wo die rigiden Vorstellungen der traditionellen Frauenrolle noch bestimmend sind, kann schon der Verdacht, eine bürger­liche Tochter könnte zu den Ideen der Frauenbewegung tendieren, zu einer Minderung ihrer Heiratschancen führen. Entsprechend schwer wiegt die Verantwortung der Eltern für das öffent­liche Auftreten der Töchter, denn ihre „Erziehungsresultate“ werden von ihrem gesellschaft­lichen Umfeld kritisch beäugt. Die Unternehmerfamilie Rosenbusch lässt ihre unverheiratete Tochter Asta in dem Roman Das Hausbrot des Lebens (1907) auf ihrer Italienreise von einer Tante im fortgeschrittenen Alter begleiten, um sicherzustellen, dass die Grenzen der Schick­lichkeit auch im Ausland nicht überschritten werden. Adas Versuche, eine moderne Frauenexistenz zu führen und selbstständig einen Heiratskandidaten kennenzulernen, kollidieren mit der Bevormundung und Kontrolle durch ihre männ­liche Verwandtschaft. „Was war denn das bißchen Freiheit in ihrem Leben wert, wenn sie immerfort den Faden fühlen mußte, an dem die altmodische, ängst­liche Familie sie vom Norden aus festhielt und all ihre Schritte dirigierte und bewachte?“ (HdL 24). Bei ihrer Rückkehr in den Norden sieht Asta sich wegen ihrer Versuche, die Grenzen der traditionellen Frauenrolle

361

362

Das literarische Werk Emmi Lewalds

zu übertreten, schweren familiären Vorwürfen ausgesetzt. In ihrer schriftstellernden Cousine Tilla hat sie jedoch eine Verbündete in der Auflehnung gegen die älteren „abgetane[n] Generationen“ (HdL 83), die für den Wandel der Frauenrolle durch die Frauenbewegung kein Verständnis aufbringen. Das Zentrum der familiären Reaktion bildet Astas konservativer Onkel Hermann, der […] von Anfang an die Kassandrarolle der neuen Bewegung gegenüber gespielt [hatte]. Er wollte noch immer Frauen unter allen Umständen an den Herd haben, wollte sie noch immer unwissend und harmlos; jeder Tochter und jeder Nichte hatte er bei der Konfirmation eindring­lich an der Hand Hermann und Dorotheas vorzitiert „Dienen lerne das Weib!“ – das letzte natür­lich, was die frisch Konfirmierten beabsichtigten. (HdL 110)

In diesem Roman nimmt die Familie ihre traditionelle Kontroll- und Überwachungsaufgabe gegenüber den Töchtern noch konsequent wahr und kann Asta letztend­lich mittels psychologischen Drucks in die traditionelle Frauenrolle zurückzwingen. Neben den finanziellen Voraussetzungen und der Rezeption frauenrechtlerischen Gedankenguts bildet der Standesunterschied zwischen Kandidaten verschiedener Gesellschaftsschichten, sei es Adel und Bürgertum oder Großbürgertum und Kleinbürgertum, ein wesent­liches Hindernis auf dem Weg zur Eheschließung (vgl. auch 4.2.3.2). In den Augen der hochmütigen Adeligen Lucy aus der Novelle Fräulein ­Kunigunde (1894), deren Familie gesellschaft­lich der „ersten Rangklasse“ (FK  18) angehört, ist ihre Urlaubsbekanntschaft Arthur Otfried, der als Gelehrter dem Bürgertum angehört, nicht „gesellschaftsfähig“ (FK 8). Obwohl sie selber keine umfangreiche Mitgift aufweisen kann, ist sie nicht bereit, eine nicht-standesgemäße Verbindung einzugehen und beschimpft Otfried, um den Standesunterschied zu verdeut­lichen, als „Plebejer“ (FK 88). Arthur dagegen hatte sich durchaus berechtigt gefühlt, um Lucy zu werben, da er der Überzeugung war, er lebe […] in einem Jahrhundert, das in den Familiennachrichten fast jeder Zeitung beweist, wie die Grenzen der Stände immer undeut­licher werden, wie der reichgewordene self made man von niederer Herkunft kühn nach der Hand armer Baronessen greifen kann, wie die Träger alter Namen dem ausgehenden Stammbaum neue Goldreiser aufpflanzen, ohne Rücksicht auf vergilbte Kastengesetze von früher. (FK 60)

Doch in der Lebenswelt der genannten Novelle kommt die standesübergreifende Verbindung ebenso wenig zustande wie jene in dem zwischen 1891 und 1905 spielenden Romans Der Lebensretter (1905). Die junge Baronin Else von Windisch, Angehörige eines verarmten Adelsgeschlechts, kann sich wegen ihres adeligen Selbstverständnisses nicht zu einer Verbindung mit dem Linoleumfabrikanten Ferdinand Schulze entschließen und empfindet dessen Werbung als taktlos und zudring­ lich (LR 36). Erstmals kommt eine nicht-standesgemäße Verbindung – zwar unter

Zentrale Themen

Nebenfiguren – in dem Roman Unter den Blutbuchen (1914) zustande, als die junge Präsidententochter Aga Winfried nach starkem Widerstand ihrer Mutter trotz ihrer „Standesungleichheit“ (BB 321) schließ­lich den Lehrer Dr. Bunnemann heiraten darf. Die Zeit der problematischen „Mesalliancen“104 endet in den Romanen erst nach dem Ersten Weltkrieg mit der gesetz­lichen Abschaffung des Adelsstandes 1918, als die scharfe Trennlinie zwischen Adel und Bürgertum wegfällt. Das adelige [Das] Fräulein von Güldenfeld (1922) legt nach den Wirren der Revolution 1918 ihren Namen ab, um mit dem bürger­lichen Gutsbesitzer Dietrich Esens die Ehe einzugehen, die „kein Herzensbund von beiden Seiten [ist], sondern eine Vereinbarung vernünftiger Menschen“ (FvG 198). Schwierige Familien Der Blick auf den Zustand der Familie in Emmi Lewalds Prosatexten ist ebenfalls ernüchternd, denn die Umsetzung des bürger­lichen Familienideals erscheint als ein aussichtsloses Projekt: Häufig kommt es gar nicht zur Familienbildung, und wo Familien zusammenleben, sind sie als Lebensgemeinschaft und als Ort des privaten Rückzugs in ihrer Existenz bedroht. Besonders auffällig ist zunächst die Tatsache, dass häufig unverheiratete Protagonisten und kinderlose Ehepaare im Mittelpunkt der Handlungen stehen, etwa in Die Wehrlosen (1910) und Sylvia (1904). Die erwachsenen Figuren des Romans Sein Ich (1896) sind, außer den unverheirateten und kinderlosen Protagonisten Leo und Ottilie, die geschiedene Majorin Lili mit Tochter Fanny und Leos verwitweter Bruder Oskar, dessen vier Kinder zunächst von einer Haushälterin, später von einer Gouvernante versorgt werden. In der Novelle Cunctator (1895) ist die Familie des berühmten Gelehrten Larholtz nach dem zehn Jahre zurückliegenden Tod der Mutter unvollständig. Obwohl die Versorgung der Töchter Cilly und Lilly wechselnden Hausdamen obliegt, wachsen die Kinder sehr frei auf, da nicht zuletzt ihr Vater als Typ des weltfremden Gelehrten vollkommen in seinem Beruf aufgeht und mit ihrer Erziehung und Leitung überfordert ist. Von einer patriarchalischen bürger­lichen Familienstruktur ist hier nichts zu spüren. „Beide lebten, wie sie wollten, niemand redete ihnen drein. Wenn die Hausdame es einmal versuchte, so gewöhnte Cilly es ihr wieder ab, und gegen Cilly war nicht aufzukommen” (KdZ 94). Sind die Familien nicht durch die Kinderlosigkeit der Ehepaare, durch Scheidung oder den Tod eines Elternteils von vornherein unvollständig, scheitern sie im Verlauf der Handlung häufig an der beruf­lichen Karriere des Vaters, an den Herausforderungen des modernen Großstadtlebens oder am gravierenden Wandel der bürger­lichen Frauenrolle. Hierbei scheinen die Familienprojekte der ehrgeizigen Gelehrten und Wissenschaftler besonders oft zum Scheitern verurteilt, wie in der Novelle Die Etrusker (1904) und dem Roman Sylvia (1904) deut­lich zutage tritt. In Die Etrusker heiratet 104 Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 27.

363

364

Das literarische Werk Emmi Lewalds

die junge Helena, die selber aus einer Gelehrtenfamilie stammt, ohne Mutter und mit einem beruf­lich stark beanspruchten Vater aufgewachsen ist, den aufstrebenden Altertumsforscher Werther. Aufgrund seines Egoismus und seiner Liebesunfähigkeit, die auf seine existenzbestimmende ‚Berufung‘ zum Gelehrten zurückgeführt werden, versagt Werther als Ehemann und Familienvater in einer Familienkonstellation, die durch Helenas fehlendes beruf­liches Interesse und ihre Begeisterung für die Mutterrolle eigent­lich sehr Erfolg versprechend war. Die ‚geistige‘ Sphäre des Gelehrten und die ‚welt­liche‘ Sphäre der Familie erweisen sich hier als gegensätz­liche, unvereinbare häus­liche und ideelle Räume. Oben destillierte Werther aus toten Folianten neue Gedanken, unten lachte lebendiges Menschenglück unbesorgt in die Welt hinein. Helena war wieder jung geworden durch den kleinen Gefährten, der noch nichts von Latinern und Sabinern wußte, und als sich im nächsten Jahre dem Knaben Hans noch ein Bruder Fritz hinzugesellte, fühlte sie ihr Dasein vollkommen ausgefüllt […]. (SchB 22)

Da seine Ehefrau keine rege geistige Anteilnahme an seiner bedeutenden wissenschaft­ lichen Arbeit nimmt und sich seine Söhne in der Schule als lernscheu und unbegabt erweisen, verliert Werther zunehmend das Interesse an seiner Familie und empfindet seine Kinder als Ruhestörung (SchB 25), seine Frau als verständnislose und gleichgültige Gefährtin. Der Ehealltag ist von Entfremdung und Resignation der Eheleute geprägt. In eine ähn­liche Situation gerät die lebenslustige Offizierstochter Sylvia (1904), die ihrer Mutter zuliebe den Wissenschaftler Ulrich Thomsen heiratet. Schon wenige Monate nach der Eheschließung beschwert Thomsen sich bei einem Freund, er lebe mit einer Frau zusammen, die ihn und seine Arbeit „nicht im mindesten versteht“ (Sy 648). Stattdessen wünscht er sich eine Frau, „die den gebrochenen Mut wieder in uns anfacht, die einen Zug zur Größe hat und darauf lebt und stirbt, daß auch unsere Größe keine Einbildung ist“ (ebd.). Die Ehen der Gelehrtengattinnen Helena und Sylvia scheitern trotz ihrer Erfüllung der von der bürger­lichen Gesellschaft geforderten Hausfrauen- und Mutterrolle, da ihre Ehemänner darüber hinaus erwarten, dass sie als geistige Mitarbeiterin, Helferin und Freundin fungieren. Emmi Lewald argumentiert an dieser Stelle mit den Bedürfnissen des Mannes und Ehemannes an der Bildung des wissenschaft­lichen Verständnisses der Frau, das eine positive Rolle in den Ehen der Protagonistinnen hätte spielen können. Mit den Konsequenzen der im Wandel begriffenen Frauenrolle und den modernen Bildungsmög­lichkeiten von Frauen für die Familie setzt Emmi Lewald sich ausführ­ lich in den Romanen Der Magnetberg (1910) und Die Frau von gestern (1920) auseinander. Gerade infolge eines modernisierten weib­lichen Selbstverständnisses gibt die bürger­liche Agnes Thorensen in Der Magnetberg ihre zunächst dem bürger­lichen Familienideal entsprechende Mutterrolle auf und führt den langsamen Zerfall ihrer Familie herbei. Mit dem Umzug der Familie aus einer norddeutschen Kleinstadt in die

Zentrale Themen

Metropole Berlin lässt Agnes die traditionelle Frauenrolle hinter sich. Ihre Ehe, der bürger­liche Haushalt und die Kindererziehung bilden nicht länger den Mittelpunkt ihres Lebens. Zu sehr ist sie durch außerhäus­liches Engagement einerseits und die platonische Beziehung zu ihrem Verehrer Doktor Furka anderseits zeit­lich und emotional in Anspruch genommen. Ihren Töchtern Gunhilde und Anka ist Agnes weniger eine verantwortungsbewusste Mutter als eine „bequeme Kameradin“ (MB 331), die aus Gedankenlosigkeit und Zeitmangel die Aktivitäten ihrer unverheirateten Töchter nicht auf das familiäre Renommee hin überwacht. Statt ihnen mit mütter­licher Autorität Grenzen aufzuzeigen, lächelt sie „freund­lich und gedankenlos über die Eigenart ihrer Töchter“ (MB 100). Ein noch größeres Ausmaß der Vernachlässigung zeigt sich bei Agnes’ kleinem Sohn Olaf, der früher den fröh­lichen Familienmittelpunkt bildete und nun in der tagsüber verwaisten Berliner Wohnung mit dem Hausmädchen Antje als Hauptbezugsperson vorliebnehmen muss. Als Schlüsselszene für Agnes’ Verletzung des von der bürger­lichen Mutter erwarteten Pf­licht- und Verantwortungsbewusstseins für ihr Kind 105 kann hier die nächt­liche Heimkehr der Mutter von einer geselligen Veranstaltung verstanden werden. Sie überlegte, ob sie noch nach hinten in das Kinderzimmer gehen sollte, aber ihre Füße waren zu müde. Sie hatte nach dem Vortrage noch so lange in dem überfüllten Hotelsaal gestanden. So streckte sie sich im Nebenzimmer auf eine Chaiselongue und träumte ins Dunkel. (MB 45)

Agnes’ zunehmende Entfernung von dem Aufgabenbereich der Hausfrau und Mutter kommt neben der Vernachlässigung der Kinder auch in ihrer mangelhaften Führung des bürger­lichen Haushaltes zum Ausdruck. Hier muss der zu einem sonntäg­lichen Mittagessen geladene Doktor Meister nicht nur ungeflicktes Leinen, ungeputztes Silber und lieblosen Blumenschmuck bemerken, sondern auch einen weitgehenden Verfall der Tischkultur feststellen. Der Rotwein war kalt und der Weißwein warm. Das Tischbrot fehlte, und der Hammelrücken war ein wenig angebrannt – ein Sonntagmittag, über dem keine liebende Hausfrau gewaltet hatte, mehr eine Abfütterung aus Notwendigkeit, als gemüt­liches Familienessen. (MB  24 f.)

Wie die Mutter dem entsetzten Gast auseinandersetzt, wurden die gemeinsamen Familienmahlzeiten weitgehend aufgehoben: „Meine Töchter frühstücken meist in ihrem Klub. Mein Mann in dem nächsten Restaurant – ich, so am Wege her, und Olaf mit 105 Vgl. hierzu Yvonne Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürger­lichen Familie des 19. Jahrhunderts. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 118 – 133, hier S. 123 ff.

365

366

Das literarische Werk Emmi Lewalds

seiner Antje“ (MB  15). Die Tagesabläufe der Familienmitglieder laufen vollständig getrennt voneinander ab, und da jeder seine eigenen Interessen verfolgt, kommt es zu einer langsamen Auflösung des Familienzusammenhalts. Die Rolle der Familie als „Innenraum der Privatheit“106 in Abgrenzung zum öffent­lichen Raum existiert nicht mehr, weil er von den Familienmitgliedern weder als Rückzugs- und Erholungssphäre noch als Arbeitssphäre benötigt wird. Nach dem männ­lichen definiert sich nun auch das weib­liche Individuum nicht mehr über seine Familie, sondern findet identitätsbildende Momente in Beruf und Beschäftigung außerhalb des familiären Raumes. Bar ihrer einstigen Überhöhung ist die Familie zu einer Zweckgemeinschaft, die gemeinsame Wohnung zu einer reinen Übernachtungsmög­lichkeit geworden. Der Roman schildert die Auflösung der Familie Thorensen als Folge von Werteverfall, Zeitmangel, Arbeitsüberlastung im urbanen Lebensalltag sowie dem Wandel der Frauenrolle. Die bürger­liche Familie, so reflektiert die Romanfigur Johanna Thorensen, sei kein dem modernen Großstadtleben angemessenes Lebensmodell mehr. „Die Familie so als Begriff absoluter Zusammengehörigkeit ist eine Institution, die brillant für die Provinz paßt, die aber in der Großstadt aus Zeitmangel gar nicht zum Zuge kommt“ (MB 61). Umgekehrt wird im Sinne klassischer Großstadtkritik gerade auch das urbane Leben für den Werteverfall verantwort­lich gemacht. Nicht einmal das Familienoberhaupt Geheimrat Thorensen besitzt die Autorität, durch soziale Kontrolle und Sanktionen die Familienmitglieder zur Räson zu bringen und den Untergang seiner Familie aufzuhalten. Seine Figur erscheint einflusslos und resigniert, da er wegen seiner hohen Arbeitsbelastung im Ministerium kaum Zeit hat, sich mit familiären und ehe­lichen Problemen zu befassen. Insbesondere dem modernen weib­lichen Selbstverständnis seiner Ehefrau steht der konservative Thorensen ratlos gegenüber, weil er ihm argumentativ nichts entgegenzusetzen hat: „Warum begriff sie es denn nicht, daß es doch die oberste Mission einer Frau war, die Herdflamme in Gang zu erhalten, damit sich an ihrem Schein Mann und Kinder die Hände wärmen konnten“ (MB 270). Tatsäch­lich ist das traditionelle Machtgefälle der Geschlechter innerhalb der ­Familie bereits zu Beginn des Romans hinfällig, weil die weib­lichen Familienmitglieder geschlossen in dauerhafter Opposition zu Geheimrat Thorensen stehen, „der nach Ansicht der Seinen viel zu norddeutsch-altväter­lich war“ (MB 2). Das Fehlen einer patriarchalischen Form der sozialen Kontrolle im Roman hatte sein Vorbild offensicht­lich in einem realgesellschaft­lichen Abbau des traditionellen Patriarchalismus, der trotz einer weiter bestehenden gesetz­lichen Abhängigkeit der Ehefrauen von den materiel­ len Ressourcen und der Entscheidungsgewalt des Mannes stattfand.

106 Kocka: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft, S. 27.

Zentrale Themen

Der Wandel der Rolle der Frauen lässt sich beschreiben als Gewinn an Autonomie, an Selbständigkeit sowohl innerhalb der Familie als auch in den Beziehungen zur außerfamiliären Umwelt bzw. als Verlust an Autorität des Ehemannes und Vaters.107

Am Ende des Romans Der Magnetberg steht sinnbild­lich der Tod des Familienoberhaupts Geheimrat Thorensen, der auf den hektischen Straßen der Großstadt bei einem winter­lichen Autounfall ums Leben kommt. Thorensens Tod läutet den endgültigen Zerfall der einst intakten bürger­lichen Familie ein. Agnes sichert ihre Zukunft, indem sie einen finanzkräftigen dänischen Witwer heiratet und die älteste Tochter Anka folgt einem indischen Advokaten ins Ausland. Die jüngsten Familienmitglieder Olaf und Hilde, welche die geringste Schuld am Auseinanderfall der Familie trifft, müssen fortan als Halbwaisen im Haushalt ihrer neuverheirateten Tante Johanna leben. Nach Deutung des Romans scheitert die kleinstädtische Familie personell und ideell an den modernen urbanen Lebensverhältnissen in der Großstadt Berlin, wie das Schiff in der Geschichte des Sohnes Olaf an den zerstörerischen Kräften des Magnetbergs (MB 286): „Wie der Magnetberg ist Berlin für uns gewesen! So harmlos sind wir ausgefahren, und dort hat die fremde Kraft uns angezogen und unserm Lebensschiff den Halt und die Klammern ausgerissen” (ebd.). Mit dem Zerfall der bürger­lichen Familie beschäftigt sich Emmi Lewald erneut in dem 1914 beendeten Berliner Roman Die Frau von gestern. Im Laufe der Handlung werden die Ehen der Brüder Philipp und Georg von Liris mit ihren höchst unterschied­lichen Ehefrauen vergleichend nebeneinander gestellt. Der Langeweile ihrer kinderlosen Ehe mit dem Gelehrten Philipp entflieht die schöne Großstadtdame Wanda von Liris, indem sie verschiedene „Seelenfreundschaften“ (Fvg 3) zu anderen Männern unterhält. Wandas Schwägerin Anna von Liris ist dagegen eine aufopfernde und liebende Mutter, die ihre Ehe mit Georg, die Führung des Haushalts und die Erziehung ihrer unverheirateten Töchter Edda und Dorothea als den Mittelpunkt ihres Lebens versteht. Die durch Berufstätigkeit und gesellschaft­liche Verpf­lichtungen verursachte Zeitnot aller Familienmitglieder, aber auch fehlende emotionale Bindungen haben das bürger­liche Familienleben zum Zeitpunkt der Romanhandlung bereit so weit aufgelöst, dass der Mutter außer der Führung eines reibungslos funktionierenden Haushalts keine Funktion mehr zuzukommen scheint. Annas Ehemann ist „viel zu überarbeitet, um überhaupt noch zu bemerken, daß da neben ihm ein Wesen ist, das Liebe und Unterhaltung von ihm verlangt und eigent­ lich ganz auf ihn angewiesen ist.“ (Fvg 50). Auch ihre Töchter gehen im Sinne des neuen Frauenbildes bereits früh eigene Wege außerhalb der familiären Einflusssphäre. Mit dem resignierenden Gefühl, ihre Aufgaben in der Familie könnte auch ein „dienstbarer Geist“ (Fvg 49) erledigen, beschließt Anna von Liris, sich mit 107 Greven-Aschoff: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, S. 28.

367

368

Das literarische Werk Emmi Lewalds

der Pflege ihrer kranken Tante und der Arbeit in einem Säuglingsheim eine neue, sinnvolle Existenz aufzubauen. Mit der längeren Abwesenheit der Mutter erreicht die Auflösung der familiären Ordnung jedoch ihren Höhepunkt und endet mit der Übersiedlung des Vaters in eine Pension. Georg von Liris und seine Töchter müssen erkennen, dass ihre Familie ohne die emotionale Bindekraft der Mutter als bloße Zweckgemeinschaft nicht funktionieren kann. Intakte bürger­liche Familien? Glück­liche und funktionierende Familienkonstellationen sind in Emmi Lewalds Texten nur sehr selten anzutreffen. Dem Leben der „geistigen Verwöhnung“ (HdL 183) eines Gelehrten ist in Das Hausbrot des Lebens das bürger­liche Familienleben entgegengesetzt als die Ausrichtung des Lebens auf „die alltäg­lichen Werte, oder die hygienischen, oder die Allerweltswerte, oder auch die ganz trivialen Werte“ (ebd.). Richters Schwester Kunigunde, eine Nebenfigur, hat sich für das Familienleben entschieden, da ihrer Meinung nach nicht erlesene Ambrosia dem Menschen das höchste Glück verschaffen könne, sondern nur das alltäg­liche „Hausbrot des Lebens“ (HdL 186). Ihre neugegründete Familie mit dem Bezirkskommandeur Benno von Hüttenrauch und dessen vier Kindern erscheint als Verkörperung häus­lichen Glücks. Nach einem einsamen und aufopferungsvollen Leben im Hause des gelehrten Bruders hatte die ältere Kunigunde bei einem Kuraufenthalt den Witwer kennengelernt und mit ihm die Chance auf ein ‚normales‘ Familienleben ergriffen, das „einfach, heiter und behag­lich“ (HdL 166) ist. Wenn [Anm. B. v. Hüttenrauch] gegen Abend mit seinen vier Kindern schweigend und zufrieden das Unkraut im Garten jätete oder niedergefallene Magnolienblätter vom Rasen auflas – wenn zugleich auf der Veranda die zarte, blasse Kunigunde, geborene Richter, den Abendtisch ordnete, dann fühlte er sich glück­lich, unbedingt glück­lich. Das normale Hauswesen war sein Ideal […]. (HdL 164)

Ob ihres Seltenheitswerts wird die intakte bürger­liche Familie in Emmi Lewalds fiktionaler Welt von einigen Protagonisten zu einem idealen sozialen Phänomen der vergangenen Epoche verklärt. Der großstadtkritische Beamte Georg Werther reist in Unter den Blutbuchen (1914) eigens in seine provinzielle Heimatstadt Neuen­ kirchen, um sich unter den Töchtern der intakten bürger­lichen Großfamilien des abgelegenen Fürs­tentums eine Braut zu suchen. Die Präsidentenfamilie Winfried erscheint Werther als eine Musterfamilie mit „gesunden Lebensverhältnissen ohne alle Schattenseiten“ (BB 109): „Familienbestände, in denen niemand geisteskrank, nie jemand schwindsüchtig war, in denen es keine physischen Abnormitäten gab, keine kurzsichtigen Augen, keine Sprachfehler, und wie es scheint, nicht einmal Nerven“ (BB 109). Den Lebensinhalt der Präsidentin Winfried bilden ihre sieben Töchter, die sie nach traditionellen Erziehungsmustern erzogen und von den modernen

Zentrale Themen

Bildungs- und Berufsideen der Frauenbewegung systematisch abgeschirmt hat. Die Mutter ist in ihren Gesellschaftskreisen berüchtigt „für ihre messerspitzen Kritiken über alle Mütter, die ihre Töchter anders erzogen wie sie.“ (BB 45). Ihren Mann liebt sie „mit jener kühlen, zurückhaltenden Liebe […], wo die Achtung eine größere Rolle spielt, als die Leidenschaft“ (BB 45), ihre Kinder dagegen „liebte sie fanatisch“ (Ebd.). Selbst das Familienidyll der Winfrieds ist jedoch nur vordergründig intakt, denn die Gedanken der Präsidentin kreisen während des Romans unaufhör­lich sorgenvoll um das Erwachsenwerden der Töchter, ihre Heiratschancen und die gefürchteten Veränderungen der ‚neuen Zeit‘. Die fehlenden finanziellen Mög­lichkeiten der Familie, alle Töchter mit einer hinreichenden Mitgift auszustatten und die Weigerung der Mutter, die veränderte gesellschaft­liche Realität zu akzeptieren und die Bildungsbestrebungen ihrer Töchter zu fördern, lassen die Zukunft der Kinder ungewiss und unsicher erscheinen. Die Untersuchung der Prosatexte lässt den Schluss zu, dass Emmi Lewald sich auf komplexe Weise mit den weitreichenden Auswirkungen der Frauenbildungsund Berufsideen auf die Eheschließungen und Familienprojekte des Bürgertums auseinandersetzte. Die Bilanz ist durchaus ernüchternd. Weil die konservativen bildungsbürger­lichen Protagonisten dem Wandel des Frauenbildes mit massiven Vorurteilen begegnen, müssen heiratswillige junge Frauenfiguren die Inanspruchnahme der neuen Chancen und Mög­lichkeiten mitunter mit einer ledigen Existenz bezahlen. Die in den Texten dargestellten Familien konfrontiert die Autorin oft zugleich mit den Herausforderungen des neuen Frauenbildes und des Großstadtlebens. Das beschleunigte Arbeits- und Freizeitleben der Metropolen greift durch Arbeitsbelastung und eine Individualisierung der Interessen aller Familienmitglieder die traditionelle Funktion der Familie als Rückzugs- und Erholungssphäre an. Die Romane zeigen jedoch keine alternativen Familien- und Lebensmodelle auf, mit denen diese Prozesse aufzuhalten wären. Vor allem die Töchtergeneration geht ihre eigenen Wege und macht es der Muttergeneration unmög­lich, ihrem traditionellen Erziehungsauftrag nachzukommen. Die Mütter stehen den Unabhängigkeitsbestrebungen ihrer Töchter hilflos gegenüber oder versuchen, selbst an den neuen Mög­ lichkeiten zu partizipieren. Auf diese Weise wird das Verschwinden der traditionellen Frauenrolle als Teil des Ursachenbündels betrachtet, das für den Niedergang des bürger­lichen Familienmodells verantwort­lich ist. 4.2.2.3 Individuum und Gesellschaft – Künstlerinnenfiguren Parallel zu der sprunghaft ansteigenden Zahl der Berufsschriftstellerinnen und der wachsenden Präsenz von Frauen in künstlerischen Berufen gewinnt am Ende des 19. Jahrhunderts in den Prosatexten deutschsprachiger Autorinnen die Künstlerin­ nenthematik an Bedeutung. Wie die Autorinnen der grundlegenden Forschungsbeiträge zur Darstellung künstlerischer Produktivität in den Prosatexten von Autorinnen

369

370

Das literarische Werk Emmi Lewalds

um 1900 feststellt haben, bevorzugten Schriftstellerinnen die Künstlerinnenfigur vor anderen berufstätigen Frauenfiguren, um die Umbrüche in der Geschlechterrollendiskussion zu thematisieren. Anhand der Künstlerinnenfigur konnten sie neue Weib­ lichkeitsentwürfe zur Debatte stellen, ihre persön­lichen Emanzipationsvorstellungen imaginieren und ihre eigene Position als künstlerisch tätiges Subjekt reflektieren.108 Indem die Autorinnen ihre literarische Auseinandersetzung mit der Künstlerinnenthematik als Auseinandersetzung mit dem traditionellen Wertesystem der bürger­lichen Gesellschaft gestalteten, konnten sie über das Medium der fiktionalen Literatur an die Öffent­lichkeit treten und die Debatte um den Wandel der traditionellen Geschlechterrollen mitgestalten. Der enge Zusammenhang zwischen der Geschlechterproblematik und dem Künstlerinnenthema in den Texten von Autorinnen beruht nicht zuletzt auf dem revolutio­ nären Potenzial, das der Künstlerexistenz in der bürger­lichen Gesellschaft generell und der weib­lichen Kunstproduktivität im Besonderen innewohnte: „Der Bereich der Kunst ist um 1900 prädestiniert für Ausbruchsphantasien, da sie einen Freiraum bietet, innerhalb dessen die Grenzen der wirk­lichen Welt imaginär gesprengt werden können.“109 Das zeitgenössische Leitbild „vom Künstler als dem schöpferischen Individuum schlechthin“110, das eine Sonderstellung gegenüber dem berufstätigen Bürgertum und der Rationalität bürger­licher Lebensführung implizierte, hatte im Zuge der „modernen Bewegung“ in den 1890er Jahren eine Radikalisierung erfahren. Die Schriftstellerin Emmi Lewald forderte den Habitus des modernen Künstlers, dessen kreative Individualität das Recht auf uneingeschränkte Freiheit zur schöpferischen Entfaltung nach sich zog, auch für die Künstlerin ein und konnte so das Recht der Frau auf einen normbrechenden Ausbruch aus der weib­lichen Geschlechterrolle argumentativ begründen. In diesem Abschnitt werden die Künstlerinnenfiguren in Emmi Lewalds Novellen Die Globustrotterin (1898), Irmengard Henneberger (1898) und Das Schicksalsbuch (1900) als Forschungsbeitrag zur Darstellung weib­lichen Kunstschaffens in Prosatexten von

108 In Bezug auf die zahlenmäßig stärkste weib­liche Berufsgruppe der Lehrerinnen weist Gunhild K ­ übler an dieser Stelle auf die Bedeutung der Lehrerinnenfigur im englischen Roman des 19. Jahrhunderts hin. Während Kübler die Vorliebe deutschsprachiger Autorinnen für diesen literarischen Stoff auf den glamourösen Lebensstil der Künstlerinnen zurückführt, sehen Gisela Brinker-Gabler und Sonja Dehning die Ursache dezidiert in dem Spannungsverhältnis von Künstlertum und bürger­licher Kultur. Vgl. Gunhild Kübler: Die soziale Aufsteigerin. Wandlung einer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung im deutschen Roman 1870 – 1900. Bonn 1982, S. 71 – 82; Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weib­liches Bewußtsein und frühe Moderne; Dehning: Tanz der Feder, S. 13 f. 109 Dehning: Tanz der Feder, S. 13. 110 Der Begriff des modernen Künstlers wird des Weiteren in männ­licher Form verwendet, da es sich um ein männ­lich besetztes Leitbild handelte. Vgl. zur Definition Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998, S. 225.

Zentrale Themen

Autorinnen um 1900 untersucht.111 Besonders die Berücksichtigung der Zeitschriftenvorabdrucke dieser Novellen aus der Zeit zwischen 1898 und 1900 verdeut­licht, dass die Texte einer regelrechten Publikationswelle von weib­lichen Prosatexten zur Künstlerinnen-Thematik angehören.112 Sie erschienen in zeit­licher Nähe zu den Romanen Halbtier! (1899) von Helene Böhlau, Es lebe die Kunst (1899) von Clara Viebig, Christa Ruland (1902) von Hedwig Dohm und Fanny Roth (1902) von Grete Meisel-Hess, die wegen ihrer Darstellung der Künstlerinnen-Thematik in der Forschung bereits gewürdigt wurden.113 Die Autorinnen gestalteten die Thematik je nach ihren Emanzipa­ tionsvorstellungen und ihrem individuellen Erfahrungshintergrund sehr verschieden, indem sie ihr unterschied­liches Gewicht in der Handlung verliehen, indem sie die Entwicklung ihrer Künstlerinnenfiguren in Resignation und Anpassung an traditionelle Weib­lichkeitsentwürfe münden ließen oder gesellschaft­liche Grenzüberschreitungen gestalteten und neue Existenzmög­lichkeiten aufzeigten.114 Emmi Lewalds praktisches Engagement in der Berufsförderung und ihre literarische Verarbeitung der Künstlerinnen-Thematik standen in unmittelbarer Wechselwirkung mit einer um 1900 öffent­lich geführten kulturtheoretischen Debatte über die künstlerische Produktivität von Frauen.115 Die Position der Künstlerin in der bürger­lichen Gesellschaft unterschied sich trotz einiger Übereinstimmungen grundlegend von der ihres männ­lichen Kollegen. Im Zuge der Rationalisierungs- und Technisierungsprozesse 111 Der Begriff der Künstlerinnenfigur schließt in diesem Kapitel Frauenfiguren aus verschiedenen künstlerischen Berufsfeldern wie Schriftstellerinnen, bildende Künstlerinnen und Bühnenkünstlerinnen mit ein, obwohl Emmi Lewalds Figuren alle entweder als Schriftstellerin oder bildende Künstlerin tätig sind. 112 Die im Text angeführten Jahresangaben beziehen sich auf das Jahr des ersten bekannten Zeitschriftenabdrucks bzw. auf das Jahr der Erstauflage der jeweiligen Novellensammlung. Während mir bisher kein Zeitschriftenvorabdruck der Novelle Die Globustrotterin (1898) bekannt ist, erschien Irmengard Henneberger 1898 in der Romanzeitschrift „Deutsche Romanbibliothek“ und Das Schicksalsbuch 1900 in der Unterhaltungszeitschrift „Über Land und Meer“. 113 Vgl. die einschlägigen Beiträge bei Kübler: Die soziale Aufsteigerin, Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs und Dehning: Tanz der Feder. 114 Bei den verschiedenen Umgangsformen der Autorinnen mit der Künstlerinnenthematik unterscheidet Dehning die sogenannten „Entsagungstexte“ und die Texte mit heroisch gestalteten Frauenfiguren. Vgl. Dehning: Tanz der Feder, S. 68 ff. 115 Vgl. ebd., S. 39 ff. Die spätere Position der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung lässt sich anhand mehrerer Artikel in der Zeitschrift „Die Frau“ bestimmen, die anläss­lich von Kunstausstellungen mit Beteiligung von Künstlerinnen oder als Entgegnung auf Äußerungen zu weib­licher Kunstproduktivität in anderen Organen erschienen. Als Beispiel angeführt sei hier der Artikel Zum Kampf der Künstlerinnen, den Sophie Dorothee Gallwitz als Entgegnung auf den Aufsatz Die Frau in der Kunst des Kunsthistorikers Karl Scheffler (1869 – 1951) verfasste, der 1906 in der Zeitschrift „Die Zukunft“ erschienen war. Scheffler versuchte eine angeb­liche schöpferische Unproduktivität der Frau aus der Geschlechterrolle abzuleiten. Vgl. Dorothee Gallwitz: Zum Kampf der Künstlerinnen. In: Die Frau 14 (1906), H. 3, S. 173 – 177. Vgl. auch Schröder: Der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin und die Frauenbewegung, S. 380 f.

371

372

Das literarische Werk Emmi Lewalds

der Moderne hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Wechselwirkung mit dem männ­lichen Erwerbsberuf das „Habituskonzept des modernen Künstlers“116 als Leitbild in der kulturellen Öffent­lichkeit der bürger­lichen Gesellschaft etabliert. Nach diesem Verständnis stellte die auf einer intuitiven schöpferischen Begabung beruhende „krea­ tive Individualität“117 des Künstlers den Ausgangspunkt seines Schaffensprozesses dar und entband ihn von der normativen Zweckmäßigkeit des bürger­lichen Arbeitslebens. Gegenüber dem Konzept der „Bürger­lichkeit“, das den Rationalisierungsprozeß im beruf­ lichen Alltag der bürger­lichen Gesellschaft festschrieb, nahm der moderne Künstler […] eine besondere Stellung ein, die ihm uneingeschränkte Freiheit zur schöpferischen Entfaltung seiner intuitiven Arbeitsweise gewähren sollte.118

Das Kunstwerk wurde als Medium der spezifischen künstlerischen Individualität gedeutet, in dem die subjektive Wahrnehmung der Künstlerpersön­lichkeit im Laufe einer Phase der isolierten Werkschöpfung Gestalt annahm. Das Werk des in den 1890er Jahren als „modern“ verstandenen Künstlers repräsentierte zudem zeitgenössische gesellschaft­liche, kulturelle und künstlerische Erfahrungen und Muster.119 Die Autorin Emmi Lewald gründete ihr künstlerisches Selbstverständnis, ebenso wie vermut­lich der Großteil künstlerisch ambitionierter Frauen ihrer Zeit, auf das bürger­liche Leitbild des modernen Individualkünstlers, obwohl sie in der bürger­lichen Gesellschaft eine schwierige Position innehatten. Zum einen war ihnen die professionelle Ausbildung an den renommierten Kunstakademien verwehrt, wodurch in erster Linie den bildenden Künstlerinnen die Etablierung im Kunstbetrieb erschwert und dem Dilettantismusvorwurf Vorschub geleistet wurde.120 Zum anderen waren Künstlerinnen in der männ­lich dominierten Kunst- und Literaturöffent­lichkeit um 1900 einer massiven, in theoretischen Schriften, Kommentaren und Rezensionen niedergelegten Kritik ausgesetzt, die ihnen teils mit Verweis auf die fehlende Tradition weib­lichen Künstlertums die offizielle Anerkennung verweigerte, teils durch Gebrauch biologistischer Argumentationsmuster die Befähigung zur künstlerischen Schöpfung generell 116 Ruppert beschreibt die zunehmende Verbindung der Habitusbezeichnung „Künstler“ mit dem Adjektiv „modern“ im Sprachgebrauch seit den 1860er Jahren als den Ausdruck eines veränderten Zeitbewusstseins. Die zunehmende Verwendung des Begriffs „modern“ im Sinne von „zeitgenössisch“ spiegelt die seit den 1890er Jahren zunehmende Tendenz, „die Fähigkeit des künstlerischen Subjektes in den Künstlerhabitus“ einzuschreiben, „die ‚Gegenwärtigkeit des Lebensgefühls‘ im Gegenstand seiner Arbeit, dem ästhetischen Objekt, zu repräsentieren.“ Ruppert: Der moderne Künstler, S. 226, 242 ff. 117 Zum Stellenwert des Begriffs der „kreativen Individualität“ und des Geniegedankens für den Künstlerhabitus vgl. Ruppert: Der moderne Künstler, S. 262 ff. 118 Ebd., S. 233. 119 Ebd., S. 242 ff. 120 Die Berliner Kunstakademie ließ erst 1919 Frauen zum Kunststudium zu.

Zentrale Themen

absprach.121 Dem Dualismus der Geschlechterrollenideologie folgend, war die Rolle der Frau in der Kunst traditionell auf einen passiven Objektcharakter als Inspira­ tionsquelle (Muse) und Projektionsfläche (Modell) festgelegt, während die männ­liche Rolle in der kreativen künstlerischen Subjektivität gesehen wurde.122 Dieser „doppelten Marginalisierung“123 von Künstlerinnen in der bürger­lichen Gesellschaft begegneten Frauen im deutschen Kaiserreich neben der Gründung von Institutionen ihrerseits mit theoretischen Abhandlungen und, im Falle der Autorinnen, mit der literarischen Thematisierung der Künstlerinnenthematik.124 In den ausgewählten Texten arbeitet Emmi Lewald über das Motiv der Künstlerinnenfigur nicht nur unterschied­liche Aspekte der kulturhistorischen Debatte um weib­ liche Kunstproduktivität heraus, sondern gestaltet die Künstlerexistenz als Freiraum jenseits der traditionellen weib­lichen Geschlechterrolle. In der entstehungsgeschicht­lich frühesten Novelle Die Globustrotterin (1898)125 greift die Autorin die ­Egalitätsdebatte auf und kritisiert mit der Präsentation einer erfolgreichen Künstlerin die zeitgenössische Auffassung von der künstlerischen Inferiorität der Frau. Im Fokus der Handlung steht die leidenschaft­lich geführte Auseinandersetzung eines misogynen Vertreters des konservativen männ­lichen Bildungsbürgertums mit einer erfolgreichen Schriftstellerin 121 Emmi Lewalds zwischen 1898 und 1900 erstmals publizierte Künstlerinnennovellen erschienen zu einem frühen Zeitpunkt der Debatte um weib­liche Kunstproduktivität, in der sich die hinter der männ­lichen Kritik an der steigenden Zahl künstlerisch tätiger Frauen vor allem die Angst vor der wirtschaft­lichen Konkurrenz verbarg. Der Gebrauch biologistischer Argumente setzte sich nach 1900 zunehmend durch und gründete sich wesent­lich auf die Schriften Schopenhauers und Nietzsches. Die einschlägigen Abhandlungen von Paul Julius Möbius (Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1900), Otto Weininger (Geschlecht und Charakter, 1903) und vor allem Karl Scheffler (Die Frau und die Kunst, 1908) hatte die Autorin demnach nicht rezipiert. Auch die teils gegensätz­lichen Beiträge zu dieser Debatte von Georg Simmel (Weib­liche Kultur, 1902), Gertrud Bäumer (Die Frau in der Kulturbewegung der Gegenwart, 1904) und Lu Märten (Die Künstlerin, 1914) erschienen erst nach der Erstpublikation. Vgl. zu den Quellentexten dieser Debatte Carola Muysers (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855 – 1945. Amsterdam u. a.  1999. 122 Scheffler spricht in seiner Abhandlung Die Frau und die Kunst (1908) dem Objektstatus der weib­ lichen Geschlechterrolle entsprechend der Frau in der Kunst in der Modellfunktion die größte Bedeutung zu. Vgl. dazu Dehning: Tanz der Feder, S. 44 und Schmaußer: Blaustrumpf und Kurtisane, S. 199 ff. 123 Dehning: Tanz der Feder, S. 53. 124 Ebd., S. 54. 125 Obwohl Emmi Lewald in Die Globustrotterin den männ­lichen Protagonisten ins Zentrum der Handlung stellt und die Ereignisse aus seiner Wahrnehmungsperspektive geschildert werden, macht sie mit dem Novellentitel die Künstlerin zur bedeutungsvollen Figur. Diese Gewichtung wird durch die Namenlosigkeit der Männerfigur unterstrichen, in deren Gegensatz die Schriftstellerin Rosa Rotteck mit ihrem Pseudonym ‚Werner Sanden‘ und dem Spitznamen „Die Globustrotterin“ gleich über drei Namen und Identitäten verfügt. Die Zitate aus der Novelle Die Globustrotterin in diesem Abschnitt beziehen sich auf die bei Fontane & Co. in Berlin 1898 verlegte Novellensammlung In blauer Ferne.

373

374

Das literarische Werk Emmi Lewalds

über die Gültigkeit der traditionellen Geschlechterrollen und über die Befähigung der Frauen zur künstlerischen Produktivität. Aus Sicht des namenlos (!) bleibenden männ­ lichen Protagonisten geschildert, entfaltet Emmi Lewald zunächst in humoristischer Manier den Zusammenprall der gegensätz­lichen Positionen während eines Reiseaufenthalts in der Campagna. Pikanterweise sind beide Hauptfiguren literarisch tätig und unternehmen die Reise zur Förderung ihrer künstlerischen Produk­tivität, wodurch sie in die bedeutende (männ­liche) Bildungstradition der literarischen Italien­reise gestellt werden. Bereits zu Beginn der Novelle lässt die Autorin jedoch an der Gewichtung des künstlerischen Potenzials keine Zweifel aufkommen. Der männ­liche Autor, eigent­ lich Beamter und Reserveoffizier, betreibt sein Künstlertum nicht aus Berufung, sondern „zum Zeitvertreib“ (IbF 3). Trotz optimaler gesellschaft­licher Voraussetzungen, finanzieller Unabhängigkeit und idealer Schaffensbedingungen in Italien kann er nicht schöpferisch tätig werden. Als Kunstschaffendem fehlt ihm das wahre Talent, der „Kuß des Genius […], der jedem Menschenwerk die rechte Weihe geben muß – dem des Malers wie dem des Kochs und des Dichters“ (IbF 41). Aus Mangel an Einfällen ebenso wie aus persön­licher Überzeugung greift der Autor daher gewohnheitsmäßig auf das Thema der Frauenemanzipation zurück und bekämpft litera­risch die moderne „Selbständigkeit der Frauen“ (IbF 4). Er schreibt Novellen, „in denen die arme Heldin nach anfäng­lichem Aufschwung zur eigenen Individualität immer wieder unter die Knechtschaft des Mannes zurückgezwungen wurde, dessen geistige Überlegenheit unumstöß­lich als Glaubenssatz über allen seinen Schriften schwebte“ (Ebd.). Neben fehlender Kreativität krankt das Werk dieses Autors zudem an einer dilettantischen literarischen Arbeitstechnik, denn er beherrscht zwar die Kunst, einzelne Figuren, Landschaftsbilder und geistreiche Aphorismen zu ersinnen, „aber er vermochte es nicht in ein Ganzes zu bringen“ (IbF 41). Die in der Figurenzeichnung überdeut­ lich angelegte Diskrepanz zwischen mangelndem schriftstellerischem Potenzial und leidenschaft­licher Überzeugung von der geistig-schöpferischen Überlegenheit des Mannes gibt der Figur einen lächer­lichen Zug. Im Lauf der Handlung trifft der männ­liche Protagonist in einer Herberge in Palestrina auf die anonym reisende bürger­liche Schriftstellerin Rosa Rotteck, deren selbstständigen Lebenswandel und selbstsicheres Auftreten er in wiederkehrenden Diskussionen als „modernen“ weib­lichen Habitus scharf kritisiert. Trotz ihrer gegensätz­lichen Überzeugungen zur weib­lichen Geschlechterrolle erliegt der Referendar zunehmend den äußer­lichen Reizen seiner Reisebekanntschaft, nicht zuletzt, da er überzeugt ist, sie im Rahmen einer Ehe wieder in die Schranken der traditionellen Geschlechterrolle verweisen zu können. In Unkenntnis von Rosas Identität und ihres literarischen Talents – sie wird unter dem Pseudonym Werner Sanden in der deutschen litera­rischen Öffent­lichkeit als „hoffnungsvolle[r] Literaturstern“ (IbF 48) gerühmt – stimmt der Autor einer zunächst nicht näher definierten „Konkurrenz“ (IbF 29) zu, in dessen Rahmen er die Überlegenheit des männ­lichen Geschlechts beweisen soll. In dem anschließenden literarischen Wettstreit um die mög­lichst geistreiche literarische

Zentrale Themen

Charakte­risierung des Konkurrenten scheitert der Referendar erneut an seiner Einfallslosigkeit und am fehlenden Talent. Hatte bereits die Auflösung des Pseudonyms beim männ­lichen Protagonisten einen Prozess der Selbsterkenntnis eingeleitet, wird er sich seines mangelnden künstlerischen Potenzials nach der Lektüre von Rosa Rottecks Wettbewerbsbeitrag, der Skizzensammlung Die reisende Menschheit, vollends bewusst. In dem Werk nimmt die Schriftstellerin ihren männ­lichen Konkurrenten als Vorbild für eine literarische Charakterstudie und löst zugleich ihr Versprechen ein, einen Beweis weib­licher Überlegenheit auf litera­ rischem Gebiet zu liefern. Bei der Lektüre des Textes offenbart sich dem Autor Rosas literarische Begabung anhand der Sprache, des Humors und der literarischen Gestaltungsmittel. Als Reaktion auf den sichtbaren Beweis weib­lichen Talents revidiert der Protagonist nicht nur seine allgemeine Haltung zu Frauenliteratur und erkennt Rosa als überlegene Konkurrentin in der persön­lichen Auseinandersetzung an, sondern gibt selbst den Schriftstellerberuf auf, in der Erkenntnis, „daß nur eins die Berechtigung zu solchem Verlangen giebt: das Können!“ (IbF 55). Emmi Lewald gestaltet Rosa Rotteck als selbstbewusste Künstlerin, die ihre schöpferische Begabung bereits zur Entfaltung gebracht hat und konsequent einen am modernen männ­lichen Künstlerhabitus ausgerichteten Lebensentwurf pflegt. Die Charakterisierung der Figur als alleinstehende, erfolgreiche Schriftstellerin, die durch ihre ausgedehnten Reisen körper­liche Robustheit und Ausdauer beweist, lässt auf eine Reproduktion des männ­lichen Künstlerhabitus zu Lasten einer Versöhnung mit der weib­lichen Identität schließen. Dafür spricht auch, dass Rosas Verwirk­lichung als Künstlerin nur im Rahmen ihrer rastlosen kosmopolitischen Existenz und unter Verzicht auf die bürger­liche Ehe mög­lich ist, weswegen sie in der bürger­lichen Gesellschaft eine Außenseiterin bleiben muss. Rosas Sonderrolle wird auch dadurch unterstrichen, dass die der Künstlerexistenz implizierte Übertretung der weib­lichen Geschlechterrolle nicht durch einen allgemeinen Anspruch aller Frauen auf Gleichberechtigung, sondern einzig durch ihre schöpferische Begabung legitimiert wird. Somit stellt die Protagonistin ihren literarischen Talentbeweis nur vordergründig in den Dienst des gesamten weib­lichen Geschlechts, wenn sie brief­lich triumphiert: „…nun hätte ich mich und mein Geschlecht an Ihnen gerächt“ (IbF 52). Emmi Lewald setzt hier das kreative Potenzial von Frauen voraus und reklamiert für sie das Recht des ‚modernen Künstlers‘ auf eine gesellschaft­liche Sonderrolle. Der Dichterwettstreit in Die Globus­ trotterin greift die Debatte über die Inferiorität weib­lichen Kunstschaffens auf und verweist die kulturtheoretische Kritik in den Bereich des Konservatismus. Die Künstlerinnenfigur der Novelle Irmengard Henneberger (1899)126 unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der Figur der attraktiven, erfolgreichen Schriftstellerin

126 Emmi Lewald bindet die Künstlerinnenthematik in Irmengard Henneberger in eine Familiengeschichte ein, die aus der Perspektive des männ­lichen Protagonisten, des Vaters Georg Landmann,

375

376

Das literarische Werk Emmi Lewalds

der Novelle Die Globustrotterin, denn hier wird eine begabte bürger­liche Tochter am Ende der Adoleszenzphase vorgestellt, die als Porträtmalerin noch vor ihrer Etablierung im Kunstbetrieb steht. Emmi Lewald konzentriert sich in dieser Novelle auf den Aspekt der künstlerischen Individualität einer schöpferischen Persön­lichkeit, die geradezu notwendigerweise im Gegensatz zu den Normen der bürger­lichen Lebensund Arbeitswelt stehen muss. Die künstlerisch ambitionierte 19-jährige Irmengard Henneberger wird nach dem Verweis von einem renommierten Mädchenpensionat von dem konservativen Schuldirektor Georg Landmann, aus dessen Perspektive die Novelle erzählt ist, zur Erziehung und „Besserung“ in sein Haus aufgenommen. Landmann ist Repräsentant des autoritären bürger­lichen Erziehungssystems, das mit strenger Vorschriftentreue und regelmäßig durchgeführten Disziplinierungsmaßnahmen die jungen Bürger auf ihre Rollen in der bürger­lichen Gesellschaft vorbereiten sollte.127 In der Künstlerinnennovelle gerät vor allem die nivellierende Wirkung der Erziehungseinrichtungen als „chemische[n] Waschanstalten für mensch­liche Originalität“ (SW 111) in die Kritik. In einer Reihe humoristisch angelegter Szenen arbeitet Emmi Lewald zunächst das spannungsreiche Verhältnis zwischen Landmanns bürger­lichen Erziehungsgrundsätzen und der in Irmengards Künstlerpersön­lichkeit angelegten, radikalen Individualität heraus, die sich jedem Normierungsversuch widersetzt: Dabei war das Mädchen so unbequem groß, reichte ihm fast bis ans Kinn; und während er sonst seine zürnenden Jupiterblicke aus stolzer Höhe auf kleine Opfer herunterschickte, mußte er sie nun geradeaus schleudern in zwei niemals niedergeschlagene Augen. Und etwas so Herausforderndes lag in diesen Augen, das Feuer einer Persön­lichkeit, Flammen aus einer Glut, die sonst nicht in seiner Nähe zu brennen wagte. (SW 123)

Trotz aller Konflikte erliegt der pedantische Pädagoge im Laufe der Handlung I­ rmengards Künstlerinnenpersön­lichkeit, deren „heitere[r] Frohsinn hellenischer Lebensauffassung“ (SW 115) eine erlösende und bereichernde Wirkung auf seine reglementierte und freudlose Lebenswelt hat. Landmann fühlt sich von Irmengards charismatischer Individualität und Persön­lichkeit angezogen, was umso bemerkenswerter erscheint, als sie nicht dem traditionellen bürger­lichen Weib­lichkeitsideal entspricht. geschildert wird. Wie im Fall der vorangegangenen Novelle weist die Autorin der KünstlerinFigur durch den Titel eine zentrale Bedeutung zu. Emmi Lewald: Irmengard Henneberger. In: dies.: Stille Wasser. Novellen. Stuttgart Engelhorn 1912, S. 105 – 160. Der Zeitschriftenvorabdruck erschien bereits 1898: Emil Roland: Irmengard Henneberger. Erzählung. In: Deutsche Romanbibliothek 26 (1898), H. 46, S. 917 – 928; H. 47, S. 938 – 945. Die Zitate in diesem Abschnitt beziehen sich auf die Buchausgabe von 1912. 127 Landmann repräsentiert in seiner Eigenschaft als strenger Pädagoge, Ehemann und unerbitt­licher Familienvater umfassend das patriarchalische Gesellschaftssystem des deutschen Kaiserreichs.

Zentrale Themen

Sowohl in der psychologischen als auch in der physiognomischen Gestaltung der Irmengard-Figur trägt Emmi Lewald den zeitgenössischen Vorurteilen gegenüber bildenden Künstlerinnen Rechnung, sie seien durch ihre künstlerische Tätigkeit der Gefahr einer seelischen und körper­lichen „Vermänn­lichung“ ausgesetzt.128 Dem bürger­ lichen Weib­lichkeitsideal von Anmut, Nachgiebigkeit, Passivität und Unterordnung der Frau stellt Emmi Lewald in Irmengard Henneberger konsequent das Bild einer energischen, unangepassten jungen Frau mit burschikosem Äußeren entgegen. Die Künstlerin betritt Landmanns Studierzimmer nicht nur zuerst „mit raschem, etwas polterndem Schritt“ (SW 118), sondern scheint körper­lich geradezu entstellt: „Sie war über Durchschnittsgröße, hinkte ein wenig mit dem rechten Fuß und schielte etwas mit dem linken Auge […]. Ihr Haar trug sie kurz geschnitten; es sträubte sich jungenhaft in leicht gewellten Locken […]. Hübsch war sie nicht, aber sie hatte Rasse“ (SW 119). In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Figur der bildenden Künstlerin ­Irmengard wesent­lich von den Schriftstellerinnenfiguren Rosa Rotteck und Ulrike Gade, die zwar männ­liche Charaktereigenschaften kultiviert haben, jedoch aufgrund ihrer körper­lichen Attraktivität dem Konflikt zwischen ihrer Geschlechtsidentität und ihrer Kreativität stärker ausgesetzt sind. Die Unvereinbarkeit der künstlerischen Berufung mit Liebe bzw. der bürger­lichen Ehe, die Emmi Lewald allen drei Novellen zugrunde legt, kommt in Irmengards „Immunität“ gegen Liebe am stärksten zum Ausdruck. Die Protagonistin Irmengard Henneberger hat sich im Bewusstsein ihrer schöpferischen Begabung für die Künstlerinnenlaufbahn entschieden und strebt die professionelle Ausbildung im institutionellen Kunstbetrieb gegen den Willen ihrer Familie an. Während ihr kompromissloses Streben nach künstlerischer Entfaltung anfangs in ihrem gesellschaft­lichen Umfeld unter dem Verdacht steht, die Allüre einer „höheren Tochter“ zu sein, stellt Irmengard sich durch den Vergleich mit dem Renaissancekünstler Raffael selbstbewusst in eine Traditionslinie genialer Künstlerpersön­lichkeiten (vgl. SW 127). Indem die Künstlerin den Schuldirektor Georg Landmann in die Rolle des Modells verweist und zwei charakteristische Porträts von ihm anfertigt, verhilft ihr ausgerechnet der konservative Widersacher zu einem für die Umwelt sichtbaren Talentbeweis. In den modernen Gemälden manifestiert sich für Landmann, der als Repräsentant der bürger­lichen Gesellschaft gedeutet werden kann, zugleich I­ rmengards geniale Begabung, ihre Willenskraft und ihre Individualität. Das war er selbst, mit flotten, kecken Zügen auf die Leinwand gebannt, das Profil ­licht sich abhebend vom braungetönten Hintergrund – jene Primamalerei, wo der erste Wurf gelingen muß, wenn es überhaupt ‚werden‘ soll, und wo der erste Wurf auch gelungen war. […] Diese Linien waren kühn und geistreich, von persön­lichem Leben vibrierend… (SW 143)

128 Vgl. Dehning: Tanz der Feder, S. 49.

377

378

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Landmanns subjektiver Eindruck von Irmengards schöpferischem Potenzial wird im Laufe der Novelle noch in einer offiziellen kunstkritischen Rezension bestätigt, die stellvertretend für die bürger­liche Öffent­lichkeit die Anerkennung ausspricht, dass „unter den Porträtmalerinnen der Gegenwart Irmengard Henneberger trotz ihrer Jugend eine der ersten Stellungen einzunehmen beginne“ (SW 158). Ähn­lich der Novelle Die Globustrotterin dient das zeitgenössische Ideal künstlerischer Individualität in diesem Text der Legitimierung eines Autonomieanspruchs, welcher die Protagonistin von den Normen der bürger­lichen Gesellschaft entbindet – von dem traditionellen Geschlechterrollenbild ebenso wie von der Sozialisation in dem entindividualisierenden bürger­lichen Bildungssystem. Mit dem neuen weib­lichen Rollenentwurf zeigt Emmi Lewald erneut einen Freiraum für weib­liche Subjektkonstitution und Berufstätigkeit auf, der durch die Adaption von der männ­lichen Geschlechterrolle und dem modernen Künstlerhabitus zugeschriebenen Charaktereigenschaften ermög­licht wird. Ein Lebenskonzept unter Einbeziehung der weib­lichen Identität innerhalb der bürger­lichen Gesellschaft bietet auch die Novelle Irmengard Henneberger nicht. Dafür schreibt die Autorin Irmengards Künstlerinnenpersön­lichkeit eine positive Ausstrahlung in die bürger­liche Gesellschaft und ihre Unterkategorie der bürger­lichen Familie zu. Die konventionelle Frauenfigur Mathilde Landmann schließ­lich, die der Künstlerin in ihren Wesenszügen „brav, tüchtig und automatenhaft“ (SW 110) zunächst diametral entgegengesetzt ist, erlebt durch ihre Begegnung mit Irmengard eine Identitäts­findung als Mutter. Irmengards subjektiv-künstlerische Sicht auf Mathilde manifestiert sich in einem Porträt, das Landmann die individuelle Persön­lichkeit und Schönheit seiner Frau bewusst werden lässt. In der entstehungsgeschicht­lich spätesten Novelle Das Schicksalsbuch (1900)129 arbeitet Emmi Lewald das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer und bürger­licher Existenz in Bezug auf die weib­liche Geschlechterrolle am stärksten heraus. Im Gegensatz zu Die Globustrotterin und Irmengard Henneberger rückt die Autorin in diesem Text die Künstlerin-Figur in das Zentrum der Handlung und schildert die Ereignisse zum Teil aus der subjektiven Erlebnisperspektive ihrer Protagonistin. Hauptfigur der Novelle ist die emanzipierte junge Schriftstellerin Ulrike Gade, die einen auf persön­liche Freiheit und finanzielle Selbstständigkeit gegründeten Lebensplan verfolgt. Sie besitzt ein eigenes Haus in dem Schweizer Ort Rapperswil und hat bereits unter dem Pseudonym Ulrich Krieger einen vom Buchmarkt unbeachtet gebliebenen Tendenzroman mit dem Titel Moderne Leiden publiziert. Aufgrund der fehlenden Anerkennung ihres Werks durch den Literaturbetrieb ist Ulrike sich ihres künstlerischen Talents zunächst noch unsicher. Obwohl Ulrike als Künstlernatur „ein kühl empfindendes Wesen“ (SchB 41) besitzt und sich für die bürger­liche Ehe ungeeignet

129 Die Zitate aus Emmi Lewalds Novelle Das Schicksalsbuch beziehen sich auf die bei Fontane & Co. in Berlin 1904 verlegte Buchausgabe Das Schicksalsbuch und andere Novellen.

Zentrale Themen

hält, gibt sie eines Tages in einem unüberlegten Moment der hartnäckigen Werbung des konservativen Offiziers Julian von Reifenstein nach. Reifenstein verkörpert trotz seines adeligen Hintergrunds in seiner Ablehnung moderner Weib­lichkeitsentwürfe sowie seinem Hass auf moderne Literaturströmungen den biederen und unbelehrbar konservativen Bürger. Der erste Teil der Novelle, der Ulrikes freie und harmonische Künstlerinnenexistenz vor dem Hintergrund einer idealisierten Südlandschaft am Luganer See zeigt, endet mit der überstürzten Verlobung, die Julian in Unkenntnis von ihrer Autorschaft lässt. Die Entscheidung für die bürger­liche Ehe ist für beide Protagonisten mit dem konsequenten Verzicht Ulrikes auf eine freie Künstlerinnenexistenz verbunden, und auch im weiteren Verlauf der Novelle wird kein auswegweisendes Konzept einer Verbindung von Ehe, Mutterschaft und Künstlertum vorgestellt. Bereits nach der Verlobung beginnt Julian schrittweise, Ulrikes persön­liche Freiheit durch die Direktiven des traditionellen bürger­lichen Frauenbildes einzuschränken, indem er ihr das selbstständige Reisen verbietet, ihren gesellschaft­lichen Verkehr mit Künstlerkolleginnen einschränkt und ihren Wirkungskreis auf den Haushalt reduziert. Die Degradierung der im Milieu der Berliner Salons aufgewachsenen Künstlerin auf die Rolle der Ehe- und Hausfrau in einer intellektuell reizlosen oberschlesischen Garnisonsstadt beschreibt der zweite Teil der Novelle als schmerz­lichen Prozess des Identitätsverlusts und der künstlerischen Selbstverleugnung. Ulrikes gewaltsame Verdrängung ihres kreativen Potenzials wird nur von Reifensteins Vetter, dem Berliner Freigeist und Offizier Fritz Travers wahrgenommen, der sie sich der Fremd- und Selbstunter­ drückung in ihrer Ehe bewusst werden lässt. In der Figur des Travers gibt Emmi Lewald ihrer eigenen fortschritt­lichen Haltung als Frauenrechtlerin und Berliner Intellektuelle Raum, indem sie ihm die Kritik an kleingeistiger Frauenverachtung und an der Gettoisierung weib­licher Leistungen durch geschlechtsspezifische Werturteile in den Mund legt.130 Talent entschuldigt alles, und wenn ein Frauenbuch allzu männ­lich ist, so chokiert’s wohl die kleinen Geister, aber die großen läßt’s ungeschoren. Bücher sollen beurteilt werden als Ding an sich; auf den Autor kommt’s nicht an. Hat er etwas geschaffen, so ist er eben ein ganzer Mensch. (SchB 99)

Als sich der ebenfalls literarisch ambitionierte Fritz Travers in Ulrike verliebt, steht vorübergehend die Mög­lichkeit einer gleichberechtigten künstlerischen Lebensund Arbeitsgemeinschaft im Raum. Ein Tagebucheintrag, in dem Travers seinen Traum von gemeinsamer literarischer Arbeit und einer Ehe mit der intellektuell

130 Vgl. zur geschlechtsspezifischen Rezeption der Literatur von Frauen um 1900 Kord: Sich einen Namen machen, S. 156 ff.

379

380

Das literarische Werk Emmi Lewalds

ebenbürtigen Ulrike festhält, entlarvt dem Leser jedoch dessen wahre Absicht, ­ lrikes Talent für die eigenen Zwecke zu nutzen: „Mir helfen soll sie, ich komme U alleine nicht weiter. Alle meine Novellen hapern am Schluß“ (SchB 101). Mit dem Verweis auf die Tradition der Degradierung weib­lichen Könnens auf eine Helferfunktion bei großem Werk des männ­lichen Autors wird Travers als Vertrauter und Förderer Ulrikes ausgeschlossen. Der entscheidende Wendepunkt der Handlung tritt ein, als nach dem ersten Ehejahr Ulrikes Roman Moderne Leiden unverhofft den Status einer literarischen Sensation und die Anerkennung der Literaturkritik erlangt. Von Ulrike als schicksalhafter Beweis ihres literarischen Talents verstanden, forciert sie die Aufdeckung des Pseudonyms, die unausweich­lich zu einer Trennung der Eheleute führen muss. Der Talentbeweis durch den etablierten Kunstbetrieb dient der Legitimierung der Autorschaft gegenüber der Gesellschaft ebenso wie Ulrikes Selbstvergewisserung. Mit neuem Selbstbewusstsein kann die Schriftstellerin ihren erschütterten Subjektstatus als Künstlerin aus eigener Kraft konsolidieren, indem sie in die Welt künstlerischer Produktivität und persön­ licher Freiheit zurückkehrt und sich erneut für die Maximen „Freiheit und Streben, Arbeit und Ruhm“ (SchB 120) als Lebensentwurf entscheidet. Dass dieser Status nicht mehr durch den Ehewunsch gefährdet ist, wie zu Beginn der Novelle, verdeut­licht die Wiederholung der Schlüsselszene, in der Ulrike Fritz Travers Heiratsantrag ablehnt. Künstlertum und Ehe werden demnach als grundsätz­licher Widerspruch entlarvt, der Bruch der Künstlerin mit dieser gesellschaft­lichen Konvention jedoch im gleichen Zug mit ihrer Begabung legitimiert. Auf diese Weise kann Emmi Lewald der Ulrike-Figur wie ihren Protagonistinnen Rosa Rotteck und Irmengard Henneberger eine freie Künstlerinnenexistenz außerhalb der bürger­lichen Gesellschaft zubilligen. Erneut vertritt der männ­liche Freigeist Travers als „Anwalt weib­lichen Kunstschaffens“ eine fortschritt­liche Auffassung, wenn er resümiert, […] daß besondere Naturen sich ihr Leben nach eigenem Geschmack zurechtzimmern können, ohne der Schablone auch nur die geringste Konzession zu machen, daß Selbsterkenntnis und Duldsamkeit starke Waffen sind in der Hand eines selbständigen Menschen, – Waffen, die aber auch alle Schärfen zu mildern vermögen, welche ein ernster Konflikt in das Leben trug. (SchB 126)

„Besondere Naturen“ Indem Emmi Lewald den schöpferisch begabten Frauenfiguren ihrer Prosatexte einen Freiraum für weib­liche Subjektivität zubilligt, kritisiert sie grundlegende gesellschaft­ liche Zuschreibungen und Erwartungshaltungen, die auf dem traditionellen Weib­ lichkeitskonzept fußen: den Objektstatus der Frau, die von ihr erwartete passive Lebenshaltung und das Vorurteil ihrer geistig-künstlerischen Unproduktivität. Das kreative Potenzial von Frauen voraussetzend, zeigt die Autorin in den drei vorgestellten Novellen anhand der Künstlerinnenexistenz einen alternativen Weib­lichkeitsentwurf

Zentrale Themen

auf, der weniger von der Frage nach einer Synthese von Ehe, Mutterschaft und Künstlertum bestimmt wird als von der problematischen Erlangung und Bewahrung des künstlerischen und persön­lichen Subjektstatus.131 Emmi Lewald imaginiert in den Frauenfiguren Rosa Rotteck, Irmengard ­Henneberger und Ulrike Gade eine Form selbstbestimmter weib­licher Künstlerschaft, die sich in Charakterzeichnung und Lebensentwurf an dem bürger­lichen Leitbild des modernen Individualkünstlers orientiert. Ihre Künstlerinnenfiguren sind finanziell unabhängig, selbstbewusst in der argumentativen Auseinandersetzung mit ihren konservativen Kritikern und willensstark in der Umsetzung ihres künstlerischen Ausdrucksbedürfnisses. Allen drei Frauenfiguren gelingt es im Laufe der Handlung im Rahmen der künstlerischen Existenz einen alternativen Weib­lichkeitsentwurf umzusetzen, der im Text mit einer ‚modernen‘, daher fortschritt­lichen Frauenrolle gleichgesetzt und von einer konservativ-beharrenden Auffassung des männ­ lichen Protagonisten abgesetzt wird.132 Um den Status des Individualkünstlers für ihre Frauenfiguren vor einem bürger­lichen Lesepublikum reklamieren zu können, arbeitet Emmi Lewald im Handlungsverlauf zentrale Momente der Subjektkon­ stitution heraus, in denen die Künstlerinnen ihre kreative Individualität und ihr formales Talent unter Beweis stellen. Obwohl zu Beginn der Novellenhandlungen nur die Figur Rosa Rotteck die Reputation einer erfolgreichen Schriftstellerin besitzt, können letztend­lich alle drei Künstlerinnen einen kreativen Talentbeweis erbringen, ein abgeschlossenes, gegenständ­liches Kunstwerk in modernem Gestaltungsstil, das ihre Anerkennung als schöpferisches Subjekt durch die anderen Protagonisten und den offiziellen Kunstbetrieb ermög­licht.133 Die in ihrem künstlerischen Charakter geschlechtsneutralen Kunstwerke dienen so – vor allem in Die Globustrotterin – als selbstsprechendes Mittel, das Vorurteil der künstlerischen und geistigen Inferiorität

131 Vgl. hierzu die Kategoriebildung bei Dehning, Tanz der Feder, S. 219. Auch in diesem Punkt folgte Emmi Lewald der Linie der „gemäßigten“ Frauenbewegung, deren Vertreterinnen überwiegend eine Verbindung von Berufstätigkeit und Ehe bzw. Mutterschaft ablehnten. Vgl. Stoehr: „Organisierte Mütter­lichkeit“, S. 232. 132 Der Gegensatz des modernen und rückschritt­lichen Frauenbilds wird in der Novelle Die Globustrotterin explizit in der Diskussion der beiden Hauptfiguren benannt. Dem Vorwurf des Protagonisten, „Sie gehören zu den modernen Frauen, zu jenem Typus, den ich immer bekämpft habe in Rede und Schrift –“ entgegnet die Künstlerin: „Sie sehen die Frauen von heute mit den Augen einer längstvergangenen Epoche an und sehen sie daher schief und falsch, weil man durch alte, verstaubte Brillen niemals richtig sieht“ (IbF 28 f.). 133 Das Modernitätsmerkmal der Kunstwerke unterstreicht noch einmal Emmi Lewalds Rückgriff auf das Habituskonzept des modernen Künstlers, dessen Werk sowohl als Ausdruck künstlerischer Individualität als auch zeitgenössischer gesellschaft­lich-kultureller Strömungen verstanden wurde. Sowohl bei Ulrike Gades Tendenzroman Moderne Leiden als auch bei Rosa Rottecks Prosaskizze und Irmengard Hennebergers moderner Porträtmalerei handelt es sich um dem zeitgenössischen künstlerischen Moderneanspruch formal sowie inhalt­lich verpf­lichtete Kunstwerke.

381

382

Das literarische Werk Emmi Lewalds

von Frauen zu widerlegen. Im Falle der beiden Schriftstellerinnen-Figuren wird die Manifestation weib­licher Subjektivität im Kunstwerk noch durch die Aufdeckung des Pseudonyms unterstrichen, die dafür sorgt, dass die offizielle Anerkennung explizit der weib­lichen Kunstproduktion gilt. Ein weiteres wichtiges Indiz für die Subjektkonstitution der Künstlerinnen bietet Emmi Lewalds teils humoristisch geschilderte Umkehr der Künstler-Modell-­ Konstellation, die, der geschlechtsspezifischen Rollen- und Machtverteilung folgend, in der Kunst den Objekt-Status der Frau als Muse und Modell festlegte. Die Künstlerinnenfiguren der Novellen Die Globustrotterin und Irmengard Henneberger erweisen sich im Geschlechterverhältnis als überlegene Subjekte, indem sie für die leidenschaft­liche Zuneigung der Protagonisten unempfäng­lich sind und ihnen eine Modellfunktion, daher den Objektstatus im künstlerischen Schaffensprozess zuweisen. Die Abbildung der Männer-Figuren erscheint nicht als Prozess der Degradierung oder Idea­lisierung, sondern die Künstlerinnen erweisen ihren Modellen Respekt, indem sie ein „realistische[s] Bild der Wirk­lichkeit“ (IbF 55) ohne Übertreibungen schaffen. Eine machtvolle Gefährdung der weib­lichen Subjektkonstitution durch künstlerische Produktivität geht in Emmi Lewalds Prosatexten von der emotionalen Erfahrung der Liebe und von der Lebensform der Ehe aus. In dieser Hinsicht werden die Künstlerinnen von männ­lichen Repräsentanten des repressiven patriarchalischen Gesellschaftssystems wie von vermeint­lichen Förderern ihrer schöpferischen Individualität gleichsam in Bedrängnis gebracht. Die Lebensform der Ehe wird von Rosa und Irmengard mit der Einengung ihres künstlerischen Freiraums assoziiert, während sie sich für die Schriftstellerin Ulrike in Das Schicksalsbuch zur fundamentalen Bedrohung ihrer Krea­ tivität und Arbeitskraft auswächst. Allein Ulrikes Künstlerinnenpersön­lichkeit und ihr schöpferisches Potenzial rechtfertigen die spätere Trennung vom Ehemann und die erneute Konsolidierung ihres Status als künstlerisches Subjekt: Sie hatte genug zu denken und zu fühlen; ihr Geist barg eine solche Fülle von Interesse für alles Große, Schöne, Wunderbare dieser Welt, daß wirk­lich keine jener Lücken in ihrem Innenleben vorhanden war, in die einen Courmacher hineinzupflanzen andere Frauen sich gemüßigt fühlten. (SchB 92 f.)

Emmi Lewalds positive Präsentation der alleinstehenden Künstlerin kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Konzept eines alternativen Weib­lichkeitskonzepts auf der Verwendung von Attributen der männ­lichen Geschlechterrolle sowie auf der „affirmativen Übernahme des Mythos‘ vom männ­lichen Künstlergenie“134 beruht. Indem die Autorin der Schriftstellerin Ulrike das martialische Pseudonym Ulrich Krieger verleiht und die Figur Rosa beweisen lässt, dass sie „[…] auf dem Felde der Litteratur 134 Dehning: Tanz der Feder, S. 69.

Zentrale Themen

ihren Mann zu stehen vermag“ (IbF 36), gestaltet sie heroische Frauenfiguren, die unter Verzicht auf ihre weib­liche Identität nach Unabhängigkeit und künstlerischem Ruhm streben. Da die Erlangung des künstlerischen Subjektstatus jedoch nur als Einzel­ wesen außerhalb familiärer und gesellschaft­licher Machtstrukturen mög­lich ist, bleibt der künstlerische Lebensentwurf der drei vorgestellten Frauenfiguren mit einer – von Emmi Lewald stilisierten – Außenseiterposition verbunden. In eigener Sache – die Geschlechtsneutralität des Genies Es ist anzunehmen, dass sich in den heroischen Künstlerinnenfiguren in Emmi Lewalds Prosawerk um 1900 auch der eigene Anspruch der Autorin auf eine schöpferische Subjektivität als Künstlerin spiegelte. Die positive literarische Gestaltung unabhängiger und erfolgreicher Künstlerinnen mag mit Emmi Lewalds persön­lichen Erfahrungen im Berliner Kulturbetrieb der Jahrhundertwende zusammenhängen, in dem weib­liche Berufstätigkeit und weib­liches Kunstschaffen weitergehend als in anderen Milieus des deutschen Kaiserreichs von der bürger­lichen Öffent­lichkeit akzeptiert wurden.135 Autorinnen, Journalistinnen und bildende Künstlerinnen setzten sich im Zentrum der bürger­lichen Frauenbewegung zu dieser Zeit bereits intensiv mit der theoretischen Positionierung weib­lichen Kunstschaffens in der bürger­lichen Gesellschaft und der Anerkennung ihrer Werke durch den offiziellen Kunstbetrieb auseinander. In Emmi Lewalds Biografie selbst spielte die Durchsetzung ihrer künstlerischen Ambitionen in repressiven familiären und gesellschaft­lichen Strukturen nach ihrem Umzug nach Berlin nur noch eine untergeordnete Rolle. Während ihren literarischen Frauenfiguren die Vereinbarkeit von bürger­lichem Privatleben und Kunstschaffen vorenthalten bleibt, lebte die Autorin Emmi Lewald zeitlebens in Familienkonstellationen, die ihr die ungehinderte Entfaltung ihres literarischen Ausdrucksbedürfnisses ermög­lichten. Felix Lewald war den Quellen zufolge ein aufgeklärter und fortschritt­lich denkender Ehemann, der sowohl die schriftstellerische Arbeit seiner Frau als auch ihr reges gesellschaftspolitisches Engagement unterstützte.136 Emmi Lewald bindet ihre literarische Darstellung der Künstlerinnenthematik in die breite öffent­liche Debatte um den Wandel weib­licher Rollenkonzepte und die Position der Künstlerin im Kunstbetrieb des deutschen Kaiserreichs ein. In ihrem künstle­ rischen Selbstverständnis verknüpft die Autorin das bürger­liche Leitbild des modernen Individualkünstlers mit der Vorstellung einer geschlechtsneutralen Künstlerexistenz. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als professionelle Künstlerinnen in der Öffent­lichkeit unübersehbar wurden, bildete diese Argumentationslinie den Kern einer theoretischen 135 Vgl. ebd., S. 55 f. 136 Aus dem Begleitheft einer öffent­lichen Veranstaltung des Frauenberufsverbands Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin geht beispielsweise hervor, dass Felix Lewald sich dort in beratender Funktion engagierte. Vgl. Landesarchiv Berlin, Best. A Rep. 030 – 04 (Verein der Künstlerinnen zu Berlin zur Förderung der bildenden Kunst), Nr. 3019.

383

384

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Position in der Auseinandersetzung um weib­liches Künstlertum, die von Künstlerinnen und Kunsthistorikerinnen wie Hermione von Preuschen-Telmann (1854 – 1918) und Anna Michaelson (1868 – 1926) vertreten wurde.137 Die Parallelen zu Emmi Lewalds Verständnis des Geniegedankens werden in einem Vortrag von ­Preuschen-Telmann vor dem Internationalen Frauenkongress 1896 zur Berechtigung weib­lichen Kunstschaffens deut­lich: „– Und mit gütiger Erlaubnis ist das Genie so frei, sich nicht ans Geschlecht zu kehren, es fliegt in die Seelen wem und wie es will.“138 Emmi Lewalds und von Preuschens Meinung, zukünftige Generationen würden nicht mehr fragen, „ist der Künstler Mann oder Weib, sondern nur: ist er ein richtiger Künstler?“139 verlor jedoch nach 1900 zunehmend an Befürwortern, als die Überzeugung von einer spezifisch weib­lichen Kreativität infolge des biologistisch begründeten Geschlechterdualismus in der Künstlerinnen-Debatte immer mehr Raum gewann.140 4.2.3 Gesellschaftliche Umbrüche 4.2.3.1 Aufstiege – Wirtschafts- und Kleinbürgertum Das Motiv des gesellschaft­lichen Aufsteigers spielt in Emmi Lewalds Œuvre nur gelegent­lich eine Rolle und wird von der Autorin ausschließ­lich in Verbindung mit der Adelsthematik umgesetzt. Während in den Romanen Das Glück der Hammerfelds (1900) und Büro Wahn (1935) gesellschaft­liche Aufsteiger ledig­lich als Nebenfiguren auftreten und daher an dieser Stelle nicht eingehend behandelt werden, rücken die Romane Der Lebensretter (1905) und Excelsior! (1914) den Aufstieg oder potenziellen Aufstieg von klein- und wirtschaftsbürger­lichen Protagonisten in die adeligen Lebensund Machtsphäre in den Mittelpunkt des Romangeschehens.141 Während Ferdinand

137 Vgl. Muysers: Die bildende Künstlerin, S. 74 ff. Die Kunsthistorikerin Anna Michaelsen berichtete unter dem Pseudonym Jarno Jessen in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften über weib­liches Kunstschaffen und die Berliner Vereinskultur der Frauen. Anna Michaelsen war wie Emmi Lewald Mitglied des Berliner Deutschen Frauenklubs. 138 Hermione von Preuschen-Telmann: Über das künstlerische Studium der Frau (1896). In: Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten. Hg. Carola Muysers. Amsterdam u. a. 1999, S. 73 – 76, S. 74. 139 Ebd., S. 76. 140 Carola Muysers arbeitet in der Einleitung zu ihrer Quellensammlung die unterschied­lichen Phasen der Debatte über weib­liche Kunstproduktivität heraus. Vgl. Muysers: Die bildende Künstlerin, S.  13 – 35. 141 In dem Roman Das Glück der Hammerfelds (1900) stellt sich für den Protagonisten Wolfgang ­Schreiner überraschend heraus, dass die ehemalige Haushälterin und Witwe eines reichen Lederhändlers, Frau Schwarz, die eigent­liche Besitzerin des Gutshauses der Familie von Hammerfeld ist. Die Figur der Frau Schwarz entspricht ganz dem Klischee des ungebildeten Emporkömmlings.

Zentrale Themen

Schulze, der Protagonist des Briefromans Der Lebensretter, es von einer bescheidenen kaufmännischen Existenz zum erfolgreichen Unternehmer der wirtschaftsbürger­ lichen Oberklasse gebracht hat, zielt der aufstiegsbewusste Rechtsanwalt bäuer­licher Herkunft Reinhard Brauer in Excelsior! auf nichts Geringeres als auf die Macht und den Einfluss adeliger Privilegien. Sozialhistorisch muss die Aufsteiger-Thematik in Emmi Lewalds Romanen in Zusammenhang mit den vielfältigen Auf- und Abstiegsprozessen in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs gelesen werden. Neben dem umfassenden Machtund Einflusszuwachs, den das Wirtschaftsbürgertum insbesondere mit Einsetzen der Hochindustrialisierungsphase im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlebte (Vgl. 2.1.1.1), sorgte vor allem das expandierende Kleinbürgertum für eine anhaltende Veränderung der Gesellschaftsstruktur. Das Wachstum des Kleinbürgertums beruhte vor allem […] auf dem Aufstieg des „neuen“ Mittelstands aus industriellen, kaufmännischen, städtischen und staat­lichen Angestellten, aus Subalternbeamten und Lehrern, Meistern und Technikern, nicht zuletzt aus den obersten Schichten der Facharbeiterschaft. Das sich derart erweiternde Kleinbürgertum wurde von einer machtvollen Aufstiegs-, aber auch Abstiegsdynamik unablässig in Bewegung gehalten.142

Emmi Lewalds literarische Ausgestaltung der Aufsteiger-Thematik hat demnach, ebenso wie ihre Darstellung des Niedergangs der adeligen Gesellschaftsformation, eine Gesellschaft im Wandel zum Vorbild, die um 1900 zunehmend von einer Aufstiegs- und Abstiegsmobilität geprägt wurde. In dem um die Jahrhundertwende angesiedelten Briefroman Der Lebensretter (1905) gestaltet Emmi Lewald nicht nur das Verhältnis zwischen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, sondern zwischen dem verarmten Adel und dem Wirtschaftsbürgertum aus. Dem angesichts der finanziellen Abstiegssituation grotesk anmutenden adeligen Standesdünkel der Familie von Windisch (Vgl. 4.2.3.2) wird die Menschenfreund­lichkeit des erfolgreichen Unternehmers Ferdinand Schulze gegenübergestellt. Die Polyperspektivität des Briefromans ermög­licht es der Autorin, dem Leser einen objektiven erzählerischen Standpunkt zu suggerieren und ihm unterschied­liche Figurenperspektiven gleichberechtigt nebeneinander zu präsentieren. Schulze ist ein bürger­licher Aufsteiger par excellence, ein Unternehmer, der seinen Reichtum intensiver Arbeit und dem Erfolg seiner Linoleumfabrik vor den Toren der fiktiven Stadt Greifenburg verdankt. Indem er das Leben der jungen Baroness Die Nebenfiguren Else Basse und Joseph Fahrwasser in Büro Wahn (1935), die später die Residenzen der verarmten Adelsfamilien aufkaufen, gehören ebenfalls dem Kleinbürgertum an und sind Kaufleute, die zu finanzkräftigen und erfolgreichen Unternehmern aufgestiegen sind. 1 42 Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 751.

385

386

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Else von ­W indisch bei einem Schlittschuhunfall rettet, findet der Bürger­liche zum Unbehagen der Familie von Windisch Zugang zur adeligen Gesellschaftsschicht – eine Konstellation, mit der Emmi Lewald den Hintergrund für die literarische Auseinandersetzung mit der Adelsthematik ebenso wie mit dem Phänomen des wirtschaftsbürger­lichen Aufstiegsstrebens schafft. Die kleinbürger­liche Abstammung des Industriellen Schulze wird im Laufe des Romans offensiv durch seine ausgeprägte Heimatverbundenheit, seine Kneipenbesuche und seine Unkenntnis sozialer Formen illustriert. Bereits bei seinem ersten Höf­lichkeitsbesuch auf dem Anwesen der Familie von Windisch zeigt der Fabrikant Unsicherheiten bei der Handhabung seines Zylinders ebenso wie bei der Einhaltung der Etikette im Umgang mit adeligen Gesellschaftsmitgliedern. Während die Baronin von Windisch Schulzes „kordialen“ Handschlag als distanzlos empfindet (Ler 58), interpretiert Elses jüngerer Bruder Fritz die Anzeichen von „Rauhbeinigkeit“ (Ler 21) positiv als gesunde Volksnähe und lobenswerten Gegensatz zum arroganten Betragen der Adelssippe. Die Figur des vierzehnjährigen Fritz, die durch ihre philanthropische Neigung und ihren sozialen Gerechtigkeitssinn als sympathische Außenseiterfigur in der Adelswelt angelegt ist, gibt dem Leser unverkennbar von Beginn des Romans an die positive Deutung des Fabrikanten vor. Über Fritzens Perspektive wird auch das klischeehaft anmutende Gutmenschentum des „Lebensretters“ konstruiert: Dieser hat nicht nur „grundgute Augen wie ein junger großer Neufundländer“ (Ebd.), sondern zeichnet sich neben seiner selbstlosen Menschenrettung in seiner Heimatstadt durch umfangreiche Wohltätigkeit aus. Während Schulzes langjährige und treue Zuneigung zu der arroganten Else von Windisch noch nachvollziehbar erscheint, nehmen seine Duldsamkeit und Menschenliebe im Laufe der Handlung auch unglaubwürdige Züge an, etwa wenn er auf Bitten des Kammerherrn von Windisch seinen Heimatort samt Fabrik zurücklässt oder wenn er die Adelsfamilie trotz jahrelanger Kränkung und Missachtung durch den Ankauf eigent­lich wertlosen Graslandes unterstützt (Ler 161).143 Der Altruismus und die Bescheidenheit des wirtschaftsbürger­lichen Aufsteigers Schulze machen ihn jedoch nicht allein zum ausnahmslos positiv geschilderten Protagonisten des Romans. Emmi Lewald stattet diese Figur auch mit einer breiten Palette bildungsbürger­licher Tugenden und Vorlieben aus. Ferdinand Schulze trägt nicht nur den Titel eines Reserveleutnants und hat seinen bürger­lichen Haushalt in modernem, geschmackvollem Stil eingerichtet, sondern zeigt darüber hinaus eine ausgesprochen sichere Vertrautheit mit den bildungsbürger­lichen kulturellen Formen und 143 Der Umstand, dass der bürger­liche Fabrikant mit einem Heiratsgesuch an die Adelsfamilie von Windisch herangetreten ist und damit eine „unstandesgemäße“ Verbindung vorgeschlagen hat, hat für die Familie innerhalb der eigenen Gesellschaftsschicht eine kompromittierende Wirkung. Die üble Nachrede anderer Adeliger droht zudem, potenzielle Heiratsmög­lichkeiten der Tochter Else zu gefährden. Der Kammerherr zögert nicht, den für ihn unbequemen Ferdinand Schulze in einem Brief zum Verlassen der Stadt aufzufordern. Vgl. Ler 96 f.

Zentrale Themen

Bildungsinhalten. Ihm werden nicht nur eine ausgezeichnete Konversationsfähigkeit und eine Vertrautheit mit Urlaubs- und Kultureisen attestiert, sondern auch gute Belesenheit und ein feingebildeter Musikgeschmack. Schon während des ersten Dankesbesuchs des Kammerherrn von Windischs anläss­lich der Rettung seiner Tochter versucht der Unternehmer, das Gespräch auf das Thema Musik und auf das Konzertprogramm des städtischen Theaters zu lenken, für das er ein Jahresabonnement besitzt. Schulzes musikalische Leidenschaft kommt zudem in seinem eigenen hervorragenden Klavierspiel und in den brief­lichen Berichten an seinen Freund, den Schuldirektor Erhardt zum Ausdruck, dem er von seinen Münchener Opernbesuchen des „Tristan“ und des „Fliegende[n]“ Holländers (Ler 41) berichtet. Die enge Freundschaft mit der Lehrerfigur und einige dezidierte Selbstaussagen des Fabrikanten signalisieren dem Leser von Der Lebensretter endgültig und unmissverständ­lich dessen im innersten Wesen verankerte bildungsbürger­liche Gesinnung. So heißt es in dem auf den 28. März 1891 datierten Brief Schulzes an den Freund Erhardt, er lebe „ziem­lich einsam und werde wie [sein] Vater, der sich auch mit jedem Jahr mehr von den Menschen zurückzog und am liebsten mit Büchern abgab oder mit Klavierspiel“ (Ler 31). Die Figur des bürger­lichen Aufsteigers und Industriellen Ferdinand Schulze ist durch die Vermischung kleinbürger­licher und bildungsbürger­licher Attribute im Vergleich zu Emmi Lewalds rest­lichen Werken eher untypisch angelegt und kann kaum als litera­ rischer Repräsentant der reichen wilhelminischen Industriellen gelten, die auf Basis ihres gewaltigen Vermögens einen prunkvoll-protzigen Lebensstil pflegten. Die Figur ist an dieser Stelle als positives bürger­liches Gegenbild zu einer moralisch korrumpierten Adelswelt entworfen, deren Protagonisten trotz ihrer finanziell prekären Stellung eine standesbezogene Überlegenheit zur Schau tragen. Ferdinand Schulze neben seiner Finanzkraft mit einem bildungsbürger­lichen Habitus auszustatten, erscheint hier notwendig, um ihm in seiner moralischen Überlegenheit eine unabhängige Position zu verleihen – jene finanzielle Unabhängigkeit, die der bildungsbürger­lichen Schicht in der Realität häufig fehlte. Obwohl Emmi Lewald die realhistorische Kluft zwischen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum in Der Lebensretter ausklammert, bleibt in der Gesamtaussage des Romans die Überlegenheit der bürger­lichen Lebens- und Wertewelt gegenüber dem Adelsmilieu bestehen. Während die Familie von Windisch sich die Nobilitierung Schulzes wünscht, um sich seines Vermögens nach einer standesgemäßen Eheschließung ungehindert bedienen zu können (Ler 83), erhält dieser gegen Ende des Romans die Aussicht auf den bürger­lichen Titel des Kommerzienrats.144 Trotz der 144 Die Zahl der Nobilitierungen von Bürger­lichen belief sich während der Regierungszeit Wilhelms II. auf etwa 16 Fälle im Jahr, jedoch lehnten bekannte und mächtige Unternehmer wie Alfred Krupp, Carl Fürstenberg, Max Warburg, Albert Ballin und August Scherl die Erhebung in den Adelsstand auch selbstbewusst ab. Offenbar genoss der Titel des „Kommerzienrats“, eine staat­lich verliehene Ehrenbezeichnung für Mitglieder des Handels- und Gewerbestandes, in wirtschaftsbürger­lichen Kreisen eine höhere Anerkennung. Der Titel war an die Erfüllung bestimmter Kriterien geknüpft,

387

388

Das literarische Werk Emmi Lewalds

von der Hauptfigur Schulze angestrebten Eheschließung mit der Baroness Else von Windisch gibt es daher in dem Roman keine Anzeichen einer übertriebenen Annäherung des Unternehmertums an den Adel bzw. einer Tendenz der „Aristokratisierung“.145 Eine Aufsteiger-Geschichte ganz anderer Prägung bestimmt den Roman Excelsior! (1914), der von der steilen Karriere des armen Bauernsohns Reinhard Brauer bis zum nobilitierten Landesminister in fürst­lichen Diensten erzählt. Brauers Aufstieg ist als Gegenpart zur Entwicklungsgeschichte des Aristokraten Clothar von Geldern angelegt, der als verwöhnter Adelssohn während seiner Studienzeit mit gesellschaft­lichen Klassenunterschieden konfrontiert wird und sich zum demokratischen Schriftsteller wandelt.146 Im Rückblick wird zunächst die Vorgeschichte der Protagonisten erzählt: Clothar von Geldern und Reinhard Brauer wachsen gemeinsam in dem kleinen Fürstenstaat Altenhausen auf, da der Bauernsohn wiederholt als Spielgefährte des früh kränkelnden Adelssohnes auf das Anwesen der Familie von Geldern bestellt wird. Bereits als Kind sind Reinhard Brauer der große Standesunterschied und die daraus resultierenden unterschied­lichen Lebenschancen bewusst, und er entwickelt einen leidenschaft­lichen, alles dominierenden Aufstiegswunsch: „Ein starker Höhentrieb war in diesem Bauernjungen, ein heißer Drang aus der niederen Atmosphäre hinauf in eine höhere, ein Ehrgeiz, der bereits dem dreizehnjährigen tief im Nacken saß“ (Exc 7). An ­Brauers Kindheit schließt sich ein mühevoller, von ständigen Geldsorgen begleiteter Aufstiegsprozess an, der neben persön­lichem Ehrgeiz vor allem von einem starken Sozial­neid und der persön­lichen Konkurrenz mit dem ehemaligen Spielkameraden ­Clothar von Geldern getragen wird. Brauer erhält als begabter Schüler durch die Initiative eines Schulmeisters Stipendien für den Besuch des städtischen Gymnasiums und ein anschließendes Jurastudium. Indem Brauer in die freie Profession der Rechtsanwälte aufsteigt, erreicht er die beruf­liche Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum, auch wenn

„eine hervorragende kaufmännische oder industrielle Stellung, ein erheb­liches Vermögen und ‚allgemeine Verdienst­lichkeit‘“, womit soziales Engagement gemeint war. Um die Jahrhundertwende wurde für den Erhalt des Titels ein Vermögen von einer halben Million Mark vorausgesetzt. Vgl. Budde: Blütezeit des Bürgertums, S. 93 f., Zitat S. 93. 145 Die gesellschaft­liche Annäherung des Wirtschaftsbürgertums an den Adelsstand und die Imitation adeliger Lebensweise wurde insbesondere von der linksliberalen zeitgenössischen Kritik angeprangert, als Verrat bürger­licher Werte und Anbiederung an die adeligen Machteliten interpretiert. Empi­ rische Untersuchungen im Rahmen der neueren sozialgeschicht­lichen Forschung haben schließ­lich zu einer differenzierten Aufarbeitung der „Feudalisierungsthese“ und der Bedeutung der Nobilitierungen geführt. Vgl. die ausführ­liche Auseinandersetzung mit der „Feudalisierungsthese“ bei Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 718 ff. 146 Zählt man die Geschichte der Frauenfigur Fanny von Geldern hinzu (Exc 43 – 68, 79 – 91, 114 – 119, 185 – 194 etc.), die ihrer aristokratischen Lebenswelt den Rücken kehrt, um sich ein selbstständiges Leben als Übersetzerin und Sprachlehrerin aufzubauen, muss gar von drei parallel erzählten Entwicklungsprozessen ausgegangen werden. Die Handlung des Romans beginnt in den 1860er Jahren und erstreckt sich über einen Zeitraum von ca. 15 Jahren.

Zentrale Themen

ihm zunächst noch die materielle Grundlage für einen bürger­lichen Lebensstil und der entsprechende Bildungshintergrund fehlen: Brauer zieht ein Theaterabonnement nur aus karrieristischen Beweggründen in Betracht und verabscheut die verschiedenen Formen bürger­licher Geselligkeit (Exc 108). Dafür achtet der Aufsteiger gewissenhaft auf den Erwerb militärischer Leistungsnachweise, die in der bürger­lichen Gesellschaft einen hohen Statuswert besitzen, und kann sich durch seine Teilnahme am DeutschFranzösischen Krieg 1870/71 nicht nur den Leutnantsrang, sondern auch das Eiserne Kreuz für persön­liche Verdienste erarbeiten. Aus Brauers Kriegsteilnahme – eine der ersten Szenen des Romans – entwickeln sich im Folgenden die parallel erzählten Entwicklungsgeschichten von Reinhard Brauer und Clothar von Geldern, denn Brauer nutzt das Überbringen einer Todesnachricht an die Familie von Gelderns, um Kontakte zum adeligen Milieu anzuknüpfen und seinen Aufstieg in diese Kreise vorzubereiten. Mittels dieser Handlungsmotivation leitet Emmi Lewald die nähere Charakterisierung der Aufsteiger-Figur Reinhard Brauer ein, die als eigennützig, selbstbezogen, nüchtern und pragmatisch dargestellt wird. Der kometenhafte Aufstieg des Ehrgeizlings basiert auf seiner außergewöhn­lichen Intelligenz, dem Erwerb von Bildungspatenten und einem eisernen Fleiß, darüber hinaus kommen ihm sein gutes Aussehen und sein Redetalent zugute (Exc 26). Dabei ist Reinhard Brauer ein Menschen- und Weltverächter, der für seinen Traum von beruf­lichem Aufstieg, gesellschaft­licher Stellung und einem luxuriösen Lebensstil alle mensch­lichen Gefühlsregungen unterdrückt und soziale Beziehungen in berechnender Weise ausnutzt. So verbietet der Protagonist sich nicht nur selbst die Liebe zu einer schönen Fechtmeisterstochter (Exc 35 f.), da sie seinem sozialen Aufstieg hinder­lich sein könnte, sondern zögert aus demselben Grund auch nicht, seine sozial niedrig stehende Herkunftsfamilie zur Auswanderung in die neue Welt zu bewegen (Exc 75). Auf Figurenebene wird Brauers ausgeprägte Aufstiegsmentalität insbesondere aus der Perspektive der positiv besetzten Figur der Sprachlehrerin Fanny von Geldern als „Strebertum“ (Exc 47) verurteilt und sein „rücksichtsloser Ehrgeiz“ (Exc 187) in Kontrast zum erstarkenden Idealismus des demokratisch denkenden Clothar gebracht. Reinhard Brauers beruf­licher und gesellschaft­licher Aufstieg wird vervollkommnet durch seine Aneignung einer spezifischen Gestik und Körperhaltung, die unverzichtbarer Bestandteil des Habitus der bürger­lich-adeligen Oberklasse darstellt. Wie Fanny von Geldern bei einem späteren Wiedersehen mit Brauer konstatieren kann, hat dieser im Laufe seines Aufstiegs auch in Physiognomie und Verhalten alle Anzeichen seiner bäuer­lichen Herkunft abgelegt und an Eleganz, Selbstbewusstsein und Weltgewandtheit gewonnen: Der Rest von Plebejertum, den sie ihm einst so gerne nachgewiesen in den harten Bewegungen seiner breitschultrigen Gestalt, in der Art, die Hände zu halten oder sich auf den Hacken umzudrehen, dieser Rest war gänz­lich verwischt, aufgegangen in der ruhigen Männ­ lichkeit seiner Haltung. (Exc 186 f.)

389

390

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Eine solide Berufssituation, ein achtbarer bürger­licher Status und ein nunmehr gefestigter Habitus bilden somit den Grundstein für Reinhard Brauers politische K ­ arriere und seinen Aufstieg in die höfische Welt im zweiten Teil des Romans Excelsior! (S.  120 ff.). Brauers erster Versuch, den Zugang zur Adelswelt durch eine Hochzeit mit der schwärmerischen Adeligen Ada von Geldern zu erreichen, war zunächst am Standesbewusstsein der Geldern-Familie gescheitert, und diese wurde mit seinem Widersacher ­Clothar vermählt. In einer politischen Umbruchsituation des Fürstentums Altenhausen erhält der Aufsteiger jedoch die Chance, seinem Konkurrenten dessen Anwartschaft auf den Posten eines Landesministers streitig zu machen. Brauers komplex inszeniertes Intrigenspiel am Fürstenhof von Altenhausen bildet den Stoff des zweiten Romanteils. Der heimatverbundene und liberal denkende Clothar von Geldern soll nach einem Regierungswechsel und infolge der Entlassung eines langjährigen Fürstenratgebers auf Wunsch des jungen Fürsten Stephan die Aufgabe eines Landesministers übernehmen. Clothar, der bereits seit längerer Zeit unter einem Pseudonym historische Schriften mit demokratischer Tendenz publiziert, ist zunächst von Vorbehalten geplagt und lässt dem Fürsten zur vertrau­lichen Lektüre seine aktuelle Schrift zukommen, um ihn von seinem politischen Standpunkt in Kenntnis zu setzen (Exc 156).147 Als durch eine Indiskretion das Lektüreexemplar des Fürsten bei Hofe in Umlauf kommt, nutzt der zur finanziellen Beratung nach Altenhausen bestellte Reinhard Brauer die Situation für sich aus, indem er eine Vielzahl von Exemplaren der Schrift nachbestellt und im Fürstentum verbreitet. Als auf B ­ rauers Betreiben schließ­lich auch der wahre Verfasser der Tendenzschrift bekannt wird, verliert Clothar seine gesellschaft­liche Stellung und damit jeg­liche Aussichten auf den Ministerposten – zugunsten von Reinhard Brauer, der sich selbst durch geschicktes Agieren in den finanziellen Angelegenheiten des Fürstenhauses inzwischen unersetzbar gemacht hat. In der staat­lichen Notsituation ernennt Fürst Stephan den Rechtsanwalt zum Landesminister und blendet über dessen Finanzkompetenz und Überzeugungskraft die bäuer­liche Herkunft aus. Mit dem Aufstieg zum Landesminister von Altenhausen hat Reinhard Brauer das Ziel seiner Aufstiegssehnsucht erreicht und kann über seinen vermeint­lichen Konkurrenten Clothar von Geldern in jeder Hinsicht triumphieren. Er erhält nicht nur eine hohe politische Machtposition im Heimatgebiet der Geldern-Familie und hat unbeschränkten Zutritt zum Fürstenhof, sondern kann nach dem Tod des herzkranken Clothar schon bald dessen schöne Witwe Ada von Geldern heiraten: „Frisch geadelt, 147 Bei der fiktiven historischen Studie handelt es sich um eine Abhandlung über den mittelalter­lichen Märtyrer Arnold von Brescia (um 1090 – 1155) (Exc 154 ff.). Der Regularkanoniker und Prediger von Brescia trat für die Besitzlosigkeit und den Verzicht auf welt­liche Macht von Kirchenbediensteten und eine Abschaffung des Papsttums ein, kämpfte daher „gegen die Verwelt­lichung der Kirche und die Herrschaft der Hierarchien“. Friedrich Wilhelm Bautz: Arnold von Brescia. In: Biographischbibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 1. Hamm 1990, Sp. 232 f.

Zentrale Themen

Bundesratsmitglied, Ritter hoher Orden, hielt er um Gelderns Witwe an“ (Exc 353). Mit der Nobilitierung hat der Bauernsohn die gesellschaft­liche Kluft zu seinem ehemals beneideten Spielgefährten endgültig überwunden und das Höchstmaß an mög­ lichem gesellschaft­lichem Aufstieg erreicht. Während der junge Fürst Stephan von Reinhard Brauers Berufung in Form von steigenden Steuereinnahmen profitiert, wirkt sich für die nichtadeligen Bewohner des Kleinstaats Altenhausen der Aufstieg des Ehrgeizlings aus ihrer Mitte zum einflussreichen Minister grundsätz­lich negativ aus. Im Gegensatz zu den volksfreund­lichen Ideen in Clothar von Gelderns Ministerprogramm (Exc 140 ff.), regiert Brauer das kleine Fürstentum mit harter Hand: „Er, der dem Volke entstammte, war keineswegs milde gegen das Volk. Er führte ein scharfes Regiment, unnachsichtig und schroff – – und wie von schönen Sagen sprach man in Altenhausen von guten alten Zeiten, die vorüber waren“ (Exc 354). Der gesellschaft­liche Aufsteiger Reinhard Brauer in dem Roman Excelsior! unterscheidet sich grundlegend von der Aufsteiger-Figur Ferdinand Schulze in dem Briefroman Der Lebensretter. Während Schulzes gesellschaft­liches Aufstiegsstreben an (bildungs-) bürger­liche Wert- und Bildungsvorstellungen geknüpft ist und den Eintritt in die adelige Lebenswelt nicht per se beinhaltet, zielt Reinhard Brauers Ehrgeiz gerade auf diesen höchstmög­lichen gesellschaft­lichen Aufstieg ab. Brauer strebt nach der Zugehörigkeit zur bürger­lichen oder adeligen Gesellschaftsschicht nicht aus Vorliebe für deren soziokulturelle Normen und Werte oder den die Schichtenmitglieder verbindenden Lebensstil, es ist einzig ein alles bestimmender Aufstiegswille, der ihn treibt. Emmi Lewald kreiert mit dem als kaltherzig und rücksichtslos charakterisierten Pragmatiker die Figur eines Karrieristen, der ohne Bindung an Werte und Normen dem beruf­lichen und gesellschaft­lichen Aufstieg um seiner selbst willen verpf­lichtet ist. Das Einzige, was die Aufsteiger-Figuren der beiden Romane tatsäch­lich verbindet, ist ihre physisch und psychisch gesunde Konstitution, die in Der Lebensretter mit Ferdinand Schulzes körper­licher Kraft und in Excelsior! mit Reinhard Brauers Aufstiegswillen und dessen „ungeschwächte[r] Volkskraft“ (Exc 25) als Gegensatz zu der körper­lichen Schwäche und der mentalen Dekadenz der adeligen Protagonisten gestaltet wird.148 Besonders das Merkmal der körper­lichen Schwäche kennzeichnet in Emmi Lewalds Romanen symbolisch den finanziellen Abstieg und den gesellschaft­ lichen Bedeutungsverlust des Adels, von dem im nächsten Kapitel die Rede sein wird.

148 Tatsäch­lich benutzt die Figur Fritz von Windisch in Der Lebensretter genau dieselben Worte bei der Beschreibung des Industriellen Schulze: „Er hat an sich, was ich unter dem Wort ‚Volkskraft‘ verstehe. Sieh mal. Eckbert, so denke ich mir den ‚braven Mann‘ – – „ (Ler 21).

391

392

Das literarische Werk Emmi Lewalds

4.2.3.2 Abstiege – Adel und Höfe Die Adelsthematik spielt in Emmi Lewalds Romanen Der Lebensretter (1905), Excelsior! (1914), Unter den Blutbuchen (1914), Das Fräulein von Güldenfeld (1922), Lethe (1924) und Büro Wahn (1935) sowie in zahlreichen Novellen eine wichtige Rolle. Die Welt der Aristo­kratie und der Höfe war der Autorin aus ihrer Jugend in Oldenburg, wo das gehobene Bürgertum die Hoffähigkeit besaß sowie durch zahlreiche Kontakte und Freundschaften mit Adeligen in den Gesellschaftskreisen Berlins gut vertraut.149 Ihre Texte thematisieren Aspekte der Werteordnung und der Verhaltensmuster des Adels zwischen 1850 und den 1920er Jahren. Die Autorin behandelt mit Vorliebe den zunehmenden Widerspruch des auf standesspezifischen Normen basierenden adeligen Selbstverständnisses zu dem voran­schreitenden ökonomischen Bedeutungsverlust dieser Gesellschaftsschicht im Zuge der intensiven Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seinem politischen Machtverlust nach dem Ende der Monarchien 1918. Tatsäch­lich konnte die traditionelle Gutswirtschaft als ökonomische Basis der adeligen Eliten häufig nicht mit dem aufkommenden Industriekapitalismus des deutschen Kaiserreichs Schritt halten.150 Als Hauptursache dieser Entwicklung macht Berghoff „eine auffällige Diskrepanz zwischen der Dynamik der realen volkswirtschaft­lichen Entwicklung und der Beharrungskraft des lebenswelt­lichen Normgefüges des Adels“151 aus. Die Ständegesellschaft hatte dem Adel vor 1800 die Entwicklung soziokultureller Distinktionsformen ermög­licht, die es ihm erlaubten, sich durch Lebensstil und Verhalten sichtbar von den anderen Gesellschaftsklassen abzugrenzen. Sie reichen von den Kleider- und Waffentrag- oder Luxusprivilegien bis zur Turnier-, Hofoder Satisfaktionsfähigkeit, von den Titeln, Orden, Ordenszugehörigkeit, Wappen bis zum

149 In den regierungsnahen Kreisen des höheren Beamtentums, aus denen Emmi Lewald stammte, waren offensicht­lich Bürgertum und Adel stark verflochten. Die ältere Schwester der Autorin, Sophie Jansen, heiratete beispielsweise den Weimarer Geheimen Regierungsrat Konstantin von Goeckel. Die gesellschaft­liche und private Verflechtung zeigt sich auch in Emmi Lewalds Freundschaft mit der Schriftstellerin Gräfin Valeska von Bethusy-Huc, die sie mehrmals auf deren Landgut Deschowitz in Oberschlesien besuchte. Zudem befanden sich unter den Vereinsmitgliedern des „Berliner Frauenklubs“ und des „Deutschen Lyceum-Clubs“ neben den bürger­lichen berufstätigen Frauen und Aktivistinnen der bürger­lichen Frauenbewegung auch zahlreiche adelige Frauen. Vgl. die Aufstellung der Vorstands-, Ausschuss- und Kommissionsmitglieder des Deutschen LyceumClubs. DLC 13 (1917), Nr. 9, S. 2 – 7. 150 Vgl. Hartmut Berghoff: Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich – Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten. In: Adel und Bürgertum in Deutschland. Hg. von Heinz Reif. Berlin 2000, S. 233 – 271. 151 Ebd., S. 270.

Zentrale Themen

Jagdrecht oder dem Kanzleizeremoniell; von der Sprech- und Körperkultur bis zu besonderen Ehren- und Verhaltenscodizes.152

Während des 19. Jahrhunderts wurde die Erhaltung dieser Distinktionsformen für den Adel immer wichtiger, nicht zuletzt, da sie eine scharfe Trennlinie zur Arbeitsund Geschäftswelt des aufsteigenden Bürgertums zogen. Die Abgrenzung von den bürger­lichen ‚materiellen‘ Werten, die als nicht-standesgemäß angesehen wurden, war fester Bestandteil des adelig-gutsherr­lichen Habitus. Die Ausübung der meisten bürger­lichen Berufe, der gesellschaft­liche Kontakt mit Angehörigen des bürger­lichen Standes und insbesondere die Heirat mit ihnen galten als unehrenhaft und wurden mit gesellschaft­lichen Restriktionen geahndet.153 Die Realität sah jedoch anders aus, denn für adelige Familien, die durch die volkswirtschaft­liche Entwicklung in prekäre ökonomische Situationen geraten waren, stellte die Grenzüberschreitung einer Eheschließung mit einer Unternehmertochter einen regelrechten „Notanker“154 dar. „So ein recht zahlungsfähiger Fabrikbesitzer –“, bemerkt die adelige Leonie in Unter den Blutbuchen (1914) humoristisch, „das ist der richtige Vater für kluge Jungfrauen“ (BB 161). Dem ökonomischen Bedeutungsverlust und der zunehmenden Wirkungslosigkeit seiner geburtsständischen Privilegien setzte der Adel im Kaiserreich ein starkes Engagement im politischen, administrativen und militärischen Bereich des Machtapparats entgegen.155 Neben der Besetzung von höheren Führungspositionen in der preußischen Verwaltung, der Diplomatie und dem Offizierskorps sicherte das Dreiklassenwahlrecht des preußischen Obrigkeitsstaats dem Adel einen starken politischen Einfluss, den er zur Wahrung seiner Interessen nutzte.156 Seine militärische Rolle bei den Reichseinigungskriegen hatte dem Adel zudem ein hohes Maß an gesellschaft­lichem Ansehen angebracht, von dem er bis 1918 profitierte. Gesellschaft­liche Distinktionsbemühungen des Adels Die Abgrenzung des Adels gegenüber anderen Gesellschaftsschichten vollzieht sich in Emmi Lewalds Texten einerseits über die Distinktionsformen des Lebensstils und

152 Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Adel im 19. Jahrhundert. In: Europäischer Adel 1750 – 1950. Hg. von Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1990, S. 87 – 95. S. 89. 153 Der standesspezifische Grundsatz, nach dem die Ausübung bürger­liche Berufe für Adlige als unehren­haft angesehen wurde, besaß ihren Ursprung im „Preußischen Allgemeinen Landrecht“ von 1794, das dem Adel die Ausübung bürger­licher Berufe verbot. Die gesetz­liche Bestimmung hatte bereits 1807 ihre Gültigkeit verloren. Vgl. Berghoff: Adel und Industriekapitalismus, S. 262. 154 Ebd., S. 251. 155 Vgl. Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871 – 1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiser­reichs. Durchgesehene und mit einem neuen Nachwort versehene Lizenzausgabe Frankfurt a. M. 2007, S.  273 ff. 156 Vgl. ebd.

393

394

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Verhaltens 157, anderseits mittels physiognomischer Merkmale, Titel und symbolischer Gegenstände, die ihr symbolisches Kapital, die dynastische Zugehörigkeit und ihre exponierte Stellung in der Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Bereits in der frühen Novelle Der überflüssige Helfenstein (1894) tragen die Kinder der Adelsfamilie von Helfenstein „den Stempel ihrer Familie, die große, scharf-geformte Nase und das vorspringende Kinn, traditionelle Eigenthüm­lichkeiten sämmt­licher Helfensteins“ (GeL 107). Neben den Gesichtszügen, besonders Nase und Kinn, sind die adeligen Protagonisten meist von großgewachsener Statur und distanziert-vornehmem Auftreten. Bei einem Theaterbesuch der Helfensteins haften die Augen der anderen Zuschauer „an den hohen Figuren der Töchter und den gertenschlanken Gestalten der Söhne, zwischen denen der alte Gutsherr wie der vollendete Typus eines feudalen Grundbesitzers stand“ (GeL 129). Das reiche Adelsgeschlecht von Geldern in dem um 1856 spielenden Roman Excelsior! (1914) gehört zu den bedeutenden aristokratischen Familien des fiktiven Fürstentums Altenhausen, da es neben Grundbesitz über eine enge Bindung zum Herrscherhaus und ein traditionelles, auf einer lückenlosen Ahnenreihe beruhendes Selbstverständnis verfügt. Bisher waren diese Kreise völlig waschecht geblieben, kein Tropfen anderen Blutes darin, hermetisch abgeschlossen, wie sich nur noch in kleinen Städten, auf die es nicht viel ankommt, alte Ideen und überwundene Anschauungen konservieren können – Anschauungen, die der erste Zusammenprall mit dem Weltstrom sofort verschlingen würde. (Exc 22)

Zusammen mit anderen Adelsfamilien heben sich die von Gelderns bei ihrer Ankunft bei dem Kasinoball der kleinen Residenzstadt von den anwesenden Mitgliedern der anderen Stände ab. Es waren etwa drei alte Familien mit allem Zubehör – alte Tanten, die irgendein Stifts­ damenkreuz auf verschollener, seidener Robe trugen, große, magere Herren mit umgeschmiedeten Armbändern und kleinen Ordensketten im Knopfloch, blasse, müde Mütter und ein paar Mädchenknospen, die wie Bleichsucht und Ahnenbilder aussahen […]. (Exc 36)

157 Zum angemessenen Lebensstil des Adels gehört in den literarischen Texten das Wohnen in einem herrschaft­lichen Anwesen mit Dienstboten, die Teilnahme an geselligen Veranstaltungen der höchsten Gesellschaftskreise und des Hofes sowie die Berufslosigkeit. Einen bürger­lichen Beruf auszuüben ist besonders den weib­lichen adeligen Figuren nicht gestattet, so etwa Fanny von ­Geldern in Excelsior!, die zwar das Lehrerinnenexamen absolvierte, aber nach Befehl der Gelderns nicht arbeiten darf. Beim Eintritt in das Berufsleben als Sprachlehrerin und Übersetzerin muss sie ihren Adelstitel ablegen und ihre Verbindung zur Geldern-Familie leugnen. Die männ­lichen Adelsfiguren können Berufe im Militär- oder Staatsdienst ergreifen, während rein bürger­liche, vor allem kaufmännische Tätigkeiten als nicht standesgemäß betrachtet werden.

Zentrale Themen

Orden und Schmuckstücke, näm­lich die Stiftsdamenkreuze, die umgeschmiedeten Armbänder und die Ordensbänder, fungieren hier als Herrschaftssymbole, die auf die Herrschertradition des Adels hinweisen. Die in dem Zitat genannte Kränk­lichkeit und körper­liche Schwäche findet sich auch im Herzleiden der Hauptfigur Clothar von Geldern wieder, der bereits als Kind ein „kränk­liche[r] Junker“ (Exc 7) war. Die allgegenwärtigen Schwäche- und Krankheitssymptome symbolisieren den Niedergang des Geschlechts von Geldern und stehen in Lewalds Texten mehrfach stellvertretend für den gesellschaft­lichen, politischen und ökonomischen Niedergang des ganzen Adelsstandes. Noch in dem kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges angesiedelten Roman Das Fräulein von Güldenfeld (1922) pflegt die Hauptfigur Rixa ein außerordent­lich starkes Standesbewusstsein, das auf der in Schmuckstücken, ihrem Titel und einigen physiognomischen Besonderheiten symbolisierten Familientradition fußt. Sie empfand es freudig, wenn andere fühlten, daß sie etwas Besonderes war, wenn man die alte Familienkette und die perlmutterfarbenen Perlen bestaunte oder sie auf Ähn­lichkeiten ansprach mit verstorbenen Vorfahren, die sie nur aus Bildern und Erzählungen kannte. Nie hätte sie ihre etwas große Nase und ihr etwas vorspringendes Kinn, die Merkmale ihres Geschlechts, hingegeben für eine beliebige blühende Mädchenschönheit, wie sie auch nie auf einen Erdenwandel Wert gelegt hätte, in dem sie bürger­lich geboren wäre. (FvGü 24)

Das Zitat fördert zutage, gegen welche gesellschaft­liche Klasse die Distinktionsbemühungen des Altadels gerichtet sind. Die Tradition des Namenszusatzes ‚von‘ in ihrem Familiennamen ist für Rixa von großer Bedeutung, da er die Abgrenzung von den sich dem Adelsstand annähernden Schichten der Bürger­lichen und der reichen Großbauern erleichtert. Dies demonstriert eine Szene, in der Rixa während eines Dinners eine Tischgenossin vor anderen Zuhörern brüskiert, indem sie den Aufstieg von deren Familie aus dem Bauern- in den Adelsstand sowie deren Nobilitierung durch den Landesfürsten im Gegenzug für eine großzügige öffent­liche Schenkung erwähnt (FvGü 21 f.). Emmi Lewald charakterisiert ihre Hauptfigur Rixa mittels einer weltanschau­ lichen Haltung, nach der die Vermischung des Adels mit den anderen Schichten der Gesellschaft sch­licht undenkbar ist. Rixa ist nicht einmal in der Lage, „sich ein Jenseits ohne Klassenunterschiede zu denken“ (FvGü 24). Während der Aufklärung des Skandals um Rixa von Güldenfeld verzichtet ihr Berater Herr von Versner beispielsweise auch darauf, die entlastende Aussage des bürger­lichen Gutsbesitzers Dietrich Esens zu verwenden, da diese für die Landesfürstin gar nicht von Gewicht gewesen wäre.158 158 Die Protagonistin strebt zu Beginn des Romans ihre Berufung zur Hofdame am Fürstenhof an, um ihren Lebensunterhalt langfristig zu sichern. Diese Pläne werden durch die Auswirkungen einer Klatschaffäre unversehens in Gefahr gebracht, als die gelernte Johanniterschwester Rixa einem Bewohner ihres Stadthauses in einem Notfall Hilfe leistet und sie in Verdacht gerät, eine Affäre

395

396

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Adel und Wirtschaftsbürgertum Die Distinktionsbemühungen der alteingesessenen Erbaristokratie sind insbesondere an die sich aus dem Wirtschaftsbürgertum rekrutierende neue Geldaristokratie adressiert. Mit dem ökonomischen Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums konnten bürger­liche Unternehmer durch ihr Vermögen und die Nobilitierungspolitik des Kaiserreichs in die Lebenswelt des verarmenden Altadels eindringen und ihn finanziell und gesellschaft­lich überflügeln.159 Das Verhältnis zwischen Erbaristokratie und Großbürgertum ist zentrales Thema des Roman Der Lebensretter (1905), in dem der reiche Linoleumfabrikant Ferdinand Schulze im Jahr 1891 die junge Baronin Else von ­Windisch nach einem Eiseinbruch unter Einsatz seines Lebens vor dem Ertrinken rettet. Die verarmte Adelsfamilie von Windisch ist in ihren gesellschaft­lichen Vorurteilen gegenüber dem Bürger­lichen derart gefangen, dass sie dem vortreff­lichen Schulze den gesellschaft­lichen Umgang als angemessene Honorierung seiner Heldentat verwehrt. Der Egoismus und die „Seelenroheit“ (Ler 18) der Windischs führen so weit, dass sie Schulzes aufrichtige Zuneigung zu Else ausnutzen, um sein Vermögen für die Konso­ lidierung der Familienkasse zu nutzen, ohne ihm gesellschaft­liche Anerkennung zu zollen. Schließ­lich bringt die „Brahmanenfamilie“ (Ler 43) Windisch Schulze dazu, des Stadtklatsches wegen seine Heimatstadt zu verlassen. Das Handeln der von Windischs wird von einem anachronistischen Selbstverständnis bestimmt, sodass diese trotz des wirtschaft­lichen und sozialen Wandels in der Gesellschaft auf ihre traditionellen Privilegien und Distinktionsrechte pocht. Die Adels­familie empfindet den offiziellen Umgang mit Ferdinand Schulze als gesellschaft­ liche Blamage, seine Heirat mit Else als absolut undenkbar. Else von Windisch selbst ist der Überzeugung, das wahre Vermögen der Familie läge „in der absoluten Reinheit unserer Abstammung. In diesem Bewußtsein liegt das Kapital, das unsere Väter für uns sammelten“ (Ler 124). Für das Scheitern ihrer späteren Ehe mit dem gewalttätigen Freiherrn Norbert von Heroldingen macht Else dann auch einen „Stammbaumfehler“ des Heroldingschen Geschlechts verantwort­lich: Das finanzielle Kapital der Familie mit dem Verletzten, einer lokalen Schauspielgröße, gehabt zu haben (FvGü 24 ff.). Daraufhin wird sie nicht nur vom hoffähigen Adel der Residenz gesellschaft­lich ausgegrenzt, sondern fällt bei der konservativen Herzogin in Ungnade und verliert jede Aussicht, ihr Leben im Hofdienst verbringen zu können. Einzig der bürger­liche Gutsbesitzer Dietrich Esens, der bei dem nächt­lichen Vorfall anwesend war, hätte Rixa durch eine Aussage bei der Fürstin entlasten können. 159 Durch die Unternehmernobilitierung wurde der alte Geburtsadel auch für das Großbürgertum geöffnet. Die Praxis fand jedoch in kleinem Rahmen statt und darf quantitativ nicht überbewertet werden. Laut Berghoff betrug der Anteil der Unternehmer bei den Nobilitierungen in Preußen zwischen 1871 und 1918 insgesamt 11,3 % und bei den Aufnahmen in den privilegierten Hochadel sogar nur 6,3 %. Im Vergleich zu Preußen waren in Großbritannien 35,7 % der zwischen 1868 und 1919 in den Hochadel Erhobenen Unternehmer. Vgl. Hartmut Berghoff: Aristokratisierung des Bürger­tums? Zur Sozialgeschichte der Nobilitierung von Unternehmern in Preußen und Großbritannien 1870 bis 1918. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 178 – 204.

Zentrale Themen

war vor Generationen von der bürger­lichen Erbin einer rheinischen Schokoladenfirma in die Dynastie eingebracht worden. Geldaristokratie ist etwas andres, als wir sind. Seine [Anm. Norberts] Eigentüm­lichkeiten kommen auf das Konto von Zeitverhältnissen und sozialen Entwicklungen, die mit dem Selbstgefühl wirk­lich alter Familien gar nichts zu tun haben. (Ler 178 f.)

Im Laufe des Romans muss Else von Windisch dann jedoch aus finanzieller Not selbst die Abgrenzung von der bürger­lichen Geschäftswelt aufgeben, und wie an die Stelle der Berufslosigkeit das Schreiben von Feuilletons tritt, verwandelt sich ihr Standesdünkel letztend­lich in Sympathie und Respekt für den Fabrikanten Schulze – zu spät, denn als Else zu einer Ehe mit ihm bereit ist, kommt dieser bei einem Brand ums Leben. Im Gegensatz zu Else vermag sich ihr Bruder Eckbert von Windisch nicht von seinen antibürger­lichen Vorurteilen zu lösen, die zudem eine antisemitische Einfärbung tragen. Als der zweite Bruder Fritz seiner Familie mitteilt, dass er aus Liebe die reiche Jüdin Erna Lilienhain heiraten möchte, schreibt Eckbert in einem Brief an ihn: Ein reiches Judenmädchen – es liegt so viel Mangel an Geschmack darin! Ich würde physisch leiden, wenn Du eine solche Verbindung eingingst. Ich würde Dich totschweigen vor andern, ich würde Dich sogar verleugnen, wenn ich mit einem Kameraden unter den Linden ginge und Dir begegnete – mit so jemandem am Arm. […] Du würdest mir vorkommen wie ein Mensch, der sich nicht die Hände wäscht. (Ler 185)

In dem Roman Das Glück der Hammerfelds (1900) scheitert die Verbindung zwischen einer Adeligen und einem bürger­lichen Lehrer im Gegensatz zu Der Lebensretter an der bürger­lichen Prinzipientreue der Hauptfigur. Die verarmte Adelsfamilie von Hammerfeld verlor ihren feudalen Besitz durch Verschuldung und lebt auf ihrem ehemaligen Anwesen in Lindenheim, das sich bezeichnenderweise im Besitz einer reichen, ungebildeten Lederhändlerwitwe befindet (GdH 44). Trotz ihrer Armut versuchen die Adeligen, nach außen den Eindruck eines standesgemäßen Lebensstils zu wahren, indem sie berufslos bleiben, sich teuer kleiden und sich kostspieligen Vergnügungen hingeben. Jede Operngesellschaft, die im Städtchen gastierte, zählte die Hammerfelds zu ihren eifrigs­ten Besuchern, wobei es sie nicht zum mindesten genierte, auf den teuersten Plätzen zu s­ itzen, während unbezahlte Schlächter, Schuster und Droguenhändler von den billigen Reihen zürnend zu ihnen herübersahen. (GdH 47)

Das fehlende finanzielle Kapital der Hammerfelds bestimmt die Charaktere und die Denkweise aller Familienmitglieder, sodass jeder im jeweils eigenen Interesse die

397

398

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Verheiratung der lethargischen Tochter Doris mit dem durch eine Erbschaft finanziell gut gestellten Lehrer Wolfgang Schreiner vorantreibt. Da sein Vermögen den Hammerfelds die Wiedergewinnung ihres Besitzes und gesellschaft­liche Rehabilitation in Aussicht stellt, sind sie bereit, die nicht-standesgemäße Verbindung in Kauf zu nehmen. Der pragmatische Ausspruch des Onkels, „jeder gibt eben, was er hat, der eine den Stand, der andere das Vermögen“ (GdH 88), bezeichnet eine durchaus gängige Heiratspolitik um die Jahrhundertwende, durch die sowohl der absteigende Adelsstand als auch das aufsteigende Wirtschaftsbürgertum ihre Interessen wahren konnten. Die Verbindung scheitert letzt­lich an Schreiners Enttäuschung über die kühle Berechnung der Familie und die Lieblosigkeit der in die Märtyrerrolle gedrängten Doris, deren Entdeckung sein bürger­liches Ideal der Liebesehe enttäuscht. Emmi Lewalds literarische Darstellung des Adels fördert Aspekte der bürger­lichen Sichtweise auf den Adelsstand zutage. Im Mittelpunkt stehen die Bemühungen des Adels, in den Zeiten gesellschaft­licher Umbrüche seine traditionellen Distinktionsformen der aristokratischen Verhaltens- und Lebensweise zu wahren. Doch die dynastischen Strukturen, die angestammten Privilegien und die traditionellen höfischen und gesellschaft­lichen Funktionen des Adels, die in den Texten durch körper­liche Merkmale, Ahnenbilder und gegenständ­liche Herrschaftssymbole symbolisiert werden, können seine ökonomische und politische Entmachtung nicht aufhalten. Mehr als die Armut fürchten die Adeligen in den Textbeispielen die Überwindung der seit den Tagen der Ständegesellschaft bestehenden Schranken zu den unteren gesellschaft­lichen Klassen, insbesondere zum reichen Wirtschaftsbürgertum und dem aus ihm erwachsenen Geldadel, der den alteingesessenen Adel ökonomisch und gesellschaft­lich zu überrunden droht. In den Romanen geraten die adeligen Protagonisten in Konfliktsituationen, die durch den ökonomischen und gesellschaft­lichen Wandel verursacht sind, und in denen sie entweder rückwärtsgewandt auf ihrem traditionellen adeligen Selbstverständnis beharren oder durch eine moderne, zukunftsgerichtete Entscheidung über dieses hinausgehen. Die junge Baroness Else von Windisch in Der Lebensretter (1905) verspielt aufgrund ihres Standesdünkels und der Verachtung für ihren bürger­lichen Lebensretter Ferdinand Schulze ihr persön­liches Lebensglück.160 Residenzen und Höfe Im Zusammenhang mit Emmi Lewalds Adelsdarstellungen scheint auffällig, dass die Autorin zwar in Berlin in unmittelbarer Nähe des kaiser­lichen Hofs lebte, in ihren Prosatexten jedoch stets länd­lich-abgeschiedene, unbedeutende Staaten und kleine 160 Vgl. das ähn­liche Motiv in der Novelle Fräulein Kunigunde (1894), in der die hochmütige Hofmarschallstochter Lucy aufgrund ihres Standesdünkels die Ehe mit dem bürger­lichen Akademiker Arthur Otfried ausschlägt und letztend­lich ihre ledige Existenz in einem adeligen Damenstift verbringt. Emil Roland: Fräulein Kunigunde. Bade-Novelle. Berlin Deutsche Schriftsteller-Genossenschaft 1894.

Zentrale Themen

Residenzstädte zu den Schauplätzen ihrer Handlungen macht. Insbesondere in den kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges publizierten Romanen Excelsior! (1914) und Unter den Blutbuchen (1914), die zeit­lich vor der Jahrhundertwende angesiedelt sind, dient die Adelsthematik nicht mehr der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum, sondern ermög­licht die Darstellung eines von Modernisierung und Industrialisierung nur am Rande berührten Lebensmilieus und seiner Konflikte. Während die vormoderne Lebenswelt in Excelsior! noch weitgehend intakt ist, sind es in Unter den Blutbuchen vor allem die jungen bürger­lichen und adeligen Frauen, welche die Auswirkungen gesellschaft­licher und ökonomischer Modernisierungsprozesse als erste zu spüren bekommen. Der Roman Excelsior! spielt in adeligen Kreisen des Fürstenstaates Altenhausen in der Zeit nach 1856. Das kleine Fürstentum grenzt an Preußen, und einige Hinweise deuten darauf hin, dass die thüringischen Herzogtümer Sachsen-Altenburg oder Schwarzburg-Sondershausen als Vorbilder für diesen Schauplatz gedient haben mögen.161 Hier seien der jagdbegeisterte Fürst Stephan, die geplante Renovierung eines Jagdschlosses und die Erwähnung der Metall-, Chemie- und Druckereibetriebe genannt, die nach 1850 die wirtschaft­liche Kraft der Länder ausmachten.162 Die zentrale Figur des Hofes und der Residenz Altenhausen bildet der junge Fürst Stephan, der aus einer unbedeutenden Nebenlinie seines Geschlechts stammt und nicht auf die Verantwortung der Herrschaft vorbereitet ist, als in zeit­licher Nähe sowohl der alte Fürst als auch der Erbprinz sterben. Sein Interesse gilt dem Militärischen, dem Sport und der Jagd, und auch seine junge Frau Helene ist eher dem Amüsement als den Regentenpf­lichten zugetan. Das Fürstenhaus von Altenhausen genießt seit Genera­ tionen die „tiefverwurzelte Loyalität“ (Exc 92) seines Volkes, die durch die umsichtige und menschenfreund­liche Regentschaft des alten Fürsten weiter gestärkt worden war. Eng verwachsen mit seinem Fürstenhaus fühlte sich jede eingeborene Seele in diesem kleinen Land. Neben allen Leidenschaften, die sonst ihre Herzen durchglühen mochten, lebte beständig in ihnen das heiße, patriotische Gefühl für die Dynastie, für die Fürsten ‚von Gottes Gnaden‘, denen sie angehörten und die ihnen angehörten. (Exc 92)

161 Es wird erwähnt, dass Wilhelm I. des Öfteren im Jagdschloss des Fürsten zu Gast war (Exc 134). Das schwierige Verhältnis des Fürstentums Altenhausen zu Preußen wird mehrfach angedeutet. Obwohl der Kleinstaat geografisch „zwischen preußische[n] Provinzen“ (Exc 98) liegt, ist die Abgrenzung dem Fürstenhaus sowie dem Altenhausener Volk sehr wichtig. So wird die Nationalhymne des ­Staates erwähnt, die „den Landeskindern jedesmal heimatmahnend durch die Erinnerung fuhr, wenn sie auswärts ‚Ich bin ein Preuße – kennt ihr meine Farben‘ durch die Lüfte rauschen hörten“ (ebd.). 162 Clothar von Geldern, der sich für die sozialen Verhältnisse des Fürstentums interessiert, ist besorgt um die Menschen „in den verlorenen Dörfern und am Fluß hinauf, wo die Schlöte rauchen, in den unseligen Farbenwerken, die so viel gesundes Blut krank machen“ (Exc 232).

399

400

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Emmi Lewald beschreibt detailliert zentrale Ereignisse in der Residenz, die das enge Verhältnis des Fürstenhauses und des Volks illustrieren, näm­lich die Begräbnisfeier des verstorbenen Fürsten, die Feier­lichkeiten zum Einzug des neuen Fürstenpaares und die Dorfbesuche des Fürsten. Die alte Ära neigt sich mit dem Regierungswechsel im Schloss dem Ende zu, als der junge Fürst Stephan anläss­lich einer Affäre um die Anstellung eines neuen Hofgeist­lichen einen langjährigen Minister des alten Regenten entlässt. Die Entlassung des Beamten und die Nachfolgefrage lösen eine Reihe von Umwälzungen aus, an deren Ende die Besetzung des Postens mit dem ehrgeizigen Aufsteiger Reinhard Brauer steht, der bereit ist, die Vergnügungssucht des jungen Fürstenpaares durch Steuererhöhungen zu finanzieren. Neben der Stellung des Fürstenhauses in dem Kleinstaat Altenhausen und den politischen Ereignissen stellt Emmi Lewald in Excelsior!, dessen Hauptfiguren bis auf den bürger­lichen Rechtsanwalt Reinhard Brauer dem Adelsstand angehören, auch das Leben der Hofgesellschaft dar. Der Fürstenhof ist in dem Roman als abgeschlossenes gesellschaft­liches Milieu mit einer eigenen Hierarchie und spezifischen Umgangsformen entworfen. Um das Fürstenpaar gruppiert sich eine geregelte Gesellschaft von Funktionsträgern, deren Stellung am Hof durch ihre Aufgaben definiert wird: Oberhofmeisterin und die Hofdamen, Adjutanten, Kammerherr, Oberstallmeister, Hofmarschall, Minister. Bei einer vollständigen Versammlung des Hofstaates sind außerdem die Landedelleute und die Honoratioren der städtischen Gesellschaft anwesend. Die Umgangsformen sind durch die Etikette geregelt, es gibt jedoch hinter dem von dem offiziellen Reglement bestimmten Verhalten der Figuren ein zweites Agitationsfeld, das von regen Interessenkämpfen bestimmt wird. Jahrzehntelang hatten sie [Anm. die Hofchargen des alten Regenten] sich gegenseitig ihr Leben verdorben mit ewiger Eifersucht um Fürstengunst und Weiterkommen – mit jener Eifersucht, die gerade darum so quälend war, weil sie immer verborgen werden mußte unter tadellosen Manieren und glattem Hofmannslächeln […]. (Exc 100)

Das Streben nach ‚Fürstengunst‘ ist die wichtigste Handlungsmotivation der Hofange­ hörigen, denn sie garantiert ihre gesellschaft­liche Stellung, das Ansehen bei Hofe und die beruf­liche Karriere. Wer den fürst­lichen Interessen zuwider handelt, wie der Minister Schenk, der die Einstellung eines auswärtigen konservativen Hofgeist­lichen zugunsten eines Landesgeist­lichen mit liberaler Gesinnung verhindern möchte, der fällt in fürst­liche Ungnade. Die Restriktionen der Hofgesellschaft in diesem Falle reichen von öffent­licher Ächtung und Ausschluss von der Hofgeselligkeit bis hin zur dienst­lichen Entlassung. Im Kampf der Figuren um Machtpositionen am Fürstenhof spielt die Bildung von Interes­senparteien durch Klatsch und öffent­liche Ächtung eine zentrale Rolle. Auch Ada und Clothar von Geldern verfallen dem „Ostrazismus“ (Exc 242) der Hof­ gesellschaft, als bekannt wird, dass Clothar unter dem Pseudonym „Excelsior“ politische Pamphlete mit demokratischer Tendenz publiziert. Clothar wird so seiner Aussicht auf

Zentrale Themen

den Ministerposten beraubt. Der Roman Excelsior! setzt sich dahingehend von Emmi Lewalds früheren Bearbeitungen der Adelsthematik ab, als die beiden positiv gezeichneten Figuren Clothar und Fanny von Geldern die traditionellen Distinktionsformen des Adels zugunsten bürger­licher Tätigkeiten und Überzeugungen ignorieren. Dafür erwarten sie strenge Sanktionen ihrer eigenen Gesellschaftsschicht, die Fanny wegen ihrer Berufstätigkeit als Lehrerin und Clothar wegen seines demokratischen politischen Standpunktes und der Arbeit als Schriftsteller fortan aus ihrem Kreis ausschließt. Der in zeit­licher Nähe zu Excelsior! publizierte Roman Unter den Blutbuchen (1914) hat den herzog­lichen Hof der kleinen nordwestdeutschen Residenz Neuenkirchen zum zentralen Schauplatz.163 Der Sitz eines Fürstenhauses zu sein, so wird bei der Beschreibung der Stadt ausgeführt, erhebe „die kleine Stadt über so und so viel größere Provinzstädte hinweg auf eine höhere Stufe“ (BB 34), da der „Nimbus der Residenz“ (ebd.) ihr Bild mit vornehmen und malerischen Akzenten wie dem herzog­lichen Banner und den fürst­lichen Gespannen verschönere. Wenn man den im Text verstreuten Hinweisen zur Einordnung der Handlung in die Zeit um 1900 folgt,164 haben die oldenburgischen Großherzöge als Vorbilder für die Fürsten gedient, und mit dem „jungen Herzog, dessen Interessen fern von Neuenkirchen stark gefesselt waren“ (BB 309), könnte Großherzog Friedrich August (1852 – 1931) gemeint sein, der 1900 die Regierungsgeschäfte im Staat Oldenburg übernahm. Die Bewohner Neuenkirchens nehmen eine ablehnende Haltung gegenüber der Großmacht Preußen ein, obwohl ihr Staat, wie Graf Rynar bei einem Dinner bemerkt, seine politische Unabhängigkeit bewahren konnte und nicht zu den preußischen Provinzen zählt (BB 83). Für den Aristokraten macht der Einfluss der preußischen Mentalität im deutschen Kaiserreich den Eindruck des „Schablonenhaften“ (ebd.). Auch ist die Rede von einem Neuenkirchener Amtshauptmann, „von dem die Sage ging, daß er eigent­lich keinen Preußen sehen könnte, und in bezechtem Zustand sogar einmal ein [sic] Seidel nach einem Bezirkskommandeur geworfen hätte“ (BB 115). Die Hauptfiguren des Romans sind bürger­lichen oder adeligen Hof- und Staatsbeamtenfamilien zugeordnet und gehören allesamt der höchsten gesellschaft­lichen Rangklasse Neuenkirchens an.165 Wie in dem Roman Excelsior! besteht ein enges Ver 163 Als Vorbild für die Residenz Neuenkirchen diente die Residenzstadt Oldenburg, in der Emmi Lewald ihre Kindheit und Jugend verlebte. Der Oldenburger Historiker Schieckel hat Unter den Blutbuchen als Schlüsselroman analysiert und die in dem Roman enthaltenen Hinweise auf die historischen politischen Verhältnisse, Personen und Orte des Staates entschlüsselt. Vgl. Schieckel: Zu Emmi Lewalds Schlüsselroman „Unter den Blutbuchen“. 164 Eine zeit­liche Eingrenzung lässt sich durch Ebba Brages Ankündigung vornehmen, sie werde Neuen­kirchen verlassen, um im Haus eines deutschen Konsuls in der chinesischen Kolonie zu wohnen. Hier handelt es sich mit großer Wahrschein­lichkeit um einen Hinweis auf das 1898 von China an das deutsche Kaiserreich verpachtete Gebiet mit der Stadt Kiautschou / Tsingtau. 165 Zu den bürger­lichen Protagonisten gehören Erika aus der Familie des Präsidenten Winfried und Georg, Sohn der Kammerrätin Werther. Erikas Freundinnen stammen dagegen aus den adeligen Familien von Brage, von Busche (Kammerherr) und von Wehde. Adeliger Herkunft sind außerdem

401

402

Das literarische Werk Emmi Lewalds

hältnis zwischen dem Volk, den Honoratioren der Residenz und dem Fürstenhaus. So beschäftigt die Weltreise des jungen Herzogs die Tageszeitungen und Gemüter des Volkes mehr „als Balkankriege und Reichstagsdebatten“ (BB 115), die Prinzessinnen wählen ihre Hofdamen unter den Töchtern des städtischen Adels aus, und die Herzogin beobachtet und kontrolliert die Heiratspolitik der höchsten Gesellschaftsschicht. Auf Karrierekämpfe der Höflinge wird nicht eingegangen, wohl aber auf die sozialen Kontrollmechanismen der Hofgesellschaft bezüg­lich der Eheschließungen ihrer Kreise, der Wahrung der Etikette und der Klassengrenzen. Als typischer Repräsentant des alten Adels erscheint die Figur Graf Bodo von Rynar, der am Hof von Neuenkirchen als Vertreter eines im Aussterben begriffenen Adelshabitus geachtet und verehrt wird. Um seine Person dreht sich folgendes Gespräch zwischen der jungen Leonie und ihrer Ballbekanntschaft: „Prachtvolle Erscheinung, dieser Graf Rynar,“ murmelte der Kavallerist. „Ja, etwas ganz Seltenes. Denn der Typus des Hofherrn, wie er jetzt meist vorkommt, deckt sich doch gewöhn­lich genau mit dem Typus des höheren Preußischen Offiziers. Aristokraten aber wie dieser, die ihre Manieren und ihre Art ganz für sich haben, findet man allenfalls noch in Stuttgart oder Karlsruhe, an den preußischen Höfen kaum […].“ (BB164)

Graf Rynar muss im Laufe der Handlung erkennen, dass sein Leben „um einer Chimäre willen nutzlos und zwecklos im Sande verlaufen war“ (BB 240), weil er es den rückständigen und resignativen Adelstraditionen widmete. Um adeliger Prinzipien willen hatte er nicht nur einen nutzlosen Dienst am Fürstenhof abgeleistet, sondern auch seinen besten Freund im Ehrenduell erschossen. Schließ­lich nimmt sich Rynar durch einen Kopfschuss das Leben. Das Ende der Monarchien 1918 166 Der 1922 erschienene Roman Das Fräulein von Güldenfeld behandelt anhand der Figur Rixa von Güldenfeld die Konsequenzen der politischen Umwälzungen von 1918 für den Adelsstand, den Verlust seiner politischen Macht, seiner gesellschaft­lichen Privilegien und Titel.167 Die Handlung ist in den adeligen Kreisen einer nicht näher bezeichnedie Figuren Graf Bodo von Rynar, der Offizier von Ramin, die Schwestern von Wedell sowie der Kammerherr von Räumer. 166 Vgl. im Zusammenhang mit diesem Abschnitt auch das Kapitel zu Emmi Lewalds Nachkriegs­ romanen Das Fräulein von Güldenfeld (1922) und Lethe (1924) 4.2.5.1. 167 In dem Roman wird thematisch der Niedergang des Adels mit Überlegungen zur Situation der adeligen Frauen im 20. Jahrhundert kombiniert. Rixa von Güldenfelds Bemühung um eine Anstellung als Hofdame der Fürstin nach dem Tod ihrer Eltern hat einen realistischen Bezug, denn „vor 1918 bot das Amt einer Hofdame eine der wenigen Mög­lichkeiten einer von der Familie unabhängigen adeligen Existenz.“ (Wienfort) Die durch Klatschgeschichten verursachte Schädigung ihres Rufes nach der Rettung eines angeschossenen Schauspielers verhindert zunächst auf tragische

Zentrale Themen

ten kleinen norddeutschen Residenz an einem Fluss namens Altenbeeke angesiedelt. Ein wichtiger Schauplatz ist die dem Fürstenpalais benachbarte vornehme Feodorenstraße, ein Wohngebiet der höchsten, hoffähigen Gesellschaftsmitglieder. Außer dem Gut Altenesch des Großbauern Esens stehen sämt­liche Schauplätze der Handlung in adeligem Kontext, der Hof des Fürstenpaares, die Wasserburg der Güldenfelds und das adelige Damenstift Brodersen. Im Mittelpunkt des Romangeschehens steht die letze Nachkommin eines bedeutenden alteingesessenen Adelsgeschlechts der Residenz, Rixa von Güldenfeld, deren Vorfahren zusammen mit der gräf­lichen Familie Othmer „stets die höchsten Ämter bei Hofe bekleidet hatten“ (FvGü 6). In dem Roman wird durch einen Zeitsprung, der die Kriegsphase ausspart, die Situation des Adels während der Julikrise 1914 mit der nach Kriegsende im Sommer 1919 kontrastiert. Die revolutionären Ereignisse, die zum Ende des Weltkriegs und zum Sturz der Monarchien führen, werden in adeligen Kreisen als wüster Aufstand wahrgenommen, der als „rote Welle über das Land an der Altenbeeke flutete und den Thron niederriß und das Gemeine und Meskine in einem Rahmen regierte, in dem Würde und Haltung stets so viel gegolten hatten“ (ebd.). Emmi Lewald konfrontiert in ihrem Roman die noch vollständig in ihren traditionellen Vorstellungen von politischer und gesellschaft­licher Ordnung gefangenen adeligen Figuren mit dem Durchbruch des demokratischen Parlamentarismus und der politischen Entmachtung des Adels. Mit der historischen Zäsur des Jahres 1918 gerät aus Sicht des Adels „eine Welt aus den Angeln“ (ebd. 137). Die adelige Gesellschaftsschicht bleibt zwar im Besitz ihres Vermögens und ihrer Ländereien, verliert jedoch ihren privilegierten Zugang zu politischen Machtpositionen und ihre privilegierte gesellschaft­liche Stellung. Zwar war die exklusive Stellung des Adels im Roman bereits durch den gesellschaft­lichen und finanziellen Aufstieg des Bürgertums infrage gestellt worden, doch erscheint die Mög­lichkeit einer demokratischen Staatsform für die adeligen Protagonisten noch während der Kriegssituation absolut undenkbar: „Jeder demokratische Gedanke war ihnen von jeher ein Schrecknis, eine Schändung ihres Tempels gewesen. Nun pocht eine freiheit­liche Zeit nicht nur an ihre Pforten, nein, sie hatte einfach die Pforten eingetreten und war längst über der Schwelle, überall!“ (FvGü 125). Rixa empfindet den Untergang der Epoche der Adelsherrschaft nicht nur als politisch-gesellschaft­ liche Veränderung, sondern als Entweihung einer geheiligten Weltordnung, mit der alle ihr wichtigen Ideale, Werte und Traditionen zerstört werden. Weise Rixas Berufstätigkeit. Im Ersten Weltkrieg leistet sie Kriegsdienst als Johanniterschwester und erlebt die Zeit als „beste und befriedigendste ihres Lebens“ (FvGü 127). Der Lazarettdienst war unter adeligen Frauen verbreitet, wie Wienford anhand der Fürstin Daisy von Pleß dokumentiert, die im Ersten Weltkrieg als Rot-Kreuz-Schwester u. a. auf Lazarettzügen arbeitete. Vgl. Monika Wienfort: Adelige Frauen in Deutschland 1890 – 1919. In: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Eckhart Conze und Monika Wienfort. Köln u. a. 2004, S. 181 – 203. Insbesondere S. 182, 190.

403

404

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Das Land ohne Fürst schien Rixa seltsam entweiht und entgöttert. In dem Schicksalsaugenblick, der so viele Throne umwarf, war gar zuviel mit in den Abgrund gestürzt, was den Reiz und die Vornehmheit und die Vorzüge des Lebens ausgemacht hatte. (FvGü 136)

Sie versucht zunächst, sich in eine der letzten adeligen Institutionen nach 1919 zurückzuziehen und hält sich in einem Damenstift auf, wo ihrer Überzeugung nach mit Sicherheit „nichts Plebejisches aus der neuen Zeit eindringen“ (FvGü 132) konnte. Schließ­lich gewinnt jedoch ihre langjährige Neigung zu dem bürger­lichen Gutsbesitzer Dietrich Esens die Oberhand, der vor Kriegsende unüberbrückbare Schranken durch den bestehenden Klassenunterschied gesetzt waren. Die Verhältnisse der neuen Ordnung ermög­lichen den gesellschaft­lichen Aufstieg Esens zum Minister der nunmehr in einen Freistaat umgewandelten Residenz und stellen eine Gleichrangigkeit zwischen der entmachteten Adeligen und dem aufsteigenden Bürger­ lichen her. In der Liebesbeziehung zwischen den Figuren Dietrich Esens und Rixa von Güldenfeld, die im Laufe der Handlung zunächst durch den Klassenunterschied getrennt sind, sich während des Krieges annähern und schließ­lich die Ehe eingehen, bildet Emmi Lewald die Entmachtung des Adels und die veränderten Machtverhältnisse zu Beginn der Weimarer Demokratie ab, in die auch ihre Romanfigur Rixa sich fügen muss. Sehen Sie, der Unterschied zwischen uns beiden ist so derselbe Unterschied wie etwa zwischen Ihrer Wasserburg und meinem Altenesch. Ich gebe zu, daß er sehr groß ist. In den früheren Zeitläufen war er unüberbrückbar, aber wie die modernen Tage sind, nähert sich doch alles ein wenig einander an, und Klüfte füllen sich etwas aus. (FvGü 117)

Emmi Lewalds letzter Roman Büro Wahn (1935) ist in der Zeit der Wirtschaftsinflation nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt, als der finanzielle und politische Bedeutungsverlust des Adels eine gesellschaft­liche Realität geworden ist und Eheschließungen zwischen Angehörigen des Adels und des finanzkräftigen Wirtschaftsbürgertums an der Tagesordnung sind. Den Rahmen der Romanhandlung bilden zwei symbolträchtige Immobilienverkäufe: Zum einen geht das Schloss Friedeburg, ehemaliger Sitz der Adelsfamilie von Wahn, in den Besitz der Kleinhändlerfamilie Basse über, zum anderen muss der verschuldete Flodoard von Plathe sein mecklenburgisches Schloss Weistritz an den reichen Schuhfabrikanten Joseph Fahrwasser verkaufen. Die Familie von Wahn, der die beiden Hauptfiguren Georg von Eck und Astrid von Wahn entstammen, ist bereits zu Beginn des Romans in Auflösung begriffen. Das letzte große Familienfest vor dem Einzug der neuen Eigentümer in Schloss Friedeburg muss Georg mit dem Verkauf von Familienschmuck finanzieren, nicht zuletzt da die Familienmitglieder auf Erstattung der Reisekosten angewiesen sind. Der Aufenthaltsort zahlreicher Angehöriger ist unbekannt und andere bleiben dem Fest aus Schamgefühl fern.

Zentrale Themen

Es war nicht leicht gewesen, die Anschriften aufzubringen, denn nach den Schrecken der Inflation und den Schicksalswenden der stabilisierten Mark war manches Familienglied bewußt in den Inkognitozustand getaucht, aus dem sie sich wohl für diese besondere Gelegenheit aufgerafft hätten, wäre ihnen nur die Mög­lichkeit einer richtigen Aufmachung zur Hand gewesen. Schlecht angezogen oder herabgekommen im Äußeren zu erscheinen, das brachte kein Wahn fertig, und manche Antwort blieb auf Georg Ecks Briefe einfach aus. (BW 8)

Während die alte Generation der von Wahns beruf­lich den gesellschaft­lichen, militä­ rischen und kirch­lichen Eliten der Vorkriegszeit angehörte, muss die junge Generation sich in der veränderten und zutiefst unsicheren Wirtschafts- und Berufssituation der 1920er Jahre behaupten. Der Familienprotektionismus des Adelsstandes funktioniert nicht mehr. Auf dem Familienfest können nur zwei Familienmitglieder, die als Pilot und als Cutter einer Filmgesellschaft arbeiten, beruf­lichen und finanziellen Erfolg vorweisen. Der berufslose Georg Eck erlebt nach dem Verkauf des Familiensitzes einen raschen gesellschaft­lichen Abstieg, da er seinen luxuriösen Lebensstandard nicht den veränderten Verhältnissen anzupassen vermag. Bezeichnenderweise muss Georg Eck ein Familienerbstück, einen goldenen Becher, verpfänden, den er als Lohn für die Organisation und Ausrichtung des Wahnschen Abschiedsfestes erhalten hatte. In seiner Wohnung waren die Pfändungszettel auf seine Habe geklebt. Er ging schon mit dem Gedanken um, den goldenen Thulebecher und die Trauringe seiner Eltern nunmehr doch zu verkaufen. Zu seiner Wohnung mochte er nicht zurück. Und eines Nachts nächtigte er im Preußenpark auf einer Bank. (BW 36)

Vor dem endgültigen Abstieg bewahrt Georg Eck nur die zufällige Begegnung mit der älteren wohlhabenden Witwe seines früheren Regimentskommandeurs, der Generalin von Gracht, die seine Schulden bezahlt und ihm den Posten eines Gesellschafters anbietet. Die Beziehung zur Generalin von Gracht entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einem Abhängigkeitsverhältnis, dem Georg Eck durch einen weiteren glück­lichen Zufall entkommen kann. Er heiratet Else Basse, die inzwischen verwitwete bürger­liche Eigentümerin von Schloss Friedeburg, und kann als Verwalter auf den traditionsreichen Familiensitz zurückkehren. Wesent­lich erfolgreicher als ihr Verwandter Georg Eck meistert Astrid von Wahn die prekäre Berufssituation der Zwischenkriegszeit. Nach dem Jurastudium arbeitet sie hauptberuf­lich in einem Kosmetikinstitut und leitet außerdem das Schreibbüro Wahn in Berlin-Wilmersdorf, in dem die Handlungsstränge des Romans zusammenlaufen.168 Wie Emmi Lewalds sämt­liche Adelsfiguren ist auch Astrid Trägerin besonderer

168 Georg von Eck begleitet seine Gönnerin Generalin von Gracht in das Schreibbüro, weil diese die Korrespondenz zu einem Rechtsstreit mit ihrem Halbvetter Flodoard von Plathe, Besitzer des

405

406

Das literarische Werk Emmi Lewalds

physiognomischer Merkmale, die ihre adelige Abstammung für jedermann sichtbar bezeugen; die Merkmale des „Wahnschen Gesichtes“ (BW 52) sind ein „rassiges Profil“ mit einem vorgeschobenen Kinn. Doch die junge Frau hat sich aus Realitätssinn von ihrer adeligen Herkunft, Familie und Lebensweise losgesagt und pflegt sogar zu ihrer Mutter ein bewusst distanziertes Verhältnis. Einzig ihre Brüder Bodo und Heinrich, ähn­lich lebens- und arbeitsunfähige Gestalten wie Georg Eck, versorgt und begleitet Astrid mit mütter­licher Liebe. Im Arbeitsleben hat Astrid die bürger­lichen Tugenden Fleiß, Rationalität und einen klugen Geschäftssinn kultiviert. Die Sinngebung ihres Lebens erfolgt über den finanziellen Gewinn, bild­lich ausgedrückt in der Liebe der jungen Frau zu der häss­lichen Fassade einer Bankfiliale: „[H]ier hatte Doktor Wahn ihr Konto. Hier häufte sie ihre Ersparnisse. Hier lag die Sicherheit ihres Daseins, die Hoffnung ihrer Zukunft“ (BW 77 f.). Astrids souveräne Berufstätigkeit entpuppt sich jedoch im Laufe des Romans als Schein, da sie sich, gehetzt und überarbeitet, nach einem sorglosen ruhigen Leben sehnt (vgl. 4.2.5.2). Zuletzt gelingt Astrid wie zuvor Georg Eck trotz der Entmachtung des Adels und der Wirtschaftskrise die Rückkehr an den gesellschaft­lichen Platz der Familie von Wahn vor 1914: Sie wird die Sekretärin des reichen bürger­lichen Joseph Fahrwasser und nach der Heirat mit ihm Herrin von Schloss Weistritz. Die historische Zäsur des Ersten Weltkrieges und das Ende der Monarchien bilden somit auch eine Zäsur in Emmi Lewalds literarischer Darstellung der Adelsthematik, insbesondere in Bezug auf die adelige Abgrenzung von bürger­lichen Denk- und Lebensweisen. Nach dem politischen und gesellschaft­lichen Funktionsverlust des Adels ist Rixa in Das Fräulein von Güldenfeld (1922) bereit, den zum Minister aufgestiegenen bürger­lichen Dietrich Esens zu heiraten. Diese Heiratsentscheidung wird von den verarmten Adeligen des Romans Büro Wahn (1935) schon nicht mehr zögernd getroffen, da es hier schon nicht mehr um den gesellschaft­lichen Ansehensverlust des Adels geht, sondern um die endgültige Auflösung dieser Gesellschaftsformation. Die Barone von Wahn und von Plathe müssen in finanzieller Not die traditionsreichen Schlösser ihrer Familien an Emporkömmlinge des Wirtschaftsbürgertums verkaufen, Georg von Eck muss die Erbstücke der von Wahns ins Leihhaus tragen, und die adelige Astrid muss einen bürger­lichen Beruf ergreifen. Der Verlust von Besitz und adeligem Lebensstil, den einstmals langlebigen Mitteln sozialer Distinktion, entzieht dem Adel wichtige Aspekte seiner Legitimationsbasis. Mit der Auflösung der Familie von Wahn, die sinnfällig in dem „Inkognito“ einzelner Angehöriger, in den Generationenkonflikten

Schlosses Weistritz, von Astrid erledigen lassen möchte (BW 60 ff.). Diese vermittelt das Schloss an ihren Klienten Joseph Fahrwasser. Auch Else von Claß (geb. Basse) die neue Besitzerin von Schloss Friedeburg, dem ehemaligen Sitz der von Wahns, wendet sich im Laufe der Handlung an das Büro Wahn, um von Astrid den Aufenthaltsort von Astrids Vetters Georg von Eck zu erfahren, den sie liebt und heiraten möchte (BW 116 ff.).

Zentrale Themen

und in Astrids Lossagung von der Familie zum Ausdruck kommt, geht schließ­lich das Kernstück adeligen Selbstverständnisses zugrunde, die Zugehörigkeit zu einer Dynastie. Die gesellschaft­liche Domäne des Adels wird in den Romanen von Aufsteigern aus dem Kleinbürgertum erobert. Die neue Besitzerin von Schloss Friedeburg stammt aus einer Kleinhändlerfamilie, der Käufer von Schloss Weistritz ist bezeichnenderweise Vollwaise und kam durch die Errichtung von Schuhfabriken im Königreich Jugoslawien zu Reichtum. Zum Symbol ihres gesellschaft­lichen Aufstiegs wird in Büro Wahn das Automobil. Zuletzt kehren sich die traditionellen Verhältnisse um, und die Adeligen müssen in abhängiger Stellung auf den Anwesen der neuen herrschenden Gesellschaftsschicht leben, wie die Figur Astrid resümiert: Wir können nur noch, wenn wir in den alten Rahmen zurückwollen, die Angestellten derer werden, die jetzt die Schlösser besitzen. Wir stehen nun einmal im Zeichen dieses allgemeinen Schichtwechsels. Wir sind die Gestürzten, und die Neureichen sind emporgestiegen. (BW 193)

4.2.3.3 Urbanisierung und Gegenwelten Die kleine, im äußeren Nordwesten des deutschen Reichs gelegene Residenzstadt Oldenburg, in der Emmi Lewald geboren wurde und aufgewachsen ist, wurde ihr in ihrer Jugend rasch zu klein. Der Kleinstadtskandal des Jahres 1889, den Emmi Lewald hin und wieder gerne als Motiv des „Sturms im Wasserglas“ in ihre Texte einfließen ließ 169, wird ihr bewusst gemacht haben, dass sie als Autorin in Oldenburg einen schweren Stand haben würde. Die junge Frau plante ein Leben in der Metropole Berlin, die sich um 1900 neben München und Wien zum wichtigsten literarischen und journalistischen Zentrum entwickelt hatte. In Berlin, so stellt es sich auch in Lewalds Erzähltexten dar, finden die bildungshungrigen Frauen Kontakte zu den Frauenbewegungen und den Freiraum für ein eigenständiges Leben und Berufstätigkeit. Und Berlin ist auch der Ort, an den es die aufstrebenden Künstler zieht, die auf ein feingebildetes Publikum, aufnahmebereite Verlage und tonangebende Galerien sowie auf eine einflussreiche Kunstkritik hoffen. Ihrem Idol, dem Dichter Ernst von Wildenbruch, dem sie nach ihrem ersten Treffen einen Verehrerbrief schreibt, versichert Emmi Lewald, „[i]ch bin sonst gar nicht für Kleinstädte und speziell für Oldenburg nicht und zöge viel lieber nach Berlin, was in meinen Augen das reine Paradies ist –“170. Der Wunsch, der kleinstädtischen Enge und Kontrolle zu entkommen, erfüllt sich kurz darauf im August 1896, als die Autorin nach der Hochzeit mit Felix Lewald nach Berlin umzog und bald Teil des reichen Berliner Großbürgertums 169 Die Wendung findet sich beispielsweise in den Novellen Kinder der Zeit (1896) (KdZ 4) und Die Erzieherin (1899) (Gk 143) sowie in den Romanen Unter den Blutbuchen (1914) (BB 259) und Das Fräulein von Güldenfeld (1922) (FvGü 61) zur Bezeichnung von Kleinstadtskandalen wieder. 170 Brief von Emmi Jansen an Ernst von Wildenbruch am 22. März 1896. GSA 94/200, 1.

407

408

Das literarische Werk Emmi Lewalds

und seines Gesellschaftslebens mit repräsentativen Dinners, Frauenklubs, Visiten und Kulturveranstaltungen wurde. Die Schriftstellerin nutzte ihre soziokulturellen Kenntnisse sowohl des kleinstädtischen als auch des großstädtischen Milieus, um ihre Figuren in detailliert beschriebenen Lebens- und Wertewelten zu verorten, in denen Groß- und Kleinstadt nicht selten in einem spannungsreichen Verhältnis stehen. In ihren Texten ist darüber hinaus der zeitgenössische Diskurs über das Wesen und die Wirkung der Großstädte präsent, der sich im Zuge des sozialen und wirtschaft­lichen Strukturwandels nach Eintritt des Kaiserreichs in das industrielle Massenzeitalter (1885 – 1895)171 in den 1890er Jahren entwickelte.172 Die Prozesse der Binnenwanderung und Verstädterung waren zur Zeit der Ankunft Emmi Lewalds in Berlin 1896 hochaktuelle Themen und wurden in der wissenschaft­lichen Literatur der verschiedenen Fachdisziplinen ebenso wie in kulturkritischen Kommentaren und der Tagesliteratur diskutiert.173 Im Zusammenhang mit Lewalds literarischer Arbeit sind vor allem zeitgenössische Diskussionen über die Auswirkungen der Großstadtexistenz auf das Individuum interessant, wie sie der Soziologe Georg Simmel in dem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) reflektierte.174 Simmel diagnostiziert bei Großstadtbewohnern eine „Steigerung des Nervenlebens“175 und die Ausbildung eines „intellektualistische[n] Charakter[s]“176, der den Individuen als Schutzmechanismus „gegen die Entwurzelung“ dient. Das Seelenleben der Kleinstädter dagegen sei „vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt“. In der Verstandesübermacht der großstädtischen Persön­lichkeit sieht Simmel Parallelen zur Sach­lichkeit der Geldwirtschaft und leitet von ihr allerhand auf den ersten Blick als zweifelhaft einzustufende Eigenschaften ab: Distanzierung, Gleichgültigkeit gegen Individualität, Reserviertheit, Egoismus und Blasiertheit. Gerade diese Eigenschaften bewahrten das großstädtische Individuum jedoch bei den zahllosen flüchtigen Beziehungen vor der inneren „Atomisierung“ und ermög­lichen ihm „eine Art und ein Maß an persön­licher Freiheit, zu denen es in anderen 171 Vgl. Stürmer: Das ruhelose Reich, S. 68. 172 Vgl. Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim am Glan 1970, S. 33 ff. 173 Bergmann nennt als Beiträge zu der Diskussion um Großstadtfeindschaft und Bekämpfung der Landflucht die Arbeiten des Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl, des Statistikers Georg Hansen, Heinrich Sohnreys und Otto Ammons. Ebd., S. 36 f. 174 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 1984, S. 192 – 204. Vgl. dazu Paul Nolte: Georg Simmels Historische Anthropologie der Moderne. Rekonstruktion eines Forschungsprogramms. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaften 24 (1998), S. 225 – 247. 175 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 192. 176 Simmel führt in seiner Argumentation das gesteigerte Nervenleben auf das rasche Aufeinanderfolgen neuer Eindrücke im großstädtischen Alltag zurück. Der Verstand als Teil des „Seelenlebens“ besitzt für ihn im Gegensatz zum Gemüt die größere Anpassungsfähigkeit und ist daher beim großstädtischen Individuum stärker ausgeprägt. Ebd., S. 193.

Zentrale Themen

Verhältnissen gar keine Analogie gibt“177. Denn, so eine Kernaussage des Essays, nur das Geistesleben der bevölkerungsreichen Großstadt ermög­licht dem Menschen eine individualistische Lebensführung und Selbstentfaltung. Das Kleinstadtleben zeichnet sich durch Abschluss gegen „fremde oder irgendwie antagonistische Kreise“ und ein geringes Maß an Freiheit des Individuums aus, sodass der moderne Mensch dort eine „Beengung“ empfinden muss. Je kleiner ein solcher Kreis ist, der unser Milieu bildet, je beschränkter die grenzenlösenden Beziehungen zu anderen, desto ängst­licher wacht er über die Leistungen, die Lebensführung, die Gesinnungen des Individuums, desto eher würde eine quantitative und qualitative Sonderart den Rahmen des Ganzen sprengen.178

Obwohl Emmi Lewalds Rezeption Simmels nicht durch Quellen belegt werden kann, deutet ihre literarische Verwendung des von Simmel beschriebenen großstädtischen Habitus darauf hin, dass sie mit dem zeitgenössischen Diskurs vertraut war. Dass die Beobachtungen des Soziologen sich zudem auf das Berlin der Jahrhundertwende beziehen, verstärkt diese Vermutung. Die Thesen der Beengung des Individuums in der Kleinstadt und die Gefahr seiner Entwurzelung und „Atomisierung“ in der Großstadt finden sich sogar in Texten der Autorin, die vor Simmels Die Großstädte und das Geistesleben publiziert wurden. Die Kleinstadt – zwischen geistiger Reaktion und Nostalgie Emmi Lewalds literarische Beschreibung der Kleinstädte ist von Beginn an ambivalent; einerseits erscheinen sie als Inbegriff geistiger Reaktion und Einengung persön­licher Freiheit, anderseits werden sie als vormoderne Lebenswelt verklärt.179 Die 1894 in „Die Frau“ publizierte Novelle Sturm im Wasserglas ist eine literarische Abrechnung mit dem dumpfen Konservatismus und der geistigen Spießbürger­lichkeit einer Kleinstadt, die bei Kenntnis der Hintergründe deut­liche Parallelen zu dem Gesellschaftsskandal um Emmi Lewalds Autorschaft 1889 in Oldenburg aufweist. Es ist die Geschichte der jungen bürger­lichen Dorothea, die ihr Leben nicht an der konservativen weib­lichen Rollenvorgabe in der pommerschen Kleinstadt Rehfelde ausrichten will und sich durch ihr Aufbegehren dem Ostrazismus der bürger­lichen Gesellschaft dort aussetzt. Unter der Meinungsführerschaft des Mädchenschuldirektors Wolfgang Grünbaum 180 wird 177 Ebd., S. 198. 178 Ebd., S. 199. 179 Vgl. auch den Großstadt-Kleinstadt-Gegensatz in den Novellen „Haldenbrunn – eine Minute!“ (1898) und Die Erzieherin (1899) sowie dem Roman Die Rose vor der Tür (1911). 180 Der Rehfelder Mädchenschuldirektor Wolfgang Grünbaum könnte den Pädagogen Karl Wöbcken zum Vorbild haben, der zwischen 1867 und 1896 Direktor der höheren Töchterschule Cäcilienschule in Oldenburg war. Wie die Figur Wolfgang Grünbaum, der in der Novelle als Verfasser der Werke

409

410

Das literarische Werk Emmi Lewalds

in Publikationen und Lesungen die Frauenemanzipation noch vor dem deutschen Kolonialismus, der zunehmenden Säkularisierung und dem literarischen Realismus als gefähr­lichste Unsitte der modernen Zeit verurteilt. Als Ausgestoßene von Familie und Bräutigam verlassen, versucht Dorothea erfolglos, das Bürgertum mit seiner intoleranten Haltung zu konfrontieren: […] ich schrie das Geheimnis von Rehfelde aus! Ich rief ihnen zu, daß ich wohl wüßte, weshalb sie die Wahrheit scheuten, weshalb sie – alles Fremde verachtend – an der Scholle klebten, weshalb sie jeden zu Boden streckten, der selbständig zu denken wagte: weil sie vor keinem fremden Urteil bestünden!181

Schließ­lich sieht sie sich gezwungen, die Kleinstadt zu verlassen, um sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, doch als sie nach zehn Jahren als erfolgreiche Ärztin aus den USA nach Rehfelde zurückkehrt, schlägt ihr ein unverändert konservatives Klima entgegen. Dorothea bleibt als Handlungsmög­lichkeit nur der Versuch, ihre jüngere Schwester Anni aus der Kleinstadt „ins Leben hinüber[zu]retten“182. Das Motiv der Rettung des freidenkenden Individuums aus spießbürger­lichkleinstädtischem Milieu findet sich auch in der Novelle Erdgeruch (1904), in der ein bekannter Altertumswissenschaftler nach langem Auslandsaufenthalt aus Berlin in seine kleine norddeutsche Heimatstadt zurückkehrt.183 Schon der Klang des Stadtnamens ruft in ihm die Erinnerung „an enge Horizonte, an hausbackene Gedankenreihen, an Spione vor den Fensterscheiben“ (SchB 270) wach. Das ästhetische Empfinden des gebildeten Protagonisten leidet unter der Stillosigkeit der Theater­ architektur und unter den Mängeln der Gipsabgüsse klassischer Statuen im Museum. Der Gelehrte ist froh, seine Jugendstadt verlassen zu haben, und ihm schaudert bei dem Gedanken, „daß er sich vielleicht nicht daraus gerettet hätte, daß auch seine Seele dem herrschenden Geiste verfallen wäre, der hier sein despotisches Zepter schwang.“ (SchB 282). In beiden Novellen arbeitet Emmi Lewald mit dem Gegensatzpaar der Kleinstadt, die im konservativen Stillstand verharrt, und der Großstadt, die für Modernisierung, Bildungsmög­lichkeiten und die freie Entfaltung der Persön­ lichkeit steht. Ein wesent­licher Unterschied besteht in der sozialen Kontrolle des

Geschichte der Stadt Rehfelde und Anmut und Sitte – Leitfaden für höhere Töchter hervortritt, publizierte Wöbcken neben regionalhistorischen und landeskund­lichen Werken seine Vorstellungen von Mädchenbildung und -erziehung in dem Band Die Bestimmung und Erziehung des Weibes (1865). Vgl. Karl Wöbcken: Die Bestimmung und Erziehung des Weibes. Ein Vortrag gehalten im literarischgeselligen Verein zu Oldenburg. Oldenburg 1865. 181 Roland: Sturm im Wasserglas, S. 664. 182 Ebd., S. 589. 183 Eine ähn­liche Handlung findet sich in der Novelle Der Gast (1914). Emmi Lewald: Der Gast. In: dies.: Der wunde Punkt. Novellen. Berlin G. Stilke 1914, S. 127 – 160.

Zentrale Themen

Individuums durch die bürger­liche Gesellschaft, die im sozialen Gefüge der Kleinstadt stark ausgeprägt ist, während der großstädtische Lebensstil ein liberaler ist. Die Bemerkung des Erzählers in Erdgeruch, „[d]ie Fremde hatte sein eigent­liches Ich wachgerufen“ (Schb 284), deutet auf die Annahme hin, eine kleinstädtische Existenz laufe dem zeitgenössischen Ideal der Persön­lichkeitsbildung zuwider. Vertieft wird die positive Rolle der Großstadt für Persön­lichkeit, Bildung, Weltgewandtheit und Erfahrung anhand ihrer im Gegensatz zur Kleinstadt moderneren und hochwertigen kulturellen und architektonischen Ausstattung, die einen gesteigerten Kunstgenuss erzeugen und damit in weiterem Umfang zur Bildung des Individuums im bürger­ lichen Sinne beitragen kann. Die höchstwahrschein­lich den Jugenderfahrungen der Autorin geschuldete negative Darstellung der konservativen, fortschrittsfeind­lichen Kleinstadt ist motivisch in den nächsten Jahrzehnten in ihrem Werk immer wieder anzutreffen. Das Motiv erfährt jedoch früh eine positive Abwandlung, im Zuge derer die Abgeschiedenheit der Kleinstadt von großstädtischen Moden und industriellem Fortschritt als Schutzraum vor den negativen Auswirkungen der Moderne beschrieben wird. Die scheinbar gegensätz­lichen Varianten des Kleinstadtmotivs werden mitunter auch gemeinsam in einem Text bemüht.184 Ein Teil der Handlung des Romans Unter den Blutbuchen (1914) ist in der Kleinstadt Neuenkirchen angesiedelt, einem literarischen Schauplatz, der bereits von Schieckel als Verschlüsselung der Heimatstadt Emmi Lewalds gedeutet wurde.185 Eine offensicht­liche Anspielung auf Oldenburg findet sich in der Szene des Treffens zwischen der Präsidentin Winfried und dem Verehrer ihrer Tochter in der am Schlossteich gelegenen Gemäldegalerie „Franzeum“, mit der die großherzog­licholdenburgische Gemäldesammlung im Augusteum gemeint sein dürfte.186 Eine weitere Anspielung ist die Beschreibung des im Schloss zu Neuenkirchen ausgestellten Gemäldes des verstorbenen Herzogs, „das berühmte Glanzbild des Schlosses, Arthur Johann auf dem weißen Streithengst mit goldverbrämten Schabracken, wie er einst mit den Staufenkaisern nach Italien geritten war“ (BB  151). Die Bildbeschreibung erinnert an die berühmten Darstellungen des Grafen Anton Günther von Oldenburg (1583 – 1667) auf seinem Apfelschimmel „Kranich“. Auch der nicht sehr schmeichelhafte Blick auf das herzog­liche Theater Neuenkirchens eröffnet Parallelen zu Oldenburg: „Das herzog­liche Theater, eine alte Kommode mit griechischer Säulenstellung, Säulen, die sich wegen allzu großer Kürze nicht richtig nach oben verjüngten, sondern mehr wie dicke Gasröhren als wie Griechenland anmuteten“ (BB 34). Auch in dem Roman 184 Vgl. z. B. die Beschreibung der Kleinstadt Haldenbrunn: „Die Straßen waren eng, das Pflaster miserabel, die Menschen kleinstädtisch und bieder ohne geistige Belebtheit und ernst­liches Streben – und doch lag ein besonderer Zauber über dem ganzen Haldenbrunn!“ (IbF 142). 185 Vgl. Schieckel: Zu Emmi Lewalds Schlüsselroman „Unter den Blutbuchen“. 186 Erwähnt werden in der Szene eine Sammlung alter Kopien, eine „Bellinische Madonna“, das Bild einer „flutbespülten Kirche Venedigs“ und ein van Dyck (BB 214).

411

412

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Fräulein von Güldenfeld (1922) deuten zahlreiche Hinweise auf Oldenburg und das Oldenburger Land hin, die im Rahmen dieser Untersuchung jedoch nur angedeutet werden können.187 Ausgangspunkt für die Gegenüberstellung von Groß- und Kleinstadt in Unter den Blutbuchen ist die fortschrittskritische Haltung des preußischen Regierungsrats Georg Werther, eines in Berlin ansässigen gebürtigen Neuenkirchners. Seine Wertschätzung der Kleinstädte und kleiner deutscher Staaten äußert sich vor allem in seiner überzogenen Verklärung derselben als positive Gegenwelt zu einer modernen urbanen Existenz. In Kenntnis beider Lebenswelten idealisiert er Kleinstädte als […] jene kleinen, sorgfältig abgegitterten Welten […], in denen der Daseinsbetrieb noch eigene Formen hat und besondere Gesetze gelten, wo auch das Geld noch nicht die überragende Macht besitzt, die es in der Großstadt einnimmt […] und der Mensch nach ganz anderen Werten beurteilt wird als nach den Zinsen, die er hat! (BB 19)

Die bestimmende Rolle des Kapitalismus bei geschäft­lichen und zwischenmensch­ lichen Beziehungen als Merkmal der großstädtischen Mentalität wird in Gegensatz zur Kleinstadt gebracht, wo die Beziehungen nicht nur Tauschbeziehungen ähneln, sondern persön­licher Art sind. Die Bewohner abgeschiedener Städte besitzen Werthers Ansicht nach durch ihre Beharrungskraft ein höheres Maß an Prinzipientreue und Bodenständigkeit als die Bewohner der urbanen Lebenswelt, die eine Sprunghaftigkeit und Anpassungsfähigkeit entwickelt haben, weil sie permanent wechselnden Moden und Neuerungen ausgesetzt sind. Sinnbild­lich unterscheidet sich die beständige Wohnkultur der Kleinstädte – in Neuenkirchen trifft Werther auf „weiße, behäbige Häuser mit Giebeln, etwas breitspurig, handfest und solide“ (BB 31) – von der nomadischen Wohnform des Großstädters in Mietskasernen. Der Gegensatz ‚Lärm der Stadt – Ruhe der Kleinstadt‘ spiegelt sich im Charakter der Menschen, wenn im Rahmen eines Dinners das Ehepaar von Räumer „mit der sicheren angenehmen Würde der Menschen [auftritt], die zeitlebens an Höfen gelebt“ (BB 81) haben, während die Großstädterin Hilde van Stelen im „Auto angesaust“ (ebd.) kommt und durch einen unruhigen Gang, eine großzügige Gestik und ein übertönendes Lachen auffällt. Emmi Lewald setzt in dem Kleinstadtroman Unter den Blutbuchen Werthers nostal­ gischem Blick auf seine Heimatstadt jedoch unerbitt­lich die nüchterne Perspektive der Frauenfiguren entgegen. Im Bewusstsein der in Neuenkirchen geborenen Irmgard von 187 Der Roman spielt in der Feodorenstraße, in der nur dem Hof der kleinen Residenz verbundene Familien wohnen. Die Stadt, die über eine Garnison mit preußischen Offizieren verfügt, liegt am Fluss Altenbeeke. Ein Ausflug Rixas mit Fräulein Parma führt sie zu einer Molkerei in Altenesch (FvGü 34). Der reale Ort Altenesch liegt in der Gemeinde Lemwerder des niedersächsischen Landkreises Wesermarsch. Dr. Heinrich Berthold war ursprüng­lich ein „Arbeiterkind aus dem Saterland“ (FvGü 60).

Zentrale Themen

Waltersberg ist besonders die soziale Kontrolle des nachbarschaft­lichen Lebens präsent, bei dem „jedes Schicksal gewissermaßen unter den Augen sämt­licher Anwohner offenkundig sich vollzog“ (BB 31). Aus Perspektive der jungen lebenshungrigen Freundinnen Erika, Lili, Ebba, Hilde und Leonie zeichnet sich die Kleinstadt vor allem durch ein rückständiges Frauenbild, fehlende Heiratschancen und mangelnde alternative Lebensperspektiven aus. Die erzieherische Wirkung des Kleinstadtlebens auf den Charakter des Landratvertreters Rudolf Anders steht im Mittelpunkt der Novelle Die Erzieherin (1899). Die läuternde Umerziehung des verwöhnten Lebemannes beruht auf der Idee, dass groß- und kleinstädtische Milieus in der Persön­lichkeit des Menschen jeweils die Herausbildung des Verstands oder des Gemüts fördern. In der schlesischen Kreisstadt Felitz wird der Protagonist von seiner im Großstadtleben angenommenen „blasierte[n] Selbstzufriedenheit“ (Gk 138) und der „kühlen Gleichgültigkeit des älteren Gesellschaftslöwen[s]“ (Gk 141) geheilt. Die treue Verehrung des Referendars Rührmüller (!) für die geistreiche Bürgermeistergattin Judith flößt ihm angesichts seiner eigenen unverbind­lichen Liebeleien als unverfälschte Gefühlsregung Respekt ein. Es kam ihm seltsam vor, daß es doch noch, verloren in den entlegenen Weltwinkeln, echte Empfindung gab, die noch gläubig und selbstlos zu lieben, zu schwärmen, Ideale anzubeten wußte – genau so warm und rein wie in altmodischen Zeiten, die man verschollen glaubt, wenn man in altmodischen Büchern zufällig von ihnen liest. (Gk 138)

Die Kleinstadt wird auch in dieser Novelle als Lebensmilieu idealisiert, in dem die „Fähigkeiten zu starken Empfindungen, zu Liebe und Sehnsucht“ (Gk 143) noch intakt sind, während in den Metropolen der Verstand den Menschen regiert. Bei seinem Berlin-Besuch hat Anders folgerichtig auch den Eindruck, „die Menschengesichter ringsum h[ä]tten alle etwas so Schlaffes, Freudenmüdes, etwas, das nach dem Gegenteil von idealem Fühlen aussah“ (Gk 142). Während seines Aufenthalts in der Provinz entwickelt Anders „Fähigkeiten zu starken Empfindungen, zu Liebe und Sehnsucht“ (Gk 143) und erlebt zum ersten Mal die tiefe, ehr­liche Zuneigung zu einer Frau. Aus seinem Kleinstadtaufenthalt zieht der Protagonist die Lehre, dass es zwei Sorten von Menschen auf der Welt gibt, „die guten Menschen näm­lich und die eleganten Menschen“ (Gk 208), daher die unverfälschten, prinzipien- und pf­lichttreuen Kleinstadtmenschen und die auf Vergnügen, Aktualität, Karriere bedachten Großstadtbewohner. Erstere lernte Anders zu achten, während er selbst zunächst zu den letzteren gehört. Die Kleinstadt Felitz und Baronin Judith von Edeltraut, die von ihm angebetete Frau des Bürgermeisters, bewirken Rudolf Anders’ Wandlung zum „höchst vernünftigen und tadellosen Menschen“ (Gk 210), der seine Jugendtorheit und Leichtlebigkeit ablegt zugunsten von Pf­lichttreue, Arbeitsfreude und Verantwortungsbewusstsein. Zusammen mit der Wiederentdeckung der hohen Literatur, hier vertreten durch Goethe und Conrad Ferdinand Meyer (Gk 165), ergibt die Charakterwandlung die Rückkehr zu den klassischen bildungsbürger­lichen Werten.

413

414

Das literarische Werk Emmi Lewalds

„Berlin macht lax… (HF 369)“ – Ort der Frauenfreiheit und der kulturellen Blüte? Wenn in Emmi Lewalds Texten von einer Großstadt die Rede ist, handelt es sich fast immer um Berlin. Die Hauptstadt des Kaiserreichs und „preußischste Stadt Deutschlands“ (KdZ 201) ist sowohl in der Biografie als auch im Werk der Schriftstellerin die idealtypische moderne Metropole. Emmi Lewalds Großstadtromane – neben Der Magnetberg (1910) Die Rose vor der Tür (1911), Die Wehrlosen (1910) und Die Frau von gestern (1920) – schildern alle die reiche Lebenswelt des Großbürgertums und der Aristo­ kratie im Berliner Westen und stehen in der Tradition des „Berliner Romans“.188 Mit ihrem beschleunigten Verkehrsfluss, den Menschenmassen, der urbanen Architektur, der künst­lichen Straßen- und Gebäudebeleuchtung stellt die um 1890 1,57 Millionen Einwohner zählende Stadt eine Herausforderung für die Sinnes- und Erfahrungswelt der Großstadtneulinge dar.189 Der im Folgenden geschilderte erste Eindruck des Dichters Erhardt in der Novelle Kinder der Zeit (1897), der als Dramenautor in Berlin sein Glück sucht, ist überwältigend und stellt für ihn eine neuartige visuelle und akustische Erfahrung dar. Und das elektrische Meer kam näher. Der Kourier brauste in die Stadt hinein, in die poesielose Vorstadt Berlins mit ihren abgeschnittenen Häusern, aufblitzenden Straßenveduten und dazwischen gestreuten Kolossalbauten. Knarrend tönte und prasselte der Bahnhofslärm ihm entgegen. Ein feuchter Sprühregen rieselte auf den Asphalt – er war in Berlin. Und das Gewirr der Droschken, das Gerassel der Pferdebahnen, der grollende, einförmige Lärm des Großstadtlebens nahm ihn auf. Die tausend l­ ichter schwankten an ihm vorbei, die ­lichter der Laternen, der Läden, der Wagen, die blauen, roten, grünen, die oben brannten und flimmerten und unten auf dem Pflaster wiedergespiegelt wurden vom trüben Schwarz der Gosse. (KdZ 16)

Selbst wenn stellenweise in den Novellen von einer „Poesie der Großstadt“ (KdZ 199) die Rede ist, die dem „ewig wechselnde[n] Gemisch von Farben, Menschen und Tönen“ eine „Schönheit, zwar nach modernem Begriff “ (ebd.) zuspricht, beleuchtet Emmi Lewald die urbanen Lebensbedingungen zu weiten Teilen in einem kritischen ­licht.

188 Wie Sprengel konstatiert, tauchte die Genrebezeichnung „Berliner Roman“ in den 1880er und 1890er Jahren auf zahlreichen Titelblättern und als „Forderung der Kritik in diversen Feuilletons der Zeit auf“. Auch Theodor Fontane formulierte die Forderung nach der Gesamtdarstellung des großstädtischen Lebens im zeitgenössischen Roman. Tatsäch­lich konzentrieren sich Fontanes Berlin-Romane, etwa L’Adultera (1880), Irrungen und Wirrungen (1887), Frau Jenny Treibel (1892) und Mathilde Möhring (begonnen 1891) auf die Lebenswelt der reichen bürger­lich-adeligen Gesellschaftsschicht bzw. des Kleinbürgertums. Vgl. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 185 ff. 189 Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich zwischen 1871 und 1890 von 826.000 auf 1,57 Millionen Menschen und stieg bis 1905 auf 2 Millionen an. Sprengel: Geschichte 1870 – 1900, S. 22.

Zentrale Themen

Ebenso wie bei der Kleinstadtdarstellung die Kritik am geistig-moralischen Konservatismus und die Idealisierung der natür­lichen Lebensbedingungen nebeneinander stehen, ist die Großstadt zugleich ein Ort der persön­lichen Freiheit und des moralischen Niedergangs der Menschen. Der urbane Raum erscheint als positiver Gegensatz zum provinziellen Raum, als ein Ort der verfeinerten Kultur, der raffinierten Dinners, der eleganten Toiletten, des stilvollen Wohnens und der geistreichen Unterhaltung. Als politisches, kulturelles und wissenschaft­liches Zentrum ist Berlin ein Magnet für die ehrgeizigen Beamten, talentierten Künstler und begabten Wissenschaftler unter den Protagonisten – wer sich einen Namen machen will, der zieht nach Berlin. Gerade im Kontext der Frauenemanzipation erscheint Berlin als Sehnsuchtsziel begabter Frauen­ figuren wie Tilla Rosenbusch und Irmgard Henneberger, die dort das Netzwerk der Frauenbewegung und die Voraussetzungen für eine eigenständige Existenz vorfinden. Es sind die Außenseiter des kleinstädtischen Lebens, emanzipationswillige Frauen, Künstler und begabte Wissenschaftler, die in der Metropole die Bedingungen für eine individualistische Lebensführung finden. Neben das individualistische Potenzial Berlins tritt in Lewalds Beschreibung der Großstadt die Charakterisierung des Bürgers in den Vordergrund. Unter den Figuren befinden sich typisierte moderne Menschen, welche die Lebensweise der Metro­pole einerseits weltläufig, gebildet und ehrgeizig, anderseits egoistisch, blasiert und gleichgültig gemacht hat. In der Hetze des städtischen Lebens und Berufsalltags wurden sie zu Verstandesmenschen ausgebildet und haben den Blick für das Natür­liche, Unverbildete, und die echte Emotion verloren. Bereits 1896 führt Emmi Lewald mit dem nüchtern-leidenschaftslosen Berliner Leo in ihrem ersten Roman Sein Ich und mit Arthur Keyser, der Hauptfigur der Novelle Cunctator, die Figur des großstadtmüden Protagonisten in ihre Texte ein. Varianten dieser Figur verwendet die Autorin wiederholt in ihren späteren Publikationen, für die beispielhaft die Figuren des egois­ tischen Cäsar in der Novelle Die Geschichte einer Beziehung (1900) und des Geheimrat ­Eckhard in dem Roman Die Rose vor der Tür (1911) genannt werden können. Die Charakterisierung des „nervöse[n] Großstädter[s]“ (KdZ 46) lässt sich exemplarisch an der Novelle Cunctator aufzeigen. Der ehrgeizige Arzt Arthur Keyser zeichnet sich durch Nervosität und eine „bleiche Großstadtfarbe“ (KdZ 59) aus. Seine Auffassung, in Berlin nichts Außergewöhn­liches mehr erleben zu können, da er „selbst so abgemattet mithetzt und künst­lich das Auge vor allem verschließt, was nicht direkt zum Tagesprogramm gehört.“ (KdZ 45), erinnert an die Schutzmechanismen des Großstädters vor Reizüberflutung, wie Simmel sie diagnostiziert hat. Die Verstandesherrschaft in Keysers Wesen, die auf Kosten von Gemüt und wahrer Emotion ausgebildet ist, lässt sich seiner Charakterisierung unschwer entnehmen. Vernünftig, ruhig, phlegmatisch von Natur, nur in einem Trieb stark; im Ehrgeiz; sehr hübsch und daher blasiert gegen die landläufigen Eroberungen, die sonst anderer Jugend das Dasein besonders lebenswert machen, klug, wenn auch kein schneller Denker, egoistisch, ohne

415

416

Das literarische Werk Emmi Lewalds

natür­lich etwas Schlimmes darin zu finden, von jenem häufigen Egoismus, der darum berechtigt erscheint, weil nur Ausnahmen ihn nicht haben, kein Kunstenthusiast, aber doch Kunstver­ehrer, verwöhnt von einem glatten Schicksal und reich­lichem Mammon, nur selten, höchstens auf Reisen, plötz­lich von der Idee überfallen, daß er wohl anders sein könne, für gewöhn­lich recht zufrieden mit sich, meist von jener großen Hauptstadtmüdigkeit angesteckt, die in der Luft der Riesenstädte liegt, wo so und so viel Tausende tagtäg­lich bestrebt sind, eine fehlende fünfundzwanzigste Stunde einzuholen. (KdZ 81 f.)

Die großstädtische Persön­lichkeit identifiziert Emmi Lewald als Zeiterscheinung. In schöner Regelmäßigkeit wandelt in ihren Texten die Metropole Berlin die Persön­ lichkeit neu zugezogener Menschen aus länd­lichen Regionen und verleiht ihr ein modisches, rationales und egoistisches Gepräge. Arthur Keysers Vetter in Cunctator, der als junger Medizinstudent aus der Lüneburger Heide nach Berlin kommt, ist nach drei Jahren von einer „linkischen, schlecht angezogenen Gestalt“ zu einem „jugend­ lichen Beau“ geworden, der „seinen Korpus zu kleiden, seinen Schnurbart zu drehen wusste“ (KdZ 111). Der einst so liebenswürdige Bruder von Sylvia (1904) ist charakter­ lich „bedenk­lich verflacht in Berlin“ (Sy 908) und zieht, ganz im Sinne seines neuen oberfläch­lichen Habitus, eine Geldheirat der Liebesheirat vor. Auf eine beabsichtigte Zeitgeistanalyse weist darüber hinaus hin, dass die Folgeerscheinungen der Anpassung der Persön­lichkeit an die Erfordernisse des Großstadtlebens als Großstadtkrankheiten gedeutet werden. Hierbei befindet sich Emmi Lewald im Einklang mit psychologischen, medizinischen und soziologischen Studien ihrer Zeit. In Großstädten befallen einen die Metropolenkrankheiten, als da sind: ruiniertes Nervensystem – […], Blasiertheit – vor allem das typische Leiden unserer Tage, das die Franzosen ‚sécheresse de cœur‘ nennen, diese abscheu­liche Erfindung des fin de siècle – eine Krankheit, aus Indolenz und Freudlosigkeit gemischt – in physischer Hinsicht schmerzlos, daher in dieser Beziehung längst nicht so schlimm wie Kopfweh – und doch entsetz­lich! Es ist ein Aufhören jedes starken, warmen Gefühls, ein Altern der Seele, ein einfaches Nicht-mehrmit-können. (Gk 5)

Emmi Lewalds eindring­lichster Text über die Auswirkungen des Großstadtlebens auf soziale Bindungen ist der Familienroman Der Magnetberg (1910). Er erzählt auf 443 Seiten vom finanziellen und moralischen Niedergang der Familie Thorensen, die wegen der Versetzung des Landgerichtsdirektors Thorensen in ein preußisches Ministerium aus der norddeutschen Kleinstadt Attenrade nach Berlin zieht. Bei der sozialen Auflösung der ursprüng­lich nach dem bürger­lichen Ideal lebenden Familie (vgl. 4.2.2.2) spielt die Anpassung der Familienmitglieder an die Großstadt eine zentrale Rolle. Aus der gefestigten bürger­lichen Lebens- und Wertewelt der Kleinstadt, wo der Alltag in beschau­lichem Rhythmus und in engem Kontakt zu einem überschaubaren Personenkreis stattfand, wird die Familie in eine völlig anders

Zentrale Themen

geartete Existenz versetzt. In den konformen Mietskasernen der Metropole leben die ­Thorensens trotz der räum­lichen Enge in anonymisierten Beziehungen zu ihren Nachbarn. Der gesellige Verkehr mit Bekannten und Kollegen ist durch Oberfläch­ lichkeit und Unpersön­lichkeit geprägt: „Hier sind wir für unsere Bekannten nur das, was wir im Moment vorstellen. Mehr als unsere Visitenkarte kennen sie doch im Grunde nicht von uns“ (MB 41). Arbeitshetze und Termindruck bestimmen nicht nur den Alltag des berufstätigen Vaters, sondern auch der Mutter Agnes Thorensen und ihrer beiden jugend­lichen Töchter, die das Bildungsangebot der Klubs und Frauen­ vereine intensiv nutzen. Der chronische Zeitmangel verhindert eine Reflexion der Familienmitglieder über ihre Lebensführung, wie Gunhilde Thorensen dem Besuch Meister gegenüber betont: „Ein Berliner Tageslauf läßt zum Nachdenken über Vergangenes gar keine Zeit […]. Die Stunden hier gehen einem wie Wasser durch die Hand“ (MB 35). Auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern ist in der Großstadt nach Ansicht der Tante Johanna „meist lauer Aufguß, der aus Zeitmangel zur genügenden Wärme nicht gebracht wurde“ (MB 55). Die Wandlung der Familie wird durch die Außenperspektive des Attenrader Beamten Meister, eines alten Freundes der Familie, einer Wertung unterzogen. Der Kleinstädter erkennt die Metropole nicht als Ort der individuellen Freiheit an, sondern betont die Gefährdung moralischer Prinzipien des Bürgertums wie des Frauenleitbildes, der Mutterrolle und des Familienideals. Mit seiner stadtfeind­lichen Position befindet sich Meister im Einklang mit dem Attenrader Kreis um den Oberschulrat, der Berlin als „moralisch so verseuchte[n] Stadt“ (MB 90) dämonisiert und der Familie Thorensen vorwirft, das „laxe Handhaben der Moral“ (MB 92) übernommen zu haben. Meister vertritt zudem eine zeitgenössische Form der Großstadtkritik, die hygienische und medizinische Vorbehalte bemüht.190 In seinen Augen zeichnet sich die Kleinstadt durch „das große Schweigen freier, stadtferner Natur“ (MB 63) aus, während das ungesunde und unnatür­liche Stadtleben den Menschen zu einer Existenz „in dem hohen Fach einer steinernen Kommode“ (ebd.) zwingt und ihn zum „Gefangenen der Stadtmauern“ (ebd.) macht. Der Gegensatz von länd­lich-natür­licher Existenz und der Künst­ lichkeit des Großstadtlebens wird anhand der Qualität der Lebensmittel und anhand der Veränderung des kleinen Olaf Thorensen illustriert, der vom gesunden Landjungen zum bleichen Berliner Wohnungskind degeneriert. Der Niedergang der Beamtenfamilie endet in physischer Auslöschung und räum­ licher Versprengung, als im Schlussteil des Romans das patriarchalische Oberhaupt der Familie, Vater Thorensen, auf einer verkehrsreichen Berliner Straße von einem Automobil überfahren wird und – ob bewusste oder unbewusste Reminiszenz an ­Thomas Manns Buddenbrooks, Verfall einer Familie (1901) – im Schmutz der Straße stirbt. Während seine Witwe einen wartenden dänischen Verehrer ehe­lichen kann, stehen den 190 Vgl. hierzu Sieferle / Zimmermann: Die Stadt als Rassengrab, S.  53 – 71.

417

418

Das literarische Werk Emmi Lewalds

berufslosen Töchtern Anka und Hilde, die sich durch Beziehungen zur literarischen Boheme gesellschaft­lich kompromittiert haben, in bürger­lichen Kreisen keine Heiratschancen mehr offen. Anka heiratet einen zweifelhaften Inder und zieht ins Ausland; Hilde muss fortan als Hüterin ihres jüngeren Bruders Olaf bei einer Tante leben und sieht einer Existenz als ,alte Jungfer‘ entgegen. Thüringen – Waldeinsamkeit, Mythen und deutsches Nationalheiligtum Und fern, im Zauberkreise dunkler Fichten, Hebt sich die Wartburg wie ein Thron der Nacht – Ein flatternd’ Band von schlummernden Gedichten Weht um der Veste alte Mauerpracht. Der Sommer schläft, doch seine Kinder wachen, Mit off ’nem Auge blickt das schöne Land, Im Quellbach hört man leise Stimmen lachen – Es ist der Nix, der seine Nymphe fand…191 [Roland, Gedichte (1894)]

Während die Darstellung von Groß- und Kleinstädten von polarisierenden Positionen bestimmt wird, nehmen die thüringischen Staaten als Schauplatz in Emmi Lewalds Texten eine ganz eigenständige Position ein. Das Herzogtum Sachsen-Altenburg, das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 192 und die umliegenden Kleinstaaten waren der Autorin seit ihrer Kinderzeit von Verwandtenbesuchen gut bekannt, da ihre Mutter Marie Frommelt gebürtig aus Stadtroda bei Jena stammte. Dies mag der Grund dafür sein, dass sie in ihrer literarischen Darstellung weniger die Residenzstadt Weimar als verschiedene Regionen Thüringens als Schauplätze wählt und weswegen der bei dem Oldenburg-Thema fast obligatorische Rückgriff auf das GroßstadtKleinstadt-Motiv ausbleibt.193 Stattdessen ist Thüringen als landschaft­lich reizvolles 191 Emil Roland: Thüringen. In: ders.: Gedichte. Oldenburg u. Leipzig 1894, S. 79. 192 Seit 1903 Großherzogtum Sachsen. 193 Eine Ausnahme bildet hier die Darstellung Thüringens in der Novelle Feierstunden (1901). Die ­fiktive Heimatstadt Leuchtenberg in Thüringen wird für die in München wohnende Malerin Helene bei einem Besuch ihrer kranken Schwester zum engen, bedrückenden Raum. In dem provinziellen Denken ihrer Schwester und anderer Stadtbewohner sowie dem Klatsch in einer Leuchtenberger Kneipe, der hier die öffent­liche Meinung repräsentiert, schlagen ihr massive Vorurteile gegenüber ihrer großstädtischen „Boheme-Existenz“ (SchB 193) als Künstlerin entgegen. Auch die Italienfeind­ lichkeit des Schwagers Albert kennzeichnet den spießbürger­lichen Charakter des kleinstädtischen Milieus. In Leuchtenberg wird Helene mit einer Existenz konfrontiert, „der sie einst noch zu rechter Zeit entgangen war“ (SchB 199), um mit ihrer Künstlerinnenexistenz etwas „Höheres, Edleres“ anzustreben. Vgl. Emil Roland: Feierstunden. Ein Jahr aus einem Leben. In: ders.: Das Schicksalsbuch und andere Novellen. Berlin Fontane & Co., S. 129 – 266.

Zentrale Themen

Ausflugs- und U ­ rlaubsziel des Bildungsbürgers gezeichnet, das mit dem Nationalheiligtum der Wartburg, der Universität Jena und den Spuren der Weimarer Klassik unabdingbare Bildungsmomente bereithält. Den verklärenden Italiendarstellungen in Italienische Landschaftsbilder vergleichbar, erscheint Thüringen als vormoderne Gegenwelt, in der alle Anzeichen von Urbanisierung, Industrialisierung und Technisierung ausgeklammert sind. Im Gegensatz zu Lewalds durchgängig verfremdeten oder verschlüsselten Oldenburg-Darstellungen sind die Flüsse, Städte und Sehenswürdigkeiten der Thüringer Staaten wirk­lichkeitstreu bezeichnet, sodass der Leser die Schauplätze der Handlung zurückverfolgen kann. Bereits die Erzählerfigur im Erstlingswerk Unsre lieben Lieutenants (1888) verbringt ihren Urlaub in einem Städtchen des Saaletals, bei dem es sich um Kahla handeln muss, weil von ihm aus die Leuchtenburg und die Kemenate von Orlamünde zu sehen sind (UlL 36). Bei einem Ausflug fährt der Erzähler mit seiner Begleiterin mit der „Saalbahn“ in den Jenaer Stadtteil Göschwitz und wandert von dort aus über Burgau nach Lobeda, um die „Lobdaburg“ zu besichtigen. Auf der über Kahla gelegenen Leuchtenburg besucht auch in dem Roman ­Sylvia (1904) die Protagonistin die Philosophiestudentin Ellen Schmidt, die dort ihre Ferien verbringt.194 Auch in dem 1891 erschienenen Novellenband Ernstes und Heiteres verzichtet Emmi Lewald auf eine Verschlüsselung oder Veränderung von Orts- und Landschaftsnamen. Auf seiner Wanderung nach Tautenhain in der Novelle Der Mensch mit seiner Qual (EuH 57 – 90) geht der junge Student aus Jena kommend „entlang am singenden Strom, an den hochthronenden Dornburgen vorüber und rechts in die Wälder hinein“ (EuH 58). Gemeint sind hier die nordöst­lich von Jena über der Saale gelegenen drei Dornburger Schlösser. Die Novelle spielt anschließend in dem thüringischen Dorf Tautenhain 195 und in der direkten Umgebung eines näher beschriebenen Aussichtspunktes, von dem aus „ein viereckiger Wartthurm, der letzte Rest einer verschollenen Ritterburg, das Thal überschaut“ (EuH 68). Die Hauptfigur Jean in der Novelle Der Kellner vom Drusenthal stammt dagegen aus dem Steinbachtal im Thüringer Wald im Westen Thüringens, das von Laubwäldern, dem „malerischen Dorf“ Steinbach und den Schleifmühlen geprägt ist, die der „übermüthige Steinbach“ 194 Die Leuchtenburg beherbergte nach ihrer Nutzung als Zuchthaus ab 1871 ein Museum und ein Hotel. Vgl. die detaillierte Ortsbeschreibung in dieser Szene des Aufstiegs: „Sylvia schritt den steilen Weg langsam hinauf. Zuweilen schaute sie zurück. Unten lag Kahla, wie einem mittelalter­ lichen Baukasten entnommen und dicht an den Fluß gesetzt, so daß es sich abspiegeln konnte in ihm mit seinen Türmen und Linden, mit den Bogen der Brücke, über die es hinüberging bergan zur Leuchtenburg. Glockengeläut kam heraufgebebt, durch die linde Luft, leis verstohlen über den Dohlenstein. Blauende Berge in weitem Kreis, feier­lich erglühend im Abendschein“ (Sy 714). 195 Tautenhain gehört zu der zwischen Jena und Gera und in der Nähe von Stadtroda gelegenen Gemeinde Bad Klosterlausnitz in Thüringen. Mög­licherweise diente aber die in der Nähe der Dornburgen gelegene Gemeinde Tautenburg als Vorbild, in der eine gleichnamige Burgruine liegt.

419

420

Das literarische Werk Emmi Lewalds

(EuH 94) antreibt, bis er in die Werra mündet. Die geografische Lokalisierung der Handlung wird weiter ausgestaltet durch die Nennung des Schlosses Altenstein, das zu Emmi Lewalds Zeit die Sommerresidenz der Meininger Herzöge war.196 Auch das „Drusenthal“ (Trusetal), in welchem das Gasthaus gelegen ist, und der Kurort Bad Liebenstein, über dem noch „der Glanz jener früheren Weltbads-Epoche schwebt“ (EuH 103) sind wirk­lichkeitstreu benannt.197 An dem Roman Sylvia (1904), den Emmi Lewald unter anderem in Weimar und Jena ansiedelt, lassen sich Aspekte ihrer Kommunikation mit einem bildungsbürger­lichen Lesepublikum aufzeigen. Auf ihrer Reise zu der Familie des an der Jenaer Universität lehrenden Ulrich Thomsen besucht die Protagonistin Sylvia in Weimar ihre Freundin Irene von Reifenstein. Die jungen Frauen besuchen die Rammersche Konditorei, gehen auf der Schillerstraße spazieren und besuchen das Goethehaus. Damit nimmt die Autorin Bezug auf typische Merkmale der Stadt und dem bildungsbürger­lichen Lesepublikum bekannte Sehenswürdigkeiten in Weimar. Neben stereotypen Landschaftsbeschreibungen von thüringischen Flüssen, Wäldern, Kirchdörfern und Burgen wird durch Bildungswissen eine Ebene der Identifikation und der Verständigung mit dem Leser geschaffen. Besonders die Nennung Goethes und seiner Werke 198 schafft einerseits den Bezug zur Region, appelliert anderseits an die bildungsbürger­liche Allgemeinbildung. Auf der Bahnreise von Weimar nach Jena nimmt Sylvia die Landschaft als verflochten mit der literaturhistorischen Besonderheit wahr. Neben dem sausenden Zuge reckten sich jetzt Tannen empor, an grünen Berghalden und wogenden Feldern. Berge hoben ihr Haupt in die sommer­liche Bläue, und auf tat sich das süße Thüringtal mit seinen holden Schattenhängen, mit Mühlen im kühlen Grunde, und der alten, baumreichen Landstaße, die sich von Weimar nach Jena wand – jene Straße, auf der einst der junge Goethe in so manchen Sommernächten dahinritt, wenn er von Kochberg kam und der Nachtwind ihm in die Locken fuhr und an seinem Mantel zehrte. (Sy 580)

Über die Bezüge zur Weimarer Klassik hinaus tritt in Novellen und lyrischen Verarbeitungen Thüringens eine verklärende Beschreibung der Region zutage, die sich 196 Anton Ulrich Herzog von Sachsen-Meiningen (1687 – 1763) hatte Schloss Altenstein von dem italie­ nischen Architekten Alessandro Rossini zunächst als sch­lichtes Barockschloss errichten lassen. Bei dem Schlossumbau 1888 – 1889, auf den Lewald anspielt, wurde es als Sommerresidenz für Georg II. Herzog von Sachsen-Meiningen (1866 – 1914) im Neo-Renaissance-Stil gestaltet. 197 Über den Ort Bad Liebenstein bemerkt Lewald in der Novelle von 1891: „Zwar sind die Tage vorbei, in denen das kleine Bad Sammelpunkt der vornehmen Gesellschaft war. Die fürst­lichen Herrschaften sind selten geworden und die Eingeborenen brauchen sich nicht mehr mit dem Verständniß für fremde Dialecte abzuquälen. In dem kleinen Theater gastieren zwar noch ‚Meininger‘, aber nicht die berühmte, Welt durchwandernde Truppe, sondern stahlbedürftige Sterne dritten und vierten Ranges, die ihren Thespiskarren nur der Quelle halber in dies Thal schieben“ (EuH 102 f.). 198 Vgl. die Erwähnung von Goethes Der Erlkönig in Unsre lieben Lieutenants (1888), S. 36.

Zentrale Themen

des regionalen und überregionalen Sagenschatzes bedient. Die Wälder, Ruinen und Flüsse Thüringens erscheinen als märchenhafte Landschaft, die in den Abend- und Nachtstunden von Wald- und Wassergeistern bevölkert ist. An Geistern, Elfen und den Nymphen und Nixen des vorangestellten Gedichtes ist erkennbar, dass Emmi Lewald auf sehr unterschied­liche Traditionen, hier die personifizierten Naturkräfte der griechischen Mythologie und die Wassergeister der mittel- bis nordeuropäischen Volksüberlieferung, zurückgreift.199 Bei der Sage, auf die in Unsre lieben Lieutenants (1888) angespielt wird, als der ermattete Wanderer neben dem duftenden Jasminstrauch „trunken von Phantasie [wird] und glaubt, daß die weiße Frau neben ihm sitze, die von dort aus ihren Unglücksschleier über deutsche Fürstenhäuser wehen läßt“ (UlL 36 f.), handelt es um die in der Region verortete Sage über Die weiße Frau von Orlamünde.200 Mit der Einflechtung von Sagen und Mythen in ihren frühen Novellen und Gedichten verstärkt Emmi Lewald die Stilisierung des Schauplatzes Thüringen zu einem sagenumworbenen Ort der Geschichten, der Dichter und der deutschen Nationalheiligtümer, an dem die Bildungsbürger ihre Erholungs- und Bildungsreisen verbringen. 4.2.4 Die große Zäsur 1914 und der Erste Weltkrieg Ist es nicht viel wichtiger, diese Zeit zu erleben als sie zu überleben? [Lewald, Der letzte Brief (1916)]

199 Vgl. die „neckische[n] Saale-Elfen“ (UlL 2) und die Geister in der Novelle Der Mensch mit seiner Qual (1891): „Ringsum hatte die Dämmerung das Thal überschleiert, und leiseklingend zogen vom Dorfe her langgezogene Glockentöne, die den Sonntag einläuteten. In dem alten ­Wartthurme begann es sich zu regen wie geheimes Leben, wie ein Schwarm vergeßner Geister, die das Sonnen­licht zu fliehen verdammt sind, aber in mondhellen Nächten ihr lustiges Spiel auf dem thauigen Rasen treiben. Sie verstehen zu lachen und zu scherzen, jene Kinder der Mitter­ nachtstunden“ (EuH 87). 200 In der mit dem Adelsgeschlecht der Hohenzollern verknüpften Überlieferung, von der mehrere Varianten existieren, tötet die Burgherrin Kunigunde von Orlamünde ihre beiden Kinder, da ihr Verehrer Albrecht der Schöne verbreiten ließ, er könne sie wegen zweier Augenpaare nicht heiraten. Albrecht hatte jedoch seine Eltern gemeint, die gegen die Verbindung waren, und sagte sich nach den Kindsmorden von Kunigunde los. Nach ihrem Tod soll Kunigunde von Orlamünde als Gespenst in weißer Gestalt in Adelsschlössern gespukt haben, um den Nachkommen Albrechts, den Hohenzollern, bevorstehende Todes- und Unglücksfälle anzukündigen. Die ältesten Berichte der Erscheinung stammen aus dem 15. Jahrhundert, die größte Verbreitung fand der Glaube an den Geist in der hochadeligen Kultur jedoch im 17. Jahrhundert. Wie die Erwähnung der Sage in Fontanes Roman Eff i Briest (1894/95) zeigt, hat sie in die Erzählliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts mehrfach Eingang gefunden. Vgl. Johann Georg Theodor Gässe: Sagenbuch des preußischen Staates. Bd. 1. Glogau 1868/71, S. 14 – 19, URL: http://www.zeno.org/nid/20004936213 (Zugriff 27.03.2014).

421

422

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Bei der Analyse der Weltkriegsthematik in Emmi Lewalds Werk tritt rasch zutage, dass in ihre Darstellung des Krieges markante Vorstellungen von kulturellen, poli­ tischen und gesellschaft­lichen Ordnungsmustern einflossen, die sie mit der intellektuellen Mehrheit ihrer Zeit teilte und die in der Forschung als die deutschen „Ideen“ oder der „Geist von 1914“ bezeichnet werden.201 Tatsäch­lich begrüßten die meisten deutschen Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler die allgemeine Mobil­ machungseuphorie des Sommers 1914 und folgten ähn­lich bereitwillig wie die politischen Parteien dem Aufruf der Reichsleitung zum „Burgfrieden“, was in der „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ von 1914 sinnfällig zum Ausdruck kommt.202 Die Erfahrung nationaler Einmütigkeit im „Augusterlebnis“203 galt den Intellektuellen und Wissenschaftlern als Geburtsstunde eines neuen „deutschen Geistes“, der die nationale Kriegsbegeisterung mit einer integralen Zukunftsvorstellung verband, und der Erwartung einer neuen Staatsform, die dem angenommenen deutschen Nationalcharakter angemessen sein würde. Geistesgeschicht­lich hoffte man auf eine neue Epoche, eine Zeit nationaler Einheit, in der die deutsche Gesellschaft durch den Krieg geläutert sein würde von den sozialen, konfessionellen und politischen Spannungen der Vorkriegszeit, die der Anbruch der Moderne verursacht hatte. Der Kriegsausbruch radikalisierte eine lange vor 1914 von verschiedenen Intellektuellen geäußerte Gesellschaftskritik, die vornehm­lich mit den „Topoi der zunehmenden Gemeinschaftsauflösung, des Individualismus, der gesellschaft­lichen Dekadenz und des Werteverfalls“204 arbeitete. Die entsprechende Erwartungshaltung in der kulturellen und literarischen Welt bezog sich auf eine Erneuerung und Revitalisierung von Literatur und bildender Kunst, die eine oft beklagte Langeweile und Beliebigkeit individualistischer Gestaltungskonzepte überwinden helfen sollten.205 201 Die „Ideen von 1914“ gehen auf ein Zitat von Max Weber zurück, in dem er auf die ideenpolitische Debatte der deutschen Intellektuellen im Kontext des Ersten Weltkrieges verweist. Max Weber: „An der Schwelle des dritten Kriegsjahres“. In: MWS I/15, S. 332 – 338 f., hier S. 332 f. Weber wird von Bruendel zitiert, der sich in seiner Studie mit kulturellen und politischen Vorstellungen der deutschen Intellektuellen in Bezug auf den Ersten Weltkrieg beschäftigt. Vgl. Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003, S. 11. 202 Die offizielle Stellungnahme der deutschen Wissenschaftler zum Krieg sollte als Reaktion auf Anfeindungen alliierter Wissenschaftler den Schulterschluss zwischen Wissenschaft und staat­ lich-militärischer Gewalt bekräftigen: „In dem deutschen Heere ist kein andrer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören dazu.“ Vgl. Bruendel: Volksgemein­schaft, S. 44. 203 Ebd., S. 65. 204 Ebd., S. 66. 205 Vgl. hierzu die von Mommsen erwähnten Positionen von Ernst Toller, Walter Alfred Heymel, Georg Heym und Robert Musil. Wolfgang J. Mommsen: Deutsche kulturelle Eliten im Ersten Weltkrieg. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München 1996, S. 1 – 15, S. 7.

Zentrale Themen

Er [Anm. der Krieg] ermög­lichte mit einem Schlage, so meinte man, die Überwindung der geistigen Situation und der intellektuellen Beliebigkeit eines bloß ästhetisierenden Individualismus (Simmel), wie er sich in den Vorkriegsjahren herausgebildet hatte. Dies wurde gesteigert zu der These, daß der Krieg in kultureller Hinsicht eine Reinigung des deutschen Kulturlebens bewirken werde, das im letzten Jahrzehnt vor 1914 in einem schalen Materialismus und bloßer Gewinnsucht verkommen sei.206

Im Zuge der nationalen Integration zu Kriegsbeginn verfassten zahlreiche Schriftsteller und Laienautoren eine Masse von Kriegsgedichten, Reden, Aufrufen und Essays, die sich thematisch der Feier des neuen deutschen Einheitsgefühls, der Verklärung des Kriegseinsatzes zur Pf­lichterfüllung und Opferbereitschaft gegenüber dem Vaterland, der Abgrenzung von den Kulturen der Feindesmächte und der positiven Deutung des deutschen Nationalcharakters widmeten. Sie identifizierten sich mehrheit­lich mit dem preußischen Militarismus und dem deutschen Imperialismus und fühlten sich, im Schulterschluss mit den militärischen und politischen Kräften des Kaiserreichs, zu einer „poetischen Mobilmachung“207 berufen. Unter zeitgenössischen Autoren und Autorinnen bestand im Sommer 1914 eine weitverbreitete Kriegserwartung, auch wenn die renommierten Autoren sich im Gegensatz zu „Dilettanten“, Journalisten und Tagesschriftstellern kaum am Boom der Kriegs­ literatur beteiligten. Dies zeigen Schumann für Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Stefan George und Hugo von Hofmannsthal 208 sowie Koester für Thomas Mann auf 209. Schriftsteller und Publizisten mit einer pazifistischen oder zumindest kriegskritischen Position wie Heinrich Mann gehörten zunächst einer unorganisierten Minderheit an und konnten mit ihren Texten die öffent­liche Meinung des deutschen Kaiserreiches nicht nachhaltig beeinflussen; sie fanden zum Teil ein Sprachrohr in Franz Pfemferts Zeitschrift „Die Aktion“ und in Karl Kraus’ Blatt „Die Fackel“. Selbst George und Hesse standen den Ereignissen zunächst positiv gegenüber, da sie sich eine „kathartische Wirkung“210 des Krieges auf die Geistes- und Kulturwelt erhofften. Ihre Kriegsbegeisterung wich jedoch in einigen Fällen bereits wenige Monate nach Kriegsausbruch der Enttäuschung und Ernüchterung, als sich mit Blick auf die tatsäch­lich seit Kriegsbeginn publizierte Literatur abzuzeichnen begann, 206 Ebd., S. 8. 207 Die vielzitierte Wendung stammt von Julius Bab: Die Kriegslyrik heute. In: Das literarische Echo 17 (1914), H. 1 (1. Okt.), Sp. 5. 208 Vgl. Andreas Schumann: „Der Künstler an die Krieger“. Zur Kriegsliteratur kanonisierter Autoren. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München 1996, S. 220 – 233. 209 Vgl. Eckart Koester: ‚Kultur‘ versus ‚Zivilisation‘: Thomas Manns Kriegspublizistik als weltanschau­lichästhetische Standortsuche. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München 1996, S. 249 – 258. 210 Schumann: „Der Künstler an die Krieger“, S. 225.

423

424

Das literarische Werk Emmi Lewalds

dass die erhoffte Revitalisierung der deutschen Kunst und Kultur ausblieb. Schon ab dem Frühjahr 1916 begann sich bei Teilen der kulturellen Elite in einem langsamen Prozess des Umdenkens eine realistisch-fatalistische Einstellung durchzusetzen. Wie Häntzschel in seiner Studie Literatur und Krieg anhand der damals meinungsbildenden Literaturzeitschrift „Das literarische Echo“ nachweist, machte sich unter Literaturkritikern rasch Enttäuschung über die fragwürdige Qualität der Kriegsliteratur breit.211 Dennoch erfreute sie sich größter Beliebtheit und etablierte sich als triviales Massenphänomen. Ein im Juli 1915 publizierter Artikel Der Dichter und der Krieg des Unterhaltungsschriftstellers Georg von Ompteda lässt ahnen, dass die Schriftsteller infolge der Kulturtheorien zu Beginn des Krieges einem starken Erwartungsdruck ausgesetzt waren. Er verteidigt die Autoren mit dem Argument, ihr dichterischer Schaffensprozess könne gar nicht mit der Fülle der Ereignisse und Eindrücke mithalten, ohne dass auch das Risiko eines unglaubwürdigen Werks einzukalkulieren sei. Zu glauben, im Drange der Ereignisse würden große Werke mit der Urgewalt des Erdfeuers ausgespien, zeugt von völliger Unkenntnis der Gesetze dichterischen Schaffens. Wohl mag ein begeistertes Lied am Lagerfeuer hingeworfen werden, auch eine Skizze, eine Novelle kann in abgekehrter Stunde entstehen, große, dramatische, vor allem aber epische Werke brauchen schon in ruhigen Zeitläuften Geduld, wie nun gar im Kriege, wo die Seele, die sich sammeln soll zum Schaffen, ständig aufgerüttelt wird durch das Überstürzen der Geschehnisse.212

Omptedas Auffassung nach musste ein Verfasser epischer Werke, um zu einer sehr guten, „echten“ Darstellung des Krieges in der Lage zu sein, einerseits selber Zeuge der Frontereignisse geworden sein und anderseits einen zeit­lichen Abstand zu ihnen gewonnen haben. „Erleben muß der Dichter den Krieg, erleben, dreimal erleben.“213 Obwohl dies zum Publikationszeitpunkt seines Artikels noch keinem Autor gelungen war, hoffte Ompteda auf eine qualitativ hochwertige und zeitlose Darstellung des Krieges, auf „ein neues Nibelungenlied“, ein Werk im Stil der „großen Menschheitsdichtungen, [dem] Stil des Dante oder der Heiligen Schrift“214. Das große, epochemachende Meisterwerk der Kriegsdarstellung aber blieb aus und ist, den Erwartungen Omptedas in vielen Punkten entgegengesetzt, erst in der Weimarer Republik mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928) publiziert worden. 211 Häntzschel untersuchte den 17. Jahrgang der Zeitschrift von Oktober 1914 bis September 1915. ­Günter Häntzschel: Literatur und Krieg. Aspekte der Diskussion aus der Zeitschrift „Das literarische Echo“. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München 1996, S. 209 – 219. 212 Georg Freiherr von Ompteda: Der Dichter und der Krieg. In: Die Woche 17 (1915), Nr. 31 (31. Juli), S. 1081 – 1083. S. 1082. 213 Ebd., S. 1082. 214 Ebd., S. 1083.

Zentrale Themen

Emmi Lewalds Erzählprosa der Kriegszeit Emmi Lewald schrieb zwischen 1914 und 1918 mehrere Kriegsnovellen, die zunächst in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien und nach Kriegsende in dem Sammelband In jenen Jahren… (1919) publiziert wurden.215 Mit Blick auf die ideengeschicht­liche Wende unter den deutschen Intellektuellen 1916/17 ist die redaktionelle Geschichte des Novellenbandes zu beachten; die Arbeiten entstanden in unterschied­lichen Phasen des Ersten Weltkrieges. Die Arbeiten In schlaflosen Nächten und Eheirrung erschienen bereits 1915 in „Velhagen & Klasings Monatsheften“216, Der letzte Brief 1916 in V ­ elhagen & ­Klasings Kriegsalmanach 217 und die Novelle Ein Besuch im Jahr 1917 in „Die Gartenlaube“218. Auch für die Texte Der Mangel an Ernst und Der Gast aus Venetien muss ein früheres Veröffent­lichungsdatum angenommen werden, auch wenn ihre Publikation in einer Literatur- oder Kulturzeitschrift während der Kriegszeit noch nicht nachgewiesen werden konnte.219 Lewalds Kriegsnovellen gehören in die Kategorie der Kriegsdarstellungen von Autorinnen, welche die Kriegserlebnisse aus der Perspektive der „Heimatfront“ und mit räum­licher Distanz zu den Kriegsschauplätzen schildern.220 Im Gegensatz zu den wenigen bürger­lichen und adeligen Frauen, die als Krankenschwestern oder Pflegerinnen in Kriegsgebieten im Einsatz waren, verfügte Emmi Lewald, wie die Mehrzahl ihrer bürger­lichen Zeitgenossinnen, offensicht­lich über keine persön­lichen Fronterfahrungen. 215 Kriegsnovellen erlebten während des Ersten Weltkrieges eine Konjunktur und waren weiter verbreitet als Kriegsromane. Schon zeitgenössische Kritiker wie der von Müller zitierte Referent des „Literarischen Echos“ für diese Gattung, Arthur Babillotte, kritisierten den stereotypen Aufbau und das mangelnde literarische Niveau der meisten dieser Werke. Der Kritiker zählt als Varianten der Kriegsnovelle die Liebes-Kriegsnovelle, die Normal-Kriegsnovelle, die „Husarenstücklein“Geschichte und die Lazarett-Novelle auf. Das Interesse der meisten literarischen Zeitschriften an Kriegsliteratur ließ aus diesen Gründen bereits 1916 merk­lich nach. Vgl. Hans Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986, S. 18 f. 216 Der Text In schlaflosen Nächten erschien vor seiner Veröffent­lichung in dem Band In jenen Jahren… (1919) bereits 1915 in „Velhagen & Klasings Monatsheften“ unter dem Titel In schlaflosen Nächten. Gedanken eines Einsamen. Velhagen & Klasings Monatshefte 30 (1915/16), Bd. 1, H. 1, S. 45 – 54. Der Text Eheirrung erschien vor seiner Veröffent­lichung in dem Sammelband bereits 1915 unter demselben Titel in „Velhagen & Klasings Monatsheften“ 30 (1915/16), Bd. 2, H. 5, S. 120 – 123. 217 Der Text erschien vor seiner Veröffent­lichung in dem Band In jenen Jahren… 1919 bereits in ­„Velhagen & Klasings Kriegsalmanach“ von 1916 unter dem Titel Der letzte Brief. Eine Stimme von der Front. Kriegs-Almanach 1916 (Hg. von der Schriftleitung von Velhagen & Klasings Monatsheften), S.  33 – 37. 218 Der Text erschien vor seiner Veröffent­lichung in dem Band In jenen Jahren… (1919) bereits 1917 in „Die Gartenlaube“ unter dem Titel Ein Besuch. Novelle in zwei Teilen. Die Gartenlaube 1917, Nr. 17, S.  342 – 347 und S.  362 – 366. 219 Aus diesem Grund wird bei diesen Publikationen im vorliegenden Kapitel das Erscheinungsjahr 1919 als Jahr der Erstpublikation angegeben. 220 Vgl. zu der literarischen Kategorie “Erzählprosa von der Heimatfront“ Sprengel: Geschichte 1900 – 1918, S.  774 ff.

425

426

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Wie ja die Großzahl aller Zivilisten, erlebten auch die meisten Frauen den Krieg nicht an der Front, sondern als Zaungäste des Geschehens irgendwo im Hinterland. Es ist deshalb auch nicht erstaun­lich, daß in ihren Kriegsschriften Schilderungen der wirtschaft­lichen und sozialen sowie der emotionalen Auswirkungen des Krieges auf das öffent­liche und häus­liche Leben vorherrschten, wobei es sich immer ergibt, dass diese zu allgemeinen Betrachtungen und Polemiken für oder gegen den Krieg wurden.221

Der von Cardinal konstatierte Zusammenhang zwischen der persön­lichen Erlebnisperspektive und der Gestaltung der Kriegsthematik in den Prosatexten von Autorinnen lässt sich auch für Emmi Lewald bestätigen, deren Kriegserleben sich in der Wahl ihrer literarischen Schauplätze und der Figurenperspektiven niederschlug. Der Ort des Geschehens bleibt in den Kriegsnovellen der bürger­liche Haushalt, das Figurenensemble setzt sich aus kriegsuntaug­lichen Daheimgebliebenen, bangenden Ehefrauen und Müttern, Soldaten auf Heimaturlaub und verwundeten Heimkehrern zusammen. Die Distanz zum Kriegsgeschehen versucht Emmi Lewald mitunter durch literarische Mittel wie den Augenzeugenbericht oder die Form des Feldpostbriefs zu kompensieren. Dieser „Anspruch auf Authentizität“, der in der Verwendung der „Motivik von Sehen, Erleben und Berichten“ zum Ausdruck kommt, ist nach Daemmrichs Einschätzung ein generelles Merkmal der Kriegsthematik in der Literatur.222 Die handlungsarme Novelle In schlaflosen Nächten (1915) ist im zweiten Kriegsjahr angesiedelt.223 Die spär­liche Handlung dient hauptsäch­lich als Rahmen für die nächt­ lichen Reflexionen eines vom Militärdienst zurückgestellten Kunsthistorikers, der in einem ungeordneten Gedankenstrom die von der Kriegssituation verursachten politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen seiner bildungsbürger­lichen Lebenswelt Revue passieren lässt. Besonders beschäftigt ihn das beschädigte Verhältnis zu den europäischen Kulturländern Italien, Holland, England und Frankreich, denen das deutsche Kaiserreich nunmehr als Kriegsgegner gegenüber steht: „Wo wir hindenken, überall Verluste, an Freunden, Werten, Glauben, Plänen und Hoffnungen. Als wäre die Welt leer geworden jenseits unserer Grenzpfähle“ (IjJ 7). Seine Überlegungen zu Italien sind von der traditionellen bildungsbürger­lichen Idealisierung des Landes ebenso geprägt wie von einer bitteren Enttäuschung über dessen Kriegsgegnerschaft,

221 Agnès Cardinal: Alternative Mythen? Frauen schreiben über den Ersten Weltkrieg. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg; der Erste Weltkrieg. Hg. von Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999, S. 389 – 398. S. 389 f. 222 Horst S. Daemmrich: Krieg aus Sicht der Themengeschichte. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg; der Erste Weltkrieg. Hg. von Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999, S. 1 – 13. S. 2. 223 Erwähnt werden der Sieg bei den Dardanellen (IjJ 23), der Ansturm auf den Uzsokpaß (IjJ 31), die Isonzokämpfe (IjJ 34) und die Einnahme von Lemberg (IjJ 40).

Zentrale Themen

die als „Treuebruch“ interpretiert wird. Die Gegnerschaft mit England erinnert den Erzähler dagegen an einen Ferienflirt mit einer englischen Malerin, die durch den Kriegsausbruch jedoch Angehörige „jenes Inselvolkes [geworden ist], an das zu denken jede deutsche Seele mit weißglühendem Grimm erfüllt“ (IjJ 12), weswegen er auch diese Beziehung als Verlust einstufen muss. Bewunderte der Protagonist die Engländer einst für ihre stilvolle Kleidung und ihr gutes Benehmen, konstatiert er nun, sie seien den Deutschen in der Leidenschaft für das Vaterland weit unterlegen, die in den Seelen der Deutschen wie „heiliges Feuer“ brenne. Neben den Verlusten, die ihm aus der Feindschaft der ehemals geschätzten Kulturländer erwachsen, besinnt sich der Kunsthistoriker auch auf die sozialen Verluste der Deutschen durch den Tod von Freunden und Familienangehörigen und auf die Trauer und Sorge der Verwandten von Militärangehörigen (IjJ 25 f.). Er selbst wird mit der harten Kriegswirk­lichkeit durch die Nachricht vom Tod eines engen Freundes, durch die mediale Kriegsberichterstattung sowie durch den Selbstmord seiner jungen verwitweten Nachbarin konfrontiert. Auf diese Weise brechen die Willkür­lichkeit und die Zerstörungswut des Krieges in den Lebensalltag der Figur trotz ihrer Distanz zum eigent­lichen Kriegsgeschehen ein: Alles Berechenbare hat aufgehört. Menschenschicksale taumeln wie Falter im ­licht. Kein Gesetz regiert mehr, nur der Zufall. An einem einzigen Kommando hängen tausend Tragödien – ein Augenblick entscheidet über das Unglück von ungezählten Sorgenden und Hoffenden in der Ferne. Die Haarbreite, wie die Kugel schwirrt, entscheidet. Der Unversehrte und der Hingemähte – ein Zentimeter Entfernung bedingt ihr Los. (IjJ 28)

Das Chaos-Motiv steht hier zum eintönigen Lebensalltag des Protagonisten ebenso in krassem Gegensatz wie zu seiner nach wie vor unverhohlenen Kriegsbegeisterung.224 Der Kunsthistoriker ist erfüllt von „dem berauschenden Glücksgefühl einem Volk von Helden anzugehören“ (IjJ 33). Er nimmt den Weltkrieg als bedeutendes welthistorisches Ereignis wahr, als „die größte Angelegenheit des Jahrhunderts“, das alle in den Geschichtsbüchern verzeichneten Heldentaten noch übersteigt (IjJ 16). Der Protagonist zögert auch nicht, den Kampf um die Dardanellen mit dem sagenhaften Kampf um Troja zu vergleichen (IjJ 17). Seine Kriegsbegeisterung wird im Text von einer tiefen Bewunderung für technische Neuerungen wie Luftschiffe und Peris­kope flankiert, welche die moderne Kriegsführung des 20. Jahrhunderts, den „die Lüfte durchtobenden, unter dem Meeresspiegel hinjagenden Krieg“ (IjJ 21) mög­lich machten.225 Auch 224 Das Chaos-Motiv bringt als typisches Element literarischer Kriegsdarstellungen die Erfahrung des Ordnungs- und Überblicksverlusts aber auch der militärischen Willkür und des Ausgeliefert-Seins zum Ausdruck. Vgl. Daemmrich: Krieg aus Sicht der Themengeschichte, S. 7 f. 225 Dass der Weltkrieg auch die technische Entwicklung im deutschen Kaiserreich vorantrieb, beeindruckte durchaus zeitgenössische Gelehrte, etwa den Nationalökonomen Werner Sombart, der

427

428

Das literarische Werk Emmi Lewalds

hinsicht­lich des technischen Wissens und der Erfindungen wird der Weltkrieg als Jahrhundertereignis und bedeutende Kulturleistung gefeiert (­„Leonardo da Vinci – hättest du dies erlebt!“ [IjJ 21]). Der Kunsthistoriker selbst fühlt sich jedoch wegen seines Berufs und seiner Ausmusterung vom Militärdienst aufgrund eines Augenleidens in einer gesellschaft­lich minderwertigen Position: „Daseinsberechtigt wäre ich nur, wenn ich mit hinausginge hinter die Front, wenn ich jenen Siebzehnjährigen die Stiefel putzte zu dem frühen letzten Gang“ (IjJ 8). Auch der junge Ado Nordenflecht in der Novelle Ein Besuch (1917) ist verbittert, da er wegen eines Herzfehlers nicht seinen Militärdienst ableisten und am Krieg teilnehmen kann. Während die anderen Mitglieder seiner Familie die Kriegsereignisse bewusst auszublenden versuchen, empfindet Ado selbst sein Daheimbleiben als unmänn­lich und feige und schämt sich vor der Gesellschaft. Dabei sind die Gefühle des Jungen in Bezug auf den Krieg widersprüch­lich, er schwankt zwischen Heroismus und Angst und empfindet „zuweilen eine Art geheimer Dankbarkeit […], mit jener Schwäche behaftet zu sein, die […] ihm die Berechtigung gab, jenen grausigen Schlachten fernzubleiben“ (IjJ 96). Die Begegnung mit dem Bauernsohn Willen, einem ehemaligen Diener der Familie, im Mai 1915 wird zum Wendepunkt in Ados Leben. Der beinamputierte und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnete Mann wird für den jungen Bürger­lichen zum lebenden Vorbild für Vaterlandsliebe, Pf­lichttreue und heroische Selbstopferung. Willens bescheidener Bericht über seine Fronterlebnisse sorgt für eine Verstörung und Beschämung der Familie Nordenflecht und lässt bei Ado die Entscheidung reifen, auch gegen den Willen seiner Eltern am Krieg teilzunehmen. In der Auseinandersetzung mit den Eltern bringt Ado seine Vorstellung von Verpf­lichtung und Opferbereitschaft gegenüber seinem Heimatland zum Ausdruck: Ist nicht vielleicht das an dieser wunderbaren Zeit das Allerhöchste, daß Manneskraft und Heldenmut zur Blüte kommen können, aus allen Schichten, überallher, wo nur der Keim zur Opfergröße wohnt? Und ist nicht die phrasenlose Einfachheit, mit der solch ungeschlachter Bauernsohn wie dieser in jedem Augenblick unerschrocken sein Leben für den Vorgesetzten in die Schanze schlägt, ohne sich auch nur im geringsten auf diese selbstverständ­liche Pf­licht etwas zugute zu tun, nicht ethisch die höchste Vollkommenheitsphase, zu der deutsche Jugend es überhaupt zu bringen vermag? (IjJ 116)

Es ist das von dem gesellschaft­lich tiefer stehenden Willen verkörperte soldatische Männ­lichkeitsideal, das sich auf die militärischen Tugenden Mut, unbedingte Loyalität, Pf­lichtbewusstsein und Opferbereitschaft stützt, welches den bürger­lichen Ado vom Kriegsdienst überzeugt. Der Besuch des Dieners weckt letztend­lich bei allen

den Kriegsereignissen deswegen eine positive kulturelle Auswirkung zuschrieb. Vgl. Bruendel: Volksgemeinschaft, S. 53.

Zentrale Themen

drei Nordenflecht-Kindern ein nationales Verantwortungsbewusstsein, das sie sich geschlossen gegen die Autorität ihrer Eltern auflehnen lässt, um das Engagement für den Krieg zu propagieren. Ado wird in seinem Entschluss zum Kriegsdienst von seiner Schwester Elsa („Wie nun das Rad der Zeit jetzt ist: besser mit unter das Rad zu kommen, als tatenlos dabeizustehen.“ [IjJ 118]) ebenso wie von seinem kleinen Bruder Philibert unterstützt. Ein Besuch endet mit einer nächt­lichen Szene, in der Ado nach seinem Entschluss zum Kriegsdienst „wie ein Befreiter zu den Sternen“ (IjJ 121) sieht. Von der gesellschaft­lichen, sozialen und emotionalen Bedeutung der Kriegsteilnahme für die jungen bürger­lichen Männer des Kaiserreichs handelt auch die Novelle Der Mangel an Ernst (1919). Der achtzehnjährige Erich, der im Heimaturlaub seine Familie in Berlin besucht, meidet das Gespräch über seine Kriegserlebnisse und sucht stattdessen Unterhaltung und oberfläch­liches Vergnügen in Kino- und Theater­besuchen und bei Ausflügen mit seinen Schwestern. Während sein Onkel und die Schwestern ihm mangelnden sitt­lichen Ernst vorwerfen, ergreift seine Mutter als einzige für ihn Partei, da sie beim Betrachten ihres schlafenden Sohnes dessen wahren Gemütszustand zu erkennen meint. Im Schlaf liegt auf seinem von den Kriegserlebnissen gezeichneten Gesicht „ein bitterer Zug von Gram“ (IjJ 77), und die liebende Mutter findet ihren Sohn „veredelt“ (IjJ 78) und gereift durch seine Erfahrungen „in jener kurzen Spanne Zeit da draußen, die so voll von schicksalsschwerem Inhalt, belastet von Taten und Erinnern war…“ (ebd.). Ihre anfäng­liche Enttäuschung über den leichtlebigen Sohn verwandelt sich in Stolz auf dessen Heldentum und die sitt­liche Reife, mit der er vor der Familie den heiteren Heimkehrer simuliert und das Aufkommen jeg­licher Sentimentalität und „weich­licher Wehmut“ (ebd.) vermeidet. „Und nun wusste sie: er war weit hinausgegangen über sie alle daheim. Er hatte schnell jene höheren Stufen erstiegen, zu denen das Ausnahmeschicksal der Zeit die Jungen wie die Reifen emporführen kann. Er war mehr als sie alle geworden“ (IjJ ebd.). Die Novelle veranschau­licht die positive Einstellung der bürger­lichen Gesellschaft des Kaiserreichs zum Krieg und ihre Hochschätzung für die Kriegsteilnehmer. Die Bewährung im Kampf für das Vaterland scheint hier geeignet zu einer sitt­lichen Vervollkommnung des Menschen, die ihn hoch über die zivilen Mitglieder der Gesellschaft erhebt. Militärangehörige wie Offiziere, Soldaten und das Pflegepersonal in den Lazaretten, zu dem auch Frauen gehörten, genossen ein außergewöhn­lich hohes gesellschaft­liches Ansehen. Bemerkenswerterweise sehen die bürger­lichen Protagonisten der Novelle bei diesem Aspekt über Standesunterschiede hinweg, wie die Hochachtung der Nordendflechts für den versehrten Bauernsohn Willen in Ein Besuch andeutet. Jeder, der da draußen gekämpft, stand plötz­lich wie auf erhöhten Treppenstufen über dem Zivilisten daheim. Sie waren jene, die unmittelbar am Rade der Geschichte mit-drehten, dessen furchtbares Sausen und Rollen der Nichtkombattant im Herzen Deutschlands niemals direkt vernahm… (IjJ 59)

429

430

Das literarische Werk Emmi Lewalds

In Der Mangel an Ernst wird besonders die Überzeugung hervorgehoben, der Kriegseinsatz für ein großes, überindividuelles Ziel habe für junge Leute eine erzieherische Funktion, weil er ihnen Mög­lichkeiten zur Besserung und Bewährung böte: „Der Krieg, der große Erzieher“ (IjJ 48). Die Erfahrung des Sterbens, der ständigen Gefahr und der Notwendigkeit soldatischen Handelns im Sinne des zeitgenössischen Männ­ lichkeitsideals korrigiert den aus pädagogischer Sicht mangelhaften Charakter des achtzehnjährigen Erich, da an die Stelle von Oberfläch­lichkeit und Leichtlebigkeit nun Ernst, Reife, Tapferkeit und Erfahrungsreichtum treten. Der kurze Prosatext Der letzte Brief (1916) ist im Gegensatz zu den vorangegangenen Novellen aus der Perspektive eines bürger­lichen Kriegsteilnehmers geschrieben, der aus dem Schützengraben heraus in Form eines Feldpostbriefes 226 einer angebeteten Frau von seinen Gedanken, Eindrücken und persön­lichen Veränderungen durch den Krieg berichtet. Der Text baut auf eine starke Idealisierung des Weltkrieges durch den Briefschreiber auf, die durch einen Vergleich seiner persön­lichen Ideale vor und während des Krieges erreicht wird. Seine bürger­liche Existenz vor dem Krieg, in deren Mittelpunkt die Beschäftigung mit Kunst- und Kulturgeschichte und das Werben um die Adressatin standen, erscheint ihm nun wertlos angesichts der „Gnade“ (IjJ 128), am Krieg teilnehmen zu dürfen: „[U]nd wir lächeln stolz, daß auch wir beim großen Opfergang das kleine Gewicht unseres Daseins niederlegen durften in jene eherne Wagschale [sic!], in der das Schicksal der Welt neu abgewogen wird“ (IjJ 131 f.). Das Leben des Individuums wird zum heroischen Opfer für einen schicksalhaften Krieg verklärt, von dem sich der Protagonist den Anbruch einer neuen weltgeschicht­lichen Ära erhofft. Ihr sollt genießen, was da kommen wird, wenn der Dom der neuen Zeit herr­lich über deutschen Landen ragt, wenn die so teuer bezahlten Früchte end­lich reifen – wir strecken die kriegsermatteten Glieder gerne zum verdienten Schlaf in die neu gerettete Erde. (IjJ 131)

Die Verklärung des Krieges und die euphemistische Beschreibung des Todes geben der Darstellung einen stark ästhetisierenden Zug und werden hier von Emmi Lewald mit derselben Sprache betrieben, die bei der Beschreibung bürger­licher Kulturerlebnisse zum Einsatz kommt. Denn auch die Bedeutung der Kunstschätze für die bürger­liche Hochkultur verblasst in der Wahrnehmung des Briefschreibers und wird von den Eindrücken des Krieges geradezu aufgehoben. 226 Die Verwendung der literarischen Form des Feldpostbriefes bei der künstlerischen Verarbeitung des Kriegserlebnisses zwischen 1914 und 1918 beantwortet die Forderung nach einer Authentizität des Erlebens in der Darstellung dieses Themas. Laut Müller erklärt dies, warum mit dem Feldpostbrief und dem Kriegsbericht „zwei authentizitätsverbürgende epische Genres literaturfähig wurden, die vor dem Krieg in der Literatur nicht existierten.“ Müller: Der Krieg und die Schriftsteller, S. 13. Vgl. auch Sprengel: Geschichte 1900 – 1918, S. 780.

Zentrale Themen

Ich habe Bilder gesehen, die viel wunderbarer waren als die goldgerahmten in den Galerien… Ich sah Helden sterben, stolz und ohne Wimpernzucken ins große Nichts hinübersinken. Bäche sah ich, die so rot von Blut waren wie jene, die von Carraras Bergen niederströmen, weiß sind von Marmorstaub… Die furchtbare Schönheit des Krieges sah ich in gewaltigen Bildern, gemalt in Feuersglut und Abendröte. Flieger, wie schöne Wundervögel aus arabischen Märchen im Aether kreisen und plötz­lich herabstürzen, wahnsinnig schnell, getroffen vom vernichtenden Geschoß… Luftschiffe, dunkel gleitende, durch blaue Sommernächte segeln, feier­lich erhaben wie Abgesandte einer anderen Welt. (IjJ 129 f.)

In der Ästhetisierung und Mythisierung der Kriegshandlungen und des Massensterbens in dieser Passage lassen sich Parallelen zu Ernst Jüngers Kriegsdarstellungen in seinem auf Kriegstagebüchern basierenden Werk In Stahlgewittern (1920) erkennen.227 Die „Spionagenovelle“ Der Gast aus Venetien (1919) thematisiert zum einen das Verhältnis des deutschen Reichs zu den Ländern des Dreibundes, Italien, England und Russland, die im Herbst 1914 zu Kriegsgegnern Deutschlands wurden, zum anderen die Bezugsgrößen Patriotismus und Vaterlandsliebe. Ein namenlos bleibender Archäologieprofessor fühlt sich auf einer Griechenlandreise, die er in der Zeit vor dem Kriegsausbruch unternimmt, stark zu einer jungen attraktiven Ausländerin hingezogen, die in Kontakt mit einem englischen Konsul und einem älteren Russen steht. Als er dieselbe exotische Frau nach drei Jahren im Herbst 1914 in Berlin wiedertrifft, wo sie im Haus des befreundeten angesehenen Konsuls Verhaiden als Urlaubsbekanntschaft der Tochter Mary lebt, leugnet sie, jemals an einer Griechenlandreise teilgenommen zu haben. Er verdächtigt sie fortan der Kriegsspionage, stellt nach intensivem innerem Ringen seine patriotische Gesinnung über die persön­lichen Gefühle und meldet sie der Polizei. Die Entscheidung des Professors, die zur Festnahme der Venezianerin führt, wird zum zentralen patriotischen Appell der Novelle: Der Protagonist muss seine patriotische Haltung über seine persön­lichen Gefühle stellen, da er eine moralische Verpf­lichtung gegenüber den kämpfenden Frontsoldaten besitzt, wie ihm ein befreundeter Staatsminister einschärft (IjJ 153). Ist es nicht vollständig gleichgültig, wie wir hier im geschützten Herzen unseres Vater­landes uns befinden? Liegt auch nur der Schatten eines Verdachtes vor, ist er verpf­lichtet, der Sache auf den Grund zu gehen, verpf­lichtet jenen da draußen, die so heldenhaft bluten und sterben! Gewiß ist eine Denunziation bei der Polizei einer schönen Dame gegenüber ein krasser und brutaler Akt. Aber er hat damit nur seine Pf­licht getan. (IjJ 153)

227 Vgl. z. B. Johannes Volmert: Ernst Jünger: „In Stahlgewittern“. München 1985, S. 54 f.

431

432

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Auch die zunächst über die Verhaftung aufgebrachte Mary ändert letztend­lich bereitwillig ihre Meinung und ordnet ihre Freundschaft ihrem Nationalgefühl und ihrem patriotischen Pf­lichtbewusstsein unter. Die Spionagethematik in Der Gast aus Venetien spielt mög­licherweise, wie auch der Roman der Autorin Liesbet Dill Die Spionin (1917), auf den Fall der Engländerin Edith Cavell an, die 1915 in Brüssel erschossen wurde.228 Die Kriegsgegnerschaft mit Italien hat bei Emmi Lewalds Darstellung der Weltkriegsthematik einen besonderen Stellenwert, da dieses Land für das deutsche Bürgertum von herausragender kultureller Bedeutung war, da es sich in seinen literarischen, kunsthistorischen und historischen Bildungsvorstellungen stark auf Italien bezog. In den Texten wird insbesondere die innere Zerrissenheit der schöngeistigen Kunstliebhaber nach der Kriegserklärung an Italien thematisiert. Wurde das Italien-Thema bereits in der Novelle In schlaflosen Nächten erwähnt, taucht es in Der Gast aus Venetien erneut auf, wo ebenfalls von „Italiens Verrat“ (IjJ 171) die Rede ist. Die Erzählung Eheirrung (1915) ist ganz dem Verhältnis des deutschen Bürgertums zu Italien im Ersten Weltkrieg gewidmet. Emmi Lewald lässt hier in Dialogform zwei Eheleute, die italienbegeisterte Elisabeth und den deutschlandbegeisterten Philipp, während ihres notgedrungenen Harzurlaubes die Diskussion der Frage austragen, zu welchen kulturellen Systemen sich die Bürger­lichen in Kriegszeiten bekennen dürfen. Philipp denkt realpolitisch und nüchtern über das Thema, da die Ablehnung Italiens eine in seiner patriotischen Haltung angelegte moralische Selbstverständ­lichkeit ist. Gewiß! Es war schön – aber über dem allen liegt nun für gesund empfindende Menschen doch einmal der Hauch der Entwertung. Wir alle haben im Leben so oft Kompromisse gemacht. Nun fordert die Zeit klares Bekennen und manches unerbitt­liche Entweder-oder. Das Odium des Verrats liegt wie ein dumpfer Brodem über dem ganzen welschen Stiefel, vom schönen oberen Seenrand bis zum berühmten sizilianischen Hacken hinunter – (IjJ 180)

Seine Frau Elisabeth dagegen hängt einer seit ihrer Jungendzeit gepflegten Italienpassion an und leidet unter dem Kriegszustand der beiden Länder. Sie kann sich die Kultur des deutschen Bildungsbürgertums ohne den Italienbezug und besonders ohne die mit dem Land assoziierten Bildungserlebnisse nicht vorstellen. 228 Im Roman der aus dem Saarland stammenden Autorin Liesbet Dill ist die Titelfigur lothringischer Herkunft und steht im Spannungsfeld der deutsch-französischen Kriegsgegnerschaft. Vgl. S ­ prengel, Geschichte 1900 – 1918, S. 776 und zu Liesbet Dills Roman Annette Kliewer: Frauen zwischen den Fronten? Der Erste Weltkrieg in der Sicht von Schriftstellerinnen aus dem Elsaß, Lothringen und dem Saarland. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Thea­ ter, Photographie und Film. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg; der Erste Weltkrieg. Hg. von Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999, S. 233 – 248. S. 235 ff.

Zentrale Themen

Wie wird es in den deutschen Jünglingsköpfen aussehen, in denen der Traum der italienischen Reise nicht mehr spukt? Um die feinsten Genüsse ärmer geht ihre Entwicklung hin – sie werden nicht mehr die reizenden Tagebücher schreiben, in die sie von Mailand bis Sorrent ihre junge Begeisterung hineinströmten. […] Alles, was ich ihm [Anm. ihrem Sohn] an Kulturbedürfnis zu vererben hoffte, wie soll es sich entfalten ohne die Anschauung von Rom und Florenz? (IjJ 181)

Die Kriegsgegnerschaft des deutschen Kaiserreichs mit Frankreich, England und insbesondere Italien muss der bürger­lichen Kultur- und Bildungspraxis wichtige Grundlagen entzogen haben, da der kosmopolitische Bildungsgedanke die Fremdsprachenkompetenz genauso umfasste wie die Kenntnis der Literatur und Kunst dieser Länder und regelmäßige Bildungsreisen dorthin. Wie in der Untersuchung zur bürger­lichen Reisekultur und anhand der Darstellung Italiens in Emmi Lewalds Reiseberichten und literarischen Texten herausgearbeitet wurde, stellten dort Italien und der Mittelmeerraum einen wichtigen, positiven Gegensatz zur deutschen Kultur und Mentalität dar. Deutschlands politische Isolation während des Weltkrieges zerstörte das traditionelle System kultureller Werte, das im Bürgertum seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts errichtet worden war, und in dem die französische, englische und italienische Kultur unverzichtbare Komponenten darstellten. In der Novelle Eheirrung gerät Elisabeth mit ihrer Italienbegeisterung in den Verdacht, eine unpatriotische Haltung einzunehmen, während ihr Ehemann Philipp mit seiner regelrecht bieder-kleinbürger­lich gezeichneten Vorliebe für die deutsche Kultur, Landschaft und Geschichte den „moralisch richtigen Standpunkt“ innehat: Ich bin stets nur Deutscher gewesen. Ich habe nie mit fremden Kulturen geliebäugelt. Der deutsche Wald war von jeher mein landschaft­liches Ideal, der grüne mit den rauschenden Buchen und Eichen, den alten erinnerungsvollen Städten am Rande. Ich war einfach. Du hast es oft primitiv gescholten. Jetzt habe ich den Vorteil vor den Kosmopoliten. Niemand zerschlägt mir jenseits der Grenzen Ideale, denn die meinen liegen innerhalb der schwarzweiß-roten Grenzpfähle – “ (IjJ 184)

Die Novelle thematisiert eine kulturelle Werteverschiebung, in deren Zuge das Ideal kosmopolitischen Denkens vom deutschen Bildungsbürgertum zugunsten einer Kultur der Eindeutschung aufgegeben wurde, und lässt ahnen, dass dieser mit dem Weltkrieg beginnende Prozess einer späteren Überhöhung der deutschen Nationalkultur durch die Nationalsozialisten Vorschub leisten konnte. Die Ursache der Werteverschiebung lag in der neuen Dimension des Weltkrieges, der von den Zeitgenossen nicht mehr als ein klassischer Krieg der Nationen verstanden, sondern ideologisch zum „Krieg der Kulturen“229 stilisiert 229 Bruendel: Volksgemeinschaft, S. 47.

433

434

Das literarische Werk Emmi Lewalds

wurde. Die durch die Propaganda der Reichsleitung und des Generalstabes geschaffene innenpolitische Überzeugung, das Kaiser­reich befände sich in einem unverschuldeten Verteidigungs- und Existenzkampf gegen „eine Welt von Feinden“ war unter Künstlern außerordent­lich populär.230 Sie implizierte nicht nur den Glauben an eine territoriale Bedrohung, sondern auch an die Bedrohung der deutschen Kultur durch Panslawismus, serbischen Nationalismus, französisches Revanchestreben (Elsass-Lothringen), englisches Großmachtstreben, ja an eine lange geplante „Einkreisungspolitik“231 der EntenteMächte. Emmi Lewald behandelt in ihren Texten vor allem das kritische Verhältnis des deutschen Bürgertums zu der italienischen und der englischen Nationalkultur und gestaltet den Gegensatz der früheren, bildungsbürger­lichen Position und der kriegsbedingten realpolitischen Position als Gewissenskonflikt aus, in dem die bildungsbürger­ liche Haltung der Vorkriegszeit unterliegen muss. „Ausgeschaltet meines Wesens innerster Kern“(IjJ 126) – der Untergang des bildungsbürger­lichen Selbstverständnisses im Ersten Weltkrieg Die Untersuchung des Novellenbands In jenen Jahren… bestätigt und stärkt die eingangs getroffene Annahme, dass Emmi Lewalds persön­liche Lebenssituation großen Einfluss sowohl auf die Perspektiven- als auch auf die Themenwahl ihrer literarischen Arbeiten zum Ersten Weltkrieg hatte. Die Schriftstellerin lebte 1914 in Berlin weitab von den Kriegsschauplätzen und war für Informationen über die Frontereignisse auf die Tagespresse, Briefe und die Berichte von Familienangehörigen und Bekannten angewiesen, die verletzt oder zum Zweck des Heimaturlaubs in die Hauptstadt zurückkehrten. Emmi Lewalds Beschränkung auf Schauplätze, Personengruppen und Themen, die sie aus ihrem persön­lichen Lebenszusammenhang kannte, mag bei der Kriegsdarstellung der Wahrung ihrer schriftstellerischen Glaubwürdigkeit geschuldet sein. Die Ereignisse sind zumeist im urbanen Raum im Hinterland angesiedelt und werden aus der Perspektive von bürger­lichen Stadtbewohnern erzählt, die den Krieg fernab der Front erleben: Der Kunsthistoriker in In schlaflosen Nächten wurde aus gesundheit­lichen Gründen vom Kriegsdienst zurückgestellt, ebenso Ado Nordenflecht in Ein Besuch; die Mutter in Der Mangel an Ernst erlebt ihren Sohn Erich bei seinem Heimaturlaub und der Prosatext Der letzte Brief thematisiert einen privaten Frontbericht, der für eine daheimgebliebene Angehörige abgefasst wurde. Auch die Professorenfigur in Der Gast aus Venetien und das bürger­ liche Ehepaar in Eheirrung sind von einer aktiven Kriegsteilnahme als Soldaten verschont geblieben. Emmi Lewald vermeidet somit die Thematisierung von großen politischen Zusammenhängen und militärischen Taktiken, um sich stattdessen auf die Schilderung von Erfahrungen einzelner Figuren zu konzentrieren. In diesem

230 Ebd., S. 49. 231 Ebd., S. 48.

Zentrale Themen

Zusammenhang helfen münd­liche oder schrift­liche Berichte von Soldatenfiguren, die den Krieg als Augenzeugen selbst erlebt haben, die dargestellten Ereignisse zu authentisieren (Heimaturlauber, Invalide, Feldpostbrief ). Abgesehen von den Augenzeugenberichten muss Emmi Lewald sich mit der Ausgestaltung von Konflikten und Erfahrungen jener bürger­lichen Bevölkerungsteile begnügen, welche die mentalen, sozialen und wirtschaft­lichen Auswirkungen des Weltkrieges zu spüren bekamen, ohne selbst daran teilzunehmen. Auf diese Weise wird in den Novellen eine Reihe markanter Mentalitäts- und Verhaltensmuster spürbar, von denen die (bürger­liche) Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs mehrheit­lich bestimmt wurde. Im Rahmen einer umfassenden Ideologisierung wird der Weltkrieg zu einem schicksalhaften, historisch bedeutsamen Ereignis erklärt, welches Pf­lichtbewusstsein, Opferbereitschaft und unbedingte Vaterlandsliebe als höchste moralische Tugenden von allen Gesellschaftsmitgliedern fordert. Für die männ­lichen Protagonisten ist das Engagement im Krieg mit der Erfüllung eines soldatischen Männ­lichkeitsideals verknüpft, das auf militärischen Tugenden wie der Bereitschaft zum „Heldentod“ basiert. In Der Mangel an Ernst erscheint das Kriegserlebnis als Motor und Bedingung für den persön­lichen Erziehungs- und Reifungsprozess der jungen männ­lichen Hauptfigur und tritt somit an die Stelle traditioneller bürger­ licher Bildungsprozesse. Auch der gesellschaft­liche Status wird schichtenübergreifend von der Kriegsteilnahme und der Erfüllung des neuen Männ­lichkeitsideals abhängig gemacht, weswegen die kriegsuntaug­lichen Männerfiguren der Novellen In schlaflosen Nächten und Ein Besuch im Lebensalltag starke Minderwertigkeitskomplexe ent­ wickeln. Während das männ­liche Kriegsopfer im heldenhaften Soldatentod besteht, der zur höchsten Lebenserfüllung stilisiert wird, sind die Frauen in der Rolle der Ehefrauen, Mütter und Schwestern zum Verzicht auf ihr persön­liches Lebensglück und zur Akzeptanz des Soldatentodes aufgerufen. Gerade dadurch, dass Emmi Lewald ihre Kriegsnovellen im bildungsbürger­lichen Milieu ansiedelt, fördern diese die radikale Umwertung der bürger­lichen Werte im Zuge des Ersten Weltkrieges zutage. Der bürger­liche Wertehimmel und die zivile Lebensweise der Vorkriegszeit verlieren im Vergleich zu der neuen, überindividuellen Sinngebungsinstanz des Kriegs zunehmend an Bedeutung, werden gar zum Teil vollständig verdrängt.232 Den Protagonisten der Novellen In schlaflosen Nächten und Der letzte Brief, aus dem das nachstehende Zitat stammt, erscheinen die Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Brautwerbung sinnlos im Gegensatz zum Kriegserlebnis:

232 Das Motiv des geläuterten Romanhelden, der bei Kriegsbeginn freudig seinen müßiggängerischen Lebenswandel, seine ästhetischen Neigungen und seinen Hang zur Kultur fremder Länder aufgibt, ist bereits von dem Literaturkritiker der „Preußischen Jahrbücher“ Roland Schlacht als stereo­ types Merkmal „auch an der gehobenen Klasse von Unterhaltungsromanen über den Weltkrieg registriert[e]“ und kritisiert worden. Müller: Der Krieg und die Schriftsteller, S. 17.

435

436

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Wie ein Naturtrieb war dies inner­liche Aufschreien, wenn irgend etwas Schönes verdarb. Aber auch das ist vorüber. Ausgeschaltet meines Wesens innerster Kern. Ich stehe auf der Wacht an des Reiches Grenze. […] Ich sehe das Leben anders als vordem. Verse und Radierungen, alte Meister, süd­liche Madonnen – all dieser Zauber ist dahin! Der Krieg mein Handwerk. (IjJ 126)

Die Aufgabe bürger­licher Werte und Bildungsinteressen zeigt sich nicht zuletzt in der radikalen Ablehnung der ehemals geschätzten Kultur- und Reiseländer Italien und England. Hier werden zentrale Komponenten des Bildungsideals, ein weltoffener Kosmopolitismus sowie das Freundschaftsideal (Der Gast aus Venetien) von einem aggressiven nationalistischen und militaristischen Denken verdrängt, das nicht nur auf politischer, sondern auch auf persön­licher und zwischenmensch­licher Beziehungsebene wirksam wird. Emmi Lewalds literarische Gesamtdeutung des Weltkrieges als schicksalhaften Verteidigungskampfes für die nationale Größe des deutschen Kaiserreichs ist stark affirmativ und der offiziellen Linie der politischen und militärischen Führung v­ erpf­lichtet. Als bürger­liche Erzählerin leistete sie durchaus den früh von den Autoren des Kaiser­ reichs geforderten „Kriegsdienst mit der Feder“233 und unterstützte die „Ideen von 1914“. Kliewer konstatiert diese affirmative Haltung für den Großteil der Literatur von Frauen in der Kriegszeit und führt sie auf die allgemeine politische Lage, die nationale Kriegseuphorie und auf die spezifische Situation zurück, in der sich die bürger­liche Frauenbewegung zur Zeit des Ersten Weltkrieges befand.234 Nachdem der gemäßigte Flügel der Bewegung in der Forderung nach politischen Rechten für die Frauen in der Zeit des deutschen Kaiserreichs äußerst zurückhaltend gewesen war, interpretierte man nun den Krieg als „Bewährungsprobe“, mit der die Frauen ihre Bereitschaft zu staatsbürger­licher Pf­lichterfüllung und Verläss­lichkeit unter Beweis stellen sollten. Kennzeichnend für diese Haltung ist die Gründung des „Nationalen Frauendienstes“ unter Führung der BDF-Vorsitzenden Gertrud Bäumer, in dessen Namen verschiedene Frauenorganisationen für die Dauer des Krieges Wohlfahrtsarbeit leisteten.235 Auch Autorinnen wie Gertrud Prellwitz, Gabriele Reuter, Clara Viebig, Thea von Harbou u. a. wollten zeigen, daß auch sie sich gerne beteiligen würden am Krieg, um den Männern zu beweisen, daß sie als wahlberechtigte Bürgerinnen taug­lich sind. Ist diese Frauenliteratur damit zwar kaum Ausdruck einer offenen Kriegshetze, so sind kriegskritische Tendenzen – falls sie aufkommen – doch so verhalten und vage, daß sich kein Angehöriger des Militärs ernst­lich durch sie angegriffen fühlen konnte.236 233 Bruendel: Volksgemeinschaft, S. 36. 234 Vgl. Kliewer: Frauen zwischen den Fronten?, S. 233 f. 235 Der „Nationale Frauendienst“ setzte sich zusammen aus dem BDF, der Evangelischen Frauenhilfe, den in der SPD und den Gewerkschaften organisierten Frauen sowie dem katholischen Frauenbund. Vgl. ebd., S. 233. 236 Ebd., S. 234.

Zentrale Themen

4.2.5 Neue Themen in den Romanen der Weimarer Republik 4.2.5.1 Die Gesellschaft in der Nachkriegszeit Während die Texte des Novellenbands In jenen Jahren… das bürger­liche Leben in den Kriegsjahren zum Thema haben, bezieht Emmi Lewald in die Handlung ihrer Romane Das Fräulein von Güldenfeld (1922) und Lethe (1924) das militärische Ende der Kampfhandlungen, die Novemberrevolution 1918 und die Geburtsstunde der Weimarer Demokratie mit ein. Die beiden Romane gehören damit in die Gruppe der epischen Kriegsliteratur, die in der Phase zwischen dem militärischen Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 und der Stabilisierung der Weimarer Republik 1923 entstand.237 Von vornherein ist die Tatsache auffällig, dass Emmi Lewald in diesen, wie in allen ihren nach dem Weltkrieg entstandenen Romanen, auf die Ausgestaltung jenes bürger­ lich-großstädtischen Milieus als Schauplatz verzichtet, das ihre Gesellschaftsromane der Vorkriegszeit bestimmte.238 Tatsäch­lich existiert in Lewalds Œuvre der Weimarer Republik kein einziges Werk, das sich dezidiert mit den ideologischen, ökonomischen und sozialen Folgen des Ersten Weltkrieges für die bildungsbürger­liche Gesellschaftsformation der Vorkriegszeit auseinandersetzt. Die Handlung der ersten beiden Nachkriegsromane spielt sich in der Welt des Adels ab, und die Ereignisse werden größtenteils aus der Sicht adeliger Protagonisten erzählt. Zum Hauptthema wird das gesellschaft­liche Schicksal des Adelsstandes, der sich in der Nachkriegszeit mit der deutschen Kriegsniederlage ebenso auseinandersetzen muss wie mit dem Ende der Monarchien und der Etablierung des demokratischen Systems der Weimarer Republik. Die Handlung des Nachkriegsromans Das Fräulein von Güldenfeld setzt kurz nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 ein und wird zeit­lich weiter konkretisiert durch einen Brief des Stiftsfräuleins Edelgard

237 Vgl. zu der zeit­lichen Einordnung der Kriegsliteratur Müllers Skizze über „Typen der literarischen Verarbeitung des Weltkrieges von 1914 bis zur Stabilisierung der Weimarer Republik“. Müller: Der Krieg und die Schriftsteller, S.  11 – 35. 238 Der Bedeutungsverlust des bildungs- und wirtschaftsbürger­lichen Milieus als Schauplatz zeichnet sich bereits in Excelsior! (1914) und Unter den Blutbuchen (1914) ab, in denen die Adelsthematik eine zentrale Rolle spielt und deren Handlung sich hauptsäch­lich in kleinen Residenzstädten abspielt. Den 1920 erschienenen Roman Die Frau von gestern beendete die Autorin einem Vermerk in der Publikation zufolge bereits im Frühjahr 1914; dieser Roman ist trotz des aristokratischen Namens der Gelehrtenfamilie von Liris das letzte Werk, das konsequent im bürger­lichen Milieu Berlins angesiedelt ist. Die in diesem Kapitel besprochenen Romane Das Fräulein von Güldenfeld und Lethe haben die adelige Lebenswelt der Residenzstädte und Schlösser zum Schauplatz, Das Fräulein aus der Stadt (1929) spielt im norddeutsch-länd­lichen Raum, ebenso wie der Hochstapler-Roman ­Heinrich von Gristede (1933), in dem es um einen Gutsherrensitz geht. In Büro Wahn (1935) schließ­lich wechselt der Handlungsschauplatz zwischen der Lebenswelt des verarmten Adels und den Orten des Angestelltendaseins hin und her.

437

438

Das literarische Werk Emmi Lewalds

an Rixa von Güldenfeld, der auf den 20. Juli 1914 datiert ist (FvGü 82). Die Diskussion des Attentats von Sarajevo durch die Romanfiguren und die Erwähnung der von dem österreichisch-ungarischen Ultimatum vom 23. Juli 1914 ausgelösten Juli-Krise lassen den drohenden Krieg die Romanhandlung stets überschatten: „Währenddem züngelt es in der übrigen Welt an allen Ecken und Enden, und der große Scheiterhaufen steigt und steigt, auf dem eine ganze Welt in Flammen vergehen soll“ (FvGü 91). Dieser Bedrohungseffekt wird noch verstärkt durch die Berichterstattung der Zeitungen in der kleinen Residenz und die Abreise ausländischer Angehöriger des Hofstaates (FvGü 90 f.). Emmi Lewald entwickelt in Das Fräulein von Güldenfeld im höfischen Milieu einer nicht näher benannten kleinen Residenz parallel zu der politischen Krise Europas im Sommer 1914 die persön­liche Lebenskrise der jungen Adeligen Rixa von Güldenfeld. Die Protagonistin ist die letzte Nachkommin einer alteingesessenen, bedeutenden Adelsfamilie des Herzogtums und trägt in ihrem Denken und Handeln einen stark ausgeprägten, von massiven Vorurteilen gegenüber nichtadeligen Personen bestimmten Standesdünkel zur Schau. Rixas gesellschaft­liche Reputation und eine bevorstehende Berufung zur Hofdame, die ihren Lebensunterhalt langfristig sichern soll, werden zu Beginn des Romans unversehens durch die Auswirkungen einer Klatschaffäre in Gefahr gebracht. Als die gelernte Johanniterschwester Rixa einem Bewohner ihres Stadthauses in einem Notfall Hilfe leistet, gerät sie in Verdacht, eine Affäre mit dem Verletzten, einer lokalen Schauspielgröße gehabt zu haben (FvGü 24 ff.). Daraufhin wird sie nicht nur vom hoffähigen Adel der Residenz gesellschaft­lich ausgegrenzt, sondern fällt bei der konservativen Herzogin in Ungnade und verliert jede Aussicht, ihr Leben im Hofdienst verbringen zu können. Als Rixas zufälliges mehrmaliges Zusammentreffen mit dem demokratischen Landtagsabgeordneten und Gutsbesitzer Dietrich Esens darüber hinaus noch die Missbilligung ihres adeligen Umfelds steigert und an ihrem Klassenbewusstsein zweifeln lässt, steht sie vollends vor den Trümmern ihrer alten Existenz. In ihrer aussichtslosen Lebenssituation erscheinen der Protagonistin die Zeitungsnachrichten von den Kriegsvorbereitungen auf politisch-militärischer Ebene als Erlösungsmoment (FvGü 98). Motiviert durch ihre patriotische Gesinnung und die Tiefe ihrer Lebenskrise, beschließt Rixa von Güldenfeld, sich bei Kriegsausbruch sofort als Pflegeschwester in den Kriegsgebieten einsetzen zu lassen. Der Krieg bietet ihr die willkommene Mög­lichkeit der Flucht aus der kleinen Residenz an der Altenbeeke, wo der gesellschaft­liche Skandal um ihre Person und die unglück­liche Liebe zu dem inzwischen verheirateten Graf Othmer sie in eine unerträg­liche Situation gebracht haben. Die Teilnahme am Krieg empfindet sie auch als Befreiung von der stark empfun­ denen Nutzlosigkeit ihres ledigen Daseins (FvGü 113). Rixas freudige Kriegserwartung steht nicht zuletzt in engem Zusammenhang mit ihrer Erwartung, der historisch bedeutsame Krieg werde eine reinigende, erneuernde und heilende Wirkung sowohl auf die Gesamtgesellschaft als auch auf sie selbst als Individuum haben: Rixa „wollte frei werden von dem unerträg­lichen Bann, in der großen Sache ihre krank gequälte Seele gesund baden“ (FvGü 100). Die junge Adelige glaubt an die positive Wirkung

Zentrale Themen

des Krieges, der dafür sorgt, dass „einmal etwas Reinigendes kam, etwas ungeheuer Großes, was wie ein Sturmwind über die Menschheit ging und neue Gedanken in die Gehirne brachte“ (FvGü 99).239 Rixa fühlt zudem als ausgebildete Krankenschwester eine persön­liche Verpf­lichtung zum Kriegseinsatz, da sie weniger an die politischen Ziele des Kaiserreichs als an die zu erwartenden militärischen und zivilen Opfer denkt, „an die endlose Schar der Kranken und Toten, die am Ende dieses blühenden Sommers hingemäht sein würden von dem entsetz­lichen Schnitter, dem eine mißgeleitete Menschheit selbst die furchtbarsten Werkzeuge in die Hände spielte“ (FvGü 98). Die Wortwahl und die wenig glorifizierende Beschreibung des Krieges an dieser Stelle machen deut­lich, dass sich die literarische Kriegsdarstellung in diesem späteren Roman grundlegend von den während der Kriegszeit entstandenen und publizierten patriotischen Novellen unterscheidet. Wurden in dem Novellenband In jenen Jahren… (1919) weder die hohen Opferzahlen unter der deutschen Bevölkerung noch die Frage einer konkreten mensch­lichen Schuld am Massensterben im Ersten Weltkrieg thematisiert, lässt die Beschreibung des Weltkrieges, seiner Opfer und Auswirkungen in dem Nachkriegsroman Das Fräulein von Güldenfeld bereits ein sehr viel höheres Maß an Distanz zu den Ereignissen und eine reflektierende Haltung erkennen. Mit Ausnahme von Rixas altruistischer Motivation bleiben die Beweggründe der anderen Figuren für die Kriegsteilnahme weitgehend dieselben wie in Lewalds früheren Kriegsnovellen. Für den demokratischen Gutsbesitzer Dietrich Esens beispielsweise, der freiwillig seinen Hof verlässt, ist der soldatische Einsatz im Krieg eine Frage männ­lichen Ehrempfindens, das die Verteidigung des Vaterlandes zur vorrangigen Verpf­lichtung jedes Mannes macht (FvGü 107). Die Handlung des Romans spielt zunächst in der Zeit zwischen Juni und August 1914, spart die Kriegszeit aus und setzt nach einem Zeitsprung im Sommer 1919 (FvGü 124) wieder ein, sodass insbesondere das Kriegsende und der Beginn der Weimarer Republik ausgestaltet werden. Das „plötz­liche furchtbare Ende des Krieges“ (FvGü 127), wie es von den adeligen Protagonisten empfunden wird, bringt als politische Neuerung die Demokratie und das gesellschaft­liche Ende der Adelstradition mit sich. Bei den Bewohnerinnen des adeligen Damenstifts, in dem Rixa nach Kriegsende lebt, mischen sich die Trauer über gefallene Familienmitglieder und Freunde mit der Fassungslosigkeit über den Umsturz der Weltordnung und den Verlust ihrer gesellschaft­lichen Stellung. Die meisten Damen gingen in Trauer. […] Fast alle hatten blumenbekränzte Bilder auf ihren Schreibtischen. Weiche Gesichter mit jungen Augen, Brüder und Vettern, hohe Offiziere in vollem Waffenschmuck, die in Haltung und Ausdruck in vollkommener Weise das 239 Die Hoffnung, der Weltkrieg könne als „Befreiung von der ‚Dekadenz‘ der Vorkriegszeit“ und „läuternde Katastrophe“ eine positive, erneuernde Wirkung auf das Geistes- und Kulturleben in Deutschland haben, war unter den Künstler und Schriftsteller sehr verbreitet. Vgl. Ullrich: Die nervöse Großmacht, S. 497.

439

440

Das literarische Werk Emmi Lewalds

versinnbild­lichten, was im höchsten Sinn der preußische Geist gewesen ist. Für viele war die Romantik, der Glanz und der Inhalt ihres inneren Lebens mit jenen stolzen Helden an dem großen Opferaltar verblutet, der in mehr als vier langen Jahren furchtbare Hekatomben forderte. Und nicht nur geliebte Menschen entriß ihnen der Gang der harten Zeit. Endlose geliebte Traditionen trat er ihnen entzwei, löschte ewig geglaubte Lampen vor geheimen Heiligenbildern aus, kränkte ihre Vorfahren bis ins Grab hinein, um das viele aufrichtig die vor ihnen Hinabgestiegenen beneideten! (FvGü 125)

Zu einer Auseinandersetzung mit der politischen Rolle des deutschen Kaiserreichs bei der Anbahnung des Ersten Weltkrieges, während seines Verlaufs und nach s­ einem Abschluss kommt es in Emmi Lewalds 1922 erschienenem Roman nicht. Die Protagonisten stellen die Legitimität der deutschen Kriegsziele auch nach Kriegsende nicht infrage und betrachten die ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands noch immer als Feinde (FvGü 125). Deutschlands Kriegsniederlage wird von den Figuren als „schwere Zeitenwende“ (FvGü 136), „Schicksalsaugenblick“ (ebd.) und Untergang der alten Zeit (FvGü 164) wahrgenommen, im Ganzen als unheilvolles Ereignis, das Deutschland unverschuldet erlitt. Der Kriegsheimkehrer als Held in dem Roman „Lethe“ (1924) Im Mittelpunkt der Handlung des zweiten Nachkriegsromans Lethe steht als Held der Offizier und Kriegsheimkehrer Albrecht von Gottern, der sich zu Beginn des Romans auf dem Heimweg vom Schlachtfeld befindet.240 Der preußisch-deutsch gesinnte Offizier verkörpert trotz seiner aristokratischen Herkunft ein soldatisches Männ­lichkeitsideal, das an den „neuen Typus des Frontkämpfers“241 in der Kriegsliter­atur Ernst Jüngers denken lässt. Von Gottern wird durch eine der Romanfiguren, seinen schöngeistigen Verwandten Karssenbrook, als „deutscher Kriegsmann“ einer „gewissen urgermanischen Art“ (Let 87) charakterisiert, der […] gehärtet in vier überschweren Kriegsjahren, gestempelt von jenem Geist [war], der auch die jüngste Jugend dazu erzogen hatte, mit seltsam reifer Todesbereitschaft von kaum gedeckten Lebenstafeln aufzustehen und dem dunklen Schnitter ohne Wimpernzucken entgegenzugehen. (Ebd.)

Die Niederlage der deutschen Armee und das Kriegsende brechen über den abgehärteten Frontsoldaten und verantwortungsbewussten, dem monarchischen System 2 40 Emmi Lewald entlehnt den Buchtitel der griechischen Mythologie, in der das Trinken aus der Lethe, einem Fluss der Unterwelt, das Vergessen von Erinnerungen verspricht. Der Bezug des Titels zum Grundthema des Romans, dem Wunsch aller Protagonisten, die deutsche Kriegsniederlage auf unterschied­ liche Weise zu verdrängen bzw. zu überwinden, wird im Text selbst ausgeführt. Vgl. Let 47 ff. 241 Müller: Der Krieg und die Schriftsteller, S. 26.

Zentrale Themen

loyal ergebenen Kompanieführer als politische und private Katastrophe herein. Völlig unverständ­lich und mit seinem Ehrbegriff unvereinbar erscheint dem überzeugten Preußen von Gottern zunächst die Desertion der Soldaten seiner Kompanie während der Revolutionsphase: Einer nach dem anderen, von einer nie erwarteten Freiheit betört, hatte die Waffen weggeworfen und war seiner Wege gegangen, angeklammert an überfüllte Bahnwaggons, irgendwo ohne Gruß in die Nacht davongefahren – der starke Kitt, der sie alle zusammengehalten, war brüchig geworden, und jener stolze Bau, der ein halbes Jahrhundert die Welt in Staunen und Europa in Sorgen gehalten, krachte auseinander. (Let 6)

Von Gottern ist vollkommen außerstande, die reale politische und militärische Situation des deutschen Reichs zu erkennen und zu akzeptieren: Aus seiner Sicht wurde die Kriegsniederlage nicht durch „feind­liche Siege“, sondern „durch den Zusammenprall unseliger Verhältnisse“ (Let 5) herbeigeführt. Noch Monate nach der militärischen Niederlage ist von Gottern überzeugt, die in Versailles über die Reparationsforderungen an Deutschland beratenden Siegermächte hätten „nie gesiegt“ (Let 88). Deutschland dagegen, in seinen Augen „das Volk mit den größten Siegen der Weltgeschichte“ (ebd.), war aus ihm unerfind­lichen Gründen die unterlegene Macht und nun kurz davor, sich mit der Unterzeichnung der Versailler Verträge selbst zu „erdrossel[n]“ (ebd.). In besonders krassem Gegensatz zum einst angestrebten preußischen Ideal eines neuen Großkaiserreiches deutscher Nation stehen für die Protagonisten des Romans die Auflagen der Siegermächte in Bezug auf Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen. Die Forderungen werden als der „Wahnsinn von Wilsons vierzehn Punkte[n]“ (Let 19) bezeichnet, und von Gottern fühlt beim Studieren der öffent­lichen Bekanntmachung „das Blut in seinen Adern kochen, wenn er las, wie der amerikanische Präsident ungehemmt durch jede geographische Kenntnis, auf der europäischen Landkarte willkür­ lich, von Haß diktiert, sinnwidrige Linien zog…“ (Let 41). Die Diskussion der preußischen Kriegsschuld Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg wartet auf den jungen Albrecht von Gottern die pf­lichtgemäße Übernahme eines Adelssitzes, den eine entfernte Linie seines Geschlechtes im ehemaligen Königreich Hannover bewohnt. Vor dem Hintergrund des historisch bedingten Spannungsverhältnisses zwischen den Hannoveranern und dem preußischen Machtstaat entwickelt sich aus dem besinnungslosen Festhalten des neuen Schlossherrn an seinem politischen Ideal eines deutschen Kaiserreichs unter preußischer Führung eine konfliktreiche Situation.242 Emmi Lewald lässt ihre Figuren

242 Im Vorfeld der Gründung des Deutschen Reichs 1871 war es im Zuge der Auseinandersetzung der Großmächte Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland zur Vertreibung des

441

442

Das literarische Werk Emmi Lewalds

nicht nur unterschied­liche Haltungen zur deutschen Kriegsniederlage 1918 einnehmen, sie lässt sie auch die preußische Idee und die Rolle des preußischen Staates bei der Kriegsteilnahme des deutschen Kaiserreiches diskutieren. Die Diskussion spielt sich zwischen der hannoverschen und der preußischen Linie des Gottern-Geschlechtes ab, als der Preuße Albrecht von Gottern nach Kriegsende als neuer ortsfremder Erbe die Leitung des Gottern-Schlosses übernimmt. Dort begegnet ihm eine massive Preußenkritik durch die alteingesessenen hannoverschen Adeligen seines Geschlechtes, zu denen die alte Freifrau von Gottern, Frau von Gottern, ihre Töchter Therese und Lisinka sowie Gisela von Karssenbrook und ihr Sohn Harald gehören. Die Freifrau macht den „preußischen Größenwahn“ (Let 46) für den Weltkrieg verantwort­lich und stellt bei Albrecht einen „aggressiven preußischen Überpatriotismus“ fest (ebd.). Für Harald von Karssenbrook ist der konservativ-deutschnational gesinnte Albrecht ein „Soldatenkind mit […] schwarz-weiß geeichten Gefühlen“ (Let 54). Er bezeichnet ihn auch als „verstockten Preußen, der noch jetzt in dem tiefsten Sturz, den je ein Volk getan, kein Atom von Schuld zugeben will“ (Let 54). Wegen Albrechts unerbitt­ licher Haltung und seiner neuen Machtposition als Schlossherr kommt es wiederholt zu Konflikten, da er mit seinem preußischen Fanatismus maßlos und aufbrausend auf preußenkritische Äußerungen der Andersdenkenden in politischen Debatten reagiert. Verächt­lich bezeichnet er die Hannoveraner als „Mußpreußen“ (Let 132), die sich nur aus politischer Notwendigkeit und nicht aus patriotischer Leidenschaft der Vormacht Preußens gebeugt haben. „Ich bin hier der Herr“, fuhr er plötz­lich fort. „Ich will nicht, daß hier aufs neue paktiert wird mit den überlebten Götzen von einst! Ich will diese abgestandenen Kampfparolen nicht an meiner Schwelle. Und wenn das herr­liche Preußentum jetzt das Schicksal des Glückes von Erdenhall trägt und im Staube liegt – das Ideal meiner Väter ist darum noch nicht erloschen! Das Große, dessen Glanz dahin ist, wird in meiner Seele nicht erblassen, nur weil dieser Völkerkampf gegen uns entschied. Wer anders denken will, für den ist in meiner Nähe kein Platz.“ (Let 151)

Albrechts schroff demonstriertes Preußentum stößt auch bei dem Gutsnachbarn der Gotterns, Baron von der Brügge auf Widerstand, Zorn und Schadenfreude. In einer Hannoveraner Königshauses und zur militärischen Annexion des Landes durch Preußen gekommen. Als Preußen sich in der Schleswig-Holstein-Frage 1866 um Bündnispartner unter den norddeutschen Kleinstaaten bemühte, verfolgte Hannover im Gegensatz zum Großherzogtum Oldenburg eine antipreußische Politik. Während Oldenburg durch einen preußisch-oldenburgischen Bündnis­vertrag seine staat­liche Eigenständigkeit weitgehend wahren konnte, wurde Hannover von der Großmacht okkupiert. Vgl. Albrecht Eckhardt: Der konstitutionelle Staat (1848 – 1918). In: Geschichte des Landes Oldenburg. Ein Handbuch. Hg. von Albrecht Eckhardt in Zusammenarb. mit Heinrich Schmidt. 4. Aufl. Oldenburg 1994, S. 333 – 402. S. 361 f.

Zentrale Themen

wichtigen Szene des Romans kommt es zu einer hitzigen politischen Diskussion der beiden Männer, in der das hannoversche und das preußische Weltbild aufeinanderprallen. Brügges Bemerkung, er sei froh noch zu erleben, „wie das Schicksal Vergeltung übt an dem siegreichen Preußen von einst für das, was es uns angetan“ (Let 122), spielt einerseits auf den Ersten Weltkrieg, anderseits auf die preußische Besetzung Hannovers 1866 an. Für Albrecht, der mit dem Bismarckschen Geschichtsverständnis vom Weltmachtanspruch Preußens aufgewachsen ist, war der Hohenzollernstaat schicksalhaft dazu bestimmt, ein neues Kaiserreich zu schaffen und Hannovers gewaltsame Annexion selbstverschuldet: War es nicht hannoverscher Eigensinn und Mangel an Einsicht, der Preußen letzten Endes zu seinem Verhalten zwang? Entwicklungen der Weltgeschichte können doch nicht steckenbleiben, weil irgendwo ein kleiner Staat die Zeichen einer neuen Zeit nicht begreifen will! (Let 124)

Baron von der Brügge sieht jedoch in der deutschen Kriegsniederlage und dem Scheitern des deutschen Kaiserreichs unter Führung der Hohenzollerndynastie nach knapp einem halben Jahrhundert eine gerechte Strafe für die Machtgier Preußens im 19. und 20. Jahrhundert (Let 122 ff ). Er und seine Schwester Clothilde von der Brügge sind der Überzeugung, nur die „wahnwitzige Politik“ (Let 125) Preußens habe Deutschland in den Weltkrieg geführt. Die politische Haltung hat für Albrecht auch in der familiären und ehe­lichen Beziehung die allergrößte Bedeutung, sodass er sich erst verheiratet, als er die preußisch gesinnte Stella von Gottern trifft, die demselben Weltbild, demselben Lebensstil und denselben konservativen Idealen anhängt wie er selbst. Die Kriegsheimkehrer-Thematik als Zivilisationskritik Albrecht von Gotterns anachronistische Treue zu den Werten Preußens und des untergegangenen Kaiserreichs sowie seine autoritäre Schärfe werden in Emmi Lewalds Roman Lethe in Gegensatz zu der Mentalität der hannoverschen Linie der Gotterns und der Landesbewohner gebracht. Zwar hat der Protagonist den Ersten Weltkrieg körper­lich unversehrt überlebt, doch haben ihn die Kriegsniederlage, das Scheitern der deutschen Expansionsbestrebungen und die Reparationsforderungen der Siegermächte in eine weltanschau­liche Katastrophe gestürzt, die er mit seinem irrationalen Festhalten an den preußischen „Tugenden“ und Großmachtansprüchen sowie einer Überiden­tifikation mit dem Fronterlebnis zu kompensieren trachtet.243 Zu Albrechts preußischer Überzeugung gehören neben unbedingter patriotischer und persön­licher Loyalität vor allem Disziplin und männ­liches Heldentum, ein „Ideal der Zucht aus 243 Vgl. Lewald: Lethe, S. 117, 149.

443

444

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Straffheit, des Spartanertums, dieser Hingabe an die Armee des Königs bis zum letzten Tropfen“ (Let 149). Emmi Lewald stattet ihn im Roman mit einer leidenschaft­lichen, in der Front­erfahrung gewonnenen Kompromisslosigkeit bei der Verteidigung dieser Werte aus, die ihn zu Zeiten der neuen Republik als Mahner der Vorkriegs- und Kriegsideale auftreten lässt. Er verurteilt beispielsweise die Notheirat der Witwe von Weiringen mit dem pazifistischen Badearzt Doktor Gordon als Treulosigkeit gegenüber ihrem gefallenen Mann. Der Kriegsheimkehrer propagiert darüber hinaus eine bedürfnislose Lebensweise und lehnt die „verwöhnte Lebenshaltung“ (Let 85) seiner hannoverschen Verwandten angesichts der schwierigen politischen Nachkriegssituation als unangemessen ab. Die gegensätz­lichen Lebensstile der Hannoveraner und Albrechts werden anhand der Kleidung, der Manieren, des Kunstsinns und des Verhältnisses zur körper­lichen Arbeit illustriert. Während die Gottern-Frauen allesamt untätig sind und der Philologe Harald von Karssenbrook wegen eines Lungenleidens keinen Kriegsdienst leisten konnte, plant der „rauhe Kriegsmann“ (Let 83) Albrecht schon kurz nach seiner Ankunft den Aufbau von Flüchtlingssiedlungen auf dem adeligen Grundbesitz. Er selbst sieht „in einfacher Lebenshaltung nur einen würdigen Zustand“ (Let 85) und sucht durch den Bau einer eigenen Blockhütte dem luxuriösen Lebensstil auf Schloss Gottern zu entkommen. Albrechts positiv gezeichnetes Engagement für das im Krieg verarmte „einfache Volk“ bildet im Roman ein besonderes Unterscheidungsmerkmal vom dekadenten, weltflüchtigen Lebensstil seiner hannoverschen Verwandten. Es wird aus seiner Front­erfahrung abgeleitet, da ihn im Krieg die „Tapferkeit des einfachen Mannes“ (Let 118) beeindruckt hat. In seinem Willen, den Boden des Gottern-Besitzes für die Ansiedelung deutscher Familien aus dem polnischen Grenzgebiet zu nutzen, wird Albrecht von einem faustischen Selbstverständnis geleitet: „So jung ich war, Fausts letztes Gefühl habe ich immer verstanden. Wie er das Land dem Moor abgewinnt und den Leuten gibt – ‚ein freies Volk auf freiem Grunde‘ sehen. Diese Pläne sind jetzt das einzige, was mir hilft…“ (Let 86). Der Aufbau einer „preußische[n] Enklave“ (Let 266) mit kriegsgeschädigten Familien und die eigene Rückkehr zur bodenständigen Lebensweise sind die einzige Form zukunftsträchtigen und sinnhaften Handelns, die Albrecht von Gottern sich angesichts der chaotischen Nachkriegssituation 1918/19 vorstellen kann. Wie eine Szene im ersten Romanteil verdeut­licht, ist seine Idee einer länd­lichen Kolonie mit einer intakten Gemeinschaft arbeitsamer Siedler mit einem bestimmten Konzept von Führertum verbunden: Am Jahrestag der Abdankung des Kaisers, dem 9. November, unterbricht Albrecht ein spontanes Tanzfest in einer lokalen Kneipe und hindert die Menschen mit Hilfe seiner landesherr­lichen Autorität daran, ihre spontane Lebensfreude auszuleben (Let 88 ff.). Seiner Meinung nach muss der Tag der Abdankung als Trauertag begangen werden. Albrechts autoritäres Auftreten bei der Auflösung des Tanzvergnügens wird von den einfachen Dorf- und Schlossbewohnern begrüßt, und die Erzählerstimme weist darauf hin, dass diese fortan einen neuen Herrn bekamen, „der diesen Namen im tiefsten Grund verdiente“ (ebd.). In der

Zentrale Themen

Szene wird nicht nur den Bauern und Dorfbewohnern ein vermeint­lich natür­liches Bedürfnis nach Autorität unterstellt, sondern auch eine Vorstellung von Führertum eingeführt, die im Gegensatz zum Machtanspruch des Adelsgeschlechts von Gottern auf persön­licher Autorität, Tatkraft und Führungskompetenz beruht: „Die früheren Schloßherren hatten wie unpersön­liche Wesen über ihnen geschwebt. Es gefiel den freien Niedersachsen, daß dieser sich von Mensch zu Mensch seine Stellung machte und seine Jugend mit Schneidigkeit ausg­lich“ (Let. 93). Albrechts persön­liches Charisma und seine Führungsqualitäten werden von dem Familienangehörigen Karssenbrook wiederum als positive Folge des Fronterlebnisses gedeutet (Let 92). Er bewundert in dem jungen Schlossherrn den tapferen Soldaten und Vertreter der „urgermanischen Art“ (Let 87), der aufgrund seiner weltanschau­lichen Geschlossenheit wesent­lich mehr Aufbauwillen und Dienstbereitschaft für das Vaterland mitbringt als er selbst, der sich als Fluchtperspektive aus der Nachkriegskatastrophe den Gang ins Kloster ausgewählt hat. In der Zusammenschau ist es daher die radikale konservativ-preußische Position Albrecht von Gotterns, die in dem Roman Lethe positiv gedeutet wird. Die abschließende Liebesszene zwischen Albrecht und der gleichgesinnten Stella von Gottern eröffnet als Zukunftsvision den gemeinsamen Kampf der beiden Liebenden für die Wiederauferstehung des preußischen Gedankens (Let 265 ff.). Mit der Aufwertung von Land und Boden, mit der Idealisierung des einfachen, hart arbeitenden Volkes sowie mit dem neuen Verständnis von Führertum deutet sich in Lethe als Ausweg aus der weltanschau­lichen und politischen Sinnkrise der Nachkriegszeit eine konservativ-völkische Tendenz an, die für zahlreiche Geschichts-, Heimat- und Kriegsromane der 1920er Jahre prägend wurde.244 Für die „völkischen Ideologie“245 dieser Literatur ist die Idee, dass sich mensch­liche Gemeinschaften über die Bezugsgrößen Land, Boden, Blut und gemeinsame Herkunft konstituieren ebenso typisch wie die Vorstellung eines natür­lichen Führertums und eine radikal zivilisa­ tionskritische Komponente: Angesichts von Revolution, Demokratie und kultureller Liberalisierung erhielten Konzepte wie Heimat, Boden oder Tradition eine kämpferische, radikal zivilisationskritische Bedeutung. Oft wurde die Opposition zur modernen Zivilisation in diesen Texten auch selbst zum Thema, wie in Grieses Der einsame Acker (1921) oder Wiecherts Der Wald (1922) und Der Totenwolf (1924), deren Helden Kriegsheimkehrer sind, die sich in die Einsamkeit des Waldes, des mythischen Antipoden der Stadt, zurückziehen. Diese regressiven Romanwelten sind immer auch als Gegenentwurf zu der mit Traditionsverlust und Werterelativismus identifizierten Weimarer Republik konzipiert.246

244 Vgl. Gregor Streim: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009, S. 85 f. 245 Ebd. 246 Ebd., S. 86.

445

446

Das literarische Werk Emmi Lewalds

Tatsäch­lich weist der Kriegsheimkehrer Albrecht in Lethe eine hohe Affinität zu einsamen Naturlandschaften auf und äußert wiederholt den Wunsch als Waldarbeiter zu arbeiten. Während einer Waldwanderung trifft er dann auf eine Gruppe von ehemaligen Soldaten, denen die Arbeit und das Leben im Wald die Abkehr von der Zivilisation ermög­lichen: „Das Geld war uns ausgegangen und die Städte verlockten uns nicht. Die Natur ist das einzige, was man jetzt aushalten kann. Natur, wo sie am einsamsten und echtesten ist. Es lebt sich fried­lich, so wie ein Tier im Walde!“ (Let 81). Albrechts Unfähigkeit, sich nach dem Fronterlebnis in zivile Lebensverhältnisse einzupassen, äußert sich in einer dezidierten Ablehnung des modernen, großstädtischen Lebens. Sein Blick auf eine gesellige Salonveranstaltung im Nachkriegsberlin zeigt eine Gesellschaft, die in schrankenlosem Vergnügen bei Tanz, Flirt und dem Konsum von Luxusartikeln das Kriegsleid und die herrschende existenzielle Unsicherheit zu vergessen versucht (Let 206 ff.). Albrecht sieht im Verhalten der mondän auftretenden Kriegsgewinnler und der leicht bekleideten tanzenden Mädchen eine schamlose Missachtung der seiner Meinung nach angebrachten Trauer über die deutsche Kriegsniederlage. An die Stelle des patriotischen Idealismus und der Moralvorstellungen der Vorkriegszeit sind, so die Botschaft der Szene, im Nachkriegsberlin Vergnügungssucht und Kapitalismus getreten. Pazifismus in dem Nachkriegsroman „Lethe“ Anders als in der Sammlung von Kriegsnovellen In jenen Jahren… (1919) und dem Nachkriegsroman Das Fräulein von Güldenfeld (1922) thematisiert Emmi Lewald in Lethe erstmals sehr peripher die pazifistische Position im Kontext des Ersten Weltkrieges. Die kriegskritische Haltung, die einen potenziellen Gegenpol zum natio­nalistischen Preußentum der Hauptfigur darstellt, ist jedoch ledig­lich auf einem Nebenschauplatz präsent und wird früh als inakzeptable politische Haltung gekennzeichnet. Die Mutter von Albrecht von Gotterns gefallenem Freund, Frau von ­Weiringen, berichtet, dass ihr zweiter Ehemann, der Badearzt Doktor Gordon „den ganzen Wahnwitz dieses künst­lich heraufbeschworenen Krieges“ als Verbrechen betrachtet (Let 26). Bezeichnenderweise erhält die pazifistische Position keinen Raum, weil die Figur des Badearztes im Roman selbst nicht auftritt und nur als abwesende Figur in Dialogen eine Rolle spielt. Schon der englisch klingende Name „Gordon“ verleiht der Figur vor dem Hintergrund der Kriegsgegnerschaft Englands eine negative Konnotation. Hinzu kommt der Beruf des Badearztes, dem durch die Beschreibung der manipulativen Wirkung von Gordons „weichen, blassen, manikürten Hände mit der berühmten magnetischen Begabung“ (Let 26) ein Beiklang des Unseriösen und Esoterischen gegeben wird. Die Mutter von Albrecht von Gotterns Kriegskamerad Heygg von Weiringen hatte ihn nach dem Kriegstod ihres Mannes geheiratet, „weil sie nicht alleine gehen konnte durch diese wirr gewordene Zeit“ (Let 27). Die Bewertung der moralischen Position des Badearztes durch die anderen Romanfiguren ist jedoch durchweg negativ, denn nicht nur der junge Offizier Heygg

Zentrale Themen

von Weiringen wendet sich seinetwegen nach der Heirat seiner Mutter von seinem Elternhaus ab, auch die militaristisch-preußisch gesinnte Frau von Weiringen selbst trennt sich im Verlauf der Handlung aufgrund der divergierenden politischen Haltungen von ihrem pazifistischen Ehemann und avanciert zur verläss­lichen Ratgeberin des Tatmenschen Albrecht von Gottern (Let 128 ff.). 4.2.5.2 Frauenberufstätigkeit In Emmi Lewalds seit Mitte der 1920er Jahre publizierten Romanen erhält das Thema der weib­lichen Berufstätigkeit eine neue Dimension und Bewertung. Die gesellschaft­ liche Auflösung des Adels und der Abstieg des Bürgertums nehmen den Frauen der Oberschichten immer häufiger die in den Romanen der Vorkriegszeit noch rege disku­tierte Mög­lichkeit, zwischen dem traditionellen Lebensentwurf der Hausfrau und Mutter und dem noch neuen, vielversprechenden Lebensweg der Ausbildung und Berufstätigkeit je nach persön­licher Veranlagung wählen zu können. In den Romanen der Weimarer Republik bekommt die Erwerbstätigkeit der Frauen vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen und der wirtschaft­lich prekären Lebenssituation großer Teile der Bevölkerung infolge der deutschen Inflation zunehmend den Charak­ ter einer wirtschaft­lichen Notwendigkeit. Tatsäch­lich wies die Berufszählung von 1925 über 1,7 Millionen vollzeiterwerbstätige Frauen auf, und obwohl die weib­liche Erwerbsquote mit 35,6 % seit 1907 kaum gestiegen war, entstand in der Öffent­lichkeit der Eindruck einer wachsenden Zahl berufstätiger Frauen.247 Dieser Eindruck ist laut Frevert vor allem auf eine Verlagerung weib­licher Berufstätigkeit von den land- und hauswirtschaft­lichen Berufen in Erwerbsbereiche zurückzuführen, die vorher von Männern dominiert wurden, in die Sektoren Industrie, Handwerk und Dienstleistung. In den von ihnen neu erschlossenen Erwerbsbereichen waren Frauen vor allem als angestellte Sekretärinnen, Stenotypistinnen und Verkäuferinnen tätig und bildeten einen beacht­lichen Teil der expandierenden Berufsgruppe der Angestellten.248 Frevert betont, dass sich in dem neuen Angestelltenberuf „charakteristische Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Machtverteilung ausgebildet ha[b]en, wonach Frauen andere, untergeordnete, unselbständige, schlechter bezahlte Arbeit verrichteten als Männer.“249 Die Minderbezahlung der Frauen war üb­licherweise gesetz­lich geregelt: Im Bereich der kaufmännischen Angestellten mussten Frauen laut Tarifvertrag mit einem Gehaltsabzug von 10 – 25 % rechnen. Als Begründung diente das Argument, Frauen hätten mit einem geringeren finanziellen Aufwand für Kleidung 247 Im Jahr 1907 hatte der Anteil erwerbstätiger Frauen bei 34,9 % gelegen. Vgl. zur Frauenberufstätigkeit in der Weimarer Republik Frevert: Frauen-Geschichte, S. 171 ff. 248 Der Anteil weib­licher Angestellter an der Zahl aller erwerbstätiger Frauen stieg von 5 % 1907 auf 12,6 % 1925. Vgl. ebd., S. 172. 249 Vgl. ebd., S. 173.

447

448

Das literarische Werk Emmi Lewalds

und Haushalt zu rechnen, da sie ihre Kleidung selber anfertigen und ihre Mahlzeiten selber zubereiten könnten.250 Aus gesellschaft­licher Sicht wurde das Angestelltendasein einer Frau auch nicht als Berufsweg, sondern ledig­lich als Übergangsbeschäftigung bis zu ihrer Verheiratung gesehen, nach der die Arbeit erwartungsgemäß zugunsten der Kindererziehung und der Haushaltsführung aufgegeben werden sollte. Die Vorstellung einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung in Gesellschaft, Ehe und Familie behielt in der Weimarer Republik nach wie vor eine große Bedeutung, und die Aufgabe einer Ehefrau und Mutter wurde weiterhin als primäre Lebensbestimmung der Frau gesehen. Eine Erwerbstätigkeit der Frau wurde ledig­lich als Notbehelf in finanziell prekären Situationen anerkannt. Die bürger­lichen und adeligen Protagonistinnen in Emmi Lewalds in der Weimarer Republik bzw. in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur entstandenen Romanen, die sich mit dem Thema der Frauenerwerbstätigkeit beschäftigen, Das Fräulein aus der Stadt (1929) und Büro Wahn (1935), gehören zu einer kleinen Gruppe studierter und promovierter Frauen, die sich durch die wirtschaft­lich prekären Verhältnisse der Nachkriegszeit gezwungen sehen, in Angestelltenberufen zu arbeiten. Mit der Darstellung ihrer anstrengenden und bedrückenden Berufstätigkeit greift Emmi Lewald nicht nur erneut den gesellschaft­lichen Abstieg der ehemals privilegierten Gesellschaftsschichten auf, sondern thematisiert auch einen neuen Konflikt der beruf­lich ambitionierten Frauen der Nachkriegszeit: Nicht mehr die Vor- und Nachteile der von der bürger­ lichen Frauenbewegung schwer umkämpften weib­lichen Berufstätigkeit stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern die negativen Folgen einer in wirtschaft­lichen Notzeiten gezwungenermaßen ausgeübten Berufstätigkeit der Frauen. Die junge Juristin Dr. Gwendolyn Schulz in Das Fräulein aus der Stadt (1929) ist als Widerpart zu der wohlhabenden Großstädterin Ellen Arneborg angelegt, die zum Zeitvertreib und ohne rechten wissenschaft­lichen oder beruf­lichen Ehrgeiz an einer philosophischen Dissertation arbeitet. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Ellen eröffnen Gwendolyns Familien- und Lebensverhältnisse ihr keine Alternative zu einer Berufstätigkeit. Die Juristin wird als fleißig, zielbewusst und ausgesprochen begabt charakterisiert, sie ist jedoch aus finanziellen Gründen auf ihre Beschäftigung bei einem großen Industriekonzern angewiesen (FadS 21), womit sie eine literarische Repräsentantin der Gruppe weib­licher Angestellter darstellt, die in der Weimarer Republik für eine neue Form weib­licher Erwerbstätigkeit stehen. Die junge Frau ist von den Strapazen ihrer Angestelltenexistenz psychisch und vor allem physisch angeschlagen, da sie von den modernen Arbeitsverhältnissen „überanstrengt und oftmals geschunden“ (FadS 29) ist. Die sozialen und wirtschaft­lichen Rahmenbedingungen der Weimarer Zeit zwingen hier aus Sicht der Männerfigur Klemens und auch in Gwendolyns Selbstbeurteilung eine Frauenpersön­lichkeit zur Berufstätigkeit, die 250 Vgl. ebd., S. 174.

Zentrale Themen

dem Rollenverständnis des 19. Jahrhunderts nach für die traditionelle Hausfrauenund Mutterrolle geeignet ist (FadS 35).251 Ich bin ja gar nicht eine Frauenrechtlerin von echtem Stil. Ich könnte sehr gut leben ohne jede Wissenschaft, still handarbeiten hinter Blumenfenstern und kränk­liche Verwandte spazie­renführen. Alles, was die anderen verabscheuen, das verlockt mich. Aber es half nichts. Ich musste hinein in die Retorte. Mein Vater hatte es so bestimmt. Ich bin in diesen neuen Bahnen, was ein zwangsweise eingezogener Rekrut früher in den Regimentern war. Die kamen auch nur, weil sie mussten, nicht weil es sie trieb. (FadS 82 f.)

Als sich für Gwendolyn eine ihr angemessene Lebensperspektive eröffnet, die Mög­ lichkeit der Ehe mit einem verwitweten Pastor in einer länd­lich-dörf­lichen Lebenswelt, wird sie von einer „sitt­lichen Verfehlung“ aus ihrer beruf­lichen Vergangenheit eingeholt und muss aus einer gutartigen Wahrheitsliebe heraus den Heiratsantrag ablehnen. Während ihrer Zeit als angestellte Sekretärin, so wird im Roman angedeutet, nutzte ihr verheirateter Chef ihre finanzielle Notlage aus, um sie sexuell auszubeuten (FadS 184 f.). Auf diese Weise versperrt der einstmals aus existenzieller Not heraus eingeschlagene Lebensweg der ‚neuen‘, berufstätigen Frau Gwendolyn den Zugang zu einer traditionellen weib­lichen Existenz: Die Wertvorstellungen der beiden Lebensentwürfe erscheinen als unvereinbarer Gegensatz. Die Widersprüch­lichkeit der beiden Weib­ lichkeitsentwürfe werden im Roman mittels der gegensätz­lichen, seit der Romantik gültigen Frauenbilder der Heiligen und der Hure gekennzeichnet und bewertet: Die konservative Gwendolyn verkörpert nach Ansicht ihrer Freundin Ellen den „Typus Madonna“ (FadS 187), während die beiden Freundinnen in ihrem modernen Selbstverständnis und Lebensstil von der Dorfbewohnerin Klara Sielstede verachtungsvoll als „gefallene Mädchen“ (FadS 192) bezeichnet werden. Die ebenfalls promovierte Juristin Astrid von Wahn in Emmi Lewalds letztem Roman Büro Wahn (1935) arbeitet hauptberuf­lich als Angestellte in einem Kosmetikinstitut und führt nebenberuf­lich ein juristisches Schreibbüro, in dem sie Korrespondenzen entwirft und ausführt – dem Schauplatz der Handlung. An ihrem Arbeitsplatz versucht Astrid durch ein „ausgeklügeltes System“ (BW 61) der Verdunkelung eine Atmosphäre des Zwie­lichts zu erzeugen und durch das Tragen einer „Intelligenzbrille“ (BW 61) eine größere Distanz zu ihren Klienten zu schaffen, um ihre Jugend und Weib­lichkeit zu verbergen. Wie mehrfach angedeutet wird, passt die junge Frau nicht in das Berufsleben, war jedoch wegen der „schlimmen und gefähr­lichen Zeit“ (BW 78) der Wirtschaftskrise genötigt, sich durch Fleiß, Sparsamkeit und Klugheit

251 Gwendolyns heim­liche Affinität zur traditionellen Frauenrolle spiegelt sich auch in ihrer Frisur, denn sie trägt, im Gegensatz zu den kurz geschnittenen Haaren der modernen Frauen, zu einem Haarknoten gestecktes langes Haar (FadS 34).

449

450

Das literarische Werk Emmi Lewalds

eine arbeitsreiche Existenz aufzubauen, um sich und ihre Brüder versorgen zu können. Astrid selbst betrachtet ihre Arbeit als „oft von so zweifelhaftem Wert“ (BW 214) und träumt von einem finanziell abgesicherten Leben auf dem Land, in dessen Rahmen sie sich der Arbeitsstrapazen und der Sorge um den Unterhalt ihrer Brüder entledigen kann (BW  78 f.). Astrids Verwandter Georg Eck bezeichnet ihre Arbeit im Schreibbüro als „Frondienst“ (BW 87). Ihr unromantisches Verhalten gegenüber dem männ­lichen Geschlecht, näm­lich eine „spröde Art der Vorsichtigen“ und eine „Art ablehnender Kühle“ (BW 79), spiegeln seiner Ansicht nach bereits die negativen Auswirkungen der Berufstätigkeit auf das weib­liche Individuum. Eck selbst hängt noch einem traditionellen Frauen­ bild an, das von dem „Ideal der Unberührtheit“ und der Bestimmung der Frau zur Ehefrau und liebenden Familienmutter geprägt ist. Astrid dagegen erscheint ihm als ein „blutjunges Mädchen, das unend­lich überanstrengt“ (BW 57) ist und wegen des frühen Einstiegs in ein pf­lichten- und arbeitsreiches Leben nicht die romantischen Erfahrungen anderer adeliger Frauen machen konnte. Eck träumt davon, Astrid an den ‚rechten Platz‘ im Dasein zu rücken, doch tatsäch­lich „vermochte er nichts, sie zu lösen aus ihrer Welt der Büros und Ateliers, konnte nicht rettender Ritter sein, denn ach, zu Ritterdiensten gehört nicht nur Romantik des Herzens, sondern vor allem Geld“ (BW 80). Nach dreijähriger Berufstätigkeit kann Astrid schließ­lich ihre beiden Arbeitsplätze aufgeben und ihren Klienten Joseph Fahrwasser heiraten, der sich als wirtschaftsbürger­licher Emporkömmling das mecklenburgische Schloss Weistritz leisten kann. Als neue Schlossherrin am ‚rechten Platz‘ im Leben führt die junge Frau nunmehr ein ruhiges, berufsloses Leben, in dem Luxus und Müßiggang an erster Stelle stehen (BW 218). Else Basse, die zweite wichtige Frauengestalt in Büro Wahn, ist die Tochter einer Kleinhändlerfamilie und vereint als Kaufmannstochter alle Tugenden der erfolgreichen und tüchtigen Geschäftsfrau. „Hinter dem Ladentisch groß geworden, Herrin über die Kasse, Stütze des Geschäfts, Stolz der Eltern. Dies Mädchen, so scharf und rechnerisch im Verhandeln zuerst, so unerbitt­lich, jede Schadhaftigkeit genau erkennend“ (BW 11). Doch ebenso wie Astrid ist auch Else Basse mit ihrem arbeitsreichen Leben nicht glück­lich. Aber ich mag nicht immer der sein, der regiert und befiehlt. Ich mag nicht immer an die Scholle gefesselt leben. Ich will reisen. Ich möchte auch einmal das Dasein einer Drohne führen. Ich habe zu viel ausgeführt und gearbeitet in meiner Jugend. Ich möchte auch einmal auf der Chaiselongue liegen und Romane lesen […]. (BW 126)

Mit Fleiß und Verstand sowie zwei arrangierten Ehen mit den adeligen Herren von Claß und Georg Eck kann Else Basse schließ­lich ein privilegiertes Leben als Herrin von Schloss Friedeburg erreichen. In den Romanen wird der Leser daher mit zwei Frauenfiguren adeliger und kleinbürger­licher Herkunft konfrontiert, die trotz der

Zentrale Themen

Emanzipationsbemühungen der Frauenbewegung Berufstätigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung nicht als Lebensinhalt erstreben. Arbeit erscheint hier als unumgäng­liches Übel in Notzeiten und als Schlüssel zu ausschließ­lich finanziellem Erfolg, während die Emanzipation und die Selbstverwirk­lichung der Frau als Berufsmotivation keine Rolle mehr spielen. Als erstrebenswertes Lebensziel wird in Büro Wahn jedoch genau jenes privilegierte, berufslose Luxusleben der wohlhabenden Gesellschaftsschichten entworfen, gegen dessen Beschränkungen für Frauen die Aktivistinnen der bürger­ lichen Frauenbewegung seit Beginn der 1890er Jahre gekämpft hatten. Gleichstellung statt Ebenbürtigkeit – die Kehrseiten weib­licher Berufstätigkeit in der männ­lichen Leistungsgesellschaft Der im Fall der Gwendolyn Schulz gescheiterte und in den Fällen Astrid von Wahns und Else Basses geglückte Rückzug aus einer negativ geschilderten Form der Berufstätigkeit deutet auf eine ambivalente Darstellung weib­licher Arbeit im späten Werk Emmi Lewalds hin. Tatsäch­lich zeichnet die Autorin bei ihrer literarischen Beschäftigung mit den sozialen und gesellschaft­lichen Auswirkungen der Frauenemanzipation in der Weimarer Republik kein vorbehaltlos positives Bild der modernen Frau, die, von den neuen Frauenrechten profitierend, ein sozial, finanziell und kulturell zunehmend eigenständiges Leben führen kann. Obwohl aus den Texten, in denen die Schicksale unverheirateter Mädchen dargestellt werden, die Überzeugung spricht, dass die tradi­ tionelle Rolle der bürger­lichen Frau sich notwendigerweise wandeln muss, ist anderseits eine starke Kritik spürbar an der Art, wie sich der Wandel in der Praxis vollzieht. Das moderne Frauenbild wird mittels der Darstellung großstädtischer Frauenfiguren mit fragwürdigen Sitt­lichkeitsvorstellungen einerseits und überarbeiteter, ausgebeuteter Mädchen anderseits in den späten Romanen nicht selten ad absurdum geführt. Was bedingte diesen Perspektivenwechsel? Die Gründe sind offensicht­lich in den Wünschen und Zielen des gemäßigten Flügels der bürger­lichen Frauenbewegung zu suchen, dem Emmi Lewald sich auch in der Nachkriegszeit noch verbunden fühlte. Als Ideal galt diesen Frauen die Kultivierung und Ausbildung der angenommenen weib­lichen Wesensmerkmale, die sie im Interesse des gesamtgesellschaft­lichen Fortschritts in die bürger­liche Gemeinschaft einbringen sollten, um die Fehlentwicklungen einer vorrangig männ­lich geprägten Arbeits- und Kulturwelt auszugleichen (Vgl. 2.1.1.3). Nach dem gemäßigt-frauenrechtlerischen Standpunkt bestand das wichtigste Emanzipationsziel nicht in der recht­lichen Gleichstellung der Geschlechter, sondern in ihrer gesellschaft­ lich anerkannten Ebenbürtigkeit gerade auf Basis ihrer Wesensdifferenz. Die alten Anhängerinnen des ‚gemäßigten‘ Flügels der Frauenbewegung wurden insbesondere nach der staatsbürger­lichen Gleichstellung der Frauen in der Weimarer Republik mit einer gesellschaft­lichen Realität konfrontiert, in der Frauen sich nicht auf die Erwerbsarbeit in spezifischen Berufsfeldern beschränkten, sondern auf die Gleichberechtigung der Geschlechter abzielten und unter teils schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen in traditionell männ­lichen Berufsfeldern tätig wurden. Die Reaktion auf diese

451

452

Das literarische Werk Emmi Lewalds

neue Berufsrealität der Frauen äußert sich in Emmi Lewalds Romanen zum einen in einer grundsätz­lichen Kritik an den in den 1920er Jahren entstandenen neuen Moralund Sitt­lichkeitsvorstellungen, zum anderen in dem Versuch, das traditionelle Weib­ lichkeitsverständnis im Sinne bürger­licher Ordnungs- und Wertvorstellungen der Vorkriegszeit erneut zu konsolidieren. Den Rückgriff auf konventionelle Erzählmuster und eine in Bezug auf die Frauen­ emanzipation beinahe revisionistische Erzählhaltung verbindet Emmi Lewald mit anderen älteren Romanautorinnen des Kaiserreichs, die in den 1920er Jahren weiterhin Erzählliteratur publizieren.252 Heide Soltau konstatiert auch für die Texte von Gabriele Reuter, Clara Viebig und Helene Böhlau eine starke Kritik an der gelockerten Sexual­ moral der Weimarer Zeit und macht als deren zentrale Botschaft die Verpf­lichtung der Frau auf Fleiß, Tatkraft, Fürsorge und Tugendhaftigkeit aus: „Die Entwicklung der ‚drei alten Damen der Frauenliteratur‘ Reuter, Viebig und Böhlau zeigt deut­lich: Die Zeit der Provokation ist vorbei. Die Autorinnen folgen dem Programm der bürger­ lichen Frauenbewegung.“253

252 Vgl. Heide Soltau: Die Anstrengungen des Aufbruchs. Romanautorinnen und ihre Heldinnen in der Weimarer Zeit. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S. 220 – 235. 253 Ebd., S. 226.

5. „Ich hatte Schriftstellerehrgeiz.“1 – Zusammenfassung und Ausblick

1 Rückblickende Bemerkung der Autorin in einem Interview aus dem Jahr 1933 zu ihrer Motivation, ihr Erstlingswerk Unsre lieben Lieutenants (1888) zu schreiben und publizieren zu lassen. Strahlmann: Unsere lieben Leutnants, S. 23.

455 Es ist nicht leicht, die pointierte Gesamtcharakterisierung einer Autorin vorzunehmen, deren schriftstellerische Arbeit sich über den Zeitraum von 47 Jahren erstreckte und im Rahmen dreier politischer Systeme und eines Weltkrieges stattfand. Die historische und literarische Spurensuche in Leben und Werk der Schriftstellerin Emmi Lewald hat das Bild einer historischen Frauenpersön­lichkeit ergeben, die sich zwischen Beharrung und Fortschritt, zwischen Anpassung und Emanzipationsstreben bewegte. So lautet das Resümee der vorliegenden Untersuchung in verallgemeinerter Form, das auf die Untersuchungsergebnisse zur Biografie der Autorin, zu ihren Arbeitsbeziehungen und zu ihrem literarischen Werk gleichermaßen zutrifft. Emmi Lewald war eine Berufsschriftstellerin, die sich mit ihren literarischen Werken seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dauerhaft in der literarischen Öffent­lichkeit und auf dem literarischen Markt des Kaiserreichs und der Weimarer Republik behaupten konnte. Eine Beschäftigung mit dem Leben und Werk dieser im Laufe der Literaturgeschichte in Vergessenheit geratenen Autorin führte zu Erkenntnissen über die Bedingungen weib­licher Autorschaft, über die Berufsgeschichte von Schriftstellerinnen und über den Inhalt und die Gestaltung ihrer Werke. Hierbei lassen sich für einen Teil der Untersuchungsergebnisse Parallelen zu anderen Autorinnen dieser Schriftstellerinnengeneration ziehen, die dazu beitragen können, verbindende allgemeine Merkmale und übergreifende Entwicklungslinien in der Geschichte der Autorschaft von Frauen herauszuarbeiten und zu bestätigen. Ein zweiter Teil der Untersuchungsergebnisse liefert dagegen neue und spezifische Erkenntnisse über die individuellen Facetten und Details von Emmi Lewalds Autorinnenlaufbahn, ihren Arbeitsbeziehungen und ihrem Werk. „Ich hatte Schriftstellerehrgeiz“ – In der frühen Schreibmotivation der behütet aufgewachsenen Beamtentochter Emmi Lewald, die bereits im Jugendalter zu ­schreiben begann, klingen vordergründig eine jungend­liche Dichterverehrung und eine romantische Verklärung des Autorberufs an. Die Funktionen und Ziele ihrer schriftstellerischen Arbeit gestalteten sich jedoch weitaus vielschichtiger und lassen neben der grundsätz­lichen Umsetzung eines künstlerischen Ausdrucksbedürfnisses auf zwei zentrale Momente ihrer Schreibmotivation schließen: Emmi Lewald verstand das Schreiben zum einen als Berufsarbeit, mittels der sie ihr persön­liches Anliegen der Selbstverwirk­lichung und Emanzipation umsetzen und der Berufslosigkeit des tradi­ tionellen Lebensentwurfs für bürger­liche Frauen entgehen konnte. Darüber hinaus lässt sich bereits früh ein maßvoller sozialkritischer Impetus ausmachen, der in ihren Werken zutage tritt, wenn sie mit kritisch-humoristischer Skepsis die Auswirkungen der gesellschaft­lichen und ökonomischen Modernisierungsprozesse auf die bürger­liche Kultur und Gesellschaft, die Situation bürger­licher Frauen und die gesellschaft­lichen Auswirkungen des weib­lichen Rollenwandels schildert. Dem bedeutenden Einfluss der „Frauenfrage“ auf Emmi Lewalds gesellschaft­liches Engagement und ihre schriftstellerische Arbeit wurde in der vorliegenden Untersuchung mit der Berücksichtigung der theoretischen Prämissen und praktischen Ziele der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung Rechnung getragen. Nicht zuletzt gehörte Emmi Lewald als Autorin jener

456

Zusammenfassung und Ausblick

Berufsgruppe der künstlerisch ambitionierten Frauen an, die in der zeitgenössischen kulturtheoretischen Debatte um die Geschlechterfrage und das frauenrechtlerische Engagement für Berufstätigkeit und Staatsbürgerrechte besonders häufig Zielscheibe antifeministischer Offensiven waren.2 Die große Bedeutung des bürger­lichen Selbst- und Literaturverständnisses und der historischen Situation der bürger­lichen Gesellschaftsformation seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für die Arbeit der Autorin rechtfertigte zudem die Berücksichtigung der Analysekategorie des „bildungsbürger­lichen Habitus“, daher der mit der Zugehörigkeit zur bürger­lichen Gesellschaftsformation verbundenen habituellen Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen. Das bürger­liche Selbst- und Literaturverständnis wurde bisher kaum in die Untersuchung der schriftstellerischen Arbeit von Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts einbezogen, obwohl ein Großteil der Frauen aus diesen Gesellschaftsgruppen stammte. Für die vorliegende Studie erwies sich die Nutzung der Kategorie sowohl für die Klärung von Emmi Lewalds sozialhistorischen Voraussetzungen für die Schriftstellerinnenlaufbahn als auch für ihr schriftstellerisches Selbstverständnis und die Gestaltung ihres literarischen Werks als fruchtbar. Zu Beginn der Untersuchung wurde nach den sozialhistorischen Voraussetzungen für Emmi Lewalds schriftstellerische Arbeit und die Entstehung ihrer Werke gefragt, insbesondere nach den Vorteilen, Mög­lichkeiten und Chancen einerseits, nach den Nachteilen, Grenzen und Problemen anderseits, die ihr bildungsbürger­licher Hinter­ grund mit sich brachte. Die Untersuchung der Autorinnenbiografie hat gezeigt, dass sie aus dem höheren Beamtentum stammte, einer typischen Herkunftsschicht für Autorinnen des 19. Jahrhunderts. Die Familie Jansen rangierte wegen des Minister­ postens des Vaters in der Regierung des Großherzogtums Oldenburg neben der großherzog­lichen und anderen adeligen Familien in der Gesellschaftshierarchie mit an oberster Stelle. Emmi Lewalds familiäre Herkunft und Zugehörigkeit zu den höheren Beamtenkreisen sicherten ihr bis zum Ende des Kaiserreichs und darüber hinaus im Privatleben wie auch in ihrer Schriftstellerinnenlaufbahn weitreichende Vorteile, die auf der politisch, ökonomisch und gesellschaft­lich privilegierten Stellung dieser Gesellschaftsformation beruhten. Unter diesen Vorteilen muss insbesondere ihre gute Ausstattung mit ökonomischem Kapitel hervorgehoben werden, die im 19. Jahrhundert angesichts der restriktiven und unselbstständigen Stellung der bürger­lichen Frauen in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung für deren Handlungs- und Entfaltungsmög­lichkeiten war. Emmi Lewalds wohlhabende Eltern waren durch Günther Jansens Ministerposten in der Lage, ihre Tochter mit einer ausreichenden Mitgift für die Ehe mit dem gut verdienenden preußischen Ministerialbeamten Felix Lewald auszustatten. Diese finanziellen Voraussetzungen ermög­ lichten dem Ehepaar Lewald in Berlin die standesgemäße Lebensführung der oberen 2 Vgl. Dehning: Tanz der Feder, S. 39.

Zusammenfassung und Ausblick

bürger­lichen und adeligen Gesellschaft hinsichtlich der Wohnkultur, der Kleidung und der gesellschaft­lichen Repräsentationspf­lichten sowie kultureller Praktiken wie Bildungsreisen, regelmäßige Lektüre und Kulturkonsum. Sie gestatteten Emmi Lewald den Zugang zur exklusiven Berliner Klubgeselligkeit engagierter und berufstätiger Frauen der oberen Gesellschaftsschichten und sorgten zudem dafür, ein nicht unerheb­ licher Vorteil für eine Schriftstellerexistenz, dass Emmi Lewald grundsätz­lich nicht ­darauf angewiesen war, mit ihrer schriftstellerischen Arbeit ihren Lebens­unterhalt zu verdienen. Als weiterer Vorteil der bildungsbürger­lichen Herkunft erwies sich für Emmi Lewald die überdurchschnitt­lich gute Ausstattung mit kulturellem Kapital. Im Rahmen ihrer bildungsbürger­lichen Erziehung hatte die Autorin, obwohl sie die eingeschränkte Mädchenerziehung des 19. Jahrhunderts erhielt, neben einer umfassenden Allgemeinbildung eine gute Sprach- und Schreibkompetenz erworben und besaß die Grundvoraussetzungen für den Schriftstellerinnenberuf. Durch inner­ familiäre Gepflogenheiten war die Autorin schon früh mit der regelmäßigen Lektüre kanonischer und zeitgenössischer Literatur sowie mit dem Verfassen von erzählenden Tagesberichten und Scherzgedichten in Kontakt gekommen. Ein dritter, ausgesprochen wichtiger Vorteil von Emmi Lewalds bildungsbürger­licher Herkunft bestand darin, dass sie für ihre Arbeit als Autorin auf die ausgedehnten Verwandtschafts- und Beziehungsnetzwerke ihrer Familie und Bekannten zurückgreifen konnte, daher auch gut mit sozialem Kapital ausgestattet war. Das bildungsbürger­liche Selbstverständnis der Familie Jansen schloss eine kommunikative Lebensführung mit ein, wobei die Weitläufigkeit ihrer Verbindungen auch der Mobilität des Beamtenstandes dieser Zeit geschuldet war. Durch ihre Herkunft und Sozialisation verfügte die Autorin schließ­lich über jene Kenntnisse von Umgangsformen, Lebensstil, Gepflogenheiten der Konversation und der schrift­lichen Korrespondenz, die es ihr ermög­lichten, die Vorteile dieses Netzwerks für sich zu nutzen. Herausragende Beispiele für die Effizienz dieses Beziehungsgeflechts bilden Emmi Lewalds Arbeitsbeziehung mit dem Oldenburger Verleger August Schwartz, der bereits die regionalhistorischen Werke ihres Vaters verlegt hatte, ebenso wie ihre Zusammenarbeit mit dem Berliner Verleger Friedrich Fontane, der bei der Schulzeschen Hofbuchhandlung in Oldenburg in den Jahren 1884 – 1886 eine Buchhändlerlehre absolviert hatte. Den zahlreichen Vorteilen, die Emmi Lewalds Herkunft mit sich brachte, stand bei der Umsetzung ihres Berufswunsches der Schriftstellerin die von dem dualistischen Geschlechterverständnis bestimmte und in politischer, recht­licher und gesellschaft­ licher Hinsicht restriktive Stellung bürger­licher Frauen als einschränkender Faktor gegenüber. Der Autorin waren im Gegensatz zu ihren männ­lichen Schriftstellerkollegen Grenzen durch die recht­lich eingeschränkte Geschäftsfähigkeit und die Vormundschaftsrechte ihres Vaters bzw. ihres Ehemannes gesetzt, sodass sie bezüg­ lich ihrer Geschäftsbeziehungen bis 1918 in Abhängigkeit von deren Wohlwollen stand. Auch hinsicht­lich ihrer intellektuellen und schriftstellerischen Ausbildung war Emmi Lewald gegenüber männ­lichen Berufskollegen im Nachteil, denn sie hatte

457

458

Zusammenfassung und Ausblick

im Haushalt ihrer Eltern die im Bildungsbürgertum üb­liche geschlechtsspezifisch ausgerichtete Mädchenerziehung mit Schwerpunkten in den Bereichen Schöne Literatur, Zeichnen und moderne Sprachen erhalten. Wie die meisten Autorinnen ihrer Generation übte Emmi Lewald ihre schriftstellerische Arbeit auf Basis dieser allgemeinen Ausbildung aus, ohne ein Studium oder eine anderweitige Ausbildung in Literaturgeschichte bzw. in literarischen Techniken absolviert zu haben. Dass die Literatur aus diesem Grund nach formalen und inhalt­lichen Aspekten dem zeitgenössischen Ausbildungsniveau und dem Erfahrungshorizont der Frauen entsprach, bildete zugleich die Ursache für eine bedeutende Einschränkung der Autorin Emmi Lewald in der literarischen Öffent­lichkeit, da ihre Werke tendenziell einer geschlechtsspezifischen Rezeption durch die Literaturkritik und die Literaturgeschichtsschreibung ausgesetzt waren. Trotz dieses umfangreichen Katalogs von Nachteilen und Widerständen, die sich der jungen, ambitionierten Emmi Lewald bei der Umsetzung ihres Berufswunsches entgegenstellten, absolvierte sie in den nächsten Jahrzehnten eine erfolgreiche Schriftstellerinnenlaufbahn. Als Basis dieses Erfolgs kann vor allem ihre grundsätz­liche Anpassungsbereitschaft in Bezug auf die Normen, Werte und Grenzen der ökonomisch und politisch herrschenden Gesellschaftsformationen einerseits, in Bezug auf die tonangebenden formalen, ästhetischen und thematischen Prämissen des etablierten bürger­lichen Literatursystems anderseits, ausgemacht werden. Sowohl in ihrer privaten Lebensführung, in ihrem Engagement für Frauenberufsorganisationen und die Frauen­ bewegungspresse als auch in ihrer Arbeit als Schriftstellerin nahm Emmi Lewald immer so weit konforme Positionen ein, dass sie als bürger­liche Frau und Autorin die herrschenden zeitgenössischen Normen und Schick­lichkeitsvorstellungen einhielt und auch für die national-konservativen, der Monarchie und dem Kaiser treu ergebenen Teile der oberen Gesellschaftsschichten akzeptabel blieb. Dass sie in ihrem frauenrecht­lichen Interesse und in ihren literarischen Äußerungen das bestehende Gesellschaftsmodell sowie das politische System der Zeit als wichtigste Bezugspunkte behielt, zeugt von einem ausgeprägten bildungsbürger­lichen Selbstverständnis, das sie mit ihrer Sozialisation im staatstreuen Beamtentum erworben hatte. Dagegen war beispielsweise die Position einer fortschritt­lichen Frauenrechtlerin oder eine schriftstellerische Aktivität in Bohemekreisen nur durch einen offenen Bruch mit den gesellschaft­lichen und politischen Werten und Normen ihrer Gesellschaftsschicht mög­lich. Nach der pseudonymen Publikation ihres Erstlingswerks Unsre lieben Lieutenants (1888) bekam Emmi Lewald erstmals die Grenzen gesellschaft­licher Toleranz in Bezug auf das weib­liche Rollenbild zu spüren. Die Position der Schriftstellerin, die in unterhaltender und kritisch-humoristischer Manier den Zustand ihrer eigenen Gesellschaftsschicht literarisch verarbeitet, stellte in der Residenzstadt Oldenburg noch keine akzeptierte Position dar. Zu stark war die öffent­liche Kontrolle weib­lichen Verhaltens in den überschaubaren Gesellschaftsverhältnissen ausgeprägt, zu wenig hatten die Ideen der bürger­lichen Frauenbewegung Ende der 1880er Jahre dort schon Verbreitung gefunden.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Ereignisse führten jedoch nur kurzfristig zu Emmi Lewalds Außenseiterposition in der bürger­lichen Gesellschaft und wirkten sich für ihre schriftstellerischen Ambitionen letztend­lich positiv aus: Sie wurde der literarischen Öffent­lichkeit als Autorin bekannt und konnte noch im Jahr der gesellschaft­lichen Empörung über das Leutnantsbuch mit Wissen und Billigung ihrer Eltern ihr zweites Buch, den Gedichtband Der Cantor von Orlamünde, in Oldenburg publizieren. Einen nicht hoch genug zu bewertenden Vorteil stellte für den weiteren Verlauf von Emmi Lewalds beruf­licher Laufbahn die Ehe mit dem preußischen Staatsbeamten Felix Lewald dar. Dass sie im Gegensatz zu vielen Schriftstellerinnen ihrer Zeit verheiratet und berufstätig war, garantierte der Autorin nicht nur eine solide Einkommenssituation und ein hohes gesellschaft­liches Ansehen als Ehefrau und Mutter, sondern etablierte sie langfristig in der feinen Berliner Gesellschaft, die zugleich Sujet und Hauptadres­sat ihrer Werke wurde.3 Aufgrund der toleranten Einstellung ihres Ehemannes war Emmi Lewald von den Beschränkungen der weib­lichen Geschlechterrolle im Privatleben befreit, denn er billigte die Berufsarbeit seiner Frau und unterstützte sie in der Vereinbarung von schriftstellerischer Arbeit, frauenberuf­lichem Engagement, Ehe und – nach der Geburt des Sohnes Otto Günther – Familienleben. Eine ledige Autorinnen­existenz hätte für Emmi Lewald dagegen ein Leben im Elternhaus oder den Verlust ihres privilegierten Lebensstils bedeutet, da sie ihre literarischen Ambitionen nicht, wie zahlreiche männ­ liche (Berufs-)Schriftsteller ihrer Generation, mit einer bürger­lichen Erwerbsarbeit hätte finanzieren können. Nach der Hochzeit konnte Emmi Lewald mit den Einkünften aus ihrer literarischen Arbeit zum Familieneinkommen beitragen und war nach dem frühen Tod ihres Mannes 1914 auch in Kriegs- und Inflationszeiten in der Lage, die finanzielle Situation für sich und ihren Sohn zu verbessern. Mit der Verbindung der unterschied­lichen Frauenrollen der Schriftstellerin, der geachteten Gesellschaftsdame, der Ehefrau und Mutter erweist sich Emmi Lewalds Leben als durchaus noch zeituntypische Frauenbiografie, die von dem Brückenschlag zwischen der traditionellen Frauenrolle und einem neuen weib­lichen Selbstverständnis geprägt ist, das den Schlüssel zum emanzipatorischen Fortschritt der Frauen in der bürger­lichen Gesellschaft in der Berufstätigkeit sah. Emmi Lewald nutzte die gesellschaft­lichen Freiräume, die sich den Frauen ihrer Zeit eröffneten, um eine der ersten akzeptierten Berufsmög­lichkeiten für 3 Lewalds Lebenssituation ist im Vergleich zu anderen Autorinnen als Ausnahme einzustufen. Lucia Hackers Auswertung von Daten der in Brümmers Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart verzeichneten Autorinnen hat ergeben, dass 58 % davon verheiratet und 42 % ledig waren. Von den verheirateten Schriftstellerinnen waren wiederum 29,74 % verwitwet und 12,93 % geschieden. Hacker weist anhand ihres Quellenmaterials nach, dass ein Viertel der verheirateten Autorinnen zwar vor der Hochzeit berufstätig war, den Beruf mit der Verheiratung jedoch aufgab; andere schrieben in ihrer freien Zeit weiter, wenn sie sich von der Hausfrauen- und Mutterrolle unterfordert fühlten oder einen Ausgleich zu ihr suchten. Rund 70 % der berücksichtigten Autorinnen heirateten vor ihrem 25. Lebensjahr. Vgl. Hacker: Rollen – Bilder – Gesten, S.  68 – 77.

459

460

Zusammenfassung und Ausblick

Frauen zu ergreifen. Zusammengenommen ist es bemerkenswert, dass Emmi Lewald mit der Vereinbarung von Beruf, Partnerschaft und Mutterschaft in ihrem eigenen Lebensmodell eine zentrale Problematik der frühen Frauenbewegung auflösen konnte, die auch heute noch aktuell ist. Ein vergleichbarer Lebensentwurf bleibt dagegen für alle literarischen Frauen­figuren ihrer Texte undenkbar. Mit dem Umzug in die Reichshauptstadt Berlin fand Emmi Lewald den angemessenen Kontext für ihre Lebensvorstellungen und die Umsetzung ihrer beruf­lichen Ziele. Das Klub- und Vereinswesen im Umfeld der bürger­lichen Frauenbewegung eröffnete der Autorin vielfältige Mög­lichkeiten, sich mit gleichgesinnten berufstätigen Frauen auszutauschen, sich für die Berufsinteressen künstlerisch tätiger Frauen zu engagieren und das auf diese Weise entstehende neue Netzwerk für ihre Berufsinteressen zu nutzen. Die Auseinandersetzung mit den theoretischen Konzepten und praktischen Zielen des ‚gemäßigten‘ Flügels der bürger­lichen Frauenbewegung, der sich vor allem für eine Reformierung der Mädchenbildung und für die professionelle Erwerbsarbeit von Frauen im Dienste der Verbesserung der bürger­lichen Gesellschaft einsetzte, blieb nicht ohne Auswirkung auf Emmi Lewalds Vereinsarbeit und ihr literarisches Schaffen. Im Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin unterstützte sie als Mäzenin die Ausbildung von bildenden Künstlerinnen und nutzte ihre privilegierte gesellschaft­liche Stellung, um in vermittelnder Rolle Verbindungen zwischen den Künstlerinnen, potenziellen Auftraggebern, Käufern und Förderern herzustellen. Auch Lewalds Arbeit im Deutschen Lyceum-Club zeugt von diesem berufsbezogenen Interesse, so ihr Engagement in der „Marie von Olfers-Stiftung“ zur Förderung „wertvoller“ Jugendliteratur und ihre Mitarbeit an der Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ (1912), die der Öffent­lichkeit den Wert und Umfang der gesellschaft­ lichen Leistungen von Frauen präsentieren sollte. Darüber hinaus finden sich wichtige Grundgedanken der gemäßigt-frauenrechtlerischen Haltung bei der Frauenberufs- und Geschlechterthematik in der Erzählliteratur der Autorin wieder. Die Berufsfrage wird dort, wie auch in den theoretischen Abhandlungen der gemäßigten Bewegungspresse, ausschließ­lich in Bezug auf Frauen der oberen Gesellschaftsschichten entwickelt, der traditionelle Geschlechterrollendualismus bleibt weitgehend erhalten, und als Lösung weib­licher Konfliktsituationen lässt Emmi Lewald ihre Protagonistinnen wiederholt unter Aufgabe ihrer persön­lichen Emanzipationswünsche Frauenrollen annehmen, die dem nütz­lichen Dienst an der Familie und der Gesellschaft Vorrang einräumen. Eine grundsätz­liche Infragestellung bestehender Strukturen im Hinblick auf die politischen, recht­lichen und sozialen Bedingungen der restriktiven weib­lichen Stellung in der Gesellschaft bleibt jedoch aus. Emmi Lewalds Engagement in der Berliner Frauenvereinskultur und den Frauenberufsorganisationen hatte für sie auch in beruf­licher Hinsicht viele Vorteile, weil sie das damit verbundene Beziehungsnetzwerk zusätz­lich zu dem bestehenden Netzwerk ihrer Herkunftsfamilie für ihre Interessen als Autorin nutzten konnte. In den Frauen­ klubs und anderen Organisationen, die im Kontext der Frauenbewegung sowohl

Zusammenfassung und Ausblick

als Orte des geselligen Austauschs und der Kulturpflege als auch als gemeinschaft­ liches und finanzielles Unterstützungsnetzwerk fungierten, vermischten sich die persön­lichen, kulturellen und beruf­lichen Interessen der Mitglieder. Für Emmi Lewald waren die Überschneidungen der bürger­lichen Geselligkeits- und Frauenvereinskultur in Berlin besonders hilfreich: Die privaten Beziehungen des Ehepaars Lewald, die beruf­lichen Kontakte des Ehemannes, Emmi Lewalds Verbindungen zu engagierten Frauen aus den Institutionen und Vereinen rund um die Frauen­ bewegung und ihre beruf­lichen Kontakte zu Autor/innen, Verlegern, Redakteur/ innen und Journalisten/innen waren oft vielfach durchmischt. Emmi Lewald konnte in mehreren Kontexten nütz­liche Kontakte anknüpfen und pflegen, beispielsweise im Deutschen Lyceum-Club mit den Ehefrauen der Herausgeber Rudolf Mosse und Julius Rodenberg und den Schriftstellergattinnen Marie von Wildenbruch und Clara Sudermann oder im Deutschen Frauenklub mit der Unterhaltungsautorin Valeska Gräfin Bethusy-Huc, auf die sie sich dann bei einer Publikationsanfrage an den Redakteur Joseph Kürschner bezog. Im Hinblick auf die Berufsgeschichte von Autorinnen bekräftigen die Ergebnisse der Untersuchung die von der Forschung inzwischen gut belegte Tatsache, dass eine große Zahl von Frauen sich im ausgehenden 19. Jahrhundert selbstbewusst und vor allem mit großer Selbstverständ­lichkeit am kommerziellen Literaturmarkt beteiligen konnte und die im Zuge der Marktexpansion entstandenen neuen Publikations- und Absatzmög­ lichkeiten für Texte zum Teil finanziell sehr erfolgreich für sich nutzte. Emmi Lewald nahm die geschäft­liche Seite ihrer schriftstellerischen Arbeit sehr ernst und verwendete viel Aufmerksamkeit auf Vermarktung und Absatz ihrer Werke. Seit Beginn ihrer Schriftstellerinnenlaufbahn in den 1880er Jahren zeigte sie eine große Bereitschaft, sich den stark gewandelten Bedingungen des Literaturmarkts anzupassen und ihren finanziellen Erfolg als Lyrikerin und Erzählerin mit entsprechender Marktaufmerksamkeit, Verhandlungsgeschick und Flexibilität zu sichern. Dieses taktische Verhalten zeigt sich nicht nur in ihrer Auswahl der Publikationsorte bei Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch in ihrem Umgang mit den literarischen Texten während des Publikationsprozesses. Emmi Lewald publizierte ihre Gedichte, kurzen Prosatexte und Romane sowohl bei klassischen Buchverlagen als auch in Familien-, Unterhaltungs- und Frauenzeitschriften, Anthologien, Almanachen, Heimatkalendern und Mitteilungsblättern von Frauenorganisationen. Wie bei zahlreichen Autorinnen und Autoren ihrer Generation war ihre Zusammenarbeit mit Buchverlagen von wenig Kontinuität geprägt, häufig erstreckte sich die Zusammenarbeit nur über ein oder zwei Publikationen oder waren Buchprojekte bei mehreren Verlagen parallel in Arbeit. Zu Beginn der Laufbahn publizierte Emmi Lewald ihre Arbeiten vor allem bei kleineren Nischenverlagen und klassischen Buchverlagen, wobei die elfjährige Zusammenarbeit mit dem Regionalverlag Schulzesche Hofbuchhandlung (Oldenburg) und die zwölfjährige Kooperation mit dem um 1900 renommierten Literaturverlag Fontane & Co. (Berlin) die

461

462

Zusammenfassung und Ausblick

beständigsten Geschäftsbeziehungen darstellten. Nach der Jahrhundertwende gewann die Zusammenarbeit mit großen Verlagskonzernen wie der Deutschen Verlags-Anstalt (Stuttgart) und dem Scherl-Verlag (Berlin) an Bedeutung, die Buch- und Zeitschriftenproduktion unter einem Dach vereinten und so einen finanziell gewinnbringenden und massenhaften Absatz der Texte garantieren konnten. Es waren unter den bürger­ lichen Familien- und Unterhaltungszeitschriften insbesondere die populären Blätter des Scherl-Verlags, „Die Gartenlaube“, „Vom Fels zum Meer“ und „Die Woche“ sowie das Blatt „Über Land und Meer“ der Deutschen Verlags-Anstalt, die für eine massenhafte Verbreitung von Emmi Lewalds Skizzen, Novellen und Fortsetzungsromanen sorgten. Die Mehrfachpublikation von Texten im Zuge des Vorabdruck- und Nachdruckverfahrens bildete, gemeinsam mit Veröffent­lichungen in verschiedenen absatzstarken Roman-Zeitschriften und billigen Literaturreihen wie „Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek“ (Stuttgart), die Hauptverdienstquelle der Autorin und zeugt von ihrer ausgeprägten Marktorientierung. Der hohe Stellenwert geschäft­licher Interessen in Emmi Lewalds schriftstellerischer Aktivität äußert sich zudem in verschiedenen Arbeitsstrategien, etwa in der Bereitschaft, die Texte nach den Vorgaben des Verlegers der Schulzeschen Hofbuchhandlung zu ändern, in der Initiative, sich mit einer Zeitungsanzeige vor Verwechslung mit einem Autor von Kolportageliteratur zu schützen, und in der Aufmerksamkeit, ihren Verleger an die Belieferung von Buchhandlungen und das Versenden von Rezensionsexemplaren zu erinnern. Nicht zuletzt sorgte Emmi Lewald bei ihren literarischen Texten für eine gute Übereinstimmung der Gattungsund Stoffwahl mit den Interessen des Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes: Sämt­liche Romane, Novellen, Skizzen, Reiseberichte und Gedichte waren bezüg­lich der Gattung, der Themenwahl und der Einhaltung literarischer Sitt­lichkeitskonventionen neben der Buchpublikation auch für den vorherigen oder späteren Abdruck in der periodischen Presse geeignet. Die Analyse von Emmi Lewalds Positionierung im literarischen Feld des Kaiserreichs ergab eine eindeutige Zuordnung der Autorin, ihrer Literatur sowie der Publi­ kations- und Rezeptionsinstanzen zum dominanten, bürger­lichen Literaturmarkt und der etablierten Literaturöffent­lichkeit. Die Autorin arbeitete vornehm­lich mit Verlagen, Zeitschriften, Zeitungen und literarischen Rezensionsorganen des bürger­ lichen Spektrums zusammen, wobei sie innerhalb dieses Spektrums neben liberalen Positionen auch solche mit zum Teil stark konservativ-monarchistischer Gesinnung bevorzugte, etwa den Verlag Velhagen & Klasing (Berlin u. a.). Diese relative Zugehörigkeit aller Positionen zum herrschenden Literaturbetrieb lässt für Emmi Lewald und ihre Werke auf ein geschlossenes Literaturproduktions- und Rezeptionssystem schließen: Die bürger­liche Autorin schrieb unterhaltsame Texte für das gebildete, kaufkräftige Lesepublikum des mittleren und gehobenen Bürgertums sowie des Adels, fand vorrangig Publikationsmög­lichkeiten in bürger­lichen Verlagen und Organen sowie vorrangig Rezeptionsbereitschaft bei der Literaturkritik und Literaturhistoriografie desselben Spektrums.

Zusammenfassung und Ausblick

Emmi Lewalds gezielte Positionierung im literarischen Feld vollzog sich neben der Wahl der Publikationsorte in der Gestaltungsart ihrer Werke, die nach Inhalt, Gattung, Sprache und Stilistik an der im Ausgang des 19. Jahrhunderts, trotz des Einfluss­ gewinns naturalistischer u. a. Positionen, tonangebenden konservativ-gründerzeit­lichen Kunst- und Literaturauffassung orientiert und daher an die Publikationsbedingungen des Marktes angepasst und auf die Erwartungen des Zielpublikums abgestimmt waren. Ihre Absicht, sich als Autorin im bürger­lichen Literatursystem des Kaiserreichs zu etablieren, zeigt sich besonders deut­lich in ihrer methodischen und selbstbewussten Kontaktaufnahme mit einflussreichen Akteuren wie Verlegern und zeitgenössischen Schriftstellern, die neben der Anerkennung des offiziellen staat­lichen Literaturbetriebs auch finanziellen Erfolg genossen. Emmi Lewalds Zugehörigkeit zur gesellschaft­ lichen Elite ermög­lichte ihr beispielsweise 1896 die unproblematische Anknüpfung des brief­lichen und sozialen Kontakts mit Ernst von Wildenbruch, dem repräsentativen Dramatiker des Kaiserreichs, der im selben Jahr von Wilhelm II. für ein historisches Drama mit dem Schillerpreis ausgezeichnet wurde. Auch die initiativen schrift­lichen Kontaktanbahnungen mit dem späteren Literaturnobelpreisträger Paul Heyse im Jahr 1895 und dem Dramatiker Hermann Sudermann, die beide zu den Spitzenverdienern unter den Autoren des Kaiserreichs gehörten, sowie mit dem renommierten Herausgeber der „Deutsche[n] Rundschau“ Julius Rodenberg 1899 zeugen von diesem strate­ gischen Verhalten. Der Auf- und Ausbau der unterschied­lichen Beziehungsnetzwerke hat gezeigt, dass Emmi Lewald neben ihrer sozialen Herkunft auch durch ihre persön­lichen Dispo­ sitionen – Selbstbewusstsein, Zielstrebigkeit und Pragmatismus – gute Voraussetzungen für den Autorinnenberuf mitbrachte. Zudem war sie offensicht­lich bereit zu akzeptieren, dass der Aufbau einer erfolgreichen Schriftstellerexistenz, insbesondere die zeitnahe Erlangung von Anerkennung und Respekt, für Autorinnen im männ­ lich bestimmten Literatursystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit besonderen Hindernissen und Grenzen verbunden war. Sie passte sich den Rahmenbedingungen an und achtete nach der breiten gesellschaft­lichen Missbilligung, die sie für die Verwendung des militärischen Sujets in Unsre lieben Lieutnants (1888) erfahren hatte, auf die Einhaltung der für Frauen üb­lichen Genre- und Stoffkonventionen – eine bemerkenswerte Ausnahme stellt hier ihr Lyrikband Gedichte (1894) mit den „Lieder[n] des Troubadours“ dar. Tatsäch­lich erwies sich die Beschränkung und Konzentration auf frauen- und familienspezifische Inhalte für Emmi Lewald hinsicht­lich der Breitenwirkung ihrer Literatur und des ökonomischen Gewinns wiederum als Vorteil, denn die Zeitungen und Unterhaltungszeitschriften des Kaiserreichs hatten einen immensen Bedarf an konventioneller Erzählliteratur. Insbesondere die Nachfrage des weib­lichen Lesepublikums nach einer von Frauen für Frauen verfassten Literatur, die sich mit der weib­lichen Lebenssituation, dem Rollenwandel und den gesellschaft­lichen Auswirkungen der Frauenbewegung auseinandersetzte, stellte für die Autorin auf dem Literaturmarkt eine strukturelle Lücke dar. Für Emmi Lewalds gemäßigt-emanzipatorische

463

464

Zusammenfassung und Ausblick

Erzählliteratur über weib­liche Lebensschicksale stellte das weib­liche Lesepublikum der oberen Gesellschaftskreise, das den Ideen und Institutionen der Frauenbewegung nahestand, den wichtigsten Adressatenkreis dar. Diese Leserinnen erreichten ihre Texte in den Unterhaltungszeitschriften, in den Mitteilungsblättern der Frauenorganisa­ tionen „Die Frau“ und „Deutscher Lyceum-Club“ sowie in den Klubbibliotheken und bei offiziellen Lesungen der Frauenklubs. Emmi Lewalds Anpassung an das etablierte bürger­liche Literatursystem und ihre Akzeptanz der besonderen Produktions- und Rezeptionsbedingungen für schreibende Frauen sicherten ihr die besten Aussichten auf privaten, gesellschaft­lichen und beruf­ lichen Erfolg, daher den größtmög­lichen Zugewinn an sozialem, ökonomischem und symbolischem Kapital. Diese teils bewusste, teils unbewusste Vorgehensweise hängt eng mit ihrem Selbstverständnis als Schriftstellerin und als engagiertes Mitglied verschiedener Vereinigungen für die Berufsinteressen von Frauen im Umfeld der gemäßigten bürger­lichen Frauenbewegung zusammen. Emmi Lewalds Anliegen, eine der wenigen gesellschaft­lich akzeptierten Erwerbsmög­lichkeiten für Frauen zu nutzen und dem Schreiben als Berufsarbeit im Sinne einer bürger­lichen Profession nachzugehen, war an die Einhaltung der Regeln und Bedingungen des Literatursystems geknüpft. Ihre große Aufmerksamkeit für die materielle Seite der Literaturproduktion gegenüber ihren literarisch-künstlerischen Aspekten ist vor allem Ausdruck ihres Bewusstseins für die Professionalisierungsprozesse des Berufsstands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Emmi Lewalds Selbstverständnis als Autorin spiegelt darüber hinaus die Grundhaltung des gemäßigten Flügels der Frauenbewegung zur Frauenberufstätigkeit wider: Die qualifizierte weib­liche Berufsarbeit in spezifischen Berufsfeldern sollte Frauen der oberen Gesellschaftsschichten angemessene Verdienstmög­lichkeiten eröffnen und durch die nütz­liche Mobilisierung weib­lich-mütter­licher Qualitäten langfristig zum gesamtgesellschaft­lichen Fortschritt beitragen. Emmi Lewalds bürger­liche Lebens- und Literaturauffassung, ihr Streben, den Berufswunsch der Autorin umzusetzen, und die Emanzipationsinteressen bürger­licher Frauen bilden schließ­lich auch die wichtigsten Bezugsgrößen in Emmi Lewalds Entwicklung als Schriftstellerin in dem Zeitraum zwischen 1888 und 1935. Die Literatur der Einstiegsphase ins literarische Feld, der „Oldenburger Zeit“ zwischen 1888 und 1896, wurde thematisch von der Reflexion der gesellschaft­lichen Anfeindungen gegen die Autorin in ihrer Heimatstadt Oldenburg nach der Publikation der Offiziersskizzen Unsre lieben Lieutenants (1888) und darüber hinaus von ihren Reisen in verschiedene Städte des Kaiserreichs, nach Thüringen, auf die Nordseeinseln und nach Italien geprägt. Emmi Lewald verarbeitete ihre Reiseeindrücke in Stimmungs-, Liebes- und Naturlyrik sowie in den feuilletontaug­lichen Italienische[n] Landschafts­ bildern, die 1895/96 in verschiedenen Tageszeitungen erschienen. Kleine Prosaformen wie Charakterskizzen, Stimmungsbilder und kurze Novellen dienten ihr auch zur litera­ rischen Umsetzung von Beobachtungen aus ihrem gesellschaft­lichen Umfeld in Form einfacher Momentaufnahmen, Personencharakteristiken und harmloser Begebenheiten.

Zusammenfassung und Ausblick

Mit der Verquickung der Gesellschafts- und der Reisethematik wagte sie sich in den formal und erzählerisch noch sehr sch­lichten „Bade-Novellen“ Auf diskretem Wege (1892) und Fräulein Kunigunde (1894) an erste umfangreichere Prosatexte. Die Gattungswahl dieser Arbeitsphase ist für zeitgenössische Autorinnen charakteristisch, darüber h ­ inaus entspricht das Gattungsspektrum bereits der Nachfrage der Tageszeitungen und Unterhaltungszeitschriften. Die humoristisch-satirische Überzeichnung der Wirk­lichkeit in den frühen Leutnantsskizzen wird für Emmi Lewalds Darstellungen der oberen Gesellschaftsschichten charakteristisch. Der Hang der Autorin zur humoristischen Einfärbung des Gegenstands findet sich später in der Kritik an zeitgenössischer bildender Kunst in den Bildgedichten „Im Kunstsalon“ des Gedichtbands Gedichte (1894) wieder und dann in den Gesprächsskizzen Die Heiratsfrage (1906), in denen sie für die überspitzte Darstellung gesellschaft­licher „Typen“ die Konversa­ tionskultur der ‚besseren‘ Gesellschaft literarisch adaptiert. Vor dem Hintergrund der exponierten gesellschaft­lichen Stellung ihrer Herkunftsfamilie und der im bürger­ lichen Literaturbetrieb üb­lichen geschlechtsspezifischen Literaturkritik ist es nicht überraschend, dass Emmi Lewalds männ­lichem Autorpseudonym ‚Emil Roland‘ in ihrer Einstiegsphase in den Schriftstellerberuf die größte Bedeutung zum Schutz der persön­lichen und geschlecht­lichen Identität zukam. Frei­lich wurde das Pseudonym in der Oldenburger Gesellschaft rasch aufgedeckt, sorgte jedoch noch bis in die Zeit um 1904 für einen Wiedererkennungseffekt bei den Lesern und unterstützte in der Literaturkritik eine vergleichsweise positive Rezeption von Emmi Lewalds früher Lyrik. Die Rezensenten bewerteten die Gedichtbände der Autorin wesent­lich positiver als die Prosasammlungen, deren thematische Anspruchslosigkeit, blasse Figurengestaltung, sprach­liche Unkorrektheiten und fehlende erzählerische Erfahrung zu Recht zu einer Einstufung als durchschnitt­liche Unterhaltungsliteratur führten. Aus diesem Grund entsprach Emmi Lewalds Autorrolle in der literarischen Öffent­lichkeit zunächst der einer talentierten Lyrikerin und zweitklassigen Novellenautorin. Als sie im Jahr 1892 mit Biografie und Werkverzeichnis in Kürschner’s Deutscher Literatur-Kalender aufgeführt wurde, war ihre Aufnahme in den Kreis der Autorinnen und Autoren des etablierten Literatursystems offiziell vollzogen. Der Beginn ihrer Mitarbeit bei Helene Langes Monatsschrift „Die Frau“ im April 1894 datiert ihre Verbundenheit mit dem ‚gemäßigten‘ Flügel der bürger­lichen Frauenbewegung und ihre Arbeit für dessen bedeutendste Bewegungszeitschrift bereits auf diese frühe Schreibphase. Im Jahr 1896 begann nach der Heirat der Autorin mit Felix Lewald und mit ihrem Umzug nach Berlin Emmi Lewalds zweite Arbeits- und Entwicklungsphase von 1896 bis 1904. Die Etablierungsphase im Berliner Kultur- und Literaturleben ist geprägt von der Publikation des ersten Romans Sein Ich (1896) und den Novellenbänden Kinder der Zeit (1897) und In blauer Ferne (1898) in dem aufstrebenden Berliner Literaturverlag Fontane & Co., mit denen die Autorin endgültig zu ihren beiden wichtigsten literarischen Arbeitsgebieten fand, der humoristisch-kritischen Darstellung der Denk-, Lebens- und Wertewelt der oberen Gesellschaftsschichten sowie der Frauen- und

465

466

Zusammenfassung und Ausblick

Geschlechterthematik. Dass Emmi Lewald ihre Erzählliteratur bewusst in den Dienst der Ideen und Ziele der Frauenbewegung stellte, bezeugt ihre selbst verfasste Kurzvita für den Lexikonherausgeber Franz Brümmer aus der Zeit um 1900, in der sie ihre Arbeiten als Tendenzliteratur im Dienste der „Kämpfe und Bestrebungen der Frauenwelt“4 bezeichnet. Unter dem Eindruck ihrer neuen Kontakte zu künstlerisch tätigen Frauen in der Reichshauptstadt und zum Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin, in den sie 1900 offiziell als Mitglied aufgenommen wurde, fand in der Zeit zwischen 1898 und 1901 eine intensive Auseinandersetzung mit der Künstlerinnenthematik statt. Die Frage nach dem Verhältnis von künstlerischer Begabung und weib­ licher Geschlechterrolle wird am eindring­lichsten in den Novellen Die Globustrotterin (1898), Irmengard Henneberger (1898) und Das Schicksalsbuch (1900) geschildert, die nach der Auseinandersetzung mit Paul Heyses Novellentheorie auch eine inhalt­liche und stilis­tische Weiterentwicklung der Autorin in Bezug auf die Novellengattung erkennen lassen. Emmi Lewald erreicht eine Lösung des Rollenkonflikts nur durch die Übernahme des männ­lich konnotierten Ideals des Künstlergenies. Auf diese Weise bleiben die Künstlerinnen die einzigen Frauenfiguren, die von der Erzählerin das Recht auf kompromisslose beruf­liche Selbstverwirk­lichung sowie Kinder- und Ehelosigkeit zugebilligt bekommen, jedoch um den Preis einer Übernahme des männ­lichen Kunst- und Geschlechterrollenprinzips. Die rege Novellenproduktion der Autorin wurde darüber hinaus bis 1904 thematisch von der Lebens- und Wertewelt der oberen Gesellschaftskreise bestimmt, die für sie in der Tradition des bürger­lichen Literaturprozesses des 19. Jahrhunderts zugleich literarisches Sujet, Adressat und wichtigstes Lesepublikum darstellten. Vor dem Hintergrund unterhaltender Geschichten von Liebesverwicklungen, Urlaubsreisen, Groß- und Kleinstadtszenerien zeichnet Emmi Lewald das Bild einer Gesellschaft der Jahrhundertwende, die durch zahlreiche feine soziale und psychologische Brüche in ihren Grundfesten erschüttert ist. Die bildungsbürger­lichen Prinzipien einer an Kulturgenuss, gelehrtem Räsonnement und Persön­lichkeitsbildung orientierten Lebensführung fallen dem Karrierismus und der Statusorientierung der Protagonisten zum Opfer. Der wachsende Rationalisierungs- und Konkurrenzdruck verändert die bürger­lichen Lebens- und Arbeitsverhältnisse und wirkt sich negativ auf ihre sozialen, familiären und partnerschaft­lichen Beziehungen aus (s. u.). Ein Teil der Literaturkritiken dieser Zeit lobt neben dieser Parteinahme für bürger­liche Werte auch Lewalds Verknüpfung individueller psychologischer Abläufe mit einem charakteris­ tischen gesellschaft­lichen Hintergrund und stuft die Werke als überdurchschnitt­liche Gesellschaftsschilderungen ein. Ihr Erzählstil gilt aufgrund der Bearbeitung zeitgenössischer Stoffe und Problemkreise als „modern“. Am Ende der Etablierungsphase in Berlin wurde Emmi Lewalds Autorenrolle als begabte junge Lyrikerin daher von

4 Vgl. die handschrift­liche Kurzvita von Emmi Lewald in der Handschriftenabteilung der Staats­ bibliothek zu Berlin, Nachlass Franz Brümmer, Biograph II. Lewald, Emmi.

Zusammenfassung und Ausblick

der einer talentierten modernen Erzählerin abgelöst, ein Wechsel, der zeit­lich mit der Publikation ihres letzten Lyrikbandes Gedichte, Neue Folge (1901) zusammenfällt, der noch einmal Italien- und Reiselyrik enthält. In die Zeit von 1904, als Emmi Lewalds erster Frauenentwicklungsroman S­ ylvia (1904) erschien, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 fällt unbestritten die Hauptschaffensperiode der Schriftstellerin und die Hochphase ihrer Geltung im bürger­lichen Literaturbetrieb des Kaiserreichs. In dieser Zeit erschienen ihre wichtigsten Gesellschafts-, Familien- und Frauenromane; diese sind weiterhin durchgängig in der Sphäre der oberen Gesellschaftsschichten angesiedelt und integrieren typische Gestaltungsmittel des zeitgenössischen Gesellschaftsromans, etwa das Bildungszitat, den Gebrauch fremdsprachiger Wendungen, die Briefform, die Konversationsszene im Salon und die Bildungsreise. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit der sozialen Rolle des Menschen, die von der zeittypischen Geschlechterideologie und anderen standesbezogenen Konventionen der bürger­lichen bzw. adeligen Gesellschaft bestimmt wird. In Lewalds Texten werden die herkömm­lichen Rollen- und Identitätsmuster von den technischen, ökonomischen und gesellschaft­lichen Umbrüchen des Industriezeitalters zunehmend infrage gestellt, wobei insbesondere die vielfältigen Individualisierungstendenzen der Zeit als Ursache tief greifender Konflikte in den Geschlechter- und Familienverhältnissen sowie in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft ausgemacht werden. In den Zeitromanen wird das moderne Leben sowohl in Kleinals auch in Großstädten für den Verlust des Konglomerats bürger­licher Normen und Werte verantwort­lich gemacht, das als stabilisierendes Ordnungsmuster im 19. Jahrhundert Gesellschaft, Berufsleben, Familie und Partnerschaft verläss­lich im Innersten zusammengehalten hatte. Die komplexen Auswirkungen dieser Prozesse schildert Emmi Lewald für ihre Schreibart prototypisch in den Familienromanen Der Magnetberg (1910) und Die Frau von gestern (1920), die sie unter diesen problematischen Voraussetzungen konsequent als Familienuntergangsromane angelegte. In dem Roman Der Magnetberg, der bis 1912 fünf Auflagen erlebte, wird der Zerfall der bürger­lichen Idealfamilie als Folge einer Verkettung von Modernisierungsphänomenen gedeutet: Der Wegfall der kleinstädtischen sozialen Kontrolle und die neuen Bildungs- und Unterhaltungsmög­ lichkeiten für bürger­liche Frauen führen ebenso zum Untergang der Beamtenfamilie Thorensen wie die Schwächung der patriarchalischen Vaterfigur durch die Arbeitsüberlastung im modernen Berufsleben. Individualisierung, Beschleunigung, Karrierismus, Profitstreben, Verflachung und Verlust des bürger­lichen Bildungs­ideals bilden die wichtigsten Bausteine des kulturpessimistischen Resümees von Emmi Lewalds Zeitdiagnostik – ein Krisenbewusstsein, das viele ihrer gebildeten Zeitgenossen vor 1914 teilten. Ihre literarischen Lösungsvorschläge charakterisieren die Autorin als Verfechterin einer konservativ-beharrenden Vorstellung von Bürger­lichkeit, da sie ihre Protagonisten entweder auf ihrem fehlgeleiteten modernen Lebensweg scheitern oder sie unter Rückkehr zu einem traditionellen, am bürger­lichen Werteverständnis orientierten Lebensentwurf einen nütz­lichen Platz in der Gesellschaft einnehmen lässt.

467

468

Zusammenfassung und Ausblick

Unter Emmi Lewalds gegenwartsbezogenen Gesellschaftsromanen muss vor dem Hintergrund ihrer eigenen Positionierung der Werke als Tendenzliteratur im Dienst der Ziele der Frauenbewegung jenen Texten besondere Bedeutung beigemessen werden, in denen die Frauen- und Geschlechterthematik anhand des Schicksals einer exponierten Frauenfigur präsentiert wird. Dies unternahm die Autorin in den Romanen Sylvia (1904), Das Hausbrot des Lebens (1907) und Die Rose vor der Tür (1911) und nutzte hierfür das für die deutsche Literaturtradition des 19. Jahrhunderts charakteristische Modell des Entwicklungsromans. Nach ihrem anfäng­lichem Streben nach persön­licher und beruf­licher Emanzipation werden die Protagonistinnen in verschiedenen Situationen mit dem Widerspruch zwischen individuellen Wünschen und gesellschaft­lich verordneter Frauenrolle konfrontiert und geraten schließ­lich in eine Identitätskrise, die sie nur mit dem Rückschritt in die traditionelle Frauenrolle und der klaglosen Eingliederung in die bürger­liche Gemeinschaft zu beantworten wissen. Obwohl die Aufgabe des individuellen Emanzipationsanliegens durch die Autorin zum Akt der Übernahme gesellschaft­licher Verantwortung und daher zur moralisch überlegenen Entscheidung stilisiert wird, erscheint sie aus heutiger Sicht als rückwärtsgewandter Entwicklungsprozess. Es ist schon ein schwer nachzuvollziehender Emanzipationsrückschritt, wenn die vormalig kratzbürstige und selbstbewusste Schriftstellerin Ada in Das Hausbrot des Lebens selig in die Arme ihres Verlobten sinkt mit dem „weib­lichen Bedürfnis nach Schutz und Anlehnung“ und dem „bequemen Behagen […], die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen nunmehr einem Vernünftigeren auf die Schultern“ (HdL 442) legen zu können. Emmi Lewalds ausgesprochen konforme und harmonisierende Romanausgänge dürfen jedoch nicht den Blick für die Funktion dieser Art von Literatur im Kontext der Frauenbewegung verstellen, aktuelle Fragen und Diskussionen um den Wandel der Frauenrolle in die bürger­liche Literaturöffent­lichkeit zu tragen. Das eigent­lich Neue an dieser gemäßigten Tendenzliteratur war, dass die Autorin in ihren Romanen und Novellen bedeutende Emanzipationshindernisse aufzeigte, etwa indem sie die konservativ-beharrende Einstellung ihrer männ­lichen Protagonisten und deren Skepsis gegenüber geistig ebenbürtigen Partnerinnen detailliert ausgestaltet oder zeigt, wie die Denkstrukturen der Frauenfiguren den Fortbestand der traditionellen Geschlechterrollen unterstützen. Letztend­lich stößt Lewald jedoch mit dem konservativen Rollenkonzept des ‚gemäßigten‘ Flügels der Frauenbewegung an die Grenzen ihres im fiktionalen Raum denkbaren Fortschritts, wenn sie die mög­lichen Konsequenzen einer kompromisslosen Umsetzung der weib­lichen Selbstbestimmung für Partnerschaft und Familie durchspielt: Diese würde die bürger­liche Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern und wird daher skeptisch gesehen. Auffällig ist vor allem die grundsätz­liche Unfähigkeit der Autorin, in ihren Romanwelten die weib­liche Rolle der Ehefrau und Mutter mit der Berufstätigkeit zu einem neuen, zukunftsweisenden Weib­lichkeitsentwurf zu vereinen; sie bleiben – bis in die Romane der Weimarer Republik hinein – zwei gegensätz­liche Lebenssphären. Noch bei der Ausgestaltung

Zusammenfassung und Ausblick

der Frauenberufsthematik in den Romanen Das Fräulein aus der Stadt (1929) und Büro Wahn (1935) folgt Emmi Lewald dem zu diesem Zeitpunkt längst obsoleten Weib­ lichkeitsverständnis der bürger­lichen Frauenbewegung, auf dem ihre fundamentale Kritik am Selbstverständnis der „neuen Frau“ und insbesondere der gelockerten Sexualmoral in der Weimarer Republik beruht. Das mit dem Zustand der bürger­lichen Gesellschaft verbundene Krisenbewusstsein in Emmi Lewalds zeitbezogenen Gesellschaftsromanen um 1900 geht Hand in Hand mit einer spürbaren grundlegenden Skepsis gegenüber den Technisierungs- und Urbanisierungsprozessen der Zeit. Diese Skepsis äußert sich als Zivilisations- und Großstadtkritik in der negativen Darstellung einer modernen urbanen Lebensweise, die als hektisch, künst­lich, anonymisierend und uniformierend geschildert wird. Bereits in ihren ab 1896 erschienenen Novellen kontrastiert Emmi Lewald die großstädtische Lebenswelt mit nostalgischen Kleinstadtdarstellungen und mythisch verklärten Schauplätzen im Kultur- und Reiseland Italien sowie in den thüringischen Staaten. Es sind vormoderne Gegenwelten, in die sich die Protagonisten und mit ihnen der bürger­liche Leser aus dem vernunftbetonten Industriezeitalter hier literarisch flüchten können. In den Romanen ihrer Hauptschaffensphase weicht Emmi Lewald dann zunehmend auf eine Erzählwelt aus, die räum­lich, zeit­lich und personell ebenfalls abseits des modernen Großstadtlebens liegt, und siedelt die Romanhandlung von Der Lebensretter (1905), Unter den Blutbuchen (1914) und Excelsior! (1914) in der adeligen Lebenswelt abgelegener Residenzstädte nach Vorbild ihrer Geburtsstadt Oldenburg an. Dieser sicher partiell den thematischen Vorlieben der Unterhaltungszeitschriften geschuldete Schauplatzwechsel bot ihr die Mög­lichkeit, die Liebes- und Gesellschaftsthematik mit dem Niedergang des Adels und dem Aufstieg des Wirtschafts- und Kleinbürgertums zu kombinieren und wiederum die Veränderung des Gesellschaftssystems im Kaiserreich zu thematisieren. Bemerkenswerterweise setzt sich der Trend zur Platzierung der Romanhandlung in adeligen Lebenswelten in Emmi Lewalds Werken der Zeit nach 1918 fort. Sowohl in den Nachkriegsromanen Das Fräulein von Güldenfeld (1922) und Lethe (1924) als auch in dem Frauenroman Büro Wahn (1935) und dem historischen Hochstapler- und Heimat­ roman Heinrich von Gristede (1934) spielt die urbane bürger­liche Lebenswelt mit ihren Wert- und Moralvorstellungen überhaupt keine Rolle mehr. Diese thema­tische Zäsur muss offensicht­lich in engem Zusammenhang mit den bedeutenden weltanschau­ lichen, gesellschaft­lichen und ökonomischen Einschnitten für das Bildungsbürgertum im Übergang vom Ersten Weltkrieg zur Weimarer Republik gesehen werden. Ohne die bürger­liche Lebensweise und Wertewelt als Gegenstand literarischen Räsonnements nach 1918 durch ein neues Modell ersetzen zu können, war die Autorin mittels der Adelsthematik in der Weimarer Republik weiterhin in der Lage, Gesellschaftsromane im Stil der bürger­lichen Erzähltradition des 19. Jahrhunderts zu publizieren. Die thematische Verschiebung kam höchstwahrschein­lich auch dem Wunsch ihres bürger­lichen Lesepublikums entgegen, den Untergang seiner alten Lebenswelt mit der monarchistischen Staatsform zumindest bei der unterhaltenden Lektüre zu verdrängen.

469

470

Zusammenfassung und Ausblick

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges – und, soweit sich erkennen lässt, noch darüber hinaus – waren Emmi Lewalds Werke Ausdruck und Bestandteil des literarischen Kommunikationsprozesses der bürger­lichen Gesellschaftsformation und standen in der Tradition der realistischen bürger­lichen Erzählliteratur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesem Prozess diente Literatur „als einflussreiches Medium kultureller Sinngebung und Identitätsfindung“5 der Verbreitung bürger­licher Wertvorstellungen ebenso wie der öffent­lichen Diskussion politischer, weltanschau­ licher und gesellschaft­licher Fragestellungen. Auch wenn die bürger­liche Kunst- und Literaturauffassung mit dem Aufkommen der vielfältigen neuen und konkurrierenden literarischen Richtungen und Schulen seit den 1880er Jahren ihre überragende Stellung im literarischen Feld einzubüßen begann, behielt diese Art Literatur für bestimmte Teile der bürger­lichen Gesellschaft über die Jahrhundertwende hinaus offenbar ihre Funktion für die Reflexion gesellschaftlicher Zustände. Emmi Lewalds Texte zielten, je nach Text in sehr unterschied­lichem Maße, neben ihrer unterhaltenden Funktion auf die Kommunikation mit dem gebildeten Lesepublikum, auf die kritische Verständigung über den Zustand der eigenen Gesellschaftsschicht ab. Mit der Darstellung ihrer bürger­lichen Figuren und von deren Schicksalen als „Kindern der Zeit“ gab die Autorin die von ihr als gesellschaft­liche Fehlentwicklungen wahrgenommenen historischen Prozesse in ästhetisch gestalteter Form wieder, um in einem zweiten Schritt für den bewussten Erhalt bürger­licher Normen, Werte und Lebensweisen einzutreten. Der konservativ-beharrende Charakter dieser „gesunden“ Bürger­lichkeit tritt in Lewalds Texten am deut­lichsten zutage, wenn sie von Frauen­ figuren wie Ottilie Wächter (Sein Ich [1896]), Judith (Die Erzieherin [1899]) und Lida Eckhard (Die Rose vor der Tür [1911]) verkörpert wird, die alle im Verlauf der Handlung ihre individuellen Liebes- und Emanzipationswünsche zugunsten einer ideellen und sozialen ­Ver­pf­lichtung gegenüber der bürger­lichen Gemeinschaft aufgeben – auch ein Grund dafür, dass die echten „Happy Ends“ in Emmi Lewalds Romanen und Novellen geradezu Seltenheitswert besitzen. Die Funktion der bürger­lichen Literatur als Vermittlungsinstanz bei gesellschaft­ lichen Wertedebatten erscheint schließ­lich in einem besonderen L ­ icht, wenn Emmi Lewald den Wandel der Frauenrolle und die Ideen und Ziele der Frauenbewegung thematisch in ihre Erzählprosa einbringt. Ohne eine radikal-emanzipatorische Haltung zu präsentieren, trug sie die Themen der weib­lichen Selbstbestimmung, der Berufstätigkeit und deren mög­liche Auswirkungen auf Familie und Partnerschaft an das gebildete (vornehm­lich) weib­liche Lesepublikum ihrer Gesellschaftsschicht heran und lieferte auf diese Weise einen Beitrag zur öffent­lichen Debatte. Die moralischen und sozialen Konflikte, die ihren Protagonistinnen aus der Auseinandersetzung mit den neuen Ideen und Mög­lichkeiten erwachsen, konnten den bürger­lichen Leserinnen, ebenso 5 Becker: Bürger­licher Realismus, S. 11.

Zusammenfassung und Ausblick

wie die literarisch aufgezeigten Lösungsvorschläge, als Identifikationsmomente und Orientierungshilfe dienen. Als Medium für die literarische Verbreitung und Diskussion der „Frauenfrage“ diente hier neben Buchpublikationen das für die Verbreitung bürger­licher Literatur bedeutendste Massenkommunikationsmittel des 19. Jahrhunderts, die Familien- und Unterhaltungszeitschrift. Dies zeigt, dass die vorsichtige literarische Diskussion des Rollenwandels in Emmi Lewalds gemäßigt-fortschritt­licher Tendenzliteratur in den populären, unterhaltenden Formaten stattfinden konnte, wo sie ein breites Publikum erreichte. Emmi Lewalds Aufrechterhaltung eines bürger­lichen Literaturverständnisses im Sinne öffent­lichen Räsonnements, ihre Anpassung an den dominanten Literaturmarkt, der ihr ein breites Lesepublikum versprach, und ihr Rückgriff auf die Erzähltradition des 19. Jahrhunderts standen, den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit zufolge, in engem Zusammenhang mit ihren Berufs- und Emanzipationsinteressen. Im Hinblick auf künftige Studien zu weib­licher Autorschaft wären insbesondere vergleichende Untersuchungen reizvoll, die sich mit der Verwendung konventioneller und traditio­ nell-realistischer Erzähl- und Darstellungsweisen durch solche Schriftstellerinnen auseinandersetzen könnten, die von den Ideen der bürger­lichen Frauenbewegung beeinflusst wurden und in der Zeit zwischen 1880 und 1914 publizierten. Wie Emmi Lewalds Verwendung des Gesellschafts- und Entwicklungsromans, aber auch der Novellenform gezeigt hat, waren diese Erzählmodelle, die ja zur Zeit des verstärkten Einflussgewinns der Frauenbewegung bereits obsolet zu werden begannen, aus Sicht der Autorinnen besonders gut für die Darstellung von weib­lichen Sozialisations- und Emanzipationsprozessen sowie von gesellschaft­lichen Emanzipationshindernissen geeignet – und ihnen zudem aus ihrer literarischen Sozia­lisation gut vertraut. Emmi Lewalds fortgesetzte Verwendung konventioneller Gestaltungstechniken und Erzählmodelle, ihr Wechsel zwischen gemäßigt-engagierter Tendenzliteratur und gehobener bürger­licher Unterhaltungsliteratur sowie die Zeitgebundenheit ihrer Themen müssen schließ­lich zugleich als Garant ihres guten schriftstellerischen Erfolgs zu Lebzeiten und als ausschlaggebende Faktoren für ihren späteren Ausschluss aus der Literaturgeschichtsschreibung verantwort­lich gemacht werden. Die Autorin wurde von der Literaturkritik zwischen 1904 und 1914 aufgrund ihrer Verarbeitung zeitaktueller Themen als moderne Erzählerin und Verfasserin von Gesellschafts- und Frauenromanen eingeordnet, wobei sie durch ihr Stoffgebiet, das Leben der oberen Gesellschaftsschichten, und ihre Neigung zur humoristischen, teils ironischen Darstellungsweise näher charakterisiert wurde. Diese literaturkritische Verortung der Autorin wurde in Literaturlexika und literaturhistorischen Überblickswerken der Hauptschaffensphase und auch von der Literaturgeschichtsschreibung nach 1918 und 1945 vereinfacht übernommen, wodurch eine dauerhafte Autorcharakterisierung festgeschrieben wurde. Als die Legitimationsbasis für Emmi Lewalds bedeutendste Stoffgebiete mit der Verankerung des Frauenwahlrechts in der Weimarer Verfassung und der massiven Erschütterung bzw. dem teilweisen Verschwinden der Lebens- und

471

472

Zusammenfassung und Ausblick

Wertewelt des 19. Jahrhunderts nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gegeben war, begann ihr Bedeutungsverlust in der literarischen Öffent­lichkeit und in der Literaturgeschichtsschreibung. Dass die rege sozial- und literaturgeschicht­liche Forschung der letzten Jahrzehnte zur Geschichte weib­licher Autorschaft und der Literatur von Frauen bisher noch kein Interesse an der Schriftstellerin Emmi Lewald bekundet hat, muss demgegenüber auf zwei wesent­liche Charakterzüge ihrer literarischen Arbeit zurückgeführt werden. Zum einen qualifiziert sie der im Umfeld der bürger­lichen Frauenbewegung erworbene, aus heutiger Sicht allzu gemäßigte Standpunkt bei der Schilderung weib­licher Sozialisations- und Entwicklungsprozesse nicht für die Reihe der explizit sozialkritischen Tendenzautorinnen, in der beispielsweise Gabriele Reuter oder Helene Böhlau zu Recht stehen, weil sie, beeinflusst von der naturalistischen Literaturauffassung, die restriktive Stellung der Frau in der bürger­lichen Gesellschaft als gesellschaft­liche Anklage formulierten und zum Teil in drastischen Szenen schilderten. Zum anderen zeichnet sich Emmi Lewalds Werk nicht durch bemerkenswerte formal-ästhetische Neuerungen oder künstlerische Experimentierfreudigkeit aus, die ihre Texte im Zusammenhang mit einer eigenständigen Beteiligung der Schriftstellerinnen an der Ausformung und Umsetzung innovativer literarischer Gestaltungsformen seit der Jahrhundertwende hätten interessant machen können. Im Ganzen gesehen tragen die Ergebnisse der vorliegenden Studie zu Leben und Werk der Emmi Lewald daher vor allem dazu bei, Aufschlüsse über die sozialhisto­ rischen Voraussetzungen, das schriftstellerische Selbstverständnis, die Berufswirk­lichkeit und die literarischen Werke der großen Gruppe bürger­licher Berufsschriftstellerinnen zu geben, deren Schreiben von der Orientierung an den Bedürfnissen des Literaturmarkts, von ihren persön­lichen künstlerischen Ambitionen und den neuen Literaturströmungen der Zeit ebenso bestimmt wurde wie von dem Wunsch, den historischen Wandel der Frauenrolle und des Verhältnisses der Geschlechter literarisch zu gestalten. Die Leistungen dieser und vergleichbarer Autorinnen, die sich auf institutioneller Ebene für die Frauenberufstätigkeit engagierten, durch ihre schriftstellerische Arbeit dazu beitrugen, das Berufsfeld für Frauen weiter zu professionalisieren und mittels ihrer Literatur die Frauen- und Geschlechterthematik auf moderatem Wege in die Gesellschaft trugen, müssen von einer germanistischen Geschichte weib­licher Autorschaft angemessen berücksichtigt werden.

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

475

6.1 Ungedruckte Quellen Autorenkorrespondenz Emmi Lewald mit der Schulzeschen Hof buchhandlung Oldenburg 1889 – 1907 sowie Verträge und Aufstellungen. Verlagsarchiv der ehemaligen Schulzeschen Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei Oldenburg, Handschriftenabteilung der Landes­ bibliothek Oldenburg. Bericht Bülow an Hohenlohe vom 10.8.1896. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin. Best. R 3183 Staatsmänner (Oldenburg No. 36 Nr. 2) Januar 1888 – November 1918, 1. Band. Brief von Paul Heyse an Emmy Jansen am 4. Februar 1895. Handschriftenabteilung der Bayrischen Staatsbibliothek München, Autograph Heyse, Paul II . A/64/102. Briefe von Günther Jansen an seine Frau Marie von 1865 – 1885. Niedersächsisches Landesarchiv/Staatsarchiv Oldenburg, Best. 270 – 29 Nr. 3 (angefügt sind Regesten von H. Schieckel). Briefe der Familien Lewald und Jansen an Elisabeth Förster-Nietzsche und Mitarbeiter des Nietzsche-Archivs. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Best. GSA 72 / BW 3191, GSA 72 / 1767, GSA 100 / 1261. Brief von Emmi Lewald (Weimar) an Kurt Breysig am 28.7. (o. J.). Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Kurt Breysig. Brief von Emmi Lewald an den Cotta-Verlag vom 7.2.1902, Beurteilungen der Novelle C ­ unctator durch den Verlag. Deutsches Literaturarchiv Marbach/Cotta-Archiv, Best. Cotta Romanwelt und Cotta Br. Lewald 1. Brief von Emmi Lewald an Karl Jaspers am 9. November 1931, Brief von Karl Jaspers an Emmi Lewald am 2.2.1935. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Karl Jaspers, Best. Nr. A. Jaspers 75.12697 und Nr. A: Jaspers 75.8715. Briefe von Emmi Lewald an Joseph Kürschner. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Best. GSA 55 / 2195, GSA 55 / 4409. Brief von Emmi Lewald an Hermann Oncken vom 23.2.1932. Niedersächsisches Landesarchiv/ Staatsarchiv Oldenburg, Best. 271 – 14, Nr. 312. Brief von Emmi Lewald an Frau Anna von Plothow, Redakteurin des Berliner Tageblatts. Eigenhändige Briefkarte mit Unterschrift, ohne Ort (Berlin), 24.X. o. J. Handschriften­ abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Sammlung Adam, Nachlass 141, Kasten 8, Mappe Frauenrechtlerinnen. Briefe und Postkarten von Emmi Lewald an Julius Rodenberg und seine Frau 1899 – 1914. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Best. 81. Brief von Emmi Lewald an Lulu von Strauß und Torney-Diederichs am 16.02.1902. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Best. A Diederichs. Briefe von Emmi Lewald an Herrmann Sudermann. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Hermann Sudermann, Best. IV 29, Bl. 37 ff. Briefe von Emmi Lewald an Ernst von Wildenbruch 1896 – 1905. Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Best. GSA 94 / 200,1, GSA 94 / 213, 16. Briefe von Emmi, Theodor und Felix Lewald an den Maler Conrad Kiesel (1909 / 1910). Stanford University Libraries, Nachlass Conrad Kiesel, Kiesel Papers (M0407) Special Coll. Handschrift­liche einseitige Kurzvita von Emmi Lewald. Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Franz Brümmer, Biograph II . Lewald, Emmi. Kraft, Max (Erfurt, Hamburgerstraße 23): Familienchronik der Familie Frommelt(e). ­Brachmond (Juni) 1935. Maschinenschrift­lich. Niedersächsisches Landesarchiv/Staatsarchiv Oldenburg, Erw. 70 (Kleine erworbene politische Nachlässe) Best. 270 – 29, Nr. 6.

476

Quellen- und Literaturverzeichnis

Programm zur Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf “. Feb.–März 1912 in Berlin. Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel, Sig. Arbeit ST-3; 14. Veranstaltungsankündigungen, Vereinsunterlagen, Brief der Vereinsvorsitzenden Marie von Keudell an das König­liche Polizeipräsidium, Abteilung II am 27.10.1909 betreffs personaler Veränderungen im Vorstand. Landesarchiv zu Berlin, Bestand Verein der Künstlerinnen zu Berlin zur Förderung der bildenden Kunst, Best. A Rep. 030 – 04 Nr. 3019. Zwei Briefe von Emmi Lewald an Herrn Kammerherrn von Mohl und ein Brief an Frau Hedwig Heyl. Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Sammlung Darmstaedter, Best. 2k 1907. Zwei Briefe von Emmi Lewald an Rudolf und Emilie Mosse. Landesarchiv Berlin, Nachlass Mosse, Rep. 061 – 16, Nr. 1713, 1714.

6.2 Primärliteratur 6.2.1 Selbständige Publikationen Roland, Emil: Unsre lieben Lieutenants. Zeitgemäße Charakterstudien aus deutschen Salons. Leipzig Rauert und Rocco 1888. Roland, Emil: Unsre lieben Lieutenants. Angebunden Anonym: O, ihr Gnädigen. Charakterstudien aus der Damenwelt als Entgegnung auf „Unsere lieben Lieutenants“ von einem Lieutenant. Leipzig Rauert und Rocco 1889. Roland, Emil: Der Cantor von Orlamünde. Dichtungen. Oldenburg Schulzesche Hof buchhandlung und Hofbuchdruckerei A. Schwartz 1889. Roland, Emil: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen. Jena Mauke 1891. [König Enzio’s Leidenschaften; „Gaudeamus Igitur“; Der Traum des Philosophen; Aus guter, alter Zeit; „Der Mensch mit seiner Qual“; Der Kellner vom Drusenthal; Backfischchen; Die Schülerflamme] Roland, Emil: Auf diskretem Wege. Badenovelle. Norden und Norderney o. V. und o. J. (Braams-Verlag 1892). Roland, Emil: Gedichte. Oldenburg o. J. (Oldenburg und Leipzig Schulzesche Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei A. Schwartz 1894). Roland, Emil: Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen. Berlin Verlag A. D ­ uncker 1894. [Die Geschichte eines Lächelns; Viel zu brav; Der Pintscher; Gregor und seine B ­ rüder; Der überflüssige Helfenstein] Roland, Emil: Fräulein Kunigunde. Novelle. Berlin Deutsche Schriftsteller-Genossenschaft 1894. Roland, Emil: Sein Ich. Roman. Berlin Fontane & Co. 1896. Roland, Emil (Emmi Lewald): Italienische Landschaftsbilder. Oldenburg, Leipzig Schulzesche Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei A. Schwartz 1897. Roland, Emil: Kinder der Zeit. Novellen. Berlin Fontane & Co. 1897. [Kinder der Zeit; ­Cunctator; Hauenstein; Das Loos der Schönen; Im Zwie­licht der Gefühle; Herr Philipp] Roland, Emil: In blauer Ferne. Neue Novellen. Berlin Fontane & Co. 1898. [Die Globus­ trotterin; Zwischen Stendal und Ülzen; Viel Malheur; Haldenbrunn – eine Minute; Keine Zeit; Mein Hauptmann; 1806] Roland, Emil: Gefühlsklippen. Novellen. Berlin Fontane & Co. 1900. [Die Geschichte einer Beziehung; Die Erzieherin; Verschlossene Heimkehr]

Primärliteratur

Roland, Emil: Das Glück der Hammerfelds. Roman. Mit Illustrationen von Martin Ränike. Berlin, Eisenach und Leipzig H. Hillger 1900. (= Kürschners Bücherschatz Nr. 216. Bibliothek fürs Haus. Eine Sammlung illustrierter Romane und Novellen.) Roland, Emil: Mut zum Glück. Novellen. Leipzig G. Müller-Mann 1901. (= Ecksteins Minia­ turbibliothek Nr. 66) Roland, Emil (Emmi Lewald): Gedichte. Neue Folge. Oldenburg und Leipzig Schulzesche Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerei A. Schwartz 1901. Roland, Emil: Das Schicksalsbuch und andere Novellen. Berlin Fontane & Co. 1904. [Die Etrusker; Das Schicksalsbuch; Feierstunden; Erdgeruch] Lewald, Emmi: Sylvia. Stuttgart und Berlin Deutsche Verlags-Anstalt 1904. Lewald, Emmi (Emil Roland): Die Heiratsfrage. Der unverstandene Mann, ein spätes Mädchen, der Salonphilosoph und andere Typen der Gesellschaft. Stuttgart und Berlin Deutsche Verlags-Anstalt 1. und 2. Aufl. 1906. Lewald, Emmi: Der Lebensretter. Ein Roman in Briefen. Stuttgart und Berlin Deutsche Verlags-Anstalt 1907. (Bibliothek zeitgenössischer Autoren) Lewald, Emmi: Das Hausbrot des Lebens. Roman. Berlin Fontane & Co. 1. u. 2. Aufl. 1908. Lewald, Emmi: Der Magnetberg. Roman. Berlin G. Stilke 1911. Lewald, Emmi: Die Rose vor der Tür. Roman. Berlin G. Stilke 1912. Lewald, Emmi: Die Wehrlosen. Roman. Berlin G. Stilke 1912. Lewald, Emmi: Stille Wasser. Novellen. Stuttgart Engelhorn 1912. (Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek. Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker. Bd. 8, 29. Jg.) [Ein Mensch; Lieder eines Toten; Die Rose; Irmengard Henneberger] Lewald, Emmi: Der wunde Punkt. Novellen. Berlin G. Stilke 1914. [Der wunde Punkt; Die Flucht ins Unpersön­liche; Der Gast] Roland, Emil: Excelsior! Roman. Berlin A. Goldschmidt 1914. Lewald, Emmi: Unter den Blutbuchen. Roman. Berlin A. Scherl G. m. b. H. 1915. Lewald, Emmi: Die Erzieherin. Roman. Berlin und Leipzig H. Hillger 1917. (Kürschner’s Bücherschatz Nr. 1134) Lewald, Emmi: In jenen Jahren. Novellen. Berlin G. Stilke 1919. [In schlaflosen Nächten; Der Mangel an Ernst; Ein Besuch; Der letzte Brief; Der Gast aus Venetien; Eheirrung; Mißverständnis] Lewald, Emmi: Die Frau von gestern. Roman. Berlin G. Stilke 1920. Lewald, Emmi: Das Fräulein von Güldenfeld. Roman. Berlin A. Scherl G. m. b. H. 1922. Lewald, Emmi: Lethe. Roman. Dresden Max Seyfert Verlagsbuchhandlung 1924. Lewald, Emmi: Das Fräulein aus der Stadt. Roman. Berlin A. Scherl 1. – 10. Tausend 1929. (Scherl’s Zwei-Mark-Romane Bd. 23) Lewald, Emmi: Heinrich von Gristede. Roman. Detmold Meyersche Hof buchhandlung (Staercke) 1934. Lewald, Emmi: Büro Wahn. Roman. Detmold Meyersche Hofbuchhandlung (Staercke) 1935.

6.2.2 Beiträge in Anthologien Jansen, Emmi (Emil Roland): Alte Herzen. In: Frühlingszeit. Eine Lenzes- und Lebensgabe unsern erwachsenen Töchtern zur Unterhaltung und Erhebung gewidmet von den deutschen Dichterinnen der Gegenwart. Hg. von Bertha von Suttner. Berlin 1896, S. 202 – 206.

477

478

Quellen- und Literaturverzeichnis

Lewald, Emmi: Immerfort durch diese heißen Tage. In: Des Vaterlandes Hochgesang. Eine Auslese deutscher und österreichischer Kriegs- und Siegeslieder. Hg. von Karl Quenzel. Leipzig 1914, S. 60.

6.2.3 Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge Deutsche Allgemeine Zeitung

Lewald, Emmi: Der Jahre zehn…. (Zwei Sonette). In: Deutsche Allgemeine Zeitung, 10. August 1924.

Deutsche Dichtung

Roland, Emil: Pästum. Gedicht. In: Deutsche Dichtung 29 (1900/01), S. 243.

Deutsche Roman-Bibliothek (ehem. zu Über Land und Meer)

Roland, Emil: Der ‚Pintscher‘. Novellette. In: Deutsche Roman-Bibliothek 20 (1892), Bd. 1, H. 1, S. 39 – 46. Jansen, Emmi (Roland, Emil): Minnelied. Gedicht. In: Deutsche Roman-Bibliothek 20 (1892), Bd. 1, H. 21, Sp. 980. Jansen, Emmi (Emil Roland): An den Sommer. Gedicht. In: Deutsche Roman-Bibliothek 20 (1892), Bd. 2, H. 45, Sp. 2130. Roland, Emil: Sein Verhängnis. Novelle. In: Deutsche Roman-Bibliothek 24 (1896), Bd. 2, H. 48, S. 953 – 960. Roland, E.: Irmengard Henneberger. Erzählung. In: Deutsche Roman-Bibliothek 26 (1898), Bd. 2, H. 46, S. 917 – 928, H. 47, S. 938 – 945. Roland, Emil: Die Erzieherin. Roman. In: Deutsche Roman-Bibliothek 27 (1899), Bd. 2, H. 43, S.  863 – 872, H.  44, S.  887 – 892, H.  45, S.  908 – 912, H.  46, S. 925 – 932, H.  47, S.  947 – 952, H. 48, S. 966 – 972. Roland, Emil: Die Etrusker. Novelle. In: Deutsche Roman-Bibliothek 28 (1900), Bd. 2, H. 50, S.  993 – 1002. Roland, Emil: Feierstunden. Ein Jahr aus einem Leben. In: Deutsche Roman-Bibliothek 29 (1901), Bd. 2, H. 28, S. 559 – 568, H. 29, S. 579 – 588, H. 30, S. 600 – 608, H. 31, S. 624 – 628, H. 32, S. 638 – 648. Roland, Emil (Emmi Lewald): Fontana (Gedicht). In: Deutsche Roman-Bibliothek 33 (1905), Bd. 1, H. 1, S. 24. Roland, Emil: Der Lebensretter. Novelle. In: Deutsche Roman-Bibliothek 33 (1905), Bd. 2, H.  45, S.  893 – 898, H.  46, S.  913 – 918, H.  47, S.  933 – 939, H.  48, S.  953 – 958, H.  49, S.  973 – 978, H. 50, S. 993 – 998, H. 51, S. 1013 – 1018, H. 52, S. 1033 – 1039.

Deutscher Lyceum-Club

Roland, Emil (Emmi Lewald): Italienische Reise: An der Grenze, Riviera, Mantura, Am Lago Trasimeno, Abend in der Toskana, Rom, Via Appia, Mandela, Latium, Sorrent, Pästum, Fontana Trevi. Gedichte. In: DLC 10 (1914), Nr. 8 (1. Aug.), S. 315 – 331.

Primärliteratur

Lewald, Emmi: Oktober (Gedicht). In: DLC 10 (1914), Nr. 11 (1. Nov.), S. 373 f. Lewald, Emmi: Matthias Grünewald (Gedicht). In: DLC 12. (1916), Nr. 6 (1. Juni), S. 165 f. Lewald, Emmi: Nicht mir… (Gedicht). In: DLC 14 (1918), Nr. 10 (1. Okt.), S. 10 f. Lewald, Emmi: Herbstnebel (Gedicht). In: DLC 14 (1918), Nr. 10 (1. Okt.), S. 12. Lewald, Emmi: Charlotte Ball: Wir dürfen nicht töricht sein (Gedichte). Rezension. In: DLC 21 (1926), Nr. 12 (1. Dez.), S. 14.

Frau, Die

Roland, Emil: Die Brüder (Skizze). In: Die Frau 1 (1893/94), H. 5, S. 318 – 322. Jansen, E.: Die Geschichte eines Lächelns (Novelle). In: Die Frau 1 (1893/94), H. 7 (7. April 1894), S. 457 ff. Jansen, Emmi: Gemeinde Gabelbach (Novelle). In: Die Frau 1 (1893/94), H. 9, S. 561 ff. Roland, Emil: Sturm im Wasserglas (Novelle). In: Die Frau 1 (1893/94), H. 9, S. 581 – 590 u. H. 10, S. 663 – 672. Jansen, Emmi: Herr Philipp (Novelle). In: Die Frau 2 (1894/95), H. 4, S. 202 ff u. 295 ff. Jansen, Emmi (Emil Roland): „Haldenbrunn – eine Minute!“ (Novelle). In: Die Frau 3 (1895/96), H. 5, S. 299 – 304 u. S. 361 – 368. Jansen, Emmi (Emil Roland): Südlandsklänge (Rom – Tivoli) (Gedichte). In: Die Frau 3 (1895/96), H. 8, S. 464 f. Jansen, Emmi (Emil Roland): Blaue Blume (Novelle). In: Die Frau 3 (1895/96), H. 12, S. 722 – 734. Roland, Emil (Emmi Lewald): „Der Mensch mit seiner Qual.“ (Novelle). In: Die Frau 5 (1897/98), H. 11, S. 649 – 662. Roland, Emil (Emmi Lewald): Stille Fahrt (Gedicht). In: Die Frau 6 (1898/99), H. 1, S. 9. Roland, Emil (Emmi Lewald): Stille im Sturm (Gedicht). In: Die Frau 6 (1898/99), H. 2, S. 107. Roland, Emil: Im Liederbann (Gedicht). In: Die Frau 7 (1899/00), H. 5, S. 308. Roland, Emil (Emmi Lewald): Abend in der Toskana. Jenes Thor von Rom (Gedichte). In: Die Frau 8 (1900/01), H. 1, S. 45 f. Roland, E.: Schwarzburg (Gedicht). In: Die Frau 9 (1901/02), H. 5, S. 290. Lewald, Emmi (Emil Roland): Villa Adriana – Venedig – Tarcello (Gedichte). In: Die Frau 14 (1906/07), H. 1, S. 36 f. Lewald, Emmi (Emil Roland): „Villa delle sette Chiese.” – Mantua – Ignoto (Gedichte). In: Die Frau 14 (1906/07), H. 8, S. 499 – 501. Lewald, Emmi (Roland, Emil): Für Tag und Nacht. Gedicht. In: Die Frau 15 (1907/08), H. 1, S. 50. Lewald, Emmi (Emil Roland): Sizilien – Palica – Taormina – Die Straße von Messina (Gedichte). In: Die Frau 16 (1908/09), H. 8, S. 487 – 489. Lewald, Emmi: Griechische Reise. Reisebericht. Drei Tle. In: Die Frau 19 (1911 – 1912), H. 9, S. 519 – 527, H. 10, S. 593 – 600 u. H. 11, S. 666 – 676. Lewald, Emmi (Emil Roland): Giorgione (Sonette). In: Die Frau 21 (1913/14), H. 3, S. 162 f. Lewald, Emmi: Eleusis – Archäologie (Gedichte). In: Die Frau 21 (1913/14), H. 8, S. 483 f. Lewald, Emmi: Absage (Gedicht). In: Die Frau 22 (1914/15), H. 5, S. 273.

Gartenlaube, Die

Roland, Emil: Die Achillesferse. Skizze. In: Die Gartenlaube 1892, Nr. 26, S. 820 – 824. Roland, Emil: Jugendzeit. Plauderei. In: Die Gartenlaube 1893, Nr. 49, S. 832 – 834.

479

480

Quellen- und Literaturverzeichnis

Lewald, Emmy: Unter den Blutbuchen. Roman. In: Die Gartenlaube 1914, Nr. 33, S. 699 ff. – Nr. 51, 1914, S. 1093 ff. Lewald, Emmi: Die Siebzehnjährigen. Gedicht. In: Die Gartenlaube 1915, Nr. 2, S. 52. Roland, Emil: Die Zeppeline. Gedicht. In: Die Gartenlaube 1915, S. 934. Lewald, Emmi: Ein Besuch. Novelle in 2 Teilen. In: Die Gartenlaube 1917, Nr. 17, S. 342 – 347 u. S.  362 – 366. Lewald, Emmi: Das Fräulein von Güldenfeld (Roman). In: Die Gartenlaube 1922, Nr. 1, S. 1 – 6, Nr. 2, S. 23 – 28, Nr. 3, S. 45 – 49, Nr. 4, S. 65 – 68, Nr. 5, S. 87 – 91, Nr. 6, S. 107 – 110, Nr. 7, S.  129 – 131, Nr.  8, S.  149 – 151, Nr.  9, S.  171 – 176, Nr.  10, S.  191 – 196, Nr.  11, S.  213 – 218, Nr.  12, S. 233 – 238, Nr. 13, S. 255 – 258, Nr. 14, S. 285 f. Lewald, Emmi: Das Reisebett. In: Die Gartenlaube 1935, Nr. 2 , S. 32 f.

Gartenlaube-Kalender

Lewald, Emmi (Emil Roland): Die richtige Distanz (Novelle). In: Gartenlaube-Kalender 1913, S.  147 – 164.

Gesellschafter, Der

Roland, Emil (Emmi Lewald, geb. Jansen): Der Fluß – Nach Norden. Zwei neue Heimatgedichte. In: Der Gesellschafter. Ein nütz­licher und unterhaltender Volkskalender für Norddeutschland auf das Jahr 1906. 66 (1906). Oldenburg, S. 52 – 54.

Illustrierte Frauen-Zeitung

Lewald, Emmi: Die Wehrlosen. Erzählung. 2 Teile. In: Illustrierte Frauen Zeitung 38 (1910), H. 1 u. 2.

Romanwelt, Die

Roland, Emil: Cunctator (Novelle). In: Die Romanwelt 2 (1895), Bd. 1, H. 1, S. 7 – 14, H. 2, S. 36 – 41, H. 3, S. 65 – 69, H. 4, S. 93 – 96.

Roman-Zeitung

Jansen, Emmi: Auf diskretem Wege. In: Roman-Zeitung 29 (1892), 3, Sp. 274 – 278; 348 – 352. Roland, Emil: Delphi. Gedicht. In: Roman-Zeitung 49 (1912), 3, S. 173.

Über Land und Meer

Roland, Emil: Fröh­liche Weihnachten. In: Über Land und Meer 71 (1894), S. 263. Roland, Emil: Das Geisterschloß. Gedicht. In: Über Land und Meer 74 (1895), S. 935. Roland, Emil: Mein Hauptmann. Novellette. In: Über Land und Meer 78 (1897), S. 706 – 710. Roland, Emil: Die Geschichte einer Beziehung. Novelle. In: Über Land und Meer 82 (1899), S.  799 – 801 u. S.  815 – 820.

Primärliteratur

Roland, Emil: Das Schicksalsbuch. In: Über Land und Meer 84 (1900), S. 630 – 632, S. 646 – 650, S.  662 – 665, S.  678 – 681, S.  696 – 697 u. S.  710 – 713. Lewald, Emmi: Sylvia (Roman). In: Über Land und Meer 91 u. 92 (1904). Bd. 91: H. 25, S. 559 – 562 (mit Bild), H. 26, S. 579 – 583, H. 27, S. 601 – 603, H. 28, S. 623 – 626, H. 29, S.  645 – 648, H.  30, S.  667 – 670, H.  31, S.  689 – 692, H.  32, S.  713 – 715, H.  33, S.  737 – 740, H. 34, S. 761 – 764, H. 35, S. 781 – 785 u. H. 36, S. 807 – 810. Bd. 92: H. 37, S. 831 – 834, H. 38, S. 853 – 856, H. 39, S. 875 – 878, H. 40, S. 908 – 910 u. H. 41, S. 932 – 935. Roland, Emil: Wiederkehr. Gedicht. In: Über Land und Meer 94 (1905), S. 652. Roland, Emil: Träume. Gedicht. In: Über Land und Meer 94 (1905), S. 802. Roland, Emil: „Jour“. Skizze. In: Über Land und Meer 97 (1907), H. 1, S. 13 – 16, S. 42 – 44 u. S.  70 – 71. Lewald, Emmi: Geschiedene Leute. Skizze. In: Über Land und Meer 98 (1907), H. 33, S. 834 – 837. Lewald, Emmi (Emil Roland): Die Rose vor der Tür. Roman. In: Über Land und Meer 107 (1911), H. 1, S. 1 – 3, H. 2, S. 41 – 43, H. 3, S. 69 – 71, H. 4, S. 97 – 99, H. 5, S. 121 – 123, H. 6, S.  151 – 153, H.  7, S.  179 – 181, H.  8, S.  211 – 213, H.  9, S. 239 – 241, H.  10, S.  273 – 275, H.  11, S. 305 – 307, H. 12, S. 333 – 334 u. H. 13, S. 360 – 361.

Velhagen & Klasings Almanache

Lewald, Emmy: Niobe im Salon. Skizze. In: Velhagen & Klasings Almanach 1911, S. 231 – 251. Lewald, Emmi (Emil Roland): Der Backfisch. Eine zeitgemäße Betrachtung. In: Velhagen & Klasings Almanach 1913, S. 28 – 41. Lewald, Emmi: Gentilezza. Eine zeitgemäße Betrachtung. In: Velhagen & Klasings Almanach 1914, S. 120 – 127. Lewald, Emmi: Der letzte Brief. Eine Stimme von der Front. In: Kriegs-Almanach 1916 (Hg. von der Schriftleitung von Velhagen & Klasings Monatsheften), S. 33 – 37.

Velhagen & Klasings Monatshefte

Lewald, Emmy: „Le città morte.“ (Gedicht). In: Velhagen & Klasings Monatshefte 22. (1907/08), Bd. 1, H. 5, S. 704. Lewald, Emmi: Im „bel paëse“. Notizen eines Laien. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 23 (1908/09), Bd. 1, S. 379 – 385. Lewald, Emmi: „Ihr!“ (Gedicht). In: Velhagen & Klasings Monatshefte 29 (1914/15), Bd. 1, H. 2, S. 230. Lewald, Emmi: In schlaflosen Nächten. Gedanken eines Einsamen. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 30 (1915/16), Bd. 1, H. 1, S. 45 – 54. Lewald, Emmi: Eheirrung. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 30 (1915/16), Bd. 2, H. 5, S.  120 – 123. Roland, Emil: Am Styx (Gedicht). In: Velhagen & Klasings Monatshefte 30 (1915/16), Bd. 2, H. 5, S. 138 f.

481

482

Quellen- und Literaturverzeichnis

Vom Fels zum Meer

Roland, Emil: After Dinner. Skizzen aus der Saison. In: Vom Fels zum Meer 21 (1902), 2, S.  1194 – 1197, S.  1231 – 1234, S.  1268 – 1269 u. S.  1302 – 1303. 22 (1902/03), 1, S. 241 – 245 u. S. 800 – 805. 22 (1903), 2, S. 1223 – 1228 u. S. 1576 – 1582. Roland, Emil: Der unverstandene Mann. Novelle. In: Vom Fels zum Meer 23 (1903/04), 1, S.  475 – 480. Roland, Emil: ‚Ein spätes Mädchen‘. Familienszene. In: Vom Fels zum Meer 23 (1903/04), 1, S.  658 – 661 u. S.  693 – 697. Roland, Emil: Après diner. Nachtischgespräche. In: Vom Fels zum Meer 23 (1904), 2, S. 1273 – 1277, S.  1306 – 1309 u. S.  1340 – 1343. Roland, Emil: Die Mondänen. Skizze. In: Vom Fels zum Meer 23 (1904), 2, S. 1273 – 1277. Roland, Emil: Freunde. Skizze. In: Vom Fels zum Meer 24 (1904/05), 1, H. 4, S. 234 – 239 u. S.  271 – 275. Roland, Emil: Der Salonphilosoph. Skizze. In: Vom Fels zum Meer 24 (1905), 2, S.1478 – 1482 u. S.  1515 – 1518.

Westermanns Illustrierte Monatshefte

Lewald, Emmi: Riviera. Gedicht. In: Westermanns Illustrierte Monatshefte 51 (1907), Bd. 102, 1, S. 208.

Woche, Die

Lewald, Emmy (E. Roland): Doktorfragen. Skizze. In: Die Woche 8 (1906), Nr. 28 (14. Juli), S.  1226 – 1230. Lewald, Emmy (Emil Roland): Das Neutrum. Skizze. In: Die Woche 9 (1907), Nr. 24 (15. Juni), S.  1055 – 1058. Lewald, Emmi: Das Hausbrot des Lebens. Roman. In: Die Woche 9 (1907), Nr. 26 (29. Juni), S. 1127 ff. – Nr. 41. Lewald, Emmi: Körbe. Drei Briefe. In: Die Woche 10 (1908), Nr. 19 (9. Mai), S. 829 – 834. Lewald, Emmi: Der Magnetberg. Roman. In: Die Woche 12 (1910), Nr. 31–Nr. 49. Lewald, Emmi: Wir… Gedicht. In: Die Woche 17 (1915), Nr. 49 (4. Dez.), S. 1761.

6.2.4 Unveröffentlichte Manuskripte Lewald, Emmi: Liebe in der kleinen Stadt. Roman. Manuskript masch. (nach 1930). Lewald, Emmi: Merle geht zur Konkurrenz. Erzählung. Manuskript masch. Lewald, Emmi: Eine Frau von der Waterkant. Roman aus dem Ersten Weltkrieg. Manus­ kript masch. Lewald, Emmi: Die Frau von der man nicht spricht. Roman. Druckfahne (Publikationsort unbekannt, nach 1918) Lewald, Emmi: Neue Tage beginnen. Roman. Druckfahne (Publikationsort unbekannt).

Zeitgenössisches Schrifttum

6.3 Zeitgenössisches Schrifttum 6.3.1 Rezensionen Aus der Oldenburger Heimat (Beilage der „Nachrichten für Stadt und Land“)

N. N.: Ein neuer Heimatroman. Heinrich von Gristede. In: Aus der Oldenburger Heimat. 4. Beilage der „Nachrichten für Stadt und Land“, Nr. 40 (10. Feb. 1935).

Berliner Tageblatt

Die Frau von gestern. 29.5.1921

Blätter für literarische Unterhaltung

Karl Spittler: Erzählendes in dichterischer Form (Der Cantor von Orlamünde). 64 (1890), Nr. 2 (9. Jan.), S. 21 ff. M. Bensey: Erzählungen (Ernstes und Heiteres). 64 (1890), Nr. 48 (27. Nov.), S. 757 ff. M. Rachel: Allerhand Humore (Geschichte eines Lächelns und andere Novellen). 68 (1894), Nr. 39 (27. Sept.), S. 616 ff. Richard Weitbrecht: Frauenlyrik (Gedichte). 69 (1895), Nr. 11 (14. März). Leonhard Lier: Neue Romane und Novellen (Sein Ich). 70 (1896), Nr. 48 (26. Nov.), S. 759 ff. Richard Weitbrecht: Aus weib­lichen Federn (Kinder der Zeit). 71 (1897), Nr. 27 (1. Juli), S. 426 ff. Ernst Lehmann: Italienisches (Italienische Landschaftsbilder). 72 (1898), Nr. 2 (13. Jan.), S. 19 ff. Theodor von Cosnosky: Aus der Erzählliteratur (In blauer Ferne). 72 (1898), Nr. 36 (8. Sept.), S.  570 ff.

Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen

Gefühlsklippen. 2 (1901), Nr. 1/2 (Jan./Feb.), S. 31. Das Schicksalsbuch und andere Novellen. 6 (1905), Nr. 3/4 (März/April), S. 76.

Deutsche Revue

Italienische Landschaftsbilder. 23 (1898), Bd. 2, S. 254. Die Heiratsfrage. 31 (1906), Bd. 1, S. 377. Der Lebensretter. 32 (1907), Bd. 1, S. 378.

Deutsche Roman-Zeitung

N. N.: Der Cantor von Orlamünde. Dichtungen. 28 (1891), Bd. 1, Sp. 356. Otto von Leixner: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen. 28 (1891), Bd. 2, Nr. 23 (Feb.), Sp. 719/20. N. N.: Ernstes und Heiteres. Novellen und Skizzen. 29 (1892), Bd. 1, Sp. 428. N. N.: Sein Ich. Roman. 33 (1896), Bd. 4, Sp. 139. N. N.: Der Lebensretter. Roman in Briefen. 44 (1907), Bd. 2, S. 35.

483

484

Quellen- und Literaturverzeichnis

Artur Brausewetter: Die Heiratsfrage. 50 (1913), Bd. 4, S. 359.

Frau, Die

Helene Lange: Gefühlsklippen. 7 (1899/00), Nr. 6, S. 1275.

Gesellschaft

Geschichte eines Lächelns und andere Novellen. 1894, Bd. 2, S. 1056. Fräulein Kunigunde. 1894, Bd. 2, S. 1499.

Heimgarten

Die Heiratsfrage. 31 (1907), S. 78.

Jung-Deutschland

Gedichte (2. Aufl.). 1901, Bd. 3, S. 307.

Literarische Echo, Das

E. Höber: Gefühlsklippen. Novellen. 2 (1900), Nr. 9 (1. Feb.), Sp. 657/8. Hans Benzmann: Lyrisches (Gedichte, 2. Aufl.) 3 (1901), Nr. 15 (15. Mai), Sp. 1072. Gedichte. Neue Folge. 4 (1902), Nr. 20 (Juli), Sp. 1392. Theo Schäfer: Das Schicksalsbuch und andere Novellen. 7 (1905), Nr. 24 (15. Sept.), Sp. 1762/3 Die Heiratsfrage. Novellistische Plaudereien. 8 (1906), Nr. 15 (1. Mai), Sp. 1071/2. Der Lebensretter. Roman in Briefen. 10 (1907), Nr. 3 (1. Nov.), Sp. 176/7. Das Hausbrot des Lebens. 10 (1908), Nr. 20 (15. Juli), Sp. 1427/8

Nachrichten für Stadt und Land (Oldenburg)

Wilhelm von Busch: Gedichte. 1894, [?.] Die Geschichte eines Lächelns und andere Novellen. 27 (1894), Nr. 113 (18. Mai). Heinrich von Gristede. Oldenburger Heimat (Beilage am 10. Feb. 1935).

Neue Preußische Kreuzzeitung Sein Ich. 1896, [?.]

Schöne Literatur, Die

Mut zum Glück. Novelle. 3 (1902), Nr.17 (6. Sept.), Sp. 266. Gedichte. Neue Folge. 3 (1902), Nr.17 (6. Sept.). Richard Dose: Die Heiratsfrage. 7 (1906), Nr. 8 (7. April). Adolf Watzke: Das Hausbrot des Lebens. 9 (1908), Nr. 2 (18. Jan.).

Zeitgenössisches Schrifttum

Velhagen & Klasings Monatshefte

Heinrich Hart: Sein Ich. Roman. 11 (1896), Bd. I, Nr. 1 (Sept.), S. 125.

Vom Fels zum Meer

Sylvia. Roman. 24 (1904/05), Bd. 1, S. 658.

Westermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte

F. D.: Gefühlsklippen. Novellen. 44 (1900), Bd. 88, S. 834. Gedichte. 46 (1901/02), Bd. 91, S. 616.

6.3.2 Artikel, Schriften und Literaturgeschichten Ausstellungskatalog: Frauenbilder auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1910. Kopie in der Bildersammlung des Niedersächsischen Landesarchivs und Staatsarchivs Oldenburg Slg. 400 Nr. 1152-A. Avenarius, Ferdinand: „Waschzettel“. In: Der Kunstwart, 20 (1907), Bd. 2, H. 24, S. 667 ff. Bab, Julius: Die Kriegslyrik heute. In: Das literarisches Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. 17 (1914), H. 1, Spalte 5. Bäumer, Gertrud: Der Krieg und die Frauen. Stuttgart, Berlin 1914. Bäumer, Gertrud: Lebensweg durch eine Zeitwende. 4. Aufl. Tübingen 1933. Bäumer, Gertrud: „Unreife Rabiatheit“. Taktische Erwägungen zur Frauenstimmrechtsfrage. In: Die Frau 13 (1905/06), H. 9, S. 513 – 519. Baisch, Amalie: Die Schriftstellerin [1889]. In: Bildung und Kultur bürger­licher Frauen 1850 – 1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weib­lichen literarischen Sozialisation. Hg. von Günter Häntzschel. Tübingen 1986, S. 295 – 298. Bartels, Adolf: Deutsche Dichtung von Hebbel bis zur Gegenwart (Die Alten und die Jungen). Ein Grundriß. Dritter Teil. Die Jüngsten. 10.–12. Aufl. Leipzig 1922. Bartels, Adolf: Geschichte der deutschen Literatur. 2 Bde. Leipzig 1901/02. Bartels, Adolf: Hauptwerke zur deutschen Literaturgeschichte. Erster bis dritter Band. Teil 3: Die neuste Zeit. Große Ausgabe. Leipzig 1928. Boy-Ed, Ida: An Deutschlands Frauen. In: Die Woche 17 (1915), Nr. 5, S. 144 f. Brümmer, Franz: Elise Polko. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 53. Leipzig 1907, S.  95 – 98. Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Frankfurt a. M. u. a. 1957. Fontane, Theodor: Die gesellschaft­l iche Stellung der Schriftsteller [Erschienen in „Das Maga­ zin für Litteratur“ 60 (1891), Nr. 52, S. 818 – 919]. In: Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890 – 1910. Hg. von Erich Ruprecht / Dieter Bänsch. Stuttgart 1970, S. 1 – 4. Gallwitz, Dorothee: Zum Kampf der Künstlerinnen. In: Die Frau 14 (1906), H. 3, S. 173 – 177. Geißler, Max: Führer durch die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Weimar 1913. Heyse, Paul: Einleitung [1871]. In: Theorie und Kritik der Novelle von Wieland bis Musil. Hg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen 1970, S. 141 – 149.

485

486

Quellen- und Literaturverzeichnis

Heyse, Paul: Meine Novellistik [1900]. In: Novelle. Hg. von Josef Kunz. Darmstadt 1973, S.  74 – 78. Jessen, Jarno (d. i. Anna Michaelson): Im Berliner Deutschen Frauen-Klub. In: Moderne Kunst. Illustrierte Zeitschrift 13 (1899), Vierzehntagsheft-Ausgabe H. 21, S. 340 – 342. Kerr, Alfred: Sudermann: Bis zum „Glück im Winkel“. In: Deutsche Literaturkritik. Vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik (1889 – 1933). Hg. von Hans Mayer. Frankfurt a. M. 1978, S. 78 – 98. Lange, Helene: Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen. 2. Aufl. Leipzig 1914. Lange, Helene: Kampfzeiten. Bd. 1. Aufsätze und Reden aus vier Jahrzehnten. Berlin 1928. Lange, Helene: Lebenserinnerungen. Berlin 1925. Lange, Helene: Was wir wollen. In: Die Frau 1 (1893/94), H. 1, S. 1 – 4. Lange, Helene: Zur „Kalamität“ des Frauenstudiums. In: Die Frau 9 (1901/02), H. 9, S. 243 – 247. Levy-Rathenau Josephine / Wilbrandt, Lisbeth: Die deutsche Frau im Beruf. Praktische Ratschläge zur Berufswahl (= Handbuch der Frauenbewegung 5, hg. von Helene Lange und Gertrud Bäumer). Berlin 1906. Leyden, Maria von: Klubs und Klubhäuser. In: Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau des X X . Jahrhunderts. Hg. von Ada Schmidt-Beil. Berlin 1931, S. 504 – 506. Mielke, Hellmuth / Homann, Hans-Joachim: Der deutsche Roman des 19. und 20. Jahrhunderts. 7. Aufl. (Neuausgabe) Dresden 1920. N. N.: Die schaffende Frau. In: Illustrierte Frauen-Zeitung 34 (1907), H. 19 (1. Okt.), Titelseite. N. N.: Emmi Lewald. Verfasserin unseres Romans „Sylvia“. In: Über Land und Meer 91 (1904), H. 25, S. 562. Ompteda, Georg Freiherr von: Der Dichter und der Krieg. In: Die Woche 17 (1915), Nr. 31 (31. Juli), S. 1081 – 1083. Osborn, Max: Die Frauen in der Litteratur und der Presse. 3. Tsd. Berlin 1896. Petersilie, Erich: Die Beamtengehälter in Preußen einst und jetzt. In: Die Woche 7 (1905), Nr. 15, S. 618 – 620. Pfau, Karl Friedrich: Alexander Duncker. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 48. Leipzig 1904, S. 168 f. Pleitner, Emil: Oldenburg im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Von 1848 – 1900. Oldenburg 1900. Preuschen-Telmann, Hermione von: Über das künstlerische Studium der Frau (1896). In: Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten. Hg. Carola M ­ uysers. Amsterdam u. a. 1999, S. 73 – 76. Prutz, Robert: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848 – 1858. Bd. 2. Leipzig 1859. Puttkamer, Alberta von: Die Pf­licht zur höheren Geselligkeit. In: Die Woche 11 (1909), Nr. 11 (12. März), S. 454 – 456. Robert, Ada: Die Pf­lichten des Gesellschaftslebens. Die Familie. Plauderei. In: Die Woche 10 (1908), Nr. 39 (26. Sept.), S. 1675 – 1677. „Rolandseck und Drachenfels“. In: Der Oldenburgische Hauskalender 1948. 122. Jg., S. 26. Schiller, Friedrich: Der Handschuh. Erzählung. In: Schillers Werke. 4. Bd.: Dramen IV, Gedichte. Köln 1999, S. 254 – 256. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 1984, S. 192 – 204. Spiero, Heinrich: Geschichte der deutschen Frauendichtung seit 1800. Leipzig 1913. Spiero, Heinrich: Ilse Frapan. In: Das literarische Echo 10 (1907/08), H. 8, Sp. 540.

Zeitungen und Zeitschriften

Strahlmann, Fritz: Unsere lieben Leutnants. Eine literarische Sensation Oldenburgs. In: Der oldenburgische Hauskalender oder Hausfreund auf das Jahr 1933. 107. Jg. Oldenburg, S. 21 – 23. Weber, Marianne: Max Weber. Ein Lebensbild. Mit 13 Tafeln und 1 Faksimile. 3. Aufl., ­unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. 1926, ergänzt um Register und Verzeichnisse von Max Weber-Schäfer. Tübingen (Digitale Bibliothek 58: Max Weber). Wiegand, Johannes: Die Frau in der modernen Literatur. Plaudereien. Bremen 1903. Wöbcken, Karl: Berichte über die Cäcilienschule zu Oldenburg. 1873 ff. Wöbcken, Karl: Die Bestimmung und Erziehung des Weibes. Ein Vortrag gehalten im literarisch-geselligen Verein zu Oldenburg. Oldenburg 1865. Wöbcken, Karl: Das Neue Testament und die Frauenfrage. 28. Bericht der Cäcilienschule. Oldenburg 1896. Wolzogen, Ernst von: Das Familienblatt und die Literatur. In: Das literarische Echo 9 (1906/07), H. 3, Sp. 177 – 185.

6.4 Zeitungen und Zeitschriften Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. Bis 7.1904/05: Das litterarische Echo. Stuttgart, Berlin Deutsche Verlagsanstalt. 1.1898/90 – 25.1922/23. Deutscher Lyceum-Club. Offizielles Organ des Deutschen Lyceum-Clubs: zugleich Mitteilungsblatt des Vereins der Künstlerinnen. Berlin 2.1907 – 29.1934. Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. Organ des Bundes Deutscher Frauenvereine“. Hg. von Helene Lange und Gertrud Bäumer. Berlin-Grunewald Herbig-Verlag 1.1893/94 – 51.1943/44. Nachrichten für Stadt und Land. Oldenburger Zeitung für Volk und Heimat. Oldenburg Scharf ca.  1866 – 1938. Oldenburger Zeitung. Oldenburg Stalling 1848 – 1893. Schrattenthal’s Rundschau. Zeitschrift für Frauen-Literatur, für der Frauen Kunst und Wissen. Preßburg 1.1894 – 2.1895.

6.5 Nachschlagewerke Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Hg. durch die Historische Kommission bei der König­lichen Akademie der Wissenschaften. Leipzig 1875 – 1912. Benz, Wolfgang / Graml, Hermann / Weiß, Hermann (Hg.): Enzyklopädie des National­ sozialismus. Stuttgart 1997. Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 1. Hamm 1990. Boedecker, Elisabeth: Die Frau. Begründet und herausgegeben von Helene Lange, Gertrud Bäumer und Frances Magnus-von Hausen. Jahrgänge 1 – 50 – 1893/94 – 1942/43 nebst Anhang: Jahrgang 51 – 1943/44 (letzter Jahrgang). Gesamtverzeichnis der Aufsätze. Nach Fachgebieten in chronologischer Folge mit alphabetischem Verfasser- und Namensregister. Hannover 1968. Borchmeyer, Dieter / Zmegač, Viktor: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 1994. Brinker-Gabler, Gisela / Ludwig, Karola / Wöffen, Angela: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800 – 1945. München 1986.

487

488

Quellen- und Literaturverzeichnis

Brümmer, Franz (Bearb.): Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. 4. Bd. 6. völlig neu bearb. und stark verm. Aufl. Leipzig 1913. Budke, Petra / Schulze, Jutta: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu L ­ eben und Werk. Berlin 1995. Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen u. a. 1995. Deutsches Biographisches Jahrbuch. Hg. vom Verband der Deutschen Akademien. Überleitungsband I: 1914 – 1916, Totenliste 1914. Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begr. von Wilhelm Kosch, Hg. von Carl Ludwig Lang und teilw. von Heinz Rupp. Bern u. a. 1968 ff. Dietrich, F. (Hg.): Bibliographie der Deutschen Rezensionen mit Einschluss von Referaten und Selbstanzeigen. Supplement zur Bibliographie der deutschen Zeitschriften-Literatur. Band Iff. New York 1962. Eckhardt, Albrecht (Hg. in Zusammenarb. mit Heinrich Schmidt): Geschichte des Landes Oldenburg. Ein Handbuch. 4. Aufl. Oldenburg 1993. Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 26. Bde. in zwei Teilen, begr. von Friedrich Blume. 2., neubearbeitete Aufl. Kassel u. a. 2004. Friedl, Hans u. a. (Hg.): Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Oldenburg 1992. Friedrichs, Elisabeth: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Lexikon. Stuttgart 1981. Nebst dem Manuskript zu der Publikation (Standort: Bibliothek des Literaturarchivs Marbach, Mediennummer BF 000174449). Gässe, Johann Georg Theodor: Sagenbuch des preußischen Staates. Bd. 1. Glogau 1868/71, URL : http://www.zeno.org/nid/20004936213 (Zugriff 27.03.2014). Keckeis, Gustav (Chef der Red.): Lexikon der Frau in zwei Bänden. Bd. 2. Zürich 1953. Kroll, Renate (Hg.): Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Stuttgart 2002. Kürschner, Joseph (Hg.): Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr. Leipzig 5.1883 – 24.1902. Kürschner, Joseph (Hg.): Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Berlin u. a. 25.1903 ff. Loster-Schneider, Gudrun / Pailer, Gabi (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen 1730 – 1900. Tübingen u. a. 2006. Lülfing, Hans: Joseph Kürschner. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13. Berlin 1982, S. 234 – 236 Mende, Hans-Jürgen: Lexikon Berliner Grabstätten. Pößneck 2006. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 10. 6. Aufl. Leipzig 1907. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 4. gänzl. umgearb. Aufl. 16 Bde. Leipzig Bibliographisches Institut 1885 – 1890. Müller, Hermann Alexander: Biographisches Künstler-Lexikon der Gegenwart. Die bekanntesten Zeitgenossen auf dem Gesamtgebiet der bildenden Künste aller Länder mit Angabe ihrer Werke. Leipzig 1882. Muysers, Carola (Bearb.): Käthe, Paula und der ganze Rest. Ein Nachschlagewerk. Hg. vom Verein der Berliner Künstlerinnen e. V. Berlin 1992. Neubert, Franz (Hg.): Deutsches Zeitgenossen-Lexikon. Biographisches Handbuch deutscher Männer und Frauen der Gegenwart. Leipzig 1905.

Forschungsliteratur

Overschelp, Reinhard (Hg.): Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV ) 1911 – 1965. Bd. 80 u. Bd. 108. München 1978. Pataky, Sophie (Hg.): Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weib­licher Autoren nebst Biographien der lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme. Berlin 1898 [Nachdruck Bern 1971]. Poppe, Franz: Album Oldenburgischer Dichter. Eine Festgabe. 2., neu bearb. und erg. Aufl. Oldenburg u. a. 1897. Schmuck, Hilmar / Gorzny, Willi (Bearb.): Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV ) 1700 – 1910. Bd. 88 u. 119. München u. a. 1983. Thiel, Peter (Hg.): Literarisches Jahrbuch. Jahres-Rundschau über die literarischen Erzeugnisse deutscher Zunge auf schöngeistigem, dramatischem und musikdramatischem Gebiet verbunden mit einem Lexikon der lebenden deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen. 1.1902. Köln am Rhein 1903.

6.6 Forschungsliteratur Anz, Thomas / Baasner, Rainer (Hg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. 2. Aufl. München 2007. Ariès, Philippe (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Bd. 4: Von der Revolution zum großen Krieg. Hg. von Michelle Perrot. Frankfurt a. M. 1992. Austermühl, Elke: Lyrik der Jahrhundertwende. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 350 – 366. Bayer, Dorothee: Der triviale Familien- und Liebesroman im 20. Jahrhundert. Mit einem Beitrag von Rudolf Schenda. 2. Aufl. Tübingen 1971. Becker, Eva D.: „Zeitungen sind doch das Beste“. Bürger­liche Realisten und der Vorabdruck ihrer Werke in der periodischen Presse. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft­liche Studien. Hg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969, S. 382 – 408. Becker, Sabina: Bürger­licher Realismus. Literatur und Kultur im bürger­lichen Zeitalter 1848 – 1900. Tübingen u. a.  2003. Berbig, Roland: Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. Unter Mitarb. von Bettina Hartz. Berlin 2000. Berg-Ehler Luise: Theodor Fontane und die Literaturkritik. Zur Rezeption eines Autors in der zeitgenössischen konservativen und liberalen Berliner Tagespresse. Bochum 1990. Berghoff, Hartmut: Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich – Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten. In: Adel und Bürgertum in Deutschland. Hg. von Heinz Reif. Berlin 2000, S. 233 – 271. Berghoff, Hartmut: Aristokratisierung des Bürgertums? Zur Sozialgeschichte der Nobilitierung von Unternehmern in Preußen und Großbritannien 1870 bis 1918. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 178 – 204. Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim a. Glan 1970. Berman, Russel A.: Literarische Öffent­lichkeit. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 8: Jahrhundertwende. Vom Naturalismus zum Expressionismus 1880 – 1918. Hg. von Frank Trommler. Reinbek b. Hamburg 1982, S. 69 – 85.

489

490

Quellen- und Literaturverzeichnis

Berman, Russel A.: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933. In: Geschichte der deutschsprachigen Literaturkritik (1730 – 1980). Hg. von Peter Uwe Hohendahl. Stuttgart 1985, S.  205 – 274. Bezirksamt Schöneberg / Kunstamt Schöneberg (Hg.): „Ich bin meine eigene Frauenbewegung“. Frauen-Ansichten aus der Geschichte einer Großstadt. (Zur Ausstellung „In Bewegung – Frauen einer Großstadt“ im Haus am Kleistpark vom 21. 6.–8. 9. 1991). Berlin 1991. Bland, Caroline / Müller-Adams, Elisa: Weib­liche Beteiligung an der literarischen Öffent­ lichkeit des langen 19. Jahrhunderts. In: Frauen in der literarischen Öffent­lichkeit 1780 – 1918. Hg. von Caroline Bland / Elisa Müller-Adams. Bielefeld 2007, S. 9 – 25. Bloch, Robert N.: Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek (1884 – 1930). Eine Bibliographie. Gießen 2006. Boetcher Joeres, Ruth-Ellen: Frauenfrage und Belletristik: Zu den Positionen deutscher sozial­ kritischer Schriftstellerinnen im 19. Jahrhundert. In: „Frauen sehen ihre Zeit“. Katalog zur Literaturausstellung des Landesfrauenbeirates Rheinland-Pfalz. Hg. vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Umwelt Rheinland-Pfalz. Mainz 1984, S. 21 – 40. Bonter, Urszula: Der Populärroman in der Nachfolge von E. Marlitt. Wilhelmine Heimburg, Valeska Gräfin Bethusy-Huc, Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem. Würzburg 2005. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaft­lichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M. 1982. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M. 1999. Braun, Rudolf: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Adel im 19. Jahrhundert. In: Europäischer Adel 1750 – 1950. Hg. von Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1990, S. 87 – 95. Brinker-Gabler, Gisela: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert. München 1988. Brinker-Gabler, Gisela: Die Schriftstellerin in der deutschen Literaturwissenschaft. Aspekte ihrer Rezeption von 1935 – 1910. In: Die Unterrichtspraxis/Teaching German 9 (1976), Nr. 1, S.  15 – 28. Brinker-Gabler, Gisela: Perspektiven des Übergangs. Weib­liches Bewußtsein und frühe ­Moderne. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von ­Gisela Brinker Gabler. München 1988, S. 169 – 204. Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. Budde, Gunilla: Blütezeit des Bürgertums. Bürger­lichkeit im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2009. Burdorf, Dieter: Einführung in die Lyrikanalyse. 2. Aufl. Stuttgart 1997. Bussemer, Herrad U.: Bürger­liche Frauenbewegung und männ­liches Bildungsbürgertum 1860 – 1880. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988. Bussemer, Herrad-Ulrike: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit. Weinheim u. a. 1985. Cardinal, Agnès: Alternative Mythen? Frauen schreiben über den Ersten Weltkrieg. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Thea­ter, Photographie und Film. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg; Der Erste Weltkrieg. Hg. von Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999, S. 389 – 398. Daemmrich, Horst S.: Krieg aus Sicht der Themengeschichte. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und

Forschungsliteratur

Film. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg; Der Erste Weltkrieg. Hg. von Thomas F. ­Schneider. ­Osnabrück 1999, S. 1 – 13. Dainat, Holger: Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart u. a. 1994, S.  494 – 537. Dehning, Sonja: Tanz der Feder. Künstlerische Produktivität in Romanen von Autorinnen um 1900. Würzburg 2000. Dölemeyer, Barbara: Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Ute Gerhard. München 1997, S. 633 – 658. Dörner, Andreas / Vogt, Ludgera: Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätsgeschichte – Zivi­li­ sationstheorie). In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus-Michael B ­ ogdal. 2. Aufl. Opladen 1997. Doerry, Martin: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs. Weinheim u. a. 1986. Drescher, Barbara: Die ‚neue‘ Frau. In: Autorinnen der Weimarer Republik. Hg. von Walter Fähnders und Helga Karrenbrock. Bielefeld 2003, S. 163 – 186. Deutsche Verlags-Anstalt: 125 Jahre Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 1973. Ebert, A.: 300 Jahre Meyersche Hofbuchhandlung. In: Heimatland Lippe 57 (1964), S. 110 f. Eicke, Gerda: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland, untersucht an der Zeitschrift „Die Frau“ 1893 – 1914. Prüfungsarbeit masch. Oldenburg 1974. Encke, Julia: Kopierwerke. Bürger­liche Zitierkultur in den späten Romanen Fontanes und Flauberts. Frankfurt a. M. 1998. Estermann, Monika / Füssel, Stephan: Belletristische Verlage. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918, Teil 2. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 164 – 299. Fink, Monika: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 1996. Fischer, Ernst / Füssel, Stephan (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 2: Die Weimarer Republik 1918 – 1933, Teil 1. München 2007. Frevert, Ute: Bürger­liche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Hg. von Ute Frevert mit ­einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 17 – 48. Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen bürger­licher Verbesserung und neuer Weib­lichkeit. Frankfurt a. M. 1986. Frevert, Ute: „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der ­Moderne. München 1995. Frevert, Ute (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988. Frühwald, Wolfgang: Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitats in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Hg. von Reinhart Koselleck. Stuttgart 1990, S. 197 – 219.

491

492

Quellen- und Literaturverzeichnis

Füssel, Stephan: Das Autor-Verleger-Verhältnis in der Kaiserzeit. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hansers ­Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 137 – 154. Fuhrmann, Dietmann / Muysers, Carola (Ausstellungskonzept. und Katalogred.): Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen (Ausstellung 11. Sept. bis 1. Nov. 1992). Berlin 1992. Fuhrmann, Manfred: Der europäische Bildungskanon des bürger­lichen Zeitalters. Frankfurt a. M. u. a. 1999. Genette, Gerard: Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Honig. Frankfurt a. M. 1989. Gerhard, Ute: Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. München 2009. Gerhard, Ute: Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffent­lichkeit. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Ute Gerhard. München 1997, S. 509 – 546. Gerhard, Ute: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Unter Mitarb. von Ulla Wischermann. Reinbek 1990. Gnüg, Hiltrud / Möhrmann, Renate (Hg.): Frauen-Literatur-Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 1985. Goch, Klaus: Elisabeth Förster-Nietzsche. Ein biographisches Porträt. In: Schwestern ­berühmter Männer. Zwölf biographische Portraits. Hg. von Luise Pusch. Frankfurt a. M. 1985, S. 361 – 413. Graf, Andreas: Familien- und Unterhaltungszeitschriften. In: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918, Teil 2. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 409 – 522. Greven-Aschoff, Barbara: Die bürger­liche Frauenbewegung in Deutschland 1894 – 1933. Göttingen 1981. Gutjahr, Ortrud: Einführung in den Bildungsroman. Darmstadt 2007. Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 – 1850). Göttingen 2000. Hacker, Lucia: Schreibende Frauen um 1900. Rollen – Bilder – Gesten. Berlin 2007. Häntzschel, Günter (Hg.): Bildung und Kultur bürger­licher Frauen 1850 – 1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weib­lichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986. Häntzschel, Günter: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914. Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1997. Häntzschel, Günter: Für „fromme, reine und stille Seelen“. Literarischer Markt und ‚weib­liche’ Kultur im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S. 119 – 128. Häntzschel, Günter: Geschlechterdifferenz und Literaturvermittlung im ausgehenden 19. Jahrhundert. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hansers Sozial­geschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 53 – 63. Häntzschel, Günter: Literatur und Krieg. Aspekte der Diskussion aus der Zeitschrift „Das literarische Echo“. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München 1996, S. 209 – 219.

Forschungsliteratur

Häntzschel, Günter: Lyrikvermittlung durch Anthologien im Jahr 1890. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hg. von Robert Leroy, Eckhart Pastor. Bern u. a. 1991, S. 147 – 169. Hahn, Barbara: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen. Frankfurt a. M. 1991. Hahn, Peter: Berliner Friedhöfe in Stahnsdorf. Geschichte – Geschichten – Personen. Baden­ weiler 2010. Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“– Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie der Neuzeit Europas. Hg. von Werner Conze. Stuttgart 1976, S. 363 – 393. Hausen, Karin: „…eine Ulme für das schwankende Efeu.“ Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirk­lichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 85 – 117. Hegele, Wolfgang: Literaturunterricht und literarisches Leben in Deutschland (1850 – 1990). Historische Darstellung – Systematische Erklärung. Würzburg 1996. Hempel, Dirk (Hg.): Literatur und bürger­liche Frauenbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Forschungsberichte und Studien. Hamburg 2010, URL: http://­publikationen. ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/20370 (Zugriff 17.05.2012). Hertz, Deborah: Die jüdischen Salons im alten Berlin. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Neumann-Kloth. Frankfurt a. M. 1991. Heydebrand, Renate von / Winko, Simone: Arbeit am Kanon: Geschlechterdifferenz in der Rezeption und Wertung von Literatur. In: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kultur­ wissenschaften. Hg. von Hadumod Bußmann u. Renate Hof. Stuttgart 1995, S. 206 – 261. Heydebrand, Renate von / Winko, Simone: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen. In: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994), H. 2, S. 96 – 169. Hildebrandt, Irma: Vom Eintritt der Frau in die Literatur. Schreibend das Leben bewältigen. München 1983. Hodenberg, Christina von: Der Fluch des Geldsacks. Der Aufstieg des Industriellen als Heraus­forderung bürger­licher Werte. In: Der bürger­liche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Hg. von Manfred Hettling u. Stefan-Ludwig Hoffman. Göttingen 2000, S.  79 – 104. Hohendahl, Peter Uwe: Bürger­liche Literaturgeschichte und nationale Identität. Bilder vom deutschen Sonderweg. In: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3. Hg. von Jürgen Kocka unter Mitarb. von Ute Frevert. München 1988, S.  200 – 231. Hohendahl, Peter Uwe: Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830 – 1870. München 1985. Hohendahl, Peter Uwe: Literaturkritik in der Epoche des Liberalismus (1820 – 1870). In: ­Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730 – 1980). Hg. von Peter-Uwe Hohendahl. Stuttgart 1985, S. 129 – 204. Jäger, Georg: Das Zeitschriftenwesen. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918, Teil 2. Hg. im Auftrag der historischen Kommission von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 368 – 389.

493

494

Quellen- und Literaturverzeichnis

Jäger, Georg: Das Zeitungsfeuilleton als literaturwissenschaft­liche Quelle. Probleme und Pers­ pektiven seiner Erschließung. In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Zweites Kolloquium zur Bibliographischen Lage in der Germanistischen Literaturwissenschaft, veranst. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 23.–25. Sept. 1985. Hg. von Wolfgang Martens. Weinheim 1987, S.  53 – 71. Jäger, Georg (Hg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918, Teil 2. Frankfurt a. M. 2003. Janz, Marlies: „Die Frau“ und „das Leben“. Weib­lichkeitskonzepte in der Literatur und Theorie um 1900. In: Faszination des Organischen: Konjunkturen einer Kategorie der Moderne. Hg. von Hartmut Eggert u. Erhard Schütz, Peter Sprengel. München 1995, S. 37 – 52. Jensen, Susanne: „Wo sind die weib­lichen Mäzene…?“ Private Kunstförderung im „Verein der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“. In: Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Ausstellung 11. Sept. bis 1. Nov. 1992. Ausstellungskonzept. u. Katalogred. Dietmann Fuhrmann u. Carola Muysers. Berlin 1992, S. 299 – 310. Jost, Werner: Gedichte auf Bilder. In: Neun Kapitel Lyrik. Hg. von Gerhard Köpf. Paderborn u. a.  1984, S.  202 – 212. Junker, Klaus: Die attischen Dreifigurenreliefs. In: Standorte. Kontext und Funktion antiker Skulptur. Ausstellung in der Abguß-Sammlung antiker Plastik des Seminars für Klassische Archäologie an der FU Berlin, 29.11.1994 – 4.6. 1995. Hg. von Klaus Stemmer. Berlin 1995, S.  293 – 298. Kaloyanova-Slavova, Ludmila: Übergangsgeschöpfe. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska zu Reventlow. New York u. a. 1998. Karl, Michaela: Die Geschichte der Frauenbewegung. Stuttgart 2011. Kaschuba, Wolfgang: Deutsche Bürger­lichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis. In: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3. Hg. von Jürgen Kocka unter Mitarb. von Ute Frevert. München 1988, S. 9 – 44. Kastner, Barbara: Statistik und Topographie des Verlagswesens. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Das Kaiserreich 1871 – 1918, Teil 2. Hg. von Georg Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 300 – 367. Keck, Annette / Günter, Manuela: Weib­liche Autorschaft und Literaturgeschichte: Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 26 (2001), H. 2, S. 201 – 233. Kindt, Tom: Novelle. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. von Dieter Lamping in Zusammenarb. mit Sandra Poppe. Stuttgart 2009, S. 540 – 548. Kirchner, Joachim: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und Probleme. Teil 2: Vom Wiener Kongress bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1962. Kirschner, Thomas: Ein schnell verglühter Stern am Literaturhimmel. Zum 150. Geburtstag der Prager deutschen Schriftstellerin Ossip Schubin (1854 – 1934). URL : http://www.radio. cz/de/artikel/61487/limit (Zugriff am 06.07.2010). Klaßen, Angela: Mädchen- und Frauenbildung im Kaiserreich 1871 – 1918. Emanzipatorische Konzepte bei Helene Lange und Clara Zetkin. Würzburg 2003. Kliewer, Annette: Frauen zwischen den Fronten? Der Erste Weltkrieg in der Sicht von Schriftstellerinnen aus dem Elsaß, Lothringen und dem Saarland. In: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und

Forschungsliteratur

Film. Bd. 1: Vor dem Ersten Weltkrieg; Der Erste Weltkrieg. Hg. von Thomas F. Schneider. Osnabrück 1999, S. 233 – 248. Kocka, Jürgen: Bürgertum und bürger­liche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten. In: Bürgertum im 19. Jahrhundert in Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 1. Hg. von Jürgen Kocka unter Mitarb. von Ute Frevert. München 1988, S. 11 – 75. Koester, Eckart: ‚Kultur‘ versus ‚Zivilisation‘. Thomas Manns Kriegspublizistik als weltanschau­l ich-ästhetische Standortsuche. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. ­Mommsen. München 1996, S. 249 – 258. Koopmann, Helmut: Gesellschafts- und Familienromane der frühen Moderne. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 323 – 338. Kord, Susanne: Sich einen Namen machen. Anonymität und weib­liche Autorschaft 1700 – 1900. Stuttgart 1996. Koselleck, Reinhart (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990. Kraft-Schwenk, Christa: Ilse Frapan. Eine Schriftstellerin zwischen Anpassung und Emanzipation. Würzburg 1985. Kranz, Gisbert: Das Bildgedicht: Geschicht­liche und poetologische Betrachtungen. In: Litera­ tur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hg. von Ulrich Weisstein. Berlin 1992, S. 152 – 157. Kübler, Gunhild: Die soziale Aufsteigerin. Wandlung einer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung im deutschen Roman 1870 – 1900. Bonn 1982. Kutzbach, Karl August: Keckeis, Gustav. In: Neue deutsche Biographie (NDB). Bd. 11. Berlin 1977 Langenbucher, Wolfgang R.: Die Demokratisierung des Lesens in der zweiten Leserevolution. Dokumentation und Analyse. Zum 150. Jahrestag der Gründung des Börsenvereins der deutschen Buchhändler am 30. April 1825. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. Frankfurt a. M. 1975, S. 12 – 35. Lenz, Bernd: Intertextualität und Gattungswechsel. Zur Transformation literarischer Gattungen. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich u. Manfred Pfister. Tübingen 1985, S. 158 – 178. Lohrer, Liselotte: Cotta. Geschichte eines Verlages 1659 – 1959. Stuttgart 1959. Lundgreen, Peter: Bildung und Bürgertum. In: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986 – 1997). Hg. von Peter L ­ undgreen. Göttingen 2000, S. 173 – 194. Magerski, Christine: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen 2004. Martino, Alberto: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756 – 1914). Wiesbaden 1990. Mayer, Hans (Hg.): Deutsche Literaturkritik. Vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik (1889 – 1933). Frankfurt a. M. 1978. Mecklenburg, Norbert: Zur Poetik, Narratologie und Ethik der Gänsefüßchen. Theodor Fontane nach der Postmoderne. In: Instrument Zitat. Über den literaturhistorischen

495

496

Quellen- und Literaturverzeichnis

und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren. Hg. von Klaus Beekman u. Ralf ­ rüttemeier. Amsterdam u. a. 2000, S. 165 – 185. G Meyer, Sibylle: Das Theater mit der Hausarbeit. Bürger­liche Repräsentation in der Familie der wilhelminischen Zeit. Frankfurt a. M. 1982. Ministerium für Soziales, Gesundheit und Umwelt Rheinland-Pfalz (Hg.), Maria Böhmer (Red.): „Frauen sehen ihre Zeit“. Katalog zur Literaturausstellung des Landesfrauenbeirates Rheinland-Pfalz. Speyer 1984. Mommsen, Wolfgang J.: Deutsche kulturelle Eliten im Ersten Weltkrieg. In: Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München 1996, S. 1 – 15. Müller, Hans Harald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Repu­ blik. Stuttgart 1986. Muysers, Carola (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855 – 1945. Amsterdam u. a. 1999. Neuschäfer, Hans-Jörg: Das Autonomiestreben und die Bedingungen des Literaturmarktes. Zur Stellung des „freien Schriftstellers“ im 19. Jahrhundert. In: Der Diskurs der Literaturund Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe. Hg. von Bernard Cerquiglini u. Hans-Ulrich Gumbrecht. Frankfurt a. M. 1983, S. 556 – 579. Niemeyer, Christian: „die Schwester! Schwester! ’s klingt so fürchter­lich!“ Elisabeth FörsterNietzsche als Verfälscherin der Briefe und Werke ihres Bruders – eine offenbar notwendige Rückerinnerung. In: Nietzscheforschung 16 (2009), S. 335 – 355. Nittke, Charlotte: Isolde Kurz und ihre Verleger. Geschichte der Buchveröffent­l ichungen ­einer Erfolgsautorin zwischen 1888 und 1944. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 34 (1990), S. 1 – 115. N. N.: Blätter für literarische Unterhaltung. URL : http://www.haraldfischerverlag.de/hfv/ KLP/klp_17.php (Zugriff am 02.06.2010). N. N.: Geschichte des Deutschen Lyceum-Clubs. URL : http://www.lyceumclub–berlin.de/ lyc_index.php (Zugriff am 06.01.2011). Nolte, Paul: Georg Simmels Historische Anthropologie der Moderne. Rekonstruktion eines Forschungsprogramms. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozial­ wissenschaften 24 (1998), S. 225 – 247. Obenaus, Sibylle: Literarische und politische Zeitschriften 1848 – 1880. Stuttgart 1987. Parr, Rolf (unter der Mitarb. von Jörg Schönert): Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930. Heidelberg 2008. Pfohlmann, Oliver: Literaturkritik in der literarischen Moderne. In: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. von Thomas Anz u. Rainer Baasner. 2. Aufl. München 2007, S. 94 – 113. Pfohlmann, Oliver: Literaturkritik in der Weimarer Republik. In: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. von Thomas Anz u. Rainer Baasner. 2. Aufl. München 2007, S. 114 – 219. Prein, Philipp: Bürger­liches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen. Münster 2005. Rabe, Christine Susanne: Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Die Krause-Schule und die bürger­liche Frauenbewegung im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2006. Rischke, Anne-Susanne: Die Lyrik in der „Gartenlaube“ 1853 – 1903. Untersuchungen zu Thematik, Form und Funktion. Frankfurt a. M. u. a. 1982.

Forschungsliteratur

Rosenbaum, Heidi: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1982. Rosenberg, Rainer: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin 1981. Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998. Sander, Sabine: Kein einig Volk von Schwestern. In: „Ich bin meine eigene Frauenbewegung“. Frauenansichten aus der Geschichte einer Großstadt. Zur Ausstellung „In Bewegung – Frauen einer Großstadt“ im Haus am Kleistpark vom 21. 6. – 8. 9. 1991. Hg. vom Bezirksamt Schöneberg, Kunstamt Schöneberg. Berlin 1991, S. 64 – 69. Sander, Sabine: Nur für geladene Gäste. Der „Deutsche Lyzeum-Club“. In: „Ich bin meine eigene Frauenbewegung“. Frauenansichten aus der Geschichte einer Großstadt. Zur Ausstellung „In Bewegung – Frauen einer Großstadt“ im Haus am Kleistpark vom 21. 6. – 8. 9. 1991. Hg. vom Bezirksamt Schöneberg, Kunstamt Schöneberg. Berlin 1991, S. 52 – 57. Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland 1848 – 1933. Darmstadt 2006. Schaser, Angelika: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln u. a. 2000. Scheideler, Britta: Zwischen Beruf und Berufung. Zur Sozialgeschichte der deutschen Schriftsteller von 1880 bis 1933. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 46 (1997), S. 1 – 336. Schieckel, Harald: Bemerkungen zu Emil Rolands Charakterstudien „Unsre lieben Lieutenants“. In: Mitteilungsblatt der Oldenburgischen Landschaft Nr. 107/108, 2./3. Quartal 2000, S. 5 – 6. Schieckel, Harald: Familiengeschicht­liche und autobiographische Aufzeichnungen des olden­ burgischen Ministers Günther Jansen (1831 – 1914). In: Oldenburgische Familienkunde 32 (1990), H. 2/3, S. 189 – 236. Schieckel, Harald: Hauch einer kleinen Residenz (Erinnerungen von Benno Eide Siebs an Gerhard Jansen, 1872 – 1954, Sohn des oldenburgischen Ministers Günther Jansen). In: Olden­burger Jahrbuch 88 (1988), S. 29 – 41. Schieckel, Harald: Zu Emmi Lewalds Schlüsselroman „Unter den Blutbuchen“ (1915). In: Mitteilungsblatt der Oldenburgischen Landschaft Nr. 96, 3. Quartal 1997, S. 10 – 13. Schieckel, Harald: Zur Sozialstruktur der Stadt Oldenburg um 1900. In: Oldenburg um 1900. Beiträge zur wirtschaft­lichen, sozialen und kulturellen Situation des Herzogtums Oldenburg im Übergang zum industriellen Zeitalter. Hg. von der Handwerkskammer Oldenburg. Oldenburg 1975. Schlawe, Fritz: Literarische Zeitschriften. Teil 1: 1885 – 1910. Stuttgart 1961. Schlawe, Fritz: Literarische Zeitschriften. Teil 2: 1910 – 1933. Stuttgart 1962. Schmaußer, Beatrix: Blaustrumpf und Kurtisane. Bilder der Frau im 19. Jahrhundert. Hg. von Peter Dinzelbacher. Zürich 1991. Schön, Erich: Geschichte des Lesens. In: Handbuch Lesen. Hg. von Bodo Franzmann u. a. unter Mitarb. von Georg Jäger. München 1999, S. 1 – 85. Schröder, Iris: Der „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“ und die Frauen­bewegung vor dem Ersten Weltkrieg 1867 – 1914. In: Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Ausstellung 11. Sept. bis 1. Nov. 1992. Ausstellungskonzept. und Katalogred. Dietmann Fuhrmann, Carola Muysers. Berlin 1992, S. 375 – 381. Schuchardt, Walter Herwig: Das Orpheus-Relief. Einführung. 2. Aufl. Stuttgart 1964.

497

498

Quellen- und Literaturverzeichnis

Schütze, Yvonne: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürger­lichen Familie des 19. Jahrhunderts. In: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Hg. von Ute Frevert mit einem Vorw. von Jürgen Kocka. Göttingen 1988, S. 118 – 133. Schumann, Andreas: „Der Künstler an die Krieger“. Zur Kriegsliteratur kanonisierter Autoren. In: Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Hg. von Wolfgang J. Mommsen. München 1996, S. 220 – 233. Schwab, Dieter: Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert. In: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Ute Gerhard. München 1997, S. 790 – 827. Sieferle, Rolf Peter / Zimmermann, Clemens: Die Stadt als Rassengrab. In: Die Großstadt als „Text“. Hg. von Manfred Smuda. München 1992, S. 53 – 71. Sieler, Gottfried: 200 Jahre Bücher am Schloßplatz. Von der Schulzeschen Buchhandlung zur Buchhandlung Anna Thye. Mit einem Ausblick von Gerda Fritz. Oldenburg 2000. Soltau, Heide: Die Anstrengungen des Aufbruchs. Romanautorinnen und ihre Heldinnen in der Weimarer Zeit. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S. 220 – 235. Spreitzer, Brigitte: TEXTUREN. Die österreichische Moderne der Frauen. Wien 1999. Spreitzer, Brigitte: Zur Erforschung der Literatur von Frauen in der Moderne. Theoretische Prämissen. In: newsletter MODERNE 2 (1999) H. 1, S. 15 – 18. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 9,1). Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 9,2). Stadt Oldenburg, der Oberstadtdirektor (Hg.): Weiber-Geschichten: Frauenalltag in Oldenburg 1800 – 1918. Ausstellung und Katalog Gabriele Beckmann. 3. Aufl. Oldenburg 1988. Steinberg, Ruth: Emil Roland: „Unsre lieben Lieutenants“ (1888). Eine kulturhistorische Unter­ suchung zu der oldenburgischen Schriftstellerin Emmi Jansen (1866 – 1946). Magisterarbeit masch. Oldenburg 2005. Steinberg-Groenhof, Ruth: Die tragische Liebe des Orpheus und der Eurydike. Zum Grabmal von Felix und Emmi Lewald auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf des Landes Brandenburg. In: Kulturland Oldenburg. Zeitschrift der Oldenburgischen Landschaft Nr. 147, 1. Quartal 2011, S. 30 – 33. Stoehr, Irene: „Organisierte Mütter­lichkeit“. Zur Politik der deutschen Frauenbewegung um 1900. In: Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Karin Hausen. München 1983, S. 221 – 249. Streim, Gregor: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009. Stürmer, Michael: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866 – 1918. München 2004 (= Siedler deutsche Geschichte von der Reichsgründung bis zum Mauerfall 1866 – 1990). Tebben, Karin (Hg.): Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle. Darmstadt 1999. Thomé, Horst: Modernität und Bewusstseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890 – 1918. Hg. von York-­ Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 15 – 27.

Forschungsliteratur

Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht 1871 – 1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs. Durchges. und mit einem neuen Nachw. versehene Lizenzausgabe Frankfurt a. M. 2007. Volmert, Johannes: Ernst Jünger: „In Stahlgewittern“. München 1985. Weber-Kellermann, Ingeborg: Frauenleben im 19. Jahrhundert: Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit. München 1983. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der deutschen „Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914. München 1995. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949. München 2003. Wellek, René: Geschichte der Literaturkritik 1750 – 1950. Bd. 3: Das späte 19. Jahrhundert. Berlin u. a. 1977. Wienfort, Monika: Adelige Frauen in Deutschland 1890 – 1919. In: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Eckhart Conze u. Monika Wienfort. Köln u. a. 2004, S. 181 – 203. Wilhelmy-Dollinger, Petra: Die Berliner Salons und der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin. In: Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen. Ausstellung 11. September bis 1. November 1992. Ausstellungskonzept. und Kata­ logred. Dietmann Fuhrmann u. Carola Muysers. Berlin 1992, S. 339 – 352. Wilhelmy-Dollinger, Petra: Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen. Berlin u. a. 2000. Winckler, Lutz: Autor – Markt – Publikum. Zur Geschichte der Literaturproduktion in Deutschland. Berlin 1986. Winko, Simone: Novellistik und Kurzprosa des Fin de siècle. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expres­sionismus 1890 – 1918. Hg. von York-Gothart Mix. München u. a. 2000 (= Hanser Sozial­ geschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 7), S. 339 – 349. Wirth, Irmgard: Berliner Malerei im 19. Jahrhundert. Von der Zeit Friedrichs des Großen bis zum Ersten Weltkrieg. Berlin 1990. Wischermann, Ulla: Frauenbewegungen und Öffent­lichkeiten um 1900. Netzwerke – Gegenöffent­lichkeiten – Protestinszenierungen. Königstein/Taunus 2003. Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991. Wolbring, Barbara: „Auch ich in Arkadien!“ Die bürger­liche Kunst- und Bildungsreise im 19. Jahrhundert. In: Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt. Hg. von Dieter Hein und Andreas Schulz. München 1996, S. 82 – 101. Zens, Maria: Literaturkritik in der Zeit des Realismus. In: Literaturkritik. Geschichte – Theo­ rie – Praxis. Hg. von Thomas Anz, Rainer Baasner. 2. Aufl. München 2007, S. 79 – 91. Zunkel, Friedrich: Das Verhältnis des Unternehmertums zum Bildungsbürgertum zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 3: Lebens­ führung und ständische Vergesellschaftung. Hg. von Rainer M. Lepsius. Stuttgart 1992, S.  82 – 101.

499

501

Dank Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juni 2011 von der Fakultät für Sprach- und Kulturwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommen wurde. Mein Dank gilt allen, die mich bei der Arbeit an meinem Dissertationsprojekt unterstützt, gefördert und ermutigt haben. Zunächst und vor allem danke ich Frau Professor Sabine Doering für die intensive Betreuung des Projekts, für die aufmerksame fach­liche Beratung und die vielen wertvollen Anmerkungen und Hinweise. Herrn Professor Ernst Hinrichs (†) danke ich für die Begleitung und die Anregungen in der Anfangsphase, des Weiteren gilt mein Dank den beiden Gutachterinnen, Frau Profes­ sor Sabine Kyora und Frau Professor Gunilla Budde. Darüber hinaus möchte ich mich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des literaturwissenschaft­lichen Doktorandenkolloquiums der Universität Oldenburg für den regen Austausch und die konstruktive Kritik bedanken. Ein großer Dank gilt Emmi Lewalds Großnichte, Frau Helga Krosigk (†), und ihrer Enkelin, Frau Thyra Wegener (München), die meine Forschungsarbeiten in großzügiger Weise unterstützt und mir die Verwendung von unveröffent­lichten Dokumenten und Abbildungen aus dem Nachlass der Autorin ermög­licht haben. Der Bischöf­lichen Studienförderung Cusanuswerk bin ich für die finanzielle und ideelle Förderung in der Promotionszeit zu großem Dank verpf­lichtet. Für die finan­zielle Förderung der Drucklegung meiner Dissertationsschrift danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften (Mainz), der Oldenburgischen Landschaft (Oldenburg), der Bertha Ramsauer Stiftung (Oldenburg) und dem Deutschen Akademikerinnenbund e. V. (Berlin). Besonders herz­licher Dank gilt meinen Eltern, Christine und Günter Steinberg, für ihre uneingeschränkte Unterstützung meiner Ausbildung und ihre liebevolle Bestärkung in den vergangenen Jahren. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Oldenburg, im August 2014

Ruth Steinberg

503

Personenregister A Allmers, Hermann  160 Althaus, Eve  79 Ammon, Otto  408 Andreas-Salomé, Lou  15, 20, 32, 284 Anton Ulrich (Sachsen-Meiningen)  420 Arnim, Bettina von  43 Auer, Grethe  171 Augspurg, Anita  66 Auguste Viktoria, Kaiserin  85, 91 August II . von Oldenburg  401 Avenarius, Eduard  213 B Babillotte, Arthur  425 Bab, Julius  263 Backhaus, Wilhelm Emanuel  158 Baisch, Amalie  113 Ball, Charlotte  192 Ballin, Albert  387 Bartels, Adolf  232, 234, 240 Baumbach, Rudolf  253 Bäumer, Gertrud  67, 68, 73 – 75, 86, 87, 189, 373, 436 Begas-Parmentier, Luise  82, 89 Bensey, M.  123, 222 Benzmann, Hans  220 Berg, Günther Heinrich von  76 Berg, Karl von  76 Bernstein, Elsa  15, 215 Bethusy-Huc, Valeska Gräfin (Ps. Moritz von Reichenbach)  32, 89, 134, 143, 236, 392, 461 Bienemann, Friedrich  207 Bierbaum, Otto Julius  249 Bismarck, Johanna von  154 Bismarck, Otto von  120, 154, 159 Bleibtreu, Carl  211 Bluhm, Agnes  86, 89 Blüthgen, Clara  171 Böhlau, Helene  15, 20, 32, 43, 110, 139, 167, 183, 284, 371, 452, 472 Böhme, Margarete  15 Bois-Reymond, Estelle du  230 Bonaparte, Napoleon  258 Botticelli, Sandro  292 Boy-Ed, Ida  74, 167, 181, 187 Braams, Hermann  164

Braddon, Maria Elisabeth  199 Brahm, Otto  212 Braun, Lily  15 Brescia, Arnold von  390 Breysig, Kurt  80 Brockhaus, Friedrich Arnold  207 Bruch, Margarete  86 Brümmer, Franz  108, 239, 466 Bruno, Giordano  158 Büchmann, Georg  329, 330 Bülow, Alfred von  130 Bülow, Frieda von  145, 229 Bülow, Marie von  86 Bünau, Margarete Gräfin von  86 Bunsen, Marie von  66, 86, 87 Burckhardt, Johanna  85 Busch, Wilhelm von  115, 126, 219, 223, 255, 258 Busse, Carl  223 Büttner, Heinrich  58 C Cauer, Minna  66 – 68, 87, 89 Cavell, Edith  432 Conrad, Michael Georg  214 Cosimo, Piero di  292 Cosnosky, Theodor von  133, 226 Cotta, Carl von  186 Courths-Mahler, Hedwig  111 Crüsemann, Eduard  50 D Dahn, Felix  154 Danneel, Margarete  86 Dehmel, Richard  249, 257, 264 Delbrück, Kurt  158 Dickens, Charles  200 Diers, Marie  171 Dill, Liesbet  33, 144, 171, 432 Dingelstedt, Franz von  330 Dobert, Paul  182 Dohm, Hedwig  18, 20, 32, 89, 284, 371 Dominik, Emil  182 Droste-Hülshoff, Anette von  43 Duesing, Frida  86 Dumas, Alexandre  198 – 200 Dumont, Luise  89 Duncker, Alexander  165

504

Personenregister

Duncker, Dora  171, 236 E Ebner-Eschenbach, Marie von  43, 102, 111, 172, 180, 187, 200 Engel, Carl  160 Engelhorn, Johann  188 Ettlinger, Josef  212 Eulenburg, Philipp zu  120 F Falkenhayn, Erich von  12 Fichte, Johann Gottlieb  56 Fischer, Samuel  212 Flaischlen, Cäsar  167 Fleischer, Richard  213 Fontane, Friedrich  65, 127, 131, 166, 457 Fontane, Theodor  102, 105, 172, 175, 180, 183, 186, 209, 217, 238, 280, 282, 287, 414 Förster-Nietzsche, Elisabeth  36, 86, 96, 97, 192 François, Luise von  43 Franke-Schievelbein, Gertrud  171 Frapan, Ilse  33, 43 Frenzel, Karl  183 Freytag, Gustav  105, 154, 207, 233 Friedenthal, Margarete  33, 86, 87 Fritze, Margarete  93 Fröbel, Friedrich  69 Frommelt, Emilie (geb. Klein)  76, 77 Frommelt, Moritz  76 Fulda, Ludwig  167 Fürstenberg, Carl  387 G Galen, Philipp  199 Gall, Ferdinand von  159 Gallwitz, Dorothee  371 Ganghofer, Ludwig  180, 181, 200 Gebrandt, Marie  171 Geibel, Emanuel  187, 331 Geißler, Max  234, 238 George, Stefan  423 Georg II . (Sachsen-Meiningen)  420 Gersdorff, Ada von  171 Gerstäcker, Friedrich  172, 183, 199, 200 Gervinus, Georg Gottfried  232 Girsewald, K. von  158 Glagau, Otto  198 Gnauck-Kühne, Elisabeth  89 Goeckel, Emmi von  76 Goeckel, Konstantin von  76, 392 Goeckel, Sophie von (geb. Jansen)  76, 77, 95, 392 Goethe, Johann Wolfgang von  328, 329, 331

Goldschmidt, A.  169 Goldschmidt, Henriette  69 Gorki, Maxim  200 Gottschall, Rudolf von  207, 232, 233 Grabstein, Paul  250 Grazie, Marie Eugenie delle  15, 215 Griese, Friedrich  445 Gronen, Jenny  82 Gubalke, Lotte  86 Gutzkow, Karl  173 H Hackländer, Friedrich Wilhelm  178, 188, 199 Hähnel, Franziskus  213 Hallberger, Eduard  168 Hansemann, Ottilie von  89 Hansen, Georg  408 Harbou, Thea von  187, 436 Harder, Agnes  33, 86, 87, 171, 191 Harrasch, Helene  86 Hart, Julius  264 Hauptmann, Gerhart  105, 176, 238, 264, 423 Heilborn, Ernst  213 Heine, Anselma  33, 86, 87, 89, 143 Heine, Heinrich  240, 330, 331 Heinemann, Felix  187 Heinemann, Karl  207 Heinroth, Elisabeth  86 Helmholtz, Hermann von  50 Helwing, Christian Friedrich  170 Helwing, Clemens  170 Henckell, Karl  183 Hermann, Georg  167 Herzog, Rudolf  187 Hesekiel, Ludovica  183 Hesse, Hermann  423 Hettner, Hermann  232 Heyl, Georg  50 Heyl, Hedwig  50, 66, 87, 91 Heyl, Otto  91 Heyse, Paul  79, 102, 105, 154, 174, 187, 200, 228, 271 – 273, 331, 332, 463, 466 Hillern, Wilhelmine von  111, 177, 187 Hillger, Hermann  169 Hiltl, Georg  183 Hirschfeld, Max  177 Höber, Eduard  226 Hofmannsthal, Hugo von  423 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig zu  130 Holz, Arno  167, 249 Homann, Hans-Joachim  234, 239 Hopfen, Hans  187 Huch, Ricarda  15, 20, 111, 172

Personenregister

Humboldt, Wilhelm von  56 Hyan, Hans  181 J Jacobsohn, Siegfried  213 Janin, Jules  209 Janke, Otto  185 Jansen, Gerhard  76, 154 Jansen, Günther  11, 12, 76 – 78, 93, 118, 119, 121, 147, 159, 160 Jansen, Marie  76, 77, 95 Jansen, Marie (geb. Frommelt)  76, 77, 95, 121, 126, 159, 160 Jaspers, Karl  37, 97, 150 Jean Paul  310 Jensen, Wilhelm  199 Jobst, Julia  86 John, Eugenie (Ps. E. Marlitt)  111, 154, 172, 180 Jòkai, Maurus  199 Jünger, Ernst  431 K Kawerau, Johanna  82 Keckeis, Gustav  242 Keil, Ernst  173 Keller, Gottfried  105, 271 Kerr, Alfred  210, 264 Keudell, Marie von  82, 83 Kiesel, Conrad  37, 89 Kirschner, Aloisia (Ps. Ossip Schubin)  226 Klasing, August  181 Kleist, Heinrich von  330 Kobbe, Theodor von  159 Kollwitz, Käthe  82 König, Ewald August  199 Körner, Theodor  263, 330 Kotzebue, August Friedrich  207 Kraft, Max  95 Kraus, Karl  423 Kröner, Adolf  157, 180, 186 Kröner, Paul  186 Krosigk, Karl Dedo von  76 Krupp, Alfred  387 Kürschner, Joseph  123, 124, 133, 158, 178, 461 Kurz, Hermann  271 Kurz, Isolde  34, 271 L Lange, Helene  17, 59, 60, 62, 66 – 68, 70, 73, 86, 87, 124, 189, 465 L’Arronge, Adolf  105 Lasker-Schüler, Else  32 Lehmann, Ernst  129

Leixner, Otto von  185, 222 Lepsius, Sabine  89 Lessing, Alma  82, 83, 89 Lessing, Gotthold Ephraim  328, 329 Lewald, Fanny  43, 78, 131, 143 Lewald, Felix  13, 45, 66, 78, 80, 92, 93, 97, 99, 100, 130, 143, 147, 456 Lewald, Otto  79, 93, 97 Lewald, Theodor  80, 89 Leyden, Maria von  88 Lier, Leonhard  128, 223 Liliencron, Detlev von  183, 238, 249 Lindau, Paul  209 Lingen, Thekla von  15, 249 Linggs, Hermann  221 Lipperheide, Franz  184 Lipperheide, Frieda  184 Lobedan, Helene  82 Lüders, Else  66 Lüders, Marie-Elisabeth  75 Luther, Martin  329 M Mann, Heinrich  423 Mann, Thomas  417, 423 Marelle, Luise  86, 87 Märten, Lu  373 Mascagni, Pietro  306 Matuszewsk, Valeska  158 Mauke, Friedrich  165 Mauthner, Fritz  210 Mayer, Karl  187 May, Karl  172 Meinhardt, Adalbert  43 Meisel-Hess, Grete  371 Mende, Clara  87 Mendelssohn, Giulietta von  86 Menzel, Wolfgang  187 Metz, Josefa  33 Meyer, Albert  169 Meyer, Conrad Ferdinand  271 Meyer, Heinrich  169 Meysenbug, Malvida von  43 Michaelson, Anna (Ps. Jarno Jessen)  88, 143, 384 Mielke, Hellmuth  234, 239 Miquel, Johannes von  78 Möbius, Paul Julius  112, 373 Modersohn-Becker, Paula  82 Möllhausen, Balduin  199 Moltke, Helmuth von  12 Montbart, Helene von (Ps. Hans von Kahlenberg)  89 Morgenstern, Lina  66

505

506

Personenregister

Mose, Josepha  240 Mosen, Julius  159 Mosle, Johann Friedrich  160 Mosse, Emilie  50, 86, 143 Mosse, Rudolf  50, 461 Mühlbach, Luise  183, 199 Müller-Mann, Gustav  168 N Nadler, Josef  232, 241 Neuburger, Paul  229 Neumann, Elsa  89 Neumann-Höfer, Otto  187 Nietzsche, Friedrich  96, 112, 373 Novalis  250, 253, 255 O Olfers, Marie von  84, 85, 460 Ompteda, Georg von  167, 181, 424 Oncken, Hermann  96 Osborn, Max  113, 181, 236 Otto-Peters, Louise  18, 66 P Pappritz, Anna  66 Partisch, Hans Hubertus  150 Pataky, Sophie  237 Peschkau, Emil  270 Pestalozzi, Johann Friedrich  69 Peter II . von Oldenburg  12, 76, 77 Petersen, Marie  37, 80 Pfemfert, Franz  423 Pietsch, Ludwig  167 Pleitner, Emil  234, 235 Plothow, Anna von  143 Polenz, Wilhelm von  167 Polko, Elise  227 Poppe, Franz  235 Prellwitz, Gertrud  436 Preuschen-Telmann, Hermione von  384 Prutz, Robert  109, 232, 233 Puttkamer, Alberta von  43, 299 Q Quenzel, Karl  263 R Raabe, Wilhelm  102, 172, 175, 179, 180, 186, 238 Rachel, M.  125, 223 Rathenau, Mathilde  86 Rauert, Robert  157 Reck, Margarete  86 Remarque, Erich Maria  424

Remer, Paul  250 Reuter, Gabriele  15, 20, 32, 86, 110, 111, 140, 217, 284, 436, 452, 472 Reventlow, Franziska zu  20, 32, 110, 284 Riehl, Wilhelm Heinrich  408 Riemann-Schlüter, Dora  85 Rilke, Rainer Maria  221, 423 Robert, Ada  299 Rocco, Carl  157 Rochholz, Ernst Ludwig  158 Rodenberg, Julius  79, 183, 208, 212, 238, 461, 463 Rodenberg, Justina  80, 86, 143 Römer, Lina (Ps. C. Lynar)  118 Rose, Felicitas  187 Rousseau, Jean-Jacques  56 S Salomon, Alice  66, 86 Salus, Hugo  221 Samarow, Gregor  199 Schäfer, Louis  183 Schäfer, Theo  228, 275 Schanz, Uli  221 Scheffel, Joseph Victor von  154, 297 Scheffler, Karl  112, 373 Scherer, Wilhelm  233 Scherl, August  169, 180, 387 Schiller, Friedrich  297, 309, 328, 329, 332, 333, 335 Schlaf, Johannes  167 Schlenther, Paul  210 Schmidt, Auguste  67, 68 Schmidt, Julian  207, 232, 233 Schnitzler, Arthur  271 Schopenhauer, Arthur  112, 373 Schrader-Breymann, Henriette  69 Schroeder, Liska  82 Schulhoff, Else  86, 87 Schulze, Johann Peter  159 Schwartz, August  37, 121, 122, 126, 129, 135, 159, 161 – 164 Schwartz, Rudolf  159 Seifert, Max  169 Shakespeare, William  329 Siegel-Löhn, Anna  160 Siemens, Arnold von  50 Siemens, Ellen von  50, 82, 86, 87 Sienkiewicz, Henryk  160 Simmel, Georg  373, 408 Sohnrey, Heinrich  408 Sombart, Werner  427 Speer, Albert  100 Spieker, Christian Wilhelm  58 Spielhagen, Friedrich  94, 174, 180, 186, 187, 199

Personenregister

Spiero, Heinrich  234, 238 Spittler, Karl  122 Staerke, Max  170 Stahr, Adolf  159 Starklof, Ludwig  159 Stentzel, Arthur  158 Stilke, Georg  168 Stinde, Conradine  86 Stöcker, Helene  66, 139 Storm, Theodor  166, 175, 271 Strackerjan, Peter Friedrich Ludwig  160 Stratz, Rudolf  187 Strauß und Torney, Lulu von  32, 80, 85 Stüler, Marie  82 Stümke, Heinrich  220 Sudermann, Clara  86, 461 Sudermann, Hermann  37, 94, 105, 154, 187, 210, 264, 463 Sue, Eugène  198 Suttner, Bertha von  65, 218 T Tenge, Oskar  160 Thiel, Peter  237 Turgenjew, Iwan  183 V Velhagen, August  181 Vely, Emma  86, 191 Verne, Jules  199, 200 Vespucci, Simonetta  292 Viebig, Clara  15, 43, 167, 200, 371, 436, 452

Vinci, Leonardo da  428 Voß, Richard  187 W Wachenhusen, Hans  199 Warburg, Max  387 Watzke, Adolf  230 Weber, Friedrich Wilhelm  218, 331 Weber, Marianne  60, 71 Weber, Max  61, 422 Weininger, Otto  112, 373 Weitbrecht, Richard  126, 132, 144, 219, 225, 254 Wiechert, Ernst  445 Wiegand, Johannes  234, 237 Wildenbruch, Ernst von  36, 79, 80, 130, 176, 407, 463 Wildenbruch, Marie von  80, 86, 461 Wilhelm II ., Kaiser  73, 176, 387, 463 Wilhelm I., Kaiser  399 Wilson, Woodrow  441 Winterfeld, Adolf von  199 Wöbcken, Karl  62, 409 Wolff, Theodor  210 Wolf, Julius  105 Wolzogen, Ernst von  167, 177, 183, 330 Z Zarncke, Eduard  213 Ziegler, Hildegard  89 Ziel, Ernst  221 Zola, Émile  198, 200

507

LITER ATUR UND LEBEN NEUE FOLGE

EINE AUSWAHL

BD. 83 | CHRISTOPHER DIETZ

BD. 77 | CHRISTIAN NEUHUBER

MARIA‌CHARLOTTE‌SWECENY‌

LENZ-BILDER

BRIEFE 1938–1945

ALEXANDER‌LERNET-HOLENIA‌UND‌

BILDLICHKEIT IN BÜCHNERS

2013. 462 S. 19 S/W-ABB. FRANZ. BR.

ERZÄHLUNG UND IHRE REZEPTION

ISBN 978-3-205-78887-4

IN DER BILDENDEN KUNST 2009. 386 S. 100 S/W- UND 23 FARB. ABB.

BD. 84 | PATRICIA KÄPPELI

GB. MIT SU. | ISBN 978-3-205-78380-0

POLITISCHE‌SYSTEME‌BEI‌FRIEDRICH‌ DÜRRENMATT

BD. 78 | RÜDIGER GÖRNER

EINE ANALYSE DES ESSAYISTISCHEN

‌D IE‌PLURALEKTIK‌DER‌ROMANTIK

UND DRAMATISCHEN WERKS

STUDIEN ZU EINER EPOCHALEN

2013. 302 S. 11 FAKSIMILES. GB.

DENK- UND DARSTELLUNGSFORM

ISBN 978-3-412-21030-4

2010. 302 S. BR. | ISBN 978-3-205-78528-6 BD. 79 | DIETMAR SCHARMITZER

BD. 85 | JULIA MÜLLER

‌A NASTASIUS‌GRÜN‌(1806–1876)

SPRACHTAKT

LEBEN UND WERK

HERTA MÜLLERS LITERARISCHER

2010. 604 S. 13 S/W-ABB. BR.

DARSTELLUNGSSTIL

ISBN 978-3-205-78575-0

2014. 324 S. 9 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-412-22151-5

BD. 80 | CARSTEN SCHOLZ ‌D ER‌JUNGE‌HEBBEL

BD. 86 | ANTONIA BARBORIC

EINE MENTALITÄTSGESCHICHTE

DER‌HOLOCAUST‌IN‌DER‌‌

2011. 675 S. 29 S/W-ABB. AUF TAF. GB.

LITERARISCHEN‌ERINNERUNG

ISBN 978-3-412-20820-2

AUTOBIOGRAFISCHE AUFZEICHNUNGEN VON UDO DIETMAR

BD. 81 | JOHANN GEORG LUGHOFER (HG.)

UND ELIE WIESEL

‌T HOMAS‌BERNHARD

2014. 332 S. FRANZ. BR.

GESELLSCHAFTLICHE UND POLITISCHE

ISBN 978-3-205-79524-7

BEDEUTUNG DER LITERATUR 2012. 453 S. GB. | ISBN 978-3-205-78811-9

BD. 87 | RUTH STEINBERG

TC244

DIE‌SCHRIFTSTELLERIN‌EMMI‌LEWALD‌ BD. 82 | ALEXANDER LÖCK,

(1866–1946)

DIRK OSCHMANN (HG.)

WEIBLICHE AUTORSCHAFT, ZEITGEIST

LITERATUR‌&‌LEBENSWELT

UND LITERATURMARKT

2012. 242 S. 8 S/W-ABB. GB.

2014. CA. 496 S. CA. 2 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20950-6

ISBN 978-3-412-22400-4

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

SPR ACHE IM TECHNISCHEN ZEITALTER HERAUSGEGEBEN VON THOMAS GEIGER, JOACHIM SARTORIUS UND NORBERT MILLER

„Sprache im technischen Zeitalter“ ist eine der bedeutendsten und traditionsreichsten deutschsprachigen Literaturzeitschriften. Seit Walter Höllerer sie 1961 ins Leben rief, ist „SpritZ“ ein „Zentralort der Selbstverständigung zeitgenössischer Literatur“ ( J. Kalka). Viermal jährlich vermittelt sie mit literarischen Texten und Essays und anspruchsvollen Fotografien einen Überblick über das literarische und kulturelle Geschehen der Gegenwart. HEFT 211, JG. 52, 3 (2014)

SONDERHEFT JG. 52 (2014)

2014. 130 S. 7 S/W-ABB. BR.

HELGA PFETSCH (HG.)

ISBN 978-3-412-22349-6

SOUVERÄNE BRÜCKENBAUER 60 JAHRE VERBAND DER LITERATUR-

HEFT 210, JG. 52, 2 (2014)

ÜBERSETZER (VDÜ)

2014. 120 S. 11 S/W-ABB. BR.

2014. 323 S. 28 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-412-22348-9

ISBN 978-3-412-22284-0

HEFT 209, JG. 52, 1 (2014)

ERSCHEINUNGSWEISE:

2014. 138 S. 12 S/W-ABB. BR.

VIERTELJÄHRLICH

ISBN 978-3-412-22347-2

ISSN 0038-8475 EINZELHEFT: € 14,00 [D] | € 14,40 [A] JAHRGANG: € 40,00 [D] | € 41,20 [A] STUDIERENDE: € 32,00 [D] | € 32,90 [A] ERSCHEINT SEIT: 1961 (SEIT BAND 51/2013 IM BÖHLAU VERLAG)

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ANNA FREUD GEDICHTE. PROSA. ÜBERSETZUNGEN HERAUSGEGEBEN, EINGELEITET UND KOMMENTIERT VON BRIGITTE SPREITZER

Die Psychoanalytikerin Anna Freud ist nicht nur Insidern ein Begriff. Als Dichterin aber kennt sie kaum jemand. Brigitte Spreitzer macht die literarischen Texte von Sigmund Freuds jüngster Tochter zum ersten Mal vollständig zugänglich und liest sie in der Einführung zur Edition als paradigmatische Dokumente der Auseinandersetzung einer jungen Frau aus dem assimilierten jüdischen Bürgertum mit den sozialhistorischen und kulturellen Bedingungen im Wien der Jahrhundertwende. Damit können wir sie als Teil eines historischen Prozesses begreifen, der durch das Ringen von Frauen um Zutritt zu Kultur, Bildung und Wissen gekennzeichnet ist. Verbindungslinien von Psychoanalyse, Konstruktionen von Weiblichkeit und individuellem Frauenleben werden im Moment des Entstehens sichtbar. 2014. 363 S. 36 S/W-ABB. BR. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-205-79497-4

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

WILHELM PETRASCH

ALFONS PETZOLD (1882–1923) DICHTER DER ARMUT

Alfons Petzold (1882–1923) führt uns in seinen sozialen Dichtungen mitten hinein in die Welt der Arbeiter und die unerträglichen Lebensumstände in Wien um die Jahrhundertwende. Neben der fröhlichen Ringstraßengesellschaft lebten die Massen in den Vorstädten im Elend. Petzold zeigt uns die dunkle Kehrseite des Fin de Siècle, der „guten alten Zeit“. Er, der selbst Fabriks- und Hilfsarbeiter war, der in ärmlichen, trostlosen Verhältnissen aufwuchs, schloss sich der Arbeiterbewegung an und war aktiv für die Sozialdemokratie tätig. Und er glaubte an Gott. Er erkrankte früh an Tuberkulose; in seinem 41. Lebensjahr starb er an einer Grippe. Petzold sah sich selbst als Lyriker und hinterließ etwa 20 Gedichtbücher. Sein autobiographischer Roman „Das rauhe Leben“, in dem er sein Proletarierleben realistisch darstellte, sowie seine Erzählungen, Geschichten und Novellen sind erschütternde Schilderungen einer Epoche. Die Intention dieses Buches ist es, wesentliche Texte Alfons Petzolds wieder bekannt zu machen. 2013. 222 S. 9 S/W-ABB. BR. 135 X 210 MM. | ISBN 978-3-205-78804-1

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar