Die Schia Im Iran Und Libanon: Historische Verbindungen Zwischen Balkh Und Baalbek, Khorasan Und Dschabal Amil [Erstausgabe ed.] 3879974888, 9783879974887

The series Studies on Modern Orient provides an overview of religious, political and social phenomena in modern and cont

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Die Schia Im Iran Und Libanon: Historische Verbindungen Zwischen Balkh Und Baalbek, Khorasan Und Dschabal Amil [Erstausgabe ed.]
 3879974888, 9783879974887

Table of contents :
Widmung
DANKE!
Inhaltsverzeichnis
Formalia
Abkürzungsverzeichnis
1. „Ḥarb tammūz“– eine Einleitung
2. Quellen
3. Ǧabal ʿĀmil – der „Berg der ʿĀmila“
4. Muḥammad, Fāṭima, ʿAlī, al-Ḥusain – Die Iṯnāʿašarīya
5. Schiitische Anfänge – Sawād al-Kūfa, Ǧabal ʿĀmil, Sabzavār, Māzandarān, Ardabīl
6. Klerus und Staat
7. Gemeinsamkeiten und Schnittstellen
8. Wanderungen zwischen Ǧabal ʿĀmil und Zagros
9. Zusammenfassung der Ergebnisse
10. Literatur
11. Stichwortverzeichnis

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Gabriele Dold-Ghadar Die Schia im Iran und Libanon

Studien zum Modernen Orient herausgegeben von Gerd Winkelhane

Studien zum Modernen Orient 33 Gabriele Dold-Ghadar

Die Schia im Iran und Libanon Historische Verbindungen zwischen Balkh und Baalbek, Khorasan und Dschabal Amil

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagbild: Metouali in Tyrus, „Un vieux métouali de Tyr“, aus: Louis Lortet, La Syrie d’aujour d’hui – voyages dans la Phénicie, le Liban et la Judée 1875-1880, Paris, 1884, S. 115

www.klaus-schwarz-verlag.com All rights reserved. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

© 2019 by Klaus Schwarz Verlag GmbH Erstausgabe 1. Auflage Herstellung: J2P Berlin Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-87997-488-7

Die Menschen sind ihrer Zeit ähnlicher als ihren Vätern.* Dritter der hundert Sprüche von ʿAlī b. Abī Ṭālib (geb. 38/658)

*

Entnommen aus: Reschideddin Watwat, Ali’s hundert Sprüche, Leipzig, 1837, S. 4 Versuch einer Übersetzung: Das Wesen eines Menschen entspricht nicht dem Charakter der Vorväter, alle laufen nach/entsprechen dem Charakter/Muster/ihrer Zeit, indem sie jene lieben, die auch die/ihre Zeit liebkost, und jene hassen, die auch die/ihre Zeit bedauert.

Widmung Meinem Islamkundeprofessor Heinz Halm, meinem Irankundeprofessor Heinz Gaube, meinem Verleger Gerd Winkelhane und meiner Enkelin Johanna Wilhelmine gewidmet

DANKE! Dass diese Arbeit zu ihrem Ende und damit ihrem Ziel gekommen ist, ist nicht zuletzt der hilfreichen Unterstützung meines Irankundeprofessors Heinz Gaube zu verdanken, der mir Mut gemacht und mich mit hilfreichen Anregungen und Hinweisen versorgt hat, ohne die diese Arbeit nicht hätte abgeschlossen werden können. Auch meinem Islamkundeprofessor Heinz Halm möchte ich an dieser Stelle herzlich danken, auf dessen Arbeiten und Literaturhinweisen vieles in der vorliegenden Arbeit fußt. Herrn Professor Gerö danke ich für weiterführende Denkanstöße und Herrn Dr. Hamid Hosravi für wertvolle Hinweise bezüglich persischsprachiger Literatur. Dank sei auch Herrn Thomas Stünkel für die technische Betreuung und mannigfaltige Kopier- und Bindearbeit während der Exzerptphase, Herrn Wahid Darouich und Herrn Basheer Omari für ihre Hilfe bei Interpretationsproblemen gezollt. Dank schulde ich auch all jenen, die noch vor Beginn der Arbeit mit Tipps und praktischen Anregungen bereitstanden. Dies sind insbesondere meine Kommilitonin Farida Stickel und Herr Dr. Fazlollah Pakzad Soraki, dem ich für viele ersprießliche Erläuterungen und Ratschläge sowie Frau Dr. Sedighe Mousavi, der ich für Übersetzungshilfen dankbar bin. Mein Dank gilt auch meinem lieben Sohn Alexander Ohmenzetter und meinem Studienfreund Dr. Hussein Hamdan, die sich für Durchsicht und Korrektur der Arbeit die notwendige Zeit genommen haben sowie Najem al-Khamesi, dem ich für seine Geduld und wertvolle Hinweise beim Quellenstudium dankbar bin. Mein besonderer Dank geht an den Klaus Schwarz Verlag in Berlin: insbesondere an Gerd Winkelhane, der schon früh Interesse an meiner Arbeit zeigte, aber nun kurz vor Drucklegung verstarb, und Henrik Jeep für seine außerordentlich hingebungsvolle und exzellente Lektoratsarbeit. Beiden verdankt dieses Buch sein Zustandekommen. Für verbliebene Fehler zeichnet alleine die Autorin verantwortlich. Gabriele Dold-Ghadar

Inhaltsverzeichnis Formalia ..............................................................................................11 Abkürzungsverzeichnis ......................................................................12 1

„Ḥarb tammūz“– eine Einleitung .......................................................13

2 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

Quellen ...............................................................................................18 Kritiker in der Kritik..........................................................................19 Quellenlage .........................................................................................23 Man lā yaḥḍuruhū l-faqīh – Grundlegendes Schrifttum der Schia .......24 Die Konstituenten – al-Kulainī und al-Qummī ..................................24 Mit Hilfe von Brett und Staub – Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī ......................25

3 3.1 3.2

Ǧabal ʿĀmil – der „Berg der ʿĀmila“ ..................................................29 Die ʿĀmila – eine Spurensuche ..........................................................30 Die enigmatischen Mutāwile und ihre Polemiker .............................40

4 4.1 4.2 4.3

Muḥammad, Fāṭima, ʿAlī, al-Ḥusain – Die Iṯnāʿašarīya .....................46 Saqīfa Banī Sāʿida – eine Oppositionspartei legitimiert sich .............48 Die vier Säulen ...................................................................................52 Baṣra, Ṣiffīn, Nahrawān – innerislamische Opposition und Bürgerkrieg ....................................54 Vom ġulūw zur zwölferschiitischen „Orthodoxie“ .............................58

2.1

4.4 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

Schiitische Anfänge – Sawād al-Kūfa, Ǧabal ʿĀmil, Sabzavār, Māzandarān, Ardabīl ................61 Die fuḍalā des Ǧabal ʿĀmil .................................................................67 Vom Fürstentum Tripoli zum Cebel-i Lübnan und der Libanesischen Republik ........................................................73 Kartographierung einer didaktischen Infrastruktur: ʿAinātā, Ǧizzīn, Ǧubāʿ, Karak Nūḥ, Mais al-Ǧabal, Nabaṭīye .............79 Orden, Stämme, Dynastien .................................................................81 Von Zarathustra zu ʿAlī – vom Mōbaḏ zum Mollā: „troppo esatto per essere casuale“ ......................................................84 Āq-Qoyūnlū und Qızılbāš – Anfänge des schiitischen Klerus im Iran ...........................................92 Šāh Ismāʿīl: „Fabelhafter König, Ungeheuer von Bosheit und List und stärker als die Dämonen der Finsternis“ .....................................94

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 7 7.1 7.2 7.3 7.4

Klerus und Staat ...............................................................................102 Der Regent – Hohepriester des Staates, Schutz der Religion, Schatten Gottes auf Erden ...............................102 Instrumente der Macht: muǧtahid und ṣadr .....................................104 Schiitische ʿulamāʾ der Ṣafaviden- und Qāǧārenzeit ........................108 Schiitischer Klerus im qāǧārischen und osmanischen Machtbereich – die Doktrin in der Praxis ..................................................................111 Zwischen Ḫorāsān und Ǧabala – ein traditionsreicher Wirtschaftsraum in Abhängigkeit von der internationalen Politik ....116 Katz und Maus im Krämerladen – Der iranische Klerus als Gegenspieler weltlicher Macht .................118 Madāḫel, pīškeš und toyūl– Klerus zwischen Staatsmacht und Intelligenzija ..............................123 ʿUlamāʾ und Zuʿamāʾ – Vom Quietismus zum Aktionismus: Der schiitische Klerus im Libanon des 20. Jahrhunderts .................126 Gemeinsamkeiten und Schnittstellen ...............................................129 „Die Wissenschaft und der Glaube und das Geld“– „Die Laster der Männer“ ...................................................................129 Ġarbzadegī – Westoxination ............................................................134 Taʿziyeh und Rauẓa-ḫwānī – Symbolik des schiitischen Islam .......137 Šahrbānū und die persischen Anteile an der schiitischen Hagiographie .....................................................141

Wanderungen zwischen Ǧabal ʿĀmil und Zagros ...........................143 Initialkontakte und politisches Setting des Raumes ........................143 Deportationen und Umsiedlungen – fors und ḥamrāʾ .....................145 Pendler zwischen den „Schia-Welten“ Salmān al-Fārisī – Pionier der ersten Stunde....................................149 8.4 Die Goldkette – silsilat aḏ-ḏahab Schiitische Gelehrte des Ǧabal ʿĀmil ...............................................152 8.4.1 Migrierende Gelehrsamkeit ..............................................................157 8.4.2 Klerikale Prominenz aus dem Ǧabal ʿĀmil im Iran .........................160 8.4.3 Richtungswechsel: Vom libanesisch-ṣafavidischen zum iranisch-libanesischen Prozess .................................................169 8.4.4 Klerikale auf der politischen Bühne des 20. Jahrhunderts ...............173 8.4.4.1 Mūsā aṣ-Ṣadr: “If you maintain the quiet, I will not …” .....................174 8.4.4.2 ʿAlī Šarīʿatī ........................................................................................188 8 8.1 8.2 8.3

8.5 8.6

Grün auf Gelb – die Hizbollah .........................................................190 Von Händlern, Kaffeehausbesitzern und Papierfabrikanten – die Emigration der Eliten .................................................................199

9 10 11

Zusammenfassung der Ergebnisse ...................................................201 Literatur ............................................................................................208 Stichwortverzeichnis ........................................................................218

Formalia Die Transliteration des Persischen – soweit erforderlich – folgt den Richtlinien der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft analog des Arabischen – mit einer „persischen“ Abweichung bezüglich der Konsonanten. Arabisches „ḍ“ wird in persischem Zusammenhang durch „ż“ ersetzt, arabisches „ṯ“ durch „ẓ“ und „v“ steht für das arabische „ ‫“ٯ‬. Arabisches kurzes „u“ wird zu persisch „o“, arabisches kurzes „i“ zu persisch „e“. Ortsnamen und Begriffe, die sich in eingedeutschter Version im Duden finden, werden gemäß dieser Schreibweise wiedergegeben, also etwa z.B. Baalbek statt Baʿlabak, Schia anstatt Šīʿa oder Hizbollah mehrheitlich für Ḥizb Allāh, bzw. Hezbollah. Für iranische Städte und Provinzen wird allgemein die arabische Umschrift des persischen Namens verwendet, also Qom anstatt Qumm. Parallele europäisierte Versionen der libanesischen Städtenamen finden sich in „Tyrus“ für Ṣūr, oder „Sidon“ für Ṣaidā. Selbiges gilt für die Dynastien der ʿAbbāsiden (Banū ’l-ʿAbbās) oder Būjiden (Āl e-Būyeh). Alleinstehende arabische oder persische Termini, die keine Eigennamen sind, werden grundsätzlich klein und kursiv geschrieben. Populäre arabische und persische Begriffe und Namen, die im europäischen Sprachraum geläufig sind und in Literatur und Presse in europäisierter Schreibweise als eingeführt gelten, kommen in beiden Varianten vor. Lebens- und Regierungsdaten genannter Personen werden, soweit nicht anders aufgeführt, gemäß der Encyclopaedia of Islam angegeben. Jahreszahlen sind – wenn nicht anders angegeben – gemäß der Hiǧra-Zählung mit nachgestelltem gregorianischen Datum angegeben. Die Umrechnung erfolgt gemäß den Wüstenfeld-Mahler’schen 1 Vergleichstabellen. Jahreszahlen ohne Angabe, oder solche, denen „Jahrhundert“ oder „Jh.“ folgt, stehen für die christliche Zeitrechnung. Bei allem Bemühen um eine verständliche Wiedergabe zum Zwecke der Identifizierung und der Findung in Lexika gab mein Irankundeprofessor Heinz Gaube zu bedenken, dass ein Leser, der des Arabischen und Persischen mächtig ist, keiner Umschrift bedarf, Sprach unkundige dagegen mit einer Umschrift mehr verwirrt als orientiert werden. Für diese Auffassung spricht vieles und so beschränke ich mich hinsichtlich der Anwendung der wissenschaftlichen Umschrift auf ein Mindestmaß. In Zweifelsfällen schließe ich mich der Schreibung von Heinz Halm an, bei ungeläufigen Ortsnamen folge ich den 2 Vorgaben von Frau Siewert-Mayer. 1 2

Wüstenfeld, Ferdinand/Spuler, Bertold/Mahler, Edward: Wüstenfeld-Mahler’sche Vergleichstabellen zur muslimischen und iranischen Zeitrechnung mit Tafeln zur Umrechnung orient-christlicher Ären, Wiesbaden, 1961 B. Siewert-Mayer, Register zu den Karten, 3 Bände, TAVO, Wiesbaden, 1994

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Verzeichnis der Abkürzungen A.H. AMI arab. aram. AUB BGA BSOAS CdO CHI EI1 EI2 GAL HdO h.š. IJMES JA JESHO JNES LMI LBP MERw MEQ MHDA mp. pahl. pers. PFLP PLO RSO SI SPC StIr TAVO tk. TWQ ZA ZDMG

anno hegirae (islamische Zeitrechnung) Archäologische Mitteilungen aus Iran (Berlin) arabisch aramäisch American University in Beirut Bibliotheca geographorum arabicorum Bulletin of the School of Oriental and African Studies (London) Cahiers de l’Orient (Paris) Cambridge History of Islam, Cambridge Enzyklopädie des Islam (Brill, Leiden/Leipzig 1913–1936) Encyclopaedia of Islam (Leiden seit 1954) C. Brockelmann, Geschichte der arabischen Literatur (Leiden 1943–1949) Handbuch des Orients (Leiden) (hiǧrī šamsī) hiǧra-Jahr nach dem Sonnenkalender International Journal of Middle East Studies (Los Angeles/Cambridge) Journal Asiatique (Paris) Journal of the Economic and Social History of the Orient (Leiden) Journal of Near Eastern Studies (Chicago) Liberation Movement of Iran (Nehżat-e Āzādī-e Īrān ) Libanesisches Pfund Middle East Reporter weekly Edition Middle East Quarterly, Philadelphia Mātakdān-i hazār dātistān mittelpersisch Pahlavi persisch Popular Front for the Liberation of Palestine (Ǧabha aš-šaʿbiyya li-taḥrīr Filasṭīn) Palestine Liberation Organization Rivista degli studi orientali, Pisa/Rom/Amsterdam Studia Islamica (Paris) Syrian Protestant College (Vorgänger der AUB) Studia Iranica, Leuwen Tübinger Atlas des Vorderen Orients (Wiesbaden) türkisch Third World Quarterly (London/New York) Zeitschrift für Assyriologie und verwandte Gebiete Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (Wiesbaden)

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1 „Ḥarb tammūz“ – eine Einleitung

TTT

3

Samstag 15. Juli 2006, 02:48 Uhr Sur (AFP) - Israelische Hubschrauber haben nach libanesischen Angaben die südlibanesische Hafenstadt Sur beschossen und nur knapp ein Krankenhaus verfehlt. Unter den Patienten des Krankenhauses Dschabal Aamel sei Panik ausgebrochen, teilte die libanesische Polizei in der Nacht zum Samstag mit. Aus den umliegenden Häusern seien Frauen und Kinder in Nachthemden auf die Straße gerannt und hätten im Keller der Klinik Schutz gesucht. Die Raketen seien in einem Garten weniger als hundert Meter von der Klinik entfernt eingeschlagen. Die Polizei berichtete von zerbrochenen Fensterscheiben. Angaben über Verletzte gab es zu3 nächst nicht.

www.irancartoon.com/120/occupation/index2.htm, abgerufen am 03.06.2008, preisgekrönter Beitrag von Bernard Bouton / Frankreich im vom International Cartoon Center, Tehran, ausgerichteten „International Cartoon Festival – Occupation 2006“.

13

1 „ḤARB TAMMŪZ“ – EINE EINLEITUNG 4

Der im Libanon als „ḥarb tammūz“ bezeichnete einmonatige Krieg des 5 Sommers 2006, der mit ca. 1109 zivilen Toten und 15.000 Vertriebenen ungezählte neue und alte Wunden aufgerissen und durch alle Bevölkerungsschichten hindurch die Frage nach den religiösen und/oder politischen Verflechtungen im Hintergrund, deren Konsequenzen und möglichen zukünftigen Auswirkungen auf die globale Politik aufgeworfen hat, wurde gleich einer Welle durch die medialen Möglichkeiten digitaler Satelliten-Echtzeitübertragung der modernen Nachrichtenfabriken in unsere Wohnzimmer, auf die Marktplätze unserer heimatlichen Fachwerkmentalität gespült und in den Fokus unserer allabendlichen Zwanziguhrnachrichten gerückt. Aber was wissen wir über Hintergründe, die Region und deren Menschen angesichts der Bombardements – dort durch Splitterbomben und Katjuscha-Raketen – hier durch Live-Berichterstattungen und einschlägige Talkshows? Das Nachrichtenmagazin SPIEGEL ONLINE titelte am 15. August 6 2006: „Libanon-Krieg: Bushs Blaupause für Angriff auf Iran“ und erweiterte mit dem Hinweis auf „Enthüllungen“ des Journalisten Seymour Hersh vom US-Magazin „New Yorker“ das Zielgebiet am östlichen Mittelmeer um mutmaßliche Hintergründe und globale Interessenkonflikte. Der Artikel griff dessen Zweifel am offiziellen Casus Belli auf und entfachte damit Diskussionen um einen möglichen Schulterschluss zwischen der schiitischen Hizbollah im Libanon und den Mollahs im Iran – die durch US-Medien propagierte Angst vor der „Achse 7 des Bösen“. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, sich den Antworten auf fol4 5 6 7

Tammūz als Bezeichnung des Sommermonats „Juli“ existiert im arabischen sowie im hebräischen, aramäischen, türkischen und persischen Sprachgebrauch. Der Ursprung ist babylonisch. Augustus Richard Norton, Hezbollah, Princeton, 2007, S. 152 (Zahlenangaben anderer Quellen weichen hiervon allerdings beträchtlich ab) Yassin Musharbash, Libanon-Krieg: Bushs Blaupause für Angriff auf Iran, Spiegel Online, 15. August 2006, abgerufen am 20.08.2006 Schlüsselbegriff bereits in der mit „Axis-of-Evil-Speech“ überschriebenen Rede von George W. Bush am 29. 01. 2002

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1 „ḤARB TAMMŪZ“ – EINE EINLEITUNG

gende Fragen zu nähern: Wie iranisch ist die Schia? Gibt es Verbindungen zwischen beiden Ländern, zwischen den Schiiten des Libanon und des Iran? Wenn ja: Welcher Art sind und waren sie? Hierzu wird die historische, politische, soziokulturelle sowie religiöse Ausgangssituation und die Entwicklung der Schia mit ihren Schnittstellen in beiden Ländern untersucht. Näher zu beleuchten sein werden die bereits in vorislamischer Zeit bestehenden Kontakte zwischen dem vormals zoroastrisch geprägten Iran der Achaimeniden- und Sāsānidenzeit und der byzantinischen Levante, der besonders im 16. Jahrhundert und bis in unsere Tage anhaltende Austausch von kulturellem und politischem Gedankengut sowie die gegenseitige politische, religiöse und intellektuelle „Entwicklungshilfe“ von der Etablierung der Schia als Staatsreligion durch Šāh Ismāʿīl bis heute. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei den zwischen beiden Ländern migrierenden Menschen als Träger dieser geistigen Güter zu. Die die Arbeit einleitende Karikatur des im Iran ausgetragenen Cartoonwettbewerbs, der den „Juli-Krieg“ 2006 thematisierte, führen zusammen mit den Schlüsselworten in der eingangs zitierten Nachrichtenmeldung zu weiteren zentralen Fragen im Sinne der Aufgabenstellung und ergeben den Leitfaden durch die nachfolgende Arbeit: Wo und was ist der Ǧabal ʿĀmil? Wer sind die dortigen Schiiten? Wer und was ist die Hizbollah? Welches sind die Bindeglieder zum schiitischen Iran? Worauf fußen allfällige Beziehungen? Welche Anhaltspunkte liefern Individuen, Clans, Traditionen, Ereignisse? Welche historischen Zusammenhänge gibt es? Worin bestehen gemeinsame Interessen? Ist der iranisch-libanesische Dialog in vor-ṣafavidischer Zeit, während der Entstehung des schiitischen Klerus im 16. Jahrhundert und in moderner Zeit dokumentiert? Wie konnte über einen gemeinsamen religiösen Link eine so enge traditionelle Verbindung zwischen einer Gemeinschaft aus dem indoeuropäischen Sprach- und Kulturraum und einer Gemeinschaft der semitischen Sprachfamilie entstehen und sich vertiefen? Ein riesiges Land und ein schmaler Küstenstreifen – die Gegensätze könnten – oberflächlich betrachtet – größer kaum sein.

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1 „ḤARB TAMMŪZ“ – EINE EINLEITUNG

Zu dieser Arbeit wurden – soweit zugänglich und ediert – schiitische und sunnitische Biographien, ṣafavidische Chroniken, iǧāzā-Dokumente (Lehrzulassungsurkunden) und Arbeiten über juristische oder wissenschaftliche Themen von ʿĀmilī-Gelehrten herangezogen. Die nachfolgende Untersuchung stützt sich auf Quellen orientalischer Historiker und Reisender in arabischer und persischer Sprache sowie Berichte europäischer Handelsreisender und Abenteurer des 16.–20. Jahrhunderts. Aus der Sekundärliteratur kommen Meinungen und Untersuchungsergebnisse von Wissenschaftlern des 19.–21. Jahrhunderts zu ihrem Recht. Zum Thema erschien bisher eine Kompilation verschiedener Autoren von Houshang Esfandiar Chehabi. Neben dessen Beiträgen finden sich dort auch die Aufsätze von Ruli Jurdi Abisaab, Judith Harik, Richard Vernon Hollinger, Albert Hourani, Hassan Ibrahim Mneimmeh, 8 Abbas William Samii und Majid Tafreshi. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Näherungsversuch an das Gesamtbild eines facettenreichen Puzzles, in dem fehlende Teilchen erst im Laufe der weiteren Forschung eingefügt werden können und in dem die eine oder andere Lücke bis dahin offen bleiben muss. Von den unzähligen Gesichtspunkten im Zusammenhang mit „der Schia“ sollen hier ausschließlich diejenigen Beachtung finden, die für die Beziehungen zwischen dem Libanon und dem Iran relevant sind. An die Quellendiskussion und die Ausführungen über den in der eingangs zitierten AFP-Meldung verwendeten Terminus „Dschabal Aamel“ (Ǧabal ʿĀmil) mit der Ausweitung auf Fragen zur Bevölkerungsstruktur und Religionszugehörigkeit schließen sich in dieser Arbeit Erläuterungen zur Entstehung der Schia, deren Grundlagen, Entwicklung und ihre historische Einbettung in beiden untersuchten Ländern, die gesellschaftliche und politische Position des schiitischen Klerus im Verlauf der Geschichte, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie allfällige Wechselwirkungen und schließlich die „Brücken“ zwischen dem Libanon und dem Iran an. 8

Chehabi, Distant Relations – Iran and Lebanon in the last 500 Years“, Oxford, 2006

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1 „ḤARB TAMMŪZ“ – EINE EINLEITUNG 9

Ein Blick auf nichtklerikale Migranten innerhalb der „Schia-Welt“ beschließt die Untersuchung. Fokussiert werden Ereignisse, Traditionen und Persönlichkeiten, die, insbesondere unter dem Aspekt des Gelehrtenaustausches, gleichsam als Bindeglieder zwischen beiden Ländern gelten können. Neben Gedichten werden auch Anekdoten und Überlieferungen zur Veranschaulichung politischer Zusammenhänge und deren Konsequenzen, historischer Entwicklungen, Geisteshaltungen und Standpunkte herangezogen. Inhaltliche Wiederholungen und Überschneidungen sind dabei unvermeidlich. Die Arbeit erhebt in keiner Weise Anspruch auf Vollständigkeit und kann lediglich eine Auswahl von Aspekten beleuchten, an denen Erkenntnisse festgemacht, Parallelen aufgezeigt und Phänomene erklärbar werden. Aus der Summe dessen mag man Schlussfolgerungen ziehen und weiteren Denkansätzen Raum geben – möglicherweise auch hinsichtlich der immer wieder neu aufgelegten Kontroverse: „Wie iranisch ist die Schia?“

9

Moojan Momen, An Introduction to Shi’i Islam, New Haven/London, 1985, S. xvii ff. und 281 ff.

17

2 Quellen „Was die Menschen verwirrt, sind nicht die Tatsachen, sondern die Meinungen über die Tatsachen.“ Epiktet (um 50, Hierapolis/Phrygien–vermutl. 138 Nikopolis/Epirus)

Die Einschätzung von Tatsachen unterliegt mannigfaltigen äußeren Einflüssen, die den Blick auf das Wahre oft verstellen. Dies betrifft nicht nur Geschehnisse aus der unmittelbaren Gegenwart, sondern in besonderem Maße historische Ereignisse. Historische Quellen verhalten sich nicht anders als Wasserquellen, die Wasserqualität entsprechend ihres geologischen Untergrunds liefern. So präsentiert sich überlieferter Stoff in Abhängigkeit zu Informationen, die den Schreibern in ihrer Zeit zugänglich waren, sowie den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen und Zwängen ihrer Epoche. Was spätere Rezipienten dem Berichteten entnehmen, ist nicht weniger subjektiv. Besser als Rudolf Sellmann, dem dieses Phänomen ebenfalls begegnete, kann man es kaum formulieren: „Historische Überlieferungen […] unterliegen der Zufälligkeit und sind in ihrer Summe nur Annäherungswerten mit bestimmten Tendenzen vergleichbar. Diese Tendenzen sind an die überliefernden Personen in Zeit und Gesellschaft ebenso gebunden, wie ihr Aufspüren und Verstehen in Vergangenheit und Gegenwart von denen abhängig ist, welche sie von der Plattform der Wissenschaft aus darzustellen und zu interpretieren versuchen. Weil diese Plattform infolge des Fortgangs der Wissenschaft ständig im Wechsel begriffen ist, sind auch die Voraussetzungen für eine Urteilsfindung nicht konstant, ist ein Urteil also zumindest differen10 zierbar, wenn nicht wandelbar oder gar umkehrbar.“

Im nachfolgenden Kapitel werden für das Thema relevante Quellen exemplarisch vorgestellt und ihre Glaubwürdigkeit hinterfragt. Kriterien hierbei sind Vergleiche mit anderen Quellen, mögliche interne Wider10 Rudolf Sellheim, Der zweite Bürgerkrieg im Islam (680–692), in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt/M., Bd. 8, 1969, Nr. 4, Wiesbaden, 1970, S. 7

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2 QUELLEN

sprüche der Quelle, die zeitliche Nähe des Autors zu den Ereignissen sowie die religiöse, politische und kulturelle Prägung der Quelle. Angaben zur Vita einzelner Autoren, weiterführende Erläuterungen zu deren Werken sowie Lebensläufe von Protagonisten der Zeitgeschichte finden sich, wo für hilfreich erachtet, in den Fußnoten der entsprechenden Abschnitte.

2.1 Kritiker in der Kritik Wie sehr sich zuweilen die Polemik um strittige Quellen aufschaukelte und zweifelhafte Sachverhalte über lange Zeiträume immer wieder aufs Neue Anlass zu kontroversen Diskussionen gaben, lässt sich eindrucksvoll am Beispiel des legendären und für die Schia wichtigen Prophetengefährten Abū Ḏarr al-Ġifārī festmachen. Die von späteren Historikern vorgenommene Bewertung seines Einflusses auf die schiitische Gemeinschaft im Südlibanon scheint zum Politikum in der islamischen Welt geworden zu sein, an dem sich lebhafte Debatten entzündeten. Das überlieferte Material diente, weil es breiten Raum für Interpretationen lässt, höchst gegensätzlichen Argumentationen von Parteigängern unterschiedlicher politisch-religiöser Lager zur Untermauerung ihrer jeweiligen Thesen und Interessen. Die Zwölferschiiten des Ǧabal ʿĀmil führen die Entstehung ihrer 11 Gemeinschaft auf Ab ū Ḏarrs Mission zurück. Die Konzeption mit Abū Ḏarr als Gründervater der matāwila-Gemeinden in Syrien und dem Libanon unterstützt die allgemeine schiitische Lesart ihrer Ursprünge und sollte Thesen hinsichtlich einer persischen Abstammung 12 der matāwila entgegentreten. Aḥmad Riḍā (1872–1953) schließt durch die frühe Mission Abū Ḏarrs, auf Grund derer die Schia-Gemeinden in Syrien und dem Ḥiǧāz als die ältesten gälten, eine persische Herkunft 13 (ʿaǧam) der Schiiten des Ǧabal ʿĀmil aus. Der angesichts seiner Be11 Muḥsin al-Amīn, Aʿyān aš-Šīʿa, Vol. XVI, Beirut, 1963, S. 319/323 12 Einer der herausragendsten Vertreter der nahḍa ʿāmilīya und Mitarbeiter des 1909 im Südlibanon gegründeten Presseorgans al-ʿIrfān. 13 Aḥmad Riḍā, Al-matāwila aš-Šīʿa fī Ǧabal ʿĀmil, in: Al-Muqtaṭaf, Vol. 36, 1910, S. 428

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2 QUELLEN

redtsamkeit mit dem Ehrennamen amīr al-bayān geschmückte Drusenprinz Šakīb Arslān (1869–1946) aus der Šūf-Region kritisiert zwar das Fehlen schriftlicher Belege über Abū Ḏarrs Aufenthalt und Wirken im Ǧabal ʿĀmil, geht aber dennoch mit der Schiitisierung des Gebietes durch den Prophetengefährten konform. Seinen Standpunkt macht er am Ortsnamen Saksakīya im Süden fest, den er auf die Immigration ei14 nes Volkes namens Sakāsik aus Ḥimyar zurückführt, von dem sich auch in Ibn Asākirs Geschichte von Damaskus ein Hinweis und die Be15 schreibung einer nach den Sakāsik benannten Straße findet. Mit dem Ziel, die autochthon arabischen Wurzeln der matāwila zu untermauern und Spekulationen den Boden zu entziehen, die eine Verbindung zur anti-arabischen Bewegung der šuʿūbīya des 8./9. Jahrhunderts herstellen, entsprangen libanesisch-schiitischer Feder Argumentationen, die gegen eine persische Affinität Abū Ḏarrs sprechen. Sunnitische Abhandlungen dagegen befassten sich sehr wohl mit der Frage, ob Abū Ḏarr nicht eventuell doch als „ein erster Sozialist“ gelten könne und rückten ihn gar in ideologische Nähe zum „sozialrevolutionären“ Phänomen „Mazdak“ im sasanidischen Iran des 6. Jahrhunderts, dessen 16 Geburt und Herkunft nebulös sind. Als Beleg für die asketische Lebensführung des Abū Ḏarr zieht Muḥsin al-Amīn (871–951/1288–1371) 17 das jenem zugeschriebene Zitat heran: „wa ana […] uḥibbu al-maut wa uḥibbu al-faqr wa uḥibbu al-balāʾ.“ (Ich liebe den Tod, die Armut und die Plage)

Den Muslimbrüdern nahestehende Autoren, insbesondere der Theore18 tiker der ägyptischen Muslimbruderschaft Sayyid Quṭb, vereinnahmten den Prophetengefährten Mitte des 20. Jahrhunderts – möglicher-

14 Šakīb Arslān in: Al-Muqtaṭaf, Vol. 37/2, Juli 1910, S. 740, 741 15 Ibn Asākir in: Kitāb Tārīḫ Dimašq, trad. N. Elisséeff, La Description de Damas d’Ibn Asakir, Damaskus, 1959, S. 16 16 Aḥmad Amīn, Faǧr al-Islām, 7. Auflage, Kairo, 1959, S. 110 17 Muḥsin al-Amīn, Aʿyān aš-Šīʿa, Vol. XIV, Beirut, 1963, S. 333 18 Sayyid Quṭb, Al-ʿadāla al-iǧtimāʿīya fi’l-Islām, Beirut, 1975, S. 208 ff.

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weise auf Grund der Darstellungen von aṭ-Ṭabarī und Ibn Saʿd, aus denen das Mitgefühl Abū Ḏarrs für die Benachteiligten und die Armen während der Herrschaft ʿUṯmāns hervorgeht, für ihre Mission. Auch ʿAlī Šarīʿatī (1933–1977), dessen politisches Engagement in die Zeit des intellektuellen Aufstandes gegen staatliche Unterdrückung, ausländische Ausbeutung und Moṣaddeqs Bewegung der Öl-Nationalisierung fiel, ist eine Faszination für die Person Abū Ḏarrs abzuspüren. Er nennt 21 „den ersten islamischen Kämpfer gegen den Kapitalismus“ unter dem Zusatz „Ḫodā parast-e sōsiālīst“ in einem Atemzug mit den Prophetengefährten Salmān al-Fārisī, ʿAmmār b. Yasīr und Bilāl. Abū Ḏarr war neben dem Prophetenneffen ʿAlī und dessen Sohn al-Ḥusain Symbolfigur der bereits 1944 gegründeten und in „God Worshipping Socialists“ (Nehżat-e Ǧahānī-ye Ḫodā parastān-e sōsiālīst) umbenannten Bewegung, der Šarīʿatī sich 1950 als Siebzehnjähriger zusammen mit jungen, politisch ambitionierten Menschen anschloss und deren Gedankengut er in seinen späteren Werken weitertransportier22 te. 19 Aṭ-Ṭabarī, Tārīḫ ar-rusūl wa‘l-mulūk, ed. Muḥammad Abū al-Faḍl Ibrāhīm, Vol. 4, Cairo, 1963, S. 283-284. Abū Ǧaʿfar Muḥammad b. Ǧarīr b. Yazīd aṭ-Ṭabarī, 224/839 als Sohn eines Grundbesitzers in Āmul/Ṭabaristān geboren, studierte in Ray, im Südirak und Baghdad, wohin er 256/870 nach ausgedehnten Reisen in Syrien, Palästina und Ägypten zurückkehrte. Dort widmete er den Rest seines Lebens der Geisteswissenschaft und dem Schreiben. Es entstand seine Universalchronik Tārīḫ ar-rusūl wa l’mulūk, die, unter Einbeziehung des Xwadāy-nāmag mit der Genesis der sāsānidischen Könige beginnt und ab Muḥammad geschichtliche Ereignisse bis zum Jahr 302/915 beinhaltet. Sein Schwerpunkt liegt auf den Eroberungen während der Umayyaden- und ʿAbbāsidenzeit und stützt sich auf az-Zuhrī, Abū Miḫnaf, al-Madāʿinī, Ibn Isḥāq, Ibn Saʿd und die als tendenziös eingestuften Berichte von Saif b. ʿUmar. Überdies erlangte aṭ-Ṭabarī durch seinen Korankommentar Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl al-qurʾān Berühmtheit. s.v. C. E. Bosworth, in: EI2, Aṭ-Ṭabarī. 20 Ibn Saʿd, Kitāb al-Ṭabaqāt al-Kabīr, ed. Julius Lippert, Teil 1, Vol. 4, Leiden, 1908, S. 168-9 21 Ali Shariati in der Einführung zu “And once again Abu Dharr”, 1955 (1334 h.š.), S. 5-15 22 Ali Rahnema, An Islamic Utopian: a Political Biography of Ali Shari'ati, London, New York, 1998, S. 25 ff., 34, 57 ff.

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Nach Auffassung des libanesischen Historikers Munīr Al-Ġaḍbān handelt es sich bei der asketischen Lebensführung des Prophetenge24 fährten um eine selbstgewählte Armut. Dessen Tadel an den Reichen 25 sei lediglich als moralischer Appell zu verstehen. Die „Verbannung“ Abū Ḏarrs durch ʿUṯmān nach ar-Rabaḏa habe auf dessen freier Entscheidung beruht und sei Teil der schiitischen Legende. Alan John Cameron verweist auf die Darstellungen von Masʿūdī (10. Jh.), wonach ihm der Verbannungsort bereits durch den Propheten vorausgesagt 26 worden sei. Der ägyptische Publizist Muḥammad Ǧalāl Kišk stellt die Rolle Abū Ḏarrs als Revolutionär und dessen von heutigen Linken propagierte Charakterisierung als Prototyp eines Sozialisten unter den 27 Prophetengefährten gänzlich in Abrede. “… filled with a holy contempt for Islam, for its ‘delusive glory’, 28 for its ‘dissembling’ and ‘lascivious’ Prophet.”

Ziel heftiger persönlicher Angriffe wurden aber auch die Historiker selbst. So erntete der belgische Orientalist Henri Lammens (1862–1937) neben dem Lob ob seines enzyklopädischen Wissens durchaus harsche 29 Kritik. Nicht nur Edward Said, der sich über knapp 28 Seiten kritisch mit ihm auseinandersetzte, sondern vor allem Maxime Rodinson (1915–2004) tadelte ihn zum einen für seine scharfe Polemik gegenüber Abū Ḏarr, den Lammens als „anarchischen Fanatiker“ bezeichnet hatte, zum anderen für dessen Urteil über ʿAlī, dem er nicht nur dessen legendäre Beredtsamkeit und dichterische Begabung abgesprochen, son30 dern den er gar als „geistig beschränkt“ etikettiert hatte. 23 24 25 26 27 28 29 30

Munīr Al-Ġaḍbān, Abū Ḏar al-Ġafārī az-zāhid al-muǧāhid, Beirut, 1970, S. 177 Qurʾān, Ṣura 9:34-35 Werner Ende, Arabische Nation und Islamische Geschichte, Beirut, 1977, S. 217 Alan John Cameron, Abū Dharr al-Ghifāri, Köln, 1963, S. 44, Al-Masʿūdī, Kitāb murūǧ aḏ-ḏahab, trad. Barbier de Meynard, Paris, 1861-77 Muḥammad Ǧalāl Kišk, Abū Ḏarr [...] wa‘l-ḥaqq al-murr, Beirut, 1969, S. 47, 50-52 F. E. Peters, The Quest of the Historical Muhammad, in: IJMES, Vol. 23, 1991, S. 302 Edward W. Said, Orientalism, New York, 1979, S. 123-151, insbes. S. 141 Henri Lammens, À propos de ʿAlī ibn Abī Ṭālib, in: Mélanges de la Faculté

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Henri Lammens’ Schriften lösten vornehmlich bei schiitischen Theologen heftige Reaktionen aus: Bāqir Šarīf al-Qurāšī (geb. 1926) nennt den Belgier Lammens gar einen „verblendeten, ruchlosen Eng31 länder“, der von der islamischen Geschichte nichts verstanden hat.“ Der libanesische Historiker Kamāl aṣ-Ṣalībī (geb. 1929) dachte ihm eine eigene Abhandlung zu, in der er dem „Advokaten französischer Politik in der Levante“ hemmungslose Voreingenommenheit vorwarf. Lammens‘ – in seinem dem französischen General Henri Gouraud gewidmeten Werk „La Syrie“ – manifestierte Liebe zu Syrien identifizierte Kamāl aṣ-Ṣalībī als versteckte Projektion einer Feindseligkeit gegen32 über dem Islam und den Arabern. Dabei ist der Kritiker selbst nicht vor Kritik verschont geblieben: Axel Havemann, der Kamāl aṣ-Ṣalībī als den ersten modernen Historiker des Libanon bezeichnete, kritisierte zugleich dessen Versuch, die libanesische Geschichte durch politisch angepasste, opportunistische Theorien zu erleuchten und zeigte damit auf, wie sehr Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis von Herkunft und politischer Warte des Betrachters abhängig sind – womit 33 „historische Wahrheit“ zu einer variablen Größe werde.

2.2 Quellenlage “The Shia of Lebanon, like similar disadvantaged populations in other parts of the Third World, are a people without much written and documented history. The oral material corrected some of 34 this shortfall.”

Weil nur wenige schiitische Werke überdauert haben, die weiter als bis ins 4./10. Jh. zurückgehen, sind Untersuchungen zu frühen Perioden Orientale (Beirut), 1921, Vol. VII, S. 311-320 31 Ende, 1977, S. 166 32 Kamāl aṣ-Ṣalībī, Islam and Syria in the writings of Henri Lammens, in: Lewis/ Holt: Historians of the Middle East, London, 1962, S. 330-339 33 Axel Havemann, Geschichte und Geschichtsschreibung im Libanon – Kamāl aṣ-Ṣalībī und die nationale Identität, in: Die Welt des Islams, Vol. 28, 1988, S. 226, 238 34 Fouad Ajami, The Vanished Imam, London, 1986, S. 9

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der Schia oft nur über den Rückgriff auf polemisierende Schriften ihrer Gegner möglich. Reichhaltiges und umfangreiches schiitisches Schrifttum aus der Zeit Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsīs (597–672/1201–1274) fiel im Verlauf der Kreuzzüge im 13. Jahrhundert byzantinischen und osmanischen „Säuberungsaktionen“ zum Opfer. In der sich daran anschließenden mongolischen Zeit wurden schiitische Schriften zu Tausenden an der libanesischen Küste dem Meer überantwortet. Im 18. Jahrhundert ordnete der mamlukische Gouverneur von Akko/Größer Syrien, Aḥmad al-Ǧazzār (1735–1804), der bosnisch-christlicher Abstammung war, die Verbrennung aller schiitischen Werke an – selbst derer aus Privat35 bibliotheken, die sich in Ṣaidā (Sidon) im Südlibanon befanden. 36

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Man lā yaḥḍuruhū l-faqīh – Grundlegendes Schrifttum der Schia

2.3.1

Konstituenten – al-Kulainī und al-Qummī

Die wichtigsten schiitischen Sammlungen theologischer Schriften sind vornehmlich iranischer Provenienz. So brachte das 10. Jahrhundert mit al-Kulainī und Ibn Bāboye al-Qummī die beiden frühesten iranischen Autoritäten hervor, die die Basis der imamitischen Doktrin legten. Muḥammad b. Yaʿqūb al-Kulainī (ca 267–329/ca 879–941) kommt aus 37 dem persischen Dorf Kolēn zwischen Rey (Rayy) und Qom. Von ihm stammt die achtbändige Kompilation von Lehrsprüchen schiitischer Imame, das Kāfī fī ʿilm ad-Dīn – ein bis heute für die schiitische Juris35 Arslān, 1910, S. 948, Muḥsin al-Amīn, Ḫiṭaṭ Ǧabal ʿĀmil, Vol. I, Beirut, 1983, S. 192 36 „Wer keinen Gelehrten in seiner Nähe hat.“ Heinz Halm (Die Schia, Darmstadt, 1988, S. 53) setzte erklärend hinzu: „... der kann sich aus dem Buch Belehrung holen.“ 37 Barthel/Stock, Lexikon Arabische Welt, Darmstadt, 1994, S. 357, Wilfried Madelung, Muḥammad al-Kulaynī, EI-online, abgerufen am 08.08.2015. Muḥammad b. Yaʿqūb al-Kulainī starb um das Jahr 329/941 mit Beginn der großen ġaiba (Verborgenheit), nachdem die kleine ġaiba mit dem Tod von ʿAlī b. Muḥammad as-Sāmarrī 939 geendet hatte. Er führte als schiitisch-imamitischer Gelehrter den iǧtihād in die schiitische Dogmatik ein und verfasste mit dem Kitāb al-Kāfī eines der vier kanonischen Bücher der Schia, das mehr als 15.000 Ḥadīṯe enthält.

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prudenz grundlegendes Werk. Auch die älteste erhaltene Abhandlung über die Zuverlässigkeit ihrer Tradenten kommt aus iranischer Feder: Ihr Kompilator ist Muḥammad b. ʿUmar al-Kaššī (-340/951) aus dem ostiranischen Keš (heute Šahr-e Sabz/Usbekistan). Der Beiname „alQummī“ ziert eine Reihe früher Autoren der orthodox-schiitischen Tradition. So auch den Verfasser des zweiten der „vier Bücher“ der kanonischen imamitischen Traditionssammlungen, Muḥammad b. ʿAlī b. Bāboye al-Qummī (306–381/918–991) mit dem Ehrennamen „aṣ-ṣadūq“ und Sohn eines prominenten schiitischen Gelehrten. Er soll in Ḫorāsān geboren worden, um das Jahr 355/966 nach Baghdad übergesiedelt und 381/1001 in Rey gestorben sein. Mit seinem Man lā yaḥḍuruhū l-faqīh („Wer keinen Gelehrten in seiner Nähe hat“) schuf er ein Basiswerk zur Lehre der Zwölfer-Schia. Sein Risālat al-iʿtiqādāt (Traktat über die Glaubenswahrheiten) fasst erstmals die Inhalte imamitischer Lehre zusammen und gibt ausführliche Erläuterungen. Letzeres wurde von Asaf 38 A. A. Fyzee ins Englische übersetzt.

2.3.2 Mit Hilfe von Brett und Staub – Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī Im 13. Jahrhundert spielte der iranische „Exponent der politischen Be39 strebungen der damaligen Schia“, Abū Ǧaʿfār Muḥammad b. Muḥammad b. al-Ḥasan Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī eine außerordentlich bedeutende Rolle für die Schia im Zweistromland. Von ihm stammt das berühmte Rechenbuch mit dem Titel Al-Muḫtaṣar bi ǧāmiʿ al-ḥisāb bi’l taḫt wa’lturāb. Der Universalgelehrte – er war Philosoph, Mathematiker, Astronom, Theologe, Arzt und Schriftsteller – wurde 597/1201 in Ṭūs/Ḫorāsān geboren und starb 672/1274 in Baghdad, wo er auf dem Friedhof alKāẓimain – angeblich auf eigenen Wunsch – neben Mūsā al-Kāẓim begraben liegt. Nach Unterweisungen in der arabischen Sprache, der Qurʾān- und Ḥadīṯwissenschaft, schiitischer Rechtsprechung, Logik, Philosophie, Mathematik, Medizin und Astronomie durch seinen Vater in Ṭūs, stu38 Heinz Halm, 1988, S. 50-53, Asaf A. A. Fyzee, A Shiʿite Creed, London, 1942 39 Heinz Halm, 1988, S. 79

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dierte er bei Quṭb ad-Dīn al-Miṣrī und Farīd Dāmād – beide Schüler von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī. Von Farīd ad-Dīn ʿAttār (1142–1221), dem Verfasser des Mantiq aṭ-Ṭair, wurde er in Nīšābūr in Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie unterwiesen und von Kamāl ad-Dīn 40 Muḥammad Ḥāsib in Mathematik. Im Irak setzte er seine juristische Ausbildung bei Muʿīn ad-Dīn Sālim b. Badrān al-Māzinī fort, seine mathematischen und astronomischen Studien führte er bei Kamāl ad-Dīn Yūnus in Mossul weiter. 630/1233 begab er sich unter die Patronage des ismāʿīlitischen Gouverneurs Muḥtašam Nāṣir ad-Dīn ʿAbd arRaḥīm b. Abī Manṣūr in Sartaḫt/Qūhistān und konvertierte schließlich zur ismāʿīlitischen Glaubensrichtung. Danach bemühte aṭ-Ṭūsī sich vergeblich um eine Anstellung am Hofe des ʿAbbāsiden-Kalifen al-Mustaʿṣim in Baghdad. Nach einer Intrige, die der dortige schiitische Wesir Ibn al-ʿAlqamī initiiert hatte, wurde er nach Dailam verbracht, wo er auf den Ismailitenburgen Meimūndez und der ḥiṣn al-maut („Todesburg“) Alamūt seine wissenschaftlichen Arbeiten fortführen konnte. In den nahezu dreißig Jahren, die er dort verbrachte, verfasste er elementare Schriften im Einklang mit der ismāʿīlitischen Doktrin. Aṭ-Ṭūsī stand der Lehre der Muʿtāzila nahe, die den Glauben rational zu begründen sucht und Elemente der griechischen Philosophie inkorporiert, den Qurʾān als erschaffen betrachtet und den Menschen als für seine Taten verantwortlich begreift. Als Elfjähriger hatte er miterlebt, wie die Truppen Dschingis Khans seine Heimat verwüsteten; nun wurde er von Alamūt aus als Unterhändler ins mongolische Feldlager entsandt und schloss sich, nachdem der letzte Herrscher der Bergfestung, Rukn ad-Dīn Ḫuršāh (1255–1256) auf Anordnung des Großkhans Möngkä durch die Truppen Hülägüs getötet und Alamūt 654/1256 eingenommen worden war, schließlich dem Mongolenkhan an und begleitete ihn bei seinen Eroberungszügen in den Westen. Er wurde Augenzeuge des Niedergangs von Baghdad 656/1258 und der Ermordung des letzten ʿabbāsidischen Kalifen. 40 Jan Rypka, Bābā Afḍal, in: EI-online edition, abgerufen am 07.12.2017

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Vermutlich war er schon davor von Hülägü mit der Verwaltung der Finanzen, insbesondere der religiösen Stiftungen, betraut worden. Als Hülägüs Ratgeber und Hofastronom konstruierte er 1259 das Observatorium in der īlḫānidischen Residenzstadt Marāġa/Azerbaidschan und stellte unter dem Īlḫāniden Abaqa (-680/1282) seine astronomischen Tafeln fertig. Wesentliches Merkmal ist bei ihm die auch Schiiten erlaubte Verschleierung ihrer religiösen Haltung (taqīya). Seinen kurzen Aufenthalt am Kalifenhof werten schiitische Beobachter als geschickten Schachzug, um auf weite Sicht die Assassinen zu stürzen und damit das „Heilige Haus der ʿAlīden“ von den ġulāt (den Übertreibern) 41 zu befreien. Aṭ-Ṭūsī soll schließlich angeregt haben, den letzten ʿAbbāsidenkalifen al-Mustaʿṣim zu töten, wobei er zuvor Hülägüs Befürchtungen, durch eine solche Tat werde womöglich eine „kosmische Katastrophe“ ausgelöst, habe ausräumen müssen. In Filz oder Ochsenhaut eingewickelt und von Pferdehufen zertrampelt soll der letzte ʿAbbāside sodann 656/1258 sein Leben ausgehaucht haben, ohne dass 42 man offen sein Blut vergießen musste. „Er zog im Zuge des Mongolen […] in vollkommener Vorbereitung nach der Stadt des Heils Bagdad, um die (wahren) Diener (Gottes) auf den rechten Weg zu leiten, dem Lande die Wohlfahrt zu bringen, um das letzte Glied der Kette von Gewalt und Frevel abzuschneiden, um auszulöschen den Brand der Tyrannei und der Verwirrung dadurch, dass er den Kreis des Königtums der ʿAbbāsiden zerstreute und über die Anhänger dieser Verworfenen allgemein das Morden brachte, bis dass er ihr schmutziges Blut in Strömen vergoss und es so ins Wasser des Tigris strömen liess und von dort ins Höllenfeuer, das Heim des Verderbens, die Stätte 43 der Elenden und Bösewichter.“ 41 Rudolf Strothmann, Die Zwölfer-Schīʿa, Leipzig, 1926, S. 32 42 Minhāǧ ad-Dīn, Ṭabaqāt-i-Nāṣirī, trad. H. G. Raverty, A General History of the Muḥammadan Dynasties of Asia, London, 1881, S. 1252-1254 43 Al-Ḫwānsārī, Rauḍāt al-ǧannāt, Teheran, 1889/1390 h.š., Vol. IV, S. 66, 25 ff., trad.: Strothmann, 1926, S. 32. Sayyid Mīrzā Muḥammad Bāqir Mūsāwī Čahārsūqī b. Mīrzā Zain al-ʿAbidīn al-Ḫwānsārī (1811–1895) stammt aus einer reli-

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Der schiitische Historiker Ḫwānsārī interpretierte diese Ereignisse als späte Rache für das ʿabbāsidische Täuschungsmanöver an Abū Muslim, mit dem verhindert wurde, dass ein Alide an die Macht kam. Dies muss aber ebenso dahingestellt bleiben wie die Rolle und Motivation aṭṬūsīs selbst, der als „böser Geist des Hülägü“ die „Leute mit den kleinen Pupillen und Gesichtern wie überzogene Schilde, in Eisen gewan44 det, kahlköpfig und bartlos“ zum Rachewerkzeug gemacht habe und um dessen religiöse Ausrichtung es zu aller Zeit Anlass zu Spekulationen und heftiger Polemik gab. Aṭ-Ṭūsī verfasste um 664/1264 auf Bitte des Wesirs Šams ad-Dīn Muḥammad Ǧuwaynī das Werk Awṣāf alašrāf – ein Leitfaden für Sufis.

giösen Adelsfamilie in Hwānsār/Iran. Nach dem Tod des Großvaters, bei dem er studierte, zog er 1824 mit seinem Vater nach Iṣfahān. Im Irak wurde er zum muǧtahid ernannt (Abdul-Hadi Hairi, EI2, S. 1027). 44 Strothmann, 1926, S. 24, 45, Halm, 1988, S. 79

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3 Ǧabal ʿĀmil – der „Berg der ʿĀmila“ Eine detaillierte geographische Beschreibung des Ǧabal ʿĀmil liefern der aus Šaqrāʾ/Südlibanon stammende schiitische Kleriker Muḥsin alAmīn (1867–1952), Verfasser des mehrbändigen lexikalischen Werkes Aʿyān aš-Šīʿa sowie Munḏir Ǧābir: „Westliche Grenze der Region ist die Mittelmeerküste mit den Hafenstädten Ṣaidā (Sidon) und Ṣūr (Tyros), im Süden grenzt Ǧabal ʿĀmil an Palästina, im Osten an Jordanien, an al-Ḥūlā und Wādi al-Taim, an die Beqaa-Ebene und an jenen Teil des Ǧabal Lubnān, der hinter dem Ǧabal al-Raiḥān und der Region Ǧazzīn 45 gelegen ist. Im Norden bildet der Awwālī-Fluss die Grenze.“ „… und es ist sicher, dass es (Ǧabal ʿĀmil) zu unserer Zeit begrenzt wird vom Nahr al-Qurn nahe Taršīḥā und der Umgebung von ʿAkkā, südlich des Dorfes Zīb in Palästina im Süden, zum Nahr al-Awwālī, der früher unter dem Namen Nahr al-Faradīs bekannt war, und dessen Wasserlauf die Distrikte Šūf und Ǧazzīn nahe Ṣaidā trennt, im Norden und von der Küste des Mittelmeeres im Westen zu der Oase Ḥūlā und al-Namīt zum Nahr alĠaǧar und Wādi al-Taim im Osten, und ein großer Teil davon (dieses Gebirges) ist verbunden mit dem Ǧabal Lubnān, wie Ǧaz46 zīn, Mašġara und Ǧabal al-Raiḥān.“ 47

Frédéric Maatouk erinnert an „an-Nabaṭīye, ʿāṣima Ǧabal ʿĀmil“, die Hauptstadt des erst nach 1920 in „Südlibanon“ umbenannten Gouvernements Nabatäa. Die Bezeichnung „Libanon“ findet sich in der Literatur auch für die Zeit vor der Staatenbildung von 1920, in der das betreffende Gebiet Bestandteil Größer Syriens, später des Osmanischen 45 Muḥsin al-Amīn, 1983, S. 47, trad. Monika Pohl-Schöberlein, Die schiitische Gemeinschaft des Südlibanon (Ǧabal ʿĀmil) innerhalb des libanesischen konfessionellen Systems, Berlin, 1986 46 Munḏir Ǧābir, Tārīḫ Ǧabal ʿĀmil, Beirut, o.J. in: Ḥ. M. Saʿd, Ǧabal ʿAmil bain al-atrāk wa‘l-fransīyīn, Beirut, 1980, S. 17 47 Frédéric Maatouk, La représentation de la mort de l’imam Hussein à Nabatieh, Beirut, 1974, hintere Umschlagseite

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3 ǦABAL ʿĀMIL – DER „BERG DER ʿĀMILA“

Reiches war. So versteht sich der moderne Terminus aus Gründen der Zweckmäßigkeit auch in dieser Arbeit als Referenz für die konstitutionellen Bestandteile des drusischen Emirats Mont Liban, von dem aus dem von 1861 bis 1923 bestehenden osmanischen Sandschak, der sich vom Nahr al-Kabīr im Norden bis zum Nahr Līṭānī im Süden erstreckte, dort einen Teil Obergaliläas, die Zentralebene der Bekaa und die westlichen Ausläufer des Anti-Libanon und Hermongebirges umfasste, die Bildung des modernen Libanon mit seiner heutigen Staatsgrenze ausging.

3.1 Die ʿĀmila – eine Spurensuche Im 6. Jahrhundert n. Chr. soll die Bevölkerung des heutigen Libanon sich aus Resten der Kanaaniter (Phönizier) und Aramäer (später „Syrer“) rekrutiert haben, wobei die Bewohner Baalbeks aus Byzantinern und diejenigen der Küste aus Armeniern und Persern bestanden habe, die vor und während des byzantinisch-persischen Krieges ins Land gekommen waren, sowie aus Mitgliedern alter arabischer Stämme, wie den Ituräern, Nabatäern und einigen Stämmen jemenitischen Ursprungs, wie den bereits erwähnten ʿĀmila, den Kinda, Qays, Laḫm 48 49 und Ǧuḏām in Palästina und Westsyrien. Der Stammbaum der letzteren zeigt die ʿĀmila als parallelen Zweig der Ǧuḏām und der Laḫm, die in einer Linie von den ʿAdī, den al-Ḥāriṯ, den Murra und den Kahlān abstammen. ʿĀmila, Ǧuḏām und Laḫm sollen „unter demselben Banner“ 14/636 in der Schlacht am Yarmūk an der Seite der Byzantiner 50 gekämpft haben. Dies zumindest stimmt mit den Ausführungen von Henri Lammens (1862–1937) überein, der die ʿĀmila als jemenitischen oder südarabischen Stamm beschreibt, der sich im 6./7. Jahrhundert mit anderen syrisch-arabischen Stämmen dem byzantinischen Kaiser Herak-

48 Henri Lammens in: EI1, Leiden, 1913-1936, S. 1105 49 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 46, Hitti, A Short History of Lebanon, New York, 1965, S. 15 ff. 50 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 44

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3 ǦABAL ʿĀMIL – DER „BERG DER ʿĀMILA“ 51

leios anschloss. Kurz darauf seien die ʿĀmila in Ober-Galiläa, das von ihnen den Namen Ǧabal ʿĀmil erhalten habe, zu finden gewesen und 52 ab dem 10. Jahrhundert im Bezirk bilād aš-šaqīf im Südlibanon. Neben dem nicht belegten Hinweis auf ihre mutmaßliche Zugehörigkeit zu Untertanen der sagenhaften Zabbā (Zenobia) von Tadmur (Palmyra) gibt es weitere, nicht selten bizarre Theorien bezüglich der Abstammung der ʿĀmila. So wurde in diesem Zusammenhang erwogen, ob ihr Name nicht möglicherweise von einer Führungspersönlichkeit namens ʿĀmila herrühre, bei der man vermuten dürfe, dass es sich um eine Frau gehandelt habe. Allenthalben ist festzustellen, dass bezüglich der retrospektiven Wahrnehmung der ʿĀmila eine Vermischung ihrer ethnischen Herkunft mit ihrer späteren religiös-politischen Konnotation zur Schia stattgefunden hat. Vermutlich ist hierfür nicht zuletzt eine Definitionsunsicherheit hinsichtlich der persischen Bevölkerungsteile im Besiedlungsraum verantwortlich. Meist führt die Suche nach den Wurzeln der libanesischen Schia, wie noch zu sehen sein wird, zurück zu den eingewanderten jemenitischen Stämmen – und damit zu den ʿĀmila. Rula Abisaab führt aus, dass südarabische (hier: jemenitische) Clans, 51 Lammens, H. Caskel, W., ʿĀmila, in Encyclopaedia of Islam, online-edition, abgerufen am 20.09.2017, Al-Balāḏurī, Kitāb futūḥ al-buldān, Reprint de Goeje, Leiden, 1866, ed. Fuat Sezgin, Islamic Geography, Vol. 42, Frankfurt/M. 1992, S. 59 52 Al-Yaʿqūbī, Kitāb al-buldān, Reprint de Goeje, Leiden 1892, ed. Fuat Sezgin, Islamic Geography, Vol. 40, Frankfurt/M., 1992, S. 327. Abū’l-Abbās Aḥmad b. Abī Yaʿqūb b. Ǧaʿfar b. Wahb b. Wāḍiḥ, al-Kātib al-ʿAbbāsī, bekannt als alYaʿqūbī, wurde im 3./9. Jh. in Baghdad geboren und starb nach 292/905. Der arabische Historiker und Geograph war Sohn eines freigelassenen Sklaven, imamitischer Schiit und verbrachte seine Kindheit in Baghdad. Als junger Mann lebte er in Armenien und stand danach in Diensten der Ṭāhiriden (-259/872-3) in Ḫorāsān. Nach deren Sturz zog er nach Ägypten und in den Maghreb. Seine in den Jahren 259–273 A.H. verfasste Weltgeschichte reicht von der biblischen Schöpfung bis zum Sturz der Ṭāhiriden. Sein schematisch aufgebautes geographisches Werk Kitāb al-buldān (Buch der Länder) mit wichtigen statistisch-topographischen Angaben über den Irak, Iran, Mesopotamien, Syrien, Ägypten, Nubien und den Maghreb wurde am Hof der Ṭūlūniden 276/889-890 vollendet.

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wie die sich von den Zaiditen und den Ismāʿīliten abgrenzenden und klar zwölfer-schiitisch ausgerichteten Banū Ḥamdān (al-Ḥāriṯ al-Ḥamdānī) bereits während der ersten islamischen Jahrhunderte im Ǧabal 53 ʿĀmil ansässig waren. Philipp Hitti wiederbelebte die These der persischen Wurzeln der ʿĀmilī und folgt damit einer frühen Auffassung 54 Henri Lammens’, wonach die Vorfahren der Schia aus Persien stam55 men. Weil diese Sicht aber der Argumentation von Verfechtern des arabischen Nationalismus zuwiderläuft, wird sie auch im Libanon teilweise mit dem Vorwurf abgelehnt, sie trage zur Verschleierung der arabischen Wurzeln der Schia bei und stelle sie als nichtarabisches Phänomen dar. Neuere Studien greifen die persische Abstammungstheorie über die jemenitischen Stämme wieder auf, die vor dem Ende des 10. Jahrhunderts einwanderten und sehen in ihnen den Ursprung heutiger schiitischer Familien im Libanon. Zu den Verteidigern der im 19. und frühen 20. Jahrhundert vertretenen These, die ʿĀmilī seien persischer Provenienz, gehört auch der libanesische Historiker und maronitische Richter Ṭannūs aš-Šidyāq (1794–1861), der die religiöse Übereinstimmung zwischen den Schiiten des Libanon und denen im Iran auf eine 56 frühe Ansiedlung von Persern im Ǧabal ʿĀmil zurückführt. Dass sich die verschiedenen Standpunkte diesbezüglich nicht widersprechen müssen, zeigt ein Blick auf die politische Landkarte des 6. Jahrhunderts und den Nachhall der militärischen Intervention des Sāsānidenherrschers Khosrō Anūširwān (531–579) am Persischen Golf: Ein Militärhilfegesuch seitens der nach Unabhängigkeit strebenden jeme53 Rula Abisaab, Shiite Beginnings and Scholastic Tradition in Ǧabal ʿĀmil in Lebanon, in: The Muslim World, Vol. 89, No. 1, 1999, S. 4, 6. Rula Abisaab ist libanesischstämmige Professorin für Islamische Geschichte an der McGill University in Montreal/Quebec. 54 Seine Arbeit über die „Perses du Liban“, die 1929 erschien, steht nicht im Einklang mit dem oben erwähnten Artikel in der Encyclopaedia of Islam. 55 Hitti, Lebanon in History From the Earliest Times to the Present, NewYork, 1967, S. 70-71 56 Ṭannūs aš-Šidyāq, Aḫbār al-Aʿyān fī Ǧabal Lubnān, 2 Vols., Beirut, 1993 (1859), S. 201-202

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nitischen Juden in ihren Händeln mit der Okkupationsmacht Abessinien, das der Ḥimyarī-Häuptling Sayf b. Ḏī Yazan dem Sāsānidenhof in al-Madāʾin überbrachte, veranlasste den persischen Großkönig 575 zur 57 Entsendung eines dailamitischen Heeres unter General Wahriz. In der Folge dieser Invasion blieb der Jemen mehr als ein halbes Jahrhundert persisch dominiert. Mit dem Rückfluss der Nachfahren dieser sāsānidischen Militärkontingente gelangten iranischstämmige Kämpfer mit ihrer Entourage ans östliche Mittelmeer, nach Syrien und in den Irak. Deren vielfältige Selbst- und Fremdbezeichnungen dürften ursächlich sein für die bereits erwähnten Definitionsunsicherheiten: Neben dem Terminus abnāʾ waren im Irak wie Iran die Bezeichnungen ḥamrāʾ, asāwirah sowie ʿayyārān, āzādān, asbārān und aḥrār für diese Menschen geläufig. Der synonyme Gebrauch der Begriffe asāwirah und Qādarīya (letztere unterhielt außer im Irak auch im Jemen ein Lehrzen58 trum mit „Magiern der Gemeinschaft“ ) sorgte schließlich auch für erhebliche Konfusion bezüglich ihrer religiösen Zuordnung. Ernest Renan schlussfolgert, dass einige Familien des Ǧabal ʿĀmil, die mit Ṣalāh ad-Dīn al-Ayyūbī in diese Region gekommen waren, kur59 discher Provenienz seien und Louis Lortet (1836–1909), der ausführt, dass die schiitische Bevölkerung Syriens türkischen Ursprungs sei und sich zunächst in Persien niedergelassen habe, von wo sie im 13. Jahrhundert nach Syrien migrierte, synonymisiert die von Gertrude Bell (1868–1916) in ihren Reiseberichten als „unehrlichste Sekte“ bezeichne60 ten „Metāwileh“ mit den ʿĀmilī. In den Häusern der „métouali“ befänden sich neben Bildern des persischen Schah auch Ausgaben des Shāhnāmeh. Dies lasse auf Perser schließen, die aus Syrien deportiert wor61 den seien. Henri Lammens hatte in seiner frühen These, die er jedoch 57 ʿAbd al-Muhsin Madʿaj M. al-Madʿaj, The Yemen in early Islam, London, 1988, S. 2 58 Mohsen Zakeri, Sāsānid Soldiers in Early Muslim Society, Wiesbaden, 1995, S. 327, 328 59 Ernest Renan, Mission de Phénicie, Paris, 1864, S. 633 60 Gertrude Lowthian Bell, The Desert and the Sown, London, 1985, (1907), S. 168 61 Louis Lortet, La Syrie d’aujour d’hui – voyages dans la Phénicie, le Liban et la Judée 1875–1880, Paris, 1884, S. 134

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später wieder zurückzog, die Auffassung vertreten, dass die ʿĀmilī von 62 persischen Söldnertruppen abstammten. Seine Argumentation stützt sich auf historische Tatsachen im Zusammenhang mit den islamischen Eroberungen: Er geht davon aus, dass es sich bei den Umgesiedelten um Truppenteile gehandelt habe, die vom Umayyadenherrscher alMuʿāwiya (41–60/661–680) verlegt, am Litoral installiert und im Be63 reich „zwischen den beiden Flüssen“ eingesetzt worden waren. Tatsächlich sollen persische, al-ḥamrāʾ genannte Kämpfer in al-Kūfa zahlenmäßig ein Problem geworden und nach Baṣra oder Syrien transfe64 riert worden sein. Aus den Eroberungsberichten von al-Balāḏurī geht folgende Überlieferung bezüglich des Influxes persischer Bevölkerungsteile in die Levante hervor: Abū Masʿūd al-Kūfī weiß von Misʿar b. Kidām, dass Rustam 16/637 nach der Schlacht von Qādisīya mit seinem viertausendköpfigen Heer, dem „ǧund šahān-Šāh“ – bei freier Wahl des Siedlungsgebietes, der Bündnispartner und der Alimentierung seiner Solda65 ten – zur Kapitulation bereit war. Saʿd b. Abī Waqqāṣ, umayyadischer Truppenführer in der Schlacht, stellte nach deren Konvertierung eine Million Dirham für die Besoldung dieser ḥamrāʾ Dailam genannten Teile der sāsānidischen Infanterie zur Verfügung, außerdem eine eige66 ne Moschee und ein Dorf nahe Kūfa, wo die aus dailamitischen Söldnern bestehende und unter dem Namen al-ḥamrāʾ geführte 6. Garnison 67 vornehmlich angetroffen wurde. In Ḫāniqīn, wo sie zusammen mit den Resten der iranischen Armee nach der Schlacht von Ğalūlāʾ 16/637, bei der es 100.000 persische Verluste gab, gefangen genommen worden 62 Henri Lammens, Sur la frontière nord de la terre promise, Paris, 1921, S. 6, 46 63 Dabei könnte es sich um das Gebiet zwischen dem Awwāli und dem Līṭānī handeln. 64 Ṭabarī, Tārīḫ ar-rusūl wa’l-mulūk, ed. Muḥammad Abū ’l-Faḍl Ibrāhīm, Vol. 2, Cairo, 1963, S. 118, 129, 148 65 Balāḏurī, Kitāb futūḥ al-buldān, trad. Hitti, 1968, S. 440 66 Balāḏurī , Futūh, 1968, S. 280, Ṭabarī, Tārīḫ, Vol. 2, 1963, S. 2261, 2473 ff., Gerd-Rüdiger Puin, Der Dīwān von ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb, Bonn, 1970, S. 96 ff., Michael G. Morony, Iraq after the Muslim Conquest, Princeton, 1984, S. 198 67 Hitti, 1968, S. 441, Morony, 1984, S. 179, 207

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waren, sollen sie zudem als Grenzgarnison unter ihrem Führer Qubāḏ aus Ḫorasān geblieben sein. Später soll ein Teil dieser Menschen auf Befehl al-Muʿāwiyas von Ziād b. Abīhi nach Syrien abkommandiert worden sein, wo man sie „al-fors“ (Perser) nannte. Ein anderer Teil wurde nach Baṣra verlegt, wohin auf Grund der dortigen attraktiven Bedingungen immer weitere Elemente des persischen Militärs strömten und wo es 683 nicht nur Konvertierte, sondern auch Zoroastrier 68 gab – einschließlich zoroastrischer Metzger. In Baṣra wurden die alḥamrāʾ mit den dortigen asāwirah zusammengeschlossen, die vermutlich bereits vor der Schlacht von Qādisīya übergelaufen und dort ansässig geworden waren. Beide waren Verbündete der Ṭamīm. ʿAbd al-Muhsin Madʿaj M. al-Madʿaj führt in seiner Untersuchung der Stämme im frühislamischen Jemen auf, dass die „persische Sippe“ der abnāʾ in Ṣanʿāʾ Unterstützung von der medinensischen Regierung in Stammesauseinandersetzungen mit den Maḏḥiǧ und den Qays wegen der Ermordung ihres Stammesführers Dāḏawayh al-Iṣṭaḫrī erhalten habe. Mit dem Einmarsch der muslimischen Truppen 11/632-3 in Ṣanʿāʾ wurde der Stammesführer der abnāʾ, Fairūz ad-Dailamī, seines 69 Postens enthoben. Die abnāʾ, die als privilegierte, aristokratische Kas70 te beschrieben werden, stellen gemäß Maqrīzī Reste des Heeres von 71 Baḏān, dem persischen Gouverneur im Jemen, dar und kamen mit ʿAmr b. al-ʿĀṣ nach Ägypten, wo sie ʿAbd al-Muhsin Madʿaj M. al-Ma72 dʿaj in al-Fusṭāṭ verortet. Führende Gelehrte des 20. Jahrhunderts aus dem Ǧabal ʿĀmil, darunter Aḥmad Riḍā und Muḥsin al-Amīn, leiteten aus der jemenitischen Abstammungstheorie ausschließlich arabische Ursprünge der ʿĀmilī 73 ab. Muḥsin al-Amīn führt dazu aus, dass die Form der ʿimāla, die Be68 69 70 71

Baladhuri, Futuh, S. 372-4 ʿAbd al-Muhsin Madʿaj M. al-Madʿaj, 1988, S. 103-105 ʿAbd al-Muhsin Madʿaj M. al-Madʿaj, 1988, S. 5-6 Aḥmad b. ʿAlī al-Maqrīzī, Kitāb al-Mawāʿiẓ wa'l-iʿtibār fī ḏikr al-ḫiṭaṭ wa'lāṯār, Vol. 5, III, Kap. 8, ed. Gaston Wiet, Cairo, 1927, S. 59 72 ʿAbd al-Muhsin Madʿaj M. al-Madʿaj, 1988, S. 92 73 Imāla: ein phonetisches Phänomen der Beugung, Färbung, Palatalisation, EI 2, Vol. I, S. 1162

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tonung des „a“, das sich in der Alltagssprache der ʿĀmilī in Richtung „e“ verfärbe, nicht ein persisches Überbleibsel sei, sondern einer sprachlichen Sonderform des Arabischen entspreche, die mit der eines warš al-ʿaṣim (Koranrezitierer) übereinstimme. Er räumt allerdings durch die Einwanderung der arabischen Laḫm, Ǧuḏām, ʿĀmila, Kinda, Qays und Kināna einerseits und Persern andererseits eine große ethnische 74 und religiöse Durchmischung der Bewohner des Ǧabal ʿĀmil ein. Die frühen Einwohner der ʿĀmilī-Berge, die zum Stamm der ʿĀmila gehörten, sollen, so Lammens, nach dem jemenitischen Hauptmann ʿĀmila b. Sabaʾ b. Yašīb b. Yaʿrub b. Qaḥṭān benannt sein, wobei der Stamm der ʿĀmila irgendwann vor dem 11. Jahrhundert aus dem Jemen immigriert sei und sich im südlichen Teil des Libanon niedergelassen habe, der zunächst „Ǧabal al-Ǧalīl“ hieß – später aber „Ǧabal 75 76 ʿĀmil“ genannt wurde. Munḏir Ǧābir nimmt diese Theorie lediglich als Mythos in seine Betrachtungen auf, geht aber mit Historikern konform, die die Benennung „Ǧabal ʿĀmil“, oder „Ǧabal ʿĀmila“ auf die Herkunftsbezeichnung des jemenitischen Stammes ʿĀmila b. Sabaʾ zurückführen, der nach einer der Überflutungen aus dem Jemen auswanderte: „… und seine Bewohner sind reine Araber, was ihre Herkunft, Ihre Sprache und ihr Brauchtum betrifft; sie stammen ab von ʿĀmila ibn Sabaʾ ibn Yašġub ibn Yaʿrub ibn Qaḥṭān. Sie sind ein Stamm, der aus dem Jemen in die Region aš-Šām auswanderte, ungefähr im Jahre 300 vor Christus, nach dem Ereignis der gewaltigen Flut, dem Zusammenbruch des Staudammes von Mārib und dem Un77 tergang des geschichtlich bekannten Königreiches von Sabaʾ.“

Tatsächlich schwand die politische Vorherrschaft des semitischen Königreichs Saba bereits ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. Der 74 75 76 77

Muḥsin al-Amīn, 1983, S. 49-50, 52 Lammens, ʿĀmila, in: EI1, Vol. I, S. 343 Munḏir Ǧābir, 1980, S. 15 Munḏir Ǧābir, Tārīḫ Ǧabal ʿĀmil, Beirut, o.J., trad. Pohl-Schöberlein, 1986, S. 13

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Staudamm von Mārib brach in der Geschichte mehrmals. Eine erste Auswanderungswelle folgte der Austrockung des Landes nach dem Verfall der Bewässerungsanlagen und der Verlegung der Handelswege im ersten Jahrhundert vor unserer Zeit. Der letzte große Migrationsschub von arabischen Kamel-, Schaf- und Ziegenbauern aus dem Jemen und aus Bahrain vollzog sich nach Michael Morony, der die Wanderungen der arabischen Stämme in den sāsānidischen Irak nachzeich78 nete, im späten fünften und frühen sechsten Jahrhundert. Saba, das zwischenzeitlich unter äthiopische Vorherrschaft geraten war, gelangte 575 n. Chr. in die Abhängigkeit des Sāsānidenreiches und wurde 597/598 persische Provinz. Den Umstand der Fremdherrschaft, die im alten Südarabien mit dem Verlust einer starken Zentralmacht und Zwistigkeiten zwischen einzelnen Kleinfürstentümern einherging und die Auflösung einer gut organisierten Gesellschaft bedeutete, macht W.W. Müller für die Vernachlässigung der unabdingbaren und regelmäßig durchzuführenden Reparaturmaßnahmen am Staudamm verantwortlich, der den Niedergang der Agrikultur, die Abwanderung ganzer Stämme (Banū Ġassān und Azd) in Richtung Norden und schließlich den Zusammenbruch des Dammes entweder 542 oder 575 n. Chr. zur Folge hatte. Als sayl al-ʿarim fand die Katastrophe in 79 Sura XXXIV, 16 (‫ – ﺳﻮﺭﺓ ﺳﺒﺄ‬die Sabäer) Eingang in den Koran. Henri Lammens gibt als Zeitpunkt der Ansiedlung südarabischer Stämme im Litoral das 3. Jahrhundert nach der Hidschra an. Bei dieser Datierung jedoch kann der ultimative Bruch des Staudamms von Mārib nicht unmittelbare Ursache gewesen sein. In der Schwäche des ʿabbāsidischen Staatsapparates und der Lage des Ǧabal ʿĀmil außerhalb des Machtbereiches der „Zentralregierung“ erkannten die später gemeinsam mit den Banū ʿĀmila emigrierten und ebenfalls von den Söhnen des Sabaʾ b. Yaʿrub b. Qaḥṭān abstammenden südarabischen Stämme Laḫm, Ġassān und Ǧuḏām bei der Suche nach neuen Weideplätzen ihren Vorteil. Anfangs schien der Stamm ʿĀmila südwestlich des Toten Meeres gesiedelt zu haben und später in Rich78 Morony, 1984, S. 215-220 79 W.W. Müller, Mārib, in: EI-online, abgerufen am 31.03.2017

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tung Norden weitergezogen zu sein, um sich kurz nach der islamischen Eroberung zunächst im äußersten Teil des Ǧabal al-Ǧalīl und wenige Jahrhunderte später in bilād aš-šaqīf niederzulassen, das zum heutigen Südlibanon gehört. Dass Menschen aus dem Ḥiǧāz in den syrischen Raum gekommen waren, belegen noch heute (süd)-libanesische Familiennamen mit der nisba „Makkī“, oder „Hiǧāzī“. Mitglieder der ahl al-bait, zu denen sich die von „authentischen arabischen Beduinen“ abstammenden Familien Miqdād, Aštar, Abū Ḏarr, ʿAmmār und andere Protagonisten der ʿalidi80 schen Legende zählten, galten auch im Libanon als privilegiert. Der persische Reisende Naṣīr-e Ḫosrou beschreibt für das 11. Jahrhundert nicht nur Tripoli (liban. Ṭrāblus) als Stadt mit ausnahmslos schiitischer Bevölkerung – auch „die meisten Bewohner der Küstenstädte von aš81 Šām“ (Syrien) seien Schiiten.“ Auf Grund der Übereinstimmung der schiitischen Doktrin im Ǧabal ʿĀmil mit derjenigen in Persien erörtert Muḥammad Kāẓim Makkī eine gemeinsame Wurzel. Er orientiert sich im Übrigen an den Auffassungen von Lammens und Renan, die die Bevölkerung des Ǧabal ʿĀmil 82 für nicht-arabischen Ursprungs halten. Weiter geht aus al-Balāḏurīs Eroberungsberichten hervor, dass alMuʿāwiya „Menschen verpflanzte“: Abū Alyasaʿ al-Antākī weiß von „gewissen Scheichs“ in Antiochia und dem Jordangebiet, dass eine Gemeinschaft von Persern („ qawman min furs Baʿlabak wa Ḥomṣ wa Anṭākya“) im Jahre 42/662 durch al-Muʿāwiya von Baalbek, Ḥomṣ und 80 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 13 81 Naser-e-Khosrou, Safarname, trsl. Seyfeddin Najmabadi und Siegfried Weber, München, 1993, S. 42/43. Hakim Abū Muʿīn Naṣīr b. Ḫosrou b. Ḥāriṯ al-Qobaḏiyānī al-Balḫī al-Marwazī, geboren 394/1004 in Qobaḏiyān im heutigen Tadschikistan, gestorben zwischen 465/1072 und 471/1078 und bestattet in Yumgān/Badaḫshān im heutigen Afghanistan. 82 Muḥammad Kāẓim Makkī, Al-Ḥaraka al-fikrīya wa’l-adabīya fī Ǧabal ʿĀmil, Beirut, 1963, S.14/16. Bis zum Abschluss dieser Arbeit konnte ich nichts über dessen Vita in Erfahrung bringen. Prof. Assaad Kattan aus Münster verwies mich an Prof. Mahmoud M. Ayoub in Kalifornien und dieser an die Archive der Zeitschrift „al-ʿIrfān“ in Ṣaidā. Eine entsprechende Anfrage an deren Stiftungspräsidenten Šaiḫ Ali Zein Eddine blieb bis zuletzt unbeantwortet.

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Antiochia in die Küstengebiete des Jordanlandes nach Ṣūr, ʿAkkā und 83 anderen Orten transferiert wurde. Im selben Jahr (oder „eines zuvor oder danach“) sollen gepanzerte persische Reitereinheiten – „gewisse asāwirah“ – unter ihrem persischen Anführer Muslim b. ʿAbdallāh von 84 Baṣra und Kūfa dorthin abkommandiert worden sein. Al-Muʿāwiya habe diese Perser als Bollwerk ans Mittelmeer detachiert, weil er zeitgleich den von Byzanz bedrohten Irak zu befrieden suchte. Möglicherweise aber habe es sich auch um „arabisierte Perser“ gehandelt, die alMuʿāwiya nicht allein auf Grund ihrer militärischen Qualitäten umsiedelte, sondern, um – ihrer schiitischen Ausrichtung wegen – mit dieser Maßnahme die Partei ʿAlīs im Irak zu schwächen. Diese Auffassung unterstützen auch Fred McGraw Donner und Hugh Kennedy mit Rückgriffen auf die Berichte von aṭ-Ṭabarī und alBalāḏurī, nach denen unter al-Muʿāwiya die nach Kūfa abgezogenen arabischen Truppen an den vier Grenzposten Mossul, Qarqīsiāʾ, Ḥulwān und Māsabaḏān durch die vermutlich bereits 628 zur Verstärkung der syrischen Küstenverteidigung gegen Byzanz in Baalbak, Ḥomṣ und Antiochia zurückgelassene persische Kavallerie, die asāwirah ersetzt wurden, die auch in Qādisīya, Ǧalūlāʾ und in Ḫūzistān an der Seite der 85 Muslime kämpften. Deckungsgleiches findet sich bei al-Yaʿqūbī, der ebenfalls berichtet, dass al-Muʿāwiya im Jahre 42/662 Perser in Ṣaidā, Beirut, Ǧubail (Byblos), Tripoli, ʿArqa und anderen Städten ansiedelte – als Puffer gegen 86 mögliche seeseitige Angriffe der Byzantiner. Besonders die Küstenstädte waren von einem Wirtschaftsrückgang, auf den noch näher einzugehen sein wird, betroffen und durch vorausgegangene Erdbeben sowie religiös-politische Auseinandersetzungen erschüttert, so dass sie 83 Hugh Kennedy, The Armies of the Caliphs, London/New York, 2001, S. 12/ FN 74 – Al-Balāḏurī, Aḥmad b. Yaḥyā b. Ǧābir, Kitāb futūḥ al-buldān, Hg. Fuat Sezgin, Islamic Geography, Vol. 42, Frankfurt/M., 1992 (Repr. de Goeje, Leiden, 1866), S. 117 84 Hitti, 1968, S. 180 85 Hitti, 1968, S. 239, 253, aṭ-Ṭabarī, Tārīḫ ar-rusūl wa‘l-mulūk, Vol. 1, Cairo, 1960, S. 2497 86 Al-Yaʿqūbī, 1992, S. 326 ff.

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al-Muʿāwiya bei der Eroberung verlassen vorfand. Der Exodus vieler Bewohner, die im Gefolge der byzantinischen Armee nach Byzanz um87 siedelten, trug weiter zur Verödung des Litorals bei. Das Ausgeführte vermag weder letzte Zweifel bezüglich der Ursprünge der ʿĀmila auszuräumen, noch erbringt es eine abschließende Klärung des persischen Anteils der Menschen im Ǧabal ʿĀmil; die Gesamtzusammenhänge der großräumigen Militäraktionen und deren bevölkerungsrelevante Konsequenzen allerdings ergeben in ihrer Summe für die nur scheinbar divergierenden wissenschaftlichen Thesen eine gemeinsame Basis.

3.2 Die enigmatischen Mutāwile und ihre Polemiker „Die Métoualis sind Muslime der Sekte des ʿAlī.“

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Die Frage nach der Identität der sogenannten mutāwile (liban. ugs.: metāwileh, matāwila, mutāwila, mtawleh; franz.: métouali) sowie Spekulationen hinsichtlich des Ursprungs ihres Namens erbrachte im wissenschaftlichen Diskurs der Problematik um die ʿĀmilī vergleichbare bunte und facettenreiche Lösungsansätze, von denen sich nicht alle durchsetzen konnten. Dabei lässt die höchst unterschiedliche Lesung des Namens bereits erahnen, wie kontrovers man sich dem Phänomen wissenschaftlich näherte und auf welch unsicherem Terrain man sich dabei allenthalben bewegte. Neben eher gewagten Herleitungsversuchen, unter denen sich einer auf einen Hauptmann namens „Mutual“ als Namensgeber kapri89 ziert, muten Etymologien am plausibelsten an, die sich an der arabischen Sprache orientieren. Demnach scheint relativ gesichert, dass sich der Name der Banū Mutawāl vermutlich nicht vor dem 17.–18. Jahr87 Hitti, 1967, S. 244 88 Henri Lammens, Les Perses du Liban, Beirut, 1929, S. 29 89 Giovanni Mariti (1736–1806), Viaggi per l‘isola di Cipro e per la Soria e Palestina, Voyages en Syrie, Strassbourg, 1789, Paris, 1791, Vol. II, S. 59, trad. Chr. Heinrich Hase

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hundert christlicher Zeitrechnung aus der arabischen Wurzel wly (nahe, benachbart, nahestehend) ableitete und im Partizip des 5. Stammes als mutawālin (betraut, beauftragt) verstanden wird. Der Plural matāwila bezeichnet gemäß Hans Wehr „Angehörige der schiitischen 90 Sekte der Metwālī in Syrien“. Das dem Prophetenneffen ʿAlī zugedachte Epithet walī (Patron, Heiliger) bildet die partizipiale Ableitung muwāl (dessen ergebene Anhänger). Eine versuchte Ableitung vom arabischen Wortstamm awl/āla mit dessen Verbalnomen vom 2. Stamm taʾwīl in der Bedeutung „Interpretation/Erklärung“ stellt auf die schiitische Koranexegese ab und schließt, dass sich aus dessen Partizip mutawwila die abgeschliffene Form mutāwīla entwickelt habe. Šakīb Arslān offeriert eine Erklärung über den 6. Stamm tawāla/mutawālī auf Grund der beständigen Liebe der Schiiten zur Prophetenfamilie, merkt aber an, dass nur Schiiten in „Barr aš-Šām“ (heute Libanon/Jordanien/ Palästina/Syrien), Ǧabal ʿĀmil sowie in Baalbek so genannt werden, 91 nicht aber die im Irak oder anderswo. Gemäß Aḥmad Ridā stellt matāwila einen Plural dar, der entgegen der grammatischen Regel, aus tawallā/mutawallī, oder regelgerecht aus tawālā/mutawālī gebildet 92 wurde. Gagarin, der in seinen linguistischen Betrachtungen „Métouali und Drusen“ unter die „ungläubigen und muslimischen Völker“ des Litoral subsumiert, nimmt eine Wortherkunft vom griechischen Terminus „oἵ 93 94 μετ΄ Άλι“ während des „bas-empire“ an: Bereits im Zuge der ersten islamischen Eroberungen sollen die verschiedenen ethnischen Gruppen des Litoral sprachlich „arabisiert“ worden sein, wobei sich die 95 „métouali“ als Parteigänger ʿAlīs abgrenzten. Dies lässt sich, wie im 90 91 92 93

Wehr, 1976, S. 976 Arslān, 1910, S. 739 Ridā, in: al-ʿIrfān, ii/5, 1910, S. 237; al-Muqtaṭaf, Vol. 36/5, 1910, S. 425 P. Gagarin, Trois mois en Orient, in: Etudes de théologie, de philosophie et d'histoire, Paris, Vol. I, 1859, S. 543 („οἵ μετ΄ Άλι“ entspricht hier „die nach ʿAlī“) 94 Als „bas-empire“ wird die sogenannte „Spätantike“ (3.-6. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung) bezeichnet. 95 Aḥmad Riḍā, 1910, S. 429/432 – erwähnt eine Schlacht von Kaframān oder

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Folgenden zu sehen sein wird, mit den Vorgängen während der Islamischen Eroberung harmonisieren. Ziemlich sicher scheint es sich bei dem Terminus Banū Mutawāl um eine Selbstbezeichnung zu handeln, die sich die Āl Naṣṣār aus dem Ǧabal ʿĀmil, die Banū Ḥarfūš aus Baalbek zulegten und möglicherweise auch die Āl Ḥamāda, die bis ins 18. Jahrhundert den Nordlibanon do96 minierten und bestrebt waren, das Gebiet von der Oberherrschaft der osmanischen Emire zu befreien. Damit ist der Disput über deren Herkunft aber keinesfalls beigelegt: Ṭannūs aš-Šidyāq setzt die Banū Ḥamāda (Ḥamādīya) des 16. bis 18. Jahrhunderts mit den feudalen Scheichs 97 der métouali gleich und nimmt an, dass sie aus Buḫāra stammen. Louis Lortet führt die ethnologische Herkunft der métouali auf Kurden aus den mesopotamischen Grenzgebieten des Iran zurück, die im Gefolge einer groß angelegten Militäroperation im 13. Jahrhundert im Libanon anlandeten: «La race de Métoualis, ou Metāoileh, Metaoāly au singulier, est peu civilisée, brutale quelquefois et méprise les chrétiens.[…]Jamais ils prennent leur repas avec des hommes d’une autre religion, et brisent toujours avec soin le vase dans lequel a bu un étranger. Ils sont aussi obligés de se purifier pendant plusieurs jours, afin d’effacer la souillure qu’ils ont commise en touchant un infidèle, ne fut ce qu’avec le pan de leur robe. A ces minuties intolérantes on reconnaît les pratiques de l’ancien juda’isme […]. Au point de vue anthropologique, les Métoualis sont bien différents des Druses et des Maronites: la charpente osseuse, plus forte, est plus grossière, la taille plus élevée, les épaules plus larges; les pommettes saillantes et la largeur de la máchoire inferieure rapprochent cette race des Mongols, mais la forme des yeux, le nez court, généralement bien fait, la ramènent au type persan. La couleur de la peau est d’un bistre assez foncé, bien plus Nabaṭīyeh 1185, die die Armee der Matāwila für sich entschied. 96 Sourdel, Ǧubayl, in: EI2, abgerufen am 05.03.2017 97 Lammens, 1929, S. 33

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accentué que chez les populations voisines, dont la teinte est souvent aussi pale que celle des Français du sud. La forme du crane et de la face, les dimensions des differents diamètres de la tête, établissent de grands rapports entre cette race et celle des Kurdes de la Haute Mésopotamie. Je crois qu’on peut hardiment affirmer que les Métoualis sont des Kurdes venus des frontières persanes à la suite de quelque grande migration armée, probablement au 98 treizième siècle.»

In seiner „Mission de Phénicie“ erwähnt Ernest Renan Familien, denen man noch die Abstammung von der „guten iranischen (kurdischen) Rasse“ anmerke, die möglicherweise im Zuge einer Umsiedelung von mesopotamischen Kurden im 12. Jahrhundert unter Saladin in den Südlibanon, speziell um Ṣaidā und Ṣūr gelangten und gibt damit der Argumentation für die allenthalben gemutmaßte iranische Abstammung der mutāwile neue Nahrung. «Enfin, j’ai connu une ou deux familles de métoualis excellent types, où l’on sentait encore la bonne race iranienne (curde) 99 transportée là par Saladin.»

Ernest Renans Charakterisierung liest sich für heutige Begriffe befremdend rassistisch: «Au milieu de ces populations, à demi sauvages ou abruties, j’ai la concience de n’avoir jamais oublié ce qu’on ce doit à soimème en traitant avec des races inférieures. […] On ne comprend nulle part, aussi bien qu’au milieu de ces populations plongées dans une morne abstraction et enivrées d’une fierté stupide de ce qui fait leur infériorité, combien l’islamisme est ennemi de toute science, combien il a attristé et appauvri la vie humaine, combien il ferme irrévocablement l’esprit d’une race à toute idée large et élevée. […] Ajoutons que les métoualis n’ont 98 Lortet, 1884, S. 115/116 99 Renan, 1864, S. 632, 633

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pas la même capacité d’observation et de souvenir; leur cerveaux 100 semblent frapés de débilité.»

Eindeutig pejorativen Charakter muss man auch der Bezeichung „mu101 tawallī li Abī Turāb“ – „Getreue des Abū Turāb“ seitens der Gegner alidischer Zeitgenossen während der Umayyadenzeit unterstellen. Gemutmaßt wird überdies, dass der Ursprung des Namens in dem Kriegsschrei aus dem Ǧabal Matāwala des 12. Jahrhunderts: „mut waliyyan lī 102 ʿAlī“ zu suchen sei, was so viel heißt wie: „Stirb als Freund ʿAlīs“. Ernest Renan hat über die Erklärung des Namens hinaus versucht, Charaktereigenschaften und Habitus dieser „population sauvage“ zu definieren und beschreibt die „métouali“ als hochmütig, unverschämt, erbittert und engstirnig im Glauben: «L’esprit farouche du monothéisme exalté à son type chez les métouali, dédaigneux, plein d’orgueil, impertinet, même quand il est faible.»

Gleichzeitig lobt er aber – ganz im Sinne der zu seiner Zeit populär gewordenen Vorstellung des „edlen Wilden“ – deren Zähigkeit, Stärke und Leidensfähigkeit, vor allem im Hinblick auf die Duldung ihrer Tyrannen: «Par contre, rien de beau comme les métoualis en prière, j’en ai vu argenouillés sur la route, par des tempêtes affreuses et des pluies torrentielles, ne pas se détourner pour nous voir passer. La résignation des métoualis à supporter leurs petits tyrans féodaux uniquement parce qu’ils sont de leur race, est aussi quelque chose 103 d’admirable.»

Erst mit dem Wachsen ihres politischen Selbstbewusstseins unter 100 Renan, 1864, S. 14, 632/633 101 Abū Turāb steht polemisierend für ʿAlī – hier in etwa: „Vater der Friedhöfe“, ausführlichere religionshistorische Herleitungen des Beinamens in: Etan Kohlberg, Belief and Law in Imāmī Shiʿism, Aldershot, 1991, VI, S. 347-352 102 Arslān, 1910, S. 739 f. 103 Renan, 1864, S. 632, 633

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Mūsā aṣ-Ṣadr in den 1970er Jahren wurde aus der ursprünglich als Ehrenname begriffenen Selbstbezeichnung ein Terminus, der mit Rückständigkeit und Diskriminierung in Verbindung gebracht und deshalb 104 von den Intellektuellen abgelehnt wurde. Von der in dieser Arbeit immer wieder aufgeworfenen Frage nach den Zusammenhängen zwischen Šīʿat ʿAlī (Partei ʿAlīs), Ǧabal ʿĀmil und den ʿĀmilī, beziehungsweise Mutāwile, handeln die nachfolgenden Kapitel.

104 Ajami, 1986, S. 155; Andreas Rieck, Die Schiiten und der Kampf um den Libanon, Hamburg, 1989, S. 140, 147

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4 Muḥammad, Fāṭima, ʿAlī, al-Ḥusain – Die Iṯnāʿašarīya Wenn hier und im Folgenden von Schia gesprochen wird, so handelt es sich immer um die Imāmīya oder Iṯnāʿašarīya („Zwölferschiiten“). Sie anerkennt seit dem sechsten Imam Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq (83/702–148/765) 105 insgesamt zwölf Imame, deren letzter gemäß der schiitischen Tradition der in die „Verborgenheit“ (ġaiba) entrückte Sohn des 11. Imams alḤasan al-ʿAskarī (-260/873) und erwarteter Imām Mahdī (al-muntaẓar) ist, dessen Wiederkehr apokalyptische Vorzeichen vorausgehen und die Auferstehung der Toten sowie das Jüngste Gericht unmittelbar fol106 gen werden. Andere Zweige der schiitischen Glaubensgemeinschaft, wie die der Ismāʿīliten des Āġā Ḫān (Agha Khan), der indischen Bohoras, der jeme105 1. ʿAlī b. Abī Ṭālib – Amīr al-muʿminīn (Fürst der Gläubigen), -40/661, beerdigt in an-Naǧaf/Irak 2. Al-Ḥasan b. ʿAlī – al-muǧtabā (der Auserwählte), 50/670 oder 58/678, bestattet in Medina 3. Al-Ḥusain b. ʿAlī – Sayyid aš-Šuhadāʾ (Haupt der Märtyrer), -61/680, begraben in Kerbelāʾ/Irak 4. ʿAlī – Zain al-ʿĀbidīn (die Zierde der Frommen), as-Saǧǧād („derjenige, der sich verneigt“), -95/713, in Medina beigesetzt 5. Muḥammad – al-Bāqir (derjenige, der öffnet/der Wahrheitsspalter), -115/733 in Medina gestorben und beerdigt 6. Ǧaʿfar – aṣ-Ṣādiq (der Aufrichtige), -148/765, in Medina gestorben u. begraben 7. Mūsā – al-Kāẓim (der Ansichhaltende) 128/745–183/799, in Kāẓimain/Irak (Kāẓimīya) beerdigt 8. ʿAlī – ar-Riḍā (das Wohlgefallen Gottes), Zamen-e ahn (Beschützer der Gazellen), 151/768-203/818, Ṭūs 9. Muḥammad – al-Ǧawād (der Großzügige), aṭ-Ṭāqi (der Fromme), 195/811220/835, begraben in Kāẓimain 10. ʿAli – al-Hādī (der Leitende), an-Nāqī (der Reine), 254/868 im Alter von 40 Jahren in Sāmarrā vergiftet und begraben 11. Ḥasan – az-Zakī (der über jeden Tadel Erhabene) al-ʿAskarī (der im Lager Zurückgehaltene), aṣ-Ṣāmit (der Stille), 230/844–260/873, durch den Kalifen alMuʿtamid vergiftet. Ohne männliche Nachkommen 12. Muḥammad – al-Qāʿim (der Erwecker), al-Mahdī (derjenige, der geleitet wird), al-Muntaẓar (der Erwartete) gilt als seit dem Jahr 874 bereits im Kindesalter entrückt 106 Halm, 1988, S. 34 ff.

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nitischen Zaiditen, der syrischen Nuṣairī (Alawiten) oder Drusen finden in dieser Arbeit keine oder allenfalls marginale Erwähnung. Die Imamiten hielten 2005 mit 57 Mio. persischer Anhänger rein zahlen107 mässig den Löwenanteil an der Schia, ein amerikanisches Meinungsforschungsinstitut schätzte die Zahl der Schiiten Irans im Jahr 2009 auf 66–70 Mio. Die im Irak lebenden Schiiten bezifferte man zur selben Zeit auf etwa 15 Mio. (das Pew Research Center 2009 auf 19-22 Mio.), die im Libanon auf ca. 1,7 Mio. (Pew: 1-2 Mio.) und die Schiiten in Saudi-Arabien, Kuwait und Bahrain schätzte man auf ca. 2,4 Mio. (Pew: Saudi-Arabien: 2-4 Mio., Kuwait: 500.000-700.000, Bahrain: 400.000108 500.000). Was nun die Schia ist und wie sie entstand, wird Gegenstand der folgenden Erörterung sein, der eine Charakterisierung durch Rudolf Strothmann vorausgeschickt sei: „Wir können hier […] nur einstweilen die gegensätzlichen Tatsachen feststellen: die Schīʿa hat jene Seelen gewonnen, denen es Bedürfnis war, in den Tränen um Ḥusain und um die anderen Märtyrer das eigene und das Weltenleid hinwegzuweinen, und dabei ist sie so ganz politisch eingestellt. Am Obersatz von der Herrschaft des „Herrn der Zeit“ misst sie die Weltgewalten, geht Bündnisse mit ihnen ein, zieht sie zu sich wie einige Ḥamdāniden und die Būjiden, bildet aus sich Gewalten wie die der Ṣafawiden, ja auch der Qarmaṭen und Fāṭimiden. […] Mit der Stirn auf dem heiligen Boden der Gräbergnadenorte liegend; weinend allezeit das Sterben ihrer Herren an ihrem Leibe tragend; bei Verfolgungsgefahr ihr Bekenntnis durch Verstellung verhüllend; vom offiziellen Islam unbefriedigt gelassene Seelenaffekte fein witternd und in leisetretender, aber ebenso geschickter wie unermüdlicher 107 Heinz Halm, Die Schiiten, München, 2005, S. 9 108 Pew Research Center (Hg.): Mapping the Global Muslim Population. Washington D.C. 2009, S. 10, in: Sigrid Faath (Hg.), Rivalitäten zwischen Sunniten und Schiiten in Nahost, Berlin, 2010, S. 246

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Propaganda ausnutzend; an Fürstenhöfen mit feiner listiger Diplomatie arbeitend; im Eifer um ihre Märtyrer fremden „Ketzern“ den Märtyrertod bringend; in den Kriegslagern von Welteroberern brutale Kräfte nach ihren Zielen lenkend – das ist die 109 Schīʿa.“

4.1 Saqīfa Banī Sāʿida – eine Oppositionspartei legitimiert sich Als maßgeblich für die Entstehung der Partei ʿAlīs (šīʿat ʿAlī) können die Ereignisse um den Tod des Propheten Muḥammad gelten und die Nachfolgestreitigkeiten, in deren weiterem Verlauf sich ʿAlī (656–661), Vetter und Schwiegersohn des Propheten, mit seinen Parteigängern von der „orthodoxen“ Linie (sunna) abspaltete. Mit den politischen Veränderungen und der Expansion unter den beiden ersten dem Propheten direkt nachgefolgten Kalifen Abū Bakr (632–634) und ʿUmar (634–644) verlagerte sich nicht nur der Sitz des Kalifen von den Prophetenstädten Mekka und Medina in den fruchtbaren Norden – zunächst nach Damaskus, später in die ʿAbbāsidenhauptstadt Baghdad –, sondern damit auch die innerislamischen Auseinandersetzungen. Im Irak schließlich, wo die Anhängerschaft der Partei ʿAlīs beständig anwuchs, fanden sowohl ʿAlī wie auch dessen Sohn al-Ḥusain den Tod. Aus den Querelen der Gründerjahre um die Prophetennachfolge und al-Ḥusains Martyrium erwuchs der nunmehr politischen Partei ʿAlīs die Passion und damit die Basis für eine eigenständige Religiosität. Den Anspruch ʿAlīs auf das Kalifat untermauern Schiiten durch Überlieferungen und Koranstellen (insbesondere Sure 2:30 sowie 38:26 und 33:33, 42:23, 37:83, 25:35). Neben Moḥammads Mahnung an die Gemeinde, sich an die ahl al-bait, das heißt, den engsten Kreis um den 110 Propheten zu halten, führt eine schiitische „Genesis“ den Beweis für

109 Strothmann, 1926, S. 6 110 Momen, 1985, S. 161-171

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ʿAlīs Legitimation, die stark an zoroastrische, manichäische sowie 113 mandäische gnostische Schöpfungsberichte erinnert. Demnach existierten ʿAlī und Muḥammad als Licht, bis sie „aus den Lenden Adams in die Lenden von ʿAbd al-Muṭṭalib [b. Hāšim], dem Großvater des Propheten“, gelangten. Hier habe sich dieses Licht geteilt und sei zu den Vätern der beiden gedrungen, wobei Muḥammad die Emanation des Lichts durch seinen Vater ʿAbdallāh darstelle und ʿAlī – in Analogie hierzu – aus Abū Ṭālib hervorgegangen sei. Aus dieser besonderen Beziehung resultiere ʿAlī als einzig legitimer Erbe (waṣī) des Propheten 114 und erster Imam. So habe Gott die Gläubigen (hier: die Imamiten) aus seinem Licht geschaffen (oder wie andere Quellen meinen, „aus dem Staub des Paradieses“), wodurch sie sich als sogenannte ḫāṣṣa (die „Besonderen“) von allen anderen – insbesondere von den Sunniten (alʿāmma, die „Gewöhnlichen“) – abgrenzten. Darüber hinaus wird überliefert, dass ʿAlī beschnitten zur Welt kam, keinen Schatten warf und ein „angenehmes Aroma“ ausströmte. Nicht zuletzt aber legitimierten seine Nachfolge die Äußerungen des Propheten selbst. Die berühmteste darunter ist das tradierte Prophetenwort von Ġadīr Ḫumm vom 18. Ḏu’l-Ḥiǧǧa/10. März 632: „man kuntu mawlāhu fa ʿAlī mawlāhu“ 115 („derjenige, dessen Führer ich bin, dessen Führer ist auch ʿAlī“) „Allāhumma wāli man wālāhu wa ʿādi man ʿādāhu“ („Oh Gott, sei der Freund dessen, der sein Freund ist und sei der Feind dessen, der sein Feind ist.“) 111 Mary Boyce, Zoroastrians, Thetford, 1979, S. 32, Škand-Gumānīk Vičār, trad. P. J. de Menasce, Fribourg, 1945, S.50 ff., Bundahišn, Kapitel I-IV, trad. Fazlollah Pakzad Soraki, Diss., Tübingen, 2003, S. 90 112 Manfred Hutter, Manis kosmogonische Šābuhragān-Texte, Wiesbaden, 1992, S.11 ff., Geo Widengren, Mani und der Manichäismus, Stuttgart, 1961, S. 48-66 113 Alexander Böhlig, Die Gnosis – Der Manichäismus, Düsseldorf, 1997, S. 103 und Werner Foerster, Die Gnosis – koptische und mandäische Quellen, Düsseldorf, 1997, S. 247 114 Kohlberg, 1991, S. 6 115 Veccia Vaglieri, L., Ġadīr Ḫumm, in: EI-online, abgerufen am 15.08.2015

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Neben den vielen Argumenten, die aus schiitischer Warte für die Nachfolge ʿAlīs sprechen, wird angeführt, dass ʿAlī bereits im zarten Alter von dreizehn Jahren Muḥammads Lehre enthusiastisch unterstützt habe. Muḥammad soll ʿAlī schon vor der Hiǧra und noch einmal in Medina durch die sogenannte uḫūwwa als seinen Bruder im Glauben adoptiert haben. Das Vorrecht religiöser Bruderschaft mit dem Propheten verlieh seiner Anwartschaft auf das Erbe gewaltigen Nachdruck. Muḥammad designierte ihn, wie bereits erwähnt, in den Schlachten von Badr (02/624) und Ḫaibar (07/628), wo ʿAlī mit bloßen Händen das 116 Stadttor ausgehoben haben soll, zum Standartenträger. Auch ʿAlīs Nomination zum Prophetenstellvertreter während der Expedition nach Tabūk im Jahre 9/630 gibt dem schiitischen Anspruch auf dessen Nachfolge Nahrung. Der Rückgriff Muḥammads auf das Alte Testament wird von Schiiten als Anspielung auf ʿAlīs Nachfolge interpretiert: „Du bist für mich wie Aaron für Moses, ausser dass es nach mir keinen Pro117 pheten mehr gibt“. Überdies soll Muḥammad ʿAlī mit der Überbringung der Sure 9 (at-tawba) an die Heiden beauftragt haben, wofür er ihm sein eigenes Kamel mit auf den Weg nach Mekka gab. Die unmittelbar nach dem Tod des Propheten am 13. Rabīʿ I./08. 118 (nach Rudi Paret am 11.) Juni 632 auflodernden Nachfolgestreitigkeiten in Saqīfa Banī Sāʿida bei Medina, in deren Ergebnis ʿAlī dem Prophetengefährten und Kalifatsanwärter Abū Bakr unterlag, konfrontierten die Parteigänger ʿAlīs mit einer ernüchternden Realität. Die schiitische Überlieferung weiß, dass weder Abū Bakr noch ʿUmar b. alḪaṭṭāb der Anordnung Muḥammads zum Verlassen Medinas nachkam, um zu einem Feldzug aufzubrechen, den er kurz vor seinem Tod anord119 nete und der unter dem Kommando von Usāma b. Zayd durchge116 117 118 119

Halm, 1988, S. 15 2. Mose 4,14-16 Rudi Paret, Mohammed und der Koran, Stuttgart, 1957, S. 116 Bei Ibn-Saʿd wird ausgeführt, dass auch Usāma b. Zayd an der Waschung des Propheten teilgenommen habe: Ibn Saʿd, Kitāb al-Ṭabaqāt al-Kabīr, trad. S. Moinul Haq, Karachi, 1972, Vol. II, S. 346 f. Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. Saʿd b. Manīʿ al-Baṣrī al-Hāšimī kātib al-Wāqidī (168-230/784-845), sunnitischer Gelehrter und Biograph, stammte aus Baṣra und lebte überwiegend in Baghdad.

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führt werden sollte. ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb habe sich nach dem Hinscheiden des Propheten mit dem Schwert in der Hand vor dessen Tür postiert, damit niemand zu ihm Zutritt bekomme, um ʿAlī den Treueeid zu schwören, der zudem durch die Bestattungsvorbereitungen und die rituellen Waschungen am Propheten abgelenkt war. Die durch ʿAlī vollzogene ġusl al-mayyit (rituelle Vollkörperreinigung Toter) wird von Schiiten ebenfalls als Legitimation für dessen Nachfolge gewertet. So soll ʿAlī zusammen mit ʿAbbās b. ʿAbd alMuṭṭalib, Faḍl b. al-ʿAbbās, Quṯam b. al-ʿAbbās, Usāma b. Zayd und Šu120 qran den Propheten gewaschen und „in das Grab gestiegen sein“, weshalb sie bei der Entscheidung über die Prophetennachfolge in Saqīfa nicht anwesend sein konnten. Abū Bakr und ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb aber sollen dem Begräbnis zugunsten der Nachfolgeregelung in Saqīfa vorsätzlich ferngeblieben sein, was nach schiitischer Auffassung schon damals den Anstoß zur offenen politischen Spaltung zwischen den Anhängern ʿAlīs und deren Gegnern gab. Insofern ist die Schia in ihren Ursprüngen als politische Institution zu begreifen. Erst mit den tawwābūn, der „Bewegung der Bereuenden“ (ob ihrer unterlassenen Hilfeleistung in Kerbelāʾ) 65/684 positionierte sich die Schia nach dem Tod al-Ḥusains erstmals eindeutig religiös und ab Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq institutionalisierte sich die religiöse Führerschaft ihrer Imame. Auf Grund ihrer Ablehnung von Abū Bakrs und ʿUmars Kalifatsnachfolge wurden die von sunnitischen Kreisen als „Sektierer“ oder „Häretiker“ bezeichneten Befürworter ʿAlīs mit dem Pejorativ rāfiḍī/rāfiḍūn oder ar-rawāfiḍ („Abtrünnige“) bedacht. Über den Ursprung dieses Terminus herrscht Uneinigkeit. Wohl wurde er, nachdem er im 7. Jahrhundert abfällig auf die Anhänger Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiqs angewendet wurde, später von den Imamiten als eine Art Ehrenbezeichnung empfunden. Darüber und über die Entwicklung der gleichnamigen Bewegung im 9. 121 Jahrhundert siehe bei Ethan Kohlberg. 120 Ibn Ishāq erwähnt diese Namen im Zusammenhang mit der Waschung des toten Propheten in der Sīrat an-Nabī. Bei Ibn Hišām, As-Sīra an-nabawīya, Kairo, 1936, S. 341 ff. 121 Etan Kohlberg, Rāfiḍa, in: EI-online, abgerufen am 15.11.2018

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4.2 Die vier Säulen Zu den wenigen Prophetengefährten, die nach schiitischer Überzeugung ʿAlī die Treue gehalten haben, gehören gemäß des Vorbesagten neben Salmān al-Fārisī (-ca. 35/655), der als Sklave nach Medina kam und den Schiiten als Beweis für die frühe Verbindung Persiens mit dem Islam gilt, Abū Ḏarr al-Ġifārī (-ca 32/652), der tapfere Vorkämpfer sozialer Gerechtigkeit und sagenhafte Gründervater der Schia im Libanon 122 sowie Muḥammads Bogenschütze al-Miqdād b. al-Aswad al-Kindī (-ca 33/653-4) und ʿAmmār b. Yāsir b. ʿĀmīr b. Mālik, Abū’l-Yaqzān, zu123 nächst Prophetengefährte, dann Partisan aus ʿAlī’s Gefolgschaft, der 124 als historischer Zeuge für die Rechtfertigung der taqīya steht. Er ließ sein Leben 37/657, wie es heißt, hochbetagt, in der Schlacht von Ṣiffīn. 125 Diese „vier Säulen“ (al-arkān al-arbaʿa) sollen gemäß der Überlieferung unmittelbar nach dem Tode Muḥammads für die Propheten126 nachfolge von ʿAlī eingetreten sein. Salmān al-Fārisī ist in dieser Arbeit ein eigenes Kapitel unter dem Aspekt des iranisch-libanesischen Austausches gewidmet. Bezüglich 127 al-Miqdād b. ʿAmr b. Ṯaʿlabā al-Bahrāʾī, (genannt „Abū Maʿbad“) sind die Informationen spärlich. Er soll 585 n. Chr. geboren sein, der zweiten Emigrantengeneration nach Abessinien angehört und an den Kämpfen in Badr (2/624), Uḥud (im Jahre 3 oder 4 nach der Hiǧra) und am Grabenkrieg (5/627) teilgenommen haben. Von seiner Tochter Karīmah wird er als „groß, braun, mit einem großen Bauch, dichtem Haar, großen Augen, eng zusammengewachsenen Augenbrauen und Hakennase“ beschrieben. Seinen Bart soll er „gelb“ gefärbt haben und im Alter 122 Guido Steinberg/Jan-Peter Hartung, Schiitischer Islamismus, in: Der Islam in der Gegenwart, München, 2005, S. 79-80 123 EI1, S. 448 und H. Reckendorf, H., ʿAmmār b. Yāsir, EI-online, abgerufen am 10.12.2017 124 Wehr, 1976, Ableitung von arab.: wqy (Furcht, Vorsicht, Verheimlichung des religiösen Bekenntnisses) 125 S.H.M. Jafri, The Origins and Early Development of Shiʿa Islam, London, 1979, S. 51-53 126 Gibb/Kramers, Shorter Encyclopaedia of Islam, Leiden, 1961, S. 534 127 EI2, Vol. VII, S. 32

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von ca. 70 Jahren entweder nach einer misslungenen Operation oder in 128 Folge einer Gabe von Rhizinus in al-Ǧarf bei Medina gestorben sein. Auch Abū Ḏarr kämpfte an der Seite des Propheten in Badr, Uḥud und im Grabenkrieg. Abū Ḏarr Ǧundub b. Ǧunāda al-Ġifārī aus dem Clan der Ġifār (b. Mulaik b. Ḍamra b. Bakr b. ʿAbd Manāt b. Kināna) scheint eine der umstrittensten Persönlichkeiten des frühen Islam zu sein. Arabische Nationalisten führen auf Grund seiner Abstammung aus dem Ḥiǧāz und seiner Missionierung der als zweitältesten schiitischen Gemeinde geltenden Gruppe im Südlibanon mit ihm den Beweis, dass die ʿalidische Gemeinde arabischen – und nicht persischen – Ursprungs sei. Er gilt als einer der ersten Fünf, die den Islam annahmen und nach schiitischer Auffassung ist er der Gründer der matāwila-Ge129 meinden in Syrien und dem Libanon. Sein Aufenthalt in Ṣarafand und Mais al-Ǧabal, wo sich auch sein Mausoleum befinden soll, rückt 130 diese Hypothese durchaus in den Bereich des Möglichen. Bis heute 131 existieren dort nach ihm benannte Moscheen. Tatsächlich jedoch sind fundierte Berichte über Abū Ḏarr dürftig. Er soll von großer Statur und weißhaarig gewesen sein, dunkelbraune 132 Haut gehabt und einen weißen Bart getragen haben. Da er weder dem arabischen Stamm der Aws noch dem der Ḫazraǧ zuzuordnen war, wird vermutet, dass er zu den Anṣār gehörte. Es scheint bezeugt zu sein, dass er an der Schlacht von al-Ḥunayn (8/630) teilgenommen hat, bevor er in den Jahren 18–21/639–641 mit ʿAmr b. al-ʿĀṣ gegen 133 Ägypten zog und schließlich an dessen Eroberung beteiligt war. Johann Fück erwähnt ein dem Stamm Ġifār zugeteiltes Viertel in 128 Aṭ-Ṭabarī, Tārīḫ al-rusul wa’l-mulūk, trad. Ella Landau-Tasseron: The History of al-Ṭabarī, Albany, 1998, S. 25-26 129 Ulrich Haarmann, Abū Ḏarr—Muhammad’s Revolutionary Companion, in: The Muslim World, Vol. 68, 1978, S. 285 130 Makkī, 1963, S. 17/18 131 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 20-21 132 Aṭ-Ṭabarī, Tārīḫ ar-rusul wa’l-mulūk, trad. Landau-Tasseron, 1998, S. 70 133 Haarmann, 1978, S. 285 geht zurück auf die Erkenntnisse von Alan John Cameron, Abū Dharr al-Ghifārī. An Examination of His Image in the Hagiography of Islam, London, 1973, S. 175 ff.

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Fusṭāṭ. In der Provinz aš-Šām unterstützte Abū Ḏarr, dem tiefe Frömmigkeit und Bescheidenheit nachgesagt wird, Arme und Entrechtete gegen die Willkürherrschaft des damaligen syrischen Gouverneurs alMuʿāwiya. Auf Grund der Kontroversen mit al-Muʿāwiya und der Opposition zur sozioökonomischen Politik des dritten Kalifen ʿUṯmān b. ʿAffān (reg. 24–36/644–656) – vermutlich nicht zuletzt über die Verteilung des syrischen Staatsschatzes an die Bedürftigen im Jahre 30 A.H. – schob ihn ʿUṯmān schließlich von Medina nach Damaskus ab. Aus schiitischer Sicht war vor allem die Parteinahme Abū Ḏarrs für ʿAlī in der Frage der Kalifatsnachfolge ein Dorn im Auge ʿUṯmāns. Auf Betreiben al-Muʿāwiyas, der Beschwerde führte über die Agitation Abū Ḏarrs in Ṣarafand und Mais al-Ǧabal, wo er die Menschen aufwiegele, zur Opposition anstachele und Missionierung für die Schia betreibe, beorderte ʿUṯmān Abū Ḏarr nach Medina zurück, von wo er nach ar-Rabaḏa nördlich von Medina exiliert wurde. Dort starb Abū Ḏarr im 135 Jahr 32/653. Hagiographische Quellen wollen wissen, dass ihn die 136 beiden Söhne ʿAlīs auf dem Weg in die Verbannung begleiteten.

4.3 Baṣra, Ṣiffīn, Nahrawān – innerislamische Opposition und Bürgerkrieg „Die Schia ist so alt wie der Islam selber. Sie war jedoch stets eine Minderheit und meist Opposition, gelegentlich verfolgt, verachtet und unterdrückt. Ihre Geschichte hat ihr Weltbild und ihre Haltung zu Politik und Gesellschaft nachhaltig geprägt und diese Haltung hat in den politischen Konflikten unserer Tage ihren Nie137 derschlag gefunden.“

Der Zwist um das nach dem Tod des dritten Kalifen ʿUṯmān b. ʿAffān vakant gewordene Kalifenamt, für das sich nach Meinung seiner Parteigänger einzig der Prophetenvetter ʿAlī b. Abī Ṭālib al-Murtaḍa quali134 Fück, J.W., Banū Ghifār, in: EI-online, abgerufen am 03.04.2017 135 Makkī, 1963, S. 17, 236-237 136 Ulrich Haarman, Abū Dharr—Muḥammad’s Revolutionary Companion, in: The Muslim World, Nr. 4, 68, 1978, S. 287 137 Heinz Halm, Der schiitische Islam, München, 1994, S. 8/9

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fizierte, das aber auch der aus dem Hause ʿUmayya stammende Statthalter von Syrien und Cousin des ermordeten ʿUṯmān, al-Muʿāwiya (-60/680) beanspruchte, sollte den ersten Bürgerkrieg (fitna) der islamischen Geschichte auslösen (656–661) und das Schisma zwischen Schiiten und Sunniten endgültig besiegeln. ʿAlī, dessen Heldenhaftigkeit legendär war, der an nahezu allen Expeditionen des Propheten entweder als Standartenträger oder als Kommandeur teilgenommen und die Funktion seines Sekretärs und Diplomaten innehatte, war seit dem Dahinscheiden Muḥammads bezüglich der Nachfolge drei Mal in Folge übergangen worden – erst ein Viertel138 jahrundert später sollte die Reihe an ihn kommen. Al-Muʿāwiya, der ʿAlī nach dem gewaltsamen Tod von ʿUṯmān den Huldigungseid verweigert hatte, suchte als dessen enger Verwandter nicht nur Rache für den Gemeuchelten, sondern auch den eigenen Vorteil in einer für ʿAlī unvorteilhaften Konstellation: Die gemutmaßten Vorwürfe seitens der beiden Prophetengefährten Ṭalḥa b. ʿUbaidallāh und az-Zubair b. al-ʿAwwām, ʿAlī habe die von Uṯmān eingesetzten Gouverneure durch eigene ersetzt und die Bevölkerung mit Geldzuwendungen bedacht, veranlassten al-Muʿāwiya dazu, ihn der Komplizenschaft im Mord an ʿUṯmān zu bezichtigen. Andere Quellen suchen den Täter im Dunstkreis von Muḥammad b. Abī Bakr, Sohn des ersten 139 Kalifen. Die verwandtschaftlichen Vernetzungen im Umfeld des Propheten lassen einen unerbittlichen Kampf um die Macht erahnen: Die Prophetenwitwe ʿĀʾiša hatte zunächst die Opposition gegen ʿUṯmān unterstützt, schloss sich dann aber dem Interessenverbund zwischen dem mit ihrem Vater Abū Bakr verwandten Ṭalḥa b. ʿUbaidallāh von den Taym b. Murra, dessen Besitz nur von ʿUṯmān selbst übertroffen worden sein soll und dem über eine seiner Frauen sowohl mit Abū Bakr, als auch mit ʿĀʾiša verwandten az-Zubair b. al-ʿAwwām, Cousin des 140 Propheten und Neffe von Ḫadīǧa, gegen ʿAlī an. Beide buhlten eben138 Ajami, 1986, S. 22 139 Maatouk, 1974, S. 8 140 W. Madelung, Ṭalḥa; I. Hasson, Al-Zubayr b. al-ʿAwwām, beide in: EI-online,

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falls um den Kalifatstitel. ʿAlī indes suchte die Eroberung des Irak und damit den Verlust der von ihm abhängigen Provinzen zu verhindern. Auch sollten Ägypten anarchische Zustände erspart und Syrien nicht unter dem alleinigen Einfluss von dessen Statthalter al-Muʿāwiya bleiben. Kaum ein halbes Jahr nach seiner Nominierung sammelte ʿAlī Militär in Kūfa und marschierte gegen Baṣra, wo Verhandlungen um die Huldigung al-Muʿāwiyas fehlgeschlagen waren und die Opposition militärisch aufrüstete. In der folgenden, sogenannten „Kamelschlacht“ am 15. Ǧumādā II des Jahres 36/656 obsiegte ʿAlī. ʿĀʾiša wurde nach Medina zurück eskortiert, Ṭalḥa und az-Zubair ließen ihr Leben. Die Machtstreitigkeiten zwischen ʿAlī und al-Muʿāwiya jedoch, der 657 mit einem 60.000-köpfigen Heer aus Syrien eintraf, setzten sich in der Schlacht von Ṣiffīn 37/657 fort. Al-Muʿāwiya, den das Schlachtenglück zu verlassen drohte, besann sich auf die legendäre List, die Lanzen der Kämpfer mit Koranseiten zu bestücken, woraufhin es zu einem Waffenstillstand und 38/659 zu dem für ʿAlī unglücklichen Schiedsspruch von Aḏruḥ kam – einem Ort zwischen Maʿān und Petra auf 141 dem ehemaligen Siedlungsgebiet der Ǧuḏām im heutigen Jordanien. In der Folge konnte al-Muʿāwiya seinen Machtbereich bis Ägypten ausdehnen und im Jahre 660 um die Prophetenstädte Mekka und Medina erweitern. ʿAlī, dem nun lediglich noch die Macht über den Irak geblieben war, fiel 40/661 schließlich einem Vergeltungsschlag für die 658 in der Schlacht von Nahrawān getöteten Gefolgsleute zum Opfer, die sich nach dem Schiedsgericht von Aḏruḥ gegen ihn erhoben hatten. Den Verletzungen, die ihm durch ʿAbd ar-Raḥmān b. Mulǧam und zwei andere Ḫāriǧiten mit einem vergifteten Schwert an der Tür der Moschee in Kūfa beigebracht wurden, erlag er zwei Tage später im Alter von 62 oder 63 Jahren. Bedeutsam für den Fortgang der schiitischen Geschichte ist nun – neben der Vielzahl aus diesem politischen Debakel resultierenden Aufstände schiitischer Gruppierungen – al-Ḥasans frühzeitiger Verzicht und der sodann auf seinen Bruder al-Ḥusain übergegangene Anspruch abgerufen am 10.10.2017 141 Lammens/Veccia Vaglieri, Aḏruḥ, in: in EI-online, abgerufen am 10.12.2017

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auf das Kalifat. Aus seinem Asyl in Mekka folgte al-Ḥusain dem Ruf der anti-umayyadischen Opposition in Kūfa, wohin er sich im Monat Ḏū l-Ḥiǧǧa 60/September 680 mit seiner 72-köpfigen Entourage aufmachte. Das Unterfangen des Prophetenenkels endete am 10. Muḥarram 61/10. Oktober 680 in einem blutigen Desaster nahe Kerbelāʾ, in dem er und seine männlichen Verwandten den Tod fanden. Mit der Tragödie um al-Ḥusain, Wurzel schiitischer Leidenstheologie, kam die von Strothmann beschriebene Passion und der ʿĀšūrāʾ-Kultus, auf den unten in einem separaten Kapitel näher eingegangen wird, in die Partei ʿAlīs. Al-Ḥusains Todestag bildet als zentraler Gedenktag bis heute das einigende Band innerhalb des Kommemorationskalenders der schiitischen Welt. Alljährlich finden in den sogenannten ʿĀšūrāʾ-Tagen während der ersten zehn Tage des Monats Muḥarram Prozessionen und Trauerspiele (taʾzīyeh) zum Gedenken an dieses Ereignis statt. Auch in der Poesie wird dessen Bedeutung und Dramatik umgesetzt. Selbst der 142 Ortsname von Kerbelāʾ erfuhr eine apokalyptische Auslegung. Dem Massaker von Kerbelāʾ folgte kaum fünf Jahre später, im Jahre 66/685, ein zweiter Bürgerkrieg: Der vor dem Hintergrund sozial benachteiligter nichtarabischer Klienten und Sklaven mobilisierte Kampf des al-Muḫtār, der in Kūfa einen Aufstand für und mit Hilfe nichtarabischer Neu-Muslime (mawālī) meist iranischer Provenienz anführte – angeblich im Namen von Muḥammad b. al-Ḥanafīya, dem dritten Sohn von ʿAlī, den al-Muḫtār als rechtmäßigen „Imam-Kalif“ und Mahdī pro143 klamierte. Dieser Ibn Abū ʿUbaid aṯ-Ṯaqāfī al-Muḫtār (geb. 622 in aṭṬāʿif, gestorben im März 687 in der gegen Muṣʿab b. al Zubayr verlorenen Schlacht in Ḥarūrāʾ), ein begüterter Stammesnobler und Nachfolger des 685 mit den Büßern untergegangenen schiitischen Wortführers von Kūfa, Sulaimān b. Ṣurad, dessen Vater in den Eroberungskämpfen gegen die Perser gefallen war, konnte sich zwei Jahre lang halten, bis

142 Annemarie Schimmel, Das islamische Jahr, München, 2001, S. 43 zitiert den persischen Hofdichter Qāʿānī (-1854) und gibt eine Herleitung aus: karb (Kummer) und balā (Heimsuchung) 143 Damals noch ohne die eschatologische Konnotation des Terminus.

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er am 14. Ramaḍān 67/3. April 687 vom Heer des baṣrischen Statthalters bezwungen wurde. Die ʿabbāsidische Revolution 132/749, dritte fitna im Islam, gab dem Zusammengehörigkeitsgefühl der ahl al-bait einen weiteren Schub. Wichtige Figur im Zusammenhang mit dem Sturz der Umayyaden war Abū Muslim al-Ḫorāsānī, der mutmaßlich um 700 in Balḫ/Ḫorāsān geborene Sohn eines Zoroastriers, der als Klient der Banū ʿIǧl in Kūfā und als Sendbote des kufischen Schiitenführers Abū Salama al-Ḫallāl mit der Schia in Berührung gekommen war und 755 auf Befehl des Kalifen al-Manṣūr im Irak ermordet wurde. Durch seine Propaganda in Marw und mit der von ihm gegründeten „Armee des Schwarzen Banners“ verhalf er jedoch nicht den Aliden, die sich selbst als „ahl al-Imāma“ bezeichneten, sondern den ʿAbbāsiden zur Macht, die ihn dafür zum Wesir von Ḫorāsān machten. Abū Muslims Tod markiert mit dem aufkommenden Widerstand der Barmakiden (750–803) in deren Kampf gegen arabische Vorherrschaft und für die Unabhängigkeit einheimischer Dynastien gleichsam 144 eine „persische Wiedergeburt“.

4.4 Vom ġulūw zur zwölferschiitischen „Orthodoxie“ Im Nachwort zu seinem Aufsatz über den ġulūw, der Lehre von der Übertreibung, und das Kitāb al-haft wa‘l-aẓilla („Buch der Schatten“) fasst Heinz Halm die Anfänge „der Schia“ wie folgt zusammen: „Im Irak scheint der ġulūw überhaupt die ursprüngliche Form der Šīʿa gewesen zu sein (wenn man in Rechnung stellt, daß ʿalidische Bewegungen nicht schon eo ipso „schiitisch“ sind) wie die Theologie der christlichen Hochkirche erst im Kampf gegen die ältere Gnosis entstanden ist, so hat sich auch die imamitische Orthodoxie erst vor dem Hintergrund der ġulāt-Lehren, in der Auseinandersetzung mit ihnen und in ihrer Bekämpfung, herausgebildet und hat zur Abwehr der „Übertreiber“ ihre ältesten Literaturgat144 Halm, 1988, S. 31

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tungen […] geschaffen, allerdings nicht ohne unbewußt ein gut 145 Teil des Erbes der ġulāt zu bewahren.“

Die geheimen Offenbarungen, die der Kufier al-Mufaḍḍal b. ʿUmar alǦuʿfī von Imam Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq erhalten haben soll, wurden durch alMufaḍḍals Schüler Muḥammad b. Sinān (-220/835) über Kūfa hinaus in den gesamten Irak getragen und gelangten bis nach Syrien zu den Sek146 ten der Isḥāqiten und Nusairier. In al-Madāʾin wirkte ʿAbdallāh b. Sabaʾ (auch ʿAbdallāh b. Ḥarb, Ibn al-Sawdāʾ oder Ibn Wahb genannt) und hatte nach dem gescheiterten Aufstand des in Iṣfahān und Iṣṭaḫr residierenden ʿAbdallāh b. Muʿāwiya b. ʿAbdallāh b. Ǧaʿfar b. Abī Ṭālib die Führung von dessen Anhängern an sich gebracht. ʿAbdallāh, der von Neubekehrten (mawālī) aus Kūfa und al-Madāʾin zu jener Revolte in Kūfa im Jahre 127/744 gedrängt worden sein soll, wurde auf Befehl Abū Muslims in Ḫorāsān beseitigt. Mit Blick auf die zahlreichen Sekten der Zeit und ihren hohen Anteil aus Kreisen der in der ehemaligen Sāsāniden-Metropole ansässigen mawālī wird die Bedeutung von al-Madāʾin und den verschiedenen Strömungen des ġulūw mit deren Lehre von den Schatten (aẓilla) und den Zyklen (adwār) für die Schia klar. Gemäß schiitischer Auslegung weilte der erste der von Gott nacheinander erschaffenen Adame samt seiner Nachkommenschaft 50.000 Jahre auf der Erde; deren Geister wanderten von einer Gestalt zur anderen (tanāsuḫ). Al-Muġīra b. Saʿīd al-Baǧalī (105–20/724–38) verbreitete ein gedankliches Konstrukt mit einem göttlichen Schatten (ẓill), aus dem Gott den Kosmos erschuf, nachdem sich der Schatten gegen seinen Schöpfer erhob und bezwun147 gen wurde. In al-Madāʾin befindet sich auch der Schrein von Salmān al-Fārisī, der als bāb des göttlichen ʿAlī im Zentrum der Mufaḍḍal-Tradition und des Kitāb al-haft wa‘l-aẓilla steht. Er gilt der Bewegung des ġulūw als Schöpfer des Kosmos und der Erde und nimmt neben ʿAlī die bedeu145 Heinz Halm, Das Buch der Schatten, in: Der Islam, Berlin, 1981, S. 86 146 Halm, 1981, S. 15 ff. 147 Halm, 1981, S. 22 ff., 25

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tendste Rolle ein. „Die Sieben“ (Planeten) stehen für die mythisierten Prophetengenossen oder Anhänger des historischen ʿAlī: Salmān, Miqdād, Bā Ẕarr (Abū Ḏarr), ʿAmmār, Bā Kumail, Bā Huraira und (Bā) Ǧundub und gelten nicht nur als Schiiten der ersten Stunde, sondern 148 auch als die Erschaffer der Erde. Die „Sieben“ und die „Zwölf“ (Sternzeichen) sind auch im System der im Südirak beheimateten Mandäer 149 enthalten. Das Phänomen des Demiurgen war aus dem gnostischen Schriftgut des babylonischen Raumes geläufig; nicht zuletzt aus dem Šābuhragān Manis, der 216 n. Chr. in Mardina/Nahr Kuta in Nordwestbabylonien geboren wurde und 276 in Bet Lapat in der Susiana unter Haft starb. Durch die Codices, die in der Oase Turfan in Xinjiang an der nördlichen Seidenstraße gefunden wurden, wissen wir, dass sich dieses gnostische Gedankengut bis weit in den Osten ausbreitete, und aus den im ägyptischen Nag-Hammadi geborgenen koptischen Schriftrollen wird 150 deutlich, dass es auch im christlichen Westen umlief. Nach dem Vorbesagten ist der Nukleus einer Proto-Schia sodann im südlichen Irak mit seinen Heerlagern Kūfa und Baṣra zu suchen. Von einer Zwölfer-Schia kann logischerweise erst ab 260/874 mit der Okkultation des zwölften Imam gesprochen werden. Deren Ausbreitung macht Muḥsin al-Amīn vor allem an den zwölfer-schiitischen Būjiden (930–1062) im Irak und Iran und den ismāʿīlitischen Fāṭimiden (908–1171) in Kairo sowie an den Ḥamdāniden (10. Jh.) in Nordsyrien, 151 Obermesopotamien und auf der Arabischen Halbinsel fest.

148 Halm, 1981, S. 44, Fragenkatalog der Ǧābir-Apokalypse des Umm al-kitāb 149 Martin Krause/Kurt Rudolph, Die Gnosis. Koptische und mandäische Quellen, Düsseldorf, Zürich, 1997, S. 244, 245 150 Böhlig, 1997, S. 32 ff., Ursula Ulrike Kaiser, Die Hypostase der Archonten, NHC II,4, in: Hans-Martin Schenke (Hg.), Nag Hammadi Deutsch, Berlin, 2013, S. 165 ff., Krause/Rudolph, 1997, S. 46 ff. 151 Muḥsin al-Amīn, Aʿyān aš-Šīʿa, Vol. XVI, Beirut, 1963, S. 18

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5 Schiitische Anfänge – Sawād al-Kūfa, Ǧabal ʿĀmil, Sabzavār, Māzandarān, Ardabīl Diskurse über die Anfänge der Schia im Libanon berühren stets auch den Aspekt ihrer möglichen iranischen Wurzeln. Auf den immer wieder aufs Neue geführten Disput darüber, ob die Schia im Iran als „arabischer Importartikel“ gelten müsse und – trotz konträrer Darstellungsversuche und Beweisführungen – nicht originär persischen Charakter habe, wurde im Zusammenhang mit der Beleuchtung der ʿĀmilī, Mutāwile und der Anfänge der Schia im Libanon bereits eingegangen. So argumentiert der libanesische Religionswissenschaftler Makkī, dass sich die Zugehörigkeit zur Schia im Iran später als in den arabischen Ländern entwickelt habe und sie bis zum 4./10. Jahrhundert in Kūfa und einem Großteil der Arabischen Halbinsel, mit Ausnahme der größeren Städte der Tihāma, Mekka und Ṣanʿāʾ, dominierend gewesen 152 sei. Eine Erklärung für den „persischen Charakter“ der Schia liefert Mohsen Zakeri mit dem Hinweis darauf, dass sich schiitische Gemeinschaften zunächst in den Grenzgebieten zwischen Irak und Iran bildeten, wo Kontakt zur schiitischen Bevölkerung bestand und erinnert daran, dass die Bevölkerung größerer Städte und Dörfer auch außerhalb Kūfas und Baṣras bis nach Ahwāz, der Hauptstadt der Provinz Ḫūzistān, in der mindestens die Hälfte der Bewohner schiitisch war, 153 „gänzlich aus Persern“ bestanden habe. Die Stadt Qom, durch deren Gründung die Schia im Iran seit dem 8. Jahrhundert – neben Gemeinden im Nordwesten – bis tief ins 10. Jahrhundert als Minderheit manifestiert ist, nahm dabei eine Sonderstellung ein. Der arabische Charakter der Stadt, die sich als Auffangbecken für asylsuchende Schiiten des Stammes Ašʿarī ausprägte, soll sich ebenfalls noch bis ins 10. Jahrhun154 dert erhalten haben. Dies wird auf den Zustrom der Partisanen des verfolgten schiitischen Rebellen Ibn al-Ašʿar aus Kūfa 94/712-13 zurückgeführt, die bei Glaubens- und Stammesbrüdern in Qom Zuflucht 152 Makkī, 1963, S. 16 153 Zakeri, 1995, S. 202/227 154 Halm, 2005, S. 30, 91

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fanden. Mit Unterstützung von Yazdānfaḏār, des Oberhaupts der dortigen zoroastrischen Gemeinde, sollen sich Teile des Stammes dort bereits vor dieser Zeit niedergelassen haben. Möglicherweise hatten die hohe Steuerlast unter Hārūn ar-Rašīd (786–809) und al-Maʾmūn (813– 833) und schließlich das Massaker, dem die Gemeinde unter al-Muʿtazz (866–869) ausgesetzt war, die anti-sunnitische Haltung der Stadt verstärkt. Anhänger der Schia fanden sich zudem in nahe an Babylonien heranreichenden Küstengebieten und Gegenden mit engem Kontakt zum 155 schiitischen Arabien. Ein Blick auf die geographische Lage, die versorgungstechnischen Abhängigkeiten und die Reichweite militärischer Vorgänge im ausgehenden Sāsānidenreich mit den vom Jemen in die irakischen Heerlager zurückgeflossenen iranischen Truppenteilen macht 156 dies durchaus plausibel. Nach Ibn Qutaiba erstreckte sich der Sawād al-Kūfa von Kaskar bis al-Zāb und von Helwān bis al-Qādisīya; der Sa157 wād al-Baṣra von Baṣra bis Ahwāz, Dast Maysān und Fārs. Fred McGraw Donner vermutet, das „relativ unfruchtbare“ Baṣra sei von 158 Ahwāz aus versorgt worden. Charles Pellat untermauert dies mit ei159 ner Schilderung der baṣrischen Trinkwasserproblematik. Bei Yaʿqūbī findet sich der Hinweis, dass Quellwasser von Iṣfahān nach Tustar, 160 Manāḏir und Ahwāz geflossen sei. Während der ersten Eroberungen sollen 4000 Mann Infanterie der Dailamiten konvertiert und zu den muslimischen Truppen gestoßen sein, wo sich die auf Grund ihrer hellen Gesichtsfarbe als ḥamrāʾ (die Roten) oder fors (furs) Bezeichneten den Banū Tamīm anschlossen und man sie im Heeresregister von al-Kūfas sechster Division führte. Dass 155 Mez, 1975, S. 60 156 Gabriele Dold-Ghadar, Pers-Andalus: Iranische Kulturdenkmäler in „al-Andalus al-aqṣā“, Berlin, 2016, S. 228 ff. 157 ʿAbdallāh b. Muslim b. Qutaiba, Al-Maʿārif, Hg. Ṯarwat ʿUkāša, Cairo, 1969, S. 566 158 Fred McGraw Donner, Military organization, Migration, and Settlement, in: The Early Islamic Conquests, Princeton, 1981, S. 230 159 Charles Pellat, Al-Baṣra, EI-online, abgerufen am 07.02.2014 160 Yaʿqūbī, Kitāb al-buldān, trsl. Gaston Wiet, Les Pays, Cairo, 1937, S. 77

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Einheiten der von Rostam Farroḫzād (Rustam b. Farruḫ Hurmuzd) kommandierten sāsānidischen Infanterie schon vor oder spätestens nach der Schlacht bei Qādisīya 16/637, in der das Heer des letzten sāsānidischen Monarchen Yazdgird III. (632–651) auf die Truppe von ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb unter dem Feldherrn Saʿd b. Abī Waqqās traf, übergelaufen und konvertiert waren und nach „Bilād aš-Šām“ gelangten, gilt als gesichert. Mit hohem Sold, einer „Tamīm-Genealogie“ sowie einer eigenen Moschee in Kūfa wurden tribale Gruppen gewöhnlich für ihre Fahnenflucht abgefunden. Das im Südirak gelegene al-Baṣra war – wie al-Kūfa im Zentral-Irak – Hauptfeldlager muslimischer Truppen. Von hier aus wurden die Offensiven in Richtung Nihāwand (21/642), Iṣṭaḫr, Fārs, Ḫorāsān und Siǧistān (29/650) geführt. Auch von ʿAlīs „Kūfa“Truppe heißt es, sie habe ca. 8000 mawālī und ʿabīd (Söhne weiblicher persischer Gefangener) eingeschlossen, die an der Schlacht von Ṣiffīn 161 beteiligt waren. Reza Aslan, der sich u.a. mit der Truppenstruktur im Heerlager Kūfa befasste, betrachtet die mit der Designierung Yazīds I. (reg. 60-4/ 680-3) durch seinen Vater Muʿāwiya I. (reg. 41–60/661–680) bereits zu Lebzeiten vorgenommene Etablierung einer in der islamischen Geschichte bis dahin unüblichen erblichen Monarchie als Auslöser für die dort aufflackernden Unruhen: „[…] gegen diese Entwicklung war es in Kufa zum Aufstand gekommen. Die Garnisonsstadt, in der es von freigelassenen Sklaven und nichtarabischen, zumeist iranischen muslimischen Soldaten nur so wimmelte, […] war das Zentrum anti-umayyadischer 162 Ressentiments.“

Eine nähere Betrachtung allerdings lässt erkennen, dass dies angesichts der mannigfaltigen Aspekte des sich in den Aufruhr kanalisierenden Protests der unterschiedlichen Interessengruppen von Unzufriedenen lediglich als ein Anlass unter vielen möglichen gelten kann, 161 Kennedy, 2001, S. 4/5, Morony, 1984, S. 196 162 Aslan, Kein Gott außer Gott, München, 2006, S. 197

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die es bereits vor dem taktisch klugen Schachzug des vorausschauenden Strategen Muʿāwiya gab. Von einer regelrechten „Überbevölkerung“ der mesopotamischen Garnisonsstädte spricht Fred McGraw Donner für die zwei Jahrzehnte zwischen der Eroberung des Irak und dem Ausbruch der ersten fitna 163 im Jahre 35/656. Große Gruppen dort lebender persischer abnāʾ alʿaǧam und persischer Grundbesitzer hätten sich durch den Anschluss an al-Muḫtārs Rebellion eine rechtliche Gleichstellung erhofft und sich 164 vom „arabischen Joch“ zu befreien gesucht, weshalb der iranische Anteil an den Vorgängen der zweiten fitna (680–692 n. Chr.) nicht unbeträchtlich gewesen sei. Balāḏurī und aṭ-Ṭabarī unterscheiden die zahlreichen ḥamrāʾ im Gefolge al-Muḫtārs von den persischen mawālī 165 aus Kūfa. Die ahāmira/abnāʾ al-fars von al-Kūfa sollen als sogenannte abnāʾ al-asāwirah und abnāʾ al-marāziba den Kern von dessen bereitgestellter, 20.000 Mann starker Kampftruppe unter dem Kommando Abū ʿAmra Kaisāns gebildet haben, von der es hieß, in ihr sei kaum ein 166 arabisches Wort zu hören gewesen. Unter den 3200 Männern, die den Beginn von al-Muḫtārs Aufstand im Oktober 685 begleiteten, sollen sich 500 mawālī befunden haben und von den 6000, die sich in der Zitadelle von Kūfa schließlich ergeben hatten und von Muṣʿab b. az-Zubayr hingerichtet wurden, sollen 167 4000 persisch und 2000 arabisch gewesen sein. Auch in Baṣra stand 683 ein vierhundertköpfiges Heer von asāwirah unter Māh Afrīdūn, über die persische militärische Elemente in die muslimische Kriegsführung einflossen – darunter die Übernahme des ġulām in muslimische Heeresverbände, der panğeqān, mit dem 2000 Pfeilschüsse in einer Salve abgegeben werden konnten und das birḏawn, ein schweres persisches Pferd, das als eines der Vorzüglichkei163 164 165 166

McGraw Donner, 1981, S. 231-2/235 Zakeri, 1995, S. 205 Balāḏurī, Ansāb, V, S. 254, Ṭabarī, Ta‘rīḫ, II, S. 724 Abū-Ḥanīfa ad-Dīnawarī, Al-Aḫbār aṭ-ṭiwāl, Hg. ʿAbd-al-Munʿim ʿĀmir, Cairo, 1960, S. 292-295 167 Dīnawārī, Aḫbār aṭ-ṭiwāl, S. 315, ʿAbd-Dixon, ʿAbd al-Ameer, Umayyad Caliphate, London, 1971, S. 44

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ten Baṣras galt und für das um 657 in Kūfa eigens ein Markt existier168 te. Aber offenbar schon kurz nachdem al-Muʿāwiya in Damaskus zum Kalifen (41–60/661–680) ausgerufen wurde, begann sich die Anhängerschaft ʿAl īs nach Osten auszuweiten: Laut Heinz Halm gelangte die „hāšimitische Propaganda“ ab etwa 102/720 durch sogenannte „Wer169 ber“ (duʿāt, sg. dāʿī) von Kūfa aus in die Garnisonen nach Ostiran. In Wellhausens Forschungen erscheint die Schia in Verbindung mit den unterdrückten Ständen der mawālī mit oft jüdischem, christlichem, zoroastrischem oder manichäischem Familienhintergrund, in deren Händen überdies traditionell Handel, Handwerk und Geldgeschäfte lagen, und die sich durch Klientelverhältnisse den lokalen Stämmen und Clans angeschlossen hatten, den „national arabischen Boden von Kūfa“ verließen, um sich zur sogenannten Sabāʾīya oder Kaisānīya zu formie170 ren, und sieht in ʿAbdallāh b. Sabaʾ, „einem Juden aus dem jemeniti171 schen Ṣanʿāʾ“, den Begründer der schiitischen Dogmatik. Dass diese Einschätzung keinesfalls abwegig ist, zeigen nicht nur die Ausführungen Heinz Halms über den ġulūw und das Buch der Schatten, von denen bereits im vorherigen Kapitel die Rede war. Auch Steven M. Wasserstrom verdeutlicht am Beispiel der sich um 720 im proto-schiitischen mesopotamischen Milieu entwickelnden „kreativen Symbiose“ religiöser Splittergruppen und „cloth-worker-revolutionaries“, die sich innerhalb der islamisierten Welt bis ans westliche Mittelmeer ausbreiteten, eine nahezu unüberschaubare, sich nicht selten überlappende häretische Vielfalt. Die vom angeblich illiteraten Isḥāq b. Yaʾqūb Abū ʿĪsā Obadiah alIṣfahānī gegründete und mit den aus den oppositionellen Vorgängen um ʿAlī in Ḥarūrāʾ, Ṣiffīn und Aḏruḥ hervorgegangenen Ḫāriǧiten vernetzte ʿĪsāwīya dehnte sich von Nisibis innerhalb des persischen Ein168 169 170 171

Morony, 1984, S. 210-211 Halm, 1988, S. 27 Mez, 1975, S. 59-60 Wellhausen, 1901, S. 91

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flussbereichs nach Transoxanien aus und gelangte gemäß Ibn Ḥazm 173 in den Irak, nach Syrien, Ägypten und bis nach al-Andalus. Religion verstand sich nicht selten als Interessenspolitik der politischen Opposition und der Unterprivilegierten – insbesondere der mawālī – deren Anführer häufig den sozial randständigen Berufsgruppen der „Weber, Teppichknüpfer und Wäscher“ entstammten. Obwohl dies ein gern benutzter Topos sein mag, sind genau dort, wie auch innerhalb der sogenannten ḫāriǧitischen Gruppierungen beträchtliche persische Anteile auszumachen. Schiitische Splittergruppen religiös-politischen Zuschnitts scheint es in umayyadischer wie auch in ʿabbāsidischer Zeit zahlreich gegeben zu haben. Vor allem während der Herrschaft des sechsten Imams, Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq, stieg die Zahl der bereits erwähnten, extrem-schiitischen ġulāt („Übertreiber“) drastisch an – als Folge der Islamisierung von Gebieten mit mesopotamischem Religionshintergrund, aus denen altbabylonische, zoroastrische, mazdakistische, manichäische, jüdische und christliche Inhalte sowie gnostische Welterlösungs- und Seelenwanderungsvorstellungen in den muslimischen Korpus einflossen und 174 diesen mehr oder weniger subtil beeinflussten. In dieser Zeit begann die schiitische Mahdī-Vorstellung sich zu 175 entwickeln. Neben der Kaisānīya mit ihrem Oberhaupt al-Kaisān aus dem Stamm der Baǧīla, der als prominente Figur der Schia Vertrauter und Klient al-Muḫtārs war, brachte der „Gärbottich“ Irak im 2./8. Jahrhundert auch die Ismāʿīlīya und das Ṣūfī-Netzwerk der sogenannten Bāṭinīya hervor, die esoterisches und gnostisches Gedankengut inkorporiert hatte. Der radikal-militanten Zaidīya, die – bevor sie sich schließlich in abgelegene Gebirgsregionen um das Kaspimeer und in den Jemen zurückzog – serienmäßig Revolten bis hin zum Aufstand 172 Steven M. Wasserstrom, Between Muslim and Jew, Princeton, 1995, S. 22, 72, 88 ff. 173 Ibn Ḥazm, al-Fiṣal, Cairo, 1317-21, Nachdruck Baghdad, 1969, Vol I, S. 99 174 Halm, 1981, S. 15-86 175 Erstmals nährte sich unter den kufischen Schiiten die Hoffnung, Muḥammad b. al-Ḥanafīya sei im Jahre 81/700 in die Schluchten des Berges Raḍwā nördlich von Medina entrückt worden. Vgl. Halm, 1988, S. 24

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von Yaḥyā al-Maḥḍ aus Dailam im Jahre 175/791 initiierte, kehrte der moderate Teil der kufischen Schia noch vor der gescheiterten Revolte von Zayd b. ʿAlī b. al-Ḥusain den Rücken und wandte sich dessen Neffen Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq zu.

5.1 Die fuḍalā des Ǧabal ʿĀmil Die Zwölfer-Schia bildet in der Levante seit jeher generell die zahlenmäßig stärkste schiitische „Fraktion“ neben den weit kleineren Zweigen der Zaiditen, Ismailiten und Alawiten, die erst während der 1970er Jahre in den Libanon einsickerten, sowie den ca. 280.000 heute im Libanon lebenden Drusen, die sich ab dem 5./11. Jahrhundert nach ihrer Verfolgung in Ägypten in die entlegenen Gebirgsgegenden des Šūf und Matn und in den südsyrischen Ḥaurān zurückzogen. Der Begründer dieser religiösen Gemeinschaft war der aus Zūzan/ Ostiran stammende Ḥamza b. ʿAlī b. Aḥmad al-Labbād (der Filzmacher), dessen 408/1017 einsetzende Sendschreiben, wie schon die seines Vorgängers Ḥasan b. Ḥaidara al-Aḫram aus Ferġāna, insbesondere den Kalifen al- Ḥākim bi Amr (985–1021) als Inkarnation Gottes darstellten und kultische Handlungen fürderhin obsolet machten. Der Beiname seines Rivalen, des türkischen Beamten Anūštekīn, Muḥammad adDarzī aus Buḫārā, gab auf Grund dessen emsiger Mission der Lehre 177 den Namen. Neben den islamischen Fremdbezeichnungen Imāmīya, Iṯnāʿašarīya und Ǧaʿfarīya (nach dem sechsten Imam Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq) für die Zwölferschia sind für Schiiten aus dem Ǧabal ʿĀmil die Selbstbezeichnungen al-ḫāṣṣa“ (die „Besonderen“) in Abgrenzung zu den Sunniten, 178 den sogenannten al-ʿammā (den „Gewöhnlichen“) und fuḍalā (die „Hervorragenden, Verdienstvollen, Gelehrten“) geläufig und lassen auf ein hochentwickeltes, fast schon überhebliches Selbstverständnis der dortigen „Zwölfer“ schließen. Polemisierungen ihrer sunnitischen Geg176 Momen, 1985, S. 71 177 Halm, 1988, S. 4, 220, 222; Hodgson, al- Darazī, Madelung, Ḥamza b. ʿAlī , EIonline, abgerufen am 15.07.2018 178 ʿAlī Murūwa, At-tašaiyuʿ baina Ǧabal ʿĀmil wa Ìrān, London, 1987, S. 11

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ner brachten den Zwölferschiiten zudem das Prädikat rāfiḍī ein. Dies provozierte von schiitischer Seite die Bezeichnung nāṣibī (pl.: an-nawāṣib) für Sunniten – was so viel bedeutet wie „fanatischer ʿAlī-Gegner“ und auf die aus schiitischer Sicht unrechtmäßige Kalifatsnachfolge (naṣb) Abū Bakrs nach dem Tode Muḥammads zurückgehen soll. Der Mangel an schriftlichen Überlieferungen lässt breiten Raum für Spekulationen hinsichtlich der Einführung der Zwölferschia im Libanon, und neben der Hypothese, die ersten schiitischen Gemeinden – und damit die „Metāwileh“ – seien Nachfahren der Qarmaṭen oder der 179 nizaritischen Assassinen, gibt es mannigfaltige weitere Erklärungsansätze. Wie der im Ǧabal ʿĀmil geborene schiitische Gelehrte Muḥsin al-Amīn (1867–1952) erläutert, breitete sich die Schia in der Provinz ašŠām namentlich unter den Būjiden im Irak und Iran aus und gewann mit den Hamdaniden (Banū Ḥamdān) in Aleppo, aš-Šām und auf der Arabischen Halbinsel und mit den Fatimiden (al-fāṭimiyūn) in Nord180 afrika weiter an Boden. Gibb/Kramers konstatieren, dass seit dem 18. Jahrhundert, also zeitgleich mit der Befreiung der Schiiten von der Oberhoheit osmanischer Emire und unter der Führung der drei Familien Āl Naṣṣār im Ǧabal ʿĀmil, Āl Ḥarfūš in Baalbek und Āl Ḥamāda im Nordlibanon der Begriff mutāwila für die Schia als Gemeinschaft und mutawālī (populär: „métouali“) für die schiitische Bevölkerung vor al181 lem im Südlibanon gängig sei. Die Überzeugung, dass die Schia im Ǧabal ʿĀmil bereits während der ersten islamischen Jahrhunderte ihren Anfang genommen habe, war tief in das mündlich tradierte Geschichtsbild der ʿĀmilī eingedrungen. Spätere moderne Denker aus dem Ǧabal ʿĀmil haben dies aufrecht erhalten und unterfüttert – insbesondere die Auffassung, dass Abū Ḏarr al-Ġifārī (-32/652) als einer der frühesten Prophetengefährten und 182 resoluter Alide der Gründervater der Schia im Südlibanon sei. Mu179 Halm, 1988, S. 167 180 ebd., Bosworth, Lammens, Perthes, Lentin, Aš-Šām (Syrien), in: S. 68: EI online, abgerufen am 15.07.2017 181 Gibb/Kramers, 1961, S. 420 182 Makkī, 1963, S. 16-18

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ḥammad al-Ḥurr al-ʿĀmilī (-1104/1693), letzter nach Persien emigrierter Gelehrter des Ǧabal ʿĀmil, versuchte ebenfalls, den Beweis für die schiitische Seniorität der ʿĀmilī und deren privilegierte Stellung in der schiitischen Geschichte zu führen. Als Beleg zog er einen Ḥadiṯ von Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq über die Rolle der Schia während der Verborgenheit (ġaiba) des Imam Mahdī und nach dessen Wiederkunft heran und identifizierte die „Häuser am Strand der weniger gebirgigen Region Syriens, wo die Ausgesuchtesten seiner Schia lebten, die eifrig ihren Imam erwarteten“, als den Ǧabal ʿĀmil mit seinen schiitischen Bewohnern. Durch historische Belege ist diese Deutung jedoch nur schwerlich zu erhärten: Die Schia schlug auch in Ḫorāsān und im Jemen Wurzeln – 183 lange bevor sie im Umfeld des Ǧabal ʿĀmil heimisch wurde. Das Fundament der Schia in Tiberias, Nablus und Jerusalem legten laut Überlieferung die beiden „Prediger“ Salmān al-Fārisī, der in al184 Suhwa missioniert habe und ʿAmmār b. Yāsir, der in Laǧāʾ, einer Ebene in Südsyrien, die gemäß Heinz Gaube seit vorrömischer Zeit Re185 bellen und Marodeuren als Schlupfwinkel diente, gewirkt habe und 186 jemenitischer Abkunft gewesen sein soll. Albert Habib Hourani (1915–1993), in Manchester geborener Geschichtswissenschaftler und Spross südlibanesischer griechisch-orthodoxer Immigranten, schließt aus den Schilderungen bei Naṣīr-e Ḫosrou, wonach schiitische Gruppen in „Aš-Šām“ („Größer Syrien“ – einschließlich Palästinas, des heutigen Libanon und Ostjordaniens) weit verstreut waren, dass eine zwölferschiitische Gemeinde im Ǧabal ʿĀmil mindestens seit dem 10. 187 Jahrhundert existiert und geht mit der mündlich tradierten These, die Schia im Libanon sei durch Abū Ḏarr al-Ġifārī gegründet worden, konform. Dessen Verbannung durch al-Muʿāwiya in die ländlichen Gebiete der bilād aš-Šām lege nahe, dass er dort – zum Leidwesen der damali183 Muḥsin al-Amīn, Aʿyān aš-Šīʿa, ed. Ḥasan al-Amīn, Vol. 4, Beirut 1986, S. 236-39 184 Aṭ-Ṭabarī, Tārīḫ ar-rusul wa’l-mulūk, trad. Landau-Tasseron, 1998, S. 28-34. ʿAmmār b. Yāsir soll ebenfalls in Badr, Uḥud und im Grabenkrieg gekämpft haben und im Alter von 49 Jahren gefallen sein. 185 Heinz Gaube, Laǧāʾ, EI-online, abgerufen am 11.04.2018 186 Ende, 1977, S. 208, Pohl-Schöberlein, 1986, S. 20 187 Albert Hourani, From Ǧabal ʿĀmil to Persia, BSOAS, Vol. 49, 1986, S. 133

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gen Machthaber – Instrument der Verbreitung schiitischen Gedanken188 guts geworden war. Obwohl es kein eindeutiges Indiz für Abū Ḏarrs Rolle als Überbringer schiitischer Ideologie in das Gebiet des Ǧabal ʿĀmil gibt, bezieht 189 190 sich Muḥsin al-Amīn auf Hinweise von Ibn Saʿd und aṭ-Ṭabarī, Abū Ḏarr habe zahlreiche Menschen in Syrien für die Schia gewonnen. Er selbst ist davon überzeugt, dass die Schia und Abū Ḏarr im Libanon untrennbar miteinander verbunden sind: „Und es ist bekannt, dass die Schiitisierung Ǧabal ʿĀmils das Werk Abū Ḏarrs ist, und dass er, als er nach al-Šām verbannt wurde, und in Damaskus das sagte, was er sagte, von Muʿāwiya in die Dörfer aš-Šams verbannt wurde, dort begann er, die Vorzüge der Ahl al-Bait (der Friede sei mit ihnen) zu verbreiten. Die Bewohner dieser Berge bekannten sich durch ihn zur Schia. Als Muʿāwiya davon erfuhr, holte er ihn nach Damaskus zurück, da191 nach wurde er nach al-Madīna verbannt.“

Damit schließt er sich der Auffassung Julius Wellhausens (1844–1918) an, wonach die Schia des Ǧabal ʿĀmil, die sich in den ersten Jahrhunderten der islamischen Ära entwickelt habe, unabhängig von Persien entstanden sei, was frühere Polemiker widerlege, die die Schia als „Re192 aktion des iranischen Geistes gegen den Islam“ sehen wollten. Im bereits erwähnten drusischen Prinzen Šakīb Arslān (1869–1946) findet sich hingegen ein Verfechter der persischen Abstammungstheorie. Der libanesische Publizist und Historiker bestreitet gegenläufige Ausführungen von Āl al-Faqīh und plädiert für den persischen Charakter 193 der Schia. Die überwiegend iranische Abkunft der mawālī von Kūfa 188 189 190 191

Hourani, 1986, S. 133 Ibn Saʿd, Kitāb aṭ-Ṭabaqāt al-kabīr, S. 168-169 Aṭ-Ṭabarī, Tārīḫ ar-rusūl wa’l-mulūk, Vol. 1, 1960, S. 283-284 Muḥsin al-Amīn, Aʿyān aš-Šīʿa, Damaskus, 1935, S. 79, Pohl-Schöberlein, 1986, S. 20 192 Julius Wellhausen, Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam, Berlin, 1901, S. 89 ff., 91 193 Arslān, 1910, S. 1015 ff.

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lasse den Schluss zu, dass die Schia eine Religion iranischen Ursprungs sei. Auf einen „persischen“ Aspekt bezüglich der Sicht auf die Vorgänge der Prophetennachfolge und der Erblichkeit dessen Amtes geht in diesem Zusammenhang der niederländische Orientalist Reinhart Pieter Anne Dozy (1820 Leiden–1883 Alexandria) ein: «Les chiites étaient au fond une secte persane, et c’est ici que parut le mieux la différence entre la race arabe, qui aime la liberté, et la race perse, accoutumée à la soumission d’esclave. Pour les Persans le principe de l’élection du successeur du prophète était quelque chose d’inoui et d’incompréhensible. Ils ne connaissaient que le principe d’hérédité, ils pensait donc que Mahomet n’ayant pas laissé de fils, son gendre Ali aurait dû lui succéder et que la souveraineté était héréditaire dans sa famille. Par suite, tous les 194 califes sauf Alî étaient à leurs yeux des usurpateurs.»

Diese Verquickung von religiösen und ethnischen Charakterisierungen ist nicht neu: Al-Yaʿqūbī erwähnt für Baalbek, Ǧubail, Tiberias und die syrischen Poststädte Tripoli, Ṣaidā und Beirut bereits für das Jahr 24 195 A.H. „qaum min al-furs“, die er als sogenannte „Ašʿariten“ identifiziert und vermutet in ihnen eine durch den ersten umayyadischen Ka196 lifen dort angesiedelte „Mischung aus Arabern und Persern“. In seiner Abhandlung über das „Ašʿaritenthum“ schreibt Martin Schreiner, dass man „in den blühenden Städten des östlichen Chalifates mit ihrem regen Geistesleben überhaupt keine Lust [hatte], des Rechtes einer vernünftigeren Auffassung der religiösen Lehren“ zu folgen und hebt „als eine sehr bedeutsame Thatsache hervor, dass die Pfleger des ašʿaritischen Kalāms zumeist Perser waren, so wie früher die persischen Pro197 vinzen die meisten Muʿtaliziten gezählt hatten“. Ob man zur fragli194 Wellhausen, 1901, S. 90 195 Al-Yaʿqūbī, Kitāb al-buldān, Leiden, 1892, Frankfurt/M., 1992, S. 327 196 Al-Balāḏurī, Kitāb futūḥ al-buldān, Hg. Fuat Sezgin, Islamic Geography, Vol. 42, Frankfurt/M., 1992, S. 117 197 Martin Schreiner, Zur Geschichte des Ašʿaritenthums, in: Actes du 8ième congrès international des Orientalistes 1889, 2ième partie, Leiden, 1893, S. 79, 80, 81

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chen Zeit mit Vertretern der Ašʿarīya im Litoral rechnen kann, bleibt allerdings dahingestellt. Montgomery Watt führt aus, dass die Ašʿarīya um die Mitte des 11. Jahrhunderts durch die der muʿtalizitischen Lehre anhängenden būjidischen Sultane verfolgt wurde und erst unter dem Seldschukenwesir Niẓām al-Mulk (1018–1092) wieder offizielle Akzeptanz genießen durfte. Den Fatimiden in Kairo sollen sie intellektuelle Lehrmeister gewe198 sen sein. Angaben über persische Präsenz am östlichen Mittelmeer finden sich bei al-Kindī, wonach die für ihr Handelsgeschick berühmten Perser bereits im frühen 2./8. Jahrhundert eine große und einflussreiche 199 Kolonie in der ägyptischen Hauptstadt etabliert hatten. Nach Heinz Halm ist es wahrscheinlich, dass das schiitische Bekenntnis mit der Besiedelung des Berglandes von Galiläa und dem Südlibanon durch den arabischen Clan der Banū ʿĀmila vom Stamm 200 Ǧuḏām im 9. Jh. in den Ǧabal ʿĀmil gelangte. Auch Rula Abisaab ist, wie schon ausgeführt, der Überzeugung, dass sich eine Anzahl jemenitischer Stämme mit klar schiitisch orientierten Tendenzen bereits vor 201 dem 10. Jh. im Ǧabal ʿĀmil ansiedelten; darunter der Stamm von alḤāriṯ al-Ḥamdānī, von dem der bedeutende al-ʿĀmilī-Gelehrte Ḥusain b. ʿAbd aṣ-Ṣamad (-984/1576) abstammte. Mitglieder der Ḥamdān be198 Montgomery Watt, Ašʿariyya, in: EI-online, abgerufen am 15.10. 2017 199 Al-Kindī, Kitāb al-wulāh wa kitāb al-quḍāh, ed. Guest, 1912, S. 402 Abū Yusuf Yaʿqūb b. Isḥāq al-Kindī, Philosoph aus altem südarabischen Königsgeschlecht, wurde um 800 in Kūfa, wo sein Vater Statthalter war, geboren und lebte vorwiegend in Baghdad. Er war Vertrauter des Kalifen al-Muʿtaṣim und Prinzenerzieher am Hof in Samarra, wo er Opfer von Intrigen wurde. Von den ihm zugeschriebenen 250 Schriften sind rund 40 erhalten. Als eifriger Verfechter der griechischen Philosophie und Wissenschaft versuchte er, die koranische Schöpfungslehre mit der neuplatonischen Emanationsvorstellung zu vereinen und setzte sich kritisch mit den Lehren der Manichäer und Christen auseinander. Als Naturwissenschaftler schrieb er über das Phänomen von Ebbe und Flut, über Fragen der Optik, die Heilmittellehre und die Nichtigkeit der Alchemie. Er starb um 870 in Baghdad. 200 Halm, 1988, S. 167 201 Abisaab, 1999, S. 6

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gannen ihre Migration aus dem Jemen in den Irak bereits um das Jahr 635, wo sie in Kūfa zwanzig Jahre später ihren eigenen Stadtteil be202 wohnten. Abisaab geht bezüglich dessen Namensherkunft mit Henri Lam mens konform, wonach sich der Begriff ʿ Āmila auf den namensglei203 chen jemenitischen oder südarabischen Stamm beziehe, der sich in der Schlacht von Ṣiffīn (37/657) bewährt hatte. Der Jemen, dessen Bewohner als Aliden betrachtet wurden, soll bereits zur Zeit des Prophetenenkels Ḥusain als fruchtbarer Boden für die Schia gegolten haben. Man nimmt daher an, dass die schiitische Gemeinde des Ǧabal ʿĀmil verschiedenen politisch und sozial unzufriedenen Gruppen von jemenitischen Emigranten Zuflucht geboten hatte, die in der Doktrin der 204 Zwölferschia ein brauchbares Vehikel für ihren Protest sahen.

5.1.1 Vom Fürstentum Tripoli zum Cebel-i Lübnan und der Libanesischen Republik Über spätere Zeiträume scheint weniger Dissens zu herrschen: Den Umstand, dass „die Hälfte von Nablus und Qadiš sowie ein Großteil 205 Transjordaniens schiitisch“ war, führt Adam Mez darauf zurück, dass 206 die schiitische Dynastie der Banū ʿAmmār, die sich 462/1070 nach dem Tod des fatimidischen Gouverneurs unabhängig erklärte und vierzig Jahre lang bis zur Eroberung durch die Kreuzfahrer 502/1109 über das autonome Fürstentum Tripoli herrschte und diplomatisch zwischen Fatimiden, Seldschuken, Mamluken und den Kreuzfahrern taktierte, das schiitische Bekenntnis in ihrem Einflussbereich zur Pflicht gemacht 207 habe. Dieselbe Einschätzung ist dem Reisebericht des während seiner Pilgerfahrten zum Imamitentum konvertierten Gelehrten Naṣīr-e Ḫosrou 202 203 204 205 206 207

Morony, 1984, S. 241 Lammens, ʿĀmila, s.v. EI1, Vol. I, S. 343 Abisaab, 1999, S. 7 Prof. f. semit. Philologie (1869 Freiburg/Br. 1917) s. HdO Vol. 76-2, Leiden, 2006 EI 2, Vol. I, 1960, S. 448 Mez, 1975, S. 60 verweist auf Ibn Ḫallikan: Wafayat al-Aʿyān wa anbā azzamān.

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zwischen 428 und 444/1037 und 1052 zu entnehmen, in dem er über Stationen seiner Reisen, die ihn von Marw/Ḫorāsān über Nīšāpūr, Tabrīz und Aleppo nach Jerusalem, Cairo und über Mekka wieder zurück nach Balḫ im heutigen Afghanistan führten, insbesondere über die 208 Existenz schiitischer Gemeinschaften an der Levanteküste referiert. Auch er führt das verbreitete Schiitentum in Tripoli auf den dort vorherrschenden schiitischen Stamm der Banū ʿAmmār zurück und beschreibt Karawansereien oder Bewachungsanlagen ähnelnde ribāt, die man mašhad nenne und die Orte des Martyriums seien. Er unterrichtet uns nicht nur über die zahlreichen schiitischen Moscheen und die bedeutenden schiitischen Gemeinschaften in Tripoli, Aleppo und Herāt, sondern auch über die Besonderheit, dass die schiitische Mehrheit der Einwohner von Ṣūr einem sunnitischen qāḍī namens Abū ʿAqil unter209 stellt gewesen sei. Im 11. Jahrhundert repräsentierten neben dem ismāʿīlitisch-schiitischen Fatimidenkalifat (908–1171) in Kairo, von dem Kamāl aṣ-Ṣalībī 210 annimmt, dass es die Grundlagen des modernen Libanon gelegt habe, die persischen zwölferschiitischen Būjiden (932–1055) in Baghdad den Höhepunkt schiitischer politischer Machtausübung. In diese Zeit fällt auch das Emirat der bereits erwähnten zwölferschiitischen Hamdaniden in Nordsyrien und Obermesopotamien. Durch die Rivalität zwischen der Ismāʿīlīya und den Zwölferschiiten kam es jedoch zu keiner gemeinsamen schiitischen Dynastie. Unter fatimidischer und seldschukischer Oberhoheit etablierte sich eine namhafte Präsenz der Schia in Gebieten der nördlichen Levante mit dem bereits mehrfach genannten schiitischen Clan der Banū ʿAmmār, der im frühen 12. Jahrhundert entscheidend zur Zurückschlagung 211 der Kreuzritterangriffe beitrug. Im weiteren Verlauf der kreuzkriegerischen Auseinandersetzungen allerdings sollte die Kapitulation der 208 209 210 211

Naṣīr-e Ḫosrou, Safarnameh, S. 42 in: Mez, 1975, S. 60, Abisaab, 1999, S. 10 Najmabadi/Weber, Safarname, München, 1993, S, 42,43 Kamāl aṣ-Ṣalībī, The Modern History of Lebanon, London, 1965, S. xvi Rodger Shanahan, The Shi‘a of Lebanon – Clans, Parties and Clerics, London, 2005, S. 14

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Banū ʿAmmār das Ende der schiitischen Herrschaft in Tripoli 501/1107 besiegeln: Während der lokale Sultan Faḫr ad-Dīn al-Mulk ʿAmmār als letzter Herrscher der Linie vergeblich um Hilfe beim Seldschukensultan in Baghdad nachgesucht hatte, sollen die Einwohner von Tripoli das fatimidische Kairo um Unterstützung gebeten und die Entsendung 212 einer Flotte bewirkt haben – die allerdings zu spät eintraf. Eine sorgsam geplante Invasion des Mamlukensultans Baybars al213 Bunduqdārī (620–676/1233–1277), der an der Küste Syriens, Libanons und Palästinas eine Politik der verbrannten Erde betrieb, hatte ab 1265 schließlich die Beendigung „fränkischer“ Präsenz und den ruhmlosen Abzug der Kreuzritter zur Folge. Ab Frühsommer 1291 kapitulierten die Küstenstädte Tyrus, Sidon und Beirut, woraufhin Baybars sie dem 214 Erdboden gleich machen und die Bevölkerung massakrieren ließ. Die Schiiten im Litoral verloren dramatisch an Bedeutung und Einfluss, 215 und 1292 wurden auch die Schiiten des Ǧabal ʿAkkār und Ǧabal ad216 Dinnīya von den Mamluken überrannt und unter Zwang zur Sunna 217 konvertiert oder ausgewiesen. Dürreperioden und Pest verschlimmerten die Lage in Syrien und an der Levanteküste, deren Häfen bereits unter Ṣalāḥ ad-Dīn (532–589/1138–1193) geschlossen worden waren. Im Verlauf weiterer antischiitischer Umtriebe erfuhr die Al-Azhar Universität in Kairo die Umwandlung in eine sunnitische Lehranstalt. In der Folgezeit duldete Sultan Baybars lediglich die vier sunnitischen 218 Rechtsschulen und begann den Feldzug gegen den Kisrawān, der ne219 ben Christen, Drusen und Nusairiern auch Schiiten beheimatete. 212 G. Wiet, ʿAmmār, in: EI2, Leiden, 1960, S. 448 213 Baybars al-Bunduqdārī (620-676/1233-1277), vierter Mamlukensultan der Baḥrīden-Dynastie, soll vom Ayyūbidensultan Malik Ṣāliḥ als tscherkessischer oder Qipčak-türkischer Sklave erworben worden sein. G. Wiet, Baybars I, EIonline, abgerufen am 02.10.2018 214 Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart, 1980, S. 249-255 215 Distrikt im Nordlibanon mit Verwaltungssitz Ḥalbā 216 Plateau östlich von Tripoli 217 Aṣ-Ṣalībī, 1965, S. xviii 218 Der Namensgeber des Gebietes soll Khosro II (Kisrā) sein. Vgl. Aš-Šidyāq, 1993, S. 201-202 219 In der Geschichte des Kisrawān nicht einmalig: Das von Kyros II. 539 v. Chr.

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Eine von Ibn Taymīya erlassene fatwā, die die Bewohner des syrischen Küstengebirges als „Abtrünnige“ brandmarkte, „die ausgerottet werden müssen“, sanktionierte die Politik Baybars’ und die seines Sohnes und Nachfolgers Nāṣir Baraka Ḫān, der persönlich an den verheerenden Strafexpeditionen gegen den Kisrawān zwischen 1302 und 1307 221 teilgenommen haben soll. Weil die Schia während der Kreuzfahrerzeit im Kisrawān deutlich zugelegt hatte und die Region im Küstenstreifen nördlich von Beirut Unabhängigkeitstendenzen zu zeigen begann, scheint sich das eigentliche Motiv für ein solch radikales Vorgehen allerdings eher politisch statt religiös zu begründen. Nach ihrer Vertreibung aus dem Kisrawān 1305 und der Abwanderung in die Bekaa (al-Biqāʿ) nach Baalbek, Ǧizzin im Schuf-Gebirge, und Ṣaidā im Ǧabal ʿĀmil strebte die schiitische 222 Gelehrtenschaft eine Reorganisation der Gemeinschaft an, die zu jener Zeit mystische und philosophische Aspekte in den schiitischen Korpus aufnahm. Nicht zufällig fielen in eben diese Periode die ersten beiden innerhalb der Schia höchst bedeutsamen Märtyrer: der in Damaskus „mit dem Schwert hingerichtete, aufgehängte, gesteinigte und 223 anschließend verbrannte“ Šams ad-Dīn Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. Makkī al-ʿĀmilī al-Ǧizzīnī (Šāhīd al-Awwal) und Šaiḫ Zain ad-Dīn b. ʿAlī al-ʿĀmilī al-Ǧubāʿī (Šahīd aṯ-Ṯānī). Auf beide wird noch näher einzugehen sein. Nach sunnitischer Verfolgung, Zwangskonvertierung und Vertrei-

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221 222 223

in die Satrapien Syria und Assyria aufgeteilte Gebiet war 608 n. Chr. von Khosro II geplündert worden. Taqī ad-Dīn Aḥmad b. ʿAbd al-Ḥalīm b. Taymīya (661–728/1263–1328) war als Siebenjähriger mit seiner Familie vor den Mongolen aus Ḥarrān nach Damaskus geflohen. Als Anhänger der hanbalitischen Schule wandte er sich gegen alle Neuerungen und betrachtete die Mongolen als göttliche Strafe. Er wurde während seiner Haft in der Zitadelle von Damaskus exekutiert. Hitti, 1967, S. 325-326 Momen, 1985, S. 94, 119 Mudarris, Mīrzā Muḥammad ʿAlī, Raiḥānāt al-adab fī tarāǧim al-maʿrūfīn bi'lkunya au al-laqab yā kunan wa alqāb, Vol. 2, Tabrīz, 1347 h.š./1968, S. 365-366, Z. 14,15

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bung aus dem Kisrawān durch die Mamluken siedelten sich schiitische Gemeinschaften vornehmlich im nördlich durch den Awwalī225 Fluss und südlich durch Galiläa begrenzten Ǧabal ʿĀmil an sowie im 226 nördlichen Bekaa-Tal – speziell um die Städte Hermel und Baalbek – und bildeten in diesen beiden geografisch nicht zusammenhängenden Gebieten höchst unterschiedliche Charakteristiken aus: Die Schiiten im Ǧabal ʿĀmil passten sich in ein feudalistisches System ein, wo sie als Gegenleistung für die Gewährung von Schutz und einer eigenen Gerichtsbarkeit die Felder der landbesitzenden Familien bewirtschafteten. Die Schiiten der Bekaa-Ebene hingegen wurden nie von wohlhabenden Landbesitzern dominiert. Sie setzten sich seit Jahrhunderten aus nomadisierenden Clans zusammen, deren mächtigste ihrerseits Tribut nah227 men. Schiitische Vorherrschaft bildete aber stets die Ausnahme. Schiiti sche Clans wie die Banū Ḥamāda, die lediglich eine marginale politische Rolle spielten, tauchen in den allgemeinen Chroniken nur rand228 ständig auf. Mit Unterstützung des osmanischen Paschas von Tripoli 229 beherrschte die Familie, der iranischer Ursprung nachgesagt wird, im ausgehenden 16. Jahrhundert neben der Stadt Ǧubail auf dem Boden des antiken Byblos maronitische und griechisch-orthodoxe Gegenden im nördlichen Kisrawān sowie das Gebiet um Hermel in der BekaaEbene. Andere Gemeinschaften, wie beispielsweise die Drusen, die schon ab Mitte des 12. Jahrhunderts Teile der Bergregionen und Gebiete um Beirut unter ihre Kontrolle gebracht hatten, übten dort während der gesamten osmanischen Zeit die Hegemonie aus. 224 Kamāl aṣ-Ṣalībī, A House of many Mansions, London, 1988, S. 14 225 Joseph Olmert, The Shi‘is and the Lebanese State, in: Kramer, 1987, S. 189 226 Über die frühe Geschichte des Ǧabal ʿĀmil s. Muḥsin al-Amīn: Ḫiṭāt Ǧabal ʿĀmil, Beirut, 1961, S. 65 ff. und Makkī, 1963, S. 12 227 Shanahan, 2005, S. 15 ff. 228 Einen umfangreichen Bericht über die Machtverteilung im Ǧabal ʿĀmil in osmanischer Zeit gibt Mounzer Jaber, Pouvoir et société au Jabal Amil de 1749 à 1920 dans la conscience des chroniques chiites et dans un essai d’interpreta tion, Paris, 1978 229 Momen, 1985, S. 120

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Die so entstandene Kluft zwischen Schiiten und anderen Glaubensgemeinschaften vertiefte sich im 19. Jahrhundert, als der Libanon einer grundlegenden politischen, sozialen und intellektuellen Veränderung unterzogen wurde und sich mit Beirut als sogenanntem „libanesischen Fenster zur Welt“ und Teilen des Berglandes führende Zentren wirtschaftlicher und kultureller Aktivität ausbildeten. In der 1861 gegrün230 deten mutaṣarrifīya Mont Liban machten die Schiiten lediglich 6% der Bevölkerung aus und selbst in Beirut war zu diesem Zeitpunkt die Schia kaum präsent. Auch nach Öffnung des Libanon blieben die Schiiten in ihren entlegenen Gebieten eingeschlossen – und unattraktiv bezüglich fremdländischer Begehrlichkeiten, die ihnen möglicherweise zu 231 wirtschaftlichem oder politischen Vorteil hätten gereichen können. Externe Unterstützung genossen nach dem drusisch-maronitischen Bürgerkrieg 1858–1860 dagegen zum einen die katholischen Maroniten, die traditionell enge Verbindungen zu Frankreich unterhielten, das 232 nun als deren Schutzmacht auftrat und Truppen entsandte, und zum anderen die griechisch-orthodoxen Gemeinden, die Mitte des 19. Jahrhunderts das Interesse Russlands weckten; die Drusen des Schuf-Gebirges (Ǧabal aš-Šūf) waren zum Objekt britischer Interessen geworden und die Sunniten identifizierten sich mit dem Osmanischen Reich, das 233 sie protegierte. Aus dem osmanischen Sandschak Cebel-i Lübnan wurde schließlich nach Inkrafttreten des Artikels 22 des Versailler Vertrags über den Mont Liban und dem Vertrag von San Remo 1920 der moderne, unter dem Mandat Frankreichs stehende Staat Libanon, den General Gouraud, französischer Hochkommissar der Levante, im September 1920 ausrief. Nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität stellt dabei die schiitische Gemeinschaft seit 1926, speziell seit dem Nationalpakt von 1941 und dem Abkommen von Taif 1989 traditionell 234 den Parlamentspräsidenten. 230 231 232 233 234

Provinz, Dienstbereich eines „mutaṣarrif“ (militärischer Verwalter einer Liwāʾ) Momen, 1985, S. 264 ff. Josef Matuz, Das Osmanische Reich, 1994, S. 233 Olmert, 1987, S. 190 Die höchsten Staatsämter des Libanon sind den großen Konfessionen vorbe-

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Der Nationalpakt machte religiöse Oberhäupter zu politischen Führern, Minoritäten zu Majoritäten und förderte eine religiös-politische Mobilisierung, die so im Libanon zuvor nicht bekannt und auch im Iran nicht üblich war. Die politische Fragmentierung durch die Religionsgemeinschaften mit ihren unterschiedlichen Interessen und Vernetzungen ins Ausland war und blieb bis heute Quell mannigfaltiger Konfrontation und Disruption. So ließ der kosmopolitische und konfessionalistische Charakter des traditionell multireligiösen Zedernstaates mit seinem politischen wie ethnischen Bevölkerungsmix im 20. Jahrhundert eine Art internationales Experimentierfeld am östlichen Mittelmeer entstehen und ermöglichte politische Agitation in jeglicher Form. Nicht nur traf das revolutionäre Gedankengut palästinensischer Exilanten auf dieses gleichsam fragile wie explosive Konglomerat – die im Land organisierte Logistik zur Verbreitung und Vervielfältigung aufgezeichneter Ḫomeinī-Ansprachen an das iranische Volk und die Ausbildung iranischer Guerilla in libanesischen PLO-Lagern machte den Libanon zum Resonanzboden insbesondere auch für iranische Po235 litpropaganda. Der vom libanesischstämmigen Āyatollāh Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadr (1935–1980) im Irak verfasste Entwurf für die Konstituierung einer Islamischen Republik Iran, die unter anderem Ḫomeinīs Philosophie der velayat-e faqīh („Regierung des Rechtsgelehr236 ten“ ) enthielt, wurde im Februar 1979 in Beirut veröffentlicht.

5.1.2 Kartographierung einer didaktischen Infrastruktur: ʿAinātā, Ǧizzīn, Ǧubāʿ, Karak Nūḥ, Mais al-Ǧabal, Nabaṭīye Wie bereits angeklungen wurden schon während des 14. Jahrhunderts einige Regionen des Ǧabal ʿĀmil und Küstenstädte wie Ṣaidā, Ṣūr und halten: Staatspräsident ist maronitischer Christ, Regierungschef ist sunnitischer Muslim und der Oberbefehlshaber der Armee muss Christ sein. Auch das Parlament ist nach den Prinzipien der konfessionellen Parität zusammengesetzt: Schiiten erhalten wie Sunniten jeweils 27 Mandate des 128 Sitze umfassenden Parlaments. Auch für andere religiöse Gruppen sind Mandats-Kontingente festgelegt. 235 Rieck, 1989, S. 333 236 Halm, 1988, S. 162

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Ṣarafand zu populären Stätten der Gelehrsamkeit, in denen sich zahl237 reiche Traditionarier und Qurʾānrezitierer sammelten. Mit Ausnahme von Nabaṭīye, Ǧubāʿ und Mais al-Ǧabal, die seit jeher kaum mehr als kleine Städte an Nebenstrecken der Handelsstraßen waren, lagen die Gelehrtenschmieden des Ǧabal ʿĀmil nahe der stark frequentierten Handelsposten florierender Städte wie Ṣaidā und Ṣūr und an den Knotenpunkten der Handelsrouten nach Damaskus, wie etwa Mašġara, 238 Ǧizzīn und Karak Nūḥ. Dem akademischen Führungsanspruch des Ǧabal ʿĀmil, mit dem ein eklatantes Anwachsen seines akademischen Potentials einherging, war, wie noch zu sehen sein wird, ein Gelehrtenaustausch mit dem geis239 tigen Zenrum al-Ḥilla im Irak vorausgegangen. Sam Isaac Gellens gab dem internationalen Charakter damaliger schiitischer Lehranstalten einen Namen: Das von ihm als „riḥla/ṭalab al-ʿilm-network“ bezeichnete Phänomen beschreibe die ausgedehnten „Pilgerreisen“ innerhalb der internationalen Gemeinschaft der Muslime und den rezipro ken Einfluss des durch die „kulturelle Sprache“ verbundenen Dār al-Islām: ”The cities of Ḥilla, Aleppo and Ǧabal ʿĀmil, as well as Rayy and Mazandaran, functioned in the thirteenth and fourteenth centuries as historical referents which bestowed a kinship on all Shīʿite 240 scholars regardless of birthplace and domicile.”

Wo Gelehrte aus dem Ǧabal ʿĀmil diese „schiitische Verwandtschaft“ vorfanden und von der politischen Landschaft, die sich ihnen noch vor

237 Muḥammad Kurd ʿAlī, Kitāb Ḫiṭaṭ aš-Šām, Damaskus, 1925, Vol. 4, S. 31 Muḥammad Kurd ʿAlī (1878–1919), syr. Historiker und Philosoph, führender Vertreter der Reformbewegung an-nahḍā. Nach der Jungtürkischen Revolution 1908 kehrte er aus seinem Kairiner Exil nach Syrien zurück und gründete 1919 in Damaskus die Syrisch-Arabische Akademie der Wissenschaften. 238 Shanahan, 2005, S. 137 239 Momen, Shi‘i Islam, London, 1997, S. 122-23 240 Sam I. Gellens, The Search for Knowledge in Medieval Muslim Societies: A comparative Approach, in: Muslim Travellers, ed. Dale F. Eickelman, London, 1990, S. 56

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dem Regierungsantritt Šāh Ismāʿīls präsentierte, ist im nachfolgenden Kapitel die Rede.

5.2 Orden, Stämme, Dynastien Ein bunter Teppich politischer Macht rollt sich über der Geschichte des Iran vom Ende der Būjidenzeit bis zur Etablierung einer zwölferschiitischen Staatsreligion im Iran des 16. Jahrhunderts mit Šāh Ismāʿīl aus. Schiitische Lokaldynastien etablierten sich bereits ab 737/1337 mit den iranischen Sarbedāren, die ihren Sitz in Sabzavār/Ḫorāsān hatten und die aus einer sozialrevolutionären Bewegung hervorgegangen waren. Ihre Herrschaft konnten sie mit Hilfe des Šai ḫīya-Ǧūrīya-Ordens errichten. In der Allianz mit der ebenfalls eines starken Partners bedürfenden Šaiḫīya des Ḥasan-i Ǧūrī, einem Schüler des schiitischen Derwischs Šaiḫ Ḫalīfa aus Māzandarān, suchten sie einen einflussreichen politischen Verbündeten. Zweifelhaft ist allerdings Ḥasans tatsächliche Haltung gegenüber den Sarbedāren. Jean Aubin mutmaßt gar, dass er 241 der Bewegung distanziert gegenübergestanden habe. Schließlich ließ der mit der Schia sympathisierende letzte Ḫorāsā242 ner Sarbedār ʿAlī b. Moʿayyad von Sabzavār/Baihaq, genannt Ḫwāǧa ʿAlī (ca. 763–788/1362–1386), Münzen mit schiitischen Formeln schlagen und positionierte sich damit eindeutig imamitisch. Sehr wahrscheinlich muss ʿAlīs überlieferter Befehl, zwei Mal täglich vorsorglich ein Pferd für die unbestimmte Ankunft des erwarteten ṣāḥib-e zamān („Herr der Zeit“) zu satteln, als schiitischer Topos zu bewerten sein. Gegen Ende seiner Amtszeit soll er dem in dieser Arbeit mehrfach erwähnten Šahīd al-Awwal Asyl angeboten haben und ihn um Federführung bei der Errichtung einer zwölferschiitischen Staatsreligion im sarbedārischen Herrschaftsbereich gebeten haben. Jener befand sich aber dazumal bereits in Damaskus in Haft, wo sein ʿAlī b. Moʿayyad als Grundlagenwerk des imamitischen fiqh gewidmetes, wichtigstes Werk 241 EI1, Vol. IV, S. 248, H. R. Roemer, The Jalayirids, Muzaffarids and Sarbadārs, in: CHI, Vol. VI, 1986, S. 38-39, J. Aubin, in: StIr, Vol. 2, 1976. S. 218-24 242 Halm, 1988, S. 98, M. M. Mazzaoui, The Origins of the Ṣafawids: Šīʿism, Ṣūfism, and the Ġulāt, Wiesbaden, 1972, S. 66-67.

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„Al-Lumaʿa ad-Dimašqīya“ entstand. Als erster Märtyrer aus dem Ǧabal ʿĀmil wurde er 786/1384 zur Regierungszeit des Mamlukensultans Barqūq (-801/1399) auf Befehl des mālikitischen qāḍī Burhān ad244 Dīn unter dem Damaszener Statthalter Baidar hingerichtet. Die Machtbereiche der beiden rivalisierenden mongolischen Stämme der Čupaniden (721–744/1321–1343) und der Ǧalayiriden (736–815/ 1336–1412) lagen jeweils in Arrān/Azerbaidschan und Baghdad/Tabrīz. Arabo-iranische Marʿašī Sayyids waren in Āmul stark und beherrschten Māzandarān an der Kaspi-See (760–969/1359–1561). Der turkmenischen Stamm der Qarā-Qoyūnlū herrschte ab 782/1380 in Ostanatolien, Azerbaidschan und Irak, bis er 873/1469 von den Āq-Qoyūnlū bezwun245 gen wurde. So setzten auch Bertold Spuler und Rudolph Strothmann den Beginn der Schiitisierung des Iran mit der Mongolenzeit ab Mitte des 13. 246 Jahrhunderts an, wobei er Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī, der in einem klugen Schachzug den Mongolenführer Hülägü (-1265) zum Werkzeug gegen die ʿAbbāsiden und damit indirekt zum Patron einer gestärkten Schia machte, eine zentrale Rolle zumisst. Von den Īl-Ḫānen wird Ġāzān (1295–1304) schiitische Nähe attestiert, dessen Nachfolger Ölǧäitü (1304–1316) schließlich Münzen mit den Konterfeis der zwölf Imame 247 schlagen ließ. Wie mehrfach in dieser Arbeit zu sehen, war die Entwicklung der Ṣūfīya im Iran unauflöslich mit dem Kult um ʿAlī verknüpft. Viele Mystiker und deren Orden sympathisierten mit der schiitischen Minderheit und den sozial Schwachen und hatten bereits während der ʿAbbāsidenzeit iranisches Selbstbewusstsein entstehen lassen. Daher liegt es nahe, dass die Iranisierung der schiitischen Glaubensrichtung an der Ausbildung eines iranischen Nationalbewusstseins beträchtlichen Anteil hat243 Said Amir Arjomand, The Shadow of God and The Hidden Imam, Chicago, 1984, S. 70 ff. 244 Momen, 1985, S. 320 245 Momen, 1985, S. 93 ff., S. 306 ff. 246 Spuler, Die Mongolen in Iran, Politik, Verwaltung und Kultur der Ilchanzeit 1220–1350, Berlin, 1986, S. 47 ff., Strothmann, 1926, S. 41 ff., S. 201 ff. 247 Spuler, 1986, S. 157-159

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te. Abgesehen von der Politpropaganda der Assassinen lag der Keim für die religiöse Sonderentwicklung des Iran nicht zuletzt in dem von der Ṣūfīya des 11. Jahrhunderts hervorgebrachten persischsprachigen Schrifttum, das sich großer Popularität erfreute. Mit den Mongolen, die im 13. Jahrhundert die ʿAbbāsidendynastie ablösten, hatte sich das Sufitum schließlich zu einer mächtigen volksreligiösen Strömung entwickelt, wobei die Orientierung der verschiedenen Orden (ṭuruq) nicht immer genau zu definieren war. Weder konnte man sie eindeutig der 249 sunnitischen noch der schiitischen Lehre zuordnen. Die religiöse Toleranz der schwachen Īl-Ḫāne hatte im 13./14. Jahrhundert dem Sufitum großen Zulauf beschert. Orden wie die Kubrawīya unter Nūrbaḫš, die analog der zwölferschiitischen Lehre den 12. 250 Imam als ṣāḥib e-zamān anerkannte, ließen zahlreiche Sufikonvente (sog. ḫāniqāh/ḫānqāh, pers.: ḫānagāh) entstehen. Jenseits der hagiographischen Genealogie der Ṣafaviden, die von Ibn al-Bazzāz al-Ardabīlī, dem Sohn und Nachfolger des Ordensgründers Šaiḫ Ṣafī ad-Dīn Isḥāq um das Jahr 58/1357 verfasst wurde und vornehmlich deren Abstam251 mung vom 7. Imam belegen sollte, scheint historisch gesichert, dass der Ahnherr der Ṣafaviden gewählter Anführer des Zāhidīya-Ordens (später Ṣafavīya-Orden) in Ardabīl war. Dieser Orden erlangte unter dessen Urenkel Šaiḫ Ǧoneid überregionale Bedeutung. Ǧoneid fand nach seiner Vertreibung aus Ardabīl 861/1456 Zuflucht am Hof des Turkmenenfürsten Uzun Ḥasan von den Āq Qoyūnlū, von wo aus er einen „Heiligen Krieg“ gegen die christlichen Georgier und die Tscherkessen des Kaukasus führte. Nachdem Ǧoneid 864/1460 in der Schlacht gefallen war, übernahm sein Sohn Šaiḫ Ḥaidar die Leitung des Ordens in Ardabīl und befahl seinen Anhängern auf Grund eines Traumes das Tragen von aus zwölf dreiecki248 Erika Glassen, Die frühen Safawiden, Freiburg, 1968, S. 7 249 Erika Glassen, Religiöse Bewegungen in der islamischen Geschichte des Iran (ca. 1000–1501), in: Religion und Politik im Iran, Mardom nameh – Jahrbuch zur Geschichte und Gesellschaft des Mittleren Orients, Frankfurt/M., 1981, S. 64 250 Arjomand, 1984, S. 30 251 Roger Savory, Iran under the Safavids, Cambridge, 1980, S. 3 ff.

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gen Zwickeln zusammengesetzten roten Kappen, was ihnen den Namen Qızılbāš eintrug. Durch fromme Stiftungen und Pilgerfahrten, auf denen sie den Scheichs in Ardabīl demütige Verehrung zollten, verliehen viele Turkmenenfürsten und Mongolenherrscher, so auch Tīmūr-e Leng, den Sufi-Scheichs eine immense Machtfülle, die ihnen sogar militärische Abenteuer erlaubte – darunter die bereits erwähnten Aktionen im Kaukasus. Die Huldigung dieser Scheichs kam der späteren Verehrung der Imame gleich.

5.2.1

Von Zarathustra zu ʿAlī – vom Mōbaḏ zum Mollā: „troppo esatto per essere casuale“

“Some of these vestiges are relevant to the evolution of Shi’ism. From the Judeo-Christian scriptures and traditions came the notion of a prophet who arises to rebuke an unjust ruler, and the belief in a Messiah who comes to establish God's order on earth. Both are rather political notions, both are obviously religious. […] From pre-Islamic Persia came distant but still dangerous memories of religiously formulated defiance of authority, of revolutionary movements which challenged at once the political, moral, and social basis of the existing order, with a religious doctrine as ideology and a religious sect as instrument. We may recall the words attributed to a medieval Islamic minister who, in contemplating the activities of the Assassins, compared them with Madzak, the great revolutionary of Zoroastrian times, and declared: ‘Mazdak 252 has become a Shi'i.’”

Bei der Etablierung einer zwölferschiitischen Staatsreligion im Iran des 16. Jahrhunderts handelte es sich um die wohlüberlegte und zweckorientierte Entscheidung eines Souveräns. In dieser Hinsicht erinnert das Vorgehen Šāh Ismāʿīls entfernt an das Phänomen „Mazdak“, das dem Sāsānidenherrscher Kavād I., Sohn des Pērōz – er regierte 488–96 und 498–531 – als Instrument des Machterhalts diente und das sowohl Otto 252 Bernard Lewis, Shi'ism, Resistance, and Revolution, ed. Martin Kramer, Tel Aviv, 1987, S. 25

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Günther von Wesendonk als auch Otakar Klima als „Revolution von 253 oben“ bewerteten. Heinz Gaube stellte darüber hinaus die Überlegung an, ob es sich bei „Mazdak“ möglicherweise um eine erfundene, 254 politisch aber „notwendige“ Figur handelte. Otakar Klimas Bemerkung, die Ableitung der semitischen Wurzel zdq und die iranische Form Mazdak/Mazdīq sei eher das Attribut einer Person als ihr Eigenname, könnte diese Vermutung stützen. Auf Grund der philologischen Untersuchung seines Namens Bāmdādān, Sohn des Bāmdād (der Morgenröte) mit seiner hebräischen Entsprechung bar šǝḥōrtā/ben-šāḥar (der zu Diensten zwingt, konfisziert, enteignet) zieht Otakar Klima in Erwägung, dass es sich bei „Mazdak“ möglicherweise um einen zum Magismus konvertierten Juden gehandelt haben könne. Missernten und die erlittene militärische Niederlage der Perser durch die Hephtaliten brachten Hunger und Elend über das Land und schufen innerhalb des Bevölkerungsmixes in den Städten am Tigris ein großes soziales Gefälle. Insbesondere bei Juden, die Ziel der Verfolgung seitens Andersgläubiger wurden, seien trotz ihres wirtschaftlichen Wohlstandes „apokalyptische Stimmungen“ aufgekommen. Dies legt nicht nur die Bildung einer soziopolitischen Bewegung nahe, sondern begünstigt auch das Auftreten eines Propheten als Hoffnungsträger, über den viel spekuliert worden ist. Ob er zoroastrischer „Großmōbaḏ“ oder Manichäer war oder aus Ktesiphon oder Tabrīz stammte, ist zweifelhaft. Spekulation bleibt überdies, ob es nicht mehrere „Mazdaks“ gegeben habe: Zardušt (Zarathustra), der eigentliche Religionsstifter und Sohn des Churrak aus Pasā, oder dessen in Maḏariya (einer Gegend, aus der auch Mānī stammen soll) geborenen Apostel Bām255 dād. De Gobineau konstatiert in seinen Reiseberichten aus Persien, dass 253 Otto Günther von Wesendonk, Die Mazdakiten: Eine kommunistisch-religiöse Bewegung im Sassanidenreich, in: Der Neue Orient, Vol. VI, Berlin, 1919, S. 35-41, Otakar Klima, Mazdak, Geschichte einer sozialen Bewegung im sassanidischen Persien, Prag, 1957, S. 131 ff., 298 ff. 254 Heinz Gaube, Mazdak: Historical reality or invention?, in: StIr, Vol. 11, 1982, S. 111–122 255 Klima, 1957, S. 30, 155-156, 159, 166-169

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der schiitische Klerus mit dem modifizierten „Etikett“ des vorislamischen zoroastrischen Konstruktes versehen worden sei, dessen Struktur seit sāsānidischer Zeit unverändert beibehalten wurde: In keinem anderen islamischen Land gebe es Priester, die sich inzwischen Mollā statt Mōbaḏ (Mobed) nennen und die hinsichtlich der praktischen Umsetzung des Zivilrechts analog der sāsānidischen Mōbaḏs zu einer 256 machtvollen gesellschaftlichen Instanz geworden seien. Dies überrascht keineswegs. Dass der schiitische Islam im Iran auf fruchtbares Terrain fiel, kann kaum Zufall sein: Analogien bezüglich religiöser Inhalte und überlieferter Kulte schufen eine effektive Disposition zoroastrisch vorgeprägter Iraner für die Annahme der Schia. So 257 bot die Lehre Zarathustras (der Name des Religionsstifters variiert je nach Quelle und Sprache sehr stark und changiert zwischen Zartosht, Zardušt, Zaraδuštra und Zoroaster) eine günstige Grundvoraussetzung und in vielen Aspekten die Basis für eine Adaption des schiitischen Is258 lam, was Alessandro Bausani in der direkten oder indirekten Bezugnahme einschlägiger Koranstellen auf das Dēnkart belegt: „L’avvicinamento è troppo esatto per essere casuale“: Die Annäherung sei „zu exakt, um zufällig zu sein“ und „nur ein Krümel zwar, aber ausreichend 259 bezeichnend“. Jenseits der politisch-militärischen Realität scheint klar, dass hinsichtlich der Akzeptanz des zunächst sunnitischen, dann schiitischen Islam die Zeit reif war für eine Veränderung: Die teilweise problematischen und wirklichkeitsfremden Vorschriften einer archaischen Religion mögen zusammen mit Machthunger und Habsucht der Klerikalen, was – wie bereits ausgeführt – schon im 5./6. Jahrhundert unter Kavād I. für innenpolitische Querelen gesorgt hatte, die Attraktivität des neuen Religionsangebotes und die Bereitschaft zur Konversion erhöht ha 256 J. A. de Gobineau, Trois Ans en Asie-Voyage en Perse 1855–1858, ed. A.M. Métailié, Paris, 1980, S. 222 257 Michael Stausberg, Zarathustra und seine Religion, München, 2005, S. 23 258 Michael Stausberg, Die Religion Zarathustras, Bd. 1, Stuttgart, 2002, S. 287 259 Alessandro Bausani, Due citazioni del Corano nel Denkart, RSO 32, 1957, S. 455-462

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ben. Zusätzlichen Anreiz bot die dabei in Aussicht gestellte rechtliche Gleichstellung der „Neu-Muslime“ und deren Befreiung von Sondersteuern. Dazu Mary Boyce: “Undoubtedly by the end of the Sasanian epoch Iran was priestridden, like Europe before the reformation; and every man […] could be subjected to pressures to pay for religious services […] designed to help save his soul. The subsequent history of the faith shows that many of the laity accepted such dues and obligations […], but there must have been others who, encountering greedy or unscrupulous priests, longed, like numbers of medieval Christians, to get the clergy off their backs. After the many ecclesiastical and ritual developments of the period Zoroastrianism was ripe for reform […] but what in fact sprang up for the faith was not the reviving breeze of reformation, to give new life and strength, but 260 instead the withering tempest of militant Islam.”

Bezüglich der oben angerissenen Parallelen hinsichtlich des Kultus und des Rechts sei vorausgeschickt, dass auch Zarathustras Lehre einen Monotheismus proklamiert, in dem Ahura Mazda (Ohrmāzd, der „weise Mann“) und sein Antagonist Ahrimān, der gewissermaßen einen Gegenpol zum, bzw. innerhalb des Göttlichen bildet, dichotome Protagonisten sind, und der je ein Äquivalent im Judentum, Christentum und im Islam hat. Auch den in dieser Arbeit mehrfach erwähnten gnostischen Lehren lagen solche Inhalte zugrunde. Die dualistische 261 Metapher vom spätestens in Firdausīs Shāhnāmeh personifizierten Guten und Bösen war den Menschen im Iran wie in Mesopotamien und Syrien also durchaus vertraut. Dabei lassen sich in der schiitischen Ausrichtung des Islam zahlreiche weitere Reminiszenzen an zoroastrische Gebräuche finden. Das er260 Mary Boyce, Zoroastrians. Their Religious Beliefs and Practices, London, 1987, S. 144 261 Abū’l-Qāsim Manṣūr b. Ishāq Firdausī (ca. 940–1020) wurde im Dorf Šadab bei Ṭūs/Ḫorāsān geboren. Dtsch. Ausg.: Abu‘l Qasem Firdousi, Schahname – Das Buch der Könige, Berlin, 2018

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greifende Beklagen der den Märtyrertod gestorbenen Helden, um das iranische Hofsänger alljährlich miteinander wetteiferten, hat seine 262 Vorlage im sogenannten girīstān-e moġān, dem „Weinen der Magier“ 263 um Siyāvaḫš (Siyawush), den durch die intriganten Machenschaften des Gersiwes im Lande des Afrāsiyāb ermordete, untadelige Sohn des mythologischen Königs Kai-Kāʾūs, das den Kultus öffentlichen Wehklagens begründete. Nicht alleine das Märtyrertum der Helden – lange vor den Ṣafaviden grundlegender Bestandteil der Religiosität – schlug die Brücke zum islamischen Brauchtum, auch bezüglich der Bestattungszeremonien sowie der Hygienevorschriften, denen hier wie da besonderes Augenmerk galt, lassen sich Entsprechungen finden. Dies lässt sich aus den religiösen Richtersprüchen des Dādestān ī Dēnīg, das vermutlich aus dem späten 9. Jh. stammt und 92 Antworten auf eschatologische Fragen bereithält, sowie dem Vendidād, einem Gesetzeskodex der Purifikation innerhalb des Avesta, entnehmen. Insbesondere während der Menstruation ist Frauen vorgeschrieben, sich von der Gemeinschaft fernzuhalten und sich des Geschlechtsverkehrs so 264 wie des Tragens religiöser Attribute (Schnur/Gürtel) zu enthalten. Der Reinhaltung der Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde als fester Bestandteil der zoroastrischen Purifikationsrituale wird auch heute noch im Hinblick auf den Bestattungsmodus größte Aufmerksamkeit geschenkt. “The greatest pollution in death […] was from the bodies of righteous people, for a concentration of evil forces was necessary to overwhelm the good, and these continued to hover round the corpse. So from the moment of death the body was treated as if 262 Roy Mottahedeh, The Mantle of the Prophet, New York, 1985, S. 174, Georg Léon Leszczyński, Siyawush, München, 1920, S. 281 263 Volkmar Enderlein, Werner Sundermann, Schāhnāme, Das persische Königsbuch, Leipzig/Weimar, 1988, S. 123 264 Mahmoud Jaafari-Dehaghi, Dādestān ī Dēnīg, Paris, 1998, Kapitel 1-40, James Darmesteter, The Zend-Avesta Vol. 1, Vendidad, Oxford, 1880, Kapitel 5, S. lxxxiii, xcii, ff.; zur menstruellen Seklusion und den vorgesehenen Strafen bei Nichtbefolgen der Vorschriften, s. Fatemeh Sadeghi, The Sin of the Woman, Berlin, 2018, S. 53 ff. und S. 90-100

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highly infectious, and only professional undertakers and corpsebearers approached it, who were trained to take ritual precautions. If possible the funerary service was performed the same day, and the body was carried at once to a place of exposure. From medieval times this has been a funerary tower; but in ancient days, it was simply a bare mountain side or stretch of stony desert—it being essential that the polluting body, laid down naked for birds and beasts to devour, should not come into contact with the good earth, or with water or plants. […] In 1937 they [Tehranī reformers] established an ārāmgāh or cemetery (place of rest), and abandoned the hillside dakhma. Against scriptural precepts the ārāmgāh had running water, trees and greenness; but care was taken to isolate the corpses from the good earth by the 265 use of coffins placed in cement-lined graves.”

Nachdem die „Türme des Schweigens“ (pers.: daḫmah) heute nur noch in Gujarat (NW-Indien) und Mumbai praktikabel sind, wohin die zoroastrische Gemeinde im 9./10. Jahrhundert n. Chr. geflohen war, werden Erdbestattungen in durch Betonverkleidungen wasserundurchlässig ge266 machten Gräbern vorgenommen. Dieses Verfahren findet sich auch 267 heute noch auf schiitischen Friedhöfen im Südlibanon. Gedenkzeremonien werden sowohl im Zoroastrismus als auch im schiitischen Islam am 10. und 30. Tag nach dem Tag des Todes sowie danach jeweils 268 monatlich und am Jahrestag abgehalten. Auf nahezu deckungsgleiche Vorstellungen in beiden Religionen trifft man bezüglich der un mittelbaren Nachtod- und Jenseitsbetrachtung: „So geht man davon aus, dass sich die Seele in der Dämmerung der dritten/vierten Nacht nach dem Tode aus dem Diesseits ins 269 Jenseits begibt.“ 265 Boyce, 1987, S. 44-45, 221 266 Stausberg, 2002, S. 117, Hamid Reza Yousefi, Zarathustra neu entdeckt, Berlin, 2010, S. 40 267 Aus eigenem Augenschein in al-Ghazieh/Südlibanon. 268 Stausberg, 2002, S. 119 269 Stausberg, 2002, S. 70, Jaafari-Dehaghi, 1998, S. 193

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Die Činvad-Brücke, die sich nach zoroastrischer Lehre über den „Fluss der Tränen“ spannt und die der Verstorbene zu überschreiten hat, führt entsprechend dessen Lebensweise entweder breit und bequem in den Himmel (garōdmān), oder zum Abstürzen schmal in Vorhölle (hammistagān) oder Hölle (dušoḫ). Demjenigen, der im Leben „ungerechtfertigt gejammert und geweint“ und damit die Seelen der Verstorbenen im Jenseits belästigt hat, ist es, wie auch den Betrauerten selbst, unmöglich, den mit Tränen angefüllten Fluss zu überqueren und er 270 stürzt in den Abgrund. Im Islam findet dieser Steg sein Pendant in der Ṣirāṭ-Brücke, die alle Verstorbenen überschreiten müssen. Sie präsentiert sich Sündern und Ungläubigen scharf wie ein Schwert und 271 dünn wie ein Haar, so dass sie auf ihr ausgleiten und in die Tiefe des Höllenfeuers stürzen. Die Gläubigen dagegen überschreiten sie mühe272 los und gelangen sodann bequem ins Paradies. Ein Blick in Himmel und Hölle und der Bericht über eine solche Reise gehört, ebenso wie ein gemarterter Religionsstifter, zu den unverzichtbaren Bestandteilen nicht weniger Religionen und wurde nicht 273 nur dem zoroastrischen Hohepriester Kartir im Sāsānidenreich des 3. Jahrhunderts und dem zoroastrischen Ardā Virāz (dem „Gerechten“) 274 gewährt, der die Himmelsreise nach Narkotisierung mit einem alko275 holischen Gebräu aus „Vištāsp-Bilsenkraut“ in Begleitung des Feuer276 gottes Adur (pahl.: ātur) und Sraoša, dem Wächter der Činvad-Brücke und Vermittler zwischen Ahura Mazda und den Menschen antrat. Auch der Islam überliefert eine Jenseitsreise – nämlich die des Prophe277 ten Muḥammad, der im Anschluss an seine Nachtreise (isrāʾ) von 270 „Ardā Vīrāz Nāmag“ in der Übersetzung von Ph. Gignoux: Le Livre d’Ardā Vīrāz, Paris, 1984, S. 170 ff. 271 Edeltraud Werner, Die Jenseitsreise Mohammeds – Liber Scale Machometi, Kitāb al-Miʿrāǧ, 2007, S. 187 272 Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, München, 2000, S. 670 273 P.O. Skjærvø, Kirdir‘s Vision: Translation and Analysis, AMI, Vol. 16, 1983, S. 289-304 274 Gignoux, 1984, S. 145 ff. 275 Gignoux, 1984, S. 152 276 D. N. MacKenzie, Pahlavi-English Dictionary, Oxford, 1971, S. 5 277 Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart, 2001, S, 196, Sura 17:1

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Mekka nach Jerusalem – begleitet vom Erzengel Gabriel – eine Auf278 fahrt (miʿrāǧ) in den Himmel erlebte und auch die Hölle besuchte. Nicht nur den Topos von der Jenseitsschau teilen Christen- und Judentum mit Zoroastrismus und Islam – auch das Initiationsritual im Kindesalter zeigt Übereinstimmungen. Die Beschneidung der in die islamische Gemeinschaft aufzunehmenden Knaben entspricht in etwa 279 der rituellen Einkleidung mit Hemd (sudra oder sedre) und Schnur/ Gürtel (kusti) für beide Geschlechter im zoroastrischen Kultus. Beide Zeremonien münden, wie das jüdische Bar Mizwa oder die christliche Erstkommunion/Konfirmation, jeweils in ein an Geschenken reiches Fest. Auch mit der Übernahme islamischer Gebetszeiten kam für Zarathustrier nichts wirklich Neues in ihren religiösen Habitus: „Das Kusti-Ritual ist Bestandteil bzw. Ausgangspunkt der täglichen Gebete, die den priesterlichen Normen zufolge in jeder der fünf rituellen Tageszeiten zu erfolgen haben. Diese nach dem Sonnenstand berechneten Tageszeiten sind: Sonnenaufgang bis Mittag (Hawan), Mittag bis Nachmittag (Rapitwin), Nachmittag bis Sonnenuntergang (Uziran), Sonnenuntergang bis Mitternacht 280 (Aiwisruthim) und Mitternacht bis Sonnenaufgang (Ushahin).

Vom Gebet bis hin zum Geschlechtsverkehr war der Alltag der Men281 schen innerhalb eines ritualisierten Tagesablaufes geregelt, wobei Islam wie Zoroastrismus sich an allgemein akzeptierten Geschlechterrollen orientierten, denen zufolge der Frau in Familie, Gesellschaft und Religion eine untergeordnete Rolle zufiel. Die vor allem bei sunnitischen Muslimen stark umstrittene „Zeit“- oder „Genuss-Ehe“ (mutʿa) – als Relikt aus der Zeit des Propheten für Schiiten noch heute geläufiger Usus – war auch den Zoroastriern nicht fremd. Neben der von privilegierten Frauen bestimmten patiḫšay-Ehe, die dem mitteleuropäischen Ehebund vermutlich am nächsten kommt, aber auch inzestuöse Bezie278 279 280 281

Werner, 2007, S. 83 ff. Stausberg, 2002, S. 109 ff. Stausberg, 2005, S. 78 ebd. S. 82-84

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hungen zuließ, und der sogenannten ḫwasrayūn- oder xudsarayih-Ehe, einer von der Frau ohne Absprache mit der Familie eingegangene Form der Heirat, existierte eine grundsätzlich nicht erbberechtigte çakar-Ehe, die von Frauen aus niederen Gesellschaftsklassen eingegangen wurde. Praktiziert wurde auch die ḫwasrayūn- oder stur-Ehe, eine auf Zeit abgeschlossene Hilfsehe zum Zweck der männlichen Nachkommenssi282 cherung, sowie eine xwedodah genannte Ehe unter Blutsverwandten. Auch kannte der zoroastrische Iran die Einrichtung religiöser Stiftungen (ruvānagān), die mit dem islamischen waqf vergleichbar sind. Diese Unternehmungen wurden durch eine eigens dafür geschaffene 283 Behörde registriert, über die hamargar, ostandar und ein sogenannter ruvānagān dafīr („Staatssekretär für wohltätige Stiftungen“) verfügten. Der ruvānagān dafīr wachte über das Stiftungsvermögen. Stiftungseinkünfte wurden zur Finanzierung der Rituale und Zeremonien für das Seelenheil Verstorbener verwendet und generierten überdies einen Vermögensstock für den Unterhalt von Familienangehörigen, auf das der Staat grundsätzlich keinen Zugriff hatte. „Besondere Umstände“ berechtigten ihn aber dennoch zur Auflösung und „Verstaatlichung“ 284 einer Stiftung.

5.2.2

Āq-Qoyūnlū und Qızılbāš – Anfänge des schiitischen Klerus im Iran

Obwohl sich erst unter Šāh Ismāʿīl im 16. Jahrhundert ein schiitischer Klerus zu etablieren begann, keimten die Grundlagen dieser klerikalen Macht, wie im Vorhergehenden ausgeführt, bereits im 13. und 14. Jahrhundert. Nachdem Qom 621/1224 der ersten Mongoleninvasion zum Opfer gefallen war, fokussierte die schiitische Gelehrsamkeit die Residenz der zwölferschiitischen Mazyadiden-Emire al-Ḥilla im Irak, auf 282 Maria Macuch, Das sasanidische Rechtsbuch ‚Mātakdān-i hazār dātistān’, Teil II, Berlin, 1976, S. 20: MHDA 2.7-11; Jean P. de Menasce, Feux et fondations pieuses dans le droit sassanide, Mātigān-i hazār dātistān, Paris, 1964, S. 23, 3437, Sadeghi, 2018, S. 71 ff. 283 Stausberg, 2005, S. 88; W.B. Henning, The Great Inscription of Šāpūr I, BSOAS, Vol. 9, Nr. 4, 1939, S. 847 284 Macuch, 1976, S. 222-3, MHDA 38.15, MHDA 39.10, MHDA 40.1

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deren Schule die theoretischen Grundlagen schiitischer Rechtsfindung und damit die heutige Macht, Autorität und der Einfluss der Mollās 285 und Āyatollāhs im Iran beruht: Der einflussreichste Denker unter den damaligen Theoretikern, Ǧamāl ad-Dīn Abū Manṣūr Ḥasan b. Yūsuf (648–726/1250–1325), auch als Ibn al-Muṭahhar und unter seinem Ehrennamen al-ʿAllāma al-Ḥillī (der „Hochgelehrte“) bekannt, begründete das Prinzip des iǧtihād, der selbständigen Rechtsfindung auf Grund rationaler Erwägungen (ʿaql). Hieraus entwickelte sich die Institution des muǧtahid („der sich Bemühende“), nämlich desjenigen unter den Klerikalen, der vermittels seiner Kenntnis und Ausbildung dazu berechtigt und befähigt ist, unter Anwendung des Analogieschlusses (qiyās) aus Qurʾān und Sunna gemäß der Vorgabe: „ʿaql wa naql“ („Ratio und Tradition“) eine eigene Meinung in Fragen des islamischen Rechts zu vertreten und dadurch einen verbindlichen Leitfaden für schiitische Laien zu geben. Von ihm stammen die wichtigen Werke Al-bāb al-Ḥādī ʿAšar, Istibṣār und Tahḏību l‘Aḥkām. Eine Machtentfaltung der Führer der frühen ṣafavidischen ʿulamāʾ war aber lediglich in den engen Grenzen und mit Rückendeckung der Regierung möglich, von deren Wohlwollen sie bei der Vergabe offizieller Posten abhängig waren. Bei den überwiegend turksprachigen Stämmen, durch die die Ṣafaviden an die Macht gelangt waren und die noch immer die religiösen und militärischen Kräfte ban286 den, hatten sie keine Basis. Tatsächlich belegen Zeitzeugen und insbesondere die Dichtung des 287 unter dem Pseudonym ḫaṭāʿī schreibenden Šāh Ismāʿīl selbst, dass sich die Religion dieser Hintermänner auffallend vom Schiitentum der offiziellen Zwölfer-ʿulamāʾ unterschied. Gedankengut populärer Sufizirkel in Anatolien, Syrien, Kurdistan und Westiran, wie beispielsweise der Ḥurūfīya, und das der durch sie inspirierten Bektašīya, der syrischen Nusairier oder Alawiten (Vorgänger der Ahl-e Ḥaqq oder ʿAlī285 Halm, 1988, S. 84 ff. 286 Nikki R. Keddie, Scholars, Saints, and Sufis, Los Angeles, 1972, S. 217 287 Vladimir Minorsky, The Poetry of Shāh Ismāʿīl I, in: BSOAS, Vol. X, 1940-42, S. 1042a ff., speziell S. 1026a

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ilāhī und der Qızılbāš) floss in das der schiitischen Ṣafavīya des 15. Jahrhunderts mit ein und kam durch die zwölferschiitische Mahdī-Vorstellung den volkstümlichen Glaubensinhalten der Orden in Anatolien, Azerbaidschan und Gīlān sehr nahe. Die Verehrung der Imame knüpfte auf diese Weise unmittelbar an den Heiligenkult um die Ordensmeister und die Heilserwartung der Sufis an und wurde bereits im Diesseits 288 insbesondere auf wundertätige Scheichs projiziert. Walter Hinz beschreibt sodann drei Abschnitte der Entwicklungsgeschichte des von ihm als „merkwürdig“ bezeichneten Staatswesens des iranischen Nationalreiches: die Geschichte des Sufiordens (1301– 1447), die Geschichte des „Priesterstaates“ in Ardabīl (1447–1494) und 289 schließlich die Geschichte des Nationalstaates der Ṣafaviden.

5.2.3

Šāh Ismāʿīl: „Fabelhafter König, Ungeheuer von Bosheit und List und stärker als die Dämonen der Finsternis“

„Ein fabelhafter König der Araber oder Assyrier, zur Zeit des Dschemschid und seines Sohnes Feridun lebend, dessen Reich er, ein Ungeheuer von Bosheit und List und stärker als die Dämonen der Finsterniss, besiegte. Der Erzdew Ahriman küsste diesen seinen würdigen Freund einst auf beide Schultern: sogleich erwuchsen aus denselben Schlangenköpfe, welche mit Menschenhirn gefüttert werden mussten. Der gute König von Persien, Dschemschid, unterlag ihm, aber Feridun, sein Sohn, besiegte ihn 1000 Jahre später und fesselte ihn, da er ihn nicht zu tödten vermochte, an das Gebirge Darnawand, an welchem angeschmiedet er bis 290 zum Weltende harren muss.“

Wie später noch zu sehen sein wird, schrieb sich Šāh Ismāʿīl, der 907/ 1501 in Tabrīz die bedeutsame Absichtserklärung abgab, die Iṯnāʿašarīya (Zwölfer-Schia) zur Staatsreligion der neu errichteten, aber noch 288 Glassen, 1981, S. 72 289 Walther Hinz, Irans Aufstieg zum Nationalstaat im fünfzehnten Jahrhundert, Berlin, 1936, S. 8 290 aus: Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart, 1874

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nicht konsolidierten Ṣafaviden-Dynastie zu machen, nicht nur die positiven Eigenschaften der Protagonisten aus der persischen Mythologie zu, sondern explizit auch die des gefürchteten dreiköpfigen Monsters Żohāk aus dem Shāhnāmeh – dem Prototypen von Tyrannei und Fremdherrschaft und Sohn eines Arabers, der schließlich den persischen Thron bestieg. Dies war wohl die wichtigste und folgenschwerste Entscheidung eines Herrschers, „dessen Blut“, so Walter Hinz „vorwiegend nichttürkisch“ war und in dessen Ahnentafel griechische, georgische und ara291 mäische Anteile überwiegten. Geboren wurde der „hübsche“, „nicht zu hoch gebaute“, beleibte und breitschultrige Schah, dessen hellhäutiges Gesicht ein rötlicher Schnurrbart zierte, 892/1487 vermutlich in Ardabīl/Azerbaidschan. Gestorben ist er 930/1524 im Alter von 36 Jahren – ebenfalls in Ardabīl. Über seine Mutter Ḥalime reichen verwandtschaftliche Wurzeln zu seinem Großvater Uzun Ḥasan, dem Turkmenenfürsten der Āq Qoyūnlū und seiner Großmutter Theodora Megale Komnena, einer griechischen Prinzessin aus Trapezunt und uneheliche 292 Tochter von Johannes IV. Komnenos. Sein Vater Šaiḫ Ḥaidar war, wie bereits geschildert, 893/1488 in einer Schlacht gegen den Šīrvānšāh Farruḫyasār und dessen Schwiegersohn Yaʿqūb, Sultan der sunnitischen Āq Qoyūnlū bei Ṭabarserān gefallen. Aus Sorge um seine Unversehrtheit wurde der junge Ismāʿīl von 899–905/1494–1499 zusammen mit anderen Familienmitgliedern bei Anhängern des Ordens am Kaspischen Meer versteckt gehalten. Von ihnen wurde er schließlich zur Erziehung und Unterweisung an den schiitischen Hof von Lāhīǧān/Gīlān verbracht. 905/1499 stand der Zwölfjährige bereits an der Spitze der Qızılbāš und errichtete im Nordwesten des Iran seine Machtbasis. In einer schnellen Abfolge von Eroberungen brachte er das gesamte Staatsgebiet des heutigen Iran und Teile des damaligen Irak unter seine Kontrolle. 906/1500 besiegte er den Schah von Šīrvān; ein Jahr später ging er erfolgreich aus der Schlacht bei Šarūr nahe Naḫčevān gegen die Āq-Qoyūnlū hervor und 291 Hinz, 1936, S. 74-75 292 Minorsky, 1940-42, S. 1053 a

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nahm deren Hauptstadt Tabrīz ein, wo er im Alter von 14 Jahren zum Šāhān-Šāh erkoren wurde. Der in vorwiegend sufischem Milieu aufgewachsene Schah mit einer gemischt-nationalen Ahnentafel und der chiliastischen Erwartung des vergöttlichten Imām-Mahdī favorisierte die Institution eines militanten Derwischordenstaates und stellte damit 293 die Weichen für den zukünftigen Geschichtsverlauf des Landes. „Aus der iranisch-türkischen Symbiose, die sich auch in der gemeinsamen Affinität zum volkstümlichen Sufitum zeigt, erwuchs schliesslich die Bewegung, die den historischen Prozess der Wiedergeburt des Iran vollenden sollte, der sich in der ausgehenden Abbasidenzeit angekündigt hatte und durch die Mongolen eingeleitet worden war: die Gründung eines iranischen Reiches mit 294 zwölferschiitischer Staatsreligion.“

Von der großen Verehrung, die den „heiligenartigen“ Ardabīler Ordensmeistern entgegengebracht wurde, zu denen regelrechte Wallfahrten unternommen wurden und denen Geschenke zuflossen, ist in dieser Arbeit mehrfach die Rede. Bereits der 25-jährige Šaiḫ Ṣafī ad-Dīn Abū’l Fatḥ Isḥāq Ardabīlī (650–735/1252–1334), der „Glaubensreine“ und spätere Ahnherr der Ṣafaviden, der seine Abstammung auf den siebten Imam und über diesen auf ʿAlī, Vetter und Schwiegersohn des Prophe295 ten zurückführte, hatte seinen 60-jährigen Lehrmeister Šaiḫ Zāhed Gīlanī 1276 in dessen Klause am Kaspischen Meer aufgesucht. Nach dem Tod des Scheichs soll er dessen Tochter Bībī Fāṭema geehelicht haben. Mit dem von Ṣafī ad-Dīn um 1300 gegründeten Ṣafī-Orden nahe Tabrīz hatten sich Teile des Sufitums ab Mitte des 15. Jahrhunderts in zunehmendem Maße militarisiert. Šāh Ismāʿīl wurde zwischenzeitlich als dessen geistiges Oberhaupt und Vorbote des Mahdī verehrt. Seine Legitimation als der von Gott gesandte religiöse Führer scheint gemäß der Tradition iranischer und turkmenischer Herrscherdynastien mit mystischen Traumgesichten unterfüttert worden zu sein, wie sie uns 293 Halm, 1988, S. 101 294 Glassen, 1981, S. 71 295 Hinz, 1936, S. 12, 13

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auch aus den Träumen des Mederkönigs Astyages im 6. Jahrhundert v. Chr. und von ʿOṯmān Ġāzī, dem Namensgeber der Osmanen im 14. 296 Jahrhundert überliefert sind. Durch die Einführung neuer Ämter und in der Symbiose mit synkretistisch durchsetztem Gedankengut der sufinahen Schia, der zwölferschiitischen Theologie der Schule von al-Ḥilla und der Rechtslehre des Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī gelang ihm die Verschmelzung von weltlicher und religiöser Macht. Eine Machtbasis des Schah bildeten die dem ursprünglich sunnitsch ausgerichteten „religiösen Adel“ entstammenden Richter und religiösen Administratoren zusammen mit den schiitischen Gelehrten. Ein weiterer Pfeiler seiner Autorität erwuchs Šāh Ismāʿīl aus der Legitimation, die über ʿAlīs jüngsten Sohn al-Ḥusain konstruiert wurde: Der Überlieferung zufolge heiratete al-Ḥusain die Tochter Yazdgirds III., weswegen die Schiiten zugleich der majestätische Nimbus sāsāni297 discher Könige umflorte. Damit Ideologie und politisches Programm praktisch umsetzbar werden konnten, bedurfte es der Agitation, Propaganda, Indoktrinierung sowie prägender Rituale und Vorschriften im Alltag der Menschen. Wirksame Disziplinarmaßnahmen taten ihr Übriges und Korrekturen hinsichtlich der religiösen Maxime, zu denen die Verfluchung (laʿnat) der drei rechtgeleiteten sunnitischen Kalifen sowie aller Feinde ʿAlīs gehörte – seien es nun schiitische Imame oder Sunniten – wurden vor allem später unter Šāh ʿAbbās (999–1045/1590–1635) spürbar. Die 298 Umsetzung oblag sogenannten tabarrāʾiyān. Ihr Name rührt von der Axt (tabar) her, die sie auf dem Rücken trugen und mit der sie jeden umstandslos exekutierten, der nicht spontan mit „bīš bād, wa kam mabād!“ auf einschlägige Fragen bezüglich der Loyalität zur Schia ant299 worten konnte. Soweit es die gewöhnliche Bevölkerung betraf, zeigte 296 Glassen, Schah Ismāʿīl, ein Mahdī der anatolischen Turkmenen?, in: ZDMG, Vol. 121, 1971, S. 66-69 297 Savory, 1980, S. 27, 32 298 Mehdi Farhānī Manfard, Mohāǧerat ʿolamāʾī-e šīʿī az Ǧabal ʿĀmil be Irān, Tehran, 1377 h.š, S. 157/173 299 Naṣrallāh Falsafī, Zindagānī-ye Šāh ʿAbbās awwal, Tehran, 1345 h.š., Vol. 3, S. 31: „Das [die Verdammung] muss mehr, nicht wenig sein.“

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oft bloße Drohung bereits die gewünschte Wirkung. Einige der Renitenten aus Kreisen der ʿulamāʾ wurden hingerichtet; der Mehrheit stand die Flucht in noch sunnitisch dominierte Gebiete von Ḫorāsān offen, wozu der timuridische Hof in Herāt sowie die Usbeken-Haupt300 stadt Buḫāra zählten. Beide boten bereitwillig Asyl. Worin aber mögen nun für Šāh Ismāʿīl die Vorteile eines imamitischen Staates gelegen haben und weshalb gab er der schiitischen vor der bereits gut eingeführten sunnitischen Lehre den Vorzug? Wie hier bereits des öfteren ausgeführt, traf Šāh Ismāʿīls Schiitisierung keineswegs auf ein kulturelles, soziopolitisches oder religiöses Vakuum, sondern auf ein kulturell strukturiertes Gebiet, in dem sich 301 aus dem Fruchtbaren Halbmond geflohene gnostische Gruppen, Vertreter des Extremismus, Sufismus und Anhänger der Sunna fanden und Widerstand gegen die Einführung des Schiismus leisteten. Sellheim charakterisiert auch den angrenzenden Irak als „religiöspolitisch sowie ethnisch-soziologisch labile Provinz“, in der man „Monotheisten und Dualisten“ unter „Arabern, Persern und aramäischen 302 Minoritäten“ antreffe. Damit könnten die Mandäer gemeint sein, die außer in Syrien auch im Südirak stark vertreten waren und sich ent303 lang des Karūn-Flusses bis nach Ahwāz in Ḫūzistān ausbreiteten. Für den „Charakter mehrerer Doktrinen [...] ungemein bezeichnend“ hält Otakar Klima „das Milieu, in dem die semitische, iranische und vielleicht noch andersartige Bevölkerung nebeneinander und vermischt 304 lebte.“ Filippani-Ronconi greift noch weiter aus und vermutet in der „persischen Schule manichäisch-mandäischen Ursprungs“ im Osten Irans den Zusammenfluss von syrisch-babylonischer Gnosis und soteriologischer Techniken des „Šaiva-Vajrayana“ mit einer ismailitischen 305 Firnis. 300 301 302 303 304 305

Savory, 1980, S. 29 Halm, 1988, S. 100-101 Sellheim, 1970, S. 96 Krause/Rudolph, 1997, S. 173 ff. Klima, 1957, S. 160 Pio Filippani-Ronconi, Ummu’l-Kitāb, Neapel, 1966, S. XI

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Mit der Schia als Staatsreligion konnte sich der ṣafavidische Staat klar vom sunnitisch-osmanischen Imperium und dessen Vormachtstellung in der islamischen Welt des 16. Jahrhunderts differenzieren. Damit war ihm territoriale und politische Identität gegeben. Die Schubkraft einer dynamischen religiösen Ideologie sollte sich dabei positiv auf die Überwindung von Anlaufschwierigkeiten bei der Errichtung eines neuen Staates auswirken, mit denen sich Šāh Ismāʿīl konfrontiert sah. Jene sollte ihm dabei helfen, sein Staatsgebilde durch schwere innere und äußere Krisen zu manövrieren. Außenpolitische Konflikte banden Energien: Die Unterwerfung des Irak (1507), der Usbeken in Ostiran (1510 Schlacht bei Herāt) und der Konflikt mit den Osmanen (1514 Schlacht bei Čaldirān) folgten zeitnah aufeinander. Die schiitischen ʿulamāʾ spielten – nicht zuletzt durch ihre geringe Zahl – bei der rigorosen Einführung einer „Staats-Schia“ politisch zunächst noch eine untergeordnete Rolle. Der Herrscher war in seiner absoluten, durch seine Herkunft sanktionierten Macht bestrebt, unerwünschten Einfluss der ʿulamāʾ auf die Amtsgeschäfte zu unterbinden. Šāh Ismāʿīl fungier306 te daher einerseits als quṭb (Stab, Führer eines Sufi-Ordens) – andererseits repräsentierte er den unantastbaren Abkömmling des 7. Imam Mūsā al-Kāẓim, wobei seine in Āzerī-türkischer Sprache mit čaġataiischen Elementen verfasste Dichtung erkennen lässt, dass er sich selbst 307 einen noch höheren, bisweilen an Hybris grenzenden Rang zumaß. No. 195/2 und 3

I am Farīdūn, Khosrau, Jamshīd, and Zohāk. I am Zāl’s son (Rustam) and Alexander. The mystery of Anā’l-ḥaqq is hidden in this my heart. 308 I am the Absolute Truth (or “God”) and what I say is Truth. 306 Hamid Algar, Religion and State in Iran 1785–1806, Los Angeles, 1969, S. 27 307 Minorsky, 1940-42, hier: Verse 15, 18, 22, 195, 204 308 Minorsky, 1940-42, S. 1047a

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No. 204/2

Sun and moon are in my power.

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Mit dem Griff in die iranische Mythologie und der Inanspruchnahme eines sakralen Königtums, wie es bereits unter Achaimeniden und Sasaniden verstanden wurde, übernahm er vorislamische Traditionen, die seit Generationen geläufig waren. Dieser politische Kunstgriff entspricht einer zu allen Zeiten gängigen Praxis, Bewährtes und Wohlbekanntes mit neuen Versatzstücken zu verquicken, um Vertrauen zu bilden und Respekt einzuflößen. No. 15/1 und 4

My name is Shāh Ismāʿīl. I am God’s mystery. I am the leader of all these ghāzīs. My mother is Fāṭima, my father is ʿAlī; and eke I am the Pīr of the Twelve Imāms.

I am the living Khiḍr and Jesus, son of Mary. I am the Alexander of (my) contemporaries.

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Der Rekurs auf andere Parakleten bis hin zu Jesus Christus suggeriert Universalität. Šāh Ismāʿīl scheint keinen seinem Anliegen opportunen Vergleich gescheut zu haben – und bemüht gar die islamische Legendengestalt des ḫiḍr (oder al-ḫāḍir), der vor allem den Sufis als unsterblicher, über Wasser und Luft herrschender Prophet und Vertreter Gottes gilt und auf altorientalische, jüdische und christliche Vorstellungen zurückgeht. Dies und die Interpretation des Herrschers als Vertreter 309 Minorsky, 1940-42, S. 1047a 310 Minorsky, 1940-42, S. 1042a

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des verborgenen Imams bediente die Schutzbedürfnisse des kriegsgebeutelten Volkes und sollte es im Glauben bestärken, dass auch die Ei311 genschaften des Mahdī auf Ismāʿīl übergegangen seien. So weisen 312 Münzinschriften aus Kāšān (912/1506) und Mašhad (924/1518) Šāh Ismāʿīl als sulṭān al-ʿādil aus, ein Attribut, das sich im schiitischen Kontext auf den verborgenen Imam selbst bezieht. Der mit Šāh Ismāʿīl aṣ-Ṣafāvī aus Mangel an heimischem Schrifttum und eigenen Gelehrten initiierte intellektuelle Austausch mit dem Ǧabal ʿĀmil intensivierte sich im 15. und 16. Jahrhundert. Šāh Ismāʿīl hatte das Land offiziell vom sunnitischen zum schiitischen Islam konvertiert. Dabei kam ihm – nicht zuletzt auf Grund seiner mystisch 313 überhöhten „Eigendarstellung“ – entgegen, dass der Großteil der einem Volksislam mit alidischer Prägung zugeneigten Bevölkerung in ihm einen mit ihren Sufi-Scheichs vergleichbaren Heiligen sah. Nicht einmal seine 920/1514 erlittene Niederlage von Čaldirān gegen die professionellen und gut ausgebildeten Truppen des osmanischen Sultans Selim I. vermochte seiner Aura und der orthodoxen, inzwischen durch importiertes zwölferschiitisches Gedankengut gut etablierten, legalistischen Zwölferschia Abbruch zu tun. In jener Schlacht zwischen Tabrīz und Urmia-See wurde Šāh Ismāʿīl trotz seines Unverwundbarkeits-Mythos’ geschlagen. Die Niederlage veranlasste ihn zur Modifikation seines Images, weshalb er fürderhin auf den Nimbus des verkörperten Mahdī verzichtete, um sich als dessen einzig legitimen Stellvertreter und Oberhaupt der Schia sowie der gesamten islamischen umma zu präsentieren – und machte sich 314 damit zu einem Herrscher mit universalem Anspruch.

311 A.K.S. Lambton, Quis Custodiet Custodes, in: SI, Vol. VI, 1956, S. 129 und Minorsky, 1940-42, S. 1042a ff. 312 H. L. Rabino, Coins of the Shahs of Persia, in: Numismatic Chronicle, Vol. IV, 1908, S. 368 313 Glassen, 1971, S. 66-69 314 Halm, 1988, S. 109

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Von al-Buḥturī stammt obige Panegyrik für den ʿAbbāsidenkalifen alMuʿtazz (866–869), in der er ihn mit den Attributen „Erbe des Mantels 315 (des Propheten), des Stabs und der Gerechtigkeit Gottes“ bedachte und damit an eine lange Tradition in Mesopotamien und im Iran anknüpfte. Der Herrscher als menschliches Bindeglied zwischen dem göttlichen Universum und der irdischen Welt war verantwortlich für den Erhalt der guten Ordnung und dadurch bis hinein in die Būjidenzeit, als er lediglich noch zeremonielle Funktion innehatte, sakrosankt.

6.1 Der Regent – Hohepriester des Staates, Schutz der Religion, Schatten Gottes auf Erden „Wisset, dass Königtum und Religion Zwillinge sind. […] Weil die Religion das Fundament des Königtums und das Königtum der 316 Wächter der Religion ist.“

Wie religiöse Einrichtungen zeigen, ruhte die Herrschaft bereits in achaimenidischer und sāsānidischer Zeit auf den untrennbar miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Pfeilern Königtum und Religion. Diese gegenseitige Abhängigkeit sorgte für den Erhalt einer Machtbalance zwischen beiden, beförderte deren materielle Prosperität und wurde den spirituellen Bedürfnissen des Volkes gerecht. Der universale Charakter, der einem Herrscher als Inkarnation eines Zeitalters zukam, wird in einem von Ammianus Marcellinus tradierten Brief von Šāpūr II. an Kaiser Konstantin deutlich, den die Formel „Šāpūr, König

315 Sperl, Stefan, Islamic Kingship and Arabic Panegyric Poetry in the Early 9th Century, Journal of Arabic Literature, Vol. 8, 1977, S. 21 316 Im sog. Testament Ardašīrs I (224–270) an seinen Sohn Šāpūr I. (240–272) bei Grignaschi in: Journal Asiatique, Vol. 254, 1966, S. 49, Engelbert Winter, Rom und das Perserreich, Berlin, 2001, S. 230 ff.

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der Könige, Partner der Sterne, Bruder von Sonne und Mond“ ab317 schließt. Die Pahlavi-Literatur kennt den kosmischen Herrscher („gēhan xvatāi“ oder „haft kišvar xvatāi“) – den Herrn der Welt oder der sieben Klimata mit dem ihn umgebenden göttlichen Charisma farr-i pādšahān 318 oder xwarǝna, der traditionell auch eine Ausbildung zum Magier erhielt und als Feuerpriester fungierte. Durch al-Manṣūrs Kanzler Ibn alMuqaffaʿ drangen im 8. Jahrhundert Vorstellungen universalen Monarchentums in den islamischen Korpus und im 11. Jahrhundert schließlich galt die Rolle des Regenten als „Gottes Schatten auf Erden“ als etabliert. Aus der Notwendigkeit heraus, die veränderte Wertigkeit des Königs und damit Brüche mit der Tradition zu rechtfertigen, wiederbelebten die Būjiden die sāsānidische Vorstellung von einem Königtum mit dem König als Hohepriester des Staates. Den ʿAbbāsiden bot dieses Konstrukt eine elegante Art, die Kombination religiöser und säkularer Macht zu legitimieren. Vor dem Hintergrund einer politisch unruhigen Zeit stellte Niẓām al-Mulk mit seinem Prinzenspiegel Siyāsat-nāma den Schutz der Gerechtigkeit über den der Religion und verquickte islamische und sāsānidische Vorstellungen. Sein Prinzenspiegel droht Regenten wie Gouverneuren bei ungerechter Herrschaft mit dem jüngsten 319 Gericht und ermahnt auch Landeigner zum Schutz ihrer Untertanen. Auch al-Ghazālī unterlegt seinem Prinzenspiegel Naṣīḥat ul-Mulūk für den Seldschukensultan Muḥammad b. Malikšāh (reg. 1105–1118) eine metaphysische Konzeption der Welt sowie ethische Sanktionen im Falle einer „schlechten Regierung“ und warnt einen ungerechten 320 Herrscher vor Strafen im Jenseits. Der „gute“ König gilt generell als Vize-Regent Gottes, der „schlechte“ hingegen als Vize-Regent des Teufels. Tyrannische Herrschaft (ẓulm), die uns bis in unsere Tage begeg317 Widengren, Geo, The Sacral Kingship of Iran in: La Regalita Sacra, Rom, 1955, Contributions for the VIII. International Congress of the History of Religions, Leiden, 1959, S. 242-250 318 Klima, 1957, S. 37 319 Arjomand, 1984, S. 93 320 Lambton, The theory of Kingship in the naṣīḥat ul-mulūk of Ghazālī, in: The Islamic Quarterly, I, London, 1954, S. 45

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net, wird der Dunkelheit und dem Schatten des Todes gleichgestellt und dadurch auch in der politischen Rhetorik fassbar und wirkmächtig. Nicht nur für Mūsā aṣ-Ṣadr, dem im Litoral ähnliche Formen des Machtmissbrauchs begegneten wie im Iran, und auf den im Weiteren noch näher einzugehen sein wird, wurde der Kampf gegen ẓulm zur Lebensaufgabe.

6.2 Instrumente der Macht: muǧtahid und ṣadr Obwohl mit der weiteren Entwicklung des ṣafavidischen Staates dessen theokratische Natur und sufische Konnotation schwand, kennzeichnete das enge Verhältnis zwischen Staat und der von Šāh Ismāʿīl etablierten Staatsreligion eine Dominanz königlicher Macht über die ʿulamāʾ. Der Einfluss ṣafavidischer Politik auf den Klerus manifestierte sich im Amt des ṣadr, der als „Großwesir“ aus der Gelehrtenschaft sowohl den Šaiḫ ul-Islām als auch den qāḍī ernannte, und religiöse Ange321 legenheiten im Namen des Staates regelte. Dabei handelt es sich um eine direkt von den Tīmūriden und Āq322 Qoyūnlū übernommene Institution, die erstmals im 11. Jahrhundert für den Staatsapparat der Qaraḫāniden und Seldschuken in Transoxanien Erwähnung findet, unter Šāh Ismāʿīl aber einen beträchtlichen Bedeutungswandel erfuhr. Dem ṣadr oblagen bis dato die Eigentumsverwaltung, die Kontrolle über Finanzen und den Mitarbeiterstab, die religiösen Stiftungen und die Verteilung derer Einkünfte an Studenten, Kleriker und wohltätige Einrichtungen. Daneben war der ṣadr oberster Rechtspfleger an religiösen Gerichten und in der Eigenschaft als amīr Teil des ṣafavidischen Militärs, weshalb er auch an Feldzügen teilnahm. Das Amt wurde innerhalb der Familie weitervererbt und nicht selten blieb es durch eheliche Verbindungen mit Ṣafavidenprinzessin323 nen im familiären Umfeld des Herrscherhauses. Unter Šāh Ṭahmāsp (940–982/ 1533–1574) war das Amt in den sogenannten ṣadr-e ḫāṣṣeh 321 Roger Savory, The Principal Offices of the Safavid State during the Reign of Ismāʿīl, BSOAS, Vol. XXIII, 1960, S. 104 322 Arjomand, 1984, S. 123 323 Willem Floor, Ṣadr, in: Encyclopaedia Iranica, online-ed., abgerufen 25.10.2015

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(zuständig für königliche Domänen) und den ṣadr-e mamālik (verant324 wortlich für die Provinzen) aufgeteilt. Nach Šāh Ismāʿīls Niederlage in Čaldirān und in der Regierungszeit von Šāh ʿAbbās (989–1038/1581–1629) scheint sich Charakter und Wer325 tigkeit der Ämter des ṣadr und des vakīl-e nafs-e nafīs-e homāyūn verändert und zugunsten insbesondere des muǧtahid allmählich abge326 wertet worden zu sein. Dies hinderte die Herrscher aber nicht an besonderen Gunsterweisungen, die sie einzelnen Mitgliedern der Geistlichkeit unter anderem in Form von Steuerbefreiungen zukommen lie327 ßen. Durch Šāh ʿAbbās, den muršid-e kāmil (vollkommener, spiritueller Führer), der, wie auch schon seine Vorgänger, den ṣafavidischen Ahnen in Ardabīl höchsten Respekt und Ehrerbietung zollte und vor militärischen Unternehmungen deren Gräber besucht haben soll, kam neben anderen auch Šaiḫ Aḥmad Ardabīlī (-993/1585) in diesen fiskalischen Vorteil. Die Stellung der ʿulamāʾ, deren Macht mit der Schiitisierung des Iran unter den Mongolen ab Mitte des 13. Jahrhunderts gewachsen war, wurde im Zuge der von Šāh ʿAbbās durchgeführten Reformen, die durch die zunehmende Umwandlung von Staatsland (mamālek) in Kronland (ḫāṣṣa) finanziert werden sollten und die Zentralisierung der Administration und die Trennung von religiösen und staatlichen Ämtern vorsah, aufgewertet. Das Amt des Wesirs an der Spitze der Bürokratie wurde ebenfalls höhergestuft, wohingegen das des vakīl (eigentlich: vakīl-e nafs-e nafīs-e homāyūn), ursprünglich Vizeregent und „al328 ter ego“ des Schah, entfiel und auch das Amt des noch unter Šāh Ismāʿīl zum Zwecke der Subordination der religiösen Klassen unter die politische Autorität erschaffenen ṣadr weiter an Bedeutung verlor. Das neuaufgestellte stehende Heer, in dem wichtige Posten wie der 324 Arjomand, 1984, S. 124 325 Leiter/Chef – ein Amt, das bereits in der Timuridenzeit bezeugt ist. s. Halm, 1988, S. 110 326 Roger M. Savory, ʿAbbās (I), Encyclopaedia Iranica, I/3, S. 71-75 327 A. K. S. Lambton, Landlord and Peasant in Persia, London, 1953, S. 105 328 Savory, Encyclopaedia Iranica, online-ed., abgerufen am 08.08.2017

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des traditionell aus den Reihen der Qızılbāš rekrutierten Oberbefehlshabers (amīr al-umarāʾ) durch einen georgischen sardār-e laškar ersetzt wurden, bestand nun aus georgischen, armenischen und tscherkessischen ġulāmān-e ḫāṣṣa-ye šarīfa aus dem Kaukasus. Sie konnten jedoch die Qızılbāš, die Šāh ʿAbbās zurückzudrängen suchte, als militärisches Rückgrat angesichts der osmanischen Präsenz im Nordwesten nicht ersetzen. Mit der Schwächung der Qızılbāš aber wurden auch deren Rituale und die Verehrung für den Herrscher als deren muršid-e kāmil obsolet, und Šāh ʿAbbās löste die Sufiorden, die nun auf Grund ihrer fehlenden Integration in den Staatsapparat ein zunehmend bedeutungsloser werdendes Relikt aus den Gründerjahren des Ṣafavidenstaates wurden, mit Verlegung der Hauptstadt nach Iṣfahān Ende des 16. Jahrhunderts auf. Ab dem 18. Jahrhundert, als sich das religio-politische Band unter den Qāǧāren weiter lockerte, verlor das Amt des ṣadr jegliche religiöse Konnotation und die Macht der ʿulamāʾ dehnte sich abermals aus. Šarīʿa-Gerichte und deren Richter waren zwar der säkulären Gerichtsbarkeit (ʿurf) sowie dessen oberstem Richter, dem dīvānbīǧī, unterstellt, eine intensivierte Förderung theologischer Studien samt der Unterhaltung von Stiftungen für Schreine und Medresen legten aber den Grundstock für die spätere Erweiterung der politischen und sozialen Rolle der ʿulamāʾ. Deren Forderung, es solle idealerweise ein durch göttlichen Schutz vor der Sünde bewahrter muǧtahid an die Stelle des verborgenen Imam treten und dem Schah lediglich eine beschützende Aufgabe bezüglich religiöser Angelegenheiten zukommen, verschaffte 329 ihnen weiteren Bedeutungszuwachs. Die noch vom Sāsānidenkönig Ardašīr beschworenen konkurrierenden „Zwillinge“ Religion und Königtum hatten sich ganz offensichtlich unter umgekehrten Vorzeichen weiterentwickelt. Bis zur Regierungszeit des letzten ṣafavidischen Herrschers Šāh Sulṭān Ḥusain (1105/1694–1135/1722) nahm der Einfluss der ʿulamāʾ beständig zu. Ausdehnung und Konsolidierung der schiitischen Dok329 Jean Chardin, Voyages en Perse, Paris, 1811, Vol. V, S. 208 ff.

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trin aber ging mit der Verfolgung von Sunnitentum und Sufismus Hand in Hand: Wie gefährlich einem Staatsgebilde das anarchistische Gedankengut autonomer Sufizirkel werden kann, wusste man nur zu gut aus der eigenen Geschichte. So sollen tekīye (Klause) und ḫāniqāh (Kloster) des prominenten Gelehrten und Sufis Mollā Muḥsin Fayḍ Kāšānī (1007–90/1598–1679), Schüler des Mollā Ṣadrā (-1050/1640), zerstört und die Derwische, die dort wohnten, auf Befehl des Schah mas330 sakriert worden sein. Vermochte der absolutistische Šāh ʿAbbās I. 331 den Klerus noch dem ṣadr unterzuordnen, dessen Macht im selben Maße zu schwinden begann wie die der nachfolgenden politisch ge332 schwächten Ṣafaviden-Schahs, so verdrängte nun der von Šāh Sulṭān Ḥusain geschaffene mollābāši (oberster Mollā) diese Institution immer mehr. Mollābāši Muḥammad Bāqir Maǧlisī (-1111/1700), wie auch später dessen Enkel Mīr Muḥammad Ḥusain Maǧlisī, ließen den Kampf333 geist der früh-ṣafavidischen formalistischen Linie wiederaufleben. Auf Grund der traditionellen Legitimierung weltlicher Macht durch die Religion gewannen klerikale Werte und Normen auch in den politischen Strukturen der vorindustriellen iranischen Gesellschaft starkes Gewicht. Indiz für die zunehmende Machtfülle der ʿulamāʾ der 334 Qāǧārenzeit sind die religiösen Institutionen, die enormen Einfluss 335 auf das Rechts- und Erziehungssystem auszuüben begannen. Aber auch die Führung einer Privatarmee – eine überkommene Prärogative aus sāsānidischer Zeit, in der der Klerus „unermessliche Schätze“ durch den Ablasshandel thesaurierte und in der „Verwaltungsbeamte und 330 Muḥammad Mehdī Iṣfahānī, Niṣf-i Ǧahān fi Taʿrīf ul-Iṣfahān, Tehran, 1340 h.š./ 1961, S. 183 331 Lambton, 1953, S. 105 332 Halm, 1988, S. 121 333 Lockhart, The Fall of the Safawy Dynasty and the Afghan Occupation of Persia, Cambridge, 1958, S. 70 334 Hamid Algar, The Oppositional Role of the Ulama in Twentieth Century Iran, in: Keddie, 1972, S. 28 ff. 335 Willem Floor, Iranische Geistliche als Revolutionäre – Wunschdenken oder Wirklichkeit? in: Religion und Politik im Iran – Mardom-nameh Jahrbuch zur Geschichte und Gesellschaft des Mittleren Orients, Frankfurt/M. 1981, S. 307

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Würdenträger bewaffnete, ihre Aufträge ausübende Kräfte zur Hand“ 336 hatten, verschafften den ʿulamāʾ Renommé und Gewicht.

6.3 Schiitische ʿulamāʾ der Ṣafaviden- und Qāǧārenzeit Ambitionen der Geistlichkeit auf Besetzung politischer Ämter oder Beteiligung an den Staatsgeschäften sind aus der frühen Ṣafavidenzeit nicht bekannt. Damals scheinen die quietistischen ʿulamāʾ mit ihren messianischen Vorstellungen mehrheitlich und über längere Etappen hinweg durchaus mit dem Staat kooperiert und sogar die zu Legitimationszwecken phantasiereich konstruierten Ahnentafeln ṣafavidischer Monarchen akzeptiert zu haben, mit Hilfe derer eine Abstammung von den Imamen belegt werden sollte. Dies mutet umso erstaunlicher an, als die Praxis der Zwölferschiiten lediglich einem muǧtahid imamitisches Charisma zugesteht – keinesfalls aber einem vorübergehenden weltlichen Herrscher. Das schiitische Konzept begnügte sich damit, der Gerechtigkeit erst mit der Wiederkunft des Mahdī mit Waffengewalt 337 nachhelfen zu müssen. Begreift man politisches Engagement und schließlich die Triumphe der muǧtahidūn als späte Entwicklung des 19. Jahrhunderts, wirkt der Anspruch der Ṣafavidenschahs auf die Stellvertreterschaft des Imām Mahdī weit weniger verwunderlich: Während der Abwesenheit eines universell anerkannten Vertreters mit der Legitimation und dem Charisma der Imame waren die Schahs den muǧtahidūn diesbezüglich rechtlich gleichgestellt. Obwohl die Orthodoxie nur widerwillig eine „göttliche Inkarnation“ der ersten Ṣafavidenherrscher tolerierte, scheint zumindest in der Theorie schließlich im Konstrukt des „göttlichen Schattens auf Erden“ (ẓill-Allāh), als welcher die staatliche Macht interpretiert und begriffen werden konnte, ein befriedigender Kompro338 miss gefunden worden zu sein. Eine „Regierung des Schattens Gottes auf Erden“, in dem „jeder Trübselige Zuflucht“ finde, beschreibt Ignaz Goldziher vermutlich 336 Klima, 1957, S. 26, 27, 41 337 Nikki R. Keddie, Religion and Politics in Iran, Yale University, 1983, S. 22 338 Arjomand, 1984, S. 221

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schon als in umayyadischer Zeit gang und gäbe und später bei den 339 ʿabbāsidischen Kalifen ganz üblich. Führende schiitische Theoretiker der Ṣafavidenzeit, denen, wie bereits im 4./10. Jahrhundert während der Īlḫāniden- und Timuridenzeit, die Entpolitisierung des Imamats angelegen war, scheinen dieses Modell wieder aufgenommen und approbiert zu haben, woraufhin es nun als genuin schiitisch betrachtet und adaptiert wurde. Die Protektion der ʿulamāʾ durch die Ṣafavidenherrscher diente, wie schon ausgeführt, vor allem dem Erhalt der beiderseitigen Wirtschaftskraft. Der Klerus konnte von den frommen Stiftungen (waqf/pl. auqāf) profitieren, hatte die Kontrolle über die Einkünfte aus den religiösen Abgaben und wurde darüber hinaus für offizielle und religiöse Dienstleistungen entlohnt. Ein Abkommen auf Gegenseitigkeit. Weil diese Konzeption ganz offensichtlich an das Wesen des sāsānidi340 schen Königtums anknüpfte und die Funktion des Staates abhängig machte von der Kooperation zwischen einem Herrscher, der durch staatliche Ordnung die notwendigen äußeren Bedingungen für Macht und Prosperität des Klerus schafft und einer Geistlichkeit, die ihn legitimiert und durch religiöse Rechtleitung vor Ungerechtigkeit und Ty341 rannei bewahren soll, war sie aber nicht unumstritten. Und schon hier zeichnet sich ein in Wirklichkeit ungleiches und auf weitere Sicht instabiles Kräfteverhältnis ab: Mittels der vom Schah garantierten Benefizien funktionierte die Geistlichkeit nur solange im Sinne des Herrschers, wie dieser parallel hierzu auf eine unabhängige Exekutive zurückgreifen konnte. Als die ṣafavidische Macht im 17. Jahrhundert allmählich schwand, begannen die ʿulamāʾ die Legitimation des Schah gar öffentlich anzuweifeln und wollten ihn durch muǧ342 tahidūn aus den eigenen Reihen ersetzt sehen. Jean Chardin, der im späten 17. Jahrhundert in Iṣfahān wohnte, berichtet das Nachfolgende: 339 Ignaz Goldziher, Muhammedanische Studien, Vol. 2, Halle, 1890, S. 61 bezieht sich auf Šaybānī (ca. 100–210/719–825; Kitāb as-siyār) Wiener Jahrbücher der Literatur, Vol. 40, S. 20 ff., S. 50 340 Momen, 1985, S. 192, 195 341 Lambton, 1956, S.221 342 Savory, 1960, S. 81

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„Die Perser sind untereinander gespalten in der Frage, wer das Recht hat, den Platz des zwölften Imam einzunehmen und Herrscher über spirituelle sowie weltliche Angelegenheiten zu sein. Die Kirchenmänner und mit ihnen alle Gläubigen, und diejenigen, die sich an die strikte Befolgung der Religion halten, sind sich darüber einig, dass während der Abwesenheit des Imam ein muǧtahid maʿṣūm seinen Platz einnehmen sollte. Aber die meistakzeptierte Meinung ist, dass dieses Recht ausschließlich einem 343 direkten Abkömmling der Imame zustünde.“

Der Gründer der Qāǧārendynastie, Āġā Muḥammad Ḫān verzichtete (wohl wegen seiner Laienabkunft und des fehlenden Charismas) auf den Anspruch der Immunität durch eine „heilige Abstammung“, den noch seine ṣafavidischen Vorgänger geltend machten – zugunsten einer weltlichen Herrschaft. Auf die sich verändernde Machtkonstellation im Staat reagierte schließlich der Muǧtahid Mīrzā Abū’l-Qāsim Qumī (-1233/1817) und Sayyid Ǧaʿfar Kašfī, die sich mit der Legitimierung der Qāǧārenschahs konfrontiert sahen. Qumī setzte mit der Modifikation deren Titulierung lediglich praktisch um, was bereits in der Theorie existierte. So entblößte er den Regenten seiner sakralen Macht und seiner göttlichen Attribute und legte den Schwerpunkt herrscherlicher Verantwortung, wie auch schon Niẓām al-Mulk und al-Ghazālī, auf dessen auszuübender Gerechtigkeit. Um die Erbansprüche ṣafavidischer Könige auf Unfehlbarkeit zu beenden, die sie als Stellvertreter (ǧā-nešīn) des Entrückten Imam und dīn-panāh („Schutz der Religion“) innehatten, sollte die Definition fürderhin auf „Schatten Gottes“ beschränkt bleiben. Mīrzā Abū ’l-Qāsim und Āġā Sayyid Behbehānī einigten sich bezüglich des Sobriquets für Āġā Muḥammad Ḫān sowie Fatḥ ʿAlī Šāh daher auf das 344 reduzierte ẓill-Allāh. Mit Fatḥ ʿAlī Šāh (1797–1834) konnten sich die Herrscher lediglich noch als „Schatten göttlicher Gerechtigkeit“ begreifen und standen so343 Chardin, 1811, Vol. II., S. 206-208 344 Arjomand, 1984, S. 181, 221 ff.

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mit erstmals in der Pflicht, diesen Titel auch ganz praktisch mit Leben zu füllen.

6.4 Schiitischer Klerus im qāǧārischen und osmanischen Machtbereich – die Doktrin in der Praxis “The office of the Sovereignity of the world after the Prophet is reserved for the Commander of the Faithful [ʿAlī], and after Him, this exalted office belongs to the Twelve Imams; and anyone else who interferes in this matter is a tyrant. As the Ruler of the Age [sulṭān-e zamān] [and] the Lord of the Command [ṣāḥib-e amr] is absent, it is right and necessary that a person from the exalted dynasty of ʿAlī and Fāṭima, who is competent for this task, should give currency to the Commandment[s] of the Imam of the age 345 among God’s worshippers.”

Der Anspruch auf Macht, Einfluss und relative wirtschaftliche Unabhängigkeit der imamitischen ʿulamāʾ liegt in der schiitischen Doktrin selbst begründet. Dass der iranische Klerus dabei bis heute über verhältnismäßig mehr finanziellen Rückhalt und damit über mehr Macht 346 verfügt als der anderer Länder des Mittleren Ostens, erklärt sich nicht zuletzt aus seiner Geschichte: Erwähnt wurden bereits dessen Privilegien aus sāsānidischer Zeit, wonach Würdenträgern bewaffneter Schutz zustand. Die Sufis der Zirkel, aus denen im 14./15. Jahrhundert die spätere Orthodoxie hervorging, entstammten zudem nicht selten der Kaufmannsschicht (arab.: tuǧǧār, tk.: ortaklıklar), an deren Ge347 schäften sie beteiligt waren. Diese Tradition führten zahlreiche der mit den bāzārī verschwägerten ʿulamāʾ zu beiderseitigem Vorteil fort und bis zum heutigen Tage bestimmt dieses Charakteristikum das Verhältnis des iranischen Klerus zum Staat. Wie bereits diskutiert, begreifen schiitische Gelehrte jeden Staats345 Takmilat al-Aḫbār, I, Seite III, trsl. Arjomand, 1984, S. 181 346 Keddie, 1972, S. 211-229 ff. 347 Bertold Spuler, Die wirtschaftliche Entwicklung des iranischen Raumes und Mittelasiens im Mittelalter, in: HdO, Vol. 1, 6.6.1, Leiden, 1977, S. 132

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apparat per se als unrechtmäßig und deshalb auch immer nur provisorisch und in Abhängigkeit von der Rückkehr des Imām Mahdī. Selbst ein zwölferschiitischer Staat erfährt daher keine vorbehaltlose Akzep348 tanz. Als auf Grund innen- und außenpolitischer Entwicklungen während der Qāǧārenzeit gravierende negative Auswirkungen in Wirtschaft und Gesellschaft spürbar und die Vernachlässigung der dem Herrscher obliegenden Sorge um Gerechtigkeit offenkundig wurde, sahen sich die Gelehrten im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert dazu aufgerufen, sich aktiv in die Tagespolitik einzubringen. Mit der wachsenden ausländischen Intervention, der die ruinöse Politik der Qāǧāren Tür und Tor geöffnet hatte, verminderte sich die Loyalität iranischer ʿulamāʾ gegenüber der Herrscherdynastie. So sollte, wie bereits in der Zeit des zur Sunna zurückgekehrten Nādir Ḫān Afšār (1736– 1747), der im Zuge der vorangetriebenen Ent-Schiitisierung fromme Stiftungen konfiszieren und schiitische Geistliche exekutieren ließ, auch der weitere Verlauf der Geschichte durch einen beständigen Schlagabtausch zwischen Klerus und staatlicher Macht geprägt bleiben. Die Geistlichkeit, angeführt von Muǧtahid Sayyid ʿAbdollāh Behbehānī und dem Tabrīzer Āyatollāh ʿAllāma Moḥammad Ṭabāṭabāʾī (1892–1903), einem der einflussreichsten iranisch-islamischen Philosophen, begann sich ab 1905 zu polarisieren und unterstützte – nicht zuletzt im eigenen Interesse – mehrheitlich die Belange und die Oppositionsbewegung des mit ihr verschwägerten Teheraner Bazars insbesondere während der Massenunruhen von 1906 im Ringen um eine konstitutionelle Monarchie. In dieser Zeit erfuhr der politische Aspekt des schiitischen Dogmas einmal mehr eine direkte Umsetzung in der tagespolitischen Praxis. Iranische ʿulamāʾ prangerten die Unrechtmäßigkeit des Staates offen an und verglichen die Qāǧārendynastie mit den umayyadischen Mördern des Prophetenenkels al-Ḥusain. Nach dem von Regierungstruppen angerichteten Blutbad im Hof des ʿAlī Reżā Schreins in Mašhad 1906 und in der Tehraner Schah-Moschee während der Trauerfeier um 348 Keddie, 1972, S. 212

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einen durch einen Offizier getöteten Sayyid, setzte Āyatollāh ʿAllāma 349 Ṭabāṭabāʾī den Schah gar mit dem Kalifen Yazīd gleich. Anders stellte sich die Situation in den Nachbarstaaten dar, wo das schiitische Pendant in mehrheitlich sunnitischer Umgebung und unter osmanischer Herrschaft über Jahrhunderte hinweg selbst bedrückendste Monarchen duldete, obwohl es die zwölferschiitische wie auch die frühe sunnitische Doktrin gerechtfertigt hätte, auf Einhaltung der Rechtsvorgaben durch die Regenten zu bestehen. Sunnitische Rechtsgelehrte (şeriye vekili) zogen nicht selten religiöse Argumentationen heran, um einen Herrscher zu beschränken oder gar zur Abdankung zu bewegen. Osmanische ʿulamāʾ handelten dabei aber nicht aus eigenem Antrieb oder auf Grund von Volksbegehren, sondern fungierten als Werkzeuge „mächtigerer Klassen“: der Palastcliquen, Großwesire oder des Janitscharenkorps. Auch in späterer Zeit – insbesondere nach den Reformen Mustafa Kemals – hatten sie niemals eine den qāǧārischen ʿulamāʾ im Iran vergleichbare Macht inne. Wesire des Hofes erbaten vom sogenannten Fetva Emini, einem Beamten des Şeyh-ül-Islām, die Entthronung des Herrschers, wenn dies geboten und opportun erschien. Von den 23 Sultanen zwischen 1612 und 1922 wurden, so Alan Palmer, 13 durch eine fatwā abgesetzt – im Falle des unglücklichen Sultan Ibrāhīm erzwangen sie 1648 sogar dessen Exekution. Alderson zählte 350 zwischen Bayezid I (1402) und Abdulmecid II (1944) 17 Absetzungen. Im Osmanischen Reich, wozu von 1517 bis 1915 der heutige Libanon als selbständige Provinz „Vilāyet Beyrut“ oder Sandschak „Cebel-i Lüb351 nan“ gehörte, war als Staat, dessen Zentralregierung sich mit Hilfe einer modernen Armee und einer zentralen Bürokratie maßgebliche Autorität zu verschaffen wusste und wo das Militär und ein Beamtenapparat die Grundlagen für die Durchsetzung staatlicher Interessen ge349 Keddie, 1972, S. 212; Algar, 1969, S. 252 350 Alan Palmer, Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches, München, 1992, S. 23, A. D. Alderson, The Structure of the Ottoman Dynasty, Oxford, 1956, S. 59, 65 351 Zur Territorialverwaltung des Osmanischen Reiches: Matuz, 1994, S. 95

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genüber den ʿulamāʾ schufen, ein Rückgang geistlicher Macht zu verzeichnen. Dies schlug sich insbesondere in der Kontrolle von Erziehung und Justiz und der Einflussnahme auf die Verwaltung frommer Stiftungen nieder. Auch die sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen im Osmanischen Reich – darunter der Kontakt mit „verwestlichenden Einflüssen“ – macht Alaf Loutfi el-Sayed für den dortigen Machtverlust der ʿulamāʾ verwantwortlich. Bereits vier Jahre nach seinem Regierungsantritt begann Muḥammad Alī Paša, von 1805 bis 1848 Gouverneur der osmanischen Provinz Ägypten, die ʿulamāʾ zu besteuern, die wie im Iran durch Verschwägerung und über gemeinsame Mitgliedschaft in Sufiorden auch mit den Händlergilden der qaṣaba und der Azhar-Moschee eng liiert waren. Er verdrängte sie aus ihren einflussreichen Positionen, ersetzte sie durch eine neue Elite von Staatsbeamten und brachte sie durch Konfiszierung der frommen Stiftungen in mate352 rielle Abhängigkeit. Nikki Keddies Charakterisierung ägyptischer Verhältnisse im „Vilāyet Misir“ ließe sich ohne weiteres auf die Nachbarländer unter osmanischer Herrschaft übertragen: „Weder war die Regierung mehr zwanghaft als überzeugend, noch die ʿulamāʾ ohne Triumphe, aber der generelle Trend zu größerer Regierungskontrolle hinein in die Belange der ʿulamāʾ ist 353 unstrittig.“

Im selben Maße wie die Autorität osmanischer ʿulamāʾ im 19. Jahrhundert zu schwinden begann, stieg der Stern des schiitischen Klerus im qāǧārischen Iran auf: Klerikaler Machtzuwachs stand hier in direktem Bezug zum immer deutlicher spürbar werdenden staatspolitischen Machtvakuum. Die lange Zeit als autonome Herrschaft missinterpre tierte selbstherrliche Mythologie und Launenhaftigkeit absolutistischer Schahs im Iran wurde nun vom Klerus offen opponiert. Rein taktischen 352 Afaf Loutfi el-Sayed, The Role of the ʿulamāʾ in Egypt during the Early Nineteenth Century; P. M. Holt, Political and Social Change in Modern Egypt, London, 1968, S. 264-265, 267, 275, 277 353 Keddie, 1972, S. 213

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Charakter hatten Kooperationen, die es beispielsweise im ersten persisch-russischen Krieg 1811–1813 zwischen Klerus und Staat gab. In ihrer offensichtlichen Lethargie und paralysiert durch die trügerische Hoffnung auf ausländische Unterstützung im Falle von Revolten oder territorialen Abspaltungen, ignorierten die Qāǧārenschahs die Notwendigkeit politisch und militärisch dringend erforderlicher ReformMaßnahmen. Die Interessen der Dynasten galten vornehmlich dem eigenen Wohl und dem Unterhalt des Harems mit den dort untergebrachten Nachkommen. Durch die – lediglich aus taktischen Gründen – abgegebenen Garantien Russlands und Großbritanniens bezüglich des Fortbestands der Dynastie sahen sich die Herrscher nicht genötigt, ein eigenes schlagkräftiges und vor allem gut ausgerüstetes Heer aufzustellen. Die Armee existierte nur noch auf dem Papier und Rücklagen wurden vom finanzhungrigen Hof aufgezehrt. Unzuverlässige Stämme, die ihre Besoldung vornehmlich aus Kriegsbeute bezogen, bildeten den Löwenanteil der bewaffneten Kräfte des Landes und mussten angesichts notorischer Liquiditätsschwierigkeiten wiederholt von der Regierung beschwichtigt 354 werden. Steuereinnahmequellen wurden an Günstlinge vergeben, Regierungsämter in Versteigerungen veräußert, staatliche oder königliche Ländereien verkauft. Staatsreformerische Ambitionen, wie sie der später ermordete Kronprinz ʿAbbas Mīrzā (1783–1833) mit Plänen zu Modernisierung und Zentralisierung der Armee entwickelt hatte, wurden im Keim erstickt, noch bevor sie umgesetzt werden konnten. Erschwerend hinsichtlich einer Modernisierung im Lande wirkte sich zudem die anglo-russische Rivalität aus, die jeglichen Ansatz zur Schaffung einer Infrastruktur zunichte machte. So konnte mit dem Bau von Eisenbahnlinien, die den Regierungseinfluss und ökonomische Möglichkeiten durch eine verbesserte Logistik erhöht hätten, erst nach 1925 mit dem Ende der Qāǧārenherrschaft begonnen werden. In dieser Situation vermochte der Klerus, der über Privatarmeen verfügte und

354 Lambton, 1953, S. 137, 163-164, 286

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überdies beim Volk größeres Ansehen genoss als das ungeliebte Herr355 scherhaus, einer machtlosen Regierung seinen Willen aufzuzwingen. Wie stark der schiitische Klerus auch in volkswirtschaftliche Vorgänge und die Innen- und Außenpolitik involviert war, wird in den nachfolgenden Kapiteln deutlich.

6.5 Zwischen Ḫorāsān und Ǧabala – ein traditionsreicher Wirtschaftsraum in Abhängigkeit von der internationalen Politik Ein lukrativer Zwischenhandel verband bereits während des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts das Seleukidenreich mit dem Litoral. Frühere Luxusartikel wie Seide aus Fernost, Edelsteine aus Zentralasien, Pfeffer und Zimt aus Indien oder Myrrhe und Weihrauch aus Arabien waren zu Bedürfnissen des täglichen Lebens geworden und der Sklavenhandel blühte. Wichtiges Handelszentrum und einer der Endpunkte der Haupthandelsstraße von Ḫorāsān ans Mittelmeer war seit phönizischer Zeit das dreißig Kilometer von al-Lāḏiqīya (Laodicea) entfernte Ǧabala, das nach 494/1101 zum Herrschaftsbereich der Banū ʿAmmār von Tripoli gehörte und 1516 von den Mamluken an die Osmanen 356 überging. Handelswege führten von phönizischen Städten entlang der Küstenroute nordwärts durch al-Lāḏiqīya oder bogen ostwärts nach Emesa (Ḥomṣ) ab. In südlicher Richtung drehten sie bei Ṣūr in Richtung Bekaa-Tal ab. In Nordsyrien nahm die internationale Fernstraße eine westliche Abzweigung nach Kleinasien und eine östliche durch Mesopotamien nach Persien, um dort in die Seidenstraße nach 357 Indien, China und Fernost einzumünden. Die enge Abhängigkeit des Handels von der politischen Großwetterlage wird im wechselvollen Fortgang des Wirtschaftsgeschehens ab dem Niedergang der Umayyaden im 8. Jahrhundert deutlich, als das neue Machtzentrum Baghdad und andere Städte im Irak sowie im Iran 358 die traditionsreichen syrischen Handelsplätze ablösten und Handels355 356 357 358

Said Amir Arjomand, The Turban for the Crown, New York, 1988, S. 14 Nikita Elisséeff, Ǧabala, EI-online, abgerufen am 01.11.2015 Hitti, 1967, S. 174-175 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 47/48

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routen fürderhin an Syrien vorbeiführten. Der Küstenhandel am östlichen Mittelmeer kam zum Erliegen und die wirtschaftliche Bedeutung nicht zuletzt der Region um den Ǧabal ʿĀmil ging stark zurück. Für die ṣafavidische Zeit beschreibt Rudolph Matthee Einschränkungen hinsichlich der Handelswege auf Grund osmanisch-ṣafavidischer Animositäten. Der Erklärung des Šaiḫ ul-Islām von Qazvīn, der 1593 alle Zwölferschiiten als „Ungläubige“ bezeichnete, soll ein Bann schiitischer Händler gefolgt sein, wodurch Transitwege über osmanisches Territo359 rium für iranische Kaufleute problematisch wurden und Handelskontakte zwischen dem Iran und der Levante hauptsächlich durch armenische und russische sowie englische, französische und niederländische Unternehmen, insbesondere der East India Company und der VOC (Vereenigde Oostindische Compagnie) abgewickelt wurden. Ronald W. Ferrier charakterisiert das ṣafavidische Persien als ein „an Geld äußerst armes Land mit wenig Handel und lediglich einem 360 Binnenmarkt.“ Im 15./16. Jahrhundert wurden der Iran und das Litoral durch die Entdeckung der „Gewürzroute“ abermals gravierenden wirtschaftlichen Veränderungen unterworfen. Die Streckenführung vom „Äußersten Westen“ der islamischen Welt über das Kap der Guten Hoffnung und Ostafrika nach Indien und der damit einhergehenden Umgehung des Mittelmeerraumes, des Roten Meeres und der Karawanenrouten machte nun einen Direkthandel „europäischer“ Handelspartner mit Asien möglich und beförderte gleichzeitig deren koloniale Expansion. Insbesondere hinsichtlich des Seidenhandels hatte dies empfindliche Auswirkungen auf die Länder des traditionellen Zwischenhandels und läutete deren wirtschaftlichen Niedergang ein. Bis zur Substitution durch chinesische Produkte war persische Seide noch 361 über die nördliche Levante spediert worden, im 17. Jahrhundert hingegen führten die Seidenstraßen von Iṣfahān oder Qazvīn entweder 359 Matthee, 1999, S. 22 360 R. W. Ferrier, An English View of Persian Trade in 1618, in: JESHO, Vol. 19, II, 1976, S. 192 361 Rudolph P. Matthee, The Politics of Trade in Safavid Iran. Silk for Silver, 16001730, Cambridge, 1999, S. 39, 237

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über Mosul oder Baghdad nach Aleppo und Iskenderun und scheinen demnach das Gebiet des heutigen Libanon nicht mehr berührt zu ha362 ben. Dem relativen Wohlstand, den der im 17. und 18. Jahrhundert über die Häfen von Ṣaidā und Ṣūr betriebene Baumwollhandel dem Süden des Landes beschert hatte, folgte die überzogene Baumwoll-Preispolitik 363 des Beylerbey al-Ǧazzār und nach 1860 schließlich eine Reorganisation der osmanischen Provinzen, wodurch der Beiruter Hafen einen deutlichen Aufschwung erfuhr. Für vorwiegend schiitische Gebiete, insbesondere des Ǧabal ʿĀmil, bedeutete dies eine neuerliche Margina364 lisierung und weitere Verarmung. Einer iranischen Handelsgesellschaft, die sich während der politisch und wirtschaftlich problematischen Qāǧārenzeit in der Bekaa niedergelassen hatte, wird lediglich ein 365 unbedeutender Stellenwert eingeräumt.

6.6 Katz und Maus im Krämerladen – Der iranische Klerus als Gegenspieler weltlicher Macht

„Wenn Katze und Maus im Bunde sind, ist der Laden 366 des Krämers bald ruiniert.“

Erhebliche Territorialverluste durch die russische Annexion Georgiens 1801 und Transoxaniens 1804 und die im Vertrag von Golestān 1813 erstmals für den Iran festgeschriebenen Kapitulationen hatten das Land politisch bereits geschwächt. Der Friede von Turkumānçay 1828 ging mit dem Verlust Azerbaidschans einher, 1857 folgte die Unabhän362 Matthee, 1999, Kartenteil, S. xvii ff. 363 Heinz Gaube in der Rezension von Thomas Philipp, The Syrian Land in the 18th and 19th Century, in: Die Welt des Islams, Vol. 34, S. 304-305 364 Silvia Naeff, Aufklärung in einem schiitischen Umfeld, in: Die Welt des Islam, Vol. 36, S. 365 ff. 365 Olmert, 1987, S. 190 366 Īraǧ Mīrzā Ǧalāl ol-Mamālek (1874–1925) in: Bozorg Alavi, Geschichte und Entwicklung der modernen persischen Literatur, Berlin, 1964, S. 44

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gigkeit Afghanistans; Sīstān wurde durch britische Intervention 1872 aufgeteilt. Vergleichbar den Ländern des Osmanischen Reiches – in Ägypten hatte Muḥammad ʿAlī Paša im Zuge seiner „Sozialrevolution“ und der Eliminierung der klerikalen Machtbasis die traditionellen Beziehungen zwischen ʿulamāʾ und Regierung durchbrochen und mit der wirtschaftlichen Öffnung nach Westen die heimische Industrie und die Kauf367 mannsklasse ruiniert – zeichnete sich auch im Iran unter Fatḥ ʿAlī Šāh, der neben dem Handelsabkommen mit Sir John Malcolm von der Ostindienkompanie einen Beistandspakt mit Britannien geschlossen hatte und ein Bündnis mit Napoleon eingegangen war, die sich immer enger ziehende Spirale der Staatsverschuldung ab, mit der eine steigende Abhängigkeit vom Ausland einherging. Ihm folgte Moḥammad ʿAlī Šāh (1834–1848), der England, mit dessen Hilfe er auf den Thron gelangt war, dieselben Privilegien gewährte wie Russland, mit dem seit 1841 ein Handelsvertrag bestand. Nāṣer od-Dīn Šāh (1848–1896) und sein Premierminister Amīr-e Kabīr (1848–1851) reformierten zwar das Bildungssystem des Landes, teure Auslandsreisen jedoch machten die Aufnahme von Krediten bei britischen und russischen Banken notwendig und hatten den (erzwungenen) Wegfall der Schutzzölle gegenüber massenhaft importierten Waren aus dem europäischen Ausland zur Folge. Dies trieb das iranische Handwerk in den Ruin und die ohnehin prekäre Situation des Landes verschärfte sich weiter. Für die zunehmend notvolle Situation der bäuerlichen Bevölkerung und der mittelständischen Händler war, wie mehrfach dargestellt, vor allem ein korrupter Beamtenapparat verantwortlich, der die Gelder für die erkauften Ämter über extreme Steuerlasten auf die Untertanen abzuwälzen suchte. Ihr Übriges taten die Waffenkäufe im Ausland und die mit der Einbindung Irans in den Europahandel einhergehende negative Außenhandelsbilanz durch den Rückgang des Exportes bei gleichzeitigem Konsum vorwiegend westlicher Güter. Ab 1814 waren die Preise für Kaffee und Tee, der über Per367 Afaf Loutfi el-Sayed, 1968, S. 278

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sien gehandelt wurde, gefallen; Seidenbrokat aus Kāšān wich der Baumwolle und dem Chintz aus Manchester, und die iranischen Schmiede und Töpfer gerieten durch russische Importwaren, die den 368 Markt überschwemmten, ins wirtschaftliche Abseits. Nach einer seiner Reisen unterzeichnete Nāṣer od-Dīn Šāh den Vertrag für eine Lotterie im Iran – wogegen sich der Klerus erfolgreich wehrte. Die Ignoranz des Schahs gegenüber der Unvereinbarkeit von Glücksspiel und religiösen Regularien trug weiter zum negativen 369 Image der Qāǧāren-Herrscher im Land bei. England, dessen Bestreben es war, den Zugang zu seinen Kolonien in Indien zu sichern, erhielt 1860 das Recht auf Errichtung britischer Telegrafenlinien, die 1870 von den Gebrüdern Siemens installiert wurden, sowie die Erlaubnis zum Bau von Straßen an die persische Südgrenze, die von den dortigen Stämmen allerdings nur gegen Gebühr benutzt werden durften. Deutschland startete im Versuch, den britischen Gegner vor und während des Ersten Weltkrieges zu schwächen und englisches Militär in Indien zu binden, sowohl im Alleingang als auch im Verbund mit dem Osmanischen Reich eine sogenannte „Afghanistan-Mission“ und ent370 wickelte riskante Doppel-Strategien. Deutsche und osmanische In368 Mottahedeh, 1985, S. 213 369 Nikkie R. Keddie, Protest and Revolution 1890–1914, in: Roots of Revolution, Binghamton, 1981, S. 63 370 Ulrich Gehrke, Persien in der deutschen Orientpolitik während des 1. Weltkriegs, Stuttgart, 1960, S. 8 ff., 90 ff. Separatistische Bewegungen in Gīlan/ Kaspimeer mit Mīrzā Kūček Ḫān an der Spitze unterhielten Kontakte zur deutschen Gesandtschaft in Tehran und den deutschen Leitern des kaukasischen Spionagezirkels. Für die Bildung einer ca. 10.000 Mann starken Armee (Infanterie, Kavallerie, Artillerie) standen 1918 deutsche und russische Berater zur Seite. Kriegsmaterial kam aus den deutschen Mauserwerken. Kapitän Wedigs Entsendung der angeforderten Ausrüstung (4 Gebirgsgeschütze, 12 Maschinengewehre mit 12.000 Patronen, 900 Gewehre und Munition und einige deutsche Offiziere) sollen zwar von Konsul Wustrow wegen des Waffenstillstands zwischen Mīrzā Kūček Ḫān und England in Tabrīz gestoppt worden sein, im Auftrag des deutschen Kaisers sollen ihm aber durch General von Kress 6 Gebirgsgeschütze, 6 Mörser, 3000 Gewehre und Patronen zugegangen sein. General von Kress und Leutnant Griesinger planten, mit Kriegsmaterial und einem Team von Instruktoren über Tabrīz nach Gīlān zu reisen.

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teressen deckten sich zwar nicht zu jeder Zeit, drängten Persien aber in eine unvorteilhafte Schaukelpolitik. Wechselnde Allianzen, Geheimab371 sprachen und Waffenlieferungen an oppositionelle Gruppen und nicht zuletzt die große Hungersnot in den Jahren 1870–1872 vergrößerten die Kluft zwischen dem q āǧārischen Herrscherhaus und dem mit den Widerstandsbewegungen sympathisierenden Volk und maßgeblichen Teilen des Klerus. Die politischen, territorialen und wirtschaftlichen Interessen Russlands, das nordiranische Gebiete um das Kaspische Meer besetzt hielt und ab 1879 die Fischereirechte im gesamten Kaspimeer innehatte, standen denen Englands in nichts nach. Beider Tauziehen um den Norden und Süden des Landes wirkte sich auch innenpolitisch stark aus, Konzessionsvergaben an Europäer nahmen ein zuvor nicht gekanntes 372 Ausmaß an und angesichts des fortschreitenden wirtschaftlichen Ausverkaufs des Landes nahm der Klerus in immer stärkerem Maß das Mandat wahr, das ihm große Teile der Bevölkerung und des Bazars gegeben hatten. Offiziell beklagten die ʿulamāʾ den wachsenden Einfluss des „ungläubigen“ Westens, inoffiziell mag möglicherweise – bei Gewinneinbußen des sie alimentierenden Bazars und fortschreitender Verarmung des Bauernstands – auch die Furcht vor dem Verlust der eigenen materiellen Basis und politischen Macht eine Rolle gespielt haben. Nach ihrem 1826 unter Fatḥ ʿAlī Šāh ergangenen Aufruf zum ǧihād gegen Russland gehörte die Forderung auf Rücknahme der allumfassenden Reuter-Konzession 1873 während der Regierungszeit Nāṣer odDīn Šāhs zu den zahllosen Triumphen der ʿulamāʾ über Souveräne der Qāǧāren. Paul Julius de Reuter war ein Jahr zuvor über die Genehmigung für die Ausbeutung von Wäldern und Bergwerken und die Eröffnung einer Nationalbank hinaus auch eine Lizenz für den Bau von Eisenbahnen und Straßen erteilt worden. Der inzwischen legendär gewordene Rechtskniff per fatwā des marǧāʾ at-taqlīd Mīrzā Muḥammad Ḥasan Šīrāzī im Kampf gegen das 371 Cosroe Chaqueri, The Soviet Socialist Republic of Iran, 1920–1921, Pittsburgh, 1995, S. 129 ff. 372 Monika Gronke, Geschichte Irans, München, 2003, S. 91

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1890 von Nāṣer od-Dīn Šāh an den Briten Gerald Talbot vergebene Tabakmonopol (Anbau, Verkauf und Export des gesamten iranischen Tabaks), das 1891/1892 schließlich zurückgenommen werden musste, gilt 373 als Markstein politischer Intervention seitens der Geistlichkeit. Dieser taktisch brillante juristische Schachzug war Ergebnis der engen Zusammenarbeit zwischen Bazar und den mit ihm verschwägerten ʿulamāʾ und vermochte den Kollaps der heimischen Tabakindustrie in letz374 ter Sekunde zu verhindern. Der hierzu nötige Konzessionsrückkauf hingegen, dessen Volumen auf 500.000 £ beziffert wird, sollte Persien die ersten Auslandsschulden eintragen und wurde über das mit 6% verzinste Darlehen einer britischen Bank finanziert. Er zog eine Welle weiterer Kreditaufnahmen bei der russischen Staatsbank nach sich und rückte den triumphalen Sieg der Geistlichkeit durch die nachfolgenden territorialen Konsequenzen gar in die Nähe eines Pyrrhussieges: Resultat der anglo-russischen Konvention von Sankt Petersburg 1907 war die Aufteilung Persiens. Jenes Kräftemessen zwischen dem Verbund Geistlichkeit–Bazar und dem qāǧārischen Regime gilt als Einstieg in 375 die Konstitutionelle Revolution. Nach der Ermordung von Nāṣer od-Dīn Šāh 1896 erhofften sich Moẓaffar ad-Dīn Šāh (1896–1907) und sein Premier Mīrzā Malkolm Ḫan (1833–1908) von der Zollreform des Belgiers Joseph Naus (1897– 98) wachsende Steuereinnahmen, provozierten damit aber nur weitere Massenunruhen. Neben der Russischen Staatsbank, die eine Dependance in Persien unterhielt, erhielt mit Moḥammad ʿAlī Šāhs (1907– 1909) Thronbesteigung auch die 1889 gegründete British Imperial Bank of Persia das Monopol zum Notendruck. Nach einer langen Kette von politischen Entscheidungen, die Volk und Wirtschaft weiter ausbluten ließen, ertrotzten religiöse Führer, Händler und andere Opponenten 1906 schließlich die Einrichtung einer Konstitution zur Wahl einer Nationalversammlung (maǧlis), des ʿadālat-ḫāne-ye dawlatī. Ein offizielles Vetorecht bezüglich parlamenta373 Halm, 1988, S. 142 ff., 145 374 Gudrun Krämer, Geschichte des Islam, München, 2005, S. 278-279 375 Algar, 1969, S. 207

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rischer Entscheidungen räumten iranischen muǧtahidūn die Ergänzungen (motammemāt) vom 7. Oktober 1907 zu dem am 30.12.1906 von Moḥammad ʿAlī Šāh stellvertretend für seinen in Europa weilenden 376 Vater unterzeichneten Grundgesetz (kānūn-e asāsī) ein. In Artikel 1 der Verfassung nach belgischem Muster wurde die Rolle der ʿulamāʾ schließlich staatsrechtlich verankert: Im Parlament waren fünf Sitze für Klerikale vorgesehen, die über die Konformität erlassener Gesetze 377 mit islamischen Prinzipien wachen sollten. Das Ende der konstitutionellen Monarchie allerdings wurde bereits 1911 mit dem Streit um die Konsolidierung der Staatsfinanzen eingeläutet, die dem amerikanischen Experten William Morgan Shuster übertragen worden war, und hatte die Auflösung des Parlaments zur Folge.

6.7 Madāḫel, pīškeš und toyūl – Klerus zwischen Staatsmacht und Intelligenzija Zur Konstitutionellen Revolution im Herbst 1905 und der Verfassungsbewegung (mašrūtiyat) im Folgejahr hatten, wie gesehen, neben außenpolitischen Niederlagen und der Einmischung europäischer Mächte in die inneren Angelegenheiten des Iran, die Ämterkäuflichkeit und vor allem die spürbaren Folgen der Misswirtschaft besonders unter Nāṣer od-Dīn Šāh geführt: Der Hof verschlang zwischen 1888 und 1889 26,8% des Jahresgesamtbudgets, 45,7% entfielen auf das Militär und 27,5% auf Beamte und Klerus. Die damit parallel einhergehende, exorbitante Besteuerung löste einen Dominoeffekt nach unten bis in die niedere Beamtenschaft aus, die, wie bereits erwähnt, die von Händlern geliehenen Summen für ihre erkauften Posten über eigenmächtig erhobene Steuern zurückzuzahlen suchte und sich über sogenannte madāḫel, Nebeneinnahmen und Bestechungsgeschenke (pīškeš, yādbūd) an der Bevölkerung schadlos hielt, ganze Dörfer verkaufte und Bauern376 Belgische Zollbeamte lieferten bereits 1897 ein neues, zentralisiertes Zoll- und Finanzsystem, ab 1904 ließ der belgische Zollminister Joseph Naus Steuern und Zölle per Prügelstrafen und Zwangsschließungen eintreiben. 377 Udo Steinbach, Iran, in: Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, München, 2005, S. 249

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töchter dem Harem der Landeigner zuführte, die ihrerseits zum Einzug mannigfaltiger Gebühren bis hin zur Erhebung von Transitgebühren auf ihren Ländereien berechtigt waren. Aufstände und Tumulte seitens der Bauernschaft, die auch schon während der Ṣafavidenzeit unter Šāh ʿAbbās aufgeflammt waren und 378 vor allem für das Kaspische Meer gut belegt sind, waren die Folge. Mit Hilfe der ihm direkt verantwortlichen Steuerverwalter (pīškār-e mālīāt), des Bürgermeisters (kalāntar) und des Dorfvorstehers (kadḫodā) trieb der Gouverneur Steuern ein, wohingegen privilegierte Schichten selbst steuerbefreit waren und darüber hinaus Pfründe (toyūl), Gehälter, Pensionen und Zuschüsse bezogen. Auch vor Geistlichen, die für Heiratsbewilligungen und dergleichen Gebühren verlangten, machte die rasch um sich greifende Raffgier nicht Halt. Der Klerus war aber dennoch als starkes konservatives Element vor allem durch die Einnahmen aus waqf und ḫums finanziell weitgehend unabhängig und blieb die einzige Instanz, die sich – nun im gemeinsamen Kampf mit der nichtreligiösen Opposition unter Ǧamāl adDīn al-Afġānī (1838–1897), „der die jüngere Generation reformorientierter Intellektueller in den Methoden des organisierten Widerstandes 379 einwies“ – gegen die ausländische Einmischung und für die Belange der Bevölkerung stark machte. Dies um so mehr, nachdem 1908 erste Ölquellen entdeckt wurden und England 1914 die Aktienmehrheit der „Anglo-Persian Oil Company“ erworben hatte. Erst mit der Errichtung des durch eine moderne Armee gestützten iranischen Nationalstaates unter Reżā Šāh, der mit Hilfe der Kosakengarde 1925 an die Macht gelangte, erfuhr die unabhängige Macht der ʿulamāʾ eine Zäsur. Die Zentralisierung der Befehlsgewalt unter dem Schah, der analog seines Amtsbruders Mustafa Kemal „Atatürk“ die Einführung moderner Erziehung und Jurisdiktion nach westlichem Muster vorantrieb, beschnitt, wie schon im Osmanenreich ein Jahrhundert zuvor, Macht und Einfluss des Klerus. Der Zeitgeist spaltete die Gesellschaft in vielen islamischen Ländern: Die Führungsschicht nahm 378 Chaqueri, 1995, S. 53 379 Gronke, 2003, S. 95

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auf Grund besserer Bildung eine eher distanzierte Haltung gegenüber den ʿulamāʾ ein, wohingegen die Unterprivilegierten – in ihrem Kampf ums tägliche Brot – nach wie vor unter starkem religiösen Einfluss standen. Regierung und Geldadel begrüßten dieses Gefüge: Die Geistlichkeit musste auf diese Weise nicht über Gebühr finanziell unterstützt werden, und durch wohl dosierte Gewährung von Forderungen glaubte man, den Klerus ruhig stellen zu können, um Regime und Programm nicht zu gefährden. Den hohen Grad an Rückhalt, den schiitische ʿulamāʾ nach wie vor in der Gesellschaft genossen, lässt sich an deren Opposition gegen das Regime von Moḥammed Reżā Pahlavī (1941–1979) festmachen, dessen Vater Reżā Šāh im Zuge seines Türkei-orientierten Säkularisierungsprogramms bereits versucht hatte, die Stellung der Geistlichkeit zu untergraben. Eine Wiederbelebung alter Bündnisse ab dem Zweiten Weltkrieg, in denen sich die ʿulamāʾ mit Nationalisten gegen die von ihnen als antiislamisch empfundene Regierungspolitik zusammenschlossen, fiel zeitlich mit der Ölverstaatlichung in den frühen 1950ern und dem Widerstand gegen die Regierung in den 1960ern zusammen. In den Wirren um Premier Moḥammad Moṣaddeq, der am 30. April 1951 den Versuch der Verstaatlichung der Anglo-Iranian Oil Company unternommen hatte, spielte die Geistlichkeit allerdings eine eher schillernde Rolle: Während der Unruhen im Juli 1952 machte sich der Klerus mit Āyatollāh Kāšānī, dem die spätere Ernennung zum Parlamentspräsidenten winkte, noch für die Wiedereinsetzung des Premiers stark. Im April 1953 bereits betrieb er aber dessen Absetzung und kooperierte mit dem Schah und monarchistischen Gruppen in der Unterstützung der von CIA-Direktor Allen W. Dulles finanzierten „Operation Ajax“ – geführt von Fażlollāh Zāhedī, der an die Stelle des am 19. August 1953 gestürzten Moṣaddeq trat. Der innenpolitische Repressionskurs des Schah – zwischen 1960 und 1975 schlossen 9 von 32 theologischen Schulen und drei der wichtigsten juristisch-religiösen Schulen (madrasa), fromme Stiftungen wurden konfisziert sowie die Stipendien für deren Studenten abgeschafft, Geistliche inhaftiert, so dass der Klerus wirtschaftlich abhängig wurde

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und durch „Millionen von Dollars“ aus dem Fundus des Geheimdiens380 tes und des Premierministers alimentiert werden sollte – brüskierte westlich orientierte Iraner und wirtschaftlich und sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten gleichermaßen, wodurch dem schiitischen Klerus wieder seine traditionelle Rolle des Widerstandes gegen eine tyrannische Herrschaft zufiel. Propagiert wurde die politisch aktive Schia nun von iranischen Intellektuellen wie Ǧalāl Āl-e Aḥmad (1923–1969) und dessen Schüler ʿAlī Šarīʿatī (1933–1977). Bereits in den frühen 1960ern knüpften die für militanten Aktivismus optierenden Gruppen der Volksmudschaheddin (sāzmān-e moǧāhedīn-e ḫalq-e Īrān) an die radikalen Protesttraditionen der Befreiungsbewegung nehżat-e āzādī-ye 381 Īrān an. Die von dem aus türkischem, irakischem und zuletzt französischem Exil operierenden Āyatollāh Rūḥollāh Mūsawī Ḫomeinī (1902–1989) hervorgerufene Massenprotestbewegung bestand aus höchst unterschiedlichen Oppositionsgruppen und vereinigte Linke, Rechte, Liberale und Konservative, Intellektuelle, bāzārī, radikale und gemäßigte Gruppen des Klerus sowie die Masse verarmter ehemaliger Landbewohner aus den Slums der Großstädte. Die Vorstellungen bezüglich der politischen Zukunft des Landes divergierten dementsprechend stark. Nach der Iranischen Revolution 1979, aus der Āyatollāh Ḫomeinī als Sieger hervorging, übte dessen Programm („Ḥokumāt-e eslāmī yā vilāyat-e faqīh“ – „Der islamische Staat oder die Regierungsausübung des Rechtsgelehrten“) nachhaltigen Einfluss vor allem auf schiitische 382 Minderheiten im Nahen Osten aus – nicht zuletzt im Libanon.

380 Misagh Parsa, Iran from 1919, in: CHI, Vol. II/17, S. 497 381 Ervand Abrahamian, Die Guerillabewegung im Iran von 1963 bis 1977, in: Kurt Greussing/J.-H. Grevemeyer, Religion und Politik im Iran, Frankfurt/M., 1981, S. 337-360 382 Arjomand, 1988, S. 91-174

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6.8 ʿUlamāʾ und Zuʿamāʾ – Vom Quietismus zum Aktionismus: Der schiitische Klerus im Libanon des 20. Jahrhunderts Im 20. Jahrhundert begann sich die Entwicklung eines klerikalen Aktivismus libanesischer ʿulamāʾ abzuzeichnen und spiegelte deren vielfäl383 tige Ausprägungen wider. Im Nachfolgenden wird ihre Rolle als Ideologen, politische Führer und aktivistische Mitglieder politischer Organisationen näher beleuchtet. Etwas später als im Iran und nach massiven Übergriffen Israels setzten auch im Libanon Protestbewegungen gegen die starke ausländische Intervention ein. Südlibanesische Tabakbauern konnten sich allerdings nicht desselben Rückhalts der Geistlichkeit erfreuen wie ihre Schicksalsgenossen im Iran und hatten sich 1970 in Nabaṭīye erfolglos gegen die depravierenden Auswirkungen des bereits im Jahr 1883 an die französische „Régie nationale de Tabac“ übertragenen Monopols 384 gewehrt. Unter Federführung von Mūsā aṣ-Ṣadr, von dessen Person und Einfluss später noch die Rede sein wird, entstand 1974 die ursprünglich nicht konfessionsgebundene „Bewegung der Benachteiligten“ (ḥarakat al-maḥrūmīn). Der Terminus maḥrūmūn bedeutet wörtlich „Beraubte“ (nämlich ihres Erbes). Er leitet sich von der arabischen Wurzel ḥrm für „berauben, ausschließen“ ab. Während des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990) formierte sich ihr bewaffneter Arm, die AMAL. Das Akronym steht gleichzeitig für „Afwāğ al-muqāwama al-lubnānīya“ (Batail385 lone des libanesischen Widerstandes) – und den Begriff „Hoffnung“. 383 Shanahan, 2005, S. 37 ff. 384 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 130/133 ff. 385 Zielsetzung und Anspruch der AMAL mit ihrem ursprünglichen Namen „Bewegung der sozial Benachteiligten (maḥrūmūn) geht aus ihrer Charta hervor (s. bei Norton, 1987, S. 144 ff.) „Punkt 3: Die Bewegung der AMAl glaubt an die totale Freiheit der Bürger und bekämpft unerbittlich Despotismus, Feudalismus, Autoritarismus und alle Formen der Diskriminierung. Punkt 4: Die Bewegung opponiert wirtschaftliche Ungerechtigkeit in all ihren Formen, die Bildung von Monopolismus und die Ausbeutung des Individuums. Punkt 5: Die Bewegung glaubt, dass das fundamentalste Recht aller Bürger die

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Nach der israelischen Invasion im Libanon 1982 spalteten sich mehrere radikalschiitische Splittergruppen von der AMAL ab, und 1985 gründete eine Gruppe schiitischer Geistlicher in der Bekaa-Ebene die „Ḥizb Allāh“ („Partei Gottes“), die sich im Kielwasser der Islamischen Revolution dem „Heiligen Verteidigungskrieg“ (al-ğihād ad386 difāʿī) gegen Israel verschrieb. Auch auf sie wird im Folgenden noch näher einzugehen sein.

Bereitstellung gleicher Möglichkeiten und es die vornehmlichste Aufgabe des Staates ist, das Vorantreiben sozialer Gerechtigkeit sicherzustellen. [...] Punkt 8: Die AMAL-Bewegung ist [...] eine Bewegung aller sozial Benachteiligten, um akuten und bedrückenden Nöten zu begegnen [...] und kämpft an der Seite der Unterdrückten bis zum Ende.“ 386 Stephan Rosiny, Islamismus bei den Schiiten im Libanon, Berlin, 1996, S. 61

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7 Gemeinsamkeiten und Schnittstellen “We are asked to believe that what separated the Iranian Shi’a from their Lebanese counterparts, and therefore Mūsā aṣ-Ṣadr from his constituency, was precisely their conflicting temperaments. Iran was a vast land, a ‘Shi’a universe.’ Jabal ‘Amil, in contrast, was a ‘backwater’, ‘an inarticulate hinterland’. For over four centuries, since the indroduction of Shi’a Islam to Iran, Iranian ulama had supported and opposed kings, raised and paid for private armies, put together coalitions that spanned the entire political spectrum, all the way from rich merchants to urban mobs. Conversely, the Lebanese Shi’a were a marginal commun387 ity – and the bearers of a tradition of lament and submission.”

Bringt Majed Halawi stark vereinfacht, aber bildhaft auf den Punkt, was der „Spätheimkehrer“ Mūsā aṣ-Ṣadr in der Heimat seiner Ahnen vorfand? Dessen Rolle als Integrations- und Leitfigur beider Länder und sein späteres, bis heute ungeklärtes Verschwinden, das die schiitische Gemeinschaft des Iran und des Libanon emotional gleichermaßen bewegte, wird in einem Unterkapitel dieser Arbeit separat beleuchtet. Majed Halawis provokante Skizzierung der unterschiedlichen Charaktere beider Schia-Gemeinschaften ist eine Übertreibung, gewiss; aber wie in einer Karikatur werden hier elementarste Wahrnehmungen plakativ heraus- und das „Schia-Universum“ dem „Altwasser des unartikulierten Hinterlandes“ gegenübergestellt: die erfolgreichen iranischen „Macher“ im Vergleich zu den „jammernden Unterprivilegierten“ im Libanon. Sie lenkt den Blick auf die Maximen einer Lehre, die in der Praxis zum Bremsklotz oder Katalysator werden konnte und höchst Unterschiedliches hervorbrachte: lähmende Passivität hier und 388 revolutionäre Umtriebe dort. Wie die Anfänge sich darstellten und welchen Verlauf die Entwicklung der Schia in beiden Ländern nahm, wurde bereits ausführlich erörtert; ebenso die unter den Historikern bezüglich der Wurzeln und des Streites um den Charakter der Schia mitunter gegensätzlichen 387 Majed Halawi, A Lebanon defied, Boulder, 1992, S. 20 388 Watt, Die Bedeutung der frühen Stufen der Imāmīya, in: Keddie, 1983, S. 21

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7 GEMEINSAMKEITEN UND SCHNITTSTELLEN

Auffassungen. Plädoyers für die eine oder andere Haltung wirken oft konstruiert, Schlussfolgerungen spekulativ und historische Belegstellen scheinen, je nach Interpretation, für jeden Standpunkt Argumente zu liefern. Jenseits aller Dispute aber lässt sich eine dynamische Inter389 kulturalität zwischen der Levante und dem Iran jenseits ethnischer und religiöser Differenzierung erkennen. Das folgende Kapitel veranschaulicht Gemeinsames, Paralleles und Verbindendes.

7.1 „Die Wissenschaft und der Glaube und das Geld“ – „Die Laster der Männer“ Beiden Ländern ist, wie in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, ein langer Prozess wirtschaftlicher und militärischer Erschöpfung, politischer Desorganisation und langjähriger Fremdbestimmung gemein. Schon während der ausgehenden Ṣafavidenzeit hatten Russen und Osmanen die Unfähigkeit der im Harem aufgewachsenen und von einer Hofclique gelenkten iranischen Thronfolger zum Ausbau ihrer territorialen Hegemonie im Nordwesten des Landes genutzt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein begünstigten die persischen Hofgepflogenheiten eine wachsende Abhängigkeit vom Ausland und förderten das immense Schutzbedürfnis der Qāǧāren, die durch ihre Tendenz zur völligen politischen Selbstaufgabe eine Schaukelpolitik auch mit den sich in scharfer Konkurrenz zueinander befindlichen westlichen Staaten betrieben. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts schien die Zeit günstig für territoriale Begehrlichkeiten im Kaukasus und am Kaspischen Meer – Gebiete, die den russischen Nachbarn von jeher wiederholt zur Intervention veranlasst hatten. Mit der von Nāṣer ad-Dīn Šāh 1879 nach russischem Vorbild installierten Kosakenbrigade, der lange Zeit schlagkräftigsten Einheit des iranischen Heeres, wurden nicht ohne Eigeninteresse des Zarenreiches, neben russischem Know-How auch russische Offiziere in St. Petersburg eingekauft, die die Truppe befehligten. Mit 389 Hamid Reza Yousefi, Interkulturelle Kommunikation, Darmstadt, 2014, S. 187, definiert „interkulturell“ als „Zwischenraum, in dem ein Austauschprozess stattfindet, durch den Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund in Kontakt treten.“

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unterschiedlicher Zielsetzung suchten sich zudem England und auch die wechselhafte Allianz Deutschland-Türkei, noch vor der Entdeckung der iranischen Ölquellen, den Landweg nach Indien – respektive 390 Afghanistan – über den Iran zu sichern. Süleyman der Prächtige hatte dem europäischen Einfluss bereits 1521 mit seinen Privilegien für venezianische Kaufleute die Tür weit geöffnet und damit die Basis für die spätere ökonomische Vormachtstellung Frankreichs und dessen Interventionsrecht nicht nur bezüglich des Schutzes der Pilger, sondern generell der maronitischen Christen in der Levante gelegt. 1580 folgte die Ausweitung der Sonderrechte auch auf englische Staatsbürger. Das ausgehende 18. Jahrhundert schließlich läutete – hier unter den Osmanen, dort unter den Qāǧāren – eine massive politische und wirtschaftliche Einmischung vornehmlich seitens des europäischen Auslands ein, mit der eine weitere Schwächung beider Staaten einherging. Mit Ausnahme der Schiiten bestanden im Libanon – anders als im Iran, wo es eine dem Litoral vergleichbare Religionsvielfalt nicht gab – traditionell enge Verbindungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften zur jeweiligen „Mutterkirche“ in Europa oder Russland. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Ausländer sich im Osmanischen Reich exterritorialer Rechte erfreuten, überfluteten industriell hergestellte Textilien aus Manchester und maschinengefertigte Möbel 390 Politische Hintergründe und Interessenlagen hinsichtlich der ausländischen Interventionen dieser Periode anschaulich und ausführlich in: Bozorg Alavi, Geschichte und Entwicklung der modernen persischen Literatur, Berlin, 1964; Janet Afary, Peasant Rebellions of the Caspian Region during the Iranian Constitutional Revolution 1906–1909, in: IJMES, Cambridge, Vol. 23, S. 137 ff.; Cosroe Chaqueri, The Soviet Socialist Republic of Iran, 1920–1921, Pittsburgh, 1995; George S. Harris, The Gilan Sovjet Revolution, 1920–1921, in: Law, Personalities, and Politics of the Middle East, Washington, 1987, S. 205-237; Ulrich Gehrke, Persien in der deutschen Orientpolitik während des Ersten Weltkrieges, Stuttgart, 1960; Wilfried Loth, Marc Hanisch, Erster Weltkrieg und Dschihad: die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, München, 2014; M. Martchenko, Kutchuk Khan, in: Revue du monde musulman, Paris, 1920, S. 98 ff., Christopher Sykes, Wassmuss „the German Lawrence“, London, 1936

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7 GEMEINSAMKEITEN UND SCHNITTSTELLEN 391

aus Paris die lokalen Märkte. In der Levante waren bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts – so Lortet – aus „jenen fruchtbaren Regionen verödete Landstriche geworden und die Bevölkerung von Fieber, Ruhr und Augenleiden geplagt.“ Der Emigrantenstrom aus dem Libanon nach Übersee sorgte ab 1854 für einen Bevölkerungsrückgang vornehmlich in den Bergregionen, wo sich zwischen 1900 und 1914 die 392 Einwohnerzahl um ein Viertel (100.000 Seelen) reduzierte. Nach der Missernte von 1897 zog die osmanische Steuerpolitik die 393 fiskalischen Daumenschrauben noch einmal fester und setzte damit eine Spirale der Verarmung in Gang, die sich im 20. Jahrhundert noch verstärkte: Monokultur und die Spezialisierung auf Konsumgüter zeitigten zusammen mit Naturkatastrophen (wie der Heuschreckenplage des Jahres 1915) fatale Folgen für Landwirtschaft und Bevölkerung. Der Import von Lebensmitteln führte schließlich in eine negative Außenhandelsbilanz; 1916–1918 kam es zu einer Hungersnot. Die Auswirkungen der erst mit Eintritt in den Ersten Weltkrieg an der Seite der Mittelmächte von der Hohen Pforte aufgekündigten Kapitularverträge, gemäß derer europäischen Botschaften und Konsulaten sogar die Unterhaltung eigener Postämter auf osmanischem Boden gestattet war, wurden immer deutlicher spürbar. Durch die günstigen Importkonditionen im Libanon wie im Iran gewannen britische Textilien und Garne im Konkurrenzkampf mit einheimischen Manufakturen die Ober394 hand. Korruption und rücksichtslose Besteuerung der noch verbliebenen Steuerzahler nahmen mit dem Aufstieg lokaler Feudalherrscher, den zuʿamāʾ im Libanon und des toyūl-dār, muqṭaʿ (Lehensherr) oder dehqān im Iran, die über die toyūl oder seyūrġāl (Lehen) verfügten, konti395 nuierlich zu. Diese Grundherren konnten auf eine lange Tradition zurückblicken und hatten seit dem 9. Jahrhundert mittels sogenannter 391 392 393 394 395

Hitti, 1967, S. 362-367, 430, 471 Hitti, 1967, S. 471 Lortet, 1884, S. 124, 131/132 Matuz, 1994, S. 231, Pohl-Schöberlein, 1986, S. 98 Lambton, 1953, S. 139, 176

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ḍamān (Steuerpacht) zulasten einer schwachen Zentralregierung enorm 396 an Macht und Einfluss gewonnen. Mitte des 7. Jahrhunderts war auch im Irak die Blütezeit der dahāqīn. Sie hatten sich in der lokalen Administration unersetzlich gemacht und konnten selbst nach der Schlacht von Qādisīya ihre Positionen und Privilegien bezüglich des ihnen vom Sāsānidenreich überlassenen Kronlandes, das sie nach der Eroberung an sich gerissen hatten, sogar noch verfestigen. Erst unter alWalīd I. fielen diese Ländereien mit dem Niedergang der kapital397 schwach gewordenen dahāqīn an den Kalifen. Beamtensumpf und -willkür blühten hier wie da – und auch im Libanon wurde versucht, über das rigorose Inkasso der Steuereintreiber möglichst schnell die Summen auszugleichen, die nötig waren, um in 398 die Dienste eines Paschas zu treten, der sein Amt seinerseits – meist aus Prestigegründen und der damit verbundenen Möglichkeiten finan399 zieller Vorteilnahme – ebenfalls käuflich erworben hatte – eine Praxis nicht unähnlich derer im qāǧārischen Iran, wo untergeordnete Posten öffentlicher, auf Auktionen ersteigerter Ämter profitabel weiterver400 pachtet wurden. Davon und von der exzessiven Besteuerung durch lokale Stammesführer und Großgrundbesitzer, die hierin die Kompensation ihres finanziellen Einsatzes suchten und damit der Ausbeutung der Landbevölkerung massiven Vorschub leisteten, war bereits die 401 Rede. Der abgeschiedene Ǧabal ʿĀmil, der innerhalb seines geschlossenen Wirtschaftssystems vom Tabak- und Getreideanbau, kleinerem Handwerk, von der Töpferei und Kupferarbeiten lebte und bis zur Gründung des zionistischen Staates 1948 durch seinen traditionellen Handel mit Damaskus einerseits und Haifa und Jaffa andererseits als „natürliche Verbindung zwischen Syrien und Palästina“ fungierte, 396 397 398 399 400 401

Spuler, 1977, S. 151 Baladhuri, Futūh, S. 67, 259, 293-4, 457-8, Morony, 1984, S. 203-205 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 94 Hitti, History of the Arabs, London, 1953, S. 727 Krämer, 2005, S. 278 Gronke, 2003, S. 91

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wurde nach der Staatengründung 1920 nur zögerlich „Teil der libanesischen Familie“. Mit der Öffnung insbesondere der Hauptstadt Nabaṭīye für die modernen Errungenschaften aus Beirut ging eine allmähliche 402 Erhöhung des Lebensstandards seiner Bewohner einher. Im Zedernstaat hatte sich – aus vergleichbarer Motivation und mit ähnlichen Erwartungen wie im Iran – eine politische Orientierung hin zu Europa und den Nachbarstaat Syrien entwickelt. Die Diskussion über das Bündnissystem allerdings, das nach der französischen Mandatszeit (1919–1943) eingegangen werden sollte, stürzte die politischen Gruppierungen des schwachen Staates, in dem mehrheitlich die Philosophie vertreten wurde, ein liberales politisches System, ein ökonomisches „laissez-faire“ und minimalste Regierungskontrolle lasse das Land gedeihen, in fundamentale Zerwürfnisse. Wegen seiner fehlenden territorialen Souveränität und der Wehrunfähigkeit gegenüber expansionshungrigen Anrainern sollten wie im Iran internationale Mächte die Existenz des Staates garantieren und einer Bedrohung seitens der machtvollen Nachbarn vorbeugen. Dieser Status wurde schnell chronisch: Mit der neuen nationalen und internationalen Aufstellung nach Ende des Kalten Krieges und nach dem zweiten Golfkrieg befand sich der Libanon 1990 abermals in einer geo-politischen Zwickmüh403 le. Kritik an den politischen Zuständen verbalisierten zunächst die christlich-libanesischen Intellektuellen, die eine Säkularisierung des Staates propagierten und sich zu organisieren begannen. Die Œvres von Buṭrus al-Bustānī (1819–1883) und Nāṣīf al-Yāziǧī (1800–1871) spiegeln dies bereits im 19. Jahrhundert wider. Auch die Werke späterer zeitgenössischer Schriftsteller der nahḍa (Renaissance, geistiges Wiedererwachen), die auch im Iran literarischen Niederschlag fand, prangerten Missstände an. Moḥammad Bāqer Mīrzā Ḫosrowī (geb. 1850 in Kermanshah) übersetzte die Schriften des Libanesen Ǧurǧī Zaydān (1861–1914) ins Persische. Für das 20. Jahrhundert seien bei402 Maatouk, 1974, S. 132-134 403 Fida Nasrallah, Prospects for Lebanon, Oxford, 1992, S. 3

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7 GEMEINSAMKEITEN UND SCHNITTSTELLEN 404

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spielhaft Sadeq Hedayat (1903–1951) und Sadeq Tschubak (1916– 1998) aus dem Iran, oder Ḫalīl Ǧibrān (1883–1931) und Faraḥ Anṭūn (1874–1922) aus dem Libanon genannt, die gesellschaftspolitische Kritik übten und sämtlich in der Emigration starben. Der Titel eines von Faraḥ Anṭūns Büchern „Al-ʿilm wa’d-dīn wa’l māl aw al-mudun aṯṯalāṯ“ („Die Wissenschaft und der Glaube und das Geld – oder die drei 406 Städte“) reduziert die Problembereiche auf wenige Schlagworte und Ḫalīl Ǧibrān singt das traurige Lied eines Migranten über das „stumme Unglück“ auf Grund des „Verbrechen[s], das in den Köpfen von Schlangen und Vipern entstand“ und der „sein Volk“ aus der Ferne 407 sterben sieht. Auch Frauen begannen sich zu engagieren – darunter die Libanesin Marie Anṭūn Ḥaddād mit ihrem Frauenmagazin und die Iranerin408 nen Bībī Ḫānom Astarābādī (1858–1920) und Moḥtaram Eskandarī (1895–1925), die aus einem intellektuellen Elternhaus stammte und 1922 als Mitbegründerin und Führerin der ersten Frauenrechtsorganisation nach der Konstitutionellen Revolution Feminismus und Nationalgefühl verknüpfte. Der Verband und das 1930 in Rašt gegründete Organ „Kurier des Frauenglücks“ (Peyk-e saʿādat-e neswān) wurden später von Reżā Šāh verboten.

7.2 Ġarbzadegī – Westoxination Trotz der vergleichbar starken Einflussnahme westlicher Mächte in beiden Ländern, mit den bekannten negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, bestand im Libanon angesichts seines Bevölke404 Sadeq Hedayat, Sag-e velgard, in: Bahman Nirumand, Die blinde Eule, Frankfurt/M., 1990, S. 199 405 Sadeq Tschubak, Das berberitzenrote Kleid, Der Pavian, dessen Herr tot war, Die Verbrennung des Omar, sämtlich in: Bozorg Alavi, Die beiden Ehemänner – Prosa aus Iran, Berlin, 1984 406 Faraḥ Anṭūn (1874–1922), Journalist, Schauspieler und Verleger verschiedener politischer Zeitungen (u.a. “Al-Ǧāmiʿa” in Ägypten), Al-ʿilm wa’l-dīn wa’l māl aw al-mudun aṯ-ṯalāṯ, Alexandria, 1903 407 Khalil Gibran, Mein Volk starb, in: Die Stürme, Zürich, 1996, S. 94 408 Bībī Ḫānom Astarābādī, Maʿāyeb ar-rejāl (Die Laster der Männer)

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rungs- und Religionsmixes eine ambivalente Haltung zum Westen. Auch die Schia formierte sich am Mittelmeer nicht im selben Maße gegen den gemeinsamen, als „šaiṭān“ bezeichneten Feind aus dem Westen wie im Iran. Wie in der Diskussion um die Rolle der ʿulamāʾ bereits angemerkt, schlug sich die zunehmende Verwestlichung, für die der iranische Philosoph Aḥmad Fardīd hinsichtlich der Adaption griechischer Philosophie 1940 den Terminus ġarbzadegī geprägt hatte, in Gesellschaften der Länder des Osmanischen Reiches deutlicher nieder als 409 im Iran. Als tafarnuǧ wurde das Phänomen dort bereits 1860 durch den Journalisten Ḫalīl al-Ḫūrī in der satirischen Novelle „Way iḏan lastu bi Ifanǧī“ („Ach, ich bin kein Europäer“) in seinem 1858 in Beirut 410 publizierten Wochenmagazin Ḥadīqat al-Aḫbār thematisiert. Der Schriftsteller, Sozialkritiker und Sohn eines schiitischen Gelehrten Ǧalal Āl-e Aḥmad stellte den mit „westoxination“, „west-struckness“, „westitis“, „euromania“ oder „occidentosis“ ins Englische übersetzten Begriff ġarbzadegī 1952 in einen sozialpolitischen Kontext und 411 machte ihn populär. Ǧalal Āl-e Aḥmad verglich das Phänomen mit einer Heimsuchung, die hinsichtlich ihrer verheerenden Folgen der Cholera oder dem Befall mit Sägewespen gleichkomme, die iranische Kultur gefährde und sich auf das Land auswirke „wie eine Erfrie412 rung“. Im Zusammenhang mit der Widerstandsbewegung am Kaspischen Meer war der parallele Terminus ǧangalzadegī (“forestoxication”) ebenfalls schon 1940 geläufig. Bozorg Alavis Roman „Gīleh-Mard“ („Einer 413 aus Gīlān“) aus dem Jahre 1947 spiegelt die sozio-politischen Verhältnisse am Kaspischen Meer und die Situation der Aufständischen 409 Afaf Loutfi el-Sayed, 1968, S. 264-265 410 Bernard Lewis, Tafarnuǧ, in: EI-online, abgerufen am 09.05.2018, Donald J. Cioeta, Ottoman Censorship in Lebanon and Syria, 1876-1908, in: IJMES, Vol. 10, S. 169 411 Āl-e Aḥmad, Ǧalal, Gharbzadegi (Weststruckness), Lexington, 1982 (inoffiziell veröffentlicht im Iran 1962) 412 Mottahedeh, 1985, S. 296 413 Bozorg Alavi, Einer aus Gīlān, Hg. Touradj Rahnema, Berlin 1937, Ed. Orient, 1984

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um den als Sardār-e Ǧangal („Kommandant des Waldes“) bekannten Führer der Ǧangalī-Bewegung Mīrzā Kūček Ḫān in den Jahren 1915 bis 1921 wider. Dieser unterhielt ab 1918 Kontakte zur deutschen Gesandtschaft in Tehran und den deutschen Leitern des kaukasischen Spionagezirkels. Für die Bildung seiner 10.000 Mann starken Armee standen ihm deutsche und russische Berater zur Seite; Kriegsmaterial wurde aus den deutschen Mauserwerken geliefert. Mit seinem getreuesten Gefährten, dem „Wolga“-deutschen Offizier „Hušang Kaook“, war der 1880 in Rašt geborene Mīrzā Kūček Ḫān, um den sich viele Mythen ranken, in die Berge von Ṭāleš/Provinz Ardabīl geflohen, wo beide am 2. Dezember 1921 von einem Schneesturm überrascht wurden und erfroren. Mīrzā Kūček Ḫāns Kopf wurde zu Reżā Ḫān nach Tehran ver414 bracht und auf dem Parlamentsplatz öffentlich ausgestellt. Sein Tod machte den Sardār-e Ǧangal mit den Beinamen „Šaiḫ Yūnus“ und „Feridūn“ zum Märtyrer und rückte ihn nicht zuletzt in die Nähe der für die Schia so zentralen Persönlichkeit al-Ḥusains.

7.3 Taʿziyeh und Rauẓa-ḫwānī – Symbolik des schiitischen Islam

415

„Jeder Tag ʿĀšūrāʾ, jeder Ort Kerbelāʾ“ – 416 „Jedes Aug’ ein Sumpf, jedes Herz ein Grab …“

ʿAlī Šarīʿatī schreibt die schiitische Losung, die in Metapher und Anapher mit einer Sentenz aus dem Shāhnāmeh konnotiert, dem 6. Imam Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq zu. Der Leitspruch ist gleichzeitig Identifikationsmerkmal für alle Schiiten weltweit und erinnert mit den beiden für die Schia zentralen 414 Chaqueri, 1995, S. 129 ff. 415 Aus einer Kalligraphiesammlung zu ʿĀšūrāʾ, in: Enzyklopädie des Islam, abgerufen am 28.01.2009 416 ... voll Fluch jede Zung’ auf Afrasiab“, aus: Friedrich Rückert, Firdosis Königsbuch (Schahname), Sage XV-XIX, Berlin, 1894, Nachdruck: Berlin, 2010, S. 147

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Begriffen ʿĀšūrāʾ und Kerbelāʾ an Zeit und Ort eines dezisiven Ereignisses innerhalb der Genese der Schia: die Umstände des einseitigen Kampfes zwischen dem Prophetenenkel al-Ḥusain und der umayyadischen Truppe des irakischen Statthalters ʿUbaidallāh b. Ziyād. Er beinhaltet nicht nur den Kern schiitischer Identität und Legitimation, sondern sollte auch den später vollzogenen Schritt vom Quietismus zum Aktivismus rechtfertigen. Nach den Umtrieben, die mit den Nachfolgestreitigkeiten unmittelbar an den Tod des Propheten anschlossen, sollte der Widerstand des Prophetenenkels al-Ḥusain gegen die usurpatorische Herrschaft der Umayyaden zum Inbegriff des schiitischen Selbstverständnisses werden. Dessen gewaltsamer Tod bei Kerbelāʾ, der unter seinen Anhängern ein kollektives Schuldgefühl hervorrief, legte den Grundstein zur schiitischen Passion und formte damit den Charakter der „Partei ʿAlīs“. Schiitische Philosophie, Kultus, Weltanschauung und Habitus wurzeln im Martyrium des Prophetenenkels, das zum Paradigma der Auflehnung gegen ungerechte Herrschaft wurde. Die mannigfaltigen Überlieferungen der Ereignisse gehen im Wesentlichen auf das nicht mehr erhaltene Kitāb maqtal al-Ḥusain von Abū Miḫnaf (-157/774 Kūfa) zurück, dessen Abschriften Heinrich Wüstenfeld kompiliert und 417 übersetzt hat. Auf Parallelen zur persischen Legende aus Firdausīs Königsbuch mit dem Mord am „unschuldigen“ Prinzen Siyāvaḫš durch Afrāsiyābs Henker Gurui (oder Gerwi) wurde bereits hingewiesen. Der Enthauptung von Siyāvaḫš nahe der mythologischen Stadt Siyāvaḫšgird (vermutlich Buḫāra) ging, analog zu dem späteren Schicksal alḤusains, die Liquidation seiner 1000 Mann starken Kampftruppe vor418 aus. Auch heute noch gedenkt man – nach Leon Leszczyński vor allem in Buḫāra – des Todes von Siyāvaḫš, der gemäß seines eigenen Traumgesichtes durch seinen bei seiner Hinrichtung noch ungebore-

417 Heinrich F. Wüstenfeld, Der Tod des Ḥusein ben ʿAli und die Rache, in: Hamid Reza Yousefi (Hg.), Der tragische Märtyrertod des Imam Hussein, Würzburg, 2017 418 Rückert, 1894/2010, S. 132, 138, 139

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nen Sohn Kai Ḫosrō gerächt werden sollte. Ob und in welchem Bezug das „nachtschwarze Pferd“ („Šabrang behzād“) des Siyāvaḫš zu alburāq, dem Pferd des Propheten auf seiner Nachtreise steht, kann hier nicht entschieden werden. Die Benennung geht möglicherweise auf 420 das mittelpersische bārag (Ross) zurück. Bezüglich der Martyrienlegenden ist nicht auszuschließen, dass neben wesentlichen Bestandteilen aus dem überlieferten Schicksal des Zarēr (Zairivairi), der als Kommandant im Kampf für den zoroastrischen König Vištāsp/Goštāsp gegen den chionitischen König Arjāsp durch die Hand dessen Bruders Bīdafš fiel, noch älteres Material aus der zoroastrischen Schriftensammlung des Avesta in das Shāhnāmeh 421 eingeflossen ist. Auf die Studien Alessandro Bausanis, der „exakte“ Analogien vorislamischer Überlieferungen zum islamischen religionstheoretischen Korpus ausmachte, wurde bereits an anderer Stelle eingegangen. Dies muss nicht erstaunen: Die vornehmlich mündlichen Traditionen wurden erst in islamischer Zeit verschriftlicht. Firdausī stellte sein Shāhnāmeh um 1010 fertig; das mittelpersische Original des Dēnkart, ein Wissenskompendium der zoroastrischen Religion, entstand sehr wahrscheinlich um 1020 in einem weitgehend islamisierten persischen Milieu Baghdads als Verteidigungsschrift gegen die islamische Polemik. Die unterschiedlichen Versionen der Passionsüberlieferungen porträtieren Wesensmerkmale und Muster, die auch im mesopotamischen Raum geläufig sind: Ein aufopferungswilliger Kämpfer kommt durch einen verräterischen Widersacher grausam zu Tode und erfüllt dadurch sein prophezeites Schicksal. Über die möglichen Parallelen zu den Mythen und Ritualen des Dumuzi/Tammūz, die am selben Ort in Mesopotamien vollzogen wurden, reflektiert ausführlich B.D. Eerdmans und erinnert an Baghdad als Zentrum der Ḥusain-Verehrung, wo der Būjidenkalif Muʿizz ad-Daula 352 A.H. den 10. Muḥarram erstmals 419 Georg Léon Leszczyński, Siyawush, München, 1920, S. 251, 252 420 MacKenzie, 1971, S. 17 421 Ehsan Yarshater, Taʿziyeh and Pre-Islamic Mourning rites in Iran, in Taʿziyeh: Ritual and Drama in Iran, ed. P. Chelkowski, New York, 1979, S. 89 ff.

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zum offiziellen Feiertag erklärte, an dem weder Geschäfte betrieben, noch Klageweiber in der Stadt umhergehen oder Zelte für Trauerver422 sammlungen zur Ehre al-Huṣains aufgeschlagen werden sollten. Nach Ibrahim al-Haidari verbreitete sich der Brauch der Muḥar423 ram-Prozessionen über den Irak bis in den Libanon. Dort hat der persische Begriff rauẓa-ḫwānī für die Sänger, die an ʿĀšūrāʾ (erste zehn Tage des Monats Muḥarram) an den Märtyrertod von al-Ḥusain erin424 nern, sein Pendant im qārīʾ ʿazāʾ. Das Passionsspiel taʿziyeh um die Tragödie in Kerbelāʾ kennen libanesische Schiiten als timiṯilīya. Dem persischen Begriff qameh-zanī für Stirngeißelung entspricht der arabische Terminus laṭm. Bei den Devotionalien, die im Libanon am Rande der Feierlichkeiten vertrieben werden, handelt es sich überwiegend um 425 iranische Importwaren. Geißlerprozessionen gehören vor allem im südlibanesischen Nabaṭīye, wo sie durch „iranische Zuwanderer“ eingeführt worden sein 426 sollen, seit Ende des 19. Jahrhunderts ebenso zum ʿĀšūrāʾ-Ritual wie im Iran, wohin kaukasische Türken im 19. Jahrhundert die extreme 427 Form der Selbstgeißelung importiert haben sollen. Derartige Praktiken sind bereits aus dem spätantiken Ostturkestan bekannt. Trauerzeremonien als Kommemoration der Leidensgeschichte von Siyāvaḫš, in denen sich Frauen das Haar ausreißen, Männer sich schlagen und ihr 428 Gesicht mit Messern ritzen, „so dass Blut fließt“, waren im 7. Jahr429 hundert Teil sogdischer und ḫwārezmischer Tradition, die sich auch im manichäischen Brauchtum finden, wo sie sich mit zoroastrischen und buddhistischen Elementen vermischten. Dass versteckte Formen 422 Eerdmans, B.D., Der Ursprung der Ceremonien des Hosein-Festes, in ZA, Vol. 9, 1894, S. 280-307 (Online-Edition, abgerufen am 15.06.2017) 423 Ibrahim al-Haidari, Die Taʿzia, das schiitische Passionsspiel im Libanon, in: ZDMG, Suppl. III, 1, 1977, S. 430-437 424 Greussing, 1981, Editorial 425 Norton, 2007, S. 54 426 Halm, 1988, S. 179 427 Ivar Lassy, The Muharram Mysteries among the Azerbeijan Turks of Caucasia, Helsingfors, 1916, S. 60 428 Geo Widengren, Die Religionen Irans, Stuttgart, 1965, S. 325 429 Yarshater, 1979, S. 88-94

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des Aberglaubens („duʿā nevīsī“) durch die ʿĀmilī in den Iran gelangt 430 sind, führt Ismāʾīl Nūrī ʿAlā aus. Diesen Volksglauben konnte man 431 auch in Spanien ausmachen, wo er als „persisch“ identifiziert wurde. Es ist wahrscheinlich, dass ʿĀmilī, die nachweislich im Zuge des Rückflusses iranischer Militäreinheiten aus dem Jemen nach Mesopotamien und innerhalb der islamischen Eroberungsheere weiter nach Osten und 432 über das Mittelmeer nach Westen bis nach al-Andalus gelangten, auf diese Weise auch in Gebiete am Litoral kamen. Die Wirkmächtigkeit und Eigendynamik der schiitischen Symbolik hat vor allem in der Rhetorik einen hohen Stellenwert. Durch hagiographische Versatzstücke vornehmlich aus der Leidensgeschichte um al-Ḥusain getragene Reden erreichten zu allen Zeiten sämtliche Bevölkerungsschichten innerhalb des Schia-Universums. So auch in denen von Mūsā aṣ-Ṣadr, dessen legendäre Sprachgewalt im libanesischen Kollektivgedächtnis verblieben ist und der das Erwachen schiitischen Selbstbewusstseins im Libanon mit ebenso flammenden Reden beschwor wie charismatische Geistliche dies im Iran zu tun pflegten. Letztere ebneten durch dieses Instrument nicht zuletzt am Vorabend der Revolution 1978–79 einem politischen Umbruch den Weg.

7.4 Šahrbānū und die persischen Anteile an der schiitischen Hagiographie Neben historisch belegten Kontakten der Schiiten des Libanon zu denen im Iran weiß die Hagiographie von legendenhaften Familienbanden zum sāsānidischen Persien. Auch konstruierte Blutverwandtschaften wie im Falle des vierten Imams ʿAlī b. Abī Ṭālib wurden in der schiitischen Tradition gerne aufgegriffen. Gemäß der Überlieferung wurde seine Mutter Šahrbānū aus Siǧistān (neben den Namen Šāh430 Ismāʾīl Nūrī ʿAlā, Dar gorg wa mīsh e-andīše, Teil 1, Tehran, 2006, S. 20 431 Emilio García Gómez, Los Antojos de Embarazadas, in: Al-Andalus XVI, 1951, S. 490-493, Juan Vernet, 1978, S. 29, E. García Gómez, Usos y Supersticiones comunes a Persia y España, in: Al-Andalus, Vol. 22, 1957, S. 459-462 432 Al-Maqqarī, Nafḥ aṭ-ṭīb min ġuṣn al-Andalus,Vol. III, trsl. de Gayangos, 1843, S. 27

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zanān und Ǧihānšāh sind auch Barra, Ġazāla und Ǧaydā für sie überliefert), Tochter des letzten Sāsānidenkönigs Yazdgird III., mit al-Ḥusain verheiratet, um sie vor der Versklavung zu bewahren. Persische Wurzeln werden auch dem achten Imam Abū’l-Ḥasan ʿAlī b. Mūsā mit der nisba „ar-Riḍa“ nachgesagt, der 148/765 als Sohn einer nubischen Sklavin geboren wurde und im Iran als „Zamen-e ahn“ („Beschützer der Gazellen”) verehrt wird. Die testamentarischen Verfügungen Hārūn ar-Rašīds, die eine Aufteilung des Reiches zwischen seinen beiden Söhnen al-Amīn und al-Maʾmūn vorsahen, sollten sich schließlich auf eine politische Karriere von ʿAlī ar-Riḍā auswirken – ein Novum in der imamitischen Geschichte. Al-Maʾmūn, Sohn einer iranischen Mutter, trug ihm nach dem Tode seines Bruders al-Amīn auf Grund machtpolitischer Erwägungen die Thronfolge und Herrschaft über den Westen des Reiches an. Zur Sicherung der Loyalität wurden derartige politische Manöver traditionell durch Verschwägerung besiegelt und so beorderte al-Maʾmūn den Imam 201/816 von Medina in die Hauptstadt Ḫorāsāns nach Marw mit dem Zweck, seine Tochter zu ehelichen und die schwarze Fahne der ʿAbbāsiden gegen 433 das grüne Banner der Aliden auszutauschen. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen: Auf dem Weg nach Baghdad kam ʿAlī ar-Riḍā 203/818 bei Ṭūs gemäß der schiitischen Überlieferung durch vergifteten Trauben- oder Granatapfelsaft zu Tode und wurde nahe dem Grabmal von Hārūn ar-Rašīd in Mašhad, dem größten Pilgerzentrum Irans, beigesetzt.

433 Momen, 1985, S. 35 ff. und 41 ff.

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8 Wanderungen zwischen Ǧabal ʿĀmil und Zagros „Wanderungen“ haben viele Gesichter. Jochen Oltmer untersuchte das Thema und arbeitete die verschiedenen Migrationsformen heraus. Neben der individuellen und meist selbstgewählten Arbeits- und Bildungswanderung unterscheidet er bezüglich der massenhaften Gewaltmigration zwischen Deportation, Evakuierung, Flucht, Umsiedlung und 434 Vertreibung. Ursachen, Gründe und Auswirkungen der Wanderungen zwischen Ǧabal ʿĀmil und Zagros untersucht dieses Kapitel.

8.1 Initialkontakte und politisches Setting des Raumes Beziehungen innerhalb des „schiitischen Dreiecks“ (heutiger Iran, Irak, Libanon) knüpfen an Kontakte an, die schon im Altertum bestanden haben. Das Lehrzentrum im irakischen Naǧaf, das Geistliche aus allen schiitischen Gegenden ausbildete, war traditionell Drehscheibe internationaler schiitischer Intelligenz. Muqaddas Ardabīlī (-993/1585), führender Gelehrter seiner Zeit, übte von dort aus große Anziehungskraft auf eine Vielzahl von Studenten aus dem Iran und dem Ǧabal ʿĀmil 435 aus. Auch die iranische Gelehrtenschmiede Qom unterhielt damals, wie bereits gesehen, enge Verbindungen zum schiitischen Ǧabal ʿĀmil mit dessen seit den Tagen der Seidenstraßen wichtiger strategischer Bedeutung als Mittelmeeranrainer. Routen, die Handelsgüter nehmen, erwiesen sich damals wie heute auch als effektiv für den Kultur- und Ideentransfer zwischen den Völkern. Große territoriale Verbünde bieten über ihre Fernhandelswege seit jeher ideale Expansionsmöglichkeiten sowohl für Handels-, als auch für geistige Güter. „Als er am 29. Oktober 539 in Babylon einzog, nahm Kyros die traditionellen Titel an […]. Die riesige Satrapie, die er verwaltete, umfasste das Gebiet des alten chaldäischen Reiches; sie erstreckte sich über ganz Mesopotamien, Syrien, Phönikien und Palästina; so er-

434 Jochen Oltmer, Globale Migration, München, 2012, S. 18, 19, 25 435 Momen, 1985, S. 94

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schien das Reich des Kyros als die Vereinigung des Perserreichs 436 und des Königreichs Nebukadnezars.“

Der initiale Kontakt zwischen dem Achaimenidenreich und den nach 437 Angaben bei Herodot mutmaßlich vom „Erythräischen Meer“ stammenden Phöniziern fällt in die Zeit zwischen 539 und 332 v. Chr. Die Perser, die mit der Eroberung Babylons durch Kyros II. (550–530) auch die Levante unter ihre Herrschaft brachten, statteten phönizische Händler auf diese Weise mit einem riesigen Wirtschaftsraum aus, der 438 ihre Städte wirtschaftlich aufblühen ließ. Der Herrschaft Stratons, des philhellenischen Königs von Sidon im 5. Jahrhundert v. Chr., folgten nahezu zwei Jahrhunderte freundschaftlicher perso-phönizischer Beziehungen. Dareios I. (549–485 v. Chr.) hatte sein Reich in zwanzig Satrapien aufgeteilt, wonach Phönizien die Satrapien Tyrus, Aradus und Byblos umfasste. Hauptstadt der fünften Satrapie Syrien-Palästina, 439 Phönizien und Zypern war Sidon. Dieses „Abar-Nahara“ genannte Gebiet am westlichen EuphratUfer beschreibt Bengtson mit Blick auf die phönizischen Seestreitkräfte, die das auf dem Zenit seiner Leistungsfähigkeit stehende Persische Reich im Verbund mit den Flotten und Besatzungen der Ägypter, Ioner und Karer militärisch unterstützten, als von besonderem Wert für den 440 441 Großkönig. Von der als „Pax Persica“ bezeichneten Angleichung 436 Maurice Meuleau, Mesopotamien und das Perserreich, in: Hermann Bengtson, Griechen und Perser, Frankfurt/M., 1999, S. 331 437 George Campbell Macaulay, The History of Herodotus, englisch-griechische Bilingue, London, 1890, online abgerufen am 02.11.2015, Theodor Braun übersetzt Ἐρυθρῆς θάλασσα (Roter Ozean) als „Rotes Meer“: Das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos, Frankfurt/M., 2001, S. 15. Die Konfusion scheint sich in der Interpretationsunsicherheit um den griechischen Terminus ερυθρ|ός für „rot“ zu begründen. In altem Kartenmaterial wurde dieser griechische Begriff weiter gefasst als heute und bezeichnete Gebiete um den nordwestlichen Indischen Ozean – also auch den „Arabischen“-, bzw. „Persischen Golf“ und später den „Golf von Aden“. 438 Chehabi, 2006, S. 2 439 Hitti, 1967, S. 150 ff. 440 Hermann Bengtson, Griechen und Perser, Frankfurt/M., 1999, S. 53, 372/373 441 Hitti, 1967, S. 150-155

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der unterschiedlichen Reichsstrukturen im achaimenidischen Imperium profitierten auch phönizische Städte als maritime Verbündete der Perser in Kambyses’ Ägyptenfeldzug 525 v. Chr. und während der griechisch-persischen Seekriege auf der Seite von Xerxes bei Milet 494 und Salamis 480. Erst unter König Tennes (-350 v. Chr.) übernahm Sidon die Führung gegen Artaxerxes III. (359–338 v. Chr.), der die Stadt 442 schließlich vollständig zerstörte.

8.2 Deportationen und Umsiedlungen – fors und ḥamrāʾ „Um die Leere aufzufüllen, schreckte Muʿāwiya vor keinem Lü443 ckenbüßer zurück."

Deportationen großen Stils wurden Menschen aus dem syro-iranischen Raum seit alters her zugemutet. Im 6. vorchristlichen Jahrhundert verschleppte Nebukadnezar II. mehrmals große Bevölkerungsteile Judäas und kolonisierte sie in Babylon. König Phraates verpflanzte 175 v. Chr. die „Marder“ vom Kaspischen Meer als Hilfstruppen in die Gegend von 444 Mardin (und damit auch den Zoroastrismus ); in sāsānidischer Zeit hatte Šāpūr I. (reg. 241–272) Umsiedlungen von Syrern und anderen westlichen Bewohnern des römischen Reiches vornehmen lassen und gemäß Josef Wiesehöfer deportierte Šāpūr II. (reg. 309-379) nach einer „brutalen Arabienexpedition arabische Menschen nach Kirmān und 445 Ahwāz“. Jeweils Mitte September wird im Libanon am ʿid aṣ-ṣalīb des „wahren Kreuzes“ gedacht, das 614 durch Khosrō II. (590–628) von Jerusalem nach Ktesiphon verschleppt wurde, wobei gemäß der Überlieferung Perser im Libanon zurückgeblieben sein sollen. Mit den Eroberungskriegen ab dem 7. Jahrhundert und der Verlegung des Kalifatssitzes nach Damaskus rückte Syrien und damit auch die Küstenregion am Mittelmeer stärker ins Blickfeld islamischer Herrscher. In den Heeren befand sich, wie eingangs ausgeführt, auch eine 442 443 444 445

Hitti, 1965, S. 49 Balāḏurī , Futūḥ, 1992, S. 127 Helga Anschütz, Die syrischen Christen im Tūr ʿAbdīn, Würzburg, 1984, S. 11 Josef Wiesehöfer, Das antike Persien, Zürich, 1998, S. 261

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große Zahl iranischer Soldaten, die sich aus sāsānidischen Beständen rekrutierten. Henri Lammens führt diese gemeinhin al-ḥamrāʾ genann446 ten Kämpfer als „Sayābiġa“ und „Zoṭṭ“. Letztere scheinen nach deren Aufstand im Sawād 219/834 in den Nordosten des Landes nach Ḫānaqīn (pers.: Do-Ḫānag), einer Station auf der Straße von Baghdad über 447 Hamedān nach Ḫorāsān, deportiert worden zu sein. Weil ihre Nachkommen sich nie vollkommen assimilierten und sich vielmehr den im Irak „zahlreichen Unruhestiftern“ nach dem Tode ʿAlīs anschlossen, habe sie al-Muʿāwiya unter anderem an die Küste des Litoral depor448 tiert. Dass al-Muʿāwiya unliebsame Elemente zu zerschlagen suchte und sie massenhaft umsiedelte, scheint aus staatspolitischer Sicht be greiflich. Der im Iran geborene Islamwissenschaftler Reza Aslan hierzu: „[…] dann ordnete er [al-Muʿāwiya] die Zwangsumsiedlung derjenigen Nomadenstämme an, die sich nie als Teil der Umma be449 trachtet hatten und erweiterte damit seinen Machtbereich.“

Al-Muʿāwiya hatte als Statthalter von Syrien während der Eroberungskämpfe byzantinische oder pro-byzantinische Bewohner aus Sidon, Beirut, Ǧubail, Tripoli, ʿArqā und anderen Küstenstädten vertrieben und sah sich um das Jahr 663 zu der strategischen Maßnahme veranlasst, „Perser“ dorthin umzusiedeln – als Bollwerk gegen seeseitige by450 zantinische Angriffe. Für zahlenmäßig unbedeutende, ebenfalls dort neu-siedelnde halbnomadische Kämpfer, die von der Arabischen Halbinsel stammten, sollen indes weder die Topographie der neuen Umgebung noch die für sie ungewohnten meteorologischen Bedingungen, noch Kriegsführung im Gebirge oder Betätigung in der Landwirtschaft sonderlich attraktiv gewesen sein – zudem galten sie als des Hand451 werks und der Gepflogenheiten des maritimen Handels unkundig. 446 447 448 449 450 451

Lammens, 1929, S. 27 P. Schwarz, Khāniqīn, EI-online, abgerufen am 01.08.2018 Balāḏurī, Futūḥ, 1992, S. 59, 117, Lammens, 1929, S. 27 Aslan, 2006, S. 196 Yaʿqūbī, 1992, S. 327 Hitti, 1967, S. 244

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Der mittelalterliche Historiker und Geograph al-Yaʿqūbī (-278/891) erwähnt im Zusammenhang mit den Banū ʿĀmila in den Bergen von Ṣaidā, dass die gesamte Bevölkerung der Bezirke Ǧubail, Beirut und Ṣaidā aus „Persern“ bestanden habe und selbst die Einwohnerschaft 452 Baalbeks persisch gewesen sei – was vermutlich eine Übertreibung ist. Weiter berichtet er, dass man in ʿArqā, einer kleinen Stadt nordöstlich von Tripolis, auf „deportierte Perser“ stoße und auch für Tripolis selbst beschreibt er die Anwesenheit sogenannter fors, die von alMuʿāwiya I. dorthin verbracht worden seien. Wer sind nun diese fors, die an die Randzonen des damaligen Umayyadenreiches bis ans östliche Mittelmeer transferiert wurden? Liegt ihr Ursprung möglicherweise im schiitischen Bahrain, das unter Ardašīr im 2.–3. Jahrhundert n. Chr. persisch beherrscht war, oder handelte es sich um Schiiten aus dem Jemen, der im 6. Jahrhundert vom Sāsānidenreich dominiert wurde? Dass jemenitische Kämpfer, die mit ihrer Entourage die muslimischen Truppen verstärkten, die große Mehrheit der Kämpfer in den Eroberungsheeren bildeten, zeigt ʿAbd alMuhsin Madʿaj M. al-Madʿaj in seiner Auflistung jemenitischer Stäm453 me, die sich in Syrien, im Irak und in Ägypten niedergelassen haben. Man weiß inzwischen, dass jener „Transfer“ analog der Eroberungen langsam und in weiten Etappen vor sich ging und von dem Strom der „Araber“, der im Laufe der islamischen Expansion und während der späteren Kreuzzüge in den Fruchtbaren Halbmond gelangte, nur ein schwaches Rinnsal die Levante erreichte, um dort verlassene Behausungen vertriebener Byzantiner oder deren Sympathisanten zu beziehen. Dass es dort nicht mehr gegeben habe als einen „kleinen Sieg“, wie der mittelalterliche Geograph al-Balāḏurī konstatiert, scheint aber eine elegante Untertreibung zu sein. Obwohl sich während des ersten Vierteljahrhunderts nach der Hiǧra arabische und byzantinische Herrschaft in den Küstenstädten ständig abwechselten, behielten die Byzan454 tiner die Oberhand über das Meer, das die „starrköpfigen Beduinen“ 452 Al-Yaʿqūbī, 1992, S. 327 453 ʿAbd al-Muhsin Madʿaj M. al-Madʿaj, 1988, S. 83-92 454 Lammens, 1929, S. 24

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mieden. In dieser Situation, so al-Balāḏurī, dessen Beschreibung der Umsiedelungspolitik al-Muʿāwiyas etwas detaillierter ausfällt als die bei al-Yāʿqūbī, habe der Kalif einen beträchtlichen Anteil der umliegenden Bevölkerung deportiert. Von ihm ist zu erfahren, dass im Jahre 42 A.H. „einige Perser und andere“ von Baalbek, Ḥomṣ, Baṣra, Kūfa und Antiochia an die Ufer des Jordans sowie an die Küste nach Ṣūr, Akko und anderen Orten transferiert und möglicherweise sogar im selben 455 Jahr persische bewaffnete Kavallerie, „gewisse asāwirah“, von alBaṣra und al-Kūfa und „gewisse Perser“ von Baalbek und Ḥomṣ nach Antiochia am Orontes umgesiedelt worden seien, und mit ihnen deren 456 Führungspersönlichkeiten, Handwerker und Zimmerleute. In seiner „Geschichte Beiruts“, deren Handschrift in der Biblio thèque Nationale in Paris aufbewahrt wird, liefert Ṣalīḥ b. Yaḥyā (-839/ 1436), der drusische Historiker und Amīr der Drusenfamilie Banū Buḥtur aus dem Gebiet zwischen Beirut und Ṣaidā, eine Kurzzusammenfassung des Textes von al-Balāḏurī und berichtet über einen arabischen Clan aus Nordsyrien, der dem Stamm der Tanūḫ angehört habe und 457 dem er selbst entstamme. Ab 1150 habe sich der Clan, der im 12. und 13. Jahrhundert zur Verteidigung Beiruts und der libanesisch-syrischen Gebirgsgrenze beigetragen und zwischen dem Damaszener Atabeg und den Kreuzfahrerstaaten vermittelt hatte, nach seinem Oberhaupt Buḥtur b. ʿAlī, Banū Buḥtur benannt. Die Geschichte dieses Stammes reflektiert tatsächlich die Migrationsbewegungen ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. von der Arabischen Halbinsel in den Fruchtbaren Halbmond nach al-Ḥīra und Hatra, die auch die mit ihnen affilierten Azd und Laḫm vollzogen hatten. Als Hauptverbündete der Byzantiner konvertierten Teile der Tanūḫ erst nach der Schlacht am Yarmūk zum Islam und zogen sich im 8. Jahrhundert in die Bergregion zwischen al-Lāḏikīya und Ḥomṣ bis südlich 455 Balāḏurī , Futūḥ, 1968, S. 180 456 Gem. Hitti, 1966, S. 180: Großvater des ʿAbdallāh b.-Ḥabīb b. an-Nuʿmān b. Muslim al-Anṭālī 457 Ṣāliḥ b. Yaḥyā, Tārīḫ Bayrūt, Beirut, 1969; Fonds arabe n. 1670. cf.: Carl Brockelmann, G.A.L. Vol II, S. 12, 47

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von Beirut zurück, wo sich namentlich der Clan der Banū Buḫtur als erste muslimische Gruppe im Libanon etablierte und bis zur osmani458 schen Besetzung die Oberhoheit innehatte. Iraner wurden noch bis nach der Eroberung Nord-West-Irans durch Süleyman den Prächtigen 1534 von Tabrīz an die nördlichen Ausläufer des Libanongebirges (Cebel-i Lübnan) umquartiert. Unter ihnen befanden sich die Vorfahren der schiitischen Ḥamāda von Ǧubail (Byblos), die Ende des 15. Jahrhunderts bis ins 18. Jahrhundert hinein 459 den Nordlibanon dominierten. Familiennamen wie ʿAǧamī oder Īrānī deuten auf die iranische Herkunft von Menschen hin, die möglicher 460 weise aus dem osmanischen Irak ans Litoral gelangten. Wie nun aber ist die Existenz der vorbenannten fors in Baalbek vor der Hiǧra zu erklären? Man weiß, dass diese Stadt später Einwohner hatte, die man mit den fors in Verbindung brachte, wobei aber nicht klar auszumachen ist, ob es sich hierbei um die bereits erwähnten, durch al-Muʿāwiya Umgesiedelten handelt, oder um deren Landsleute, die gemäß al-Balāḏurī schon vor den Eroberungen in Baalbek etabliert waren. Weil so die Termini fors und ḥamrāʾ weiteren Anlass zur Spekulation boten und auch die Herkunft sogenannter métouali nicht befriedigend aufgeklärt war, versuchte man, eine Verbindung zwischen den dreien herzustellen.

8.3 Pendler zwischen den „Schia-Welten“ – Salmān al-Fārisī – Pionier der ersten Stunde Unter die Rubrik „individuelle“ Migranten fallen neben dem Prophetengefährten Salmān al-Fārisī die Reisenden Naṣīr-e Ḫosrou wie auch Ibn Buṭlān, die uns mit ihren Reiseberichten eine reiche Fundgrube an Informationen hinterlassen haben, und nicht zuletzt die vielen Gelehrten, denen dieses Kapitel zugedacht ist. Ihre Biographien legen Zeugnis ab von den sozio-politischen Umständen der Zeit und von den hin458 Shahīd, Irfan, Tanūḫ, in: EI online, abgerufen am 17.08.2017 459 Chehabi, 2006, S. 8 460 Bärbel Reuter, ʿĀšūrāʾ-Feiern im Libanon: zum politischen Potential eines religiösen Festes, Münster, 1993, S. 54-55

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sichtlich der persönlichen Schicksale nicht selten dramatischen Konsequenzen der engen Verflechtung von Politik und Religion. Erster prominenter „Pendler“ zwischen der iranischen und der libanesischen „Schia-Welt“ ist gemäß der Überlieferung Salmān al-Fārisī mit dem Patronym (kunya) Abū ʿAbdallāh. Die persische Form seines Namens ist Salmān-e Pak oder Salmān-e Farsī; sein Geburtsname war 461 Rūzbeh oder Māhbeh. Er entstammte einer zoroastrischen Adelsfamilie aus der Nähe von Iṣfahān – anderen Berichten zufolge aus der Nachbarschaft von Rāmhurmuz. Sein Vater soll ihn in seiner Funktion als dehqān von Ǧaiy, dem heutigen Šahrastān, mit dem Hüten des Feuers im Tempel beauftragt haben. Eine auswärtige Verpflichtung, die sein Vater ihm übertrug, habe der ansonsten wohlbehütete Sohn dazu genutzt, um Kontakte zu Christen aufzunehmen, sei schließlich der heimischen Enge entflohen und mit einer Karawane nach Syrien gezogen, wo er unter Anleitung eines Mönchs zum Christentum konvertiert und Asket geworden sei. Sein weiterer Weg habe ihn nach Jerusalem, Damaskus und Alexandria geführt, wo ihm sein letzter Lehrer 462 noch auf dem Totenbett die Ankunft eines Propheten vorhersagte. Aus diesem Grund, so die Tradition, habe er sich in ʿAmūrīya/ Phrygien gegen Geld einer Karawane des Stammes al-Kalb angeschlossen, der ihn jedoch in Wādī al-Qurā (im nördlichen Ḥiǧaz) an einen Juden veräußerte. Dieser wiederum soll ihn an die Banū Quraiẓa nach Yaṯrib weiterverkauft haben. Nach gelungener Flucht habe er sich auf den Weg nach Mekka gemacht, das er aus der Vorhersagung als Tema kannte, um dort den Propheten aufzusuchen. Einer anderen Überlieferung zufolge soll er Muḥammad, den er anhand der Beschreibungen seines Lehrers erkannte, kurz nach der Hiǧra in Yaṯrib getroffen ha463 ben und von ihm nach der Konvertierung zum Islam aus der Versklavung freigekauft worden sein. Salmān al-Fārisī gilt demnach als der erste nichtarabische Muslim und verweigerte Abū Bakr nach dem Tod des Propheten den Treueeid. Der Überlieferung zufolge war er Au461 Gibb/Kramers, 1961, S. 500 462 Vgl. Deuteronomium 18:18 und Jesaja 21:13-14 463 Gibb/Kramers, 1961, S. 500

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genzeuge des Gottesurteils über die Christen von Naǧrān und enger Gefährte ʿAlīs. Als eine der bedeutendsten Figuren des frühen Islam kommt ihm, um den sich viele Legenden ranken, eine Sonderrolle zu. In den Traditionen der Nusairier sowie der ġulāt mit deren Tradenten al-Mufaḍḍal b. ʿUmar, wie auch im bereits mehrfach erwähnten Kitāb al-haft wa‘l-aẓilla gilt er auf Grund eines von ʿAlī an Abū Ḏarr überlie464 ferten Wunders als bāb des göttlichen ʿAlī. Das Salmān al-Fārisī zugeschriebene Zitat interpretieren Imamiten als Parteinahme des Propheten für ʿAlī und dessen Designation als Nachfolger: 465

„Kardīd o nakardīd“ („Ihr habt gehandelt und nicht gehandelt“)

Dieser Ausspruch soll sich auf Salmān al-Fārisīs Kritik an den Muslimen gründen, die sich der beispielhaften Autorität des Propheten entzogen hätten und die er mit den gottlosen Israeliten und deren Erhebung gegen Aaron vergleicht. Sure 5:54 enthält eine Anspielung, die als Hinweis auf die Bedeutung des Herkunftsvolks Salmān al-Fārisīs 466 gilt. Schiitischen Quellen zufolge soll der vor der sogenannten „Grabenschlacht“ im Jahre 5/627 gefasste Plan zur Aushebung eines Grabens 467 um Medina von Salmān al-Fārisī stammen. In Ermangelung authentischer Berichte darüber sind Versuche unternommen worden, den Ur468 heber der Idee an der Etymologie des Begriffes al-ḫandaq (pers.: der 464 Halm, 1981, S. 33, 34 465 Richard Yann, Der verborgene Imam, Berlin, 1983, S. 14 466 Paret, 2001, S. 85: „Ihr Gläubigen! Wenn sich jemand von euch von seiner Religion abbringen lässt (und ungläubig wird, hat das nichts zu sagen). Gott wird (zum Ersatz dafür) Leute (auf eure Seite) bringen, die er liebt, und die ihn lieben, (Leute), die den Gläubigen gegenüber bescheiden sind, jedoch die Ungläubigen ihre Macht fühlen lassen, und die um Gottes willen kämpfen und sich (dabei) vor keinem Tadel fürchten.“ 467 Ibn Hišām, Sīra, 1936, S. 677/8 ff. Die Vorgänger scheinen allerdings nichts Derartiges berichtet zu haben. 468 MacKenzie, 1971, S. 46: von mp: kn-dn, graben, zerstören, schleifen (militärisch), aram.: ḥpr

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Graben) festzumachen. Nach dem Zusammenbruch des Sāsānidenreichs soll Salmān al-Fārisī die Stelle des ersten Gouverneurs der ehemaligen Sāsānidenhauptstadt bekleidet haben und mit den ʿAbd alQays in al-Kūfa verbündet gewesen sein, mit denen auch die persischen ḥamrāʾ alliiert waren. Dort sei er als dastūr dinyār vom Propheten persönlich mit der Anfertigung der ersten Übertragung des Qurʾān 469 ins Persische beauftragt worden. Horovitz schreibt die legendäre Überhöhung den tendenziösen Darstellungen des Historikers Ṣaif b. 470 ʿUmar (-ca. 180/796) zu, der Salmān al-Fārisī auf diese Weise zum 471 Nationalhelden des islamisierten Persien und der šuʿūbīya stilisierte. Im Alter von 88 Jahren soll Salmān al-Fārisī 36/656 in al-Madāʾin gestorben und beigesetzt worden sein, wo er bis heute als Lokalheiliger 472 verehrt wird.

8.4 Die Goldkette – silsilat aḏ-ḏahab Schiitische Gelehrte des Ǧabal ʿĀmil „Ismāʿīls Werk, die Schiʿitisierung Persiens, wäre wohl ohne ʿAlī b. ʿAbd al-ʿAlī al ʿĀmilī und seine Landsleute nicht vollendet wor473 den.“

Nach Albert Hourani, der in seinem Aufsatz die prominentesten Ge474 lehrten auflistet, die aus dem Ǧabal ʿĀmil hervorgegangen sind, handelte es sich dort um keine in der Region isolierte schiitische Enklave: Schiitisch war im 10.–12. Jahrhundert auch das Gros der muslimischen 469 Joseph Horovitz, Salmān al-Fārisī, in: Der Islam. Vol. XII, 1922, S. 179 470 Marianne Engle Cameron, Ibn ʿAsākir and early Islamic History, ed. James E. Lindsay, New Jersey, 2001, S. 62 ff. zu Ṣaif b. ʿUmar und dessen Rolle in der frühen arabischen historiographischen Tradition. 471 EI1, Vol. IV: Šuʿubīya: „Brüderlichkeit und Gleichheit aller Muslime und arabischer Stämme (kabāʿil)“ im Versuch der unterworfenen Rassen (šuʿub/aǧām), ihre Eigenart zu bewahren. Für den erweiterten Begriff der Šuʿubīya s. Ende, Arabische Nation und Islamische Geschichte, S. 233 ff. 472 Zakeri, 1995, S. 306 473 Erika Glassen, Schah Ismāʿīl I. und die Theologen seiner Zeit, in: Der Islam, Vol. 48, Berlin, New York, 1972, S. 268 474 Hourani, 1986, S. 133

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Bevölkerung während der Regierungszeit der schiitischen Dynastie der Hamdaniden (279–394/892–1003-4) in Aleppo. Der Reisende Naṣīr-e Ḫosrou, der 1047 durch Ṣūr kam, berichtete, dass dort ein sunnitischer qāḍī die juristischen Angelegenheiten der überwiegend schiitischen Bewohner regelte. Knapp hundert Jahre später beobachtete der andalusische Reisende und Schriftsteller Ibn Ǧubayr in Damaskus einen Überhang an Schiiten, von denen sich die Imamiten, Rāfiḍīten, Zaiditen, Is475 mailiten und Nusairier abspalteten. Wieder ein halbes Jahrhundert später zitiert Yāqūt b. ʿAbdallāh arRūmī in seinem geographischen Wörterbuch den 458/1066 in Baghdad verstorbenen christlichen Arzt und Reisenden Ibn Buṭlān, der Aleppo Mitte des 11. Jahrhunderts besuchte und beobachtete, dass dortige Studenten des Rechts ihre fātāwā in Übereinstimmung mit dem imamiti476 schen maḍhab erließen. Einen beträchtlichen Impetus erhielt die imamitische Gelehrsamkeit während der Būjidenherrschaft im 4./10. Jahrhundert mit al-Murtaḍā (355–436/967–1044) und in der Seldschukenzeit im 11./12. Jahrhundert erlebten imamitische Gemeinschaften im Irak, am Kaspischen Meer und im ostiranischen Ḫorāsān einen Aufschwung. In der überwiegend sunnitisch geprägten Mongolen- und ĪlḪānzeit des 13./14. Jahrhunderts sorgten Gelehrte wie al-Mufīd (-413/ 1032), Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī und al-Muṭahhar al-Ḥillī (648–726/1250– 1325) für den Erhalt einer gewissen Stabilität schiitischer Religiosität. Nach der mongolischen Eroberung der schiitischen Hochburgen Qom und Baghdad hatte das von den Ῑl-Ḫānen protegierte und daher verschonte al-Ḥilla im Irak deren Rolle übernommen und brachte zwei für das imamitische Recht führungsweisende Gelehrte aus den Reihen der traditionsreichen schiitischen Theologenfamilien hervor: Naǧm adDīn Ǧaʿfar b. Ḥasan b. Yaḥyā al-Ḥillī, genannt al-Muḥaqqiq al-Awwal 475 Ibn Ǧubayr, Ar-Riḥla, ed. M.J. de Goeje, Leiden/London, 1907, S. 380 Abū’l-Ḥasan Muḥammad b. Aḥmad al-Kinānī b. Ǧubayr (Valencia 540/1145– 614/1217) unternahm 578/1183 eine Pilgerfahrt nach Mekka und besuchte auf der Rückreise nach Granada u.a. Mosul, Aleppo und Damaskus. 476 Yāqūt, Muʿǧam al-buldān, Beirut, 1375/1956, S. 283. Yāqūt b. ʿAbdallāh arRūmī, arab. Kompilator (570/1179–626/1229), vollendete sein Wörterbuch zwei Jahre vor seinem Tod.

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(602–676/1205–1277), der der uṣūlī-Bewegung einen Anstoß gab, sowie den bereits erwähnten, einflussreichen Ǧamāl ad-Dīn Ḥasan b. Yūsuf b. ʿAlī b. al-Muṭahhar al-Ḥillī, der unter seinem Ehrennamen al-ʿAllāma geläufig ist und in al-Ḥurr al-ʿĀmilīs biographischem Lexikon Amal al477 āmil fī ʿulamā Ǧabal ʿĀmil Erwähnung findet. Als erster schiitischer Gelehrter mit dem Beinamen Āyatollāh siedelte er um das Jahr 705/ 1305 an den Hof in Tabrīz um, wo er den Ῑl-Ḫān Ölǧäitü zur Schia konvertiert haben und wo die imamitische Schia erstmals zur „Staatsreli478 gion“ erklärt worden sein soll. Nicht überall standen die Zeichen so günstig für schiitische Autoritäten aus dem Ǧabal ʿĀmil. Für die permanente Gefahr der Verfolgung schiitischer Gelehrter in sunnitischem Umfeld stehen ebenfalls zwei, in dieser Arbeit mehrfach erwähnte Gelehrte, die allgemein als der „erste“ und der „zweite“ schiitische Märtyrer bekannt sind: Der 734/1333 in Ǧizzīn geborene Šahīd al-Awwal, Šams ad-Dīn Abū ʿAbdallāh Muḥammad b. Makkī al-ʿĀmilī al-Ǧizzīnī studierte im rationalistischen al-Ḥilla unter anderem bei Faḫr al-Muḥaqqiqīn und Ibn Maʿūya. In Damaskus wurde er unter Anwendung der taqīya zum führenden Gelehrten der Stadt. Als Oberhaupt der schiitischen Gemeinde erteilte er Rechtsgutachten aller vier sunnitischen Rechtsschulen und leistete einen wichtigen Beitrag zu fiqh und uṣūl al-fiqh. Sein wichtigstes Werk ist das bereits erwähnte und dem letzten Sarbedārenherrscher Ḫwāǧa ʿAlī b. Moʿayyad von Ḫorāsān gewidmete al-Lumaʿa ad-Dimašqīya, das wäh479 rend seiner einjährigen Haft bis kurz vor seiner Exekution entstand. Den Überlieferungen zufolge wurde er 786/1384 auf Grund unklarer Anschuldigungen hingerichtet. Der zweite schiitische Märtyrer (Šahīd aṯ-Ṯānī) aus dem Ǧabal ʿĀmil war der 911/1506 in Ǧubāʿ geborene Šaiḫ Zain ad-Dīn b. ʿAlī al480 ʿĀmilī al-Ǧubāʿī b. Šawwāl. In Ǧubāʿ, dem Ort, wo bereits sein Vater, 477 Al-Ḥurr al-ʿĀmilī, Muḥammad b. al-Ḥasan, Amal al-amil fī tarāǧim (ḏikr) ʿulamāʾ Ǧabal ʿĀmil”, ed. Aḥmad al-Ḥusaynī, Vol. 1, Baghdad, 1965-66 478 S. H. M. Jafri, Al-Ḥillī, in EI online, abgerufen am 03.07.2017 479 Mazzaoui, 1972, S. 67 480 Harald Löschner, Die dogmatischen Grundlagen des šiitischen Rechts, Köln,

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später auch seine Kinder und Enkel ihre Ausbildung in schiitischer Rechtsprechung erhielten, begann sich seine eigene akademische Nische klar abzuzeichnen. Sein Werdegang ist typisch für viele ʿĀmilīGelehrte, die schon früh den religiösen Unterweisungen ihrer professionellen Väter unterzogen wurden. In Ǧubāʿ erteilte ihm sein Vater Nūr ad-Dīn ʿAlī, bekannt als Ibn al-Ḥuǧǧa (oder al-Ḥāǧǧa), juristischen und sprachlichen Unterricht. Danach studierte er bei Šaiḫ al-Maisī in Mais/Ǧabal ʿĀmil und dem Muḥaqqiq al-Karakī. Sein Weg führte ihn 937/1530 nach Damaskus, 942/1535 nach Ägypten und 951/1544 nach Istanbul, wo er jeweils bei sunnitischen Gelehrten hörte. 951/1544 erhielt er einen Lehrauftrag an der sunnitischen Nūrīya in Baalbek/Be481 kaa. Auch er praktizierte taqīya und lehrte, wie schon der erste Märtyrer, neben den vier sunnitischen Rechtsschulen auch das ǧaʿfaritische Recht. Sein wesentlicher Beitrag war – unter Anwendung einschlägiger Kenntnisse aus den sunnitischen Schulen – die Standardisierung der Dirāyat al-ḥadīṯ, das Studium und die Klassifizierung des ḥadīṯ. Sein Šarḥ al-lumaʿa gilt als Meilenstein in der zwölferschiitischen Lehre und sein Hauptwerk Rauḍat al-bahīya kommentiert das Werk al-lumaʿa ad-Dimašqīya des Šahīd al-Awwal. Er war außerordentlich vielseitig interessiert, studierte medizinische Arbeiten von Šams ad-Dīn Muḥammad b. Makkī in Damaskus und befasste sich mit Algebra, Astronomie und der Lichtlehre des Šihāb ad-Dīn Yaḥyā as-Suhrawardī, dem „Šaiḫ al-Išrāq“. Obwohl er eine moderate Version des Sufismus favorisierte und gnostischer Poesie (ʿirfānī) zugeneigt war, warnte er auf Grund deren Abweichung von zwölferschiitischen Grundlagen vor der Mitgliedschaft in diversen Sufiorden (ṭuruq) und denunzierte sogenannte ẓāhirī (Externalisten), die „in ihren ramponierten Klamotten 482 und mit dem Rosenkranz herumstreiften“. Unter seinen Studenten Berlin, Bonn, 1971, S. 33 481 Anders als in den oben erwähnten ʿĀmilī-Schulen erlaubte der Lehrplan der Nūrīya neben dem šāfiʿitischen, hanbalitischen, hanafitischen und dem mālikitischen auch die Unterrichtung im ǧaʿfaritischen Recht. 482 Abisaab, 1999, S. 18

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befanden sich Šaiḫ Ḥusain, Vater von Šaiḫ al-Bahāʾī und Sayyid ʿAlī b. Ḥusain as-Sāʿiġ, dem Lehrer von Muqaddas Ardabīlī. Trotz seines Vorbehalts gegen die Ṣafaviden plante er offenbar eine Reise nach Ḫorāsān 483 – die er allerdings nie antrat. Ein von ihm vormals verurteilter Mann hatte beim Wālī (Präfekt) von Ṣaidā Beschwerde gegen ihn eingelegt, woraufhin der Kleriker 966/1558 nach Istanbul vorgeladen wurde. Dort, oder auf dem Weg dorthin, beschloss er sein Leben. Seiner Nachkommenschaft kam eine wichtige Rolle zu – nicht zuletzt seinem Sohn ʿAbd al-ʿAlī, der zum obersten muǧtahid seiner Zeit berufen wurde. Zwölf der Abkömmlinge des Šahīd aṯ-Ṯānī wurden ebenfalls angesehene ʿulamāʾ und gingen zusammen mit weiteren Nachkommen als Zeichen der Anerkennung ihrer Erfolge und Frömmigkeit unter dem Namen silsilat aḏ-ḏahab (die Goldkette) in die Geschichte der Schia ein. Diese Reihe setzt sich mit seinem ebenfalls in Ǧubāʿ geborenen Sohn Ǧamāl ad-Dīn, Šaiḫ Ḥasan b. Zain ad-Dīn al-ʿĀmilī al-Ǧubāʿī, dem Ṣāḥib al-Maʿālim (959–1011/1552–1602) fort. Der war beim Tod des Vaters sieben Jahre alt und unter dem Ehrennamen Ibn Šahīd aṯṮānī und Kātib al-Uṣūliyīn bekannt. Er hörte bei Sayyid ʿAlī b. Ḥusain as-Sāʿiġ, dem bereits erwähnten Studenten des Šaiḫ aṯ-Ṯānī, und zusammen mit seinem engen und lebenslangen Freund Sayyid Muḥammad b. ʿAlī (-1009/1600) studierte er bei Ḥusain b. ʿAbd aṣ-Ṣamād, dem Vater des Šaiḫ al-Bahāʾī, im Libanon und den beiden persischen Klerikern ʿAbdallāh al-Yazdī (-981/1573) und Aḥmad b. Muḥammad al-Ardabīlī (-993/1585) in Naǧaf. Jene hatten das Ṣafavidenreich verlassen und in Befürchtung einer Zwangsrekrutierung durch Šāh ʿAbbās I gar von einer Pilgerfahrt nach Mašhad abgesehen. Šaiḫ Ḥasan b. Zain adDīn ist Autor des Maʿālim fi‘d-Dīn, aus dessen Einführung das Maʿālim fi‘l-Uṣūl, ein Standardwerk des uṣūl al-fiqh entnommen ist. Unter seinen Studenten befand sich Šaiḫ ʿAbd as-Salām, Vater von Šaiḫ Muḥammad, al-Ḥurr al-ʿĀmilī.

483 Stewart, 1996, S. 90

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8.4.1

Migrierende Gelehrsamkeit

“It was under Ottoman domination that the Shi’a population of Lebanon, and specifically that of Jabal ‘Amil, reinforced their ties 484 with their coreligionists in Iran.”

Ohne die Grundlagenwerke zwölferschiitischen Denkens aus Kreisen der ʿĀmilī, Qaṭīfī oder Baḥrānī, so Majed Halawi, wäre weder die Schiitisierung des Iran denkbar gewesen noch die moderne Forschung über 485 die Schia. Mit Ibn Mayṯam al-Baḥrānī (-679/1280) und dem bereits erwähnten ʿAllāma al-Ḥillī begannen sich scholastische Bewegung, Sufismus und Zwölferschiismus mit der schiitischen Lehre zu verquicken. Diese Entwicklung erreichte mit Ḥaidar-e Āmolī (ca. 719–787/1319– 1385) ihren Höhepunkt. Muḥammad b. ʿAlī b. Abī Ǧumhūr al-Aḥsāʾī (ca. 837/1433-4), der in Naǧaf und Karak Nūḥ studiert hatte, transportierte sie weiter. Im 14. Jahrhundert führte der aus Nabaṭīye stammende und in Ǧizzīn residierende Muḥammad b. Makkī al-ʿĀmilī (734– 486 786/1333–1384) die Theorien der Schule von al-Ḥilla im Libanon ein. Erst im späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert – al-Ḥilla war 857/ 1453 von den Anhängern des im Südirak 840/1436 als Reinkarnation des Imam Mahdī aufgetretenen ʿAlī b. Muḥammad b. Falāh, einem ehemaligen Schüler von al-Ḥilla und Gründer der extremen Mušaʿšaʿ-Sek487 te, niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht worden – wurde der Ǧabal ʿĀmil zum führenden Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit, das Studenten aus der gesamten arabisch- und persischsprachigen Welt anzog und nicht weniger als 158 lizenzierte Gelehrte hervorbrachte, von denen sich viele später im Iran, Irak und in Mekka nieder488 ließen. Im Laufe der Jahrhunderte entstand – nicht zuletzt durch grenzüberschreitende Ehebündnisse innerhalb der Theologenfamilien – eine Art zwölferschiitischer Gelehrtenaristokratie, deren religiös-poli484 Halawi, 1992, S. 31 485 Mazzaoui, Michel M., Shi’ism and Ashura in South Lebanon, in: Chelkowski, P., Taʿziyeh Ritual and Drama in Iran, New York, 1979, S. 229 486 Halm, 1988, S. 167 487 Momen, 1985, S. 99 488 Abisaab, 1999, S. 15

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tischer Einfluss auf die schiitischen Gemeinden im Iran, Irak und im Libanon bis heute beträchtlich ist: So spielt bis in unsere Tage hinein die ursprünglich aus dem Libanon stammende Familie Ṣadr, die von Naǧaf 489 ausgehend ein dichtes schiitisches Netz spann, quasi als Motor einer „Schia-Internationale“ eine zentrale Rolle. Weil die Entwicklung der zwölferschiitischen Lehre maßgeblich von Theologen aus dem Ǧabal ʿĀmil als Nukleus schiitischer Gelehrsamkeit ausging, wurden noch vor Beginn der Regierungszeit von Šāh ʿAbbās und dem südlibanesisch-iranischen Gelehrtentransfer in großem Stil Studenten aus dem Iran vornehmlich an die schiitischen Lehr490 anstalten nach Ǧubāʿ, Mais und Karak Nūḥ entsandt, die eine erhebliche Anziehungskraft ausübten – unter anderen auf Nāṣir b. Ibrāhīm al-Buwaihī, einen Abkömmling der iranischen Būjiden, der sich in ʿAinātā an der Schule von Ẓāhir ad-Dīn b. al-Ḥusām al-ʿĀmilī einschrieb und seine Kenntnisse in Jurisprudenz und Arithmetik später an ʿĀmilī-Studenten weitergab – so an Zain ad-Dīn ʿAlī b. Yūnus al-Nabaṭī al-Bayādī (-877/1472), dem Autor von mindestens elf Arbeiten über Logik (manṭiq) sowie weiterer über dogmatische Theologie (kalām), Doktrin und Philosophie. Al-Buwaihī lebte im Ǧabal ʿĀmil, bis 491 er dort 853/1449 an der Pest verstarb. Erst nach Verlegung der Hauptstadt 1597 nach Iṣfahān und der Errichtung theologischer Kollegien verstärkte sich im Ṣafavidenreich der Gelehrtenimport. Dabei lassen die Jahre von 1501 bis 1630 zunächst eine Prädominanz von Gelehrten aus dem Ǧabal ʿĀmil erkennen. Vermutlich auf Grund der geographischen Nähe und des florierenden Handels im Persischen Golf stammte zwischen 1689 und 1738 das Gros 492 der Intellektuellen aus Bahrain. Der Umfang der Abwanderung hochkarätiger schiitischer Geistli489 EI, Vol. XII (Supplement), Mūsā aṣ-Ṣadr, Leiden, 2004, S. 641 ff.; C. Mallat, The Renewal of Islamic Law, Muḥammad Bāqer aṣ-Ṣadr, Cambridge, 1993, S. 8, 19; Shanahan, 2005, S. 142 490 Momen, 1985, S. 120 491 Makkī, 1963, S. 70-71, 75 492 Arjomand, 1984, S. 129 ff. Schautafeln mit Zahlenmaterial zu den immigrierten Gelehrten.

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cher, die dem Ruf Šāh Ismāʿīls im 16. Jahrhundert in den Iran gefolgt waren und derzufolge im Libanon eine Autoren-Lücke entstanden sein soll, die bis ins 20. Jahrhundert nicht wieder geschlossen werden konnte, wird unterschiedlich bewertet. Der schiitische Gelehrte al-Ḥurr alʿĀmilī fasste im späten 17. Jahrhundert die Bedeutung des Litorals für die Schia in Zahlen und legt dar, dass der Ǧabal ʿĀmil, der lediglich 1 Prozent der Schiaregionen der islamischen Welt ausmache, 20 Prozent 493 aller schiitischen Gelehrten hervorgebracht habe. Den von ihm ermittelten Anteil der nach Persien emigrierten Akademiker allerdings relativiert Andrew Newman, der feststellt, dass von den zweihundert der im ersten Band aufgelisteten Emigranten viele nachweislich nie494 mals in den Iran auswanderten. Obwohl Gelehrte des Ǧabal ʿĀmil einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung zwölferschiitischer Dogmen im Iran der Ṣafavidenzeit geleistet haben, blieben nicht alle bisher als gesichert geltende Fakten bezüglich des Gelehrtenaustausches unangefochten: Devin J. Stewart stützt sich auf die Nachforschungen von Ǧaʿfar al-Muhāǧir und korrigiert die von al-Ḥurr al-ʿĀmilī angegebene exorbitante Anzahl an ʿĀmilī-Gelehrten, die während der ersten 120 Jahre des ṣafavidischen Imperiums das Gros der Gelehrtenschaft ausgemacht haben sollen, 495 nach unten. Al-Muhāǧir fand bei seinen Recherchen heraus, dass 17 496 von den 230 im ersten Band mit der nisba „al-ʿĀmilī“ Genannten aus 497 anderen Regionen Syriens stammten. Am Beispiel des „zweiten Märtyrers“, dem offenbar auch Lebensläufe anderer Personen zugeschrieben wurden, zeigt Devin J. Stewart auf, dass auf Grund übereinstim493 Muḥammad b. al-Ḥasan al-Ḥurr al-ʿĀmilī, Amal al-amil fi tarāǧim (ḏikr) ʿulamāʾ Ǧabal ʿĀmil, ed. Aḥmad al-Ḥusaynī, Baghdad, 1965-66, Vol. 1, S. 15 494 Andrew Newman, The Myth of Clerical Migration to Safawid Shiism, in: Die Welt des Islam, Vol. 33, 1993, S. 66-112, insbesondere S. 81 495 Devin J. Stewart, Notes on the Migration of ʿĀmilī Scholars to Safavid Iran, JNES, Vol, 55/2, 1996, S. 81 ff., 85 496 Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch, Beirut, 1976, S. 853: „Adjektiv, das die Abstammung oder Herkunft bezeichnet.“ 497 Ǧaʿfar al-Muhāǧir, Al-Hiǧra al-ʿāmilīya ilā Īrān fi’l-ʿaṣr al-ṣafawī: asbābuhā attārīḫiyya wa-natāʾiǧuhā aṯ-ṯaqāfīya wa’s-siyāsīya, Beirut, 1989, S. 96-97

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mender Namenselemente mit biographischen Irrtümern zu rechnen 498 ist.

8.4.2

Klerikale Prominenz aus dem Ǧabal ʿĀmil im Iran

„Das nötige Lebensblut aber wurde dem persischen Shīʿitentum – was gleichfalls für die Frage: Persien und Shīʿa? wichtig ist – von aussen zugeführt. Es handelt sich besonders um Shīʿiten vom süd499 syrischen Gebirge ʿĀmil.“

Das Nachfolgende ist den „ʿĀmilī“ unter den nach Persien emigrierten Klerikern gewidmet, die im ṣafavidischen Iran Prominenz erlangten – wohl wissend, dass der Namenszusatz „ʿĀmilī“ auch Gelehrten aus Karak Nūḥ in der Bekaa sowie in Persien geborenen Nachfahren der Aus500 wanderer verliehen wurde. Vermutlich war es nicht allein der eigene Mangel an schiitischen Intellektuellen, der die Anstellung von mutmaßlich „parteilosen“ Gelehrten aus dem Ausland im Iran so wertvoll und begehrt machte: Weder wurzelten sie in der urbanen persischen Gesellschaft, noch hatten sie Verbindungen zu den dortigen dominanten Klassen, und versprachen daher zumindest zu Beginn ein Maximum an Formbarkeit und Loyalität. Bis in die Moderne stellte das Feudalsystem im Litoral, wie es bereits ab dem 14. Jahrhundert durch die Familie ʿAlī aṣ-Ṣaġīr im Gebiet um den Līṭānī im Süden oder durch die schon erwähnte Familie Ḥarfūš repräsentiert wurde, die Baalbek vier Jahrhunderte später kontrollierte, ein Hindernis für klerikalen Unternehmungsgeist dar: Die tief verwurzelten Verbindungen zwischen ʿulamāʾ und den Feudalherren (zuʿamāʾ), zementierten einen Konservatismus, der politischen Aktivismus scheute. Viele aus dem Ǧabal ʿĀmil stammende Gelehrte sahen daher im Anwerbebetreiben des ṣafavidischen Iran, wo sie schließlich ihren neuen Wirkungskreis fanden, eine persönliche Herausforderung und 498 Stewart, 1996, S. 81 ff., insbes. S. 87-89 499 R. Strothmann in: EI1, Vol. IV, Leiden, 1934, S. 383 500 Stewart, 1996, S. 86

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berufliche Chance. Der dergestalt angestoßene Ideologietransfer sollte die Beziehungen zwischen den Schiiten beider Länder beträchtlich aus501 weiten und vertiefen. Intellektuell entwickelte sich die Gelehrtenschaft des Ǧabal ʿĀmil im 16. Jahrhundert spiegelbildlich zu der von Naǧaf, und nicht wenige libanesische Gelehrte gelangten auf dem Umweg über die irakische Ge502 lehrtenschmiede in den Iran. Auslöser dieser Emigrationswelle scheint jedoch nicht allein die osmanische Verfolgung der Schia in der Levante gewesen zu sein. Schenkt man den Erkenntnissen Andrew Newmans Glauben, so stand die Mehrheit traditioneller ʿĀmilī-Gelehrter zudem gar in Opposition zum „ṣafavidischen Schiismus“. Er geht davon aus, dass die Reise von al-Karakī ins Ṣafavidenreich Šāh Ismāʿīls einzig dem Zwecke diente, sich stellvertretend für alle anderen ʿĀmilī einen Überblick über die „extrem unorthodoxe“ Haltung des Schah und dessen 503 minimales Interesse am Glauben zu verschaffen. Die ambivalente Haltung gegenüber dem Ṣafavidenstaat scheint die Gelehrten in per504 sönlicher und fachlicher Hinsicht gespalten zu haben. Offensichtlich aber wogen bis in die Regierungsjahre von Šāh Ṭahmāsp, in welche die 505 zahlenmässig stärkste Auswanderung fiel, garantierte Sicherheit und beträchtliches Mäzenatentum die ursprüngliche Zurückhaltung der ʿĀmilī allmählich auf. Neben den akademisch-sozialen Beziehungen, die die Gründer der ʿĀmilī-Schulen und ihre Schüler verbanden, verstärkte ein Flechtwerk von Verschwägerungen die Solidarität und damit auch das Elitedenken der klerikalen Gemeinschaft. Bei einem derartig engmaschigen interfamiliären Netzwerk überrasche es nicht, dass sich eine hohe intellektuelle schiitische Tradition in einer eher unbedeutenden Enklave des osmanischen Syrien habe entwickeln können, merkt Albert Hourani

501 502 503 504 505

Halm, 1988, S. 167 Halm, 1988, S. 112 Newman, 1993, S. 93 Stewart, 1996, S. 96 Arjomand, 1984, S. 128

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hierzu an. So gab es nicht wenige Dörfer, in denen sogenannte faqīhFamilien für ihre Tradition bekannt waren, die Gelehrsamkeit zielgerichtet zu kultivieren und vom Vater an den Sohn weiterzugeben. Der Zugang zu juristischem Wissen scheint sich auf diese elitären Familiengruppierungen konzentriert zu haben und zu Erbe und Existenzgrundlage ihrer unmittelbaren Abkömmlinge geworden zu sein. Gegenseitige finanzielle Unterstützung trug mittels intrafamiliärer Seilschaften zum Erhalt des hohen Anspruches bei, den die ʿĀmilī an ihre pädagogische Tradition stellten. Es ist nicht auszuschließen, dass das ländliche Gefüge und Gepräge des Ǧabal ʿĀmil der Fachkompetenz potentieller Juristen förderlich war und sie mit einem familiären und wirtschaftlichen Rückhalt ausstattete, der in einer städtischen Umgebung in dieser Form möglicherweise nicht denkbar gewesen wäre. Darüber hinaus war der Ǧabal ʿĀmil mit seinem eher bäuerlichen Ambiente den Folgen politischer Instabilität und wirtschaftlicher Zerrüttung nicht im gleichen Maße ausgesetzt wie städtische Zentren. Vor dem Liquiditätsverlust der mächtigen Feudalfamilie Bišāra im frühen 16. Jahrhundert genoss die schiitische Gemeinschaft des Ǧabal ʿĀmil, deren Ahnherr Abū’l-Ḥasan ʿAlī b. Bišāra al-ʿĀmilī aš-Šaqrāwī, ein 507 Student des Šahīd aṯ-Ṯānī war, Wohlstand und relative Autonomie. Der Ǧabal ʿĀmil erlangte wegen seines elaborierten juristischen Lehrplanes und auf Grund seiner fachlichen Kompetenz in den religiösen Disziplinen einen hohen Grad an Ansehen und damit Selbstbewusstsein. Gelehrte wie al-Muḥaqqiq al-Maisī, Ṣāḥib al-Madārik, oder Ṣāḥib al-Maʿālim, die nur wenig durch Einflüsse von außerhalb der Dörfer des Ǧabal ʿĀmil geprägt waren, drückten dem schiitischen Recht und der schiitischen Tradition ihren Stempel auf. Neben dem irakischen al-Ḥilla waren Ǧizzīn, Mais, Ǧubāʿ und ʿAinātā im Ǧabal ʿĀmil wichtige Stätten intellektueller Aktivität und Akquisition. An der Schule von Ǧubāʿ, die – mit einem Curriculum für islamische Wissenschaften ersten Ranges ausgestattet – zu regionaler 506 Hourani, 1986, S. 134 507 Abisaab, 1999, S. 20

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Berühmtheit gelangt war, wurden mehr als dreißig Gelehrte gradu508 iert. Naǧaf und Qom gewannen erst später an Bedeutung. Von den im 15. und 16. Jahrhundert gegründeten Schulen (madāris) in ʿAinātā, Mais al-Ǧabal, Ǧubāʿ, Nabaṭīye und Karak Nūḥ in der westlichen Bekaa (Biqāʿ), war die letztgenannte wegen ihrer Lage an einer der Haupthandelsrouten zwischen Damaskus und Baalbek die wichtigste. Von dort wurde der erste bedeutende Gelehrte Šaiḫ Nūr ad-Dīn ʿAlī b. ʿAbd al-ʿAlī al-ʿĀmilī al-Karakī (ca. 870–940/1465–1533), muǧtahid aus Zaḥle/Bekaa aus der Gelehrten-Familie al-Karakī und bekannt unter seinen Ehrennamen al-Muḥaqqiq aṯ-Ṯānī und Ḫātim al-Muǧtahidīn, ins ṣafavidische Persien gerufen. Von seinem Studienort Karak Nūḥ, wo er mit Zain ad-Dīn ʿAlī b. Hilāl al-Ğazāʾirī und anderen Gelehrten studierte, die sich im intellek509 tuellen Fahrwasser des „ersten Märtyrers“ weiterentwickelten, führte ihn sein Weg an sunnitische Lehranstalten nach Ägypten und 909/1504 nach Naǧaf an den Schrein ʿAlīs. Im Laufe seiner Studien in Naǧaf und Kerbelāʾ erfreute sich der Vertreter der Schule von al-Ḥilla einer beachtlichen Reputation und war so erfolgreich geworden, dass ihn Šāh Ismāʿīl unter seine Schirmherrschaft nahm. Zunächst kam er dessen Einladung nach Mašhad und Herāt nach und folgte später dem Ruf von Ismāʿīls Sohn Šāh Ṭahmāsp (1514–1576) an den Ṣafavidenhof in Iṣfahān. Er gilt als Schlüsselfigur bezüglich des theologischen Unterbaus, mit dem eine Staatsreligion schiitischen Zuschnitts durchgesetzt werden konnte. Sein Wirken dort allerdings wurde nicht überall goutiert. Die Rivalität zu Theologen, die mehrheitlich einem mit schiitischen Elementen durchsetzten Volksislam zugetan waren und ein eher oberflächliches Schiitentum praktizierten, brachte ihn nicht selten in Kala510 mitäten und ins Schussfeld osmanischer Polemik. Šāh Ṭahmāsp betraute ihn im Gegenzug für seine Loyalität als Ḫātam 508 Makkī, 1963, S. 32 509 W. Madelung, Al-Karakī, EI2, Vol. IV, S. 610 510 Eberhard, Elke, Osmanische Polemik gegen die Safawiden im 16. Jahrhundert nach arabischen Handschriften, Freiburg, 1970, S. 209 f.

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al-muǧtahidīn („Siegel der Muǧtahidīn“) mit der Verantwortung für die Einhaltung der šarīʿa und ernannte ihn zum nāʾib al-imām (Stellvertreter 511 des Imam). Die damit verbundene Ausstattung mit Geldern und Stif-

tungen ermöglichte ihm eine Standardisierung des schiitischen Rechts 512 im Iran. Systematisch ersetzte der Muḥaqqiq aṯ-Ṯānī sunnitische Gelehrte durch hochqualifizierte schiitische, denen er erstmals stellvertretend 513 einzelne Prärogativen des Verborgenen Imams übertrug. Al-Karakī definierte als einer der einflussreichsten südlibanesischen Gelehrten im Iran und als einer der führenden Juristen im ṣafavidischen Reich die Rolle des ʿālim als Wächter der šarīʿa in der Imamen-Nachfolge und bereitete damit den Boden für Gelehrte, die mit Hilfe gültiger Methoden der Argumentation aus den Quellen dazu befähigt waren, den iǧti514 515 516 hād praktisch umzusetzen. Al-Karakī brachte kalām und taqlīd nach Persien und demonstrierte Einklang mit den Interessen der Dynastie: In ihrer Eigenschaft als Abgeordnete des verborgenen Imam, so argumentierte er, obliege den muğtahidūn während dessen Abwesenheit die Leitung des Freitagsgebets sowie die Eintreibung der Landsteuer (ḫarāğ), von der sie ihren Anteil abzuzweigen berechtigt waren. Dies kam einer Legitimierung und faktischen Akzeptanz ṣafavidischer Herrschaft gleich. Über die Befugnis zur Einsetzung des pīš-namāz (Leiter des Freitagsgebets) hinaus hatte er vom Schah die Vollmacht zur Ein- und Absetzung sämtlicher religiöser Funktionsträger im Reich und geriet so in Konkurrenz mit dem ṣadr, dessen einflussreiches Amt aus traditions511 Eberhard, Elke, Osmanische Polemik gegen die Safawiden im 16. Jahrhundert nach arabischen Handschriften, Freiburg, 1970, S. 209 f. 512 Hourani, 1986, S. 133, 134/136 513 Al-Karakī, Risāla fī ṣalāt al-ǧumʿa, in: GAL, Vol. II, S. 575 514 8. Stamm v. arab. ǧhd: Anstrengung, selbständige Entscheidung einer Rechtsfrage auf Grund der Interpretation der Quellen, freies Ermessen, S. 129 515 3. Stamm v. arab. klm: raisonnierendes Argumentieren, eine Methode der Dialektik, s. Halm, 1988, S. 62, 63 516 2. Stamm v. arab. qld: folgen, nachahmen, das Sichverlassen auf die Autorität anderer, s. Halm, 1988, S. 66

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reichen Gelehrtenfamilien stammenden Iranern vorbehalten blieb und in das kaum je einer der immigrierten Kleriker berufen wurde. Der ṣadr nahm stellvertretend für den Schah die Administration religiöser Angelegenheiten wahr: Ihm war die Aufsicht über das Rechtswesen und die religiösen Stiftungen übertragen, er entschied über die Verteilung der waqf-Einkünfte und die Vergabe von Stipendien. Obwohl wegen ihrer Gelehrsamkeit gewürdigt, konnten immigrierte ʿĀmilī dennoch maximal mit der Ernennung zum Šaiḫ ul-Islām, dem damals in den Hauptstädten höchsten klerikalen Amt rechnen. Auch stand ihnen das Amt des pīš-namāz im königlichen Haushalt offen sowie das eines Predigers in Moscheen oder eines Lehrers an Schulen, wodurch ihnen eine wichtige Rolle in der Verbreitung schiitischer Doktrin und Praxis 517 in der Bevölkerung zukam. Der Großteil der aus dem Ǧabal ʿĀmil in den Iran übergesiedelten Gelehrten scheint einem intimen Kreis angehört zu haben, der durch Blutsbande oder Heirat untereinander verbunden war oder zumindest eine gemeinsame Ausbildung durchlaufen hatte. Einen Eindruck der engen Verzahnung dieser ineinandergreifenden „Kette“ von ʿĀmilī-Gelehrten vermittelt das Nachfolgende. Student des „zweiten Märtyrers“ war der aus Ǧubāʿ stammende ʿIzz ad-Dīn Ḥusain b. ʿAbd aṣ-Ṣamad al-Ḥāriṯī al-Ḥamdānī (918–984/1512– 1576). Ungefähr zur Mitte der Regierungszeit von Šāh Ṭahmāsp emigrierte er nach Persien und besetzte in dessen ehemaliger Residenz Qazvīn den Posten des Šaiḫ ul-Islām. Ob er zwischen 958/1551 und 961/1554 übersiedelte, oder erst vier Jahre später nach der Ermordung 518 seines Lehrers, ist strittig. Nachdem die Ṣafaviden Ḫorāsān ihrem Staatsgebiet einverleibt hatten, wurde er dorthin beordert, wo er in Herāt und Mašhad das Amt des Šaiḫ ul-Islām bekleidete. Der klerikalen Prominenz aus dem Ǧabal ʿĀmil entstammte auch der Universalgelehrte Šaiḫ Bahāʾ ad-Dīn Muḥammad b. Ḥusain al519 Ḥāriṯī al-Ḥamdānī al-ʿĀmilī al-Ǧubāʿī, (953–1031/1547–1622), der am 517 Arjomand, 1984, S. 122 ff. 518 Stewart, 1996, S. 93 519 J. Pederson, Al-ʿĀmilī, in: EI2, Leiden, 1971, S. 436

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Iṣfahāner Hof unter Šāh ʿAbbās das Amt des Šaiḫ ul-Islām bekleidete, wo er neben seiner Anthologie Kitāb al-Kašqūl einen Leitfaden für schiitisches Recht und Abhandlungen über Astronomie und Mathema520 tik sowie persischsprachige Poesie verfasste. Šaiḫ al-Bahāʾī übertraf seinen Vater, der mit dem 12-Jährigen vor der osmanischen Verfolgung in den Iran floh, an Berühmtheit bei weitem. In seiner Geburtsstadt Baalbek lehrte sein Großvater Šaiḫ Ḥusain. Dort genoss er neben der arabischen auch eine persische Erziehung, was ihn zur Verfassung von Schriften über Mathematik und Astronomie in beiden Sprachen befähigte. Obwohl er viele Ämter innehatte, gab er diese – wie auch schon sein Vater – für ein Leben in Armut und für Reisen zum Zwecke der Wissenserweiterung und der Kontemplation auf und verbrachte dreißig Wanderjahre als Derwisch in der Fremde, bevor er wieder nach Persien zurückkehrte. Auf seinen Reisen nach Kairo, Jerusalem, Damaskus und Aleppo besuchte er auch das Land seiner Geburt. Als letzter großer Universalgelehrter wurde er mit einem langen Eintrag in alMuḥibbīs biographischem Wörterbuch Ḫulāṣāt al-Āṯār geehrt, in dessen erstem Teil sich ausschließlich Gelehrte aus dem Ǧabal ʿĀmil finden. Neben der Abfassung von Rechtskompilationen und persischsprachigen Gedichten soll Šaiḫ al-Bahāʾī komplizierte mystische Doktrinen in einfache und schlichte Verse gebracht haben. Bekannt wurde er mit seinem Maṯnawī Nān u-ḥalwā („Brot und Süßigkeiten“) und dem astronomischen Werk Tašrīḥ ul-aflāk („Die Anatomie der Himmelssphäre“). Ihm ist die Wiederbelebung der mathematischen Wissenschaften im Iran zu verdanken, die über hundert Jahre brach lagen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein gehörte sein Ḫulāṣāt al-ḥisāb („Das Wichtigste der Arithmetik“) zu deren Grundlagen, die mehrmals ins Persische und Deutsche übersetzt wurden. Weitere Werke sind Ǧāmiʿ-e ʿAbbāsī über fiqh und Kitāb az-Zubda über uṣūl al-fiqh. Šaiḫ al-Bahāʾī starb 1031/ 1622 oder ein Jahr danach in Iṣfahān und ist in Mašhad beigesetzt. Ihm 520 Momen, 1985, S. 111/112, Halm, 1988, S. 117

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wird trotz oder gerade wegen seines langen Aufenthaltes im Iran eine 521 distanzierte Haltung gegenüber den Ṣafaviden nachgesagt. Ebenfalls aus Ǧubāʿ stammte Muḥammad b. ʿAlī al-Mūsawī (946– 1009/1539–1600), Enkel des „zweiten Märtyrers“ mütterlicherseits. Er lebte in Ǧubāʿ und verfasste dort mit seinem Madārik al-aḥkām einen Kommentar über al-Muḥaqqiqs Šarāʾiʿ al-Islām. Sein Sohn Ḥusain, der zunächst bei ihm, dann bei Šaiḫ al-Bahāʾī im Iran studierte, wurde in Mašhad zum Šaiḫ ul-Islām ernannt, wo er bei der großen Ostkuppel des Imām ar-Riḍā-Schreins lehrte. Unter den berühmten Juristen der Madrasa von Mais al-Ǧabal, die vom angesehenen Gelehrten ʿAlī b. ʿAbd al-ʿAlī al-Maisī (-933/1526), genannt Ibn Mufliḥ, gegründet worden war, befand sich Šaiḫ Lotfollāh al-Maisī (-1040/1630), der von Šāh ʿAbbās als Šaiḫ ul-Islām ins aufblühende Iṣfahān gerufen wurde. ʿAlī b. Muḥammad, der Urenkel des „zweiten Märtyrers“, dessen Familie Generationen später ebenfalls nach Persien auswanderte, sah sich auf Grund familiärer Zwistigkeiten veranlasst, dem Libanon um das Jahr 1630 zusammen mit seinem Bruder Zain ad-Dīn (-1064/1654) den Rücken zu kehren, und nutzte den Aufenthalt in Karak Nūḥ als Sprungbrett nach Iṣfahān. Von ihrem Vater Ḥasan, dem Verfasser des bereits erwähnten juristischen Werkes Maʿālim fi‘d-Dīn, der in Ǧubāʿ verblieb, hatten sie nach traditioneller Sitte ihr geistiges Rüstzeug erhalten. Ein Abkömmling von Nūr ad-Dīn ʿAlī al-Maisī, dem Lehrer des „zweiten Märtyrers“, war der im Ǧabal ʿĀmil gebürtige Lotfollāh b. ʿAbd al-Karīm (-1032/1622). Er studierte in Mašhad, wo er später verschiedene Anstellungen innehatte. In Iṣfahān lehrte er in der von Šāh ʿAbbās I. eigens für ihn gebauten und nach ihm benannten Moschee. Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Gelehrten gehörte der einer Gelehrtenfamilie in Mašġara (Südlibanon) entstammende Muḥammad b. Ḥasan al-Ḥurr al-ʿĀmilī (1033–1104/1624–1693) nicht der uṣūlīSchule an, sondern war den wiederbelebten aḫbārī zugeneigt, die auf 521 Stewart, 1996, S. 98

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strikte Anwendung des ḥadīṯ bestanden und der Fokussierung auf die Vernunft misstrauten. Seine Familie leitete ihre Abkunft über al- Ḥurr b. Yazīd al-Riyāḥī her, der – so die Überlieferung – nach Kūfa entsandt worden war, um gegen den Prophetenenkel al-Ḥusain militärisch einzuschreiten. Dort aber habe er die Fronten gewechselt und sei in der 522 Entscheidungsschlacht gefallen. Nach seinem Studium beim Vater und anderen Familienmitgliedern hörte Muḥammad b. Ḥasan al-Ḥurr al-ʿĀmilī unter anderem beim Urenkel des „zweiten Märtyrers“. Er lehrte in Mašhad unter der Kuppel des Schreins und listete die aus aus dem Ǧabal ʿĀmil stammenden Gelehrten in einem zweibändigen Lexikon auf. Zu seinen bedeutendsten Werken zählt die ḥadīṯ-Sammlung Wasāʿil aš-šīʿa ilā taḥṣīl masāʿil aš523 šarīʿa, die sich mit juristischen Themen befasst. Wie auch bei anderen immigrierten Gelehrten Brauch, führten seine Abkömmlinge die akademische Tradition fort, bekleideten Ämter des öffentlichen Dienstes und gehörten damit zur religiösen Elite Persiens. Die Bedeutsamkeit des Ǧabal ʿĀmil und der Bilād aš-Šām sieht er durch einschlägige Ḥadīṯe und insbesondere zwei Koranstellen bestätigt: Die in Sure 524 17:1 al-isrāʿ („Die Nachtreise“) zitierte „ferne Moschee“ identifiziert er als al-Aqṣā-Moschee und deren Umgebung als den Ǧabal ʿĀmil. 525 Auch Sure 14:37 Ibrāhīm, in der Abraham zu Gott spricht, bezieht er auf seine Heimat. Mit dem ḥadīṯ: „ḥubb al-waṭan min al-īmān“ und „min īmān ar-raǧul ḥubbuhu lī qaumihī“ unterstreicht er, dass kein Land eine den Dörfern des Ǧabal ʿĀmil vergleichbare große Zahl an hochqualifizierten imamitischen Gelehrten hervorgebracht habe. 522 M. J. Kister, Al-Ḥurr b. Yazīd, EI2, Vol. III, S. 588 523 G. Scarcia, Al-Ḥurral-ʿĀmilī, EI2, Vol. III, S. 588-89 524 A. J. Arberry, The Koran interpreted, London, 1982, 18:1: „Gepriesen sei Der, Der bei Nacht Seinen Diener von der heiligen Moschee zu der fernen Moschee, deren Umgebung Wir [...] gesegnet haben, hinführte, auf daß Wir ihm einige Unserer Zeichen zeigten. Wahrlich, Er ist der Allhörende, der Allsehende.“ 525 Arberry, 1982, 14:37: „Unser Herr, ich habe einen Teil meiner Nachkommenschaft in einem unfruchtbaren Tal nahe bei Deinem heiligen Haus angesiedelt, o unser Herr, auf daß sie das Gebet verrichten mögen. So mache ihnen die Herzen der Menschen zugeneigt und versorge sie mit Früchten, damit sie dankbar sein mögen.“

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8.4.3

Richtungswechsel: Vom libanesisch-ṣafavidischen zum iranisch-libanesischen Prozess

„[…]zu keiner Zeit [hat] eine derartig starke wechselseitige Beeinflussung stattgefunden wie zwischen den Schiiten des Ǧabal 526 ʿĀmil und denjenigen Persiens.“

Damit wird auf Šāh Ismāʿīl abgestellt, dessen Regierungszeit 1501 begann und der, wie bereits angeklungen, ohne den aus dem schiitischen Ausland importierten intellektuellen Unterbau nicht die klerikale Landschaft als Fundament seiner Herrschaft hätte entstehen lassen können, die sich bis heute im Iran findet. Die Gründe für die Rekrutierung von Gelehrten vornehmlich aus den Gelehrtenschmieden in der Levante sollen im Nachfolgenden näher beleuchtet werden. Der Mangel an Schrifttum und Gelehrsamkeit im ṣafavidischen Iran wurde schon früh offenbar: Selbst nach mehrjähriger Suche war nicht einmal in Kāšān, das neben seinem Gold- und Silberhandwerk und seinen Teppichen auch für seine Kalligraphen, Gelehrten und Theologen berühmt war, ein kompetenter schiitischer Jurist ausfindig zu machen, weil, wie schon erwähnt, die Mehrheit der Bewohner trotz ihrer starken Neigung zur ahl al-bait und den zwölf Imamen zur Zeit der Inthronisierung von Šāh Ismāʿīl sunnitisch ausgerichtet war. So sollte das Qawāʿid al-aḥkām von Ibn al-Muṭahhar al-Ḥillī, das sich schließlich in der Bibliothek eines Richters fand und unter Šāh Ṭahmāsp (940–982/1533–1574) ins Persische gebracht wurde, als Basis der neuen Staatsreligion dienen. Der klerikale Adel war innerhalb Šāh Ismāʿīls verändertem religiösen Rahmen, der noch nichts mit dem Zwölferschiismus oder der imamitischen Doktrin späterer Zeit gemein hatte, zwar vom ausgeprägten pro-alidischen Geist der milleniaristischen Bewegung der Qızılbāš durchdrungen, mehrheitlich aber noch bis ins 17. Jahrhundert hinein der Sunna zugeneigt. Von den zehn Inhabern des Amtes des ṣadr unter Šāh Ṭahmāsp war gemäß Said Amir Arjomand lediglich einer in der zwölferschiitischen Rechtsprechung ver526 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 82

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siert, während die „Orthodoxie“ der anderen neun klerikalen Würdenträger zweifelhaft blieb. Dies sollte sich erst mit dem kontinuierlichen Anstieg des Anteils schiitischer Hierokratie bis zum Tod von Šāh 527 ʿAbbās I. ändern. Im letzten Drittel des 9./15. Jahrhunderts bestand ein reger geistiger Austausch namentlich zwischen dem schiitischen Zentrum al-Ḥilla im Irak und dem Südlibanon, und wie gezeigt, gab es schon Jahrhunderte vor jenem großangelegten entwicklungshilfetechnischen Kulturtransfer zwischen dem Ǧabal ʿĀmil und dem Ṣafavidenreich intensive akademische Kontakte zwischen beiden Ländern. Bei allem Vorteil, den solche Beziehungen im Hinblick auf die gegenseitige Stärkung, insbesondere des Prestiges der schiitischen Minderheit im Libanon gehabt haben mögen, zeitigte die Entwicklung im Iran eine für den Ǧabal ʿĀmil beträchtliche und auf lange Sicht gesehen nachteilige Konsequenz. Mit seinem enormen Bedarf an profundem religiösen Wissen zog der ambitionierte ṣafavidische Bildungsapparat im Iran die fähigsten Gelehrten, die den legendären intellektuellen Ruf des Südlibanon in der 528 damaligen schiitischen Welt begründet hatten, aus dem Ǧabal ʿĀmil ab. Al-Ḥurr al-ʿĀmilī berichtet, dass es noch vor deren Migrationswelle im 16. Jahrhundert keine Seltenheit war, allein bei einer dörflichen Be529 erdigung im Südlibanon bis zu 70 muǧtahidūn anzutreffen. Die iranische Anwerbekampagne am Litoral erreichte bis Ende des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Damals stammten nachweislich hundert der im Iran verstorbenen schiitischen ʿulamāʾ aus dem Ǧabal ʿĀmil – ein Jahr530 hundert später verzeichnet Moojan Momen lediglich noch sechs. Die Kettenreaktion, die die Verfolgung der Schia am osmanisch dominierten Litoral in Gang gesetzt hatte, verschärfte die Situation in mehrfacher Hinsicht: Hochkarätige Gelehrte erkannten nicht nur den Anreiz einer in Aussicht stehenden beruflichen Karriere im Ṣafaviden527 528 529 530

Arjomand, 1984, S. 106, 127, Schaubild 5.5 auf S. 132 Shanahan, 2005, S. 139 Pohl-Schöberlein, 1986, S. 195, Makkī, 1963, S. 231 Momen, 1997, S. 121

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reich, sondern sahen in der Emigration nach Persien auch eine Fluchtmöglichkeit aus der bedrückenden geistigen und geistlichen Enge der Heimat und leisteten dem Ruf der aufstrebenden iranischen „SchiaWelt“ bereitwillig Folge. Mit der personellen Ausdünnung aber gingen neben dem Presigeverlust auch empfindliche materielle Einbußen und damit ein spürbarer Rückgang der finanziellen Ausstattung der im Ǧabal ʿĀmil verbliebenen schiitischen Gelehrten und den Lehranstalten einher. Die negativen Auswirkungen der Auswanderungswelle auf das Selbstbewusstsein der ʿĀmilī-Gelehrten und deren Gemeinden waren beträchtlich und noch bis Ende des 19. Jahrhunderts deutlich spürbar: Der Exodus berühmter ʿulamāʾ ließ dortige Lehrstätten, die Parallelen zu den sogenannten ḥauze (pers. ḥauże – Stätten der Gelehrsamkeit) in Naǧaf oder im Iran aufwiesen, personell und qualitativ ausbluten und den Ǧabal ʿĀmil hinsichtlich seines akademischen Ranges auf 531 Generationen hinaus zur unbedeutenden Randregion werden. Nasab (Genealogie) und ḥasab (Ehre durch Leistung) spielten eine zentrale Rolle bei der Vergabe klerikaler Posten und deren Budgetierung sowie bezüglich der Anerkennung schiitischer Rechtsurteile. Gemeinhin war akzeptiert, dass das Ansehen berühmter Gelehrter in dynastischer Manier auf deren Kinder und Kindeskinder überging. Auf Grund ihrer traditionell quietistischen Haltung erwarteten die Menschen des Ǧabal ʿĀmil keine Unterstützung durch ihre muǧtahidūn – die ein potentiell starker Gegner einer kraftlosen Regierung hätten sein können. Fouad Ajami charakterisiert die schiitische ʿulamāʾ im Libanon noch bis in die frühen 1960er als innerhalb der klerikalen Gemeinschaft wirtschaftlich 532 unterdrückt und politisch untätig. Nach der Abwerbung heimischer Kapazitäten durch das ṣafavidische Persien war eine religiöse Erziehung im Ǧabal ʿĀmil nur noch in stark reduziertem Umfang möglich und auf Grund der bäuerlichen Strukturen der Schiiten im Südlibanon, die weder eigene finanzielle Ressourcen noch Sponsoren besaßen, konnten nur einige der fähigsten 531 Meir Litvak, Shiʿi scholars of nineteenth-century Iraq, the ʿulamāʾ of Najaf and Karbalaʾ, Cambridge, 1958, S. 82 532 Ajami, 1986, S. 73

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Studenten zum Studium an die teuren Elitebildungsstätten nach Naǧaf entsandt werden. Die einzigen noch fortbestehenden Institutionen im Ǧabal ʿĀmil erschöpften sich in pädagogischen Einrichtungen zur Unterweisung in der Basisliteratur. Die verbliebenen Bildungseinrichtungen beschränkten sich dort lediglich auf sogenannte kuttāb (Koranschulen) oder von Scheichs betriebene madāris ad-dīn, die neben religiösen auch säkulare Lehrinhalte vermittelten, aber nur zeitlich begrenzt existierten und mit dem Tod oder Wegzug des verantwortlichen Scheichs geschlossen wurden. Dieses Schicksal ereilte sowohl die von Šaiḫ Muḥammad ʿAlī Azzedine in Ṣūr etablierte ḥanawīya wie auch die 1891 von Sayyid Ḥassan Yūsuf in Nabaṭīye gegründete ḥamadīya. Beide erloschen mit dem Tod ihrer Gründer. Derartige Bedingungen boten weder fruchtbaren Boden für klerikalen Aktivismus, noch waren sie einem unabhängigen iǧtihād zuträglich. In Folge des relativ frühen Verlustes seiner Rolle als Achse imamitischer Gelehrsamkeit wurde ein Großteil des Gelehrtendiskurses und der politischen Agitation, die später den modernen Libanon beeinflussen sollten, nunmehr aus schiitischen Zentren von außerhalb des Landes importiert und, wenn man so will, reimportiert – speziell aus Naǧaf und Kerbelāʾ im Zentralirak und dem Iran. Michel Mazzaoui formuliert es im Zusammenhang mit seinen Betrachtungen über die schiitischen Passionsspiele taʿziya an ʿĀšūrāʾ so: “The old Lebanese-Safavid experience is now a reversed Iranian-Lebanese process. To a considera533 ble degree this is still so today.” Die engen Beziehungen zwischen der klerikalen Führung des Iran und der libanesischen Hizbollah in der Gegenwart veranschaulichen dieses Phänomen. Mit der Etablierung der Ṣafaviden im Iran hatten sich die bestehenden traditionell sehr engen Bande zwischen den Lehrzentren am Litoral und dem Irak um eine dritte Komponente erweitert und formten fortan sozusagen ein „schiitisches Dreieck“ mit Schwerpunkt Irak. Die damals schon mit bedeutendem politischen Einfluss und erheblichen finanziellen Mitteln ausgestatteten Kleriker im Iran le533 Mazzaoui, 1979, S. 234

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gitimierten sich ausschließlich über die „Heiligen Schwellen“, den reputierten ʿatabāt in Naǧaf. Weil der Ǧabal ʿĀmil noch bis ins 19. Jahrhundert hinein weitläufiger definiert wurde und auch das Tal des See Genezareth, das sogenannte Hula-Becken (sahl al-Ḥūlā), bis Ḥoms oder Damaskus und die Bekaa umfasste, wurden im Iran Gelehrte aus dem Libanon allgemein als ʿĀmilī bezeichnet – unabhängig davon, ob sie nun aus der Bekaa, dem Ǧabal ʿĀmil, oder aus anderen Gegenden in Syrien stammten. Mit jeder weiteren Generation entfernten sie sich mehr von ihren Wurzeln und die nisba „al-ʿĀmilī“ war keinesfalls mehr ausschließlich als Hinweis auf die eigene Herkunft oder die der 534 Vorfahren zu verstehen.

8.4.4

Klerikale auf der politischen Bühne des 20. Jahrhunderts

Nach dem „intellektuellen Exodus“ in ṣafavidischer Zeit sollte erst das anbrechende 20. Jahrhundert wieder namhafte Gelehrte aus dem Ǧabal ʿĀmil verzeichnen, die zudem die Modernisierung der Zwölferschia vorantrieben. Noch vor dem schiitischen Geistlichen und Präsidenten des obersten ǧaʿfaritischen Gerichtshofes im Libanon, Muḥammad Ǧa535 wād Muġnīya (1904 Ṭair Dibbā–1979 Ṣūr), beeinflusste der erudierte, 1872 in al-Kāẓimain/Irak geborene Sayyid ʿAbd al-Ḥusain Šarāf ad-Dīn al-Mūsawī als Promotor des „Schia-Erwachens“ eine ganze Gelehrtengeneration. Nach seiner Ausbildung in Naǧaf, Kerbelāʾ und Sāmarrā kehrte er im Alter von 37 Jahren in die Heimat seiner Eltern, nach Šeḥūr bei Ṣūr in den Südlibanon zurück, von wo sein Vater in den Irak emigriert war. Als Führer der schiitischen Gemeinde in Ṣūr betrieb er den Versuch einer Annäherung von Schiiten und Sunniten und etablierte dort und in der Umgebung eine Reihe religiöser und sozialer Institutionen. Al-Mūsawī, der sich offen gegen das französische Mandat aussprach, wurde im Ersten Weltkrieg Ziel zahlreicher französischer Anschläge und musste den Südlibanon zeitweise verlassen. Er selbst soll, bevor er 1957 in Ṣūr starb, den zweifellos prominentesten Kleriker neuerer Zeit 534 Shanahan. 2005, S. 139-141 535 Rieck, 1989, S. 342

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und mit ihm verwandten Mūsā aṣ-Ṣadr zu seinem Nachfolger desi536 gniert haben. Mūsā aṣ-Ṣadr kam als Spross einer auch im Irak und Iran weit verzweigten, renommierten Klerikerfamilie aus dem Ǧabal ʿĀmil sozusagen als „Spätheimkehrer“ aus dem Iran in die Heimat sei537 ner Ahnen zurück. 8.4.4.1 Mūsā aṣ-Ṣadr: “If you maintain the quiet, I will not …” Zu den Wurzeln zurückzukehren hat Tradition – auch in der islamischen Welt, besonders in der schiitischen. Was für die Fatimiden galt, die sich zunächst nach Ifrīqiya ausrichteten, bevor sie im späten 10. Jahrhundert Mekka und Medina kontrollierten, beanspruchte auch der Āyatollāh Ḫomeinī, der die zur Metapher gewordene Folie der „Heimkehr“ aus der islamischen Heilsgeschichte bemühte, um seiner Rück538 kehr nach Qom von seinem Pariser Exil aus den Boden zu bereiten. Das Vorbild ist der Prophet selbst, der nach der Etablierung einer Exilregierung in Medina in die Heimatstadt Mekka zurückgekehrt war. Der Zeitenlauf hatte einen Umkehrschub eingeläutet und spülte nun „Entwicklungshelfer“ iranischer Provenienz ans Mittelmeer, wo sie die Politisierung der dortigen Geistlichkeit vorantrieben, eine Bewusstseinswerdung des schiitischen Bevölkerungsanteils anstießen und Prozesse nach iranischem Muster in Gang brachten. Einer, der die „Früchte“ der emigrierten Generationen seiner Vorfahren wieder dorthin zurückbrachte, wo man sie nun so dringend brauchte, war der Sohn eines muǧtahids aus Qom. Sein Vater Ṣadr adDīn aṣ-Ṣadr, später führend in der kulturellen Bewegung des Irak, hatte sich dort niedergelassen, die religiösen Besitztümer mitverwaltet und eine Reihe wissenschaftlicher Institutionen gegründet. Der Großvater mütterlicherseits, Āyatollāh Ḥusain al-Qummī (-1945), war aktivistischer Geistlicher in der Opposition gegen Reża Šāh Pahlavī. Aus Maʿrakāʾ oder Šeḥūr bei Ṣūr stammte Ururgroßvater Sayyid Ṣāliḥ Šarāf 536 Werner Ende, Šaraf al-Dīn, in: EI-online, abgerufen am 15.11.2010 537 Ajami, 1986, S. 32 ff. 538 Bernard Lewis, The Shia in Islamic History, in: Martin Kramer: The Shia in Islamic History, Tel Aviv, 1987, S. 25

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ad-Dīn (geb. 1710), der seinerzeit gegen die Unterdrückung durch Aḥmad al-Ǧazzār gekämpft hatte. Sein ältester Sohn soll vor seinen Augen ermordet und er selbst neun Tage lang in ʿAkkā gefangen gehalten worden sein, bevor er nach Naǧaf in den Irak fliehen konnte. 539 Mūsā aṣ-Ṣadr wurde 1928 in Čahārmardān/Qom geboren, besuchte dort die Grund- und Sekundarschule, danach die juristische Fakultät in Teheran. Er lehrte Recht und Logik in Qom und gründete die Zeitschrift Maktab al-Islām. Nach dem Tod seines Vaters übersiedelte er 1954 nach Naǧaf, studierte bei Muḥsin al-Ḥākim und Abū‘l-Qāsim al-Ḫūʾī und erlangte bereits im Alter von dreißig Jahren den Rang eines muǧtahid. Finanzielle und berufliche Probleme ließen ihn Ende 1959 dem Ruf in den Libanon folgen, wo er auf Einladung der Familie Šarāf ad-Dīn das Amt des Muftī in Ṣūr übernahm, das bis zu dessen Tode im Jahre 1957 der alternde Cousin seines Vaters, Sayyid ʿAbd alḤusain Šarāf ad-Dīn bekleidet hatte. Anderen Darstellungen zufolge soll er als Emissär des Schah in den Libanon entsandt worden sein und wieder andere Quellen wollen in ihm einen Erfüllungsgehilfen Ḫomeinīs sehen, der im Libanon eine Infrastruktur zum Widerstand gegen den Schah errichten und dessen Sturz vorbereiten sollte. Durch präsidiale Verordnung verlieh Präsident Fouad Shihab Mūsā aṣ-Ṣadr die libanesische Staatsangehörigkeit, und die Schiiten des Libanon adoptierten den 31-Jährigen mit dem starken persischen Akzent als einen der Ihren – nicht zuletzt auf Grund seiner familiären Bande zum Libanon und wegen seines religiösen Prestiges. Trotz widersprechender Regelungen im iranischen Zivilrecht kam er durch die Großzügigkeit der iranischen Botschaft in Beirut in den Genuss der doppel540 ten Staatsbürgerschaft. Durch den hohen Grad der Empathie und Identifikation vermochte er es, eine emotionale Brücke zu den Menschen im Südlibanon zu schlagen und sie für sich zu gewinnen. Die libanesische Bereitschaft, einen iranischen Schiismus zu adaptieren, 539 Chehabi, 2006, S. 137: Einer anderen Überlieferung gemäß soll er in Mašhad geboren sein. 540 Jean Aucagne, L’Imam Mūsā aṣ-Ṣadr et la Communauté chiite, in: Traveaux et Jours, Beirut, 1974, Vol. 53, S. 31-51

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zeigte sich bereits in der Übernahme iranischer ʿĀšūrāʾ-Praktiken und hatte Mūsā aṣ-Ṣadr eine komfortable Ausgangsposition verschafft – selbst seine Kritiker bezeichneten ihn schließlich als „Insider“. Die von Mūsā aṣ-Ṣadr nun im fernen Ṣūr praktizierte Verknüpfung von Religion und soziopolitischem Pragmatismus erreichte in den späten 1960ern die schiitischen Modernisten des Hoseinīyeh Ershad Insti541 tuts in Teheran. Der ikonenhafte Vorbildcharakter des eloquenten Klerikers wirkte über die Grenzen hinaus prägend – zum einen für Āyatollāh Ḫomeinī, der – neben vielen anderen Termini – auch das Wortpaar mustaḍʿafūn und mustakbarūn (Unterdrückte und Unterdrücker) aus Mūsā aṣ-Ṣadrs rhetorischem Repertoire übernahm, und zum 542 anderen für Mūsā aṣ-Ṣadrs Freund und Zeitgenossen ʿAlī Šarīʿatī, der nicht zuletzt durch seine Reden im neugeschaffenen Forum der Hoseinīyeh Ershad als Motor des Volksaufstandes eine hochgradige Identi543 fikation der iranischen Bevölkerung mit der Revolution erzielte. Mūsā aṣ-Ṣadr kennzeichnete im Libanon eine Zeit des Übergangs und transportierte einen iranisch gefärbten, aktivistischen Schiismus in den Libanon, der dort bis dato unbekannt war. Der Libanon im Allgemeinen und die Schiiten im Besonderen waren reif und empfänglich für einen politischen Umbruch. Die Machtübernahme der Baʿṯ (Baath)Partei im benachbarten Syrien 1963 und die Gründung der PLO 1964 rückten die interarabische Problematik in den Fokus internationaler Politik und setzten die fragile kommunale Struktur des Libanon enorm unter Druck. Eine wachsende politische Radikalisierung brach sich Bahn, die stark von Mächten außerhalb des Libanon, besonders von Syrien und exterritorialisierten Palästinensern angeheizt wurde, durch deren Vertreibung aus Jordanien 1970/71 eine Verlagerung des Operationszentrums mitsamt des militanten Konfliktpotentials in den Südlibanon einherging. Dort ansässige Schiiten sahen sich durch die mili541 Chehabi, 2006, S. 154 542 Norton, 2007, S. 29 543 Gemäß Dr. Shirin H. Fathi, „Ali Schariati – der Wegbereiter der islamischen Revolution im Iran“, Vortrag im Rahmen eines Berufungsverfahrens, Tübingen am 11.02.2008, bezifferte sich die Beteiligung der Bevölkerung auf ca. 15%.

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tärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der PLO ab 1978, die sozusagen vor ihrer Haustüre stattfanden und 1982 in einer Zerstörung des Südlibanon mit zahlreichen zivilen Opfern gipfelten, zu einer Binnenmigration in den Norden des Landes veranlasst, die u.a. auch von der Hoffnung auf ihren Anteil am dortigen wirtschaftlichen Aufschwung genährt wurde – Ziel waren zunächst vornehmlich die Bekaa-Ebene, dann verstärkt die südlichen Vororte Beiruts, der ḍāḥīyāʾ, wo sie dem ideologischen Einfluss unterschiedlichster politischer Parteien ausgesetzt waren. Erst in der Metropole wurden sie sich ihrer, im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften, unterprivilegierten Situation auf der untersten Stufe der sozioökonomischen Leiter gewahr. Sie sahen sich einer grotesken Entwicklung gegenüber: Während sich Beiruts vornehmlich von „etablierten“ Sunniten bewohnte „Goldküste“ in den Jahren des libanesischen Aufschwungs als Schauplatz exaltierten Wohlstands und ausufernden Konsums gerierte, schwollen die armseligen, hastig aufgebauten schiitischen Slums der Metropole beständig an – in einer prekären Nachbarschaft mit „christlichen Landmigranten und sunnitischen Palästinaflüchtlingen sowie einer bunten Mischung aus christlichen Armeniern, sunnitischen Kurden und exilierten Schiiten 544 aus dem Iran und den arabischen Golfstaaten“. Das Einkommensgefälle innerhalb der stark anwachsenden Bevölkerung war enorm. Gemäß den Angaben bei Joseph Olmert lag 1971 nicht nur das monatliche Durchschnittseinkommen einer schiitischen Familie gegenüber dem nationalen Durchschnitt von 6.247 LBP bei nur 4.532 LBP; die Schiiten stellten darüber hinaus mit 22% den höchsten Anteil der Familien, denen sogar weniger als 1.500 LBP monatlich zur Verfügung stand, und repräsentierten gleichzeitig die Gemeinschaft, die durch eine hohe Geburtenrate bei vergleichsweise geringer Abwan545 derung demographisch am schnellsten wuchs. 544 Stefan Rosiny, Sunniten und Schiiten im Libanon: Dimensionen einer komplexen Beziehung, S. 179, 188, in: Faath, Sigrid, Rivalitäten zwischen Sunniten und Schiiten in Nahost, Berlin, 2010 545 Olmert, 1987, S. 197

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Dass Vorgänge und Ereignisse im „Süden, qua Ğabal ʿĀmil und spirituellen Epizentrum“, so Richard Norton, nicht zuletzt durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Landesteilen ihren Nachhall auch in der schiitischen Gemeinde im Norden hatten, und Zusammenstöße und Konflikte im Süden oft als Vorlagen für Gewalttätigkeiten in den Beiruter Vororten dienten, kann deshalb nicht ver546 wundern. Mūsā aṣ-Ṣadr widerstrebte der Einfluss linker Parteien auf die schiitische Jugend und die Trägheit libanesischer ʿulamāʾ mit ihrer traditionellen ökonomischen Abhängigkeit und zementierten Devotion gegenüber den zuʿamāʾ und entschloss sich zum politischen Schlagabtausch. Damit gewann er – gewollt oder ungewollt – politische Prominenz. Mūsā aṣ-Ṣadr war Produkt seiner Zeit: groß geworden in einem starken klerikalen System und bereit, dem klassischen schiitischen Quietismus, der bis dahin im Libanon gelebt wurde, eine klare Absage zu erteilen. Hierzu sein Statement gegenüber der Zeitung an-Nahār (Beirut) vom 18. Februar 1974: “Those in power say that a cleric must only pray and not engage in other matters; they advise us to fast and to pray for them so that the foundations of their rule will not be shaken, while they distance themselves from religion and exploit faith in order to retain their positions [….]. They themselves are the most heretical 547 of the heretics and the greatest of the atheists.”

Seine Entschlossenheit zum Aktivismus brachte er sehr deutlich zum Ausdruck: “From this day on, we shall cease to maintain quiet. 548 If you maintain the quiet, I will not.” 546 August Richard Norton, Amal and the Shi'a: Struggle for the Soul of Lebanon, Austin, 1987, S. 59 547 Shimon Shapira, The Imam Musa al-Sadr: Father of the Shiite Resurgence in Lebanon, in: The Jerusalem Qarterly, Vol. 44, 1987, S. 129 548 Shapira, 1987, S. 130, Thom Sicking und Shereen Khairallah, The Schi’a Awa-

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In einem ersten Schritt gründete er eine Einrichtung, die sich als Äquivalent zu den Institutionen anderer religiöser Gemeinschaften offizieller Anerkennung erfreuen und einen Prozess abschließen sollte, der durch das französische Dekret vom Januar 1926 eingeleitet worden 549 war: Am 19. November 1967 genehmigte die libanesische Abgeordnetenkammer mit Präsident Charles Helou die Gründung des maǧlis 550 al-islāmī aš-šīʿī al-aʿlā, des „Obersten Schiitischen Rates“, durch den Mūsā aṣ-Ṣadr, der am 22. Mai 1969 zu dessen Vorsitzenden gewählt wurde, in der politischen Landschaft des Libanon enorm an Bedeutung 551 gewann. Diese Position bekleidete er bis zu seinem mysteriösen Verschwinden in Libyen 1978, und hat sie darüber hinaus symbolisch bis 552 heute inne. Während der israelischen Angriffe gründete er das Komitee „Beistand für den Süden“ (Haiʿāʾ nuṣrāʾ al-ǧanūb), in dem sich die religiösen Führer aller Konfessionen des Südlibanon Seit ’ an Seit’ wiederfanden. Den Vorsitz hatte der Maronit Ḫuraiš. Einem Generalstreik am 26. Juni 1970 folgte die Gründung des „Rats des Südens“ (maǧlis al-ǧanūb) – den Nabīh Berrī, Vorsitzender des Führungsrates der AMAL, ketze553 risch „maǧlis al-ǧuyūb“ (Rat der Schatullen) nannte. Als radikaler Sozialreformer und Repräsentant einer neu aufgestellten libanesischen Schia fand Mūsā aṣ-Ṣadr großen Rückhalt im

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kening in Lebanon. A search for radical change in a traditional way, CENAM reports 2, vision and revision in arab society, Beirut, 1974, S. 117-118 (Feststellung geäußert während einer Rede im Februar 1974 in Bidāyil / Bneyel in der Biqāʿ) Die französischen Beweggründe sind schillernd – möglicherweise muss das Dekret als Versuch verstanden werden, die Rivalität zwischen den Religionsgemeinschaften zu schüren. Erstmals jedoch wurde der schiitischen Gemeinschaft eine eigene Gerichtsbarkeit eingeräumt. Ajami, 1986, S. 113 ff., August Richard Norton, Amal and the Shi'a: Struggle for the Soul of Lebanon, Austin, 1987, S. 144-166 Rieck, 1989, S. 105 Über die Gründung des „Obersten Schiitischen Rats”: Thom Sicking und Shereen Khairallah, The Schi’a Awakening in Lebanon. A search for radical change in a traditional way, CENAM reports 2, vision and revision in arab society, Beirut, 1974, S. 98, 108-9 Norton 1987, S. 45, 67

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schiitischen Bürgertum. Sein politischer Stil drückte sich im direkten Aufruf an das Volk aus – und wurde damit zur Herausforderung für die ausschließlich am eigenen Wohl interessierten Großgrundbesitzer, den zuʿamāʾ. Er begeisterte Zehntausende, die an den zahlreichen Massenveranstaltungen im ganzen Land teilnahmen. Seine Reden transportierten eine die Menschen faszinierende Kombination aus politischer Hetzrede und religiöser Predigt, wodurch sie nicht nur Authentizität gewannen, sondern auch seine vollumfängliche Identifikation mit der libanesischen Schia vermittelten und den Nerv der eng mit der Religion und den Traditionen verbundenen Menschen traf, deren politisches Bewusstsein gerade erst erwachte. Die Schere zwischen den reichen, im Überfluss lebenden zuʿamāʾ und der verarmten Bevölkerung schien niemals gravierender auseinanderzuklaffen. Tausenden Libanesen im Norden und Süden, so schreibt Richard Norton, seien nationale Ausweise vorenthalten worden, wodurch ihnen nicht nur der Zugang zum Öffentlichen Dienst, sondern insbeson554 dere auch zu den Wahlurnen versperrt wurde. Ein diesbezügliches Zitat Mūsā aṣ-Ṣadrs, der in seine Rhetorik gezielt Argumente und Termini seiner Gegner einbaute und in der Manier der Linken direkt an die Massen appellierte, findet sich bei Karim Pakradouni: „La droite gouvernante a négligé le Sud depuis l’aube de l’indépendance et les 555 chiites sont devenus les déshérités, le sous-prolétariat du Liban.“ Vehement richtete sich Mūsā aṣ-Ṣadr gleichermaßen gegen Linke wie auch gegen zuʿamāʾ und führte persönlich Demonstrationen, monatli556 che „Sit-in“-Protestaktionen und Hungerstreiks an. Charisma, umsichtige Organisation und Einsatzbereitschaft, so Shimon Shapira, kennzeichneten sein Engagement für das Wohl der schiitischen Gemeinschaft. So habe er den sich aus der Verantwortung schleichenden libanesischen Staat an seine Pflicht gegenüber dem 554 Norton, 1987, S. 47 555 Karim Pakradouni, La Paix manquée, Beirut, 1984, S. 106 556 Salim Nasr, Mobilisation communautaire, Symbolique religieuse et Violence dans le Mouvement de l’Imam Ṣadr, Liban 1970–1975, in: Olivier Carré (Hg.), Radicalismes islamiques, Paris, 1986, S. 130

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stiefkindlich vernachlässigten Süden erinnert und spürbare finanzielle Investitionen in wirtschaftliche Infrastruktur und Einrichtungen der Bildung und Gesundheit und nicht zuletzt militärische Unterstützung gegen die wiederholten israelischen Repressalien verlangt, denen die Landsleute im Süden schutzlos ausgeliefert waren. Während die Linken im Verdacht standen, zusammen mit den Palästinensern ein Komplott gegen den libanesischen Staat zu schmieden, habe Mūsā aṣ-Ṣadr niemals die Legitimation des Staates in Frage gestellt, auf dem die Hoffnung auf gesetzlich garantierte Rechte für die Schiiten des Landes 557 ruhte. Ohne Verbündete jedoch sahen sich Mūsā aṣ-Ṣadr und Hunderttausende libanesischer Schiiten in den frühen 1970ern dem Dilemma der politischen Isolation ausgesetzt. Erstmalig in ihrer Geschichte allerdings waren sie nun organisiert, motiviert und bereit, sich zu artikulieren und weitere Forderungen an den Staat zu stellen, „an den sie sich 558 anschmiegen, wie zerschmettert er auch immer sei.“ Mūsā aṣ-Ṣadr suchte durch „Fundraising“-Reisen dem finanziellen Mangel Abhilfe zu schaffen und fand in Bündnissen mit dem muslimischen Ausland politischen Rückhalt. Dass er dabei vor gewagten diplomatischen Manövern nicht zurückschreckte, zeigen die Anstrengungen, die er im Zuge seiner politischen Annäherung an den syrischen 559 Staatschef Ḥafiẓ al-Asad im Jahre 1973 unternahm. Mit der Umwerbung dieser „schwierigen Braut“ wurde die brisante Frage nach der religiösen Anerkennung der Alawiten (Nusairier) als Teil der Zwölferschia wieder virulent. Um die circa 2000, vom libanesischen Staat mehr oder weniger unabhängigen Alawiten in den Distrikten Tripoli und ʿAkkār unter seinen Einflussbereich zu bringen, ernannte er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Schiitischen Rates im Juli 1973 den 557 Shapira, 1987, S. 124-139 558 Olmert, 1987, S. 200. Über aṣ-Ṣadrs Mobilisierungskampagne der frühen 70er: Ṭalal Ǧaber, Le discours shi’ite sur le pouvoir, in: Peuples Méditerranéens, Paris, 1982, Vol. 20, S. 81-92; Ferdinand Smit, The Battle for South Lebanon, Amsterdam, 2000, S. 61 ff. 559 Olmert, 1987, S. 199

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örtlichen alawitischen Geistlichen Šaiḫ ʿAlī Manṣūr zum zwölferschiitischen Muftī von Tripoli und Nordlibanon und beschwor damit die Ver560 brüderung von „Alawiten und Mutawallī“. Den Terminus mutawālī allerdings hatte er, weil dieser die Inferiorität libanesischer Schiiten impliziere und mit der bedrückenden Vergangenheit der südlibanesischen Schiitengemeinden konnotiere, selbst an anderer Stelle zurückgewiesen und wollte ihn durch die Bezeichnung rāfiḍūn ersetzt sehen. 1974, zwei Jahre nach der ersten Intervention Israels in den Südlibanon, organisierte Mūsā aṣ-Ṣadr unter seinen Anhängern die bereits erwähnte ḥarakat al-maḥrūmīn („Bewegung der Entrechteten“) mit dem wöchentlich erscheinenden Presseorgan Ṣaut al-maḥrūmīn. Die enge Verbindung der AMAL mit der Tyrus (Ṣūr) und die umliegenden Camps kontrollierenden PLO wurde im Juli 1975, kurz nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs offenbar, als durch einen Unfall im palästinensischen Fatḥ-Trainingscamp bei ʿAin al-Binyāʾ die Existenz eines heimlich gegründeten Widerstandsbataillons publik wurde. Die Führungspersönlichkeiten dieses unter dem Akronym AMAL bekannt gewordenen bewaffneten Arms der Bewegung stammten vorwiegend aus dem Iran – darunter Moṣṭafā Čamrān, ʿAbbās Zamānī und Šaiḫ 561 Moḥammad Montaẓerī, Sohn des Āyatollāh Montaẓerī. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die von Mehdī Bāzargān, Yad Allāh Saḥābī, Āyatollāh Ṭāleqānī, Moṣṭafā Čamrān, ʿAlī Šarīʿatī, Ṣādeq Qoṭbzādeh und anderen 1961 gegründete iranische Oppositionsgruppe LMI (,„Liberation Movement of Iran“, Nehżat-e Āzādī562 e Īrān) nach 1963 Mitglieder ins europäische Ausland und den Libanon entsandt hatte, der auch den Brückenkopf für die internationalen 563 Aktivitäten der marxistischen fedāʾiyān-e ḫalq bildete, die ihrerseits

560 Martin Kramer, Syria’s Alawis and Shiʿism, in: Shi’ism, Resistance and Revolution, Tel Aviv, 1987, S. 247 561 Shapira, 1987, S. 130, 135; Pakradouni, 1984, S. 106 562 CHI Vol. 7, Online-edition, S. 270 ff. 563 Chehabi, 2006, S. 189

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wiederum enge Kontakte zur palästinensischen PFLP von Georges Habash pflegte. Ab 1976 betrieb Israel eine Politik der „guten Grenze“ mit der Errichtung zahlreicher Grenzposten. Obstplantagen wurden zerstört, die Region mit israelischen Produkten überflutet und libanesische Bauern dazu veranlasst, in Israel zu arbeiten, während das Grenzgebiet speziell um die Stadt Tyrus (Ṣūr) Israel einverleibt und vom Rest des Landes abgetrennt wurde. Neben vielen Vorträgen, mit denen sich Mūsā aṣ-Ṣadr im ganzen Land leidenschaftlich für die Rechte der Schiiten einsetzte, widmete er sich speziell und ganz praktisch den Problemen der Stadt Ṣūr. Dazu gehörten neben der Einrichtung des „Zentrums für Islamische Studien“, der technischen Schule Ǧabal ʿĀmil sowie der Krankenpflegeschule bait al-faṭāṭ Gründungen zahlreicher sozialer Institutionen, wie die eines Altenheims und eines Internats für Waisen und Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen. Damit sprengte er den bis dahin von seinen Vorgängern sehr eng gesteckten quietistischen Rahmen und beschränkte sich nicht allein auf Ansprachen und das Freitagsgebet. Eins der zahllosen frühschiitischen Paradigmen, die sich durch seine Reden zogen und in denen sich die Schiiten des Südens wiederfinden konnten, war der Vergleich ihrer Situation mit dem Schicksal al-Ḥusains unter Yazīd b. Muʿāwiya. Dass aṣ-Ṣadr auch konfessionsübergreifend und in sämtlichen Bevölkerungsschichten durchgängig erfolgreich und populär war, begründete sich neben seiner enormen Ausstrahlung nicht zuletzt darin, dass er der Jugendarbeit großen Wert beimaß und sich nationaler wie gesellschaftlicher Fragen annahm: Als „Spiegel der schiitischen Seele“ war der Pragmatiker aṣ-Ṣadr Integrationsfigur nicht nur für Schiiten. Unzählige Anekdoten kursieren über Aktionen, in denen er eindrucksvoll und beispielhaft Ressentiments zwischen den Konfessionen abbau564 te. Die Popularität des umtriebigen Imams bei anderen Religionsge564 Ajami, 1986, S. 133 erwähnt die Episode um den christlichen Eisverkäufer in Ṣūr, der bis zu Mūsā aṣ-Ṣadrs Intervention von schiitischen Kunden gemieden wurde.

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meinschaften zeigte sich u.a. in einem Fastengottesdienst, den er im Februar 1975 in einer katholischen Kirche abhielt. Dort war außer den katholischen Kirchenvertretern auch politische Elite anwesend – dar565 unter der ehemalige Präsident Charles Helou. Mūsā aṣ-Ṣadr war sich der Wirkung von Gesten, Zeichen und Mythen überaus bewusst. Vor der Rede, die er dort hielt, soll er zu Karim Pakradouni „ohne mit den Augenbrauen zu zucken“ gesagt haben: „Ich 566 spiele das Spiel der Symbole.“ Als erster schiitischer Führer besuchte Mūsā aṣ-Ṣadr die maronitische Kirche in Bkerkeh/Jounieh, deren Patriarch Antonius Buṭrus Ḫuraiš zu seinen engsten Freunden zählte. Zu seinen Bewunderern gehörten auch der griechisch-katholische Bischof von Ṣūr, Gregoire Ḥaddād sowie der maronitische Pater Yūsuf Karam, 567 der eine Lobeshymne auf ihn schrieb und Pater Yuʿāqīm Mubārak, ein Mitbegründer der „Bewegung der Beraubten“. Das Jahr 1978, in dem nach der israelischen „Operation Litani“ im März mit ca. 2000 Toten und mehr als 250.000 Vertriebenen die UNIFIL als Puffer zwischen der Syrischen Armee nördlich des Litani und der pro-israelischen Miliz (SLA) des von der Libanesischen Armee übergelaufenen maronitischen Majors Saʿd Ḥaddād kontrollierten Grenzgebiets installiert wurde, brachte mit dem Verschwinden von Mūsā aṣṢadr eine entscheidende Zäsur auch für die AMAL und die Schiiten des Landes. “Fidelity to the missing cleric was a potential bridge between Iran 568 and Lebanon.”

Endgültig zur Ikone und personifizierten Symbolik seiner eigenen rhetorischen Figuren und der schiitischen Paradigmen wurde der charismatische Imam mit dem letzten Abschnitt seines Lebens. Am 25.8.1978 war er zusammen mit Šaiḫ Muḥammad Yaʿqūb und dem Journalisten 565 Ajami, 1986, S. 134 566 Pakradouni, 1984, S. 106 567 Titel: Al-Imām ṣaif al-ḥaqīqa, 1975, bei: Andreas Rieck, Die Schiiten und der Kampf um den Südlibanon, Hamburg, 1989, S. 92 568 Ajami, 1986, S. 192

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ʿAbbās Badr ad-Dīn auf Einladung der libyschen Regierung nach Tripolis gereist. Dieser Besuch fand keine Erwähnung in den lokalen Medien; auch der Zweck der Reise blieb nebulös. Letztmalig soll Mūsā aṣṢadr am 31.8.1978 gesehen worden sein. Nach dem mysteriösen Verschwinden des Vaters wandte sich sein Sohn Ṣadr ad-Dīn hilfesuchend 569 an Rūḥollāh Ḫomeinī. Traurige Tatsache ist jedoch, dass diesen Anstrengungen keine positiven Ergebnisse beschieden waren und die damaligen Geschehnisse bis zum heutigen Tage in einen undurchsichtigen Schleier der Obskurität gehüllt sind. Offizielle Stellen versuchten, sein Verschwinden zu bemänteln und legten eine falsche Fährte nach Rom. Der libanesischen Untersuchungskommission, die der Spur des Geistlichen und seiner Begleiter nachging, soll die Einreise nach Libyen verweigert worden sein, weshalb nachfolgende Investigationen ins Leere führten. Auf Grund dieses „Schwebezustandes“ wurde seine Po570 sition im OSR nicht neu besetzt. Obwohl die Ereignisse Spekulationen breiten Raum lassen, wird nicht ausgeschlossen, dass Oberst Qaḏḏāfī selbst für die Vorgänge verantwortlich zeichnete. Enge politische Bande sollen zwischen Libyen, dem Schah und iranischen Gegnern von Mūsā aṣ-Ṣadr bestanden haben. Als seine politischen Widersacher werden vornehmlich Ǧalaled571 dīn Farsī sowie Moḥammad Montaẓerī (1944–81) gehandelt. Dessen Vater, prominenter Schüler Ḫomeinīs, soll engen Kontakt zu Oberst Qaḏḏāfī gepflegt und gleichzeitig enge Beziehungen zur PLO unterhalten haben, der ab 1975 diverse Besuche in PLO-Trainingscamps im Libanon galten. 569 Ajami, 1986, S. 125 570 Hierzu eine Meldung von „aš-Šarq“ am 25.02.2006: „Italienische Richter haben angeordnet, die Ermittlungen im Fall des 1978 verschwundenen libanesischen Schiitenführers Musa al-Sadr einzustellen. [...] Ein Gericht in der italienischen Hauptstadt hat nun den Erkenntnissen von Staatsanwalt Franco Ionta zugestimmt, nach denen es „keinen Beweis“ dafür gebe, dass Libyen am Verschwinden Musa al-Sadrs beteiligt gewesen sei.“ http://alsharq.blogspot.com/ 2006/02/italien-schließt-akte-musa-al-sadr.html, abgerufen am 03.06.2008 571 Gemäß Chehabi, 2006, S. 192, ab 1972 einer der entschlossensten Gegner Mūsā aṣ-Ṣadrs und Mitglied des LMI.

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Bis zum heutigen Tag ist der „Fall Mūsā aṣ-Ṣadr“ offen und es wer572 den die Spekulationen munter weitergestrickt. “An alarming similarity could be traced between Sayyed Musa's invitation to Tripoli and the third Imam's invitation to Qom, and the emptiness after him led Shiite thoughts to the twelfth missing 573 Imam.”

Die Kultur-Multimediaplattform al-mašriq zieht einen Vergleich zu alḤusain, der auf seinem Weg zu den Parteigenossen im irakischen Kūfa – im Zitat ist die Rede von Qom – schließlich in der Ebene von Kerbelāʾ in einen Hinterhalt geriet und den Tod fand. So bekam der Tag, an dem Mūsā aṣ-Ṣadr verschwand, einen dem Trauergedenken an ʿašūrāʾ vergleichbaren Stellenwert im schiitischen Memorationskalender des Libanon. Analog des entrückten zwölften Imām Mahdī und gemäß der schiitischen Tradition hat sich auch bezüglich Mūsā aṣ-Ṣadr die Vorstellung der ġaiba mit der Hoffnung verfestigt, dass auch er einst zurückkehren wird, um seinen angestammten Platz wieder einzunehmen, und machte ihn auch über den Libanon hinaus zu einer unzerstörbaren Legende. Die Quellen zeichnen ein schillerndes Portrait des libano-iranischen Imams. Seine scheinbar universelle Kompatibilität, seine intensiven Kontakte zu unterschiedlichsten Religionsgemeinschaften, politischen Gruppierungen und Regimen passen durchaus ins Bild eines genialen politischen Aktivisten und smarten „global players“. Djalili und Laurent unterstellen ihm gar die Anwendung der für schiitische Verhältnisse nicht ungewöhnlichen taqīya als Teil wohldurchdachter Polit-Strategie, die den Libanon schließlich zum „Sprungbrett für die islamische Revolution“ habe werden lassen:

572 Einen ersten, groben Überblick über die verschiedenen Theorien zum Verschwinden und Verbleib aṣ-Ṣadrs bietet Wikipedia, die wahren Hintergründe bleiben jedoch weiterhin im Nebel politischer Ranküne. 573 http://almashriq.hiof.no/lebanon/300/320/324/324.2/hizballah/warn/rise.html abgerufen am 20.05.2008

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«Grâce à une habile pratique de la taqiya, Moussa Sadr avait su rallier à sa personne un grand nombre de Libanais, et même une partie de l’élite de ce pays, toutes religions confondues, croyant déceler en lui une figure modérée, philosophe et ouverte, fort éloi574 gnée du militant révolutionnaire qu’il était en réalité.»

Spekulationen über die Rolle aṣ-Ṣadrs in dem bis zu seinem Wirken rückständigen libanesischen Süden gibt es zuhauf und vermutlich war es kein Zufall, dass ausgerechnet er für die vakante Stelle in Ṣūr ausersehen wurde: Das auch andernorts traditions- und erfolgreiche Modell der Versippung und Verschwägerung knüpfte, wie schon mehrfach erwähnt, ein engmaschiges kosmopolitisches Schia-Netz, das sich wie ein schiitisches „Familienunternehmen“ liest: Mūsā aṣ-Ṣadrs Schwester ging die Ehe mit Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadr ein, eine Nichte aus der Verbindung einer seiner Schwestern mit Ṣādiq Tabāṭabāʿī war mit Ḫomeinīs Sohn Aḥmad, einer seiner Neffen mit einer Ḫomeinī-Enkelin verheiratet und die Frau des Präsidenten Ḫatamī, dessen Hauptberater 575 lange im Libanon ansässig war, ist Mūsā aṣ-Ṣadrs Nichte. Dass parallel hierzu eine Art geistiger „Kräftebündelung“ mit politischer Zielsetzung stattgefunden hat, verdeutlicht ein Blick auf die Biographien der beiden einflussreichen schiitischen Persönlichkeiten Rūḥollāh Mūsawī Ḫomeinī, der bis zu seiner Abschiebung nach Neauphle-le Chateau vierzehn Jahre im schiitischen Drehkreuz Naǧaf verbracht hatte, und Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadr, den politisch aktiven Āyatollāh und berühmten Vetter des charismatischen Imam im Libanon. 574 Mohammad-Reza Djalili & Annie Laurent, Le Liban à l’épreuve du Khomeinisme, in CdO, Vol. 5, 1987, S. 74. Djalili, geb. 1940 in Teheran, schweizerisch-iranischer Nationalität, Doktor der Politikwissenschaften und der Diplomatie an der Freien Universität Brüssel, 1970 Professor der Rechtswissenschaften und Politikwissenschaft an der Universität Teheran, 1980 an der Universität von Paris II, heute Privatdozent in Genf. Annie Laurent, geboren 1949, Journalistin und Schriftstellerin, promovierte über das Thema „Le Liban et son voisinage (1943–1984)“ an der Université de Paris II, lebte von 1988 bis 1992 im Libanon, wo sie die Zeitschrift „Libanoscopie“ herausgab. Unter ihren Veröffentlichungen findet sich „Guerres secrètes au Liban“, Paris, 1987. 575 Chehabi, 2006, Schaubild 6.1, S. 140

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Beide hatten engen Kontakt in Naǧaf, und während sich Mūsā aṣ-Ṣadr 576 in Tehran im Presseorgan Maktab-e Eslam mit islamischer Wirtschaftslehre befasste, lancierte sein Cousin das zwischen 1960 und 1961 577 entstandene Werk iqtiṣādunā, mit dem er vom Irak aus großen Ein578 fluss auf die 1979 im Namen der „Enterbten“ der städtischen Massen ausgerufene Islamische Revolution ausübte. Der Terminus Maḥrūmūn begegnete uns bereits. Er stand als Namensbestandteil des Programms von Mūsā aṣ-Ṣadr nun auch im Iran Pate für sozio-politische Mobilisierung. 8.4.4.2 ʿAlī Šarīʿatī Als muslimischer Soziologe nutzte der 1933 in Māzinān/Ostiran geborene ʿAlī Šarīʿatī, Absolvent der Universität von Mašhad (1956) und der Sorbonne (1960), die Agitation gegen das Pahlavī-Regime während der späten 1960er und der frühen 70er mit Rückbezug auf die schiitische Religionsgeschichte. Inspiriert und geistig gefördert wurde er von seinem der kommunistischen Tudeh-Partei nahestehenden Vater Muḥammad Taqī Šarīʿatī, der seinerseits bereits die junge Generation zu begeistern suchte und ein islamisches Lehrzentrum etabliert hatte, an dem auch ʿAlī Šarīʿatī mit seiner dem westlichen Jargon angepassten Rhetorik vornehmlich die Jugend ansprach, die er wieder für die Religion zu begeistern wusste, und bei der sowohl seine Vorlesungen als auch seine Schriften außerordentlich populär wurden. Dies rief den Argwohn des Pahlavī-Regimes hervor, aber auch von seiten der Geistlichkeit, die seine fehlende religiös-juristische Ausbildung sowie seinen „roten Schiismus“ monierte, erfuhr er harsche Kritik. Polemiker unterstellten ihm Ketzerei und bezeichneten das Podium

576 Presseorgan der Ḥawza von Qom, erschien erstmalig 1337 h.š./1958 577 Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadr, Iqtiṣādunā, trad. Andreas Rieck, Berlin, 1984, S. 207, 529 578 Shaul Bakhash, Islam and Social Justice in Iran, in: Kramer, Shi’ism, Resistance and Revolution, 1987, S. 95

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Šarīʿatīs zuweilen als „Yazidīye“ oder „Kāfirīye“. Wegen seiner Lehrtätigkeit, die Šarīʿatī ab 1967 an der zwei Jahre zuvor eingerichteten Ḥusainīye ye-Iršād in Teheran ausübte, bezeichnet ihn Karl Hein581 rich Goebel als „Laienprediger“, der es wagte, den ʿulamāʾ vorzuhalten, wegen ihrer falschen und überholten Religionsauffassung den Niedergang des Islam verantworten zu müssen, und eine Anpassung des Glaubens an die Anforderungen der modernen Zeit mittels Rückbesin582 nung auf tawḥīd und iǧtihād einzufordern. Wie Mūsā aṣ-Ṣadr im Libanon, nutzte auch Šarīʿatī im Iran den Symbolcharakter schiitischer Nomenklatur. Der Name der Institution war auch hier Programm: Ḥusainīye assoziiert den Kampf al-Ḥusains gegen Tyrannei und Ungerechtigkeit. Šarīʿatīs Schriften verbreiteten sich in der gesamten islamischen Welt. Er genoss Popularität auch in palästinensischen Kreisen und lie583 ferte einen intellektuellen Beitrag insbesondere für den Libanon, wo sich die soziologischen Voraussetzungen speziell durch die multikonfessionelle Gesellschaft enorm von denen im Iran unterschied en, wo die traditionalistischen ʿulamāʾ keinerlei systemische Reform zuließen. Seine Kritik richtete sich gegen den eine Missinterpretation der ursprünglichen Lehren der Schia billigenden und mit der korrupten Elite kollaborierenden Klerus, dem qua „Berufsethos“ eine Führungsrolle im Kampf für die Unterprivilegierten obliege. Dieser Imperativ begegnete uns bereits in der Definition des Königtums unter den Qāǧāren. ʿAlī Šarīʿatī hielt am 10. November 1972 seine letzte Vorlesung; sieben Tage später wurde die Ḥusainīye ye-Iršād geschlossen und im Som584 mer 1973 folgte seine Inhaftierung. Nach seiner Freilassung 1975 579 Abgestellt wird hier auf den 2. Umayyadenkalifen Yazīd I. b. Muʿāwiya, in dessen Amtszeit das Martyrium al-Ḥusains 680 in Kerbelāʾ und die Oppositionskämpfe gegen ʿAbdallāh b. az-Zubair 64/683-4 mit der sogenannten fitna fiel. 580 Abgeleitet von arab. kāfir (ungläubig, gottlos) 581 Karl-Heinrich Goebel, Moderne schiitische Politik und Staatsidee, Opladen, 1984, S. 196 582 ʿAlī Šarīʿatī, Šahādat, Kongressdokument, 1977, S. 41-43 583 Shanahan, 2005, S. 143 584 Rahnema, 1998, S. 323, 324, 330 ff.

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stand er in seiner Heimatstadt 25 Monate unter Hausarrest, bevor er im Juni 1977 die Erlaubnis zur Ausreise nach England erhielt, wo er noch im selben Monat in Southampton unter mysteriösen Umständen zu Tode kam. Eine Beteiligung des iranischen Geheimdienstes SAVAK 585 wird nicht ausgeschlossen. Mūsā aṣ-Ṣadr hielt die Grabrede und anerkannte Šarīʿatīs ideologische Dynamik, die in nicht unerheblichem 586 Maße auch in die AMAL einfloss. ʿAlī Šarīʿatīs Beisetzung in Damaskus nahe dem Mausoleum der Prophetenenkelin Zainab bint ʿAlī mag seiner Anstrengung um eine Reinterpretation des Schiismus und – analog zu den Bemühungen Mūsā aṣ-Ṣadrs – der Anerkennung der alawitischen Glaubensgemeinschaft als integraler Bestandteil der Zwöl 587 fer-Schia Rechnung tragen.

8.5 Grün auf Gelb – die Hizbollah Seit 1978 nannten sich im Iran Gruppen islamistischer Aktivisten hezbollah und eine Bürgerwehr, die 1980 gegen Anhänger von Premier Mehdī Bāzargān und Präsident Banī Ṣadr vorging, hezbollahi. 1981 an die Macht gekommene Hardliner bezeichneten ihren Staat als „dowlate hezbollahi“. Der Terminus steht im Zusammenhang mit jener Organisation, die aus der Mobilisierung der libanesischen Schia als ḥizb-Allāh hervorging. Wie oben ausgeführt, begann sich mit Mūsā aṣ-Ṣadr eine schiitische Bewusstwerdung im Libanon zu entwickeln und zu manifestieren und kanalisierte sich 1974 schließlich in der Gründung einer Institution mit sozialpolitischer Relevanz. Der ḥarakat al-maḥrūmīn folgte bereits ein Jahr später die AMAL als militärischer Flügel der „Bewegung der Entrechteten“, die im Jahr darauf zu einer politischen Organisation mit islamistischem Charakter wurde. 585 Abdulaziz Abdulhussein Sachedina, Ali Schariati: Ideologue of the Iranian Revolution, in: John L. Esposito, Voices of Resurgent Islam, New York, 1983, S. 196, 208, Rahnema, 1998, S. 330-370 586 Halawi, 1992, S. 176 587 Kramer, Syria’s Alawis and Shiʿism, in: Shi’ism, Resistance and Revolution, Tel Aviv, 1987, S. 250

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Nach dem Verschwinden von Mūsā aṣ-Ṣadr 1978 favorisierte die AMAL mit dem OSR unter Nabīh Berrī und Muḥammad Mahdī Šams ad-Dīn einen demokratischen Pluralismus (at-taʿaddudīya) und hielt 588 zehn Sitze im Parlament. Als Reaktion auf die Haltung der AMAL nach der israelischen Invasion vom 6. Juni 1982 (Operation „Frieden für Galiläa“) mit 57 Luftangriffen auf Tyrus, der Besetzung der Stadt und unter den Ausläufern der Stoßwelle der Iranischen Revolution spaltete sich im Juni des selben Jahres unter Ḥusain al-Mūsawī, der dem 30-köpfigen KommandoRat der AMAL angehört hatte, ein unzufriedener und radikalisierter Zweig von der ḥarakat al-maḥrūmīn (AMAL) ab. Dieser entwickelte sich zu einer politischen Organisation mit islamistischem Charakter und orientierte sich inhaltlich, ideologisch und formal an den Vorgaben Ḫomeinīs. Ḥusain al-Mūsawī schlug das Hauptquartier der Islamischen AMAL Mitte 1986 in der Gegend von Baalbek in der syrisch kontrollierten Biqāʿ auf, wo Syrien bereits 1982 die Aufstellung eines 1000 Mann starken Kontingents von iranischen pasdarān und eines pasdarān-Hauptquartiers in der syrischen Grenzstadt az-Zabadānī, die als Basis der Hizbollah und der Iranischen Garden ab 2011 im syrischen 589 Bürgerkrieg wieder zu zweifelhafter Popularität kam, unterstützte. Offenbar im Auftrag und in Zusammenarbeit mit dem iranischen Botschafter in Beirut, Mūsā Faḫr Rūḫānī, war 1985 unter dem Vorsitz 590 591 von ʿAbbās al-Mūsawī, Šaiḫ Subḥi aṭ-Ṭufailī und Šaiḫ Muḥammad Yazbek die ḥarakat AMAL al-Islāmīya entstanden, wobei das Gros ihrer Anhänger – allesamt Schüler der beiden hochrangigen, aktivistischen Āyatollāhs Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadr und Rūḥollāh Mūsawī Ḫo588 A. Nizar Hamzeh, Islamism in Lebanon: A Guide to the Groups, in: MEQ, Vol. IV, Nr. 3, September 1997, S. 47 ff. 589 Norton, 1987, S. 88, 100 590 Geboren 1952 bei Baalbek, absolvierte von 1969–1970 Studien am Institut für Islamische Studien in Ṣūr und hörte von 1970–1978 in Naǧaf bei Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadr, von wo er im selben Jahr in den Libanon zurückkehrte. 591 Geboren 1948, stammte ebenfalls aus der Nähe von Baalbek, war neun Jahre lang Schüler von Muhammad Bāqir aṣ-Ṣadr in Naǧaf und studierte in Qom. Er kehrte 1970 in den Libanon zurück und war Gründungsmitglied des OSR.

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meinī – sich aus einer Welle libanesischer Kleriker aus Naǧaf rekrutierte, die auf Grund der irakischen Ausweisungspolitik ausländischer ʿulamāʾ in den frühen 1970ern in den Libanon zurückgeschwappt 592 war. Darunter hatten sich auch ʿAbbas al-Mūsawī und Subḥi aṭ-Ṭufailī befunden, die beiden späteren Generalsekretäre der Hizbollah, die zunächst parallel zur noch jungen AMAL arbeiteten und unter der spiri593 tuellen Führung von muǧtahid Ḥusain Faḍlallāh, dem offiziellen Stellvertreter des Groß-Āyatollāh Abū’l Qāsim al-Ḫūʾī in Naǧaf, schiitische Absolventen der Beirut Arab University (BAU) umwarben und religiöse Akademien analog zum Naǧaf-Modell – darunter die ḥauzāt arrasūl al-akram von Šaiḫ Muḥammad Ismāʿīl al-Ḫāliq, dem Repräsentanten des Āyatollāh Montaẓerī – gründeten. Unter den rangältesten Repräsentanten der libanesischen daʿwā befand sich der 1935 bei Zaḥle geborene Sayyid Ibrāhīm al-Amīn – ebenfalls in Naǧaf und Qom ausgebildeter Scheich und zunächst AMAL-Repräsentant in Teheran, später offizieller Sprecher der Hizbollah in Beirut. Späteres Gründungsmitglied und Führer des bewaffneten Kampfes der Hizbollah war der aus dem südlibanesischen Dorf Ǧibšīt stammende schiitische Geistliche 594 Rāġib Ḥarb. Im Laufe der schleppenden Untersuchungen um das Verschwinden von Mūsā aṣ-Ṣadr soll sich das Verhältnis zwischen der AMAL-Führung unter Nabīh Berrī und dem Iran deutlich verschlechtert haben, während sich die iranisch-libyschen Beziehungen konsolidierten. Gemäß Shimon Shapira hatte die AMAL als Gegenleistung für das Asyl, 592 Shapira, Shimon, The Origins of Hizballah, The Jerusalem Quarterly, Vol. 46, 1988, S. 116 593 Muḥammad Ḥusain Faḍlallāh wurde 1935 in Naǧaf geboren und kehrte 1966 in den Libanon zurück. Sein Vater stammte aus ʿAinātā und war 1928 mit der gesamten Familie in den Irak ausgewandert. 594 Raġib Ḥarb wurde 1952 in Ǧibšīt geboren, studierte in Nabaṭīye, dann in Naǧaf und kehrte 1970 in den Libanon zurück, um an der Akademie von Burǧ Ḫamūd ein Studium aufzunehmen. Am Vorabend des Libanonkrieges nahm er am ersten „Weltkongress der Entrechteten“ in Teheran teil. In israelischem Auftrag wurde er am 16.2.1984 ermordet.

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das Mehdī Bāzargān, Ibrāhīm Yazdī, Ṣādeq Qoṭbzādeh und Moṣṭafā Čamrān während der Opposition gegen das Schah-Regime gewährt wurde, militärische Aufbauhilfe und Subventionen für die Berufs- und 595 Technikerschule in Burǧ aš-Šimālī nahe Ṣūr aus dem Iran erhalten. 596 Direktor dieser Schule wurde Nabīh Berrī. Nachdem Teheran während der israelischen Besetzung des Südlibanon 1982 vergeblich versucht hatte, Nabīh Berrī „auf Linie“ zu bringen, entschloss sich der Iran zur Bildung eines alternativen Frontverbands im Libanon. Aus dieser unorganisierten kleinen Gruppe von Klerikern mit radikalschiitischem Hintergrund, zu der sich die „Vereinigung muslimischer ʿulamāʾ des Libanon“, Reste der „Libanesischen daʿwā“ und der „Verband muslimischer Studenten“ hinzugesellten, formierte sich zusammen mit dem „Interessenverband der ʿūlamāʾ des Ǧabal ʿĀmil“, der die ersten gewaltlosen Streiks und Kooperationsboykotts gegen Israel durchgeführt hatte, die sich innerhalb kurzer Zeit zu einer Massenbewegung entwickelnde Hizbollah. Im Südwesten Beiruts unterstützte die iranische Botschaft radikalschiitische Organisationen wie die taǧammūʾ al-ʿulamāʾ al-muslimīn fī Lubnān“. Ḫomeinī-Schüler Sayyid ʿAlī-Akbar Moḥtašamī war 1972 von Naǧaf nach Beirut gekommen und spielte unter anderem zusammen mit dem Hochschullehrer und LMI-Mitglied Ǧalāleddīn Farsī, der sich 597 ab 1972 als einer der erbittertsten Gegner Mūsā aṣ-Ṣadrs zeigte, eine Schlüsselrolle bei der Gründung der Hizbollah. Als iranischer Botschafter in Damaskus koordinierte er 1982 die nach offizieller Lesart zwischen 300 und 400 aus dem Iran in den Libanon entsandten „Revolutionswächter“ („Freiwillige für den Kampf gegen Israel“), die sich in Baalbek längerfristig einrichteten und deren Zahl in den Folgejahren 598 auf zwischen 500 und 1.500 anwuchs. Shapira spricht gar von ursprünglich über 5.000 pasdarān, die über Damaskus nach Baalbek infil595 596 597 598

Shapira, 1988, S. 120 Chehabi, 2006, S. 156 Chehabi, 2006, S. 192-3 Andreas Rieck, Die Schiiten und der Kampf um den Libanon, Hamburg, 1989, S. 416, Fn. 13

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trierten, um das „Revolutionsmodell Iran“ auf den Libanon zu über599 tragen. Die Rolle Syriens und Irans im Kampf um die Macht im Libanon und dessen komplizierte Interessen- und Bündnispolitik für die Zeit zwischen 1979 und 1989 hat Andreas Rieck detailliert herausgear600 beitet. Diese Aktion blieb nicht ohne massive Opposition der libanesischen Schiiten. Insbesondere wandten sich der damalige Generalsekre601 tär der AMAL, Ḥusain al-Ḥusainī, der schiitische Geistliche und In602 tellektuelle Ǧawād Muġniya und die linke Beiruter Tageszeitung El603 Safīr vehement gegen die iranische Einmischung. War knapp 400 Jahre zuvor das intellektuelle Fundament der Schia aus dem Ǧabal ʿĀmil in den Iran exportiert worden, so schien es nun – mutatis mutandis – seit 1979 verstärkt eine Art „Reimport“ der iranischen SchiaRealität in den Libanon zu geben, wofür sich dort offenbar optimale Rahmenbedingungen boten. Durch sein pluralistisch-liberales „laissezfaire“-System entbehrte der libanesische Staat, in dem noch vor 1980 die Termini ḥoǧǧat al-Islām und Āyatollāh gar nicht geläufig waren, einer ernstzunehmenden Kontrollinstanz, verfügte als dritte schiitische Bastion neben dem Iran und Irak über eine propagandistischen Zwecken förderliche, äußerst liberale Presse und offerierte ausländischen Staaten und Organisationen als „Schweiz des Nahen Ostens“ mannigfaltige und sprichwörtlich gewordene Möglichkeiten finanzieller Transaktionen. Über Genese und Verortung der neuen Organisation scheint anfänglich allenthalben Uneinigkeit geherrscht zu haben: In der libanesischen Tagespresse galt die Hizbollah zumindest zu Anfang als lediglich importierte Erscheinung, die ohne politische, ideologische und finanzielle Rückendeckung des Iran über keinerlei Grundlagen im Lande ver599 Shapira, 1988, S. 115-130 600 Andreas Rieck, Abschied vom „Revolutionsexport“?, in: Beiträge zur Konfliktforschung, Vol. 2, Köln, 1990, S. 81-104 601 MERw, Vol. 136 v. 15.12.79, S. 23 602 Rieck, S. 342 603 MERw, Vol. 137 v. 22.12.79, S. 15

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füge. Demgegenüber führt Abu Khalil aus, dass die Hizbollah aus der Binnenpolitik des Libanon und dem sozialen Wandel innerhalb der schiitischen Gemeinschaft erwachsen und dem Iran lediglich die Rolle 605 einer „Hebamme“ zugekommen sei. Der Auffassung des Vorsitzenden der Fakultät für Politische Wissenschaft und Öffentliche Adminis tration an der AUB, Professor A. Nizar Hamzeh, der den Iran eindeutig 606 als Schöpfer, Rat- und Befehlsgeber der Hizbollah identifziert, schließt sich Professor Djalili an und zitiert in der Einleitung zu seinem einschlägigen Artikel den Ḫomeinī-Repräsentanten Āyatollāh ʿAlī Ġayūrī aus dem Jahr 1987: «Ce qui m’a poussé à venir au Liban c’est le peuple musulman en Iran qui considère le Liban comme une partie de l’Iran et l’Iran 607 comme une partie du Liban et ne reconnaît aucune frontière.»

Dies signalisierte – gewollt oder ungewollt – den politischen Kurs, den man im Iran einzuschlagen gedachte. Das offensichtliche Wegbrechen iranischer Skrupel gegenüber der libanesischen Autonomie ging mit wachsender Einflussnahme am Mittelmeer und diversen Versuchen der „Grenz-Überschreitung“ einher. Begehrlichkeiten bezüglich des libanesischen Küstenstreifens waren indes nicht neu: Im Laufe seiner Bemühungen, das Land zur militärischen Kooperation gegen Israel zu bewegen, hatte schon der syrische Verteidigungsminister im Oktober 1955 608 den Südlibanon als syrische Grenze erklärt. 604 Rosiny, 1996, S. 23, Marius Deeb, Militant Islamic Movements in Lebanon: Origins, Social Basis, and Ideologie, Georgetown, 1986, S. 6 und MohammadReza Djalili, Annie Laurent, Le Liban a l’épreuve du Khomeinisme, in: CdO, Vol. 5, 1987, S. 69-80 605 Abu Khalil, Syria and the Shiites: Al-Asad’s policy in Lebanon, in: TWQ, Vol. 12/2, 1990, S. 14 606 A. Nizar Hamzeh, Lebanon’s Hizbullah, from Islamic revolution to parliamentary accomodation, in: TWQ, Vol. 14/2, April 1993, S. 321-337 607 ʿAlī Ġayūrī an die Abordnung des Roten Kreuzes im Libanon, abgedruckt am 16.2.1987 in der libanesischen Tageszeitung „El-Safīr“, aus: Mohammad-Reza Djalili, Annie Laurent, Le Liban à l’épreuve du Khomeinisme, in: CdO, Vol. 5, 1987, S. 69 608 Reuven Avi-Ran, The Syrian Military-Strategic Interest in Lebanon, in: Shi-

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Vom iranischen Parlamentsabgeordneten Ǧalal ad-Dīn Farsī soll 1987 – neben einer neuen libanesischen Staatsflagge – ein aus 157 Paragraphen bestehendes Regelwerk ausgearbeitet worden sein, das analog der Strukturen im Iran einen „Revolutionswächter“ und ein Korps von „Sittenwächtern“ vorsah und am Jahrestag der ersten Erhebung Khomeinis gegen den Schah promulgiert werden sollte. Dieser „Verfas609 sungsentwurf Teherans für den Libanon“ wurde unter anderem dem Oberhaupt der libanesischen Schia, dem Āyatollāh al-ʿUẓmā, Sayyid Ḥusain Faḍlallāh, Nabīh Berrī und Ḥusain al-Ḥusainī zur Konsultation vorgelegt – und abgewiesen. Vor dem Hintergrund vorausgegangener Manöver seitens der libanesischen Politk überrascht eine solche GrenzÜberschreitung nicht: Schon 1958 hatte sich das Schahregime, ermuntert durch Präsident Camille Chamouns Entscheidung für eine Inter610 vention der US-Marines, in die inneren Angelegenheiten des Libanon eingemischt. Parallel zu der Dissidenzbewegung al-Mūsawīs präsentierte sich nun eine schiitische Organisation, die mit der AMAL von Mūsā aṣ-Ṣadr nichts mehr gemein hatte: Bereits 1982 operierte unter dem Namen Ḥizb-Allāh ein Verband fundamentalistischer Ausrichtung, der erst im Frühjahr 1983 (im Zusammenhang mit der Parade zum 5. Jahrestag der Iranischen Revolution am 11.2.1983) als selbständige militärisch-politi611 sche Organisation in Erscheinung trat. Die Krise, die die israelische „full-scale“ Invasion vom Juni 1982, bei der alleine in Ṣaidā ca. 1500 Bewohner (von damals 180.000) getötet und 4000 Häuser in Stadt und Umgebung zerstört wurden und ein Gesamtschaden von geschätzt 300 612 Millionen Dollar entstanden war, hatte den Radikalismus im Land genährt und der Gruppe den Charakter einer auf der Ideologie des Āyatollāh Bāqir aṣ-Ṣadr und Rūḥollāh Ḫomeinī basierenden Massenbemon Shapira, The Origins of Hizballah, JRQ, Nr. 45, 1988, S. 134 609 Amir Taheri, Verfassungsentwurf Teherans für Libanon, in: NZZ vom 05.05.1987, S. 5 610 Chehabi, 2006, S. 26 611 Andreas Rieck, Die Schiiten und der Kampf um den Libanon, Hamburg, 1989, S. 422, Fn. 35 612 So bei Nicholas Blanford, Killing Mr. Lebanon, London, 2007, S. 22

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wegung verliehen. Als deren spirituelles Oberhaupt (al-muršid ar-rūḥī) gilt Šaiḫ Muḥammad Ḥusain Faḍlallāh, der 1934 als Sohn eines libane613 sischen muǧtahids geboren wurde. Die von der Hizbollah installierte soziale Infrastruktur mit Hospitälern, medizinischen Zentren, Supermärkten, Tankstellen und Bauunternehmen wurde bereits 1984 zu 90% aus Teheraner Kassen finanziert. Die 1979 gegründete iranische Hilfsorganisation ǧihād-e sāzandegī fand 1988 ihr Pendant im Libanon unter dem Namen ǧihād al-bināʾ. Letztere suchte durch die finanzielle Unterstützung des Wiederaufbaus 614 die Kriegsfolgen der obdachlos gewordenen Bevölkerung zu lindern. 1989, nachdem der „Kampf um die Vorherrschaft über den Südlibanon“ zwischen AMAL und Hizbollah durch die Intervention syrischer Diplomaten und dem damaligen iranischen Außenminister ʿAlī Akbar Velāyatī beendet worden war, fand der erste Kongress der Hizbollah mit der Wahl ihres Generalsekretärs Subḥi aṭ-Ṭufailī statt. Inwieweit sich die Hizbollah unter dem Vorsitz von Ḥasan Naṣrallāh, der 1992 dem ermordeten ʿAbbās al-Mūsawī als Generalsekretär nachfolgte und über ein Mūsā aṣ-Ṣadr vergleichbares Charisma und ähnliche Rhetorik verfügt, im Laufe des letzten Jahrzehnts vom Iran 615 emanzipiert hat, sei dahingestellt. Ḥasan Naṣrallāh ersetzte den von Mūsā aṣ-Ṣadr geprägten Terminus maḥrūmūn durch den später „kho616 meinistischen“ Begriff mustaḍʿafūn und wurde zur Identifikationsfigur einer Bewegung, die inzwischen einen festen Platz in der politischen Landschaft und im sozialen Gefüge der schiitischen Gemein schaft des Libanon einnimmt. Mit einer modifizierten, aber in gewohnte Symbolik eingebetteten Rhetorik entwickelte sich die Partei von einer universalistische Ziele verfolgenden Kampforganisation zu einer Parlamentspartei des nationalen Widerstands, die primär libanesische 613 Halm, 1988, S. 169 614 Achcar/Warschawski, 2007, S. 52 615 1993 warf Ṣādiq al-Mūsawī (ḥarakat al-Islāmīya) der Hizbollah vor, von der khomeinistischen Linie abzuweichen (Hamzeh, 1997, S. 51). 616 Gilbert Achcar/Michel Warschawski, The 33-Day War, London, 2007, S. 23 (Ableitung von der arab. Wurzel ḍʿf: schwach, unterdrückt, elend halten)

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Interessen vertritt. Nach Anerkennung des Taif-Abkommens von 1989 errang die Hizbollah in den Parlamentswahlen 1992 mit acht Sitzen einen beachtlichen Erfolg. Ihre Organisationsstruktur verdeutlicht die personellen Vernetzungen mit dem Iran, aber auch die bodenständige Orientierung an den libanesischen Verhältnissen. Das Amt des obersten juristischen Ratsmitglieds einer šūra (Ratsversammlung) hatte der Iraner Walī al-Faqīh ʿAlī Akbar Ḫameneʾī inne. Daneben gab es einige aktive Komitees und parteibetriebene Lehranstalten (ḥauzāt al-ʿilmīyeh) in Ṣeddiqīn und Ǧibšīt. Die notwendige Präsenz bei der Basis stellten Wohlfahrteinrichtungen und ein Mediennetz sicher, wobei sich die Radiosender Ṣaut al-Īmān und Ṣaut an-Niḍāl, der Fernsehsender Al-Manār sowie die Zeitungen Al-Ahed (wöchentlich) und Al-Bilād (monatlich) gut etabliert hatten. Ein Hilfskomitee, das eng mit der Märtyrerstiftung muʿassat aš-šahīd 618 zusammenarbeitete, wurde direkt vom Iran alimentiert. Durch die von Ḥusain Faḍlallāh propagierte „Libanisierung“ der Hizbollah und deren Bereitschaft zu Koalitionen konnte die Partei in den Parlamentswahlen von 1996 die Zahl ihrer Sitze noch einmal erhö619 hen. Die Bevölkerung schien mehrheitlich eine Haltung gegenüber der Hizbollah eingenommen zu haben, die Richard Norton 2007 in seinem hoffnungsvollen Ausblick bezüglich der Zukunft des Zedernstaa tes unterstrich: Deren Vorsitzender Ḥasan Naṣrallāh fokussiere eher nicht die Errichtung eines islamistischen Staates am Mittelmeer, sondern setze sich vielmehr ein für eine „facettenreiche, multikulturelle Gesellschaft, die den einzigartigen Charakter und Reiz des Libanon 620 ausmachten. Diese Einschätzung teilt Manuel Samir Sakmani, den die enge Liason der Hizbollah mit der christlichen Freien Patriotischen Bewegung Michel Aouns, „einem ihrer erbittertsten ehemaligen Bürgerkriegsgegner“ zu einer überaus optimistischen Zukunftsperspektive für den Li617 618 619 620

Rosiny, 1996, S. 23 Hamzeh, 1993, S. 326, 327 Hamzeh, 1997, S. 48 Norton, Hezbollah, 2007, S. 158

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banon veranlasst. Dass man „gesellschaftlich keineswegs den integrativen Pfad verlassen“ habe, „sondern vielmehr in steigendem Maße wie eine echte libanesische Mainstreampartei“ auftrete, „die eine konfessionsübergreifende Politik für das gesamte Volk zu betreiben gewillt“ sei, erlaube die Spekulation, dass am Ende eines solchen „Schulterschlusses zwischen moderaten Islamisten und einer die Landesmehrheit der Christen vertretenden Bewegung“ gar die „Abschaffung aller auf konfessioneller Zugehörigkeit beruhenden Ungleichheiten im Liba621 non“ stehen könne.

8.6

Von Händlern, Kaffeehausbesitzern und Papierfabrikanten – die Emigration der Eliten

Nach Frédéric Maatouk fanden sich bereits 1918 zwanzig iranische Fa622 milien in Nabaṭīye – Händler, Tabakbauern, Kaffeehausbesitzer. In den 1920ern galt Beirut als Quelle der Inspiration für die Elite Irans. Im Studium an der kosmopolitischen und toleranten AUB (American University of Beirut) bzw. ihrer Vorläuferin SPC (Syrian Protestant College) in Beirut sahen viele junge und vor allem prominente Iraner die Möglichkeit, eine moderne westliche Erziehung zu genießen, ohne muslimisches Territorium verlassen zu müssen. So studierten unter anderen Amīr ʿAbbās Hoveyda (1917–79), Premierminister des Schah, und sein Bruder Feridūn, iranischer Botschafter bei der UN, am Lycée Français in Beirut. Der Begründer der modernen persischen Prosa, Mohammad Ali Jamalzadeh (1895–1997), entstammte einer Sayyid-Familie in Iṣfahān, die ihre Wurzeln im Ǧabal ʿĀmil hat, und wurde 1908 an die Lazaristenschule in ʿAintūra geschickt. Eine von Mohammad Ali Jazayery erwähnte, innerhalb einer Anthologie erschienene Zukunftsnovelle, die Mohammad Ali Jamalzadeh dort verfasst haben und die in der Hauptstadt einer politisch vereinigten

621 Sakmani, Manuel Samir, Der Weg der Hizbullah. Demokratietauglichkeit, Konfikt und Stabilisierungspotentiale im Libanon. Berlin, 2008. S. 99-100. 622 Maatouk, 1974, S. 42

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ideellen Welt im Ǧabal Lubnān des fernen Jahres 3920 spielen soll, war 623 mir leider nicht zugänglich. Der „Vater der iranischen Physik“, Maḥmūd Ḥesābī (1903–1992), wurde in Tehran geboren, wuchs aber im Libanon auf, nachdem sein Vater eine Stelle als Konsul in Beirut angetreten hatte. Zurück im Iran, gründete er die Universität von Tehran und wurde Bildungsminister im Kabinett von Moḥammad Moṣaddeq. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten aber auch Libanesen in den Iran aus, wo sich gemäß Chehabi 1978 eine 150-köpfige libanesische Kolonie fand – unter ihnen ein Zweig der prominenten libanesische Familie Ǧemayel, deren Spross Louis durch Geburt iranischer Staatsbürger war und 1945 die Kartonagenfabrik seines Vaters Michel Ǧemayel (1893–1974) übernahm, der bereits ab 1921 einen lukrativen Handel mit ausgemusterten französischen Armeelastern mit Reżā Šāh abwickelte, die er gleichzeitig zum Transport von alkoholischen Getränken aus dem Libanon in den Iran nutzte, auf deren Import er das Monopol hielt. Nachdem diese Lizenz 1939 auslief, eröffnete der Sohn 1954 eine Papierfabrik in Mehdiābād in Süd-Tehran, die unter neuer 624 Regie bis heute täglich 1.500 Tonnen Altpapier verarbeitet.

623 Mohammad Ali Jazayery, Review: Modern Persian Prose Literature, JAOS, Vol. 90, 1970, S. 257-265 624 Chehabi, 2006, S. 27

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9 Zusammenfassung der Ergebnisse Manches Detail mag nach Abschluss dieser Arbeit von der Tagesaktualität überholt und auf Grund neuer Erkenntnisse anders zu bewerten sein. Obwohl das Zusammengetragene keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, kann es dennoch seinen Beitrag dazu leisten, nichtssagende Schlagzeilen und Worthülsen mit Fakten aus Geschichte und Tradition zu füllen und die vielen unterschiedlichen, oft aus dem Zu sammenhang gerissenen Medienmeldungen der Neuzeit einzuordnen, zu relativieren und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Geschichte der Schia zu werten. Keine Ressource ist neutral – weder historische noch moderne Quellen oder die Sekundärliteratur – und immer ist das Dargelegte eine subjektiv formulierte Einschätzung des Autors vor dem soziopolitischen Hintergrund seiner Zeit. Dies betrifft nicht zuletzt die wissen schaftlich konträr diskutierten sogenannten Metāwileh und ʿĀmilī. Die unterschiedlichen Forschungsergebnisse und Thesen unterstreichen für die untersuchten Zeiträume ein im Kern altbekanntes Phänomen: Handel, kriegsbedingte Kontakte und Migration sowie die „Suche nach Weidegründen“ oder Flucht vor Naturkatastrophen trugen zu allen Zeiten dazu bei, dass sich Völker, Philosophien, Religionen und Ideen begegnen, sich gegenseitig durchdringen und mischen – insbesondere auf ökonomisch, agrarpolitisch und strategisch attraktiven Gebieten. Dies trifft uneingeschränkt auch für Kontakte zwischen dem Iran, dem 625 Ḥiǧāz, aš-Šām und dem Fruchtbaren Halbmond zu. Migration ließ sowohl in vorislamischer Zeit als auch während der islamischen Eroberungen, insbesondere im Verlaufe von Deportationen, Militärmanövern und Umsiedlungen persischstämmige Menschen im Litoral ansässig werden. Die unterschiedlichen Theorien über den Zustrom dieser Bevölkerungsteile in die Levante zeigen, dass deren vermutete Herkunft aus dem Jemen nicht zwingend gleichbedeutend 625 Gemäß J. Breasted umfasst der „Fruchtbare Halbmond“ Teile Jordaniens, des Libanon, Israels, Syriens, der Türkei, des Irak und Iran. In: Barthel/Stock, 1994, S. 217, Halawi, 1992, S. 227, übersetzt „bilād aš-Šām“ mit „geographisches Syrien“.

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ist mit genuin arabischen Wurzeln. Anhand der Eroberungsberichte der frühen islamischen Historiker aṭ-Ṭabarī und al-Balāḏurī lassen sich Truppenverschiebungen unter al-Muʿāwiya nachzeichnen, die bereits in sāsānidischer Zeit veranlasst und in islamischer Zeit fortgeführt wurden. Die Bezeichnung der einzelnen Heeresteile weisen auf eindeutig persisch organisiertes Militär hin. Neben sogenannten ḥamrāʾ oder den in Syrien als al-furs oder al-fors geläufigen Kämpfer sowie der bereits um das Jahr 35/656 als asāwirah in den Garnisonsstädten Kūfa 626 und Baṣra gängigen persischen Kavallerie mit den abnāʾ al-asāwirah 627 und ihren Anführern, den abnāʾ al-marāziba, gehörten offenbar auch große Gruppen dort lebender persischer abnāʾ al-ʿaǧam sowie persi628 sche Grundbesitzer zum vertrauten Bild. Die Suche nach der Herkunft der ʿĀmila und der Abstammung der Metāwileh im Libanon sowie deren Bezug zu den sogenannten fors oder ḥamrāʾ und deren Einsickerung in die Levante führt, wie gesehen, in ein dorniges Dickicht der Nomenklatur. Begriffliche Ungenauigkeiten, sprachliche Konfusion und die Vermengung und Synonymisierung von ethnischen, religiösen und linguistischen Kategorien ergaben nicht selten Fehlinterpretationen. Edward Saids nicht unumstrittene Kritik an den Orientalisten des 19. Jahrhunderts, darunter d’Herbelot, Lammens, Renan oder Massignon, befasst sich eingehend mit diesem Phä629 nomen. Die Summe des Vorbesagten macht wahrscheinlich, dass bezüglich der Entstehung der Bevölkerungsstruktur des Ǧabal ʿĀmil sowohl persischer Influx durch frühe militärische Deportationen im 7. Jahrhundert eine Rolle spielte, als auch die von Lammens angenommene Abkunft der ʿĀmilī von jemenitischen Einwanderern im 11. Jahrhundert sowie die von Lortet beschriebene persische Migration nach Syrien im 13. Jahrhundert zutrifft. Der Streit um die ethnische Zuordnung „der Schia“, dessen Argumentationen sich nicht selten an Ursprung und 626 627 628 629

McGraw Donner, 1981, S. 231-2/235 Dīnawarī, Al-Aḫbār aṭ-ṭiwāl, 1960, S. 292-295 Zakeri, 1995, S. 205 Said, New York, 1979, beispielhaft S. 75, 268

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Wesen der ʿĀmilī koppeln, scheint damit seiner Grundlage beraubt: Ohne islamische Geschichte mit ihrem Ursprung auf der Arabischen Halbinsel keine Schia, die sich aus den Nachfolgestreitigkeiten nach dem Tod des Propheten zu formieren begann und von dort in den Irak, ans Mittelmeer und in den Iran fortpflanzte, wo sie sich in einer langen und turbulenten Entwicklung zu dem entwickelte, was sie heute ist. Mit anderen Worten: Die Schia ist „arabisch“ durch die Wurzeln der ahl al-bait, der Vorgänge in Saqīfa, ihres religiösen Uradels auf der Arabischen Halbinsel und „iranisch“ durch die ihrer Abstammung nach 630 meist persischen mawālī, die aus soziopolitischen Beweggründen zu ihren ersten Anhängern im Südirak wurden, wo die konstitutiven Ereignisse zur Ausbildung der Partei ʿAlīs stattfanden. Julius Wellhausens Hinweis, die Gründergemeinde habe sich in Kūfa mit den persi631 schen Neubekehrten zusammengeschlossen taucht die Entstehung der Schia im multikulturellen und spirituell variantenreichen Mesopotamien, wo Mysterienkulte und sufisches Gedankengut sich mit gnostischen mandäischen, zurvanistischen und zoroastrischen Glaubensvorstellungen sowie religiösen Inhalten von Juden, Judenchristen und Christen mischten, in ein „iranisch gefärbtes Licht“. Mit ihren zahlreichen Parallelen durch die Anleihen aus der zoroastrischen, vor-zoroastrischen und schiitischen Mythologie und deren Gemeinsamkeiten im kultischen Brauchtum konnten sie leicht Eingang in islamisches, insbesondere in schiitisches Milieu finden. Hierzu Zitate von Ignaz Goldziher und Israel Friedlaender: “The Persian mawālī […] transferred their own religious traditions from their original environment into the new circles; they had only to translate their inherited religious sense into Islamic idiom. They were rather more fitted for this than were the ori632 ginal Arab elements who inwardly rejected Islam.”

630 Sellheim, S. 106 631 Wellhausen, 1901, S. 90 632 Ignaz Goldziher, Muslim Studies, Vol. II, ed. S. M. Stern, Albany, 1971, S. 59-60

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“One of the main obstacles that prevent a proper understanding of the Shiitic movement lies in the nature of the problem, i.e. in the extremely heterogeneous character of its constituent elements. Possibly the rise, but certainly the development of Shiism took place in 'Irak, in the province of ancient Babvlonia shortly before wrested from the Persians, in a country where, as perhaps in no other, different and even conflicting civilizations succeeded and penetrated one another. For thousands of years 'Irak had been saturated with the overwhelming Babylonian culture which, though in other forms and through other channels, as, e. g., the movement of Mani or the peculiar sect of the Mandoeans, exerted its influence centuries after it had disappeared from the surface. It passed through the hands of the Seleucids and was for nearly eight centuries the seat of the powerful civilization of Iran as represented by the Arsacids and Sassanids. It sheltered for a long period a large Christian population which took an active, if not a leading, part in the spiritual life of the country, serving as a medium not only for the doctrines of Christianity, but also for various phases of Greek thought. 'Irak was for many centuries the numerical and spiritual center of the Jewish nation, and on its soil Talmudic Judaism grew up and matured as a leading force in Jewish life. […] Since the bearers of these cultures were the non-Arabic races, and the latter, deceived in their political expectations, joined the political opposition, these new influences also came to 633 be associated with this opposition, i.e. Shiism.”

Hinsichtlich der „Bindeglieder“ innerhalb des „schiitischen Dreiecks“ ist als gesichert festzuhalten, dass vornehmlich mit Beginn der Ṣafavidenzeit ein beträchtlicher gegenseitiger intellektueller Austausch zwischen dem Gebiet des heutigen Libanon und dem Iran stattgefunden hat. Die weitverzweigten familiären Verbindungen der religiösen Prominenz ausgehend vom irakischen Nukleus wurzelten und wirkten seit 633 Israel Friedlaender, The Heterodoxies of the Shiites in the Presentation of Ibn Ḥazm, JOAS, Vol. 28, 1907, S. 4, 5

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Anbeginn auch landesgrenzenübergreifend, weshalb sich eine isolierte Betrachtung nicht selten schwierig gestaltet. Am Beispiel der Familie aṣ-Ṣadr lassen sich diese Verflechtungen im Zusammenspiel ihrer wirkmächtigen Seilschaften innerhalb des politisch-religiösen Geisteslebens bis ins 20. Jahrhundert hinein eindrucksvoll festmachen. Wie schon an anderer Stelle gestreift, inspirierte Groß-Āyatollāh Sayyid Muḥammad Bāqir aṣ-Ṣadr (1935–1980) mit seinem zwischen 1960 und 1961 in Naǧaf verfassten wirtschaftswissenschaftlichen Werk iqtiṣādunā sowohl seinen im Libanon agierenden Cousin Mūsā aṣ-Ṣadr, wie auch die schiitischen Geistlichen im Iran – einschließlich des Āyatollāh Ḫomeinī an der Schwelle zur Islamischen Revolution 1979. Dieses Werk, das unter anderem den Zugriff auf Privateigentum legiti mierte, diente dem iranischen Klerus nachgerade als Rechtfertigung zur Einmischung in die Staatsökonomie. Eine Islamische Republik sollte primär Interessenvertretung der von Ḫomeinī mostażʿafīn (arab.: mustaḍʿafūn) genannten Unterprivilegierten im Kampf gegen die unterdrückenden mostakbarīn (arab.: mu634 stakbarūn) sein und im Namen der städtischen Massen, dieser soge635 nannten „Enterbten“ – ein Terminus, der, wie gesehen, bereits für die im Libanon 1974 von Mūsā aṣ-Ṣadr ins Leben gerufene Bewegung ḥarakat al-maḥrūmīn Pate stand – bahnte sich im Februar 1979 der politische Umsturz an, an dem die untere Mittelklasse im Verbund mit Klerus und Bazar einen beträchtlichen Anteil hatte: Ihre konzertierten Aktionen im Verbund mit den schlechtbezahlten niederen Rängen der Beamtenschaft, Straßendemonstrationen, zu denen auch die enttäuschten „Fluten von Migranten“ aus den Elendsvierteln Tehrans und den Vorstädten gestoßen waren, die, vergleichbar der Binnenmigration im Libanon, auf Suche nach Arbeit und wirtschaftlicher Verbesserung ein Jahrzehnt zuvor aus dem verarmten und vernachlässigten Hinterland 636 in die Metropole geschwappt waren, führten neben den Streiks in Regierungsbüros und staatseigenen Fabriken zur Lähmung der Regie634 Ḫumainī, Rūḥallāh Mūsawī, Ṣaḥīfa-i nūr, Vol. 9, Teheran, 1982, S. 201, 271 635 Bakhash, 1987, S. 95 636 CHI, Vol. 7, S. 293

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rung und schließlich zum Kollaps der Monarchie. Nicht allein die enge Verknüpfung von Politik und Religion in schiitischem Kontext wird in diesem Zusammenhang deutlich, sondern auch die Institutionalisierung einer zum Machtfaktor gewordenen Tradition. „Das Spektrum der oppositionell intellektuellen und sozio-religiösen Strömungen, die im Laufe der Geschichte in die iranische Shiʿah einmündeten, hat ihr eine eigene politische Dynamik und die Fähigkeit zur Anpassung an neue soziale Problemlagen verliehen. Das sind tief verwurzelte, historisch gewachsene Eigenschaften, die sich vielleicht in krisenhaften Konfliktsituationen 637 der Gegenwart wieder bewähren können.“

Einen Eindruck von der hier angesprochenen politischen Dynamik vor dem Hintergrund klerikaler Macht vermitteln die beiden in der Arbeit erwähnten Beispiele der Intervention des Iran am Mittelmeer während der fünfziger und siebziger Jahre, wo man sich in Tehran durch Ausnutzung und Intensivierung der bestehenden engen Kontakte zur dortigen schiitischen Prominenz weiterführende politische Einflussnahme erhoffte. Dieses Unterfangen lenkt den Blick zurück auf die frühe Ṣafavidenzeit, in deren klerikal-politische Kontakte Invitations- und Anwerbungsschreiben oder persönlicher Briefwechsel zwischen Klerikerfamilien tiefere Einblicke erbringen könnten. Weder dies noch Händlerkorrespondenz aus jener Zeit war mir im Verlauf dieser Arbeit zugänglich. Über innenpolitische Vorgänge und außenpolitische Interventionen während der Qāǧārenzeit im Iran und der osmanischen Präsenz im Libanon sind wir, wie auch über Umtriebe in jüngerer Zeit, weit besser unterrichtet. Übergreifende Aspekte des Aufeinandertreffens zweier Länder – hier im Kontakt zwischen dem Iran und dem Libanon – werden in der Regel über eine insbesondere in krisenhaften und politisch instabilen Zeiten politisierte Erinnerungskultur sanktioniert, unter der man eine zu Propagandazwecken verzerrte, mythologisierte und eng mit der Le637 Glassen, 1981, S. 75

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gitimation von Machtansprüchen verbundene, popularisierte Geschichtswahrnehmung versteht. Intentionales Vergessen steht hierbei dem Erhalt eines kulturellen Gedächtnisses gegenüber. Bezüglich beider Kategorien entwickeln Staaten und Organisationen zu unterschiedlichen Zwecken und unter großen Anstrengungen gezielte Strategien. In diese Rubrik fallen die in dieser Arbeit mehrfach thematisierten „inkorrekten Erinnerungen“, die fragwürdige „Authentizität der Vergangenheit“ und die „Konstruktion der Gegenwart“ seitens der Quellen. Gemäß Hamid Reza Yousefi, der am Beispiel der Sartosht- und Avestaforschung sowohl eine positive wie auch negative Erinnerungskultur festmacht, ist Erinnerungskultur ein einseitig ausgerichtetes Ge638 schichtsverständnis auf der Grundlage historischer Fakten. Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftskollegs Berlin, der sich mit der überheblichen europäischen Selbstsicht auf außereuropäische Kulturen und der Instrumentalisierung von Kulturen und Religionen intensiver befasste, schuf in diesem Zusammenhang die dichotomen Begriffe „Be639 lehrungs“- und „Lernkulturen“.

638 Yousefi, 2010, S. 82, 95, Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, München, 2014, S. 51 ff., S. 153 ff. 639 Lepenies, Wolf, Das Ende der Überheblichkeit, Zeit online, Nr. 48, 24.11.1995, abgerufen am 16.12.2017

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11 Stichwortverzeichnis abnāʾ 33, 35, 64, 202 Abū Bakr 48, 50, 51, 55, 68, 150 Abū Ḏarr al-Ġifārī 19-22, 38, 52-54, 60, 68-70, 151, 211, 212 Abū ʿĪsā Obadiah al-Iṣfahānī 65 Abū Muslim 28, 58, 59 al-ʿaǧam 19, 64, 149, 202 aḫbārī 167 ahl al-bait 38, 48, 58 aḥrār 33 Ahrimān 87, 94 Ahura Mazda 87, 90 Ahwāz 61, 62, 98, 145 ʿAinātā 8, 79, 158, 162, 163, 192 ʿĀʾiša 55, 56 Akko 24, 148 Alawiten 47, 67, 93, 181, 182 ʿAlī b. Abī Ṭālib 5, 8, 21, 22, 38-41, 44-60, 63, 65, 68, 82, 84, 96, 97, 100, 111, 138, 141, 146, 151, 152, 163, 203, 212 ʿAllāma al-Ḥillī 93, 154, 157, 169 AMAL 23, 127, 128, 178, 179, 182, 184, 190-194, 196, 197, 214 ʿĀmilī (ʿĀmila) 8, 9, 15, 16, 19, 20, 24, 2945, 61-70, 72, 72, 76, 77, 141, 147, 155, 157, 158, 160-162, 165, 171, 173, 201203, 216 Amīr-e Kabīr 119 ʿAmmār 21, 38, 52, 60, 69, 75 Anglo-Iranian Oil Company 125 Faraḥ Anṭūn 135 Marie Anṭūn Ḥaddād 135 Āq Qoyūnlū 8, 82, 83, 92, 95, 104 Ardā Virāz 90, 210 ʿArqā 39, 146, 147 asāwirah 33, 35, 39, 64, 148, 202 Bībī Ḫānom Astarābādī 135 ʿĀšūrāʾ 57, 137, 140, 149, 172, 176, 186, 215 ʿatabāt 135 Awwalī 29, 34, 77 ʿayyārān 33 āzādān 33 Al-Azhar 75, 114 Baalbek 12, 30, 38, 41, 42, 68, 71, 76, 77, 147, 148, 149, 155, 160, 163, 166, 191, 193, 194 bāb 59

Ibn Bāboye al-Qummī 24, 25 bāmdādān 85 Banū ʿAmmār 73-75, 116 Banū Buḥtur 148, 149 Bāṭinīya 66 Baṣra 8, 34, 35, 39, 50, 54, 56, 60-65, 148, 202 Baybars 75, 76 Bāzargān 182, 190, 193 bāzārī 111, 126 Bektašīya 93 Bilāl 21 Bišāra 162 Būjiden 12, 47, 60, 68, 74, 81, 102, 103, 140, 153, 158 çakar 92 Činvad-Brücke 90 daḫmah 89 ḍamān 133 dehqān 132, 150 Dēnkart 86, 139, 208 dīvānbīǧī 106 dušoḫ 90 Erinnerungskultur 206, 207 Ḥusain Faḍlallāh 192, 196, 197, 198 Fāṭima 8, 46, 100, 111 Fatḥ-Trainingscamp 182 Fatḥ ʿAlī Šāh 110, 119, 121 Fatimiden 47, 60, 68, 72, 73, 74, 174 fiqh 81, 154, 156, 166 fitna 55, 58, 64, 180 fors, furs 9, 35, 38, 62, 71, 145, 147, 149, 202 fuḍalā 8, 67 Ǧabal ʿĀmil 8, 9, 15, 16, 19, 20, 24, 29, 3142, 45, 61, 67-73, 76, 77, 79, 80, 82, 97, 101, 117, 118, 133, 143, 152, 154, 155, 157-162, 165-174, 178, 182, 183, 194, 199, 202, 208, 210, 211, 213-215 Ġadīr Ḫumm 49 ġaiba 24, 46, 69, 186 ǧā-nešīn 110 Ǧangalī 137 ġarbzadegī 9, 136 garōdmān 90 Ǧaʿfar aṣ-Ṣādiq 46, 51, 59, 66, 67, 69, 137 Aḥmad al-Ǧazzār 24, 118, 175

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11 STICHWORTVERZEICHNIS Ḫalīl Ǧibrān 135, 210 Ḥiǧāz 19, 38, 53, 150, 201 Ǧibšīt 192, 198 Ǧizzīn 8, 76, 79, 80, 154, 157, 162 Ǧubail 39, 71, 77, 146, 147, 149 Ǧubāʿ 8, 76, 79, 80, 154-156, 158, 162, 163, 165, 167 Ǧuḏām 30, 36, 37, 56, 72 ġulāt, ġulūw 8, 27, 58, 59, 65, 66, 81, 151, 213 ġusl al-mayyit 51 Ḥaidar-e Āmolī 116 Āl Ḥamāda 42, 68, 77, 149 hamargar 92 Hamdaniden 47, 60, 68, 74, 153 hammistagān 90 al-ḥamrāʾ 9, 33-35, 62, 64 ḫāniqāh 82, 107 ḥarakat al-maḥrūmīn 127, 182, 190, 191, 205 ḥarb tammūz 8, 13, 14 Ḥarfūš 42, 68, 160 Ḫāriǧiten 56, 65 al-ḫāṣṣa 49, 67, 105 Sadeq Hedayat 135, 211 al-Ḥurr al-ʿĀmilī 69, 154, 156, 159, 167, 168, 170, 211 al-Ḥusain 8, 21, 46-48, 51, 56, 57, 73, 97, 117, 137-142, 168, 183, 186, 189, 209 Ḥomṣ 38, 39, 116, 148, 173 Hizbollah (Ḥizb Allāh) 10, 14, 15, 172, 190195, 197-199 Ḫomeinī 79, 126, 174-176, 185, 187, 191193, 195-197, 205 Hülägü 26-28, 82 Ḥurūfīya 93 Ḫūzistān 39, 61, 98 ḫwasrayūn 92 Ibn Mufliḥ 167 Ibn Saʿd 21, 50, 70, 212 iǧtihād 24, 93, 164, 172, 189 Īlḫāniden 27, 109 Imāmīya (Imamiten) 46, 47, 49, 51, 67, 72, 129, 210, 216 ʿĪsāwīya 65 Ismāʿīlīya (Ismāʿīlīten) 26, 66, 67, 74, 153 Kaisānīya 65, 66

Karak Nūḥ 8, 79, 80, 157, 158, 160, 163, 167 al-Karakī 155, 161, 163, 164, 212 al-Kaššī 25 Kerbelāʾ 46, 51, 57, 137, 138, 140, 163, 172, 173, 186, 189 Khosrō Anūširwān 32 Kisrawān 75-77 Kūfa 8, 34, 39, 56-65, 70, 72, 73, 138, 148, 152, 168, 186, 202, 203 al-Kulainī 24 kusti 91 Kyros 75, 143, 144 Laḫm 30, 36, 37, 148 Lammens 22, 23, 30-34, 36-38, 40, 42, 56, 68, 73, 146, 147, 202, 212, 215 laṭm 140 LMI 11, 182, 185, 193 Lortet 4, 33, 42, 132, 202, 213 al-Madāʾin 33, 59, 152 maḥrūmūn 127, 182, 188, 190, 191, 197, 205 madāḫel 9, 123 Mahdī 46, 57, 66, 69, 94, 96, 97, 101, 108, 112, 157, 186, 210 Mais al-Ǧabal 8, 53, 54, 79, 80, 163, 167 Mārib 36, 37 Mašġara 29, 80, 167 mawālī 57, 59, 63-66, 70, 203 Mazdak 20, 66, 84, 85, 210, 212, 217 Métouali (metāwileh, matāwila, mutāwila, mtawleh) 4, 19, 20, 33, 40-44, 53, 68, 149, 201, 202, 212, 215, 217 Miqdād 38, 52, 60 Moḥammad ʿAlī Šāh 119, 122, 123 mollābāši 107 al-Muʿāwiya 34, 35, 38-40, 54-56, 63-65, 70, 145-149, 189, 202 muǧtahid 9, 28, 93, 104-106, 108-110, 112, 123, 156, 163, 164, 170, 171, 174, 175, 192, 197 Muḥarram 57, 140, 212 al-Muḫtār 57, 64, 66 mullābāši 107 muqṭaʿ 132 Mūsā aṣ-Ṣadr 9, 45, 104, 127, 129, 141, 158, 174-186, 189, 190-193, 196, 197, 205, 208 Mušaʿšaʿ 157 mustaḍʿafūn (mostażʿafīn) 176, 197, 205

219

11 STICHWORTVERZEICHNIS mustakbarūn 176, 205 mutaṣarrifīya 78 Muʿtāzila 26 mutʿa 91 Nabaṭīye 8, 29, 42, 79, 80, 127, 134, 140, 157, 163, 172, 192, 199 nahḍa 19, 80, 134 Nāṣer od-Dīn Šāh 119-123 nāṣibī 68 Āl Naṣṣār 42, 68 Nusairier (Nuṣairī, Alawiten) 47, 59, 67, 75, 93, 151, 153, 181, 182 Ohrmāzd 87 ostandar 92 pasdarān 191, 194 patiḫšay 91 PFLP 11, 183 PLO 11, 79, 176, 177, 182, 182 Qādisīya 34, 35, 39, 62, 63, 133 qameh-zanī 140 qiyās 93 Qızılbāš 8, 84, 92, 94, 95, 106, 169 quṭb 99 Rāfiḍīten (rāfiḍūn, rāfiḍī) 51, 68, 153, 182 Reżā Šāh 124, 125, 135, 174, 200 rauẓa-ḫwānī 9, 137, 140 ruvānagān / ruvānagān dafīr 92 ṣadr 9, 45, 104, 105, 107, 164, 165, 169 Ṣafī ad-Dīn 83, 96 Šāh Ismāʿīl 8, 15, 81, 84, 92-94, 96-101, 104, 105, 159, 161, 169 Šāh ʿAbbās 97, 105-107, 124, 156, 158, 166, 167, 170 Šāh Ṭahmāsp 104, 161, 163, 165, 169 ṣāḥib-e zamān 81 Šahrbānū 9, 141, 142 Šaiḫ ul-Islām 104, 117, 165-167 Šaiḫ Ǧoneid 83 Šaiḫ Ḥaidar 83, 95 Ṣaidā 12, 24, 29, 38, 39, 43, 71, 76, 79, 80, 118, 147, 148, 156, 196 Ṣalāḥ ad-Dīn 33, 75 Salmān al-Fārisī 9, 21, 52, 59, 69, 149, 150152, 211 Saqīfa Banī Sāʿida 8, 48, 50, 51, 203 Ṣarafand 53, 54, 80 Sarbedāre 81, 154

ʿAlī Šarīʿatī 9, 21, 126, 137, 176, 182, 188-190 Sawād 8, 62, 146 Sayābiġa 146 Shāhnāmeh 33, 87, 95, 137, 139 Ṭannūs aš-Šidyāq 32, 42, 75, 216 Ṣiffīn 8, 52, 54, 56, 63, 65, 73 Ṣirāṭ 90 Siyāvaḫš 98, 138, 140 sudra 91 Šūf 98, 138, 140 as-Suhrawardī 155 šuʿūbīya 20, 152 Ṣūr 12, 13, 29, 39, 43, 74, 79, 80, 116, 118, 148, 153, 172-176, 182-184, 187, 191, 193 tabarrāʾiyān 97 Ṭalḥa 55, 56 Tamīm 35, 62, 63 tanāsuḫ 59 Tanūḫ 148, 149 taqīya 27, 52, 154, 155, 186, 187 tawwābūn 51 taʿziyeh (taʿziya) 9, 137, 139, 140, 157, 172, 213, 217 timiṯilīya 140 Tīmūr-e Leng 84 Timuriden 98, 104, 105, 109 toyūl-dār 132 Trapezunt 95 Sadeq Tschubak 135, 216 Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī 8, 24-28, 82, 97, 153 Tustar 62 ʿulamāʾ 9, 93, 98, 98, 104-114, 119, 121-127, 136, 154, 156, 159-171, 178, 189, 192, 193, 211, 213 ʿurf 106 uṣūlī 125 Uzun Ḥasan 83, 95 vakīl 105 waṣī 49 waqf 92, 109, 124, 165 Zaiditen (Zaidīya) 32, 47, 67, 153 Ǧurǧī Zaydān 134 ẓill-Allāh 59, 108, 110 Zoṭṭ 146 az-Zubair b. al-ʿAwwām 55 ẓulm 104 zuʿamāʾ 9, 127, 132, 160, 178, 180

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Studien zum Modernen Orient SMO 13

Fawzi Habashi

Prisoner of All Generatons

My Life in the Homeland Egypt Berlin 2011. Pb. 292 pp., 978-3-87997-350-7 SMO 17

Nadine Kreitmeyr

Der Nahostkonfikt drrh ie Adgen Ḥanẓalas

Stereotypische Vorstellungen im Schafen des Karikaturisten Naği al-ʿAli Berlin 2012. Br. 140 S., 978-3-87997-402-3 SMO 18

Yuriy Malikov

Tsars, Cossarks, an Noma s

The Formation of a Borderland Chulture in Northern Kazakhstan in the 18th and 19th Chenturies Berlin 2011. Pb. 321 pp., 978-3-87997-359-8 SMO 19

Chlaus Schönig/Ramazan Çalık/Hatice Bayraktar (Hg.)

Türkisrh- edtsrhe Beziehdngen

Perspektiven aus Vergangenheit und Gegenwart Berlin 2012. Br. 426 S., 978-3-87997-386-6 SMO 20

Ariela Gross

Rearhing wa‘y Mobilization & Recruitment in Hizb al-Tahrir al-Islami A Chase Study Chonducted in Beirut Berlin 2012. Pb. 111 pp., 978-3-87997-405-4 SMO 21

Chhristiane Chzygan

Zdr Or ndng es Staates

Jungosmanische Intellektuelle und ihre Konzepte in der Zeitung Hürriyet (1868–1870) Berlin 2012. Br. 328 S., 978-3-87997-407-8 SMO 22

Eliane Ursula Ettmüller

The Constrdrt of Egypt’s Natonal Self in James Sanua’s Early Satire & Charicature Berlin 2012. Pb. 328 pp., 978-3-87997-411-5

Studien zum Modernen Orient SMO 23

Tobias Lang

Die Drdsen in Libanon dn Israel

Geschichte, Konfikte und Loyalitäten einer religiösen Gemeinschaf in zwei Staaten Berlin 2013. Pb. 174 pp., 978-3-87997-416-0 SMO 24

Mary Beth Wilson

Imparts of Partripatory Development in Afghanistan A Chall to Reframe Expectations Berlin 2013. Pb. 526 pp., 978-3-87997-431-3 SMO 26

Jesko Schmoller

Arhieving a Career, Beroming a Master Aspirations in the Lives of Young Uzbek Men Berlin 2014. Pb. 246 pp., 978-3-87997-440-5 SMO 28

Leila Samadi Rendy

Iranian Diaspora Literatdre of Women Berlin 2017. Pb. 178 pp., 978-3-87997-457-3 SMO 30

Sevil Özçalık

Promotng an Allianre, udrthering Natonalism

Ernst Jäckh and Ahmed Emin in the Time of the First World War Berlin 2018. Pb. 252 pp., 978-3-87997-471-9 SMO 31

Giuliano Mion (ed.)

Me iterranean Contaminatons

Middle East, North Africa, and Europe in Chontact Berlin 2018. Pb. 240 pp., 978-3-87997-468-9 SMO 32

Egodi Uchendu

Islam in the Niger Delta (1890–2017) A Synthesis of the Accounts of Indigenes and Migrants Berlin 2018. Pb. 240 pp., 978-3-87997-468-9 Klaus Schwarz Verlag GmbH  Fidicinstr. 29  D–10965 Berlin Tel. +30–916 82 749  +30–916 82 751  Fax +30–322 51 83

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