Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps: Kommentare und Fortsetzungen 9783495823804, 9783495491294

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Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps: Kommentare und Fortsetzungen
 9783495823804, 9783495491294

Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Jan Schapp: Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie
I. Vorbemerkung
II. Die Philosophie der Geschichten im Grundzug
III. Das Leben in einer positiven Welt
IV. Die Deutung der Welt Homers durch Wilhelm Schapp
V. Die Lebensgeschichten der in Geschichten Verstrickten
VI. Verstrickt in Geschichten der Wissenschaft
Literatur:
Abteilung I: Kommentare
Jan Schapp: Geschichten und Vernunft
Literatur:
Susan Gottlöber: Phänomenologie
A) Kurze Darstellung der Inhalte: Die Fundierung von Schapps Denken in der Phänomenologie
1. Erste Schritte in die Phänomenologie
2. Rechtsphänomenologie
3. Die latente Weiterführung der phänomenologischen Herangehensweise in der ›Philosophie der Geschichten‹
B) Kritische Auseinandersetzung
C) Schapp weiterdenken: Durch die Philosophie der Geschichten zu einer Kritik der Phänomenologie
Literatur:
Christine Waldschmidt: Dichtung
Literatur:
Antje Linkenbach: Bhagavadgita
1. Die Bhagavadgita: eine Geschichte als Zugang zur indischen Welt
2. Die Bhagavadgita
2.1 Text und Kontext oder Geschichte und Vorgeschichte
2.2 Normative Konflikte und göttliche Lehren
3. Wilhelm Schapps Interpretation der Bhagavadgita
3.1 Krieg und Töten als moralischer Konflikt
3.2 Die Unsterblichkeit des Selbst und die Relativierung des Lebens
3.3 Verstrickung in Geschichten bei gleichzeitiger »Nichtigkeit« der Geschichten
3.4 Konflikt und Offenbarung – die Frage nach der Einheit der Dichtung
4. Die Bhagavadgita im interkulturellen Vergleich: ein Fazit
Literatur:
Andreas Hütig: Sprache und Sprechen – Ausdruck und Bedeutung
1. Zu Inhalt und Begrifflichkeit
2. Kommentar
3. Perspektiven
Literatur:
Karen Joisten: Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums.
Grundzüge der Metaphysik des Muttertums
a) Das Muttertum
b) Das Vatertum
c) Die Wesenheiten Mann und Frau
2. Gesprächsanlässe
Literatur:
Abteilung II: Die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps – Fortsetzungen
Abteilung II.1: Brückenschläge
Nicole Thiemer: Essentia oder existentia?
I. Zur Geschichtenphilosophie
II. Essentia und existentia
III. Zum Menschsein als In-Geschichten-Verstricktsein
IV. Zwischen essentia und existentia
Literatur:
Dirk Stederoth: Die Narben der Geschichten.
1. Ozeanische Hintergründe: Der Horizont und das Unbewusste
2. Geschichten auf Tauchstation: Erinnern, Vergessen und die Verdrängung
3. Verstrickte Fremdkörper: Normale und pathologische Geschichten
4. Wunden und Narben der Geschichten
5. Schluss
Literatur:
Volkmar Ortmann: »Legenden als Geschichtsquellen.«
1. Adolf (von) Harnack (1851–1930)
2. Legenden als Geschichtsquellen
2.1 In Geschichte(n) verstrickt
2.2 Wahre und falsche Legenden – die Ambivalenz der Verstrickung in Geschichte(n)
2.3 Die Möglichkeiten, Geschichte(n) zu verifizieren
3. Geschichte und Geschichten
Literatur:
Manuel García Serrano: Die narrative Entstehung der personalen Identität
I.
II.
III.
IV.
V.
Literatur:
Kulturelle Identität durch Erzählung.
1. Japan zwischen Fremd- und Eigenbestimmung
1.1 Nativismus und japanisches Selbstbewusstsein
1.2 Wendung zum ländlichen Japan und zur mündlichen Tradition
1.3 Japans kulturelle Auseinandersetzung mit dem Westen
2. Kunio Yanagita als Begründer der japanischen Volkskunde
2.1 Inspiration durch westliche Erzählwerke
2.2 Skepsis gegenüber westlichen Wissenschaftsmustern
3. Die Begründung der japanischen Volkskunde
3.1 Die Frage nach der wissenschaftlichen Ausrichtung der Volkskunde
3.2 Das Problem der Methode
4. Die Inhalte der Volkskunde
4.1 Der Tengu-Glaube
4.2 Das Tōno-monogatari
4.3 Ahnenverehrung als japanische Spiritualität
5. Die Macht des Erzählens: Ein Resümee
Literatur:
Abteilung II.2: Minima
Désirée Monsees: Im Horizont der Dichtung – Wilhelm Schapp und die Welt der Dichtung und Dichter
Gebilde Tod
Weisheitswissen
Literatur:
Corvin Cornelius: Durch den Traum hin zum Menschen
Literatur:
Verena Häseler: Endlose Verstrickung?
Literatur:
Benjamin Schöter: Diesseits und Jenseits der Sprache – Geschichten als Zugang zur Welt.
Kohärente Deformierung
Die praxeologische Soziologie Bourdieus und das Konzept des Habitus
Ausblick
Literatur:

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Karen Joisten / Jan Schapp / Nicole Thiemer (Hg.)

Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps Kommentare und Fortsetzungen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823804

.

B

Karen Joisten, Jan Schapp, Nicole Thiemer (Hg.) Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Karen Joisten, Jan Schapp, Nicole Thiemer (Hg.)

Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps Kommentare und Fortsetzungen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Karen Joisten, Jan Schapp, Nicole Thiemer (eds.) The Reception of Wilhelm Schapp’s ›Philosophy of Stories‹ (Geschichtenphilosophie) Comments and Continuations

Wilhelm Schapp’s philosophy, due to his original approach to the philosophy of stories and storytelling, is attracting increasing attention in the transdisciplinary exchange on a narrative understanding of the lifeworld. The present volume brings together interdisciplinary contributions which, for the first time, deal not only with the writings of Wilhelm Schapp during his lifetime, but also with his posthumous writings published by the Verlag Karl Alber since 2016.

The editors: Karen Joisten is professor of philosophy at the TU Kaiserslautern. Jan Schapp held the chair of Civil Law and Philosophy of Law at the University of Gießen until 2006. He is the son of Wilhelm Schapp. Nicole Thiemer is a research assistant at the Department of Philosophy at the TU Kaiserslautern.

https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Karen Joisten, Jan Schapp, Nicole Thiemer (Hg.) Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps Kommentare und Fortsetzungen

Die Philosophie Wilhelm Schapps findet aufgrund seines originären Ansatzes der Geschichtenphilosophie im transdisziplinären Austausch über ein narratives Lebensweltverständnis zunehmend Beachtung. Der vorliegende Band versammelt interdisziplinäre Beiträge, die sich zum ersten Mal nicht nur mit den von Wilhelm Schapp zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schriften, sondern auch mit seinen seit 2016 im Verlag Karl Alber veröffentlichten Nachlassschriften auseinandersetzen.

Die Herausgeber: Karen Joisten ist Professorin für Philosophie an der TU Kaiserslautern. Jan Schapp hatte bis 2006 den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie der Universität Gießen inne. Er ist der Sohn Wilhelm Schapps. Nicole Thiemer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Philosophie der TU Kaiserslautern.

https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Mit Unterstützung der Gerhard teu Doornkaat Koolman-Stiftung

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49129-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82380-4

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Jan Schapp: Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie . . .

15

Abteilung I: Kommentare Jan Schapp: Geschichten und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Susan Gottlöber: Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Christine Waldschmidt: Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Antje Linkenbach: Bhagavadgita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Andreas Hütig: Sprache und Sprechen – Ausdruck und Bedeutung . . . . . . .

107

Karen Joisten: Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums. Grundzüge und Gesprächsanlässe . . . . . . . . .

123

7 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Inhaltsverzeichnis

Abteilung II: Die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps – Fortsetzungen Abteilung II.1: Brückenschläge Nicole Thiemer: Essentia oder existentia? Vom wesentlichen und geschichtlichen Verstricktsein des Menschen in Geschichten . . . . . . . . . .

149

Dirk Stederoth: Die Narben der Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und die Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . .

164

Volkmar Ortmann: »Legenden als Geschichtsquellen.« Kirchengeschichtliche Aspekte einer Philosophie der Geschichten . . . . . . . . . .

177

Manuel García Serrano: Die narrative Entstehung der personalen Identität . . . . . . .

192

Angelika Bönker-Vallon: Kulturelle Identität durch Erzählung. Kunio Yanagita im Kampf gegen westliche Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .

230

Abteilung II.2: Minima Désirée Monsees: Im Horizont der Dichtung – Wilhelm Schapp und die Welt der Dichtung und Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Corvin Cornelius Kloppenburg: Durch den Traum hin zum Menschen

259

. . . . . . . . . . . . . 266

8 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Inhaltsverzeichnis

Verena Häseler: Endlose Verstrickung? Wilhelm Schapp und Jacques Derrida; zwischen Geschichte(n) und Kontext(en) . . . . . . . . . . .

270

Benjamin Schöter: Diesseits und Jenseits der Sprache – Geschichten als Zugang zur Welt. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie im Kontext Pierre Bourdieus praxeologischer Soziologie . . . . . . . . . .

277

9 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Vorwort

Das vorliegende Buch mit dem Titel Die Rezeption der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps. Kommentare und Fortsetzungen versammelt Beiträge, die der Auseinandersetzung mit Wilhelm Schapps Philosophie entspringen. Dazu zählen nicht nur die von ihm zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schriften, sondern auch die Nachlassschriften Wilhelm Schapps, die seit 2016 in der Reihe: Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass veröffentlicht werden. 1 Dieses Buch begibt sich daher gewissermaßen auf Neuland, insofern es erstmals ermöglicht, Veröffentlichtes und bis 2016 Unveröffentlichtes zu rezipieren und weitere Deutungsperspektiven zu erschließen. Es ist üblich geworden, Wilhelm Schapps originären philosophischen Ansatz mit der Überschrift Geschichtenphilosophie zu versehen. Diese bestand vor dem Erscheinen der unveröffentlichten Manuskripte Wilhelm Schapps aus den Schriften: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding von 1953 (Frankfurt a. M. 52012), Philosophie der Geschichten von 1959 (Frankfurt a. M. 32015) und Metaphysik der Naturwissenschaft von 1965 (Frankfurt a. M. 32009). 2 Insbesondere die Nachlassmanuskripte der 50er und 60er Bei Teilen des Vorwortes handelt es sich um eine Wiederaufnahme von Passagen aus den Vorworten von Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten, Teilband I– III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg/München 2016– 2018 (Band 1–3 der Reihe: Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass), und von Geschichten und Geschichte, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg/München 2019 (Band 4 der Reihe: Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass). 2 Darüber hinaus veröffentlichte Schapp zu seinen Lebzeiten folgende Schriften: Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 1. Bd.: Der Vertrag als Vorgegebenheit, Berlin-Grunewald 1930, und 2. Bd.: Wert, Werk und Eigentum, Berlin-Grunewald 1932, Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag 1965, und Erinnerungen an Edmund Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976 (EV in: Edmund Husserl 1859–1959. Recueil commémoratif publié à l’occasion du centenaire de la naissance du philosophe, hg. v. H. L. Breda, Den Haag 1959, S. 12–25). 1

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Vorwort

Jahre dokumentieren Schapps ständiges Vertiefen, Präzisieren und Ausweiten seines geschichtenphilosophischen Ansatzes sowie die Vielfalt an Themen der Geschichtenphilosophie, die in den drei, zu Lebzeiten Schapps, veröffentlichten Schriften nicht oder nur am Rande in Erscheinung treten. Bisher liegen zwei Sammelbände vor, die Wilhelm Schapps Philosophie im zeitgenössischen philosophischen wie auch transdisziplinären Diskurs zum Thema haben, nämlich Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, hg. v. Karl-Heinz Lembeck, Würzburg 2004, und Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, hg. v. Karen Joisten, Freiburg i. Brsg. 2010. Der vorliegende Band ist, wie angedeutet, eine wichtige Ergänzung und Erweiterung der Rezeption der Geschichtenphilosophie Schapps, da nun auch die Nachlassschriften Schapps Berücksichtigung finden und Beiträge zur Schappforschung versammelt sind, die einen weiteren Horizont der Geschichtenphilosophie eröffnen. Der Band beginnt mit einer Einführung in die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps von dessen Sohn Jan Schapp, der ein ausgewiesener Experte der Geschichtenphilosophie ist. Er ist den beiden folgenden Abteilungen vorangestellt, da er gewissermaßen übergreifend den Grundzug der Philosophie seines Vaters herausgearbeitet hat und die »positive Welt des in Geschichten Verstrickten« und die »Mitverstrickung« darlegt. Darüber hinaus wird auch das Thema »verstrickt in Geschichten der Wissenschaft« erörtert und die Frage verfolgt, ob und inwiefern »die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps nun auch etwas zu unserem Selbstverständnis als Wissenschaftler beizutragen [vermag].« Die weiteren Beiträge wurden von den Herausgebern in zwei Abteilungen eingeordnet. Die erste Abteilung beinhaltet Kommentare, die sich explizit mit den Schriften Schapps zwischen der Entstehung von In Geschichten verstrickt und Philosophie der Geschichten auseinandersetzen. Im Vordergrund steht hier das Nachlassmanuskript In Geschichten verstrickt (Fortsetzung), das Schapp zwischen 1954 und 1956 verfasste. Dieses Manuskript ist in drei Teilbänden unter dem Titel Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I– III im Alber Verlag veröffentlicht worden. Gegenstand der Beiträge der ersten Abteilung sind ausgewählte Themen, die Schapps Denken der Geschichtenphilosophie in den 50er Jahren durchgängig beschäftigt haben, nämlich die Phänomenologie, die Dichtung, die Sprache 12 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Vorwort

(hier unter dem Thema: Ausdruck und Bedeutung), die Auseinandersetzung mit der Bhagavadgita sowie das Thema Muttertum, das zwar eher implizit Gegenstand der Geschichtenphilosophie Schapps ist, jedoch immer wieder aufscheint. Die Kommentare gehen nicht in der rekonstruierenden Darstellung der genannten Themen auf, sondern stellen eine philosophisch kritische Auseinandersetzung mit Schapps Denken und ein Weiterphilosophieren mit den Ansätzen seines Denkens dar. Die zweite Abteilung trägt den Titel Die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps – Fortsetzungen und untergliedert sich in zwei Felder: Brückenschläge und Minima. Hier sind Beiträge versammelt, die im Zuge der Tagung, In Geschichten verstrickt. Die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps (1884–1965), anlässlich des 50. Todesjahres Wilhelm Schapps in der Evangelischen Akademie in Hofgeismar 2015 entstanden sind. Bei der Tagung trugen sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, die sich über eine längere Zeit intensiv mit dem Denken Wilhelm Schapps beschäftigt haben, wie auch Studierende der Philosophie der Universität Kassel, die sich ein Semester lang in Schapps Geschichtenphilosophie eingearbeitet hatten. Die studentischen Beiträge erscheinen in der Rubrik Minima, wobei die Bezeichnung kenntlich macht, dass diese kürzer gehalten sind als die Artikel der Rubrik Fortsetzungen. Inhaltlich diskutieren die Beiträge dieser Abteilung aus philosophischen Perspektiven Grundthemen der Geschichtenphilosophie (wie z. B. das In-Geschichten-Verstricktsein, die narrative Identität und die Dichtung), wobei darauf geachtet wurde, Bezüge zum zeitgenössischen philosophischen Diskurs herzustellen. Darüber hinaus beinhaltet diese Abteilung interdisziplinäre Auseinandersetzungen mit der Geschichtenphilosophie, und zwar auf den Feldern der Psychoanalyse, der Theologie, der Literaturwissenschaft, der Japanologie wie auch der Soziologie. Zwei Zielrichtungen werden mit Kommentare und Fortsetzungen verfolgt, nämlich die Nachlassschriften Wilhelm Schapps im Zusammenhang mit den von ihm veröffentlichten Bänden der Geschichtenphilosophie zu deuten sowie der Leserschaft weitere Aspekte der interdisziplinären Schappforschung zur Verfügung zu stellen. Wird in den Beiträgen auf Nachlassschriften Bezug genommen, so verweist die Angabe [Seitenwechsel; S. X] auf die Seitenzahl, die Wilhelm Schapp selbst seinen Manuskripten aus dem Nachlass gegeben hat. Die Nachlassschriften Wilhelm Schapps befinden sich teils in privatem Besitz, der Großteil der zumeist maschinenschriftlich fixierten 13 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Vorwort

Diktate und der korrigierten Durchschläge der Manuskripte der veröffentlichten Schriften, Notizen und einige Briefwechsel Wilhelm Schapps wird im Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt, und zwar den Zeitraum 1920 bis 1965 umfassend. Der Nachlass verdeutlicht, dass Wilhelm Schapp sein ganzes Leben intensiv philosophierte und kontinuierlich und konsequent seinen Weg einer Herausbildung und Entfaltung eines eigenen Ansatzes verfolgte. Der Nachlass zeigt bspw., dass die phänomenologischen Fragen seiner Dissertation weiter durchdacht und entwickelt wurden. Er gibt Einblicke in die Lektüren Wilhelm Schapps – seine gedanklichen Auseinandersetzungen mit der Phänomenologie Edmund Husserls, dem frühen Göttinger und Münchener Phänomenologenkreis, der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der Sprachphilosophie im Sinne Ferdinand de Saussures, der Relektüre vorsokratischer Denker etc. Auch lässt er Einblicke in biographische Zeitgeschichte zu. So finden sich zahlreiche von Wilhelm Schapp veröffentlichte Artikel zum Schuldnerschutz, Korrespondenzen mit Rudolf Smend, Hermann Noack, Roman Ingarden, Friedrich Kambartel, Alexander Pfänder, Herbert Spiegelberg – um nur einige zu nennen. Danken kann darauf reduziert werden, eine bloße Pflichterfüllung zu sein. Im Verständnis der Herausgeber ist es aber die Möglichkeit, sich den Personen und Institutionen zuzuwenden, dank derer die Herausgabe dieses Buchs überhaupt realisiert werden konnte. Auch wenn ein Buch sich nach der Herausgabe schnell liest, so gehören doch viele Menschen dazu, die es in seine Form bringen. An dieser Stelle möchten die Herausgeber daher nachdrücklich Verena Häseler M.A., Anke Janssen M.A., Tobias Renner M.Sc. und Elke FuchsFalkenbury danken. Und ein Projekt kann nie ohne finanzielle Unterstützung umgesetzt werden. Ein großer Dank geht an die Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung, ohne deren Interesse an der Schappforschung und finanzielle Unterstützung die Herausgabe der unveröffentlichten Nachlassschriften Wilhelm Schapps sowie dieses Bandes nicht möglich wäre. Die Herausgeber

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Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie Jan Schapp

I.

Vorbemerkung

»Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. Geschichte und In-Geschichten-verstricktsein gehören so eng zusammen, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann. Die größten Werke der Menschheit haben Geschichten und Verstricktsein in Geschichten zum Gegenstand. Wir brauchen nur einige Namen wie Homer, die Bibel, Dante, Cervantes, Swift, Shakespeare, Goethe, Dostojewski zu nennen, und schon leuchtet eine unendliche Folge von Geschichten, in die Menschen verstrickt sind, vor uns auf.« 1

Mit diesen Worten beginnt Wilhelm Schapp 1953 sein Buch In Geschichten verstrickt. Er legt mit diesem Werk die Grundlage zu seiner Philosophie der Geschichten, die er 1959 in Philosophie der Geschichten und 1965 in Metaphysik der Naturwissenschaft weiter entfaltet. 2 Die Wendung »in Geschichten verstrickt«, also der Titel des ersten Buches dieser Trilogie, stellt das immer wieder intonierte Leitmotiv dieser Philosophie der Geschichten dar. Wer sich heute mit der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps näher befasst, wird es häufig in der Erwartung tun, sein eigenes Leben oder – vielleicht vorsichtiger – seine eigene Biographie besser zu verstehen. Diese Erwartung liegt für den älteren Menschen mehr oder weniger auf der Hand. Beim jüngeren Menschen scheint sie weniger deutlich zu sein, dürfte aber abgeschwächt auch vorhanden sein. Wie meine Einführung in Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie ergeben wird, 3 nimmt der Hörer und Leser damit eine Haltung ein, 1 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 1. 2 Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 52015; ders.: Metaphysik der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 32009. 3 Die früheste Einführung in die Geschichtenphilosophie nach dem Tode von Wil-

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Jan Schapp

die durchaus im Sinne der Geschichtenphilosophie liegt. Ich möchte allerdings bitten, dass sie auf sich zukommen lassen, wie weit dieser Erwartung dann schließlich auch Genüge geschieht. Lassen sie mich, lieber Leser, zunächst einige Bemerkungen über den Lebenslauf meines Vaters machen, bevor ich versuche, Ihnen die Philosophie der Geschichten im Grundzug vorzustellen. Mein Vater wurde 1884 in Timmel im Landkreis Aurich in Ostfriesland geboren. Er studierte Rechtswissenschaft und Philosophie in Freiburg und Berlin. Zu seinen Lehrern gehörten Heinrich Rickert und Wilhelm Dilthey. Nach Ablegung des juristischen Staatsexamens setzte er ab 1905 neben dem juristischen Vorbereitungsdienst das Studium der Philosophie in Göttingen bei Edmund Husserl fort. 1908 studierte er ein Semester in München bei Alexander Pfänder. Er promovierte 1909 bei Husserl in Göttingen mit der Arbeit Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, die 2013 in fünften Auflage (Frankfurt a. M.) erschienen ist. Das Buch gilt als signifikantes Beispiel für die Art phänomenologischer Forschung in der Zeit der klassischen Phänomenologie vor dem Ersten Weltkrieg. 4 Mein Vater folgte der Anregung Husserls, die wissenschaftliche Laufbahn zu ergreifen, nicht, sondern ließ sich 1911 nahe seinem Geburtsort in Aurich als Rechtsanwalt und Notar nieder. Er führte die Praxis bis zu seinem Tode in seinem 81. Lebensjahr 1965. In den dreißiger Jahren schrieb er drei Bücher zu den Themen Vertrag, Eigentum und Familie. Es handelt sich um eine Phänomenologie der Werte, teilweise in Anknüpfung an Adolf Reinach. Das dritte Buch Zur Metaphysik des Muttertums aus dem Jahre 1937 ist erst 1965 bei Martinus Nijhoff in Den Haag erschienen. 5 In den fünfziger und sechziger Jahren begründet Wilhelm Schapp seine Geschichtenphilosophie mit den drei schon genannten Büchern. Sie lassen sich als Spätphilosophie den Werken der frühen helm Schapp habe ich bereits 1968 in Sein und Ort der Rechtsgebilde (Schapp, Jan: Sein und Ort der Rechtsgebilde. Eine Untersuchung über Eigentum und Vertrag, Den Haag 1968, 1. Teil) gegeben. Ich konnte darauf – auch nach so langer Zeit – hier noch zurückgreifen. 4 Vgl. hierzu auch Schapp, Wilhelm: Erinnerungen an Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976. 5 Bei den beiden anderen Büchern handelt es sich um: Schapp, Wilhelm: Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 1. Bd.: Der Vertrag als Vorgegebenheit, Berlin-Grunewald 1930 und Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 2. Bd.: Wert, Werk und Eigentum, Berlin-Grunewald 1932.

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Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie

und mittleren Schaffensperiode gegenübersetzen, die allerdings durchaus schon Vorarbeiten für diese Spätphilosophie sind. Vielfach anknüpfend an Fragestellungen der klassischen Phänomenologie wendet er sich von ihr aber doch letztlich ab. Am bekanntesten geworden ist wohl – nicht zuletzt wegen seines Titels – das 1953 erschienene Buch In Geschichten verstrickt. Die Kenntnisnahme der Geschichtenphilosophie beschränkte sich zu Lebzeiten meines Vaters wohl vor allem auf die Fachphilosophen, bei denen er als früher Schüler Edmund Husserls einen Namen hatte. Hermann Lübbe schrieb zwei Aufsätze über ihn, die das Spätwerk weiter verbreiteten 6. Es bestanden Beziehungen zur Ritterschule in Münster, so besuchten Schüler Ritters, unter ihnen Odo Marquard, meinen Vater in den fünfziger Jahren in Aurich. Ich selbst erinnere mich an eine ganzseitige Besprechung der Geschichtenphilosophie in der Neuen Zürcher Zeitung vom August 1961 von Hans Barth. 7 Seit der von mir besorgten Neuauflage der Werke der Geschichtenphilosophie in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nahm der Bekanntheitsgrad von Wilhelm Schapp zu. Paul Ricœur setzte sich mit ihm in Zeit und Erzählung auseinander. 8 Richard Rorty und Alasdair MacIntyre stehen dem Werk meines Vaters nahe, wie weit er sie beeinflusst hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Seit der Jahrhundertwende ist die Geschichtenphilosophie verstärkt rezipiert worden, nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Soziologie, der Jurisprudenz, der Theologie, der Pädagogik, der Literaturwissenschaft und in den Kulturwissenschaften. Wesentliche Anregungen zu einer Auseinandersetzung mit dem Werk Wilhelm Schapps sind von der Forschungsstelle Wilhelm Schapp unter der Leitung von Frau Karen Joisten ausgegangen. Die Forschungsstelle hat 2008 im Erbacher Hof in Mainz eine Tagung zu Wilhelm Schapp veranstaltet, die Beiträge sind unter dem Titel Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für

Lübbe, Hermann: Das Ende des phänomenologischen Platonismus. Eine kritische Betrachtung aus Anlaß eines neuen Buches, in: Tijdschrift voor Philosophie 16 (1954), S. 639–666; Lübbe, Hermann: Sprachspiele und Geschichten. Neopositivismus und Phänomenologie im Spätstadium, in: Kant-Studien 52 (1960/61), S. 220– 243. 7 Barth, Hans: Philosophie der Verstrickung, in: Neue Züricher Zeitung, Fernausgabe, Nr. 234, Samstag, 26. August 1961, Blatt 11. 8 Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, aus dem Frz. v. Rainer Rochlitz, München 1988, S. 119. 6

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Jan Schapp

unsere Zeit von Karen Joisten herausgegeben worden. 9 Zur Zeit wird – wie der vorliegende Band sichtbar macht – an der Herausgabe mehrerer Bände aus dem Nachlaß Wilhelm Schapps gearbeitet. Bei meiner ersten Unterhaltung über philosophische Themen mit meinem Vater mag ich vierzehn Jahre alt gewesen sein. Er pflegte das philosophische Gespräch mit mir dann ständig intensiver in den folgenden zehn Jahren bis zu seinem Tode. Die Entstehung der beiden letzten Werke der Geschichtenphilosophie habe ich miterlebt. 1966 bin ich von Hermann Lübbe über die Rechtsphilosophie meines Vaters promoviert worden und habe mich auf dieser Grundlage dann schließlich auch für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie habilitiert. 10 Ich selbst habe also nicht nur in den Fächern meines Vaters gearbeitet, sondern auch über meinen Vater. Die Zeit mit meinem Vater habe ich 2004 in meinem Aufsatz Erinnerungen an Wilhelm Schapp geschildert. 11

II.

Die Philosophie der Geschichten im Grundzug

Eine Darstellung der Geschichtenphilosophie hat mit der Schwierigkeit zu ringen, dass Wilhelm Schapp kein System der Philosophie vorträgt und entsprechend auch ein systematischer Aufriß dieser Philosophie unmöglich ist. Karen Joisten hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Wilhelm Schapp mit seinem neuen Ansatz zugleich auch erst den diesem Ansatz entsprechenden Stil des Philosophierens schaffen musste und geschaffen hat. 12 Es ist ein völlig offenes Philosophieren, das mehr Fragen stellt als beantwortet. An wichtigen Stellen wird im Konjunktiv gesprochen oder der Verfasser beschränkt sich auf Andeutungen, die man bei der ersten Lektüre überliest. Das Nachdenken über Geschichten gewinnt selbst epischen Charakter. 9 Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010. 10 Vgl. Schapp, Jan: Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, Berlin 1977 und ders: Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, Berlin 1978. 11 In: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004, S. 13–24. 12 Vgl. u. a. das Vorwort zur dritten Auflage der Philosophie der Geschichten – Joisten, Karen: Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten. Ein Zugang, in: Schapp Philosophie der Geschichten, S. 5–11.

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Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie

Wilhelm Schapp scheint mir diese Art des Philosophierens 1959 in seinen Erinnerungen an Edmund Husserl selbst beschrieben zu haben, wenn er nach einer anschaulichen Darstellung der Methode der klassischen Phänomenologie – wie folgt – fortfährt: »Wenn man so mit der Darstellung der phänomenologischen Methode anfinge, so würde man bei dem Zuhörer schnell zu einem Verständnis kommen, aber doch die phänomenologische Methode vollständig verfehlen, so ist wenigstens meine Ansicht. Das erste Gebot für den Phänomenologen ist, nicht in Starrheit oder, was nicht weit davon entfernt liegt, in Konstruktion zu verfallen. Das ist konstruiert, dieser Satz enthält den größten Tadel für den Phänomenologen. Das, was bei einem Gedanken im Horizont auftaucht, darf nicht voreilig fest umrissen oder eingereiht werden. Am Anfang der Phänomenologie ist die Einzeluntersuchung alles, das System nichts.« 13

Mit den Geschichten meint Wilhelm Schapp nicht die Weltgeschichte, den historischen Ablauf von Ereignissen, sondern zunächst ganz konkret die alltäglichen Geschichten, die jeder von uns erlebt. »Mit den Geschichten, die uns beschäftigen, schlafen wir abends ein, sie begleiten uns und verfolgen uns bis in die Träume hinein und stehen beim Erwachen wieder neben uns.« 14 Mit dem Ausdruck Verstrickung will er nicht nur die ernsten und traurigen Geschichten treffen, sondern er gebraucht den Ausdruck Verstrickung in dem umfassenden Sinne, dass jemandem eine Geschichte passiert. 15 Wilhelm Schapp beginnt in In Geschichten verstrickt seine Untersuchung mit der erzählten und gehörten Geschichte, geht dann aber über zu den ureigenen Geschichten, in die jeder von uns verstrickt ist, und endet mit einer Untersuchung der Wirgeschichte, das heißt der Geschichte, in die z. B. alle gläubigen Christen verstrickt sind, der Geschichte des Christentums, die aber zunächst auch die konkrete Geschichte eines einzelnen Verstrickten ist, nämlich die Geschichte des Lebens und Todes Christi. Auch in die nur gehörte Geschichte bin ich noch irgendwie mitverstrickt, da das Hören nie reine Kenntnisnahme ist, sondern immer schon in Zusammenhängen erfolgt, die selbst wieder nur als Geschichte verständlich sind. Dem Richter, Anwalt, Arzt, Pfarrer und den Behörden werden z. B. Geschichten erzählt, um sie zu veranlassen, in der Geschichte tätig zu werden. Was zunächst nur 13 14 15

Schapp, Wilhelm: Erinnerungen an Husserl, S. 9 f. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt, S. 1. Vgl. ebd., S. 120.

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Jan Schapp

als Fremdverstrickung erscheint, kann dann bald über Mitverstrickung zur Eigenverstrickung werden. Wichtig ist nun, dass es sich bei der Untersuchung der Geschichten nicht nur um die Analyse einer Gegebenheit in der Welt unter anderen Gegebenheiten handelt, sondern Wilhelm Schapp bricht von hier aus das ganze große Gebäude der über zweitausend Jahre alten abendländischen Philosophie auf. Die Geschichten, d. h. genauer unser Verstricktsein in Geschichten, sind die einzige und letzte Wirklichkeit. Die platonisch-aristotelische Philosophie hat diese Wirklichkeit überformt und verfälscht mit der Lehre von den Allgemeinheiten, von Materie und Form, von Erkenntnis und Wahrheit. Die Geschichten sind nicht in der Welt, sondern die Welt ist erst in den Geschichten, die nur sind, weil und insoweit wir in sie verstrickt sind. Da die Geschichten immer nur einmalig und konkret sind, kann die Welt mit allem, was in ihr vorkommt, nur genauso einmalig und konkret sein wie die Geschichten. Das Geschichtenartige ist der ganzen Welt immer schon eingeprägt. Raum und Zeit gewinnen erst in den Geschichten einen Platz und sind dort nicht die naturwissenschaftlichen Gebilde, sondern umgekehrt sind die naturwissenschaftlichen Gebilde Raum und Zeit – wenn überhaupt – höchstens eine Ableitung der Geschichtengebilde. Auch Außenwelt und Materie tauchen erst auf in Geschichten, und zwar über die von Wilhelm Schapp sogenannten »Wozudinge«. 16 Die Frage nach etwas, was außerhalb der Geschichten sein könnte, ist sinnlos. Ebenso sinnlos ist die Frage nach einer ersten Geschichte. Die Suche nach einer solchen ersten Geschichte verliert sich irgendwo im Horizont im Dunkeln. Das Verstricktsein in Geschichten ist im Sinne der Tradition gesprochen etwas Absolutes. 17 Den Zugang zu dieser Grundauffassung Wilhelm Schapps findet man wohl nur, wenn man sich das Verhältnis von Erkenntnis und Verstricktsein im Hinblick auf Geschichten klarmacht. Dieser Unterschied ist grundlegend für die ganze Geschichtenphilosophie. Nach Wilhelm Schapp läßt sich die Geschichte nicht als Gegenstand untersuchen, »weil etwas Geschichte nur insoweit ist, als ich in die Geschichte verstrickt bin.« 18 Damit steht gewissermaßen im Zentrum Vgl. ebd.: Erster Abschnitt: Das Wozuding in der Außenwelt und seine Wahrnehmung, S. 9 ff. 17 Vgl. ebd., S. 5. 18 Ebd., S. 85. 16

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Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie

des ganzen Weltbaus eine »Beziehung« – dieses Wort müssen wir in Anführungsstriche setzen, weil es eigentlich nur für die Erkenntnis paßt –, die in keiner Weise mehr als Erkenntnis aufgefaßt werden kann und die auch sonst nicht irgendwie erklärt werden kann: nämlich mein Verstricktsein in meine Geschichten. Unser Zugang zur materiellen Außenwelt wird vermittelt durch Wozudinge, das heißt durch die von Menschenhand geschaffenen Werke. Wozudinge sind z. B. dieser Tisch, dieser Stuhl, diese Tasse, dieses Haus, diese Straße. Die Außenwelt bildet sich erst von den Wozudingen her über das Schaffen und Gebrauchen von Wozudingen. Das, was die herkömmliche Auffassung als Stoff oder Materie ansehen würden, auf die das Schaffen einwirkt, ist in Wirklichkeit das »Auswas« der Wozudinge, das sein Sein erst dem menschlichen Schaffen verdankt, erst im Schaffen auftaucht. »Das Wozuding ist das Primäre gegenüber dem Stoff und hebt erst den Stoff über die Tätigkeit aus dem Nichts heraus.« 19 Dieses Schaffen ist selbst wieder nur ein Moment in menschlichen Geschichten. Damit ist der Primat der Geschichten vor der Außenwelt dargetan. Tiere und Pflanzen können über Züchtung und Zähmung zwar als Wozudinge aufgefaßt werden. Primär sind sie aber mit dem Menschen in gemeinsame Geschichten mitverstrickt, und zwar die Tiere so sicher, wie es einen Thomas Mann und einen Rainer Maria Rilke gibt. Bei der Untersuchung des Wozudinges stößt Wilhelm Schapp auf die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gattung. Er führt seine Kritik der Lehre von der Gattung zunächst am Wozuding durch, um sie dann von hier aus auch auf andere Gebiete auszudehnen. Jedes Wozuding begegnet uns in einem bestimmten Alter. 20 Es weist dabei nicht nur zurück auf seinen Schöpfer, sondern darüber hinaus auf weitere Wegbereiter. So kommen wir schließlich von den modernsten Maschinen zurück zu den prähistorischen Werkzeugen und Werken. Jedes einzelne Wozuding steht damit immer schon in einem Zusammenhang, in einer Reihe vorangegangener Wozudinge. Der Ozeanriese schleppt gewissermaßen die ganze Reihe heute existierender und jemals dagewesener Schiffe vom Einbaum angefangen hinter sich her. In dieser Reihe der Wozudinge tauchen aber nicht nur die vergangenen Wozudinge auf, sondern in die Zukunft hinein auch die zukünftigen Wozudinge. Entscheidend ist nun, dass in dieser Rei19 20

Ebd., S. 21. Vgl. u. a. ebd., S. 13.

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Jan Schapp

he jedes einzelne Wozuding gezählt ist. Die Zahl der Wozudinge ist groß, aber nicht unendlich. Nirgends taucht irgendetwas auf wie Gattung. Diese Kritik des Gattungsdenkens gilt entsprechend für alle in Geschichten Verstrickten und für alles, was in Geschichten vorkommt. Darin liegt eine deutliche Wendung gegen Grundüberzeugungen der klassischen Phänomenologie.

III. Das Leben in einer positiven Welt Bei unserem Überblick über die Geschichtenphilosophie sind wir im Wesentlichen dem Buch In Geschichten verstrickt von 1953 gefolgt. Im zweiten Werk der Trilogie der Geschichtenphilosophie, dem 1959 erschienenen Buch Philosophie der Geschichten, richtet Wilhelm Schapp nun den Blick auf das Leben des In-Geschichten-Verstrickten in der Welt, die er als Geschichtenwelt begreift. Genauer bestimmt er diese Geschichtenwelt als positive Welt, wobei er an den Ausdruck positive Religion anknüpft. 21 In der Tat prägen nach seiner Auffassung die Religionen diese positive Welt, und zwar das Judentum ebenso wie das Christentum und der Islam oder eine heidnische Religion. In diesen Zusammenhang ordnet er auch den Hinduismus und Buddhismus ein. Der Gegenbegriff zur Geschichtenwelt, die als religiös geprägte positive Welt verstanden wird, ist die Welt der Sachverhalte, die Wilhelm Schapp dann auch als Sonderwelt des Abendlandes bezeichnet. 22 Es ist die Welt, die geprägt ist durch eine auf objektive Erkenntnis ausgehende Philosophie und die Naturwissenschaften. Zu dieser Philosophie rechnet er in diesem Zusammenhang auch die Phänomenologie, sofern sie auf die Erkenntnis von Satz und Sachverhalt aus ist und damit strenge Wissenschaft sein will. Das Anliegen von Wilhelm Schapp ist nun, unserer in ihrer Geschichte immerhin christlich geprägten Geschichtenwelt nahezukommen und dabei die Sonderwelt des Abendlandes irgendwie in diese Geschichtenwelt einzuordnen. Letzteres geschieht dadurch, dass die Ansprüche, die die Philosophen und Naturwissenschaftler für das Verständnis der Welt auf der Grundlage der Sachverhaltsauffassung Vgl. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, S. 41 ff. Vgl. hierzu auch Schapp, Jan: Positive Welten und Sonderwelt des Abendlandes in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps, in: Phänomenologische Forschungen 2004, S. 133 ff.

21 22

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Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie

von Welt erheben, zurückgewiesen oder doch zumindest durch Einordnung in die Geschichtenwelt auf ein bescheidenes Maß zurückgeführt werden. Für den Unterschied zwischen beiden Welten findet Wilhelm Schapp folgende Worte, wobei er für die Geschichtenwelt den Ausdruck »Allgeschichte« benutzt: »Dies Zu-einer-Allgeschichte-Gehören macht die Substanz des Menschen aus. Für den Einzelnen ist die Allgeschichte und sein Platz darin, solange beides nicht angefochten ist, vergleichbar mit dem, was der Philosoph unter dem Absoluten versteht. Wenn die Allgeschichte verloren geht, kommt alles ins Treiben. Die äußersten Gegensätze sind etwa, daß der Mensch sich in einer Heilsgeschichte aufgehoben weiß oder daß er sich andererseits wie eine Art Schimmelbildung auf einem beliebigen Stern vorkommt. Dieser äußerste Gegensatz wird auf andere Weise ausgedrückt in dem Gegensatz von Geschichte und Sachverhalt. Es ist fast so, als ob irgendeine Kraft den Menschen aus der Geschichte herausschleuderte in eine Sphäre des Sachverhalts hinein.« 23

Jeder einzelne von uns lebt nun nicht nur mit anderen zusammen in einer positiven Welt, sondern er lebt dabei zugleich auch in seiner ganz eigenen positiven Welt, so dass es im Grunde von jedem Typus einer positiven Welt so viele Welten gibt, als Menschen darin verstrickt sind. Das einheitliche Glaubensbekenntnis der Christen bezeichnet Wilhelm Schapp nur als eine Technik, um diese Divergenzen zu verdecken. 24 Daraus folgt, dass es im Grunde so viele Glaubensbekenntnisse gibt, als es gläubige Christen gibt. Was unsere christliche positive Welt betrifft, so ist nun nicht zu verkennen, dass die Sachverhaltsauffassung von Welt seit geraumer Zeit beträchtlichen Einfluß auf sie ausgeübt hat. Wilhelm Schapp stellt diesen Einfluss nicht in Abrede. Zwei Zitate zeigen uns seine Einschätzung: »Wir können uns nicht mehr in die Zeit zurückversetzen, in welcher jeder Gläubige glaubt, in Besitz des echten Ringes zu sein. Die Änderung unserer Stellung durch die Aufklärung und Nachaufklärung bedeutet aber nur, daß wir Haus und Hof und Heimat verloren haben und ruhelos durch die Welt pilgern«. 25

23 24 25

Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, S. 204. Vgl. ebd., S. 209 f. Ebd., S. 46.

23 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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»Diese Sonderwelt des Abendlandes, welche die Erde und alle Sterne umfaßt unter dem Leitbild des Atoms, ist negativ gekennzeichnet durch die Unabhängigkeit von Religion und vom Menschen und tritt dadurch in Gegensatz zu den positiven Welten von Homer bis Dante. Wenn wir allerdings sagen Gegensatz, so ist damit wenig gesagt. Die positiven Welten oder etwas Vergleichbares haben sich bis in unsere Tage erhalten, und wenn der Himmel teilweise hat abdanken müssen, so ist doch der Mensch geblieben.« 26

Wilhelm Schapp versucht nun, unsere positive Welt, von der wir jedenfalls sagen können, dass sie christlich geprägt ist, von der Sonderwelt des Abendlandes dadurch zu unterscheiden und beide Welten damit im Grunde je für sich und in ihrem Verhältnis zueinander genauer zu verstehen, indem er auf die Geschichte dieser Welten zurückgeht. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass unsere heutige positive Welt sowohl Fortsetzung wie Abwandlung vergangener positiver Welten ist. Auch der Sachverhaltsauffassung von Welt wird eine historische Tiefendimension zuerkannt. Sein Hauptaugenmerk auf der Seite der ineinander übergehenden positiven Welten gilt jetzt der Allgeschichte Homers, in der er schon eine Vorstufe des Christentums sieht. Hören wir dazu Wilhelm Schapp: »Die weitere Aufgabe wäre nun, die großen Philosophien der Griechen und die großen Werke der Dichtkunst zu prüfen in ihrem Verhältnis zur Allgeschichte Homers einerseits und zum Sachverhalt andererseits. Sicher würde sich dabei eine Vertiefung und Ausweitung dieses Gegensatzes von Geschichte und Sachverhalt ergeben. Wir würden die griechische Philosophie und die griechische Dichtkunst, der die antike Welt kaum etwas Gleichartiges an die Seite zu setzen hat, aufzufassen versuchen als ein Zwischenreich zwischen der Allgeschichte Homers und der Allgeschichte des Christentums. Zur Zeit der griechischen Aufklärung hätte wohl niemand zu prophezeien gewagt, daß noch einmal eine Allgeschichte nach Art der Geschichte Homers, aber mit der Breite und Tiefe des Christentums zur Herrschaft kommen werde, und daß in dieser Allgeschichte die griechische Philosophie eingehen werde, und nicht nur diese, sondern auch Homer als Vorstufe der Allgeschichte, und was noch wunderbarer und ganz unglaublich ist, daß die Philosophie vielleicht die neue Allgeschichte noch wieder überleben würde oder wenigstens neue Reiser treiben würde, wenn die neue Allgeschichte Perioden der Schwäche durchzumachen hätte. In einer solchen Zeit würden wir uns jetzt befinden.« 27 26 27

Ebd., S. 54. Ebd., S. 269.

24 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie

Die Sonderwelt des Abendlandes wird dagegen zurückgeführt auf die drei ionischen Naturphilosophen. Plato und Aristoteles schließen sich dieser Blickwendung an, soweit man ihre Philosophien als Beiträge zur Erkenntnistheorie verstehen kann. In der Neuzeit wird die Entwicklung dann in den Werken von Francis Bacon, René Descartes, Immanuel Kant und Edmund Husserl sichtbar, soweit sie als Erkenntnistheoretiker arbeiten. Wilhelm Schapp bemerkt, dass er zum Kant der Kritik der praktischen Vernunft freundschaftlichere Beziehungen unterhielte als zum Kant der Kritik der reinen Vernunft, was dann entsprechend für die genannten Philosophen seit Plato gelten dürfte. Damit teilt sich die Philosophie im Grunde auch auf in die Welt der Geschichten einerseits und die Welt der Sachverhalte andererseits. In die Welt der Geschichten gehören auch die Sieben Weisen. Auf dieser Grundlage wendet Wilhelm Schapp sich jetzt einer Deutung der Welt Homers zu, die er nach dem großen soeben skizzierten Zusammenhang wohl begreifen dürfte als wichtigen Beitrag zum Verständnis unserer eigenen Welt. Er begründet das damit, dass ihm Homer am nächsten liege und am vertrautesten sei. Er hätte vielleicht in ähnlichem Sinne mit der Bibel anfangen können, für eine solche Untersuchung wäre aber sein Abstand von der Bibel nicht groß genug. 28 Bei den Römern habe er das Leben in einer Allgeschichte nicht so gut verfolgen können, weil ihm hier Homer fehle. 29 Tatsächlich finden sich dann allerdings im Laufe der Untersuchung immer wieder Betrachtungen zur Bibel.

IV. Die Deutung der Welt Homers durch Wilhelm Schapp Die positiven Welten zeichnen sich nach Wilhelm Schapp dadurch aus, dass der Mensch sich in die Geschichte einer Welt hineingestellt sieht, die einen Anfang und ein Ende hat. Sehr gut wird das an der christlichen Heilgeschichte deutlich, die mit der Schöpfung der Welt durch Gott beginnt und mit dem Jüngsten Gericht – jedenfalls vorläufig – endet. Das scheint in einem gewissen Widerspruch zu dem sonst häufiger gemachten Hinweis Wilhelm Schapps zu stehen, dass die Geschichten sich in den Horizonten der Vergangenheit und der

28 29

Vgl. ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 204.

25 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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Zukunft verlieren und es hier weder Anfang noch Ende gibt. Dann heißt es auch wieder, dass die Dichter der Bibel sich die Freiheit genommen hätten, die Schöpfung der Welt auf sieben Tage zusammenzuziehen. Homer setzt nun offenbar in Ilias und Odyssee eine Entstehungsgeschichte der Welt voraus, die seinen Hörern bekannt ist, ohne weiter darauf einzugehen. Dargestellt finden wir sie in den Werken Hesiods, die Wilhelm Schapp ergänzend heranzieht. Es ist zugleich die Entstehung des Göttergeschlechts, mit dessen dritter oder vierter Generation es die Griechen und Trojaner zu tun haben. Den Schwerpunkt der homerischen Weltgeschichte sieht Wilhelm Schapp jetzt allerdings nicht in dieser Großgeschichte, sondern ganz im Gegenteil in der Darstellung des menschlichen Lebens, das seinen Ernst aus der Unausweichlichkeit des menschlichen Todes gewinnt. In der Mitte der Geschichten der Menschen steht nach der Deutung Homers der Tod. Das Bild des Todes wird dadurch bestimmt, dass die Seelen der Verstorbenen nach dem Ableben ein Schattendasein im Hades führen. Es ist eigentlich erst die Erwartung dieses ewigen Schattendaseins, das den Menschen das Leben lebenswert erscheinen lässt. Bekanntlich spricht Odysseus bei seinem Besuch im Hades auch mit dem Schatten des Achill und dieser äußert, dass der ärmste Tagelöhner auf Erden gegenüber jedem Bewohner der Unterwelt ein beneidenswertes Dasein führe. Wilhelm Schapp sieht darin den absoluten Gegensatz zu jedem Nihilismus und Pessimismus. Die Lebenszeit hat ihr volles Genügen an sich selbst. Hören wir dazu Wilhelm Schapp: »Nach dem Sterben mag der Tod sein, was er will, […] darauf kommt es nicht an. Die Wichtigkeit des Todes besteht für uns darin, dass er das Leben gestaltet, dass er im Leben in den Geschichten des Lebens überall gegenwärtig ist […] als etwas, was den Geschichten, wir möchten sagen, allen Geschichten Gewicht verleiht. Der Tod ist der äußerste Einsatz, den der Mensch im Leben machen kann, oder das Leben ist dieser Einsatz, wie man will. Es ist der Einsatz, der ständig in Beziehung gebracht wird zu all den anderen Gütern oder Übeln, zu Gesundheit, Ehre, Reichtum, Heimat, Vaterland, Familie. Diese Güter kämpfen untereinander um den Vorrang. In irgendeiner Hinsicht aber liegt der Tod weit vorn im Rennen, oder vielleicht besser ausgedrückt, in all den Werten ist etwas vom Tode enthalten, muß etwas vom Tode enthalten sein. Erst dadurch erhalten sie ein letztes Gewicht, eine Schwere, aber auch gleichzeitig eine Süßigkeit und vieles unnennbare Schöne und Wertvolle. Dies hat niemand klarer als Homer gesehen, und wir selbst haben es wahrscheinlich nur von Homer. Wir denken etwa an Hektors Abschied von Andromache. […] Diese Geschichte lebt vom

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Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie

Tode. Wer wünscht oder wer bejaht, daß der Mensch in solche Geschichten verstrickt sei, der bejaht damit auch den Tod.« 30

Diese Grundansicht Homers, dass es eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tod, die irgendwelches Gewicht hätte, nicht gibt, bezeichnet Wilhelm Schapp als »männlich, herb, phantasielos, ehrlich, schwunglos«. 31 Wilhelm Schapp stellt nun die Frage, ob Homer sich unglücklicherweise gerade einen Krieg als Gegenstand seiner Dichtung gewählt habe und aus diesem Grunde der Tod in den Vordergrund oder in den Mittelpunkt gerückt sei. Wäre es ebenso gut möglich gewesen, dass Homer eine Idylle gedichtet hätte, in der der Tod keine so sichtbare Rolle gespielt hätte? Wilhelm Schapp meint, dass das nicht im Belieben Homers gestanden habe. Diese gewaltige Dichtung habe in der Luft gelegen. »Wer die Kraft hatte, konnte sie ergreifen« 32. Das bedeutet, dass jedermann damit vertraut war und darauf ansprach. Das heißt aber auch wieder, dass in jedermanns Leben Tod und Unterwelt in dieser Weise sich geltend machen. Würde man die Unterwelt streichen und ließe die Gestorbenen in das Nichts eingehen, so brauche allerdings an den menschlichen Geschichten um den Tod vielleicht nicht viel geändert werden müssen. Der Sterblichkeit der Menschen setzt Homer nun die Unsterblichkeit der Götter entgegen. Da sie nicht sterben können, entbehrt das Dasein der Götter des genügenden Ernstes. Die Beteiligung der Götter auf beiden Seiten an dem Kampf um Troja gewinnt damit mehr den Charakter eines Spiels. Wenn Homer in diesem Kampf nicht zumindest Wunden, Schläge und Verletzungen der Götter zuließe, so würde dieser vielleicht jedes Interesse verlieren. 33 Wenn später Heraklit und ihm folgend dann Plato Homer Lügengeschichten vorwerfen, womit vor allem die Geschichten um die Götter gemeint sind, so nehmen sie Homer wörtlich. 34 Verkannt wird damit das Gleichnishafte der homerischen Dichtung. 35 Homer und Hesiod hätten allerdings nicht dies in Geschichten Verstricktsein als Thema in dem Sinne gekannt, in dem Wilhelm Schapp davon 30 31 32 33 34 35

Ebd., S. 219. Vgl. ebd., S. 275. Ebd., S. 220. Vgl. ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 243. Vgl. ebd., S. 228.

27 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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spricht. 36 Wilhelm Schapp bemerkt dann auch, er wisse nicht, wie weit man zu Homers Zeiten schon Märchen, Fabeln, Sagen und Geschichten unterschieden habe. 37 Von besonderer Bedeutung ist die Frage, in welchem Sinne Wilhelm Schapp in Homer eine Vorstufe des Christentums gesehen hat. Offenbar knüpft die griechische Aufklärung mit ihrer Lehre von der Unsterblichkeit der Seele an die Hades-Vorstellungen Homers an. Dann erhält die Götterwelt durch die Sterblichkeit Jesu im Christentum ein Gewicht, das sie bei Homer nicht haben konnte. So ist es jetzt der Tod, der die Gemeinschaft von Gott und den Menschen im Sinne einer gemeinsamen Geschichte stiftet. Nicht zuletzt über ihn wird Gott zur Person. Wilhelm Schapp mag dann allerdings auch spätere Entwicklungen des Christentums im Auge gehabt haben, wenn er sagt: »Wenn man Gott nicht mehr als Person auffaßt, verliert er die Verbindung mit den Geschichten und wird zu einem Sachverhalt in der Welt.« 38 Wilhelm Schapp faßt seine Überlegungen mit folgenden Worten zusammen: »Erst ein vollständiger Vergleich der homerischen Welt mit dieser neuen Welt im Abendlande [gemeint ist die christliche Welt; JS] zeigt die gewaltige Änderung, die vor sich gegangen ist, und zugleich, welchen Anteil die Philosophie an dieser Veränderung gehabt haben mag. Für uns aber liegt das Wesentliche darin, daß jetzt nach vielen Jahrhunderten wieder eine einheitliche Geschichte an die Stelle der homerischen Weltgeschichte tritt, in der jeder Einzelne wieder aufgehoben ist wie bei Homer. Danach mag es kein Zufall sein, daß für Dante Homer der König der Dichter ist. Diese Welt mag wieder zu Ende gehen, aber niemand wird uns verwehren, uns an den Sonnen dieser Welten zu wärmen, wohin auch der weitere Weg führen mag.« 39

V.

Die Lebensgeschichten der in Geschichten Verstrickten

Wir haben bisher die positive Welt des in Geschichten Verstrickten kennengelernt, und zwar des in Geschichten verstrickten Abendländers, also unsere positive Welt, soweit sie sich in einer großen Dich36 37 38 39

Vgl. ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 218. Ebd., S. 251. Ebd., S. 268.

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tung spiegelt. Dass die Dichtung Homers den Tod so in den Mittelpunkt stellt, bedeutet zugleich, dass ihr eigentliches Thema die Lebensgeschichten ihrer Helden und Heldinnen sind. Die Dichtung, die diese Geschichten für überlieferungswürdig erachtet, hebt sie damit aus dem Kreis der Belanglosigkeiten heraus und macht sie zu erzählenswerten Lebensgeschichten. Das ist mit dem Wort Dichtung treffend zum Ausdruck gebracht. Der Dichter Homer bleibt dabei immer im Hintergrund und doch ist er in die Geschichte seiner Heldinnen und Helden mitverstrickt. Er ist es ja, der sich in diese Geschichten versenkt und sie deutet. Dann sind von der anderen Seite auch seine Hörer oder Leser in die Lebensgeschichten der Helden und des Dichters verstrickt. Sie sind es, an die die Deutung sich richtet, und zwar richtet als bedeutsam für ihr eigenes Leben. Genaugenommen sind also drei Lebensgeschichten ineinander verwoben. Für Wilhelm Schapp liegt darin Mitverstrickung. Der Zusammenhang mag etwa in dem indischen Wort »Das bist du« zum Ausdruck kommen. 40 »Vielleicht berühren uns die Fremdgeschichten nur, weil sie ihrem Sinne nach eigene oder eigenste Geschichten sind, die uns ebenso hätten passieren können, wie sie dem Helden der Geschichte passiert sind.« 41 In gewissem Anschluss an Gedanken der Griechen legt Wilhelm Schapp sich immer wieder die Frage vor, ob das Urbild aller Begegnung nicht die Begegnung mit uns selbst ist, worunter er das Verstricktsein in Geschichten versteht. Diese Begegnung mit uns selbst schlösse dann immer schon die Begegnung mit dem anderen in sich. 42 Das Nachdenken über die Verstrickung in eine positive Welt ist nun sicher der umfassendste Rahmen, in dem man sich dem Thema Lebensgeschichte nähern kann. In der Philosophie der Geschichten finden sich dann aber auch eine Reihe von Betrachtungen unmittelbar zur Thematik der Lebensgeschichte und wir wollen auf sie jetzt einen Blick werfen. Zunächst erscheint die Lebenszeit des Menschen unter dem Aspekt der Philosophie der Geschichten als eine Vielzahl von Geschichten, in die der Mensch verstrickt ist. Diese Geschichten verbinden sich dann aber zu einem mehr oder weniger engen Zusammenhang, der es schließlich auch erlaubt, von einer Lebensgeschichte zu sprechen. Unter der vielzitierten Kapitelüberschrift: »Die Ge40 41 42

Ebd., S. 210. Ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 145.

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schichte steht für den Mann« 43 misst Wilhelm Schapp bestimmten Geschichten eine hohe Signifikanz für das Lebensbild eines Menschen zu. Das gilt z. B. im Hinblick auf Alexander den Großen für die von Plutarch überlieferte Geschichte mit dem Trunk Wasser in der Wüste. Mit dieser Geschichte, so sagt Wilhelm Schapp, haben wir einen Zugang zu der Seele des Königs gefunden. 44 Die Weise, wie sich die Einzelgeschichten zu einer Gesamtgeschichte des einzelnen Verstrickten zusammenfügen, mag unübersehbar sein. So können wir etwa bei Don Quichote, nachdem er sich auf die Fahrt begeben hatte, feststellen, wie jedes Abenteuer sich an das vorhergehende anschließt, und wie alle einzelnen Abenteuer gleichsinnig und in gleicher Richtung verlaufen, und wie die Abenteuer sich gleichen wie ein Blatt dem anderen und wie sie sich auch gleichen müssen, wie schon im ersten Abenteuer die folgenden ungefähr so angelegt sind wie die Knospe unter dem Blatt. 45 An anderer Stelle bringt Wilhelm Schapp das Verhältnis des Menschen zur Gesamtheit seiner Geschichten mit der Wendung zum Ausdruck, dass der Mensch stets an der Spitze seiner Geschichten marschiert. Den Mythos von Sisyphos umgestaltend wählt er dann noch ein anderes Bild. Der Mensch klettert bergauf, geschoben von seinen Geschichten. 46 In dem Namen des Menschen sieht Wilhelm Schapp dann eine zusammenfassende Überschrift über die Geschichten eines Verstrickten. Die Überschrift kann aber auch aus einem Satz, etwa aus einem Sprichwort bestehen. So wäre der Satz: »Der Würfel ist gefallen« vielleicht eine denkbare Überschrift über die Lebensgeschichte Cäsars, zugleich Teil dieser Geschichte und auch Teil ihrer Erzählung. 47 Besondere Beachtung hatte Wilhelm Schapp schon in In Geschichten verstrickt dem in Geschichten Verstrickten in der Reihe seiner Verwandten geschenkt. Im Kern der Verwandtschaft stand dabei die Mutter-Kind-Beziehung. Er griff auf sein Werk Zur Metaphysik des Muttertums zurück, das er bereits 1937 geschrieben hatte, das er dann aber erst 1965 in seinem letzten Lebensjahr veröffentlichen sollte. Für ihn erweiterte sich dabei das Verwandtschafts-Wir schließlich zum Menschheits-Wir. Dem Menschen in der Reihe seiner Ver-

43 44 45 46 47

Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 103. Vgl. ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 128. Vgl. Schapp: Philosophie der Geschichten (Fn. 8), S. 107. Vgl. ebd., S. 296.

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wandten sind dann in Philosophie der Geschichten längere Untersuchungen gewidmet. Reihe ist hier ganz im Sinne der Kritik an dem Gattungsdenken zu verstehen. Sprechen und Sprache wird in Geschichten weitergegeben in der Gemeinschaft der Toten und der Lebenden, die Wilhelm Schapp lieber als Gemeinschaft der Vorfahren und der Enkel bezeichnet. Er will sich dabei vom landläufigen Bild vom Tode nicht stören lassen. Dass wir auf den Schultern der Vorfahren stehen und dass deren Geschichten noch in uns lebendig sind, darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Dass aber umgekehrt wir Enkel schon in den Geschichten der Vorfahren vorkommen und wirken, ist ebenso wahr. Das ganze menschliche Leben ist darauf abgestellt, dass man Zeiten besorgen muss, die man nicht »belebt«, wie es in einer ostfriesischen Redensart heißt. 48 Ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang noch eine Geschichte erzählen, die mein Vater in der Philosophie der Geschichten unter Ausblendung des persönlichen Horizontes erzählt. Bei meiner Geburt hatte die Hebamme auf das an der Wand hängende Gemälde meiner Großmutter gezeigt und gesagt: »Sücht net ut as dat old Minske«. Das heißt: »Sieht genau aus wie dieses alte Menschlein«. In der leiblichen Ähnlichkeit sah mein Vater den Ausdruck des Verstricktseins in eine gemeinsame Geschichte. 49 Der Zusammenhang des in Geschichten Verstrickten mit seiner Familie bedeutet nun auch, dass er die Geschichten seiner Familie erbt. Damit ist ein beachtlicher Teil der Lebensgeschichte des in Geschichten Verstrickten schon vorgeprägt. Man mag versuchen, sich dem zu entziehen, führt damit aber nur die gemeinsame Geschichte weiter, wenn auch vielleicht mit etwas geänderter Richtung. Jede Auseinandersetzung mit dieser Geschichte ist selbst Teil der Geschichte und in ihrer Sinnhaftigkeit nur von hier aus zu begreifen. Von den Gedanken über die Familie richtet Wilhelm Schapp seinen Blick dann auf die religiöse Sphäre. Die Gotteskindschaft des Menschen ist für ihn erst über die Familie verständlich. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn gibt uns in aller Kürze den wesentlichen Gehalt des Alten und auch des Neuen Testaments. In diesem Zusammenhang mag noch interessieren, wie sich in jedem einzelnen Menschen die Geschichte vom Modus der Verstrickung in den Modus der Erzählung wandelt. Das ist im Sinne Wil48 49

Ebd., S. 292. Vgl. ebd., S. 109.

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helm Schapps schon etwas bedenklich ausgedrückt, weil jede Erzählung nur in einer Geschichte vorkommt, in die ich verstrickt bin. Die Erzählung verobjektiviert also nicht eine Geschichte im Sinne eines Sachverhalts. Wie weit man durch Erzählung einer Geschichte der Geschichte entkommen kann, ist selbst wieder eine Geschichte. Immerhin ist aber Versenkung in Geschichten und Deutung von Geschichten möglich, und das mag schließlich auch für die eigenen Geschichten gelten. Wilhelm Schapp weist in diesem Zusammenhang auf das leise Sprechen hin, das jede Geschichte immer schon begleitet, in die ich verstrickt bin. So läßt er sich von den Dichtern belehren, wie das laute Sprechen im leisen Sprechen vorbereitet wird. 50 Fast jedes Wort, welches wir von Elektra oder Iphigenie hören, ist viele, viele Jahre hindurch von den beiden Heldinnen in schweren Tagen und schlaflosen Nächten überlegt und hin und her gewendet. Das laute Sprechen in den Dramen ist »vielleicht nur […] Wellenkämmen auf dem Meer des inneren leisen Sprechens zu vergleichen.« 51 Das leise Sprechen dauert auch noch an, während laut gesprochen wird, es ist dem lauten Sprechen voraus »wie ein Jagdhund seinem Herrn«. 52 In diesem Zusammenhang kommt Wilhelm Schapp dann noch einmal auf Homer zurück, und zwar auf die Totenrede Andromaches, die durch leises Sprechen lange vorbereitet ist. Hören wir also Andromache mit dem Schluss ihrer Totenklage in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß: »Schrecklich hast du die Eltern mit Gram und Trauer belastet, Hektor; doch mich vor allem betrübt nie endender Jammer! Denn nicht hast du mir sterbend die Hand aus dem Bette gereichet, Noch ein Wort mir gesagt voll Weisheit, welches ich ewig Eingedenk erwöge, bei Tag und Nacht dich beweinend.« (Ilias, 24. Gesang, Vers 741 ff.)

So etwas kann nur das Ergebnis eines langen leisen Sprechens sein. Homer öffnet uns hier den Blick auf die Verstrickung von Andromache in ihre Geschichte als Frau von Hektor. Man kann vielleicht sogar fortfahren, dass er uns an dieser Stelle auch den Blick in seine Vgl. Thiemer, Nicole: Das ›stille Sprechen‹ in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps und der Universalitätsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, S. 142–158. 51 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 286. 52 Ebd. 50

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Eine Einführung: Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie

eigene Seele gönnt. Wie bescheiden ist der Trost, den Andromache hier entbehrt, und doch wie groß.

VI. Verstrickt in Geschichten der Wissenschaft Vermag die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps nun auch etwas zu unserem Selbstverständnis als Wissenschaftler beizutragen? Wegen der Bedeutung der Wissenschaften für die moderne Welt wäre ein solcher Beitrag mit Sicherheit selbst von großer Bedeutung. Wir wollen zum Schluss dieser Frage noch etwas weiter nachgehen. Zunächst scheint es nahezuliegen, die Frage unter dem Aspekt der Unterscheidung von Geschichtenwelt und Sachverhaltswelt zu untersuchen und dabei die Wissenschaften der Sachverhaltswelt zuzuordnen. Man sollte sich hier aber vor Vereinfachungen hüten. Einerseits gehören zur Sachverhaltswelt nicht nur die Naturwissenschaften, sondern bis zu einem gewissen Grade auch die Geisteswissenschaften, z. B. wesentliche Teile der platonischen Philosophie oder die Philosophie als strenge Wissenschaft etwa im Sinne von Edmund Husserl. Zum anderen sind Wissenschaften oder Teile von Wissenschaften der Sphäre der Geschichtenwelt zuzuordnen, so die Theologie, die Ethik, die Hermeneutik, schließlich auch die Philosophie der Geschichten selbst. Dann ist weiter zu beachten, dass die im Sinne dieser Unterscheidung der Sachverhaltswelt zugeordneten Wissenschaften sich im Verständnis Wilhelm Schapps selbst wieder in die Geschichtenwelt einordnen, wenn auch jetzt mit einem bescheidenen Anspruch. Was den einzelnen Wissenschaftler betrifft, so dürfen wir Wilhelm Schapp noch einmal mit einem Wort zu den großen Philosophen zu Wort kommen lassen, dass den Geschichtencharakter jeder Wissenschaft zum Ausdruck bringt: »Die Philosophen dürfen den Geschichten und auch den Allgeschichten nicht diese Unsicherheit in der Fassung vorwerfen, denn mit ihren Systemen sieht es nicht besser aus. Es ist wohl sicher, dass weder Plato noch Kant noch Aristoteles zu verschiedenen Zeiten unter ihrem System dasselbe verstanden haben und dass sie niemals zu einer Zeit eine in sich geschlossene einheitliche Anschauung gehabt haben. Kant mag ungefähr dasselbe ausdrücken, wenn er sagt, dass man den philosophischen Vortrag immer zwacken könne. Er bagatellisiert damit aber diese fundamentale Einsicht.« 53 53

Ebd., S. 210.

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Jan Schapp

Von diesem Ausgangspunkt aus versuchen wir im folgenden Anschluss an unsere vorausgegangenen Überlegungen zu gewinnen. Die Geschichte jedes Wissenschaftlers scheint uns maßgebend geprägt durch die Geschichte seines Lehrers und damit durch das Lehrer-Schüler-Verhältnis, in dem er immer schon steht. Man mag den einzelnen Wissenschaftler als Jünger seiner Wissenschaft begreifen, er ist doch zunächst einmal Jünger seines Lehrers und was Jüngerschaft in einer Wissenschaft ausmacht, müsste wohl zunächst einmal von hierher geklärt werden. Die Lehrer stehen aber ihrerseits in den Schulen ihrer Lehrer, so dass sich hier im Sinne Wilhelm Schapps Reihen von Lehrern und Schülern ergeben, etwa entsprechend den Reihen der Vorfahren und der Enkel. Diese Entsprechung ist nicht nur äußerlich, wenn man in den Eltern die frühesten Lehrer sieht, denen sich die Lehrer in den vielen einzelnen Lebensbezügen, die wir kennen, dann im Grunde im Laufe des Lebens nur zugesellen. Ich darf daran erinnern, dass nach alter Auffassung das vierte Gebot in diesem Sinne zu verstehen ist, dass also die Eltern und Lehrer zu ehren sind. Dahin führt auch leicht eine sprachliche Brücke, wenn man sich die Eltern als die Älteren vorstellt. Dies ist übrigens auch der zentrale Gedanke Platos in seinem Dialog Gesetze, in dem er uns die Verfassung des zweitbesten Staates vorschlägt. In unserem Zusammenhang bedeutet das, dass wir nicht nur die Geschichten unserer Familie erben, sondern auch die Geschichten der wissenschaftlichen Schule, der wir entstammen und verbunden sind, und dass beide Geschichten sich häufig gar nicht einmal deutlich voneinander trennen lassen. Mit unseren Ausführungen wollen wir nun nicht die Herrschaft von Schulen postulieren, die in sich abgeschlossen und letztlich doch starr sind. Ganz im Gegenteil scheinen mir die Schulen mehr mit lebenden Organismen vergleichbar, deren Kennzeichen die Entwicklung und das Wachstum ist, auch wenn sie absterben können. Aber auch abgestorbene Schulen mögen irgendwie fortwirken, es kommt darauf an, wie man die Geschichte ihres Absterbens erzählt. Im Sinne Wilhelm Schapps wäre die Schule ein Fall gemeinsamer Verstrickung von Lehrern und Schülern, die sich hier in Reihen einordnen. Es wäre sicher reizvoll, die Überlegungen Wilhelm Schapps zu den aufeinander folgenden Welten im Abendland von Homer bis heute unter dem Aspekt zu betrachten, wer was bei wem gelernt hat. So hat Plato bei Sokrates gelernt, Sokrates sicher bei den drei Ioniern, aber auch bei den Sieben Weisen und schließlich Plato und Sokrates 34 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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gemeinsam bei Homer. Lehrer von Paulus ist nicht nur Christus, sondern auch das Judentum und neben beide tritt mit nicht zu unterschätzendem Gewicht die griechische Aufklärung und in der Sicht Wilhelm Schapps Homer als ihre Vorstufe. Bei Homer lernen dann nicht nur Dante, sondern auch wir heute, wie Wilhelm Schapp meint. Wir lernen aber auch bei anderen positiven Welten, sofern uns auf der Grundlage unserer positiven Welt ein Zugang möglich ist, so bei der Welt des Judentums oder beim Islam. Wir dürfen noch einmal das Bild der Familie bemühen. Überall schließen sich hier Familien zusammen mit näherer oder fernerer Verwandtschaft. Meine Betrachtung lädt natürlich dazu ein, nach dem Verhältnis Wilhelm Schapps zu seinem Lehrer Edmund Husserl zu fragen. In der Tat ist die Geschichtenphilosophie, ich möchte fast sagen in ihrer ganzen Wucht, nur von hier aus verständlich, weil sie sich in jahrzehntelangem Ringen Wilhelm Schapps mit phänomenologischen Grundüberzeugungen gebildet hat. Ob man die Geschichtenphilosophie nun noch als Phänomenologie bezeichnen will oder nicht, scheint mir eine sekundäre Frage angesichts der Tatsache, dass sie die durch die Phänomenologie vorgegebenen Probleme zu lösen sucht. Wilhelm Schapp hat seinem Lehrer Edmund Husserl ein Denkmal in seinem Aufsatz Erinnerungen an Edmund Husserl in der Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag gesetzt. In Philosophie der Geschichten beschreibt Wilhelm Schapp selbst sein Verhältnis zu Husserl und zur Phänomenologie: »Wir persönlich haben auch lange versucht, die Überlegungen Husserls in seinem Sinne fortzuführen. Der Bruch in diesen Überlegungen folgte, als uns der Satz und damit auch der Sachverhalt und damit der Gegenstand entschwand; als wir merkten, daß eine Geschichte nicht aus Sätzen aufgebaut werden kann, und als wir uns davon überzeugten, daß die Geschichten das letzte sind, zu dem man als Phänomenologe vordringen kann.« 54

Die wenigen Worte lassen das als leichten Weg erscheinen, tatsächlich hat der Weg mehr als vierzig Jahre gedauert und lässt sich zum Schluss in Hunderten von Seiten bisher nicht veröffentlichter Manuskripte im Einzelnen verfolgen. Die Geschichte der Geschichtenphilosophie ist damit auch eine Geschichte der Philosophie der Sachverhalte.

54

Ebd., S. 322.

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Im Jahre 2008 erschien aus dem Nachlaß Edmund Husserls das Buch Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. 55 Das Buch vereint auf mehr als siebenhundert Seiten Texte aus den Jahren 1916 bis 1937 aus dem Nachlass Husserls. Die Texte zeigen, wie Husserl hier im Grunde mit einem ähnlichen Problem ringt wie Wilhelm Schapp, auch wenn er es dann nicht im Sinne Wilhelm Schapps löst. Lehrer und Schüler sind also auf demselben Weg unterwegs, wenn man die Schriften Wilhelm Schapps aus den dreißiger Jahren heranzieht, wohl auch zur selben Zeit, ohne voneinander zu wissen oder auch nur zu Lebzeiten voneinander zu erfahren. Auch das gehört zur Geschichte, in die beide miteinander verstrickt sind. Wir sind damit bei der Frage, was ich selbst von meinem Vater als Lehrer gelernt habe. Eine befriedigende Antwort würde zunächst einmal einen Überblick über meine wissenschaftlichen Arbeiten in den letzten 50 Jahren erforderlich machen. 56 Das kann hier nicht geleistet werden, so dass ich mich auf wenige Anmerkungen beschränken muß. In der Rechtswissenschaft stand die Blickrichtung der Phänomenologie auf Eigentum und Vertrag im Mittelpunkt. Die Geschichtenphilosophie erweiterte die Perspektive auf die Geschichten um Eigentum und Vertrag. Ich habe dann diese Geschichten als Konflikte gedeutet, die einer rechtlichen Lösung bedurften. Damit ließ sich das Problem beschreiben, das Gesetz und Richterspruch zu lösen hatten. Mit dem Problem ließ sich dann in einem weitesten Sinne auch der Gang der Lösung plausibel machen. Wir wollen unsere Einführung in die Geschichtenphilosophie mit den Worten schließen, mit denen Wilhelm Schapp seine Philosophie der Geschichten enden lässt: »Wenn man uns aber fragt, was wir mit unseren Überlegungen bezwecken, oder ob wir überhaupt etwas damit bezwecken, so mag man das, was wir vortragen, für den Entwurf einer Allgeschichte nehmen, in der alle Völker und Kulturen Platz haben. Es würde uns genügen, wenn alle fühlen wür-

Husserl, Edmund: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937), hg. v. Rochus Sowa, Dordrecht 2008. 56 Ein Verzeichnis der Schriften findet sich in: Festschrift für Jan Schapp zum siebzigsten Geburtstag, hgg. v. Patrick Gödicke, Horst Hammen, Wolfgang Schur u. Wolf-Dietrich Walker, Tübingen 2010, S. 155 ff. 55

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den, daß wir alle in einem Boot fahren, etwas mehr als Schiffbrüchige im Nichts und als solche zusammenhalten müssen.« 57

Literatur: Barth, Hans: Philosophie der Verstrickung, in: Neue Züricher Zeitung, Fernausgabe, Nr. 234, Samstag, 26. August 1961. Gödicke, Patrick, Hammen, Horst, Schur, Wolfgang u. Walker, Wolf-Dietrich (Hgg.): Festschrift für Jan Schapp zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2010. Husserl, Edmund: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937), hg. v. Rochus Sowa, Dordrecht 2008. Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010. Joisten, Karen: Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten. Ein Zugang, in: Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten u. Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015, S. 5–11. Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004. Lübbe, Hermann: Das Ende des phänomenologischen Platonismus. Eine kritische Betrachtung aus Anlaß eines neuen Buches, in: Tijdschrift voor Philosophie 16 (1954), S. 639–666. Lübbe, Hermann: Sprachspiele und Geschichten. Neopositivismus und Phänomenologie im Spätstadium, in: Kant-Studien 52 (1960/61), S. 220– 243. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, aus dem Frz. v. Rainer Rochlitz, München 1988. Schapp, Jan: Sein und Ort der Rechtsgebilde. Eine Untersuchung über Eigentum und Vertrag, Den Haag 1968. Schapp, Jan: Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, Berlin 1977. Schapp, Jan: Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, Berlin 1978. Schapp, Jan: Positive Welten und Sonderwelt des Abendlandes in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps, in: Phänomenologische Forschungen 2004, S. 133–149. Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 52013. Schapp, Wilhelm: Erinnerungen an Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976.

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Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 346.

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Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Metaphysik der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 32009. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. von Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 52015. Schapp, Wilhelm: Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag 1965. Thiemer, Nicole: Das ›stille Sprechen‹ in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps und der Universalitätsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 142–158.

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Abteilung I: Kommentare

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Geschichten und Vernunft Jan Schapp

In der neueren Diskussion der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps wird häufig die Frage gestellt, wie die Geschichtenphilosophie sich zur traditionellen Philosophie verhält. Der Fragesteller wird dabei unter traditioneller Philosophie so etwas wie Vernunftphilosophie verstehen, womit dann im allgemeinen Verständnis die gesamte Philosophie der Aufklärung verstanden sein könnte. Häufig wird die Frage auch in der Form gestellt, welche Bedeutung in den Geschichten noch die Vernunft hat. Es liegt dann nahe, darauf zu antworten, dass ein Geschichtenansatz in der Philosophie und ein Vernunftansatz sich gegenseitig ausschließen. Im Sinne der Geschichtenphilosophie könnte es dabei nahe liegen, jegliche Art Vernunftphilosophie als Teil der sogenannten »Sonderwelt des Abendlandes« 1 zu begreifen und damit gewissermaßen vor die Tür zu setzen. Die folgende Untersuchung verfolgt die Absicht, diesen Eindruck in entscheidenden Punkten zu korrigieren. Die Geschichtenphilosophie selbst bietet nun sehr unterschiedliche Ansätze zur Bearbeitung dieser Frage. 2 Viele Bemerkungen Wilhelm Schapps, auch in den nachgelassenen Schriften, ließen sich als Das Thema der »Sonderwelt des Abendlandes« behandelt Wilhelm Schapp explizit in seiner Schrift Philosophie der Geschichten (hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015); weitergeführt wird das Thema, auch wenn der Ausdruck der Wendung nach nicht fällt, in Metaphysik der Naturwissenschaft (Frankfurt a. M. 3 2009; siehe zum Thema Schapp, Jan: Positive Welten und Sonderwelt des Abendlandes in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps, in: Phänomenologische Forschungen 2004, S. 133–149. 2 Erforderlich wäre es, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, auf die Phänomenologie, innerhalb derer Wilhelm Schapp seinen originären Ansatz einer Geschichtenphilosophie konzipiert hat, näher einzugehen. Er selbst wendet sich u. a. dieser Themenstellung in seiner Schrift: Erinnerungen an Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976 (EV in: Edmund Husserl 1859– 1959. Recueil commémoratif publié à l’occasion du centenaire de la naissance du philosophe, hg. v. H. L. Breda, Den Haag 1959, S. 12–25), zu. In diesem Band hat Susann 1

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Anknüpfungspunkte für weitere Ausführungen und Fortsetzungen zu dieser Frage heranziehen. Wir denken etwa an den markanten Hinweis auf die Frage nach der Freiheit, diese könne kaum noch einen Sinn haben, weil es gerade zu den Geschichten gehöre, dass sie undurchsichtig seien. 3 Es gibt aber eben doch auch Ansatzpunkte, die vielversprechend erscheinen, auch wenn man im Sinne Wilhelm Schapps hier ständig in der Gefahr ist, sich in Konstruktionen oder genauer in einer Systematisierung der Zusammenhänge zu verlieren. Entsprechend wollen wir im Folgenden einen Ansatzpunkt, der uns erfolgversprechend erscheint, aufgreifen. Den Schlüssel zur Beantwortung unserer Frage scheint uns Wilhelm Schapp bereits im Vorwort von Philosophie der Geschichten zu geben. Er teilt dabei die Philosophie in zwei Teile auf, die er einerseits durch die Kritik der reinen Vernunft, andererseits durch die Kritik der praktischen Vernunft Kants repräsentiert sieht. Der erste Teil ist durch die Suche nach Sachverhalten im mathematisierender Art gekennzeichnet und lässt sich in der Diktion Schapps ohne weiteres der von ihm sogenannten Sonderwelt des Abendlandes zuordnen, während Schapp in Bezug auf den zweiten Teil bemerkt, dass er zu dem Kant der praktischen Vernunft und insbesondere der Urteilskraft bessere und freundschaftlichere Beziehungen haben möchte. 4 Im Sinne einer überkommenen Unterscheidung in der Philosophie möchten wir daher, wenn auch stark vergröbernd sagen, dass die Erkenntnistheorie der Sachverhaltswelt zugeordnet wird, während die Ethik (und auch die Ästhetik) der Geschichtenphilosophie zugerechnet werden kann, in jedem Fall in näherer Beziehung zur Geschichtenphilosophie steht. Wir wollen diese beiden Linien noch etwas weiter ausziehen. Wenn sie an der zitierten Stelle auch vor allem im Hinblick auf Kant zum Ausdruck gebracht werden, 5 so dürfte es doch einer gewissen Konsequenz entsprechen, im Sinne Wilhelm Schapps die gesamte Philosophie in dieser Perspektive zu sehen. Das würde es nahelegen, die gesamte Philosophie an dieser Zweiteilung zu orientieren. Das ist bei Wilhelm Schapp zwar nicht durchGottlöber einen eigenen Beitrag, Phänomenologie, zu dieser Themenstellung vorgelegt. 3 Vgl. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III. Mit einem Sach- und Personenregister der Bände I–III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2018, S. 108. 4 Vgl. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, S. 26. 5 Vgl. ebd., S. 23–27.

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geführt, aber doch immerhin angedeutet, so, wenn er sich am Ende seines Vorworts an den Aussprüchen der Sieben Weisen und ihrer Nachfolger orientieren will, zu denen er offenbar den Kant der Kritik der Urteilskraft und Husserl und Scheler in ihren Wertlehren rechnet. 6 Im weiteren Fortgang der Untersuchung in der Philosophie der Geschichten erhält Wilhelm Schapps in dem Vorwort mehr angedeutete als ausgeführte Unterscheidung eine weitere, sehr starke Unterstützung. Sie liegt in seiner Lehre von den »positiven Welten«, in die der Mensch konstitutiv verstrickt ist. 7 Wilhelm Schapp untersucht zwar vorrangig die positive Welt Homers, hat aber doch dabei ständig die positive Welt des Christentums vor seinem Auge, die ihn dann auch zu den markantesten Aussagen führt. Die Welt der praktischen Vernunft, um es in den Worten Kants zu sagen, scheint mir dabei von Wilhelm Schapp orientiert zu werden an der positiven Welt des Christentums. 8 Hören wir dazu Wilhelm Schapp in Philosophie der Geschichten: »Wir würden die griechische Philosophie und die griechische Dichtkunst, der die antike Welt kaum etwas Gleichartiges an die Seite zu setzen hat, aufzufassen versuchen als ein Zwischenreich zwischen der Allgeschichte Homers und der Allgeschichte des Christentums. Zur Zeit der griechischen Aufklärung hätte wohl niemand zu prophezeien gewagt, daß noch einmal Vgl. ebd., S. 27. Das Problem der Werte behandelt Wilhelm Schapp bereits in: Schapp, Wilhelm: Die Neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 1. Bd.: Der Vertrag als Vorgegebenheit, Berlin-Grunewald 1930 und Die Neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 2. Bd.: Wert, Werk und Eigentum, Berlin-Grunewald 1932, und Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag 1965. Weitere Ausführungen zum Themenkomplex Werte und Muttertum finden sich in diesem Band bei Karen Joisten. Siehe auch: Schapp, Jan: Geschichtenphilosophie und Recht, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 65–85. 7 Das Verstricktsein des Menschen in Geschichten ist in einer elementaren Weise zu verstehen, da sich der Mensch niemals aus dem lebendigen Geschichtenzusammenhang, in den er eingewoben ist, herauslösen kann. Siehe dazu auch die Beiträge von Nicole Thiemer: Essentia oder existentia? Vom wesentlichen und geschichtlichen Verstricktsein des Menschen in Geschichten und von Manuel García Serrano: Die narrative Entstehung der personalen Identität sowie von Verena Häseler: Endlose Verstrickung? Wilhelm Schapp und Jacques Derrida; zwischen Geschichte(n) und Kontext (en) in diesem Band. 8 Weiterführende Ausführungen zu dieser Themenstellung finden sich in diesem Band bei Volker Ortmann: »Legenden als Geschichtsquellen« – Kirchengeschichtliche Aspekte einer Philosophie der Geschichten. 6

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eine Allgeschichte nach Art der Geschichte Homers, aber mit der Breite und Tiefe des Christentums zur Herrschaft kommen werde, und daß in dieser Allgeschichte die griechische Philosophie eingehen werde und nicht nur diese, sondern auch Homer als Vorstufe der Allgeschichte, und was noch wunderbarer und ganz unglaublich ist, daß diese Philosophie vielleicht die neue Allgeschichte noch wieder überleben würde oder wenigstens neue Reiser treiben würde, wenn die neue Allgeschichte Perioden der Schwäche durchzumachen hätte. In einer solchen Zeit würden wir uns jetzt befinden. Diese unsere Überlegungen setzen aber voraus, daß wir Plato und Aristoteles und ihre Nachfolger eingliedern in die Zeit zwischen Homer und Christus, so wie wir das mit den Physikern und mit Heraklit versucht haben.« 9

Die Stelle macht deutlich, dass nicht nur, wie uns das Vorwort lehrt, Kant in zwei Perspektiven zu sehen ist, sondern auch die antike Philosophie und hier insbesondere Plato. Der Plato des Theaitet, wie er uns in der Philosophie der Geschichten im 2. Teil Kapitel II entgegentritt, ist für Wilhelm Schapp schließlich nicht der einzige Plato. In dem gerade wiedergegebenen Zitat tritt neben ihn ein Plato, dessen Bedeutung in seiner Beziehung zum Christentum und der ihm folgenden Aufklärung liegt. Wir glauben ergänzen zu dürfen, dass jetzt neben den Plato des Theaitet der Plato des Staates tritt, für den die Ideenlehre in Begriffen der neueren Philosophie gesprochen nicht Teil einer Erkenntnistheorie, sondern Teil der Ethik ist. Die Beziehung dieses Plato zum Christentum wird nicht zuletzt durch die religiöse Dimension des Staates nahegelegt, die man in der Ideenlehre finden kann. Wie wir sehen werden, liegt sie aber nicht allein darin. Wenn nun die Ethik das durchgehende Gemeinsame dieser positiven Welt von Plato über das Christentum bis zur neuzeitlichen Aufklärung darstellt, inwiefern zeigt sich diese Ethik als eine Geschichte, die auch eine Geschichtenwelt zu konstituieren vermag? Diese Ethik lässt sich nicht allein auf Vernunft reduzieren, sondern die Vernunft wird in ihr begriffen als Antwort auf das Problem des Menschen, das sich kurz als immer drohender Exzess der Begehrungen kennzeichnen lässt. Das ist die Geschichte, die alle Philosophen und Theologen uns als Kern ihrer Botschaft erzählen. 10 Es ist der 9 Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, S. 269. Für Wilhelm Schapp ist auch die Bhagavadgita von größter Bedeutung. Siehe dazu in diesem Band: Antje Linkenbach: Bhagavadgita. 10 Bereits in der Einleitung und im zweiten Abschnitt von In Geschichten verstrickt ist das Thema des Erzählens von Relevanz. Siehe ferner: Schapp, Jan: Verstrickung und Erzählung, in: Phänomenologische Forschung 2007, S. 125–144.

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Kern ihrer Botschaft, wenn dies auch in recht unterschiedliche Gewänder gekleidet wird. Wir überlassen den großen Gründergestalten, welche Unterlängen und Überlängen sie für das Gemälde für erforderlich halten, das sie uns bieten. Dass in der Aufklärung die Frage nach dem Bösen und nach Gott nicht mehr gestellt wird oder doch jedenfalls eingeklammert wird, ändert an dem Grundzug der Erzählung nicht allzu viel. Zu dieser Erzählung gehört dann auch, dass die einzelnen Protagonisten sich von ihren Vorgängern meinen grundlegend unterscheiden zu müssen und den durchgehenden Zug der Geschichte mehr oder weniger in den Hintergrund rücken. Damit sind wir bei einer weiteren Frage, die noch zu behandeln ist. Wenn die Philosophen und Theologen uns diese Geschichte erzählen, haben wir dann nicht in Wirklichkeit doch nur eine Dichtung vor uns, die uns schließlich unberührt lässt? 11 Aus der Welt der Sachverhalte 12 kommen wir doch offenbar nur heraus, wenn die uns erzählten Geschichten auch unsere eigenen sind. 13 Dieser Frage ist Wilhelm Schapp insbesondere im Verhältnis der Dichter zu den von ihnen erzählten Geschichten nachgegangen, sie stellt ein großes Thema seiner nachgelassenen Schriften dar. 14 Wir verkürzen das Ergebnis hier auf wenige Worte. Die Dichter erzählen uns unsere eigenen Geschichten, indem sie ihre eigenen Geschichten erzählen. Das geschieht vielfach in der Weise der Allegorie, des Gleichnisses. Wir müssen hier darauf verzichten, diesem Gedanken in Bezug auf die Siehe Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002 und dies.: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten, in: Joisten (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps, S. 86–101. 12 Angelika Bönker-Vallon hebt in ihren Ausführungen in diesem Band heraus, wie auch »Kunio Yanagita im Kampf gegen westliche Wissenschaft« einen anderen Weg als den gängigen der etablierten Wissenschaften freizulegen versucht, durch den mittels Erzählungen kulturelle Identität gestiftet werden kann. Hier wäre es eine weitere Forschungsaufgabe, Bezüge zwischen Schapp und Kunio Yanagita herzustellen und sie kritisch zu kontrastieren. 13 Der Themenkomplex rund um das Sprechen ist für Wilhelm Schapp von größter Bedeutung. Siehe dazu in diesem Band die Beiträge von Andreas Hütig: Ausdruck und Bedeutung und von Benjamin Schöter: Diesseits und Jenseits der Sprache – Geschichten als Zugang zur Welt. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie im Kontext Pierre Bourdieus praxeologischer Soziologie. 14 Weitere Ausführungen zu dieser Themenstellung finden sich in diesem Band bei Christine Waldschmidt (Dichtung) und bei Desirée Monsees (Im Horizont der Dichtung – Wilhelm Schapp und die Welt der Dichtung und Dichter). 11

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einzelnen großen Gründergestalten nachzugehen. Dass es sich um erlebte Geschichten handelt, liegt aber auf der Hand bei Plato, bei Christus, bei Paulus, bei Augustin, bei Luther, bei Hobbes, bei Locke. Sogar Kant möchte man in diesen Kreis noch einbeziehen. Entweder handelt es sich um das Erlebnis von Ungerechtigkeiten oder die einzelnen sehen sich Bürgerkriegen ausgesetzt, deren kaum Herr zu werden ist. Welche Bedeutung die Ethik als Geschichte in meinen rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Untersuchungen gespielt hat, reflektiere ich in meinem Nachwort zur 2. Auflage von Freiheit, Moral und Recht. 15 In dieser Abhandlung kann bereits ein Beitrag zur Antwort auf die von uns gestellte Frage gesehen werden. Geschichten und Vernunft sind also keine alternativen Lösungen der Philosophie. Indem die Vernunft vielmehr als Lösung einer ganz bestimmten menschlichen Problemkonstellation verstanden wird, taucht sie in Geschichten ein und lässt sich nur über diese Geschichten verständlich machen. Es ist nicht etwas wie ›die Vernunft‹, sondern es ist die Vernunft, um die jeder von uns jederzeit ringt. 16

Literatur: Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002. Haas, Stefanie: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 86–101. Kant, Immanuel: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977. Platon: Werke in acht Bänden, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1970–1983. Schapp, Jan: Freiheit, Moral und Recht, Tübingen 22017.

Schapp, Jan: Freiheit, Moral und Recht, Tübingen 22017. Von hier her wird es erforderlich, auch die Frage nach dem Unbewussten und dem Traum zu verfolgen und den Zusammenhang mit der Vernunft sichtbar werden zu lassen. Siehe dazu den Beitrag von Corvin Kloppenburg (Durch den Traum hin zum Menschen) und den Beitrag von Dirk Stederoth (Die Narben der Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und die Psychoanalyse) in diesem Band.

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Schapp, Jan: Geschichtenphilosophie und Recht, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 65–85. Schapp, Jan: Positive Welten und Sonderwelt des Abendlandes in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps, in: Phänomenologische Forschungen 2004, S. 133–149. Schapp, Jan: Verstrickung und Erzählung, in: Phänomenologische Forschung 2007, S. 125–144. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III. Mit einem Sach- und Personenregister der Bände I–III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2018. Schapp, Wilhelm: Die Neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 1. Bd.: Der Vertrag als Vorgegebenheit, BerlinGrunewald 1930. Schapp, Wilhelm: Die Neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 2. Bd.: Wert, Werk und Eigentum, Berlin-Grunewald 1932. Schapp, Wilhelm: Erinnerungen an Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976 (EV in: Edmund Husserl 1859–1959. Recueil commémoratif publié à l’ocassion du centenaire de la naissance du philosophe, hg. v. H. L. Breda, Den Haag 1959, S. 12–25). Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Metaphysik der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 32009. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015. Schapp, Wilhelm: Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag 1965.

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Phänomenologie Susan Gottlöber

A) Kurze Darstellung der Inhalte: Die Fundierung von Schapps Denken in der Phänomenologie »Man muß voraussetzungslos an die Untersuchung gehen und sich nicht von vornherein durch unmittelbare ›Selbstverständlichkeiten‹, deren Geltung nie untersucht ist, in der Freiheit des Blicks verengen lassen.« 1

Schapps Verhältnis zur Phänomenologie ist vielschichtig. Es lässt sich nachzeichnen von seinen ersten Schritten in die Phänomenologie über seine Rechtsphänomenologie, bis hin zum bewussten Zurücklassen der Phänomenologie in seiner Philosophie der Geschichten und – daran anschließend – seiner Kritik an der phänomenologischen Methode. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, Schapps phänomenologische Entwicklung nachzuvollziehen und kritisch zu analysieren, sowie abschließend zu entwickeln, inwiefern Schapps Denken fruchtbar gemacht werden kann für gegenwärtiges Philosophieren, sowohl im Allgemeinen wie auch in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie. In gewisser Weise folgen wir dabei Schapps eigenem Vorgehen, nämlich die Geschichte Schapps die Phänomenologie betreffend nachzuzeichnen.

1.

Erste Schritte in die Phänomenologie

Die ersten philosophischen Schritte des jungen Wilhelm Schapp, Husserls zweitem Doktoranden, waren geprägt nicht nur von der Phänomenologie selbst, sondern auch von der Aufbruchsstimmung, welche die Philosophie im Rahmen der Phänomenologie erfasst hatte.

1 Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Frankfurt a. Main 52013, S. 2.

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Phänomenologie

Schapp schreibt in späteren Jahren mit leichtem Bedauern, wie in seinen Augen die nachfolgenden Generationen an dieser Aufbruchsstimmung keinen Anteil mehr hatten, »weil die erste Voraussetzung dafür, der Glaube an eine neue, zwingende Lehre ist, der Glaube an die absolute Wahrheit, der Glaube, daß sich auf dem phänomenologischen Wege etwas Endgültiges über den Gegenstand der Untersuchung ausmachen ließe« 2, von ihnen höchstens nachvollziehbar, jedoch nicht mehr erfahrbar, sei. Die Quellen für Schapps phänomenologische Herangehensweise bzw. sein Verhältnis zur Phänomenologie finden wir vor allen Dingen in seiner Dissertation, seiner Rechtsphänomenologie, seinen späteren allgemeinen Reflexionen und schließlich in seinen Erinnerungen an Edmund Husserl. 3 Besonders letztere liefern uns ein lebendiges Bild der Stimmung unter den jungen Philosophen: Schapp beschreibt ein allgemeines Unbehagen, ein Gefühl der Desillusion, das wir auch aus anderen biographischen und autobiographischen Reflexionen dieser Zeit kennen. Zwar habe der kategorische Imperativ ihnen Halt gegeben, so Schapp, aber »[wir] fühlten uns vergewaltigt und sahen keinen Raum, um fruchtbar zu philosophieren.« Empirismus und Positivismus spielten für sie keine große Rolle als Alternativen. »In dieser philosophischen Lage begegnete mir Edmund Husserl.« 4 Schapps eigenen Aufzeichnungen zufolge hatte er den Namen Husserls in Freiburg und Berlin kaum gehört. Allerdings hatte der junge Student, »wenn auch nur mit halber Kraft«, in Berlin an einem Seminar Wilhelm Diltheys teilgenommen, in dem einige Stunden den Logischen Untersuchungen von 1900/01 gewidmet waren. Trotz philosophischer Differenzen war Husserl von Dilthey sehr respektiert; eine sehr wichtige Tatsache für Husserl, da Diltheys Einfluss ungebrochen groß war. Husserls Philosophieren ohne »einen Hauch von historischer Skepsis« (Hermann Lübbe) stellte zwar in gewisser Hinsicht den Gegensatz zu Diltheys hermeneutischem Ansatz dar, in dem die Vergangenheit, wie Lübbe herausstellt, eine größere Rolle spielte als die Zukunft der Philosophie; dennoch hatte Dilthey die Weitsicht, die epochale philosophiehistorische Bedeutung der PhänoSchapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2016, S. 57 [Seitenwechsel; S. 27]. 3 Schapp, Wilhelm: Erinnerungen an Edmund Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976. 4 Schapp: Erinnerungen, S. 6. 2

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menologie Husserls zu erkennen. 5 Es ist dieses Spannungsfeld zwischen Hermeneutik und Phänomenologie, in dem Schapps eigenes Philosophieren beginnt; eine Spannung, die wir bis in seine Spätphilosophie hinein verfolgen können. Die phänomenologische Idee eines voraussetzungslosen Neubeginns mag aus heutiger Sicht naiv erscheinen, war jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Zeit in der die naturwissenschaftliche Deutung der Welt (und in ihrem Gefolge Empirismus und Positivismus) mehr und mehr an Bedeutung gewann, durchaus verständlich; zumindest dann, wenn die Philosophie nicht in eine dieser Kategorien fallen sollte und zugleich mehr sein wollte als ihr eigenes historisches Bewusstsein. Husserl besaß genau diese Naivität, die notwendig war, wenn man versuchen wollte, die »Philosophie als strenge Wissenschaft« zu etablieren. 6 1905 erfolgte der Umzug nach Göttingen, wo Schapp sich mit Unterbrechungen von 1905–1909 aufhielt. In dieser Zeit sehen wir die intensivste Auseinandersetzung Schapps mit der Phänomenologie, die mit seiner Dissertation Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung im Jahr 1909 endet, auf die wir später noch zurückkommen. Schapp nahm an Vorlesungen und allen Übungen teil und studierte die Logischen Untersuchungen Tag und Nacht für mehrere Jahre; er konnte sie zum Teil aus dem Gedächtnis zitieren. 7 Doch worin lag nun der Reiz der phänomenologischen Herangehensweise, die den jungen Schapp und seine Kommilitonen so faszinierte, dass sich Schapp rückblickend selbst als jungen Phänomenologen bezeichnete? Wie bereits eingangs erwähnt, wurde die Lehre Husserls zunächst als willkommener Einbruch in das System Kants verstanden, das die jungen Studenten trotz der bahnbrechenden philosophischen Erkenntnisse unbefriedigt zurückließ. Es ging also vor allen Dingen um »Befreiungsschläge«, genauer, um die Befreiung von Kant. Zusätzlich habe, so Schapp, die Einführung des Psychologismus in die Philosophie einen bleibenden Eindruck hinterlassen. 8 Allerdings beschreibt Schapp rückblickend, wie wichtige Fragestellungen nur unVgl. Lübbe, Hermann: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität: Mach, Husserl, Schapp, Wittgenstein, Freiburg 1972, S. 10–15. 6 Vgl. dazu auch Husserls bedeutenden Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft, veröffentlicht 1911 in der Zeitschrift Logos, S. 289–341. 7 Schapp: Erinnerungen, S. 7. 8 Vgl. Schapp: Erinnerungen, S. 16. 5

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Phänomenologie

befriedigend geklärt blieben: Als Beispiel nennt er die Fragen, ob die Phänomenologie eins sei mit der Philosophie oder nur deren Propädeutik oder nach der genauen Natur der phänomenologischen Reduktion, die Schapp, wie er selbst zugibt, »nie ganz verstanden« habe. 9 Schapp war ein aufmerksamer Beobachter und damit ein wertvoller Zeitzeuge, was die phänomenologische Bewegung betraf: So zeigte sich seine (selbst)kritische Reflexion auch darin, wie er auf seine Begegnung mit den Mitgliedern des Münchner Kreises (unter ihnen Pfänder, Hildebrand und Geiger) in Göttingen zurückblickt: Er bescheinigt ihnen ein selbstständiges Denken, das die Studenten um Husserl (Husserl hatte um 1905 noch keinen wirklichen Schülerkreis) missen ließen: »Sie waren uns nach unserer Meinung weit voraus. Sie hatten nicht die Gläubigkeit, die wir hatten.« 10 Schapp entschloss sich, für anderthalb Semester nach München zu gehen, um Daubert und Pfänder und deren Schülerkreis kennenzulernen. 11 Auch suchte er in München nach einem Promotionsthema. Allerdings war für ihn klar, er wollte bei Husserl promovieren und entschied sich für das Thema Wahrnehmung und Illusion, ein Thema, mit dem sich Husserl einverstanden zeigte. Husserl sei »leidlich zufrieden« mit der Arbeit gewesen, und verbesserte nur zwei oder drei Stellen. 12 Schapps Dissertation mit dem Titel Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung zeigt deutlich, dass Schapp zu denjenigen Husserlschülern der Göttinger Zeit gehörte, die die klassische Bewusstseins- und Wesensphänomenologie zunächst fortsetzten. 13 Seine Herangehensweise an das »unmittelbare Verhältnis zu den Sachen selbst, [die] […] Selbstgegebenheit« 14 und Antwort auf die Frage, inwiefern Wahrnehmung eines Ansich sein kann, ist ein phänomenologischer Realismus, der auf das wesentliche Element der Wahrnehmungsgegenstände abzielt, »das weder Impression ist, noch sich irgendwie darauf zurückführen läßt«. 15 Schapp nimmt, wenn er sich im Detail der sinnlichen Wahrnehmung zuwendet, das phänomenoSchapp: Erinnerungen, S. 15. Schapp: Erinnerungen, S. 18–21, Zitat S. 21. 11 Schapp: Erinnerungen, S. 18. 12 Schapp: Erinnerungen, S. 25 f. 13 Lübbe: Bewußtsein in Geschichten, S. 103. 14 Schapp: Beiträge, S. 6. 15 Schapp: Beiträge, S. 9. 9

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logische Grundprinzip ernst, immer die Ursprünglichkeit der Gegebenheitsweise der Gegenstände im Auge zu behalten. Die Beiträge beeindrucken durch ihren Reichtum an Beispielen, die verdeutlichen, dass es sich bei den »Sachen selbst« nicht nur um Bewusstseinskorrelate, sondern oft um reale Gegenstände handelt, eingebettet in die menschliche Wirklichkeit, die daran wesentlichen Anteil hat, wie der Gegenstand von uns betrachtet wird. 16 Schapp warnt vor einem »Über-Theorisieren«: wichtig sei vor allen Dingen »eine unbedingte Hingabe, ein Vertiefen in die Sachen selbst; nicht ein Reflektieren ›über‹ die Sachen […] In der ganzen Phänomenologie darf auch nicht eine einzige Hypothese vorkommen.« 17 Dass Schapp diese Einstellung durch die gesamte Dissertation durchhält, gleichgültig, ob er sich der Idee der sinnlichen Wahrnehmung, der Illusion oder dem Thema der Grenze zuwendet, ist eine der herausragendsten Leistungen der Arbeit. Es ist schwer zu belegen, ob Schapps Dissertation um 1910 wirklich gelesen wurde, »weil man in ihr zu erfahren hoffte, was es mit Husserls Jahrhundertbuch [den Logischen Untersuchungen] auf sich hatte.« 18 Was uns aber in jedem Fall vorliegt, ist eine anschauliche, dabei jedoch präzise phänomenologische Analyse der Wahrnehmung und ihrer Gegenstände, die gerade, »weil sie zu keinem Zeitpunkt in eine[r] abstrakte[n] Erörterung bewusstseinsphilosophischer Grundlagenprobleme« 19 endet, einen wertvollen Beitrag in die Einführung der Phänomenologie der Wahrnehmung leistet.

2.

Rechtsphänomenologie

Obwohl sich Schapp für eine außeruniversitäre Karriere als Jurist entschloss, blieb er der Phänomenologie zunächst verhaftet, wie sich in seinem großen zweibändigen Werk Die neue Wissenschaft vom Recht (Band 1: Eine phänomenologische Untersuchung (1930) und Band 2: Wert, Werk und Eigentum (1932)) zeigt. Schapp selbst stellt klar, dass er hier im Wesentlichen in der Tradition Reinachs steht. 20

16 17 18 19 20

Schapp erläutert dies am Beispiel der Illusion. Vgl. Schapp: Beiträge, S. 98 ff. Schapp: Beiträge, S. 13 f. Thomas Rolf in seiner Einführung zur vierten Auflage in Schapp: Beiträge, S. VII. Rolf in Schapp: Beiträge, S. VIII. Schapp, Wilhelm: Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische

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Phänomenologie

Man erinnere sich: Husserl, nicht gerade für seine herausragende Didaktik als Lehrer bekannt, war wesentlich auf Schüler wie Reinach angewiesen, um seine komplexen Überlegungen zu vermitteln. Aber der 1917 gefallene Reinach hatte sich besonders im Rahmen der Phänomenologie des Rechts auch einen eigenen Namen gemacht. So entwickelt er in seinem Hauptwerk Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes aus dem Jahr 1913 eine Kritik des positiven Rechts, indem er argumentiert, der legale Positivismus greife deshalb zu kurz, weil er außer acht lasse, dass alles positive Recht selbst in apriorischen Konzepten wurzelt: »Die rechtlichen Gebilde bestehen unabhängig vom positiven Rechte, sie werden aber von ihm vorausgesetzt und benutzt.« 21 Reinach sucht in seinem Werk den Zugang »in das Reich der rein rechtlichen Gesetzmäßigkeiten [, die] unabhängig [sind] von der menschlichen Erkenntnis […] und vor allen Dingen von der faktischen Welt.« 22 Dabei konzentriert er sich neben dem Verhältnis von apriorischem zu positivem Recht vor allen Dingen auf die sozialen Akte und deren Rolle und setzt sich besonders mit dem Versprechen als Ursprung von Anspruch und Verbindlichkeit auseinander. Schapp setzt mit seinen Untersuchungen in gewisser Hinsicht dort an, wo Reinach stehenbleibt (de Vecci spricht von Schapps Werk als einer wichtigen komplementären Ergänzung zu Reinach), 23 indem er juristische Begriffe wie Vertrag, Eigentum und Anspruch phänomenologisch analysiert und versucht, diese in eine größere vorrechtliche Ordnung eines Wertekosmos und Wertfühlens zu stellen. Seine Position ist im weiteren Zusammenhang der Rechtsphänomenologie von Forschern wie Michael Theunissen, Sophie Loidolt oder Jan Schapp detailliert herausgearbeitet worden. 24

Untersuchung. 1. Bd.: Der Vertrag als Vorgegebenheit, Berlin-Grunewald 1930, S. 182. 21 Reinach, Adolf: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1 (2), Halle 2013, S. 686– 847, hier: S. 691. 22 Reinach: Grundlagen, S. 847. 23 De Vecci, Francesca: A Priori of the Law and Values in the Social Ontology of Wilhelm Schapp and Adolf Reinach, in: Alessandro Salice/Bernhard Schmid (Hgg.): The Phenomenological Approach to Social Reality: History, Concepts, Problems, Springer 2016, S. 279–316. 24 Vgl. Loidolt, Sophie: Einführung in die Rechtsphänomenologie. Eine historischsystematische Darstellung, Tübingen 2010; Schapp, Jan: Methodenlehre und System

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Da für Schapp die Philosophie da beginnt, wo die Einzelwissenschaft aufhört, muss sie (d. h. die Philosophie) zunächst klären, was Begriffe wie Eigentum, Anspruch oder Vertrag eigentlich bedeuten. 25 Schapp entwickelt hier die Apriori-Strukturen einer Wissenschaft des Rechts (zu unterscheiden von dem, was traditionell als Rechtswissenschaft bezeichnet wird) und identifiziert in Die neue Wissenschaft vom Recht vier solcher Apriori-Strukturen als Vorgegebenheiten, die notwendigerweise in jedem positiven Recht anwesend sein müssen: der vernünftige Vertrag (wesentlich auf Gegenseitigkeit beruhend), die Bestimmung, die unerlaubte Handlung und das Eigentum (maßgeblich bestimmt durch das Schaffen wertvoller Werke), dem auch im Wesentlichen der zweite Band gewidmet ist. 26 Anders als Reinach betont Schapp die Rolle von Werten und Wertungen für Vorgegebenheiten wie Verträge (hauptsächlich im ersten Band entwickelt), aber auch für alle weiteren oben genannten Termini: »Bei allen [Verträgen] besteht der Unterbau in der Abschätzung der umzusetzenden Werte.« 27 Dass die Wertewelt den eigentlichen Kosmos menschlichen Denkens und Seins ausmache, eine konkrete Realität, auf die geschaffene »Gebilde« wie die Rechtslehre verweisen und ohne welche sie zumindest den größten Teil ihrer Bedeutung verlieren, ist ein Gedanke, den Schapp von Scheler (und sicher auch Hildebrand) übernommen hatte; in der Tat zeigt sich hier vielleicht mehr als irgend sonst der Einfluss Schelers, den Schapp als Privatdozent in München gehört hatte. 28 Allerdings öffnet Schapp sein Werk damit auch für die gleichen Kritikpunkte wie auch Schelers Wertphilosophie, worauf wir später noch genauer eingehen werden.

des Rechts: Aufsätze 1992–2007, Tübingen 2010; Theunissen, Michael: Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1977. 25 Vgl. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 61 [Seitenwechsel; S. 31]. 26 Vgl. de Vecci: A Priori of the Law and Values in the Social Ontology of Wilhelm Schapp and Adolf Reinach, S. 281. Jan Schapp macht darauf aufmerksam, wie sich das wertvolle Werk in der Geschichtenphilosophie in das Wozuding wandelt. Vgl. Schapp: Methodenlehre, S. 248. 27 Schapp, Wilhelm: Die neue Wissenschaft vom Recht I, S. 34. 28 Lebenslauf von Wilhelm Schapp, ursprünglich mit der Dissertation veröffentlicht. https://nasepblog.files.wordpress.com/2013/12/w-schapp-lebenslauf.jpg [zuletzt eingesehen am 12. 11. 2017].

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Phänomenologie

3.

Die latente Weiterführung der phänomenologischen Herangehensweise in der ›Philosophie der Geschichten‹

Zwar scheint auf den ersten Blick in Schapps Geschichtenphilosophie der hermeneutische Einfluss weit stärker im Vordergrund zu stehen als die Phänomenologie, allerdings stimmt das beim genaueren Hinsehen nicht ganz. So hebt auch Thomas Rolf in seiner Einführung zu den Beiträgen richtig heraus, dass eine thematische Kontinuität in Schapp durchaus gegeben ist, vor allen Dingen im Konzept der Darstellung, oder genauer, der Repräsentation: »[M]an wird letztlich keinen Bruch im philosophischen Gesamtwerk Schapps ausmachen können.« 29 Wie Pohlmeyer herausstellt, ist die Philosophie der Geschichten zudem geprägt von den rechtsphänomenologischen Forschungen Schapps, die nicht nur eine Auseinandersetzung mit Husserl darstellen, sondern auch eine Kritik an bestimmten metaphysischen Positionen wie Kant oder Platon, die Schapp aporetisch deutet. 30 Diese – wenn auch latente – Relevanz der Phänomenologie wird von manchen Autoren als so bedeutend interpretiert, dass sie eher von einer Geschichtenphänomenologie als Geschichtenphilosophie sprechen. 31 Noch einmal anders ausgedrückt könnte man sagen, Schapp entwickelt seine Philosophie der Geschichten zwar deutlich in Richtung einer narrativen Identität, aber auf einer phänomenologischen Folie und zugleich als Kritik der klassischen phänomenologischen Herangehensweise. 32 Schapp stellt zu Beginn seines Vorworts zu Philosophie der Geschichten klar, dass er die Philosophie der Geschichten als die vierte Revolution in den Wissenschaften sieht, nach der Revolution in der Mathematik durch Thales, den Naturwissenschaften durch Bacon Rolf in Schapp: Beiträge, S. 7. Pohlmeyer, Markus: Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp, Münster 2004, S. 3 f. 31 Vgl. u. a. Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004. 32 Burkhard Liebsch arbeitet in seinem Beitrag Die Idee der Phänomenologie im Lichte ihrer narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps detailliert und überzeugend heraus, wie Schapp mit seiner Philosophie der Geschichten auf der einen Seite einen Bruch mit der Phänomenologie vollzieht, auf der anderen Seite ihr jedoch terminologisch verpflichtet bleibt. Vgl. Liebsch, Burkhard: Die Idee der Phänomenologie im Lichte ihrer narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps, in: Karen Joisten (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Br. 2010, S. 22–48. 29 30

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und der Metaphysik durch Kant. Geschichten sind also in gewisser Hinsicht alles: Kants Auftreten zum Beispiel ist eine Geschichte. Können Geschichten mit den Mitteln der Phänomenologie begriffen werden? Schapp bezweifelt dies. Zwar sind »Geschichten […] Urphänomene, Urgebilde, urhafter als die Gebilde der Wissenschaft. Allerdings sind sie keine Erkenntnisgegenstände im üblichen Sinne, da sie keinen Anfang oder Ende haben; sie stehen nur dem Mitverstrickten offen und wir sind in sie entweder verstrickt oder mitverstrickt.« 33 Mit der Feststellung, dass Verstricktsein in unzählige gegenwärtige Geschichten unser Sein ausmacht und sich alle Sachverhalte auf Geschichten zurückführen lassen, 34 verbindet sich eine hermeneutische Husserlkritik, u. a. an der Idee der reinen Grammatik: Ein Satz, der in Geschichten steht, ist in diesem Sinne kein Satz mehr, so Schapp, da er »nach allen Seiten festgewachsen ist«. 35 Wenn Schapp davon ausgeht, dass die Philosophen das »tote Gebilde Satz untersuchen« und »das Tote nichts mehr vom Lebenden enthält« 36, dann kann man daraus, wie auch aus anderen Aussagen Schapps, schließen, dass die theoretische Analyse wirkliche (eben auch »lebendige«) Zusammenhänge zerstört, wie sie sich in Geschichten aufweisen lassen. 37 In gewissem Sinne betreibt Schapp damit eine eigenwillige Fortführung der Phänomenologie: Zu den Sachen selbst vorzudringen, heißt für ihn, sich den Geschichten zuzuwenden, von denen wir zwar auch nicht wissen, was sie sind, die uns aber helfen, die Brücke von einer Geschichte zur anderen zu finden; 38 diese Geschichten verweisen auf beides: die Identität des Menschen und die Zusammenhänge, in denen uns die Welt erscheint, gleichsam der Horizont seiner Geschichte. 39 Noch ein weiterer Begriff in Schapps Geschichtenphilosophie scheint mit der Phänomenologie verbunden: der Begriff des »Wozudinges«. »Die Wozudinge«, so Schapp, »finden ihren Platz entsprechend in der Serie, und zwar in den Sinnzusammenhängen, in den Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. von Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015, S. 26. Schapp bezieht sich hier auf Husserls Überlegungen in Teil IV »Der Unterschied der selbständigen und unselbständigen Bedeutungen und die Idee der reinen Grammatik« der Logischen Untersuchungen. 34 Vgl. Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 9. 35 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 338. 36 Siehe ebd., S. 342. 37 Vgl. ebd., S. 343. 38 Vgl. ebd., S. 342. 39 Vgl. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 101. 33

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Geschichten der Menschen.« 40 Beim genaueren Hinsehen entwirft Schapp die Grundlagen zu dieser Idee schon in den Beiträgen anhand einer genauen Analyse der Wahrnehmung des Dargestellten. Schapps Wozuding erinnert unverkennbar an Heideggers Dingverständnis des Zeugs in seiner Seinsart der Zuhandenheit. Sie (die Wozudinge) sind »Werk[e] von Menschenhänden«, die »die Verbindung zwischen Geschichte und Außenwelt herstellen soll[en].« 41 Wie Schapp in Kapitel drei von In Geschichten verstrickt entwickelt, ist das Wozuding das Scharnier zwischen der geschichtslosen Außenwelt und der Welt-Geschichte des Menschen. 42 Außenwelt, Wozudinge (vom Menschen geschaffene Dinge wie Stühle, Tische, Tassen etc.) und Menschen fallen in der Verstrickung zusammen. 43 Auch wenn das Wozuding nicht, wie bei Heidegger das Zeug, zuerst aus den Praxisbezügen verstanden wird, ist es doch erstaunlich, dass Schapp Heidegger mit keinem Wort erwähnt; die Parallelen sind nicht zu übersehen. Obwohl also Schapp für seine Philosophie der Geschichten eher auf seine frühere hermeneutische Ausbildung zurückgreift, sehen wir neben seiner impliziten und expliziten Kritik an der Phänomenologie doch auch den ausgebildeten Phänomenologen, der sich deskriptiv der Lebenswelt und ihrem Subjekt zuwendet. Das Ziel, das Subjekt in seiner konkreten, praktischen Lebensganzheit zu begreifen und es aus den Fesseln des szientistischen Objektivismus zu befreien, teilte Schapp mit den großen Phänomenologen seiner Zeit wie Husserl, Scheler oder auch Heidegger. Für Schapp bedeutete dies allerdings, den Grundsatz »keine Hypothesen« auch auf die Phänomenologie selbst anzuwenden, deren Grundsätze kritisch zu hinterfragen und, wenn notwendig, zurückzulassen.

B) Kritische Auseinandersetzung Um Schapps Verständnis der Phänomenologie möglichst vollständig gerecht zu werden, bedürfte es einer expliziten Auseinandersetzung mit den einzelnen Phasen. Ein paar übergreifende Betrachtungen sol40 41 42 43

Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 63. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 11. Pohlmeyer: Geschichten-Hermeneutik, S. 11. Pohlmeyer: Geschichten-Hermeneutik, S. 13.

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len daher im Folgenden genügen: Schapps Dissertation stellt auch im 21. Jahrhundert noch einen Meilenstein in der Phänomenologie der Wahrnehmung dar. Sie erweist sich als lohnenswerte Lektüre sowohl für phänomenologische Arbeiten, die sich im Allgemeinen mit dem Begriff der Wahrnehmung auseinandersetzen, wie auch, im Speziellen, als hilfreicher Kommentar zu Husserls Logischen Untersuchungen. Schapp nimmt die Forderung der Voraussetzungslosigkeit, d. h. unvoreingenommen zu philosophieren, ernst und arbeitet so ausgiebig mit Beispielen, besonders aus dem Reich der optischen Wahrnehmung, was den Zugang aufs Äußerste erleichtert. Die Arbeit besticht sowohl durch ihre vorsichtigen Analysen wie auch ihre nichtdogmatische Herangehensweise. Damit umgeht sie Probleme, die Schapp später der Phänomenologie zum Vorwurf macht, und auf die wir im anschließenden Teil noch genauer eingehen werden. Interessanterweise lässt sich aber nun Schapps Kritik an der Phänomenologie auf seine eigene Rechtsphänomenologie zurückwenden, die auf dem Boden einer phänomenologischen Wertlehre steht. Schapp macht in seinen späteren Reflexionen über die Phänomenologie wiederholt darauf aufmerksam, dass sie auf Begriffe wie Selbstgegebenheit zurückgreift, ohne zu wissen, was damit eigentlich verlangt sei; will man weiterdenken und sich auf Axiome stützen, dann steht man auch hier vor dem Problem, dass es sich vermutlich nur um Annahmen handelt, 44 die selbst wiederum, per definitionem, nicht weiter beweisbar sind. Schließlich findet sich die ahistorische Komponente, die einen Großteil der klassischen Phänomenologie auszeichnet, auch in Schapps Denken. Das ist in der Spätphilosophie Schapps insofern erstaunlich, als man meinen sollte, dass eine Philosophie der Geschichten sich wesentlich einer genauen Quellenarbeit zuwenden oder zumindest von ihr profitieren sollte, um nicht selbst der Kritik anheim zu fallen, dass die Sachen selbst und die immer neue, unvoreingenommene Suche nach Anfängen, von den eigenen Interpretationsmustern und Prämissen vorzeitig überlagert werden.

Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2017, S. 24 [Seitenwechsel; S. 351].

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C) Schapp weiterdenken: Durch die Philosophie der Geschichten zu einer Kritik der Phänomenologie Auch wenn Schapp seinen eigenen Aussagen zufolge die Phänomenologie hinter sich zurückgelassen hat, ist es nicht zu viel gesagt zu behaupten, dass sich Schapps Spätwerk ohne seine Verwurzelung in der Phänomenologie nicht verstehen lässt: »Selbst heute, wo ich vielleicht alles Positive, alle positiven Ergebnisse Husserls und seiner Schüler über Bord geworfen habe, bin ich noch immer der Ansicht, daß meine phänomenologischen Studien die unentbehrliche Brücke zu meinem jetzigen Aufenthaltsort in der Philosophie sind«. 45 Seinem eigenen philosophischen Ansatz folgend beschreibt also Schapp seine phänomenologische Grundausbildung als wesentlichen Teil seiner eigenen Geschichte. Schapps Rezeption hat mit wenigen Ausnahmen außerhalb der Phänomenologie stattgefunden. Besonders mit seinem Spätwerk Philosophie der Geschichten und In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding machte sich Schapp eher einen Namen als Hermeneutiker denn als Phänomenologe. In der Weiterführung der klassischen Phänomenlogie findet Schapp kaum Erwähnung. Eine Ausnahme bildet Maurice Merleau-Ponty, der Schapps Dissertation in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (Paris 1945) erwähnt. 46 Roman Ingarden verweist auf Schapp in seiner Einführung in die Phänomenologie, entwickelt seinen Ansatz aber nicht weiter. 47 Im Werk Gadamers, das in vielerlei Hinsicht Parallelen zu Schapps Philosophie der Verstrickung aufweist, findet sich kein Hinweis auf Schapp. Ricoeur wiederum schien Schapp gekannt zu haben, zumindest motivierte er Jean Greisch zu einer französischen Übersetzung. 48

Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 57 [Seitenwechsel; S. 27]. 46 Diesen Hinweis verdanke ich Timothy Mooney. Vgl. dazu Merleau-Ponty, Maurice: Phenomenology of Perception, London 2012, S. 238. Merleau-Ponty bezieht sich auf die Ausführungen Schapps, inwiefern die Farbe mit der Struktur eines Dinges in Zusammenhang steht. Vgl. Schapp: Beiträge, S. 23 ff. 47 Vgl. Ingarden, Roman: Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls: Osloer Vorlesungen 1967, GW: Bd. 4, hg. v. Gregor Haefliger, Tübingen 1992. 48 Vgl. Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002, S. 22. Haas erarbeitet einen detaillierten Überblick über die generelle Rezeption Schapps. 45

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Dennoch bleibt Schapp für die Phänomenologie interessant: Schapps Philosophie liefert nämlich eine wertvolle, weil objektive und aus der internen Schule hervorgegangene Kritik der Phänomenologie, indem beides, Voraussetzungen und Methodik, einer kritischen Analyse unterzogen werden. Anders ausgedrückt: Sowohl Schapps Philosophie der Geschichten wie auch seine späteren Reflexionen enthalten eine hermeneutische, narrative Kritik der Phänomenologie. Und während Schapps Philosophie der Geschichten ihre eigene Fortführung verdient, ist es von phänomenologischer Seite besonders interessant, diesen Strang von Schapps Denken weiter zu verfolgen. Dabei ist zu vermuten, dass sich Schapps Abwendung von der Phänomenologie vor allen Dingen aus dem hermeneutischen Einfluss ableiten lässt, der seiner Philosophie der Geschichten zugrunde liegt und erkennen lässt, dass die phänomenologische Prämisse der Voraussetzungslosigkeit selbst Voraussetzung ist. Trotz Schapps oben zitierten späteren Beurteilung der Phänomenologie und ihrer Methode ist Schapp der Überzeugung, dass der phänomenologisch Geschulte in der Diskussion anderen (Schapp meint hier wohl zunächst anderen Philosophen) überlegen sei. 49 Damit stellt sich die Frage, was genau Schapp dazu motivierte, die Phänomenologie zurückzulassen. Besonders seine späteren Betrachtungen die Phänomenologie betreffend liefern wertvolle Hinweise auf eine reflektierte Kritik der Probleme der Phänomenologie, mit besonderer Bezugnahme auf deren Arbeitsweise, die nichts an ihrer Gültigkeit verloren haben: Zum einen macht er auf die Naivität der frühen Phänomenologen aufmerksam, die Hand in Hand mit der Begeisterung des Aufbruchs verbunden war: »Damals glaubte man, daß es nur der richtigen Methode und der Ehrlichkeit bedürfe, um über Wahrnehmung, über das Denken, über Urteil und Sachverhalt, über Begriff und Gegenstand, über Wollen und Fühlen etwas Endgültiges auszusagen.« 50 Ein vielleicht noch schwerwiegenderes Problem war die in Schapps Augen unscharfe Methodik: Es sei »schwer zu sagen, was die phänomenologische Methode eigentlich sei.« 51 Ähnliches gelte auch für grundlegende Definitionen wie z. B. die der Wahrnehmung. Falls es so etwas wie Wahrnehmung gäbe, dann habe Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 57 [Seitenwechsel; S. 27]. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 58 [Seitenwechsel; S. 28]. 49

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Husserl sie jedenfalls noch nicht zu Gesicht bekommen. 52 Schapp, der schließlich selbst zur Phänomenologie der Wahrnehmung promoviert hatte, gesteht 1954, daß »wir nicht wissen, was Wahrnehmung ist, daß wir jedenfalls keine einzige genaue Aussage über Wahrnehmung machen könnten.« 53 Noch schärfer äußert er sich ein Jahr später: »Wir sind der Ansicht, daß es so etwas wie Wahrnehmung nicht gibt, dass so etwas nicht aufgezeigt werden kann.« 54 Husserls Wahrnehmungslehre erweist sich für Schapps Geschichtenphilosophie als unfruchtbar, da Geschichten »fast immer schon vorbei oder zum großen Teil vorbei [sind]; sie können also niemals durch Wahrnehmung evident gemacht werden.« 55 Wahrnehmung als kognitiver Akt (unter anderen Akten) ist deshalb für Geschichten nicht hilfreich, weil Verstrickung (in Geschichten) weder ein kognitiver Akt ist noch auf diesen aufgebaut. 56 Daran anschließend stellt sich Schapp die Frage, ob und wie die Phänomenologie überhaupt mit Geschichten als Phänomen umgehen kann und ob man die Wahrnehmung (und die Gegenstandswelt) auch außerhalb von Geschichten wahrnehmen kann – eine Frage, die er letztlich verneint. Schapp stellt klar: »[B]ei uns verzehrte die Geschichte als Urphänomen die ganze Gegenstandswelt oder, wie wir vielleicht auch sagen könnten, die Welt erhebt sich erst aus den Geschichten.« 57 Zwar komme Husserl häufig in die Nähe der Geschichte, stelle sich aber nirgends die Frage, »wie das Verhältnis von Satz und Geschichte sein mag.« 58 Ähnliches gelte für die Erinnerung. Der intendierte Gegenstand wird nicht als Einzelgegenstand vorgefunden, sondern aufgenommen und »eingeschmolzen« in Geschichten. 59 Schapp wirft also der Phänomenologie (und im Besonderen Husserl) nicht nur ein geschichtenloses, sondern auch ein geschichtsloses Denken vor – eine Kritik, die an Diltheys krititsche Bewertung der Phänomenologie Husserls erinnert. Damit ist auch für Schapp genug Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 138 [Seitenwechsel; S. 493]. 53 Ebd., S. 27 [Seitenwechsel; S. 356]. 54 Ebd., S. 135 [Seitenwechsel; S. 490]. 55 Ebd., S. 126 [Seitenwechsel; S. 480]. 56 Vgl. ebd., S. 66 f. [Seitenwechsel; S. 404]. 57 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 71 [Seitenwechsel; S. 44]. 58 Ebd., S. 189 [Seitenwechsel; S. 190]. 59 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 29 ff. [Seitenwechsel; S. 359–362]. 52

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Grund gegeben, die Phänomenologie und ihre Untersuchungen zurückzulassen: sie nütze nichts »bei der Aufklärung des Gebildes Geschichten […] oder [stehe] sogar im Wege«. 60 Auf diesem Weg vollzieht Schapps Geschichtenphilosophie eine leise Abkehr von Husserls Bewusstseinsstrom. 61 Zum Schluss der Schappschen Kritik ist noch ein letzter Punkt erwähnenswert: Schapp stellt heraus, dass eine Anzahl der Axiome, auf denen die Phänomenologie ihre Aussagen aufbaut, häufig selbst entweder nicht klar definiert oder unbeweisbar sind; Schapp verweist hier u. a. auf Husserls Welt- und Dingverständnis. 62 Letztlich ist zumindest die Phänomenologie Husserls der Wissenschaftlichkeit verpflichtet, was zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche ausmacht. Damit ist Schapps Kritik, ohne dass er es selbst explizit so entfaltet, eine Kritik am erkenntnistheoretischen Cartesianismus Husserls. 1955 stellt Schapp fest, dass das Ding, auf das die Wahrnehmung gerichtet ist, ein »geschichtsloses Sehding«, jedoch kein Wozuding sei. 63 Auch Scheler, bei dem man zumindest in Arbeiten wie der Wissenssoziologie einen Brückenschlag zwischen Schapps Geschichtsphilosophie und der Phänomenologie hätte vermuten können, ist in Schapps Augen zu sehr den wissenschaftlichen Begriffen verhaftet, wie sie in der Soziologie gang und gäbe sind. Damit aber verfehle Scheler, so Schapp, die Bedeutung von Geschichten als Urphänomene, aus denen Ausdrücke, statt Gegenständlichkeiten zu sein wie bei Scheler, allererst auftauchen. 64 Eine fruchtbare Begegnung zwischen dem Denken Schelers und Schapps lässt sich allerdings auf einer anderen Ebene entwickeln: Schapp vollzieht nämlich eine Wendung, die Schelers (in der Phänomenologie begründeten) philosophischer Anthropologie entgegenkommt: Auch Schapps Philosophieren wendet sich dem Menschen zu. Genauer: Seine Spätphilosophie ist eine Philosophie über den individuellen Menschen, die in überzeugender Weise den Gegensatz zwischen dem Individuum als einzigartig und der strukturellen Eingebundenheit in den weiteren sozialen und historischen Kontext überbrückt. Jede Geschichte und damit jedes Individuum ist einzigEbd., S. 34 [Seitenwechsel; S. 65]. Pohlmeyer: Geschichten-Hermeneutik, S. 237. 62 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 128 f. [Seitenwechsel, S. 482 f.] und S. 132 f. [Seitenwechsel; S. 486 f.]. 63 Ebd., S. 129 [Seitenwechsel; S. 483]. 64 Vgl. ebd., S. 66 ff. [Seitenwechsel; S. 403 ff.] 60 61

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Phänomenologie

artig und zugleich eingebunden und verankert in andere Geschichten. Die Einheit (und Einzigkeit) des Subjektes basiert letztlich auf dem Verstricksein in Geschichten. Nur im verbindenden Horizont der Geschichten, in die das Subjekt verstrickt ist, haben die Erlebnisse ihre plausible Stelle. 65 Diese Rückkehr zum Individuum, die Vereinigung von hermeneutischem, narrativem und phänomenologischem Vorgehen ist philosophisch besonders wertvoll in einer Zeit, in der hauptsächlich in verallgemeinerten Termini über den Menschen nachgedacht wird. Der unabschließbare Dialog mit dem Leser, den Schapps Hermeneutik führt, 66 lässt sich erweitern auf einen Dialog zwischen den verschiedenen philosophischen Disziplinen mit dem Menschen und seiner Geschichte in ihrem Mittelpunkt. Oder um noch einmal mit Schapp zu sprechen: »Die Geschichte steht für den Mann.« 67

Literatur: De Vecci, Francesca: A Priori of the Law and Values in the Social Ontology of Wilhelm Schapp and Adolf Reinach, in: Alessandro Salice/Bernhard Schmid (Hgg.): The Phenomenological Approach to Social Reality: History, Concepts, Problems, Springer 2016, S. 279–316. Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002. Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos (1911), S. 289–341. Ingarden, Roman: Einführung in die Phänomenologie Husserls: Osloer Vorlesungen 1967, GW: Bd. 4, hg. v. Gregor Haefliger, Tübingen 1992. Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004. Liebsch, Burkhard: Die Idee der Phänomenologie im Lichte ihrer narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps, in: Karen Joisten (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Br. 2010, S. 22–48. Loidolt, Sophie: Einführung in die Rechtsphänomenologie. Eine historischsystematische Darstellung, Tübingen 2010.

65 66 67

Lübbe: Bewußtsein in Geschichten, S. 105. Pohlmeyer: Geschichten-Hermeneutik, S. 237. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 103.

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Susan Gottlöber

Lübbe, Hermann: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität: Mach, Husserl, Schapp, Wittgenstein, Freiburg 1972. Merleau-Ponty, Maurice: Phenomenology of Perception, London 2012. Pohlmeyer, Markus: Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp, Münster 2004. Reinach, Adolf: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1 (2), Halle 2013, S. 686–847. Schapp, Jan: Methodenlehre und System des Rechts: Aufsätze 1992–2007, Tübingen 2010. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2016. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2017. Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Frankfurt a. Main 52013. Schapp, Wilhelm: Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung. 1. Bd.: Der Vertrag als Vorgegebenheit, BerlinGrunewald 1930. Schapp, Wilhelm: Erinnerungen an Edmund Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. von Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015. Theunissen, Michael: Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1977. Lebenslauf von Wilhelm Schapp, ursprünglich mit der Dissertation veröffentlicht. https://nasepblog.files.wordpress.com/2013/12/w-schapp-lebenslauf. jpg [zuletzt eingesehen am 12. 11. 2017].

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Das Verhältnis der Geschichtenphilosophie Schapps zum Thema ›Dichtung‹ oder ›Dichter‹ scheint auf den ersten Blick von einer auffälligen, recht durchgängig präsenten Inkonsistenz geprägt zu sein. Diese Inkonsistenz, die sich bereits in In Geschichten verstrickt 1 abzeichnet, tritt in den Manuskripten der 50er Jahre, die in Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I–III dokumentiert sind, 2 noch deutlicher hervor und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Einerseits greift Schapp immer wieder auf Dichtung und einzelne dichterische Werke als einen (eben explizit erzählenden) Unterfall von Geschichten, in die jemand verstrickt ist, zurück und stellt sie auf diese Weise all den anderen Geschichten, die für Schapp die Konstitution menschlicher Selbst- und Welterfahrung ausmachen, gleich. Andererseits wird beständig eine ganz traditionelle Auratisierung von Dichtung fortgeschrieben, v. a. indem Dichtung als besonderer Zugang zu einer in den Geschichten enthaltenen Wahrheit erscheint. Dass Schapps Überlegungen sich diesen Widerspruch leisten, soll hier nicht den Hinweis auf einen Mangel der Theorie abgeben, sondern Anlass sein offenzulegen, zu welchem Zweck eine solche Konstruktion passt, d. h. inwiefern sie für Schapps Denken gar nicht als Widerspruch virulent wird. Das Verhältnis von Geschichten, die bei Schapp nicht unbedingt erzählte Geschichten sein müssen, 3 und Dichtung taucht gleich zu Beginn von In Geschichten verstrickt auf:

1 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. 2 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I-III, hgg. von Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2016–2018. 3 Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002, S. 35.

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»Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. […] Die größten Werke der Menschheit haben Geschichten und Verstricktsein in Geschichten zum Gegenstande. Wir brauchen nur einige Namen wie Homer, die Bibel, Dante, Cervantes, Swift, Shakespeare, Goethe, Dostojewski zu nennen […]. Wenden wir uns dann von den Werken dieser Dichter zu den Werken der Geschichtsschreiber von Herodot bis Mommsen oder zu den Lebensbeschreibungen, so sind auch diese angefüllt mit Geschichten, die nach Inhalt und Aufbau kaum unterschieden werden können von den Geschichten der Dichter.« 4

Die Abfolge von allgemeiner anthropologischer Aussage und Beispielen 5, welche ihre tatsächliche historische Relevanz wie ihre inhaltliche und geistige Bedeutung veranschaulichen sollen, lässt ›Geschichten‹ zweimal vorkommen, einmal als existierende Praxis des Erzählens und einmal als ganz prinzipielles Verfasstsein menschlichen Daseins. In seiner Philosophie der Geschichten 6 bietet Schapp dieselbe Doppelung, wenn auch nicht mehr als Verhältnis von Allgemeinem und dichterischer Umsetzung 7, sondern als anfängliche und gegenüber späteren Differenzierungen ›wesentliche‹ Gleichsetzung von Geschichten und Dichterischem (was auch den konkreten Erzählungen, d. h. dem Auftreten von bestimmten Dichtern, vorgeordnet gedacht ist): »Wenn wir aber im übrigen nach der Verbindung zwischen der Welt der Geschichten und der Dichtung, vielleicht müssen wir auch sagen, der Welt der Dichtung suchen, und zwar ohne jede Voreingenommenheit, so können wir zunächst vielleicht sagen, daß die Traumgeschichte, die Rauschgeschichte der Dichtung verwandter seien als die Wachgeschichte. Aber diese Verwandtschaft mag mehr äußerlich sein oder einen Hinweis geben auf eine andere Vermittlungsmöglichkeit. Es mag sein, daß die Welt, so wie 4 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 1. Haas, Stefanie: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Br. / München 2010, S. 86–101, hier: S. 88: »Der Weg zu Beginn von In Geschichten verstrickt führt von der Dichtung über die Geschichtsschreibung zu den alltäglichen, jedem bekannten Geschichten, die die Weltgeschichte gewissermaßen grundieren.« 5 Ebd., S. 89: »Ausgangspunkt ist die erzählte Geschichte, sie scheint für Schapp exemplarisch zu sein für die Geschichten in seinem Sinne.« 6 Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, 3., überarb. Aufl., hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 2015. 7 Dabei sollen die tatsächlich erzählten und auch die literarischen Geschichten »nur möglich sein, weil es diese grundlegenden Geschichten gibt, mit denen Schapp sich beschäftigt«. Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten, S. 35.

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Dichtung

wir sie auffassen, die Welt der Geschichten einmal ohne Dichter war, aber niemals war sie ohne Dichtung. Die Dichtung gehört von Anfang zu den Geschichten, in die die Menschheit, hier dürfen wir vielleicht nicht sagen der Mensch, verstrickt war.« 8

Alle diese Zuordnungen und Gleichsetzungen erzeugen im Grunde die Verallgemeinerung eines Partikularen: Ein dichterisches Werk oder das Dichterische an sich ist als Teil oder Bestimmung eines allgemeinen Prinzips angesprochen, das eigentlich die Universalisierung seines Verfahrens ist. Aus einer in (bekannten und anerkannten) dichterischen Geschichten vorkommenden Methode des Weltzugangs macht Schapp ein omnipräsentes Prinzip der Welterfahrung und der Subjektkonstitution. Zunächst ein Blick auf den Inhalt dieser Verallgemeinerung: Was ist mitgeteilt, wenn alles dem Subjekt in der Welt Widerfahrende, alle seine Handlungen und Verhältnisse, das Auffassen und Gebrauchen der Dinge wie die Begegnung mit anderen und die kulturellen, religiösen etc. Traditionen und Weltvorstellungen als Geschichten 9 bzw. als Eingebundensein in ihnen verstanden wird? Auskunft darüber gibt die Geschichtenphilosophie stets aufs Neue in jedem ihrer Aspekte – sie beginnt damit bereits bei der Frage nach dem Zugang zu den Dingen in der Welt und nach ihrer begrifflichen Ordnung. Exemplarisch sei die Kritik an der Vorstellung einer Gattung bestimmter Wozudinge herausgegriffen: »Es tauchen nur Einzeldinge auf in einem festen Verbande. Alle führen zunächst zurück auf den Schöpfer und von da zurück auf weitere Wegbereiter. So kommen wir schließlich von den modernsten Maschinen zurück zu den prähistorischen Werkzeugen und Werken. Sie alle sind nur Zweige an einem gewaltigen Baum, an einem einheitlichen Baum.« 10

Jedes Wozuding taucht für Schapp nur »in seinen Horizonten« 11 bzw. im Horizont einer Geschichte, hier der Geschichte seiner Herstellung, auf. Darin wird die intellektuelle Möglichkeit, das Vorkommen einer Sache durch anderes verursacht vorzustellen oder auch nur mit andeSchapp: Philosophie der Geschichten, S. 38. Haas: Kein Selbst ohne Geschichten, S. 23 f. formuliert ähnlich: Schapp beschreibe den Befund, »daß es einen Zugang zu allem, zum Menschen und auch zu sich selbst, nur über Geschichten geben kann und daß uns auch die Außenwelt nur in Geschichten begegnen kann.« 10 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 58 f. 11 Ebd., S. 59. 8 9

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rem gedanklich zu assoziieren, als gegebener Zusammenhang der verschiedenen Aspekte und dieser Zusammenhang sogleich als Einheit behauptet. 12 Die Geschichtenphilosophie baut diese Auflösung von jedem ihrer Gegenstände in die Ausmalung der Verbindungen, die sich zu ihm denken lassen, noch weiter aus. So heißt es am Anfang des 5. Kapitels von In Geschichten verstrickt: »Dies Gebilde Geschichte versuchen wir nun, nach den Zusammenhängen, in die es eingeordnet ist, nach den Zusammenhängen, die mit ihm auftauchen, zu verfolgen.« 13 Ob es darum geht, dass jede Ich-Geschichte immer auch eine Wir-Geschichte enthält 14, dass Geschichten keinen »absoluten Anfang« 15 haben können, sondern nur wieder Vorgeschichten, oder dass sie mit dem, was in ihnen vorkommt, Weiteres in den Horizont treten lassen 16 – stets ist der Hinweis auf das Verwiesensein auf bzw. die Unhintergehbarkeit von Geschichten mit dem Herstellen oder Realisieren von Zusammenhängen und Bezugnahmen identisch; gedacht ist bei ›Geschichten‹ also an die jeder narrativen Gestaltung eigene Möglichkeit, nachvollziehbare – seien es chronologische, logische oder räumliche – Zusammenhänge zu stiften, jedoch um diese nun als allgemeinste und grundlegendste Kennzeichnung von allem in der Welt zu entfalten. 17 Die Omnipräsenz der Geschichten ist dann nichts anderes, als allem, was auftaucht, die Qualität des Eingebettetseins in Beziehungen zuzusprechen. Insofern hat Haas treffend bemerkt: »Wohin der Geschichtenphilosoph auch blickt, überall begegnen ihm Zusammenhänge, und es ist ihm mehr daran gelegen, diese zu wahren, als sie restlos aufzuklären.« 18 Weiter zugespitzt müsste man freilich sagen, dass es ausschließlich um die Aufrechterhaltung der Zusammenhänge und an keiner Stelle um ihre Klärung geht: Eine Verbindung von jedem mit allem anderen zu konstatieren, abstrahiert nämlich gerade von allen Inhalten, welche die auftauchenden Verbindungen haben Vgl. Haas: Kein Selbst ohne Geschichten, S. 25 f. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 100. 14 Vgl. ebd., S. 178 und S. 190 f. 15 Ebd., S. 88. 16 Ebd., S. 90 f. 17 Dazu gehören dann auch Vervielfältigungen und Potenzierungen der Zusammenhänge: »Die Zusammenhänge, in die der einzelne verwoben ist, […] sind eingebettet in größere Zusammenhänge« (was Schapp als ›positive Welten‹ bezeichnet). Haas: Kein Selbst ohne Geschichten, S. 54. 18 Ebd., S. 23. 12 13

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können, seien es ökonomische, gesellschaftliche, materielle oder weltanschauliche. An den Dingen in der Welt und wie sie zusammengehören, an den Verhältnissen, welche man antrifft, soll gerade nichts erklärt werden und über den Inhalt der jeweiligen Verbindung wird gar nichts ausgesagt; stattdessen besteht die quasi tautologische Mitteilung der in der Geschichtenphilosophie postulierten universellen Bezugnahmen und Zusammenhänge darin festzuhalten, dass es diese Bezüge gibt. 19 Solche Tautologien sind nun keineswegs ohne Inhalt: Sie behaupten von der Welt nichts Geringeres, als dass es einen geistigen Zusammenhang in ihr gebe – ganz unabhängig davon, worin er bestehen soll –, in dem alles seinen Ort hat oder ganz und gar aufgeht, und stellen die Welt als Sinnganzes vor. 20 Mit der Mitteilung, die ganze Welt bestehe aus ›Geschichten‹ genannten geistigen Zusammenhängen, entwirft Schapp nicht nur ein allgemeines Prinzip alles Gegebenen: Der Inhalt dieses Prinzips ist aber die Methode, wie das Subjekt sein Verhältnis zur Welt eingeht bzw. bestimmt; diese Methode tritt an die Stelle desjenigen, worauf sich das Verhältnisnehmen richtet, und deshalb charakterisiert Schapps Geschichtenphilosophie nicht den jeweils bestimmten Zusammenhang, sondern bekräftigt die Zusammenhanghaftigkeit als unhintergehbare Objektivität alles Vorhandenen. Das Ermitteln und Kenntlichmachen vorhandener Verbindungen wird darin verwechselbar mit dem subjektiven Projizieren beliebiger Zusammenhänge auf die Gegebenheiten, und zwar dadurch, dass beide Verfahren unter-

Lübbe formuliert etwas Ähnliches, wenn er den Bruch von Schapps Philosophie mit Husserl und v. a. mit dessen Versuchen, die Einheit des phänomenologischen Subjekts zu begründen, darlegt: Bei Schapp habe dagegen »die Einheit des Subjekts und seiner Welt […] in letzter Instanz keinen anderen Inhalt als diesen, dass es in Geschichten verstrickt ist.« Lübbe, Hermann: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach – Husserl – Schapp – Wittgenstein, Freiburg 1972, S. 103. »Und die Welt […] hat keine andere Bestimmtheit als die, der geschichtliche Zusammenhang aller Geschichten zu sein, in die man sich schließlich verwickelt findet.« Ebd., S. 107. Schapps Kritik an der Erkenntnistheorie und dem wissenschaftlichen Zugriff auf die Dinge bietet im Übrigen nur die umgekehrte Version des Gedankens: In einer solchen Betrachtung werden die Dinge aus ihren Geschichten herausgelöst und erscheinen als isolierte Gegenstände der Wahrnehmung – womit sie dann aber nicht in dem, was sie ausmacht, erfasst seien. 20 Vgl. Eichler, Klaus-Dieter: Schapps narrative Ontologie. Eine Problematisierung seiner Geschichtenphilosophie, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps, S. 102–125, hier: S. 106: »Geschichten sind letzte Sinngebilde«. Vgl. ebenso Haas: Kein Selbst ohne Geschichten, S. 31. 19

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schiedslos die Identität der Welt mit dem Irgendwie-Vorliegen von geistigen Zusammenhängen bezeugen. Schapps Philosophie, die mit dem Dementi einer Wesensbestimmung ansetzt, kommt auf diese Weise über die Abstraktion, die er in der Auflösung von allem in Geschichten vornimmt, zu einer neuen, nicht minder umfangreichen Emphase: Die äußerste Ausweitung der Bedeutung von ›Geschichten‹ macht die Verbindlichkeit des geistigen Zusammenhangs vollkommen und d. h. von dessen Qualität unabhängig; die Kehrseite davon ist freilich die gänzliche Leere des so bestimmten Sinnbezugs. Für das mit den Geschichten gegebene Verbundensein mit allem in der Welt den Ausdruck ›Verstrickung‹ zu wählen, betont lediglich noch, woran bei jenen Zusammenhängen zuvorderst gedacht ist: an die Verbindlichkeit 21 alles Vorkommenden und Erfahrenen, und damit an dessen Affirmation als sinnhafte, dem Subjekt entsprechende Welt. 22 Mit dieser Verallgemeinerung einer nicht nur, aber auch der (narrativen) Dichtung eigenen Methode des Weltzugangs, ist für das Auftauchen von Dichtung im Kontext der Geschichtenphilosophie eine Perspektive vorgegeben: Einzelne dichterische Werke oder Traditionen sind, wo sie thematisiert oder als Beispiele zitiert werden, nur mehr Gegenstand von einordnenden Rückblicken, die von dieser Verallgemeinerung und ihrem Inhalt aus erfolgen. Wenn aber die Geschichtenphilosophie, sobald sie sich der Dichtung zuwendet, mit der Einordnungsbemühung vom Standpunkt solcher Emphasen aus beauftragt ist, dann gibt es tendenziell zwei Möglichkeiten, diese ausVielfach ist festgehalten worden, dass in Schapps Philosophie eine Distanzierung von den Dingen und Ereignissen gerade nicht vorgesehen sei; jedes Eröffnen eines analytischen Verhältnisses hingegen wird bei Schapp wieder als eine weitere Geschichte (z. B. die des naturwissenschaftlichen oder aufklärerisch-kritischen Geistes) verstanden. Wo solches Fehlen der Distanz kritisch angemerkt wurde, handelt es sich aber zumeist um Einwände aus erkenntnistheoretischer Perspektive, weniger um das Bemerken einer sehr pauschal affirmativen Weltanschauung. Vgl. Eichler: Schapps narrative Ontologie, S. 110 f. und Wolf, Thomas R.: Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historisch-narrativen Subjekts, in: Deines, Stefan/Jaeger, Stephan/ Nünning, Ansgar (Hgg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin/New York 2003, S. 47–61, hier: S. 59 f. 22 In dieser Hinsicht ist – auch wenn Schapps Philosophie den ontologischen Anspruch nicht in gleichem Maße kennt – die Ähnlichkeit zu Heideggers Ansatz durchaus greifbar, in dem der Seinsbezug allen Daseins immer die Verortung des Menschen in seiner Welt mitteilt. 21

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zugestalten: Sie kann an den Gesichtspunkten der Einordnung, also des Zusammenpassens von Dichtung und Geschichten weiterdenken oder aber an den Ausfüllungen und Fortschreibungen der Emphase. In den nachgelassenen Manuskripten der 50er Jahre finden sich beide Wege realisiert. Während für In Geschichten verstrickt die literarischen Werke noch das Material abgeben, an dem sich die Zuschreibungen an die Geschichten und das In-Geschichten-Verstricktsein ableiten lassen (Schapp beginnt seine Ausführungen im 2. Abschnitt mit dem Märchen von Rotkäppchen als erzählter Fremdgeschichte), haben sich die Notate der 50er Jahre – und hierin stehen sie der Philosophie der Geschichten näher – größtenteils auf die Einordnungsbemühungen, welche die Geschichtenphilosophie auf den Gegenstand Dichtung richtet, verlegt. 23 Diese produzieren in den Behandlungen der einzelnen, durchaus disparaten Aspekte des Themas Dichtung, die an unterschiedlichen Stellen des Manuskripts auftauchen, entweder eine Reihe von Tautologien oder aber eine Subsumtion, erstere dort, wo die Einordnung auf eine Bestätigung hinausläuft, letztere, wo der Blick auf jene Aspekte der Sache fällt, von denen die Abstraktion gerade abgesehen hatte. Für beide Vorgehensweisen mag jeweils ein Beispiel genügen: (1) »Wir lehnen es ab, die Dichtung als Gegenstand oder Sachverhalt aufzufassen und halten auch Vorsicht für geboten, wenn die Dichtung in Beziehung zur Geschichte gesetzt wird. Jedenfalls muß man zur Geschichte schon eine Stellung im Sinne unserer Auffassung gewonnen haben, um eine Beziehung zur Dichtung herzustellen.« 24

Gekennzeichnet ist die Dichtung zum einen über die nun auch für sie geltend gemachte Zurückweisung einer Betrachtung der Dinge als Sachverhalte, worin ihr Eingebundensein in Geschichten und damit der Zugang zu ihnen verfehlt sei; zum anderen aber, indem der Gestus der Bestimmung einen logischen Zirkel herstellt: Um die Ver-

Damit ist auch klar, dass Schapps Ausführungen sich wenig dafür interessieren, etwas Spezifisches an der Dichtung zu erklären oder zu bestimmen. Stattdessen erscheint sie als eine (in ihrer Art besondere) Verwirklichung des mit den Geschichten gegebenen Weltbezugs oder sie wird über eine Abgrenzung bzw. Unterscheidung zu diesem ins Verhältnis gebracht. 24 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2017, S. 105 [Seitenwechsel; S. 453]. 23

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bindung von Dichtung und Geschichte richtig zu erfassen, muss das richtige Verständnis (also Schapps Auffassung von Geschichten) schon vorausgesetzt sein. Die Betrachtung von Dichtung stellt hier das Material für die in Schapps Texten insgesamt so gängigen Formulierungen 25 dar, die im Gestus der Begründung der eigenen These nur deren zuvor erfolgte Unterstellung bekräftigen. (2) Auch dort, wo ein nicht schon von vornherein mit den Geschichten identischer Inhalt als Gegenstand der Subsumtion auftaucht, kommt diese kaum über ihre Prämissen und die Bekräftigung des allgemeinen Prinzips der Welterfassung hinaus. Das zeigt sich an demjenigen Fall von Literatur, mit dem sich die Einordnung in den Manuskripten am schwersten tut, mit der lyrischen Dichtung. Hier wird zunächst die Negation als Relation ausgegeben und die an der Sache vorgefundenen Abweichungen vom allgemeinen Prinzip der Geschichten als Zuordnungen zu ihm betrachtet: So soll es in der Philosophie der Geschichten das lyrische Gedicht auszeichnen, dass es das Verstricktsein nicht ins Zentrum rückt, 26 und in den Manuskripten wird erwogen, es als »intensivste« Form der Geschichte zu verstehen, um im Anschluss dann aber nur noch einmal eine ganz unspezifische Gemeinsamkeit festzuhalten: Zumindest teile die Lyrik mit der Geschichte, dass sie nicht als Sachverhalt zu fassen sei. 27 Die folgende positive Verortung der Lyrik in der Nähe der Musik kann mittels Umweg über das Verhältnis Zwei weitere Beispiele seien hier herausgegriffen: »Wir müssen auch das Flüssige und Gasförmige in das Ganze der auftauchenden Welt einordnen und insbesondere dabei berücksichtigen, daß das Starre in dem Sinne, in dem wir davon sprechen, nicht das absolut Starre ist, sondern in seiner Starrheit nur in den Zusammenhängen genommen werden darf, in denen es auftaucht. Wenn es absolut starr wäre in einem letzten Sinn, so könnten es nie in den [für die Wozudinge zuvor behaupteten] Zusammenhang des Schmiedens, Sägens, Bohrens, Hämmerns hineinkommen, es könnte als absolut Starres niemals in diesem Zusammenhang auftauchen.« Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 54. »Wenn es richtig ist, daß erst mit den Wozudingen das Auswas der Wozudinge, der Stoff auftaucht, so kann Stoff für sich allein nicht auftauchen.« Es schließt sich der Beleg dafür an, daß doch jeder Stoff in eine, wenn auch entfernte Beziehung zu den Wozudingen zu bringen sei: »Eine solche Beziehung liegt vor, wenn der Stoff den Charakter ›geeignet für die Herstellung von Wozudingen‹ hat. Er könnte auch schon vorliegen, wenn der Stoff den Charakter ›nicht geeignet für die Herstellung von Wozudingen‹ hat und selbst, wenn er einen neutralen Charakter hat, wenn es noch in der Schwebe ist, ob er jemals für Wozudinge verwendet werden kann.« Ebd., S. 31. 26 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 37. 27 Vgl. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 66 [Seitenwechsel; S. 38]. 25

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Musik – Sprache (v. a. die Behauptung der in der Sprache liegenden Einheit von Gedanklichem und Musikalischem) auch das lyrische Gedicht mit den Geschichten verbinden. Die ihre Hinsichten auf den Gegenstand permanent wechselnde Suche nach dem Verhältnis von Lyrik zu den Geschichten zeigt, wie die Behandlung von Dichtung bisweilen auf das bloße Herstellen von Assoziationen – in der Regel Assoziationen zu schon in die Geschichtenphilosophie eingebundenen Themen – hinausläuft. Deutlich wird, dass es dabei nicht darum geht, Verbindungen aufzuzeigen, die es gibt, sondern Verbindungen zu konstruieren, deren Plausibilität von der Anerkennung der Unterstellungen abhängig ist und diese nicht begründen, sondern bestätigen. Die Beschreibung der tautologischen Form, in der die Dichtung in die Geschichtenphilosophie eingeschrieben wird, soll nicht den Eindruck erwecken, sie sei von deren Standpunkt aus nur ein Abwinken wert. Im Gegenteil: Im Gestus eines herantastenden SichAnnäherns an ein nur schwer zu Erfassendes wird durchgängig der hermeneutische Grundanspruch, den Erscheinungsformen des Dichterischen »gerecht zu werden« 28, artikuliert und die eigene Herangehensweise gerade nicht als bloße Wiederholung des eigenen Ansatzes, sondern als der Sache gemäß ausgegeben. Darin spricht das mehrfach durchgeführte Bestätigungsverhältnis eine beredte Sprache davon, welches Anliegen die Theorie mit dem Einbezug des Dichterischen verfolgt, welche Funktion sie der Dichtung in der Ausmalung der Geschichtenphilosophie zugewiesen hat. Wo die Einordnung Verbindungen zwischen der Dichtung und anderen zentralen Vorstellungen der Geschichtenphilosophie stiftet, kommt das Dichten nämlich als perfekte Durchführung oder idealtypische Realisierung der Weltanschauung geschichtenphilosophischen Denkens vor; sie fungiert gleichsam als Stellvertreter jenes unabschließbaren Prinzips der Einbindung in Zusammenhänge. So macht z. B. die Eingliederung des Dichters in die philosophiegeschichtliche Linie von Schapps Entwurf, wie sie später in der Philosophie der Geschichten ausgeführt ist, 29 den Dichter zum Stellvertreter der Geschichten und ihrer Wahrheit, gegen den sich die Vorsokratiker wie auch Platon wenden. Ihre Kritik an den Dichtern Vgl. z. B. ebd., ähnlich Auf dem Weg eines Philosophen der Geschichten II, S. 46 f., 106 f. [Seitenwechsel; S. 381, 455]. 29 Vgl. insb. Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 241 ff. 28

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legt für Schapp Zeugnis ab von einer Feindschaft gegen die mythologische, die von Göttern bevölkerte, d. h. die als Einbettung in eine geistdurchwirkte, metaphysische Ordnung verstandene Welt, deren Ausdruck die Sagen der Dichter sind, 30 und lässt den Philosoph als Urheber einer quasi naturwissenschaftlichen Entzauberung der Wirklichkeit auftreten, die dann eine eigene Verortung des Menschen in der Welt vornehmen muss. Das Verhältnis von Dichter und Philosoph verweist damit sowohl auf die ›Geschichtenvergessenheit‹ der bisherigen Philosophie 31 als auch auf das Sinn-Desiderat, das zu beheben den eigentlichen Auftrag an die Philosophie darstellt. Auch für eine in Schapps Ausführungen sehr prominente Identifikation von Geschichte mit der Unhintergehbarkeit und Produktivität von Zusammenhängen – nämlich für das Verstehen von Fremdgeschichten, das selbst eine Fortsetzung der Geschichte sei 32 – findet sich im Lesen und Hören von Dichtung eine Entsprechung. So hält Schapp für die Rezeption von Dichtung fest, »daß auch der Leser oder Hörer dichtet, mitdichtet, nachdichtet, zusammendichtet wie der Dichter« 33 und dass dies ebenso wie die Unterschiedlichkeit der individuellen Reaktion auf das jeweilige Werk nichts anderes als der Ausdruck davon ist, dass Dichtung wie jede Geschichte sich einfädelt »in das Ganze unserer Geschichten, […] sich irgendwie auf die vorhergehenden Geschichten [aufbaut] und […] irgendwie die Folgegeschichten [trägt]« 34. Der Vergleich mit »jeder Geschichte« und die sprachliche Doppelung des vorrangigen Zutreffens dieser Gleichsetzung (»in erster Linie mit jeder Fremdgeschichte, aber auch wiederum und erst »In der Welt Homers hat alles seinen wohlgeordneten Platz, findet jede Frage über Mensch und Gott eine Antwort.« Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 51 [Seitenwechsel; S. 387]. 31 »Schapps Vorwurf gegenüber der nachhomerischen philosophischen Tradition besteht nun darin, dass sich der Philosoph nicht mehr als ein ›In Geschichten-Verstrickter‹ fühlt und es vorzieht, die Welt von außen zu betrachten«. Eichler: Schapps narrative Ontologie, S. 123. 32 Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 119. Vgl. auch Haas: Kein Selbst ohne Geschichten, S. 37. 33 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 105 [Seitenwechsel; S. 453]. 34 Ebd., [Seitenwechsel; S. 454]. In der Philosophie der Geschichten erfolgt eine Ausweitung dieser Zusammenhänge, wenn »die Mitverstrickung als Hörer einer Buchgeschichte […] existentielle Bedeutung für den Mitverstrickten [gewinnt]«. Schapp, Jan: Verstrickung und Erzählung, in: Phänomenologische Forschungen 2007, S. 125– 144, hier: S. 128, indem nämlich eine Dichtung, z. B. die Homers, den Charakter eines Weltbildes erlangt. 30

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recht mit jeder Eigengeschichte«) betont noch einmal die Stellvertretung der Dichtung für das umfassende Prinzip. Neben solchen ›nahtlosen‹ Ineinssetzungen von Dichtung und Relevanz bzw. Eigenart von Geschichten findet sich aber mehrfach zumindest eine Qualität benannt, welche gerade die Dichtung auszeichnen soll: Schapp legt sich an mehreren Stellen darauf fest, dass das Spezifische der dichterischen Gestaltung von Geschichten in ihrem Gleichnischarakter bestehe. 35 »Wir haben schon an anderer Stelle uns damit beschäftigt, daß die Geschichten in dem Dichter zu Gleichnissen werden. […] Vorläufig können wir nicht viel mehr sagen, als daß es sich mit der Erzählung von Geschichten zugleich um eine Deutung handelt und daß der Deutungsgehalt für den Rang der Dichtung maßgebend ist. Wenn wir so von Deutungsgehalt reden, haben wir die Einfügung der Geschichte oder die Zusammenfügung von Geschichten zu dem Ganzen oder zu der Einheit im Auge, insbesondere dies, daß die Geschichte von der Erde bis in den Himmel reicht und bis in die Hölle […].« 36

Im Gestus einer näheren Bestimmung der Dichterleistung wird das Gleichnishafte der Geschichten mit einer »Deutung«, einem »Deutungsgehalt« gleichgesetzt und dieser wieder zum Maßstab der Dichtung erklärt; darin erfolgt freilich keine Präzisierung des Gemeinten, sondern eine Häufung all jener Umschreibungen, die mitteilen, dass das in Dichtung Vorkommende noch für etwas anderes als das Gesagte stehen soll. Die ›Bestimmung‹ der Dichterleistung, die darin vorgetragen wird, ist wenig konkret, aber umfassend: Dichtung ist Ausdruck einer Wahrheit. Die Emphase dieser Wahrheit hängt dabei nicht von ihrem Inhalt ab, sondern besteht in der Inszenierung aller möglichen Inhalte als Zusammengehörigkeit. Die Wahrheit, von der jede dichterische Geschichte redet, ist dann nicht mehr und nicht weniger, als dass alles, was in der Welt vorkommt, zu einer »Einheit« Vgl. auch Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 106 f. [Seitenwechsel; S. 455], wo die Absicht bekundet ist, »die Dichtung als Gleichnisgeschichte von den anderen Geschichten abzugrenzen«. Zum Gleichnischarakter von Erzählungen bietet In Geschichten verstrickt eine längere Ausführung, die ihn mit einer »Tiefe« der Geschichten identifiziert, welche hinter oder in dem erzählten Geschehen allgemeine Wahrheiten über die (metaphysischen) Sinnstrukturen, in die alle Menschen eingeordnet sind, zu erkennen gibt. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 185–187. 36 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 45 [Seitenwechsel; S. 381]. 35

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gehört, als »Ganze[s]« zu fassen ist. Dichtung umschreibt für Schapp damit auch den Blick auf die Einheit der Geschichten in einem Ganzen (in der Allgeschichte). Damit aber ist jede Dichtung nicht allein dafür in Anspruch genommen zu repräsentieren, sondern auch zu thematisieren, was Schapps Geschichtenphilosophie mitteilt: »Die dichterische Wahrheit ist die letzte Wahrheit über Geschichten in Geschichten«. 37 Die Dichtung verdoppelt auf diese Weise noch einmal den Gedanken der Geschichtenphilosophie 38; der ›Gewinn‹ ist, dass Dichten weniger als Produkt, denn als Berufungsinstanz dieser Weltanschauung erscheint und nun umgekehrt deren Vorstellungen am dichterischen Wahrheitspathos partizipieren können. Wie sehr die Zuschreibungen von Wahrheit an die Dichtung dazu tendieren, nicht sie, sondern ihre Aura im Blick zu haben, zeigt sich auch, wenn Schapp eine Kommunikation von Homer und Goethe im Himmel imaginiert. 39 Gegen eine literaturgeschichtliche Betrachtung und linear historisch geordnete (stilistische oder inhaltliche) Abhängigkeiten stellt Schapp erneut das Verwobensein der Geschichten, was an dieser Stelle als eine Verknüpfung der Dichtungen untereinander auftritt. Der Gedanke ist zunächst derselbe wie der zur Rezeption von Dichtung artikulierte: Zugang zu fremden Geschichten erfolgt über ihren Einbezug ins Eigene. Entscheidender ist aber die

Ebd., S. 47 [Seitenwechsel; S. 382]. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 39, wenn es darum geht, dass die Kunst einen Einblick gibt, wie die Geschichten zusammenhängen, oder einzelne Geschichten durch ihren Verweis auf das Ganze der Geschichten in der Dichtung eine »höhere Wirklichkeit erhalten«. Vgl. auch Haas: Keine Erzählung ohne Verstrickung, S. 95: »Die erzählte Geschichte in ihrer Geschlossenheit vermittelt einen Eindruck von der Geschichtenhaftigkeit aller Geschichten, sie ist ein Muster für die allgegenwärtigen Geschichten, in denen uns die Außenwelt auftaucht und in die wir verstrickt sind.« Das schließe ein Bewusstmachen, ein Verstehen des eigenen Verstricktseins sowie der in den Eigengeschichten enthaltenen Wir-Geschichten mit ein, ebd., S. 95 f. Vgl. dazu auch Schapp: Verstrickung und Erzählung, S. 141 und 143, der betont, dass sich die Dichtung mit der Bedeutung der Geschichten befasse und die Dichter in den Geschichten das »für das menschliche Leben Wesentliche« erscheinen ließen. Das letzte und eigentliche Thema jeder Dichtung sei dann eben der »Lebenssinn«, die Verstrickung (des Dichters, aber auch des Hörers). 38 »Die Kunst der literarischen Erzählung vermag insofern einen Einblick zu geben, als sie die Zusammenhänge der vielfältigen Geschichten zwar nicht erklärt, aber anschaulich macht.« Haas: Keine Erzählung ohne Verstrickung, S. 96. 39 Vgl. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 43 f. [Seitenwechsel; S. 379]. 37

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folgende Passage 40, in der die Dichter als Beiträger zu einem Werk bzw. Thema, als Mitwirkende an demselben Geist und die dichterischen Werke als fortgesetztes und weiter fortsetzbares Kontinuum des Ausdrucks der Wahrheit über die Welt und die Dinge erscheinen. 41 Die Bedeutungsaufladung der Dichtung erfolgt hier, indem diese ein Medium abgibt, das die Wahrheit nicht bloß – in der einen oder anderen Form – ausspricht; vielmehr soll sich in der Dichtung die Wahrheit selbst vollziehen, sie in der Dichtung wirksam sein, weshalb die Emphase der Vorstellung immer dort liegt, wo sich kein Inhalt, sondern das Gesagte als Prozess inszeniert findet. Dass eine solche Auffassung von Dichtung sich aus den Quellen eines emphatischen Dichtungsverständnisses des 19. und 20. Jahrhunderts mit all seinen Varianten speist, ist unschwer zu erkennen. Zu diesen Varianten gehören zunächst die bekannten Auratisierungen der Person des Dichters: Ausdrücklich und mehrfach kommt bei Schapp die Gleichsetzung von Dichter und Magier bzw. Zauberer vor, 42 wie sie seit der Romantik die Metapher für einen exklusiven, dem rationalen Zugriff entzogenen Zugang zu den Geheimnissen und damit den wahren Gesetzen der Welt darstellt sowie für die angemessene Rezeption solch esoterischen Wissens, die Faszination und das gläubige Ergriffensein davon. Auch die Beauftragung von Dichtung mit dem Zugang zu rational nicht erfassbaren Verbindungen der Geschichten knüpft hier an. Sie mündet in die schlichte Unterstellung unter die Autorität der Dichtung: In Geschichten verstrickt kennt diesen Übergang, wenn der Dichter oder Seher, nicht die Wissenschaft, für die Einsicht in die Verbindungen von Wach- und Traumgeschichten zuständig erklärt wird. »Wenn wir uns so von den Dichtern führen lassen, so finden wir in den großen Geschichten mit dem größten Gewicht, etwa in Hamlet, Macbeth, Faust, wie Wachgeschichten und Traumgeschichten, Wahnsinnsgeschichten und Zaubereigeschichten sich zu einer großen Gesamtgeschichte auftürVgl. ebd., S. 44 f. [Seitenwechsel; S. 380]. Geschichten sollen auf diese Weise tatsächlich eine Art »fortwährende Reproduktion und Selbsterhaltung eines Sinnzusammenhangs« sein, wie es Bermes, Christian: Gebilde und Gegenstand. Philosophie als Medienkritik, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004, S. 115–131, hier: S. 128, in Analogie zur Autopoiesis formuliert. 42 Vgl. z. B. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 47 ff. [Seitenwechsel; S. 382, 383]. 40 41

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men […] Man würde diesen Geschichten, die in unserem Sinne in die letzte Wirklichkeit hineinreichen, den tiefsten Sinn nehmen, wenn man Traum, Wahnsinn, Magie streichen oder als Beiwerk nehmen würde.« 43

Das Sich-Unterstellen unter die Leitung der Dichter ist hier gleichbedeutend mit der Erhaltung des Undurchschaubaren, von dem man nichts weiß, nur eines ziemlich genau: dass es die Präsenz des »tiefsten Sinn[s]« garantiert. An anderer Stelle findet sich, und zwar als Hinweis auf die Untrennbarkeit von Philosophie und Sinnfrage, eine weitere geläufige Auratisierung: die für den Dichter bereits anerkannte »Verbindung von Persönlichkeit und Dichter« 44, die es für den Philosophen ebenfalls anzunehmen gelte. Bezug genommen wird darin auf eine ganz traditionelle Gelingens- und Sinnvorstellung, welche die Person als Übereinstimmung mit sich konstruiert: die Einheit von Werk/Denken und der Qualität ihres Trägers. 45 Des Weiteren lässt sich eine ähnliche Sinnvorstellung wie das oben genannte Wahrheitspathos auch im Verhältnis von Dichter und Dichten noch einmal wiederholen, wenn das Werden der Dichtung als etwas sich durch die Person des Dichters hindurch Vollziehendes (›Entwickelndes‹) 46 beschrieben wird, so dass jede konkrete Praxis des Dichtens als Teilhabe an einer sich darin nur manifestierenden und zugleich unverfügbaren objektiveren geistigen Kraft erscheint, die über die Fertigstellung des bestimmten Werkes hinausreicht: »[…] nach dem Abschluß der Dichtung dichtet es weiter in dem Dichter. Es ist wohl völlig aussichtslos, dies Dichten im Dichter enthüllen zu wollen.« 47 Dies alles sind Varianten einer umfassenden Bedeutungszuschreibung an das Dichterische, die nicht nur gängige Topoi der Dichterstilisierung und ihre Verfahren der Auratisierung abruft, sondern diese Aura auf alles, was das In-Geschichten-Verstricktsein erfasst und einsichtig macht, übertragen wissen will. Dass bei Schapp immer die kanonisierten Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 155. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 65 [Seitenwechsel; S. 37]. 45 Bezogen auf das dichterische Werk ist darin eine Beglaubigung des Gesagten durch die Person inszeniert. 46 Vgl. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 106 f. [Seitenwechsel; S. 455]. 47 Ebd., S. 106 f. [Seitenwechsel; S. 455]. Eine ähnliche Auratisierung qua Unerklärbarkeit des Vorgangs findet sich bei den Ausführungen zum Verstehen von Dichtung, vgl. ebd. S. 104 f. [Seitenwechsel; S. 453/454]. 43 44

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Werke der Weltliteratur wie Homer, Shakespeare und Goethe vorkommen, mag in dieser Hinsicht kein Zufall sein. Schapp ist kein Parteigänger der Literatur als (angemessene) Reaktion auf die Widersprüche der Wirklichkeit, sondern er nimmt sie als Sinngarant eines Verfahrens in Anspruch, das er auf die gesamte Welterfahrung ausdehnt und das deshalb die Widersprüche in einer umfassenden Aussage der Relevanz entschärft bzw. auflöst. Darin liegt auch die Konformität des geschichtenphilosophischen Ansatzes mit allen konservativen Sinnemphasen sowie seine Anschlussfähigkeit zu allen Gesten einer ebensolchen Kulturkritik, zu allen Wortmeldungen zur Krise der Moderne 48, die an der Welt wenig, am »Nihilismus dieser Zeit« 49 aber sehr viel auszusetzen hat. 50 Deutlich wird dies u. a. in einer Verlängerung des Gedankens über den von seinen Inhalten unabhängigen ›Zauber‹ der Dichtung, auf den die Bemerkung folgt, »daß der Trojanische Krieg das größte Heldengedicht des Abendlandes hervorgebracht hat, während der Erste und Zweite Weltkrieg nicht einmal irgendeinen guten Vers, einen überzeugenden Vers hervorgebracht haben […] Wenn die beiden Weltkriege weder hier noch dort ihren Sänger gefunden haben, so scheint uns das eher auf eine Armut dieser Zeiten und ihrer Geschichten hinzuweisen, auf einen Fehler dieser Zeit oder auf etwas Fehlendes in dieser Zeit […]. Wir können uns etwas korrigieren, soweit die beiden Weltkriege hier und dort ein echtes Gedicht hervorgebracht haben, oder auch nur eine echte Novelle, enthalten sie Geschichte. Darüber hinaus sind sie wesenlos.« 51

Abgesehen von den geschmäcklerischen Unterschieden, die Schapp hinsichtlich dichterischer Produktion offensichtlich macht und in denen die Literatur des 20. Jahrhunderts keine Relevanz besitzt, liegt in dieser Aussage auch insofern ein fragwürdiger Befund über die Weltkriege, als es ein seltsamer Mangel eines Krieges ist, dass er keine Dichtung hervorgebracht hat und d. h. für Schapp, dass es ihm an Vgl. dazu Eichler: Schapps narrative Ontologie, S. 104. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 48 [Seitenwechsel; S. 383]. 50 Aus der Abstraktion eine Offenheit und Angemessenheit zur Pluralität als Vorzug von Schapps Denken abzuleiten (so Wolf: Leben in Geschichte(n), S. 59 u. 61), scheint – gerade auch angesichts der konservativen Wende solcher Pluralisierungen von Geschichten – wenig nachvollziehbar. 51 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 48 f. [Seitenwechsel; S. 383 f.]. 48 49

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Geistgemäßheit und Sinn fehle und er deshalb auf einen Verfall der Werte hinweise – seltsam, weil zum einen von dem, was den machtpolitischen Interessengegensatz, seinen Austrag und die Rücksichtslosigkeit gegen die in ihm eingesetzten Menschenleben ausmacht, in dieser Betrachtung gar nichts vorkommt, und zum anderen eine Hinsicht der Beurteilung eingeführt wird, in der es gegen das grausame Geschehen keinen Einwand mehr gäbe: Der Vorwurf an das Geschehen besteht ja lediglich darin, dass ihm der ideelle Gehalt, der eine sinnhafte Deutung des Krieges möglich machen würde, fehlt. Die Kriege der Moderne erscheinen als Inhalt subjektiver Erlebensqualität, für die hinsichtlich der modernen Kriegsführung bedauert wird, dass das Subjekt in ihnen keine Entsprechung mehr finde. Die Kritik an der »Armut dieser Zeiten« enthält damit nicht allein eine Klage über den Nihilismus der Moderne, sondern zudem die Zumutung, das schier Subjektwidrige potentiell sinnhaft deuten zu wollen und vom Gelingen der affirmativen Deutung auch noch dessen Berücksichtigung bzw. Relevanz abhängig zu machen. 52 Insgesamt lässt sich festhalten: Schapp verfolgt mit der Einordnung der Dichtung in die Entfaltung des eigenen philosophischen Entwurfs ein Anliegen, das er mit zahlreichen modernen Philosophen teilt, für die gar nicht selten gerade die Kunst zum Prüfstein ihres Systems wird. Bei Schapp ist die Gewissheit der eigenen Vorstellungen allerdings bei der Betrachtung der Dichtung auf eine derartige Weise vorausgesetzt, dass sie über die auf die bloße Bestätigung angelegte Vereinnahmung der Dichtung für das eigene Anliegen nicht hinausgeht. Im Einordnen entdeckt Schapps Denken auf diese Weise in den Sphären von Dichtung, aber auch von Mythos und Religion, Stellvertreter des von ihm postulierten universellen Prinzips des Weltzugangs. Was diese Vereinnahmung dann ergibt, ist eine Parallelveranstaltung zu einer Emphase der Affirmation, die in der Geschichtenphilosophie auch ohne den Rekurs auf die Dichtung produziert wird und die nun auch die bereits anerkannten oder wieder aufgerufenen Zuschreibungen an die Leistungen von Dichtung für die eigene Philosophie in Anspruch nehmen will. Die Auratisierung von Dichter und dichterischem Werk wird auf diese Weise von der So fallen die Toten von Weltkriegen und Völkermord unter die Zusammenfassung einer ›wesenlosen‹ Zeit, einer »Geschichte ohne Pointe, eine[r] Geschichte, die darauf angelegt ist, vergessen zu werden.« Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 49 [Seitenwechsel; S. 384].

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Geschichtenphilosophie Schapps ohne Einschränkungen fortgeschrieben, um die Dichtung zum Garant einer Sinntiefe und Wahrheit von allen Geschichten bzw. ›geschichtenartigen Gebilden‹ zu machen.

Literatur: Bermes, Christian: Gebilde und Gegenstand. Philosophie als Medienkritik, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004, S. 115–131. Eichler, Klaus-Dieter: Wilhelm Schapps narrative Ontologie. Eine Problematisierung seiner Geschichtenphilosophie, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Br. / München 2010, S. 102–125. Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002. Haas, Stefanie: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Br. / München 2010, S. 86–101. Lübbe, Hermann: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach – Husserl – Schapp – Wittgenstein, Freiburg 1972. Schapp, Jan: Verstrickung und Erzählung, in: Phänomenologische Forschungen 2007, S. 125–144. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, 3., überarb. Aufl., hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 2015. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I–III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2016–2018. Wolf, Thomas R.: Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historischnarrativen Subjekts, in: Deines, Stefan/Jaeger, Stephan/Nünning, Ansgar (Hgg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin / New York 2003, S. 47–61.

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»Mit einem gewissen Vorbehalt kann man […] von uns sagen, daß wir Geschichten spüren, wo andere vom Leben sprechen.« 1

1.

Die Bhagavadgita: eine Geschichte als Zugang zur indischen Welt

Wilhelm Schapps narrative Philosophie zeigt in vielfältiger Weise, dass Menschen »immer in Geschichten verstrickt« 2 sind, und dass es deshalb auch keinen Sinn macht, »nach einem Dasein außerhalb dieser Geschichten zu fragen«. 3 Schapp ist überzeugt, dass es Geschichten sind – Wachgeschichten, Traum- und Rauschgeschichten, Mythos und Dichtung –, die uns den Zugang zu Menschen und zur Welt bzw. zu ihrer Welt ermöglichen. Dieses über Geschichten zugängliche Mensch-Welt-Gefüge erschließt sich in all seiner Komplexität durch das Erzählen und Hören von Geschichten. Es erschließen sich die verschiedenen in die Geschichte(n) eingespannten Personen mit ihren unterschiedlichen Charakteren, Vorstellungen und Zielen; die »Gebilde« wie Gesetz, Recht, Eigentum; die von Menschen geschaffenen Dinge (»Wozudinge«), die Tiere und die Natur, und nicht zuletzt die übernatürlichen Wesen, die Götter, Engel und Gespenster. Für die Menschen, als immer und notwendig in Geschichten eigen- oder fremdverstrickt, sind Geschichten kein Gegenstand der Erkenntnis. Es gibt keinen objektiven Zuschauer, keine externe Perspektive auf eine Geschichte, denn auch die sog. Außenstehenden sind in Geschichten verstrickt, welche wiederum in Beziehung zu der ursprünglichen Geschichte stehen. 4 So wie das Verstricktsein der Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015, S. 40. 2 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. 3 Ebd., S. 166. 4 Ebd., S. 150. 1

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Menschen Einfluss auf ihren Zugang zu – oder auch: ihr Verständnis von – Geschichten hat, so eröffnet die Verstrickung von Menschen in Geschichten auch eine neue Perspektive auf Zeit. Geschichten entfalten sich in der Zeit und umspannen Zeitdimensionen, eine Geschichte verweist auf Vor-und Nachgeschichten, und sie ist in allen Zeitdimensionen mit anderen Geschichten verbunden – daher ist die Einzelgeschichte eingebettet in ein größeres Geschichten-Ganzes, niemals abgeschlossen und vorbei, sondern immer gegenwärtig: »Der traditionellen Auffassung von Zeit«, so Schapp, »liegt die Trennung der Welt in eine objektive Welt und in ein erkennendes Subjekt zugrunde. Wenn man als Ausgangspunkt das Verstricktsein in Geschichten nimmt, so ändert sich entsprechend die Auffassung von der Zeit, die Rede von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.« 5 Kurzum: »Soweit Verstrickung vorliegt, liegt Gegenwart vor.« 6 Geschichten eröffnen bzw. verweisen auf (Zeit- und Raum-)Horizonte. Geschichten sind immer zeitlich und räumlich verwoben und diese doppelte Verwobenheit bewirkt letztlich die Unbegrenztheit und die Überlappung der Horizonte. Diese ist notwendig, bekräftigt Schapp, um Verstehen von und Verständigung über Erzählungen bzw. Geschichten überhaupt erzielen zu können. Da jeder, Erzählender und Hörer, in seine eigene Welt gestellt ist, so ist jede Verständigung davon abhängig, »daß bei dem Hörenden schon ein Horizont vorhanden ist, in den sich die Rede einfügt oder, vielleicht besser, in den sich das Gedankengebilde einfügt.« 7 Schapps Begriff der Welt ist offen und durchlässig. Seine Welten umspannen den Globus und reichen bis weit in die Vergangenheit und Zukunft, sie sind selbst nicht eindeutig und »aus einem Guß« 8, sondern flexibel und immer in Veränderung. Diese Gebilde von Welt sind Geschichten, die man erzählen und hören kann und »eine Annäherung an diese Welten, ein Hineinkommen in diese Welten, ein Ebd., S. 144. Ebd., 143. 7 Ebd., S. 7. Hans-Georg Gadamer spricht von einer Verschmelzung von Horizonten als Bedingung des Verstehens (Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode I. Grundzüge einer Philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990). Zwar hat er seinen Ansatz vor allem für das Verstehen im Kontext der europäischen Tradition und mit Bezug auf den historischen Abstand entwickelt, dieser lässt sich aber auch anwenden, wenn es um das Verstehen geographisch und sprachkulturell entfernter Traditionen geht. Schapp ist hier von vornherein offener und bezieht den räumlichen Aspekt ein. 8 Schapp: Philosophie der Geschichte, S. 42. 5 6

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Heimischwerden in diesen Welten […] [ist] nur über Geschichten möglich« 9. Welten, auch solche die längst vergangen und kulturell anders erscheinen, sind für diejenigen, die sie kennenlernen wollen, durch Geschichten zugänglich. Für uns, in der »Tradition des Abendlandes« stehend, 10 sind z. B. auch die islamischen oder die indischen Welten erreichbar und verstehbar. Schapp versucht, in der Philosophie der Geschichten nicht nur eine Annäherung an die Welten der Griechen (Homer, Hesiod etc.), sondern exemplarisch mit der Bhagavadgita, dem »bedeutendste[n] philosophische[n] Gedicht Indiens« und »eine[r] Geschichte ungeheuren Ausmaßes mit ungeheuren Horizonten«, auch den indischen Welten näherzukommen. Wie andere, so ist Schapp überzeugt, sind auch die indischen Welten nicht als Ganze, sondern nur teilweise, eben über spezifische Geschichten, zu erreichen. Wilhelm Schapps Ziel ist der Vergleich, er will herausfinden wie die Geschichten aussehen, die Grundlage der indischen Philosophie sein mögen, und er erkennt, dass hier ähnliche Fragen auftauchen wie in der abendländischen Philosophie: Fragen über das Verhältnis der Einzelgeschichte zur Allgeschichte, zum System der Philosophie, wogegen der Gegensatz zwischen Geschichte und Sachverhalt bzw. Wissenschaft kaum behandelt werde. 11 Am Horizont von Schapps Kulturvergleich steht die Idee, »das Verstricktsein-in-Geschichten als das Gemeinsame« in allen Kulturen zu sehen. Folglich ist für ihn die Untersuchung der Bhagavadgita nur ein »erste(r) Schritt zu einer umfassenden Untersuchung, die alle Völker umfaßt« 12.

2.

Die Bhagavadgita

Die Bhagavadgita – »der Gesang des Erhabenen«, bestehend aus 700 Strophen in 18 Gesängen – wurde bereits 1785 unter britischer Kolonialherrschaft als einer der ersten Sanskrit-Texte in eine europäische Ebd., S. 41. Das Abendland ist für Schapp eine »Sonderwelt«, da (nur) hier ein naturwissenschaftliches Weltbild entstanden sei, und man sich dieser mathematisch-physikalischen Welt nicht über Geschichten, sondern über Sachverhalte nähern könne (s. z. B. Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 54 ff.); siehe auch Teil 4 dieses Beitrages. 11 Vgl. ebd., S. 271. 12 Ebd., S. 271 f. 9

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Sprache übersetzt. Seitdem hat der Text in der internationalen akademischen Welt überwältigende Aufmerksamkeit erfahren, ist vielfach neu übersetzt und editiert sowie interpretiert worden. 13 Im Folgenden werde ich Kontext, Inhalt und zentrale Aussagen der Bhagavadgita vorstellen; dazu beziehe mich auf gegenwärtige anerkannte fachwissenschaftliche (indologische, sozialwissenschaftliche) Rezeptionen des Textes. 14 Danach werde ich Wilhelm Schapps Interpretation der Bhagavadgita kommentieren, bevor ich im letzten Teil dieses Beitrags Aspekte des interkulturellen Vergleichs bei Schapp thematisiere.

2.1 Text und Kontext oder Geschichte und Vorgeschichte Die Bhagavadgita entstand wahrscheinlich zwischen dem 1. und 3. Jh. vor unserer Zeitrechnung in Indien. Auch wenn oft als isolierter Text behandelt, so ist sie doch Teil einer viel größeren Geschichte und nur in diesem Gesamtkontext angemessen zu verstehen. Die Bhagavadgita ist Teil des Mahabharata, eines umfassenden Heldenepos (datiert 4. Jh. v. u. Z. – 4. Jh. u. Z.), das die Geschichte der Pandavas und der Kauravas erzählt, zweier verwandter, aber auch verfeindeter Königsfamilien, die sich letztendlich in einem großen Bruderkrieg gegenüberstehen. Das Mahabharata ist in 18 Bücher oder Sektionen (parvan) und einen Anhang unterteilt und enthält neben der Hauptgeschichte zahllose Nebengeschichten, von denen viele zentral sind für die hinduistischen Traditionen. 15 Das Epos ist aber nicht nur eine Heldennarration, sondern vermittelt auch soziopolitische, vor allem aber religiös-philosophische Inhalte. Verwoben in die Geschichten sind Diskurse zum Königtum, zur kosmischen und sozio-ökonomischen Ordnung (dharma), zu Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, zu individueller Verantwortung, zu LoyaFür eine Übersicht über die Forschung zur Bhagavadgita s. Malinar, Angelika: The Bhagavadgita. Doctrines and Contexts, Cambridge 2007. 14 Insbesondere beziehe ich mich auf die o. a. Arbeit von Angelika Malinar sowie auf Radhakrishnan, Sarvepalli: Die Bhagadvagita: Sanskrittext mit Einleitung und Kommentar. Mit dem indischen Urtext verglichen und ins Deutsche übersetzt von Siegfried Lienhardt, Wiesbaden 1958. 15 Der Anhang (Harivamsa) z. B. erzählt die Genealogie des Gottes Hari, ein anderer Name für Vishnu; Krishna ist seine Inkarnation (avatar). Das Mahabharata soll ca. siebenmal länger sein als Ilias und Odyssee zusammen. 13

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lität und Pflicht; in der Bhagavadgita werden auch und vor allem das Verhältnis von Gott und Mensch, von Handeln und Erlösung sowie die unterschiedlichen Wege, die zur Erlösung führen können, thematisiert. Zeit und Schauplatz der Bhagavadgita sind die Stunden vor dem großen Kampf, als sich die Heere auf dem Schachtfeld von Kurukshetra formieren. Das eine Heer befindet sich unter der Führung der Pandavas, das andere wird angeführt von deren Verwandten, den Kauravas. Wie aber kam es zu dieser kriegerischen Situation? Die Pandavas, fünf Brüder mit den Namen Yudishthira, Arjuna, Bhima, Nakula und Sahadeva, sind die Nachfahren Pandus; dessen blinder Bruder Dhrtarashtra begründete mit hundert Söhnen die Linie der Kauravas, der älteste Sohn ist Duryodhana. Die Überlieferung sagt, dass Pandu, obwohl jünger als sein Bruder, aufgrund von Dhrtarashtra’s Behinderung zum König von Hastinapura gekrönt wurde. Später, um eine Schuld zu sühnen (den versehentlichen Mord an einem Heiligen und Seher), verzichtete Pandu auf den Thron und Dhrtarashtra erlangte die Königswürde. Nach dem Tod ihres Vaters Pandu lebten die Pandava-Brüder mit ihrer Mutter Kunti am Hofe der Kauravas und wurden zusammen mit ihren Vettern erzogen. Schon früh war das Verhältnis der Vettern zueinander durch eine starke Rivalität geprägt, vor allem aber gab es Konflikte zwischen Yudishthira und Duryodhana, die sich beide als rechtmäßige Thronerben ansahen. Um die Rivalitäten zu beenden und Frieden herzustellen, beschloss Dhrtarashtra das Königreich zu teilen; er verlieh auch Yudishthira die Königswürde und gab ihm Indraprastha als seinen Sitz. Duryodhana, der weiter in Hastinapura residierte, war nicht bereit, den neuen status quo zu akzeptieren und eines Tages lud er Yudishthira zum Würfelspiel ein. Letzterer riskierte und verlor alles: sein Königreich und auch Draupadi, die Gattin, die er mit den anderen Brüdern teilte. 16 Auf Bitten Draupadis anerkannten die Familienältesten die verzweifelte Lage der Pandavas und milderten die Konsequenzen: die Pandavas wurden für 13 Jahre ins Exil geschickt, danach, so das Versprechen, würden sie ihre Herrschaft und Indraprastha wieder erhalten. Nach den Jahren des Exils weigerten sich die Kauravas ihr ursprüngliches Versprechen einzuhalten und das halbe Königtum an Polyandrie und Polygynie, verbunden mit Brautpreis, waren in manchen Regionen Indiens teilweise bis in die Gegenwart übliche Heiratspraktiken.

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Yudishthira zurückzugeben. Dieser reagierte zunächst zurückhaltend und versuchte mit Mitteln der Diplomatie zu seinem Recht zu kommen. In den Verhandlungen, in denen der Gott Krishna als Unterstützer und Helfer der Pandavas auftrat, wurden vor allem Argumente für und gegen den Krieg bzw. den Frieden vorgebracht. 17 Dabei fanden Aspekte wie die Legitimität eines Kampfes unter Verwandten sowie die Vorstellungen von Männlichkeit, Heldentum und Pflichten eines Kriegers gegenseitige Abwägung. Vor allem die Frauen der Familien betonten die Kriegerpflicht, die es zu erfüllen gelte, da ein schwacher und unentschlossener Mann Unehre für die gesamte Familie bedeute. Am Ende scheiterte die Diplomatie und der Krieg zwischen den Verwandten wurde unvermeidlich; die Heere versammelten sich. Die Bhagavadgita ist im Kern die Erzählung des Dialoges zwischen Arjuna und seinem Wagenlenker Krishna, geführt vor Beginn der großen Schlacht. Arjuna verzweifelt angesichts des kommenden Kampfes, in dem er die Waffen gegen seine Verwandten erheben und diese vielleicht auch töten muss, und bittet Krishna um Rat. Der Dialog greift die in den diplomatischen Verhandlungen thematisierten Probleme auf, bettet sie aber konsequent in eine religiöse Argumentation ein, die paradigmatisch wird für spätere hinduistische Traditionen: Krishna erinnert Arjuna an seine Pflichten als Mitglied der Kriegerkaste (Kshatriya), weist ihm den Weg zum richtigen Handeln und zur Erlösung, und offenbart sich am Ende als der höchste Gott und Schöpfer des Universums, dem auch Könige huldigen müssen. Der Dialog ist in einen Erzählrahmen eingebettet, der sich von dem des Gesamtepos unterscheidet. Samjaya, der Barde Dhrtarashtras, steht mit diesem am Rande des Schlachtfelds und berichtet ihm von der Aufstellung der Heere, von den Zweifeln Arjunas und dem Verlauf des Gesprächs zwischen Arjuna und Krishna. Angelika Malinar weist darauf hin, dass mit diesem rhetorischen Kunstgriff zwei Personen zu Erzählern und Zeugen werden, die ansonsten als Charaktere Gegenstand der Geschichte sind. »Both, Samjaya, the bardnarrator, and Dhrtarashtra, the blind king-audience, are at the same time ›insiders‹, characters involved in the events, and ›outsiders‹, dis-

Diese Verhandlungen sind Gegenstand des 5. Buchs des Mahabharata (Udyogaparvan). Die Bhagavadgita ist Teil des 6. Buchs (Bhismaparvan), das den Beginn des großen Kriegs beschreibt. Die direkt folgenden Bücher erzählen vom Kriegsverlauf.

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tant narrators and observer-listeners producing an epic story.« 18 Zudem, so Malinar, hat dieser Erzählrahmen einen weiteren Effekt, denn die Zeit von der erzählt wird, und die Zeit der Erzählung werden deckungsgleich und schaffen die Fiktion einer aktuellen Reportage (»live report«). 19 Übersetzt in die Sprache Wilhelm Schapps: Samjaya und Dhrtarashtra sind in die Geschichte(n) verstrickt, ihr Verstricktsein beeinflusst nicht nur ihr Erleben und Verstehen der Ereignisse, sondern auch ihre Wahrnehmung von Zeit; für Verstrickte herrscht immer Gegenwart (s. o.).

2.2 Normative Konflikte und göttliche Lehren Versucht man, so wie es neuere Interpretationen vorschlagen, die Bhagadvagita nicht isoliert, sondern im Kontext des Gesamtepos und vor allem in Verbindung mit dem vorhergehenden Buch (Udyogaparvan) zu verstehen, so ergeben sich zwei hauptsächliche Konfliktbereiche, mit denen sich die menschlichen Akteure konfrontiert sehen und auseinandersetzen müssen. Der erste Konfliktbereich (1) bezieht sich auf die Spannungen zwischen der Pflicht zur Familienloyalität (kuladharma) und der Pflicht eines Kriegers (kshatriyadharma). Verbunden hiermit ist auch die Frage nach der Rolle und dem Selbstverständnis des Königs als Klan- bzw. als Territorialherrscher. Der zweite Bereich (2) betrifft unterschiedliche (widersprüchliche) Referenzrahmen, nach denen sich Menschen in ihren Handlungen und religiösen Aspirationen ausrichten können: einerseits die Stabilisierung sozio-kosmischer Beziehungen durch die Befolgung individuellen und kollektiven dharmas 20 und ritueller und Verhaltens-Vorschriften, die auf vedische Texte zurückgehen; andererseits die Suche nach Erlösung durch asketische Praktiken und neue Formen der Erkenntnis und des Wissens. (1) Die gegnerischen Parteien der Pandavas und Kauravas sind mit widerstreitenden Normen und normativ begründeten Verhaltensan-

Malinar: Bhagavadgita, S. 56. Vgl. ebd., S. 56 f. 20 Der Begriff dharma stammt aus dem Sanskrit und umfasst ein Spektrum von Bedeutungen: Gesetz, Vorschrift, Pflicht, Normativität, richtiges Verhalten, sowie die sozio-kosmische Ordnung als ganze. 18 19

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forderungen konfrontiert, die in den bisherigen hinduistischen Traditionen verankert sind und die jeweils als Argumente für eine friedliche bzw. kriegerische Lösung des Streits in Anschlag gebracht werden können. Das »Gesetz der Familie« verlangt Zurückhaltung im Kampf gegen Blutsverwandte, wogegen das dharma eines Kriegers von ihm fordert, unter allen Umständen und gegen jeden zu kämpfen, unabhängig von den Konsequenzen. Eine Entscheidung für die eine oder die andere normative Vorschrift ist jedoch nicht leicht zu fällen, jede Entscheidung muss ambivalent bleiben, da es keine Kriterien gibt, welche es erlauben, die eine Norm überzeugend und legitim über die andere stellen zu können. Obwohl der Führer der Pandavas, Yudishthira, aus Rücksicht auf die Familienbande und aus der Gewissheit heraus, dass selbst ein Sieg niemals Frieden, sondern nur weitere Feindschaft und Gewalt hervorbringt, am liebsten den Kampf verweigern würde, so weiß er doch auch, dass er damit seine Pflichten als Krieger verletzen und seine Ehre und die seiner Angehörigen aufs Spiel setzen würde. Seine Abwägung der beiden Möglichkeiten fällt zugunsten des Kampfes aus. Duryodhana argumentiert eindeutiger und überzeugter für die Befolgung des kshatriyadharma. Aus seiner Sicht darf sich ein Krieger aufgrund seines Status niemals unterwerfen, er muss (wenn nötig) kämpfen. Dies nicht zu tun, bedeute Schwäche zu zeigen und sich selbst und die Familie, vor allem die Frauen, in Schmach und Unehre zu bringen. Im Udyogaparvan reflektiert Duryodhana vor allem ausgiebig über die Pflichten eines Königs. Dieser muss bereit sein, für alle seine Untertanen zu kämpfen und (wenn nötig) das eigene Leben zu opfern, denn diese Untertanen zahlen ihm Tribut und somit wäre die Verweigerung des Kampfes gleichbedeutend mit Diebstahl am Volk. Duryodhana privilegiert damit die Idee eines Territorialherrschers gegenüber der eines Klanherrschers. In diesem Kontext ist auch Duryodhanas Anspruch auf das Gottkönigtum zu verstehen sowie seine Infragestellung der Macht der Götter. Es ist nicht möglich, die komplexe Argumentation des Epos in diesem Punkt genau nachzuzeichnen, 21 ich gebe daher nur einige kurze Hinweise. Nach vedischer Lehre beruht die Macht der Götter zum einen auf ihrer Indifferenz gegenüber den Menschen und den weltlichen Dingen, zum anderen auf ihrer Stellung als Empfänger von Opferritualen seitens der Menschen. In den rituellen Transaktio21

Dazu siehe Malinar: Bhagavadgita, Kapitel 2.

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nen konsolidiert sich eine gegenseitige Abhängigkeit von Göttern und Menschen, und die Indifferenz der Götter impliziert, dass diese diejenigen unterstützen, die das Ritual richtig und vollständig durchführen. Duryodhana greift einen zentralen Aspekt vedischer Religion an, wenn er den instrumentellen Aspekt der Rituale kritisiert und sie primär als Mittel der Patrone und ihrer Priester sieht, die eigenen Ziele zu erreichen. Den aus seiner Sicht letztlich machtlosen Göttern stellt Duryodhana das Ideal des territorial herrschenden souveränen Gottkönigs gegenüber: dieser brauche keine Opfer, er sei nicht indifferent gegenüber seinem Königreich, sondern nur hinsichtlich seines eigenen Lebens, das er bereit sei, für seine Untertanen zu opfern. In der Bhagavadgita wird diese Idee des Gottkönigtums grundlegend in Frage gestellt. Im Laufe des Dialogs mit Arjuna entwickelt Krishna nicht nur das Konzept eines höchsten Gottes und eröffnet damit eine neue Perspektive auf die Rolle des Königs, sondern er entwirft auch ein grundlegend neues Verständnis von Askese und Handeln, das die vedischen Lehren überwindet und auf bestimmten Interpretationen der philosophischen Systeme Samkhya und Yoga beruht. 22 Beides bezieht sich auf den zweiten normativen Konfliktbereich und zeigt Möglichkeiten seiner Lösung auf. (2) In der Bhagavadgita stehen Arjuna und sein Wagenlenker Krishna im Mittelpunkt des Geschehens. Es ist Arjuna, den auf dem Schlachtfeld plötzlich starke Zweifel an der Richtigkeit des Krieges befallen. Er sieht den Aufmarsch der Heere der Pandavas und Kauravas und erkennt auf jeder Seite die Mitglieder seiner Familie. Der Kampf würde ihm zwar Ehre und vielleicht den Sieg bringen, aber notwendig in der Vernichtung der Familie und der Verwandten und damit in einer großen Sünde enden. Arjuna lässt die Waffen fallen und verweigert den Kampf. Die folgenden Abschnitte der Bhagavadgita handeln nun davon, wie Krishna in systematischer Argumentation versucht, Arjuna durch Vermittlung von Wissen zur richtigen Erkenntnis und somit zum richtigen Verhalten zu bewegen, d. h. zur Dazu siehe Malinar: Bhagavadgita, vor allem Kap. 3. Die Lehre des Samkhya postuliert eine Dualität von Bewusstsein (Purusha) und Natur (Prakrti). Jedes Leben konstituiert sich aus beidem, Bewusstsein und Natur, von Geist und Körper. Yoga bezeichnet im Kern einen spirituellen (asketischen, meditativen) Weg zur Erlösung; die Bhagavadgita behandelt drei mögliche Wege: karmayoga (Weg der selbstlosen Taten), jnanayoga (Weg der [intellektuellen] Erkenntnis), bhaktiyoga (Weg der Hingabe an / Liebe zu Gott).

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Einsicht, dass er seine Kriegerpflicht erfüllen und kämpfen muss, auch wenn dies notwendig den Tod von verwandten und nicht-verwandten Menschen bedeutet, und dass gerade dieses richtige Verhalten ihm den Weg zur Erlösung eröffnet. Krishna beginnt mit einer Trostrede und erklärt Arjuna, warum es unsinnig sei, die Toten zu betrauern und den Tod bzw. das Töten vermeiden zu wollen. Er verweist dazu auf die Dualität zwischen unsterblichem Selbst (Seele) und sterblichem Körper. Der Tod kann das Selbst nicht auslöschen; wie ein Mann abgetragene Kleider ablegt und neue anzieht, so legt auch das Selbst den abgetragenen Körper ab und sucht sich einen neuen. Der Tod ist nur ein Wandel der Erscheinung, denn das, was ist, das Sein (sat), kann niemals zum Nicht-Sein (asat) werden. Krishna fordert Arjuna zum ehrenvollen Kampf auf und weist ihn darauf hin, dass er den Folgen mit Gleichmut und Indifferenz begegnen solle: nur wenn ihm Freude und Leid, Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage gleichgültig geworden seien, werde er nicht in Schuld geraten. Krishna erläutert in den folgenden Versen das Ideal der Indifferenz ausführlich. Dazu weist er zunächst nach, dass Arjuna sich noch gebunden zeigt an die vedischen Lehren, die den Wert einer Handlung nur nach ihren Ergebnissen beurteilen. Da im vedischen Kontext nur solche Handlungen erstrebenswert und ohne negative karmische Folgen23 erscheinen, die positive Ergebnisse wie Freude oder Macht bringen, weigere sich Arjuna zu handeln, wenn seine Taten ambivalente Folgen haben und auch Leid hervorbringen können. Krishna präsentiert dann ein anderes, neues Verständnis von richtiger menschlicher Praxis und legt Arjuna nahe, sich an diesem zu orientieren und die traditionellen Vorstellungen aufzugeben. Nach dem neuen Verständnis zählt als richtiges Handeln einzig und allein die Erfüllung von Pflichten, die ein Mensch aufgrund seines sozialen Status hat (svadharma). Der Handelnde darf die Resultate einer pflichterfüllenden Handlung nicht bewerten, sondern muss den positiven wie den negativen Folgen gegenüber gleichgültig sein. Der wirklich Wissende wird also Indifferenz erstreben, dann vermeidet er negative karmische Konsequenzen und kann auf Erlösung zielen. Dies ist der Weg der selbstlosen Taten (karmayoga). Hier wird das Konzept des karma relevant. Es besagt, dass alle Handlungen positive oder negative Folgen zeitigen, die Auswirkungen haben auf die Wiedergeburt (samsara).

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Im Anschluss erläutert Krishna, warum der (Erlösungs-)Weg der indifferenten Handlung besser ist als die asketische Praxis der vom Handeln abgewandten Erkenntnissuche, für die sich der Weltentsager entschieden hat (Weg der Erkenntnis – jnanayoga). Alle Lebewesen, so sagt er, sind aufgrund ihrer Körperlichkeit immer zum Handeln gezwungen, deshalb ist jeder Versuch des Nicht-Handelns zum Scheitern verurteilt. Krishna argumentiert, dass die richtige Praxis Entsagung und Aktivität verbindet: Die wahre asketische Praxis ist selbstloses, indifferentes Handeln als Pflichterfüllung, das aber einem dahinterliegenden größeren Ziel dienen müsse, nämlich der Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung. Der wahre yogin handelt somit (frei von individuellen Handlungsgründen) allein in Einklang mit dem kosmischen Grund aller Aktivität. Eine Ausweitung und Übertragung des Opferbegriffs von der rituellen zu jeglicher Form der Handlung erlaubt in einem nächsten Schritt, die Pflichterfüllung zum Ziel der Welterhaltung als Opfer zu interpretieren. Als Opferhandlung ist sie frei von karmischen Folgen und bringt jeden Akteur der Erlösung näher. In den folgenden Sequenzen der Bhagavadgita offenbart sich Krishna gegenüber Arjuna als einziger und höchster Gott, der alle bisherigen Vorstellungen von göttlicher Manifestation bzw. höchstem Sein übersteigt. Krishna ist »Alles«: Er ist Schöpfergott und höchster yogin (Lord of Yoga), denn er hat die Welt und die kosmische Ordnung durch Aktivierung seiner kreativen Kräfte geschaffen; er ist in verschiedenen Formen und Verkörperungen in der Welt präsent, um wie ein König die rechte Ordnung (dharma) zu schützen und zu stärken und Gegenkräfte (adharma) zu zerstören; er ist aber gleichzeitig auch das befreite transzendente höchste Selbst und garantiert Erlösung für alle, die ihn verehren und die ihm folgen, wenn sie denn erkennen, dass sie Teil von ihm sind. Als Höhepunkt seiner Instruktionen an Arjuna zeigt sich Krishna diesem in seiner kosmischen All-Gestalt und Arjuna schaute »das ganze Universum mit seinen mannigfachen Teilen in einem einzigen vereint, in dem Körper des Gottes der Götter«. 24 Mit dieser neuen und umfassenden Gotteskonzeption geht auch eine neue Interpretation der Beziehung des Menschen zu Gott einher. Krishna erläutert: Weder durch Kenntnisse der Veden, durch Askese 24 Radhakrishnan: Bhagavadgita, S. 314. Damit Arjuna die Allgestalt erkennen kann, verleiht ihm Krishna »das übernatürliche Auge« (ebd., S. 312).

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oder Opfer erlangt der Mensch die Fähigkeit seine (Krishnas) göttliche Allgestalt zu erkennen und somit Erlösung zu finden. Dies gelingt nur durch bhakti, die vollkommene und exklusive Hingabe an den einen Gott (bhaktiyoga, der Weg der Hingabe). In den weiteren Erklärungen Krishnas wird deutlich, dass bhakti nicht nur dem König, sondern allen Menschen offen steht. Dieser individuelle Erlösungsweg ist unabhängig von sozialem Status, ritueller Reinheit oder Geschlecht. Bhakti artikuliert sich in ihrer weiteren Ausarbeitung auch durch neue Formen der rituellen Kommunikation und Wahrnehmung, die jedem zugänglich sind (z. B. puja, d. h. individuelle Verehrung im Tempel oder zu Hause; gemeinsames Singen von devotionalen Liedern; darshan, die direkte Anschauung des Gottes). Bhakti als neue Form der Gottesverehrung beinhaltet als zentrales Element die persönliche Beziehung zu Gott. Die charakteristischen Elemente dieses (durchaus hierarchischen) Verhältnisses sind »mutual dependence, reciprocity, affection and a sense of belongingness« 25; damit werden etablierte soziale und auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen wie Verwandtschaft, Freundschaft und Liebe in den religiösen Kontext hineingeholt. Auch das indifferente Handeln wird im Kontext des neuen Gottesverständnisses und der Gotteshingabe re-interpretiert: Alles pflichtorientierte, bindungslose Handeln muss nun allein auf Krishna gerichtet sein, und der Handelnde soll in ihm den letzten Grund aller Aktivität und das Ziel sehen. 26 Für den/ die wahre(n) bhakta (Verehrer, Verehrerin) Krishnas ist der Gott das letztendliche Ziel und uneingeschränkte Hingabe bringt Erkenntnis und Erlösung. Das gesamte Leben des oder der wahren bhakta, einschließlich aller Wünsche und Handlungen, ist ein Opfer für den höchsten Gott. Der Erlösungsweg der bhakti ist somit ein innerweltlicher Weg der Entsagung, der die anderen beiden Wege einschließt. Malinar fasst zusammen: »Liberation is now motivated by the desire, not to rid oneself of the world, but to come very close to the god, of which detachment from personal interests and karmic bondage are regarded as welcome byproducts. This is the Malinar: Bhagavadgita, S. 184. Malinar betont, dass die Vorstellung von Reziprozität im Rahmen von bhakti auf Wissen, gegenseitiger Zuneigung und asketischer (bindungsloser) Handlung beruht und sich somit von der Reziprozität des vedischen Opfers unterscheidet. 26 Krishna sagt (XI:55): »Wer für mich wirkt, wer mich als Ziel betrachtet, wer mich verehrt, frei von Anhänglichkeit und ohne Feindschaft gegen alle Geschöpfe ist, dieser gelangt zu mir«. Radhakrishnan: Bhagavadgita, S. 331. 25

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paradigmatic shift brought about by making ›disinterested action‹ a medium of bhakti.« 27

Wie bereits anfänglich erwähnt, präsentiert die Bhagavadgita auch ein neues Ideal des Königtums und setzt dieses der Idee des Gottkönigtums (vertreten durch Duryodhana) entgegen. Der König gewinnt Legitimität, indem er sich dem höchsten Gott unterwirft und dessen Oberhoheit akzeptiert, wobei er gleichzeitig als Repräsentant des göttlichen Anliegens auf Erden wirkt. Subordination des Königs ist eine Begrenzung royaler Macht und gleichzeitig Machtgewinn: bhakti impliziert die Anerkennung und den Schutz des Königs durch den höchsten Gott als diesem zu-/angehörig, wie sie auch umgekehrt den König gegenüber dem Gott in die Pflicht nimmt. König und Gott sind als Verbundene sowohl von der Welt als dem Volk distanziert, aber gerade diese Distanz erlaubt eine neue Form der Beziehung zu allen Menschen. Der König ist verantwortlich für sein Reich und seine Untertanen wie der Gott in seiner Komplexität verantwortlich ist für die Ordnung der Welt und für alle individuellen Selbste in ihrer verkörperten wie auch befreiten Form. In der Bhagavadgita erscheint der König als der ideale bhakta und – aufgrund dieser seiner religiösen Kompetenz – auch als der ideale politische Herrscher. Aber auch sein letztendliches Ziel ist die Erreichung des transzendentalen Seins-Status. Als bhakta ist der König Beispiel und Vorbild für andere soziale Gruppen, denn auch sie können den Weg der Bhakti beschreiten. Als »Königsweg« und Vorbild bewegt sich bhakti jedoch immer im Rahmen der gesellschaftlichen Statushierarchie: »[T]he idea of bhakti is not presented as a practice of lower-status, illiterate people or as ›folk‹ religion that priests and aristocrats had to concede in order to remain in power, as some interpreters would have it, but as ›secret‹ knowledge and a rather demanding practice of transforming attachment to oneself into detachment, which is in turn based on attachment to god.« 28 Malinar: Bhagavadgita, S. 232. Ebd., S. 13. Es ist zu betonen, dass das bhakti der Bhagavadgita das universalistische Potential dieser Richtung hinduistischer Religiosität noch nicht freisetzt. Spätere Formen der bhakti, so wie sie seit dem 5. Jh. u. Z. zuerst im Süden Indiens auftraten, sich nach Nordindien ausbreiteten und bis in die heutige Zeit Bedeutung haben, rücken dieses universalistische Potential in den Vordergrund. Einige wichtige bhakti-Dichter (z. B. Chokamela, Kabir, Raidas) kommen aus unteren Kasten bzw. Mira Bai, eine weibliche bhakta, hat ihre Ehe und ihren sozialen Kontext aufgegeben. In den Texten dieser bhaktas finden sich deutliche Angriffe auf Status- und Genderhierarchien. Zu

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Angelika Malinar schlägt überzeugend eine Lesart der Bhagavadgita vor, die zwar durch eine monotheistisch verankerte bhakti die Möglichkeit der Erlösung entprivilegiert bzw. popularisiert, aber dennoch nicht die Fundamente eines sozio-kosmisch hierarchisch gedachten Hinduismus angreift. Die Bhagavadgita verkörpert einen »kosmologischen Monotheismus« 29; sie ist keine subalterne, subversive Schrift und stellt weder die Ideen von dharma noch die sozialen und religiösen Ordnungsstrukturen infrage.

3.

Wilhelm Schapps Interpretation der Bhagavadgita

Der Ausgangspunkt der Bhagavadgita ist eine Geschichte »ungeheuren Ausmaßes mit ungeheuren Horizonten nach Vergangenheit und Zukunft« 30. Schapp bezieht sich mit dieser Charakterisierung auf das gesamte Mahabharata-Epos und zieht Parallelen zu Homers umfassender Dichtung. 31 Beide »Dichtwerke« erscheinen ihm hochbedeutsam in ihrer jeweiligen Kulturwelt; sie sind exemplarisch für die Geschichten der indischen Welt bzw. der Welt des Abendlandes und beide Werkkomplexe verdeutlichen, dass Menschen notwendig in Geschichten verstrickt sind. Diese zentrale Bedeutung von Geschichten ist eine grundlegende, kulturübergreifende Gemeinsamkeit. Was aber, so fragt Schapp, können wir sonst noch aus dem interkulturellen Vergleich lernen? Was sind weitere Gemeinsamkeiten, was sind die Unterschiede in den Dichtwerken und wo verhilft uns der Vergleich zum besseren Verständnis anderer kultureller Weisen des Denkens und Philosophierens?

bhakti siehe z. B.: Pechilis, Karen: Bhakti traditions, in: Frazier, Jessica (Hg.): The Continuum Companion to Hindu Studies, London 2011, S. 107–122; Hawley, John Stratton: A Storm of Songs. India and the Idea of the Bhakti Movement, Cambridge (Mass.) 2015; Fuchs, Martin: Self-affirmation, Self-transcendence and the Relationality of Selves: The Social Embedment of Individualisation in Bhakti, in: Fuchs, Martin et al. (Hgg.): Religious Individualisation: Historical Dimensions and Comparative Perspectives, Berlin 2019, S. 257–288. 29 Ebd., S. 7. 30 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 271. 31 Schapp verweist an vielen Stellen auch auf Hesiod und seine Theogonie, die die Entstehung der Welt und der Götter beschreibt. Ich beschränke mich hier aber auf Homers Werk als Vergleichsrahmen, da bei ihm wie in der Bhagavadgita der Krieg im Mittelpunkt steht.

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Im Zentrum sowohl der homerischen Dichtung als auch der Bhagavadgita stehen, so Schapp, der Krieg und der Tod. Der Krieg ist Ausgangspunkt und Erzählbogen in beiden Dichtwerken. Am Ereignis des Trojanischen Kriegs mit seinen Geschichten und Nebengeschichten entfaltet Homer »seine ganze Welt und dazu die Universalhistorie […] im Querschnitt und Längsschnitt« 32, und diese Welt umfasst Himmel, Erde, Unterwelt und ihre jeweiligen Bewohner, nämlich Götter, Menschen und die Toten. Die Bhagavadgita als Lehrgedicht antwortet auf einen Konflikt, der sich im Kontext von Krieg (hier: Bruderkrieg) ins Bewusstsein drängt und eine theologisch-philosophische Lösung erfährt. Was aber ist die Schlüsselstellung des Todes? In der homerischen Dichtung wie in der Bhagavadgita erwächst aus dem Verständnis und der Bedeutung des Todes in der jeweiligen Allgeschichte die Bedeutung des Lebens, des Alltags und des Handelns, erklären sich Intensität und Bedeutung von Geschichten und menschliche Verstrickungen in Geschichten. Mit diesen eher formalen Ähnlichkeiten sind für Schapp die Gemeinsamkeiten umrissen und in seiner Abhandlung über die Bhagavadgita schärft er den Blick für die Unterschiede zwischen den Dichtungen und damit zwischen den kulturellen Kontexten. Nachfolgend möchte ich darlegen, wie Schapp diese Unterschiede konstruiert. Dabei wird er allerdings der Komplexität der normativen philosophisch-religiösen Problematik und Argumentation der Bhagavadgita, die ich im vorherigen Abschnitt versucht habe aufzuzeigen, nicht vollends gerecht.

3.1 Krieg und Töten als moralischer Konflikt Arjuna zweifelt an der Richtigkeit und moralischen Vertretbarkeit des Krieges (zugespitzt durch die besondere Problematik des Bruderkrieges), der unweigerlich Leid, Tod und Zerstörung mit sich bringt und die ganze menschliche Ordnung zerstören würde. Wäre es nicht besser, dem Kampf zu entsagen, selbst den Tod zu erleiden, als solche Schuld auf sich zu laden? Schapp findet im sechsten Gesang der Ilias eine Passage, in der diese Frage im Streit zwischen Diomedes und Glaukos aufkeimt. 33 Beide erkennen sich als Gastfreunde und vermei32 33

Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 216. Vgl. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v.

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den den Kampf. Eine grundsätzliche Reflexion über die moralische Frage der Richtigkeit des Krieges wird aber von Homer nicht gestellt. Diese Frage, auch wenn sie laut Schapp jeden Feldherrn quälen müsste, wird zuerst und konsequent in Indien gestellt und er leitet daraus für »das indische Volk« eine moralische Pflicht ab, diese Frage immer wieder zu stellen. Nicht die Lösung, die im Rahmen der Dichtung vorgeführt wird, erscheint für Schapp das Entscheidende, sondern allein das Erkennen und die Verbalisierung des Konflikts sind für ihn von universaler Bedeutung. Was Schapp eher ausblendet, ist die Tatsache, dass Arjuna nicht einen individuellen moralischen Konflikt wie jeder Kriegsherr zu bewältigen hat (soll ich Krieg führen und töten oder nicht), sondern dass er zwischen zwei unterschiedlichen moralisch-normativen Ordnungen steht (kshatriyadharma vs. kuladharma), die entsprechend unterschiedliche Antworten vorgeben. Eigentlich müsste sich Arjuna für eine entscheiden, aber er merkt, dass die traditionellen Rechtfertigungsmuster nicht mehr greifen. 34 Auch wenn Wilhelm Schapp zu Recht die universale Bedeutsamkeit der Problemformulierung hervorhebt, so ist es aus historisch-kultureller Perspektive bedeutsam, dass das Lösungsangebot Krishnas einen innovativen religiös-philosophischen und universal bedeutsamen Pfad aus dem Dilemma anbietet.

3.2 Die Unsterblichkeit des Selbst und die Relativierung des Lebens Die Frage nach dem Töten im Krieg ist eine grundlegend ethisch-religiöse Frage. Schapp ist überzeugt, dass eine befriedigende Antwort auf diese Frage voraussetzt, »daß man weiß, was der Tod ist. Solange man das nicht weiß, kann man auch nicht wissen, was das Töten ist.« 35 Der Tod erfährt aber nun eine sehr unterschiedliche Interpretation und hat einen deutlich unterschiedlichen Stellenwert bei Homer und in der Bhagavadgita. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2017, S. 90 f. [Seitenwechsel; S. 437]. 34 Ein Beispiel für einen Konflikt aufgrund widerstreitender normativer Ordnungen aus der griechischen Mythologie wäre der Konflikt zwischen Antigone und Kreon und die Frage des Begräbnisses von Polyneikes; hier treffen göttliches und staatliches Gebot aufeinander. 35 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 276.

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Homer weiß von der Trennung von Seele und Leib, und es sind die Seelen, die in der Unterwelt wohnen, während der Leib vergeht. Viel mehr, so Schapp, ist von Homer aber nicht zu erfahren: Der Begriff der Seele ist schwer zu deuten, alles, was mit dem Wort Tod anklingt, ist noch kaum getroffen, wozu die Unterwelt nütze ist, lässt sich schwer erkennen. 36 Zwischen Totenreich und Erde besteht keine Beziehung, sie wirken nicht aufeinander, im Grunde »ist es mit dem Tode aus« 37. Im Totenreich lebt man geschichtenlos, es könnte an seiner Stelle auch das Nichts stehen. Schapp ist überzeugt, dass Homer eine negative Stellung zum Tod hat, dadurch aber gewinnt bei ihm das Leben eine besondere Kraft. »Nach dem Sterben mag der Tod sein, was er will, unsere Seele mag zum Hades eilen, und wir selbst mögen ein Fraß der Vögel und Hunde werden, darauf kommt es nicht an. Die Wichtigkeit des Todes besteht für uns darin, daß er das Leben gestaltet, daß er im Leben, in den Geschichten des Lebens überall gegenwärtig ist […] [und] allen Geschichten Gewicht verleiht.« 38

Wie sind aus Sicht von Schapp der Tod und damit auch das Leben in der Bhagavadgita konzipiert? Gleich im zweiten Gesang erklärt Krishna dem verzagten Arjuna, dass es keinen Tod gäbe, denn vergänglich sei nur der Körper. Das Selbst (die Seele) des Menschen sei unsterblich und gehe in Raum und Zeit in immer neue Körper ein. Aus diesen Gründen sei es falsch, die Toten zu betrauern, vielmehr sei es wichtig seine Pflicht zu tun, und das bedeute für den Krieger Arjuna, zu kämpfen. Arjuna aber zweifelt weiter, denn, so sagt er sich, selbst wenn es stimmt, dass man die Toten nicht zu betrauern brauche, wie steht es um denjenigen, der tötet? Lädt dieser sich Sünde auf? Mit dieser Frage, meint Schapp, offenbart Arjuna seine Haltung zum Leben. Wie die Personen bei Homer so führen auch die Menschen in Indien ein Leben, das sie in Geschichten verstrickt (und, müsste man hinzufügen, karmische Substanz anhäufen lässt). Schapp nennt es ein ›naives Leben‹, und der Held Arjuna nimmt dieses Leben mit seinen Verstrickungen (und karmischen Auswirkungen) ernst. Anders aber als bei den homerischen Helden wird bei ihm die Sünde (das negative karma) zu einem existentiellen Problem, das nach einer Lösung verlangt, die dann in den nächsten Gesängen in der Lehre Krishnas angeboten wird. »Was Krishna unsern Helden lehrt«, 36 37 38

Dies und folgende Aussagen vgl. ebd., S. 217 ff. Ebd., S. 275. Ebd., S. 219.

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schreibt Schapp, »das alles hat als Boden, daß der Philosoph und der Asket das Leben nicht ernst nehmen dürfen, daß der Philosoph mit seiner Vernunft erkennt, daß alles nur Schein ist und daß er als Asket die Distanz von dem Leben gewinnt, die dem Sein oder auch dem Nichtsein des Lebens entspricht.« 39 So verstanden lehrt Krishna nach Ansicht von Schapp die Relativierung des Lebens. Diese nahezu lebensverneinende Perspektive wird von Schapp aber wieder relativiert.

3.3 Verstrickung in Geschichten bei gleichzeitiger »Nichtigkeit« der Geschichten Selbst wenn Schapp in seinem Text ein irreführendes Wort wie »Schein« benutzt, um das Leben in der Bhagavadgita zu charakterisieren, 40 so erkennt er doch, dass Alltag und Handeln in dieser Dichtung eine große Bedeutung zukommen. Die Philosophie der Bhagavadgita »lebt auf dem Grunde eines Alltags« 41, und er zitiert aus dem dritten Gesang (Vers 5), der besagt: »Die in uns wohnende Natur zwingt Jeden, irgend etwas zu tun.« 42 Dies nimmt Schapp als Beweis, dass auch der Dichter der Bhagavadgita nahe an der Auffassung ist, dass wir alle in Geschichten verstrickt sind – selbst wenn diejenigen, die zur richtigen Erkenntnis gelangen, die Asketen und Weisen, in der Lage sind, sich von ihrem Handeln zu distanzieren, d. h. dem Handeln und den Handlungsfolgen gegenüber indifferent zu werden. Zu dieser Überzeugung kommt Schapp über zwei Reflexionslinien. Erstens: Zunächst vermutet Schapp, dass die Distanzierung bewirke, dass sich Menschen eher »als Zuschauer denn als Handelnde« verstehen. 43 Dazu passen die Ausführungen in seinem Manuskript, in denen er auf die Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgeschichten verweist:

Ebd., S. 277. Schein oder Illusion spielen in einer indischen philosophischen Richtung, dem Advaita Vedanta (nicht-dualistische Lehre) eine große Rolle. Hier ist die Einheit von Atman und Brahman die zu erkennende Realität. Die weltlichen Manifestationen sind, sehr vereinfacht gesagt, Schein (maya). Die Bhagavadgita vertritt eine andere Position, die auf der dualistischen Lehre des Samkhya beruht (s. o.). 41 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 278. 42 Ebd., S. 279. 43 S. ebd., S. 277. 39 40

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»In [der] Bhagavadgita kann man nun den Eindruck haben, daß der Mensch sich zu allen Geschichten, auch zu den eigensten Geschichten verhalten soll wie zu Fremdgeschichten. Er soll ohne jeden Hang handeln. Er soll die Frucht der Tat aufgeben […]. Doch darf man nicht der notwendigen Tat entsagen […]. Man soll die notwendige Tat tun in dem Gedanken: So ist es meine Pflicht.« 44

Schapp vergleicht das pflichtgemäße Handeln (bezogen auf die vier »Kasten« 45) mit dem Handeln der Menschen, die in geistigen Berufen unserer Zeit 46 arbeiten; hier bleibe kein Raum für die eigene Geschichte, wichtig sei nur das Amt. Schapp merkt aber, dass diese Analogie von indifferentem Pflicht-Handeln und Fremdgeschichte bzw. Zuschauen nicht richtig greift, und er korrigiert sich sozusagen selbst, indem er zu bedenken gibt, dass jede Fremdgeschichte immer auch mit einer Eigengeschichte verbunden ist und daher das Verstricktsein in Geschichten unvermeidbar ist. Zweitens: Menschen sind immer Handelnde, auch wenn sie im alltäglichen Sinne nicht handeln (wie Mönch oder Asket). In der Tat das Nichtstun zu erblicken und im Nichtstun die Tat, dies erkennt Schapp als die zentrale Lehre Krishnas und der Inhalt der wahren Erkenntnis. Für Schapp ist die Bhagavadgita letztlich eine Bestätigung dafür, dass Menschen auch in Indien immer in Geschichten verstrickt sind, allerdings bietet die Dichtung eine kulturspezifische Relativierung dieser Tatsache: »Erkenntnis der Geschichten in ihrer Nichtigkeit durch Deutung und Abkehr von diesen Geschichten durch Heiligung.« 47

44 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 93 [Seitenwechsel; S. 440 und 441]. 45 Wenn Schapp von Kasten spricht, so meinte er eigentlich varna. Varna bezeichnet die vier Statusgruppen der hinduistisch-sozialen Ordnung, deren Entstehung im Purusha-Sukta des Rig Veda mythisch begründet wird. Kasten – von casta, ein portugiesischer Begriff –, bezieht sich auf das Konzept jati – Geburtsgruppe. Es gibt unzählige regional und historisch verschiedene jatis, sie werden den varnas zugeordnet, sind aber nicht dasselbe. 46 Vgl. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 93 [Seitenwechsel; S. 441]. 47 Schapp, Philosophie der Geschichten, S. 280 f. Es wäre zu überlegen, ob »Nichtigkeit« nicht ein zu starker Begriff für das ist, was in der Literatur zur Bhagavadgita treffender als »Indifferenz« bezeichnet wird. Auch Max Weber, der im Rahmen seiner Religionssoziologie eine Studie zu Hinduismus und Buddhismus verfasst hat, spricht in Bezug auf die Lehren der Bhagavadgita von der »Weltindifferenz gerade des innerweltlichen Handelns« als »Krönung der klassischen-indischen Intellektuellenethik« (Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II. Hinduismus und

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Bhagavadgita

3.4 Konflikt und Offenbarung – die Frage nach der Einheit der Dichtung Ausgangspunkt der Bhagavadgita ist die Beschreibung des Konflikts zwischen zwei normativen Ordnungen und das daraus resultierende Dilemma Arjunas. Die Bearbeitung dieses Dilemmas geschieht im Dialog des Helden mit Krishna, seinem Wagenlenker. Im Laufe des Gesprächs wächst Krishna vom Wagenlenker zum höchsten Gott und allerhöchsten Wesen, letztendlich nicht erfassbar mit menschlichem Vermögen. In diesem Prozess, so Schapp, geht die Verbindung mit der Anfangsgeschichte nahezu verloren und er vermutet zurecht, dass die Einheit der Geschichte nur durch beide Stränge – die Feldschlacht und die »Entwicklung« des Gottes – gewährleistet werden kann. Schapp interpretiert Krishnas bedeutsame Wandlung als Offenbarung, als Darlegung und Öffnung einer Welt, losgelöst von der Bindung an das Körperliche und vom Geschichtenmäßigen; gegenüber dieser Welt werde die Welt des Alltags klein und unbedeutend. Die Offenbarung bewirke die »Bekehrung« Arjunas, oder wie Schapp selbst diesen Prozess an anderer Stelle besser charakterisiert, führe ihn zu tiefgreifender Erkenntnis über die »Nichtigkeit« von Geschichten und menschlichen Verstrickungen. Arjunas Erkenntnis der »Nichtigkeit« scheint für Schapp der Kern der Bhagavadgita. Schapp, der begrenztes Wissen hinsichtlich der indischen religiösen und philosophischen Tradition besaß, konnte die transformative Bedeutung von Krishnas Offenbarung und damit die wirklich zentrale Botschaft der Bhagavadgita nicht vollends fassen, und sie war ihm, der an einer Philosophie der Geschichten interessiert war, wohl auch nicht so wichtig. Diese Botschaft besteht darin, dass allein die verehrende Hingabe an den höchsten Gott (Krishna-bhakti) einen innerweltlichen Weg der Erlösung (bhaktimarga) zu eröffnen vermag. Dieser Weg beruht zwar auf der Indifferenz des Handelns, dieses wird aber als Opferhandlung in die Gottesverehrung eingebunden.

Buddhismus, Tübingen 61978, S. 191 ff.). Es gibt keine Indizien dafür, dass sich Schapp mit Weber im Kontext seiner Arbeit zur Bhagavadgita auseinandergesetzt hat.

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4.

Die Bhagavadgita im interkulturellen Vergleich: ein Fazit

Bevor Wilhelm Schapp in der Philosophie der Geschichten seine Reflexionen über die Bhagavadgita beginnt, benennt er drei Untersuchungsfelder, über die er Klarheit erlangen muss: die Frage »was Geschichten und Allgeschichte sind und über das, was Sachverhalte sind« 48. Über die interkulturelle Bedeutung von Geschichten wurde im Vorhergehenden bereits einiges gesagt; es wurde auch in Hinblick auf den indischen kulturellen Kontext deutlich, »daß man von einer Welt außerhalb von Geschichten nicht reden kann.« 49 Schapp ist aber überzeugt, dass sich die indische Welt der Bhagavadgita von der homerischen dadurch unterscheidet, dass sie die »Nichtigkeit« des Handelns und der Verstrickungen im Alltag angesichts der Bedeutung einer anderen, nicht-alltäglichen Welt betont. Die Bhagavadgita gehe damit weit über das Weltbild und die Deutung der Welt bei Homer hinaus, meint Schapp. Die homerische Welt und die homerische Dichtung seien eine »elementare Vorstufe« zum indischen Gedicht. 50 Was ist nun eine Allgeschichte und in welchem kulturellen Kontext können wir von einer Allgeschichte sprechen? Schapp stellt die Allgeschichte der Einzelgeschichte gegenüber, die Verbindung beider erfolgt über die Mitverstrickung, bzw. über das Wir. 51 Mit »Wir« sind letztlich soziale, politische, kulturelle und religiöse Kontexte kleineren oder größeren Ausmaßes gemeint (Familie, Stadt, religiöse Gruppe, nationale Zugehörigkeit etc.), über die Menschen (als Subjekte/ Objekte in ihren Einzelgeschichten) wiederum in eine umfassendere Geschichte mit räumlich und zeitlich größeren Dimensionen verstrickt sind. Eine solche Allgeschichte hat einen offenen Horizont, ist in die Zukunft geöffnet, aber sie erscheint bei Schapp als geographisch, religiös-kulturell begrenzt. So spricht Schapp von der Allgeschichte Homers, der jüdischen, christlichen, islamischen AllEbd., S. 269. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 139 [Seitenwechsel; S. 494]. 50 Vgl. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2016, S. 260 [Seitenwechsel: S. 274]. 51 Vgl. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2016, S. 188 ff. [S. 201 ff.]. 48 49

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geschichte, der des Gilgamesch und der Allgeschichte der Bhagavadgita. Schapp äußerst sich explizit zur homerischen und christlichen Manifestation der Allgeschichte; beide sind für ihn umfassend und einheitlich, eine Allgeschichte, die in einem ausgearbeiteten und konsistenten Weltbild die menschliche Welt mit der jenseitigen bzw. den jenseitigen Welten verbindet und in der ein jeder Mensch aufgehoben ist. Die Bhagavadgita zeige einerseits Parallelen zur Allgeschichte Homers und zu der des Christentums, indem auch sie ein elaboriertes Weltbild präsentiere, 52 gleichzeitig aber bestehe doch ein deutlicher Unterschied. Schapp erklärt in seinem Manuskript, dass für »die Inder« die Welt, wie auch die Geschichten, die Allgeschichte und das Verstricktsein, nur »Schein« ist. 53 An anderer Stelle im Manuskript spricht Schapp von der »Nichtigkeit« der Welt bei den Indern und sieht Ähnlichkeiten zur »Nichtigkeit« der Welt im Christentum. Die christliche Welt sei aber »bittere Wirklichkeit«, während die indische Welt eben nur noch »Schein« sei. 54 In seinen Ausführungen zur Allgeschichte bestätigt sich wieder, dass Schapp mit den Begriffen »Schein« und »Nichtigkeit« operiert, um die indische Welt in ihrer Unterschiedlichkeit (u. a. zum Christentum) zu beschreiben. Beide Begriffe haben aber eine unterschiedliche Konnotation (s. o.) und angesichts der Bedeutung, die Schapp dem Alltag(shandeln) und dem Verstricktsein in Geschichten auch in der Bhagavadgita zugesteht, ist, wie ich bereits ausgeführt habe, der Begriff »Schein« irreführend. Zuletzt ist Wilhelm Schapps Frage nach dem Sachverhalt in der Bhagavadgita zu klären. Auch hier bieten wieder die homerische Dichtung und Zeit den Bezugsrahmen. Schapp bezeichnet seine Philosophie der Geschichten als vierte Revolution des Denkens. Er bezieht sich damit auf Kant, der von drei Revolutionen spricht: die Begründung der Mathematik bei den Griechen, die Begründung der Naturwissenschaft (u. a. durch Francis Bacon) und die Begründung 52 Schapp schreibt in Bezug auf die Dichtung der Bhagavadgita: »In diese kleine menschliche Geschichte hat der Dichter nun das ganze Weltall und mehr als das ganze Weltall, Himmel, Erde und Hölle und mehr als Himmel, Erde und Hölle, das Denkbare und das Undenkbare, das Sein und das Nichtsein und die Vereinigung beider hineingebannt.« (Ebd., S. 274.) 53 Vgl. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 139 f. [Seitenwechsel; S. 494a]. Siehe zu diesem Thema auch Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 278. 54 Vgl. Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 140 [Seitenwechsel; S. 494b].

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der Metaphysik als Wissenschaft. Die Gegenstände dieser drei Wissenschaftsfelder sind »Sachen, Sachverhalte, Sätze, in denen wenigstens auf den ersten Blick von uns selbst nichts vorkommt.« 55 Diese Sachen haben kein Selbst, schreibt Schapp, und um sich diesem Selbst zu nähern, müsse man dies über Geschichten tun, nicht über die Wissenschaften. Nur in den Geschichten sind wir als Menschen nicht »blutleere gespenstige Beziehungspunkte, die Sachverhalte intendieren, sondern in Geschichten verstrickte Helden, Könige, Ritter, Priester, Seher, Heilige, Propheten, Dichter oder jemand aus dem Volke« 56. Die Welt Homers ist (noch) eine Welt der Geschichten und man kann und muss sich dieser Welt über Geschichten nähern, da es in dieser Welt keine Sachen oder Sachverhalte außerhalb dieser Geschichten und den darin Verstrickten gibt. Erde, Wasser und Himmel, Winde und Feuer, all das steht in engsten Beziehungen zu Gottheiten – »sei es als Leib des Gottes, sei es als Reich oder Werkzeug des Gottes.« 57 Ohne Götter oder Menschen wäre die Welt nicht oder nichts, sie wäre ohne Sein. Folgen wir Schapp, so ist Griechenland allerdings auch der Ort, an dem die Geschichten und die Menschen in ihren Verstrickungen unwichtig werden und eine Welt aufgebaut wird, die nur noch aus Sachverhalten besteht. Für die ionischen Philosophen des 5. Jh. (Thales, Anaximander und Anaximenes) sind Himmel, Sterne, Feuer etc. Naturphänomene, die man von außen beobachten, deren Entstehung man erklären kann. Diese Welt ohne Götter und Menschen »ist sich selbst genug«, sie ist Gegenstand der Erkenntnis. Damit aber sei das Verhältnis von Mensch und Welt auf eine neue Grundlage gestellt, schreibt Schapp: »Der Mensch ist nicht der in die Weltgeschichten Verstrickte. Der Mensch ist ein Beobachter oder ein Erkennender geworden.« 58 Wilhelm Schapp charakterisiert das »Abendland« als eine Sonderwelt (s. o.), da es seiner Meinung nach allein den Weg von den Geschichten zum Sachverhalt aufgezeigt hat. Er ist überzeugt, dass »die indische und die chinesische Philosophie diesen Sprung […] nicht mitmachen« 59. Dies aber ist zumindest für die indische Philosophie nicht ganz korrekt. Obwohl eine umfassende Wissenschafts-

55 56 57 58 59

Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 25. Ebd., S. 25. Ebd., S. 233. Ebd., S. 238. Zur Erkenntnistheorie s. auch S. 245. Ebd., S. 234.

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Bhagavadgita

geschichte Indiens noch ein Desideratum ist, so gibt es doch genügend Evidenz, dass Indien eine wissenschaftliche Tradition in Mathematik, Physik, Astronomie, Medizin und Linguistik besitzt, deren Anfänge im Kontext der philosophischen Systeme der vedischen Zeit (vor dem 6. Jh. v. u. Z.) zu finden sind. 60 Schapp zieht den Schluss, dass keine Brücke vom Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis des Abendlandes zu dem führt, was in der Bhagavadgita Erkenntnis bedeutet. Dabei übersieht er – wohl aus Unkenntnis –, dass es wie in der abendländischen Tradition auch in Indien Formen philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis gegeben hat und dass beide, hier wie dort, einer philosophisch-religiösen Erkenntnis parallel liefen. Sollte die Brücke, von der Schapp spricht, nicht lieber eine zweigleisige sein, die einerseits die unterschiedlichen wissenschaftlich geprägten Erkenntnisweisen in der Frühzeit Europas bzw. Indiens verbindet, andererseits die religiös geprägten Formen der Erkenntnis, die in Indien beispielsweise in der Bhagavadgita, in der abendländischen Tradition in den jüdischen und christlichen Erlösungsreligionen zu suchen sind? Dann wäre die Scheidung von Priester und Philosoph nicht nur eine abendländische Eigenart, sondern es handelte sich auch aus interkultureller Perspektive in der Tat »nur um zwei Seiten einer Weltdeutung.« 61

Eines der sechs indischen philosophischen Systeme, das Vaisheshika (der Haupttext, das Vaisheshika-sutra, geht mindestens auf das 1. Jh. v. u. Z. zurück) ist im Kern eine naturphilosophische Lehre, die fünf primäre physikalische Substanzen unterscheidet (Erde, Wasser, Feuer, Luft, akasha), die jeweils mit bestimmten Sinnesqualitäten verbunden sind; vier der Substanzen sind auf eine atomare Struktur zurückzuführen. Vaisheshika verband sich mit der philosophischen Schule des Nyaya, die sich mit Logik und Erkenntnistheorie befasste (s. Ganeri, Jonardon: Analytic Philosophy in Early Modern India, in: Zalta, Edward N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Summer 2015 Edition (https://plato.stanford.edu/archives/sum2015/ entries/early-modern-india/). Weiterhin belegen Arbeiten, vor allem die des marxistischen indischen Philosophen Debiprasad Chattopadhyaya, dass es eine Tradition materialistischen bzw. naturalistischen Denkens in Indien gab, die bereits in vedischen Texten zu finden ist, aber sich erst im 6.–7. Jh. u. Z. als eine philosophische Schule mit dem Namen Lokayata / Charvaka etablierte; siehe Turner-Lauck Wernicki, Abigail: Lokayata / Carvaka: Indian Materialism, in: Internet Encyclopedia of Philosophy (http://www.iep.utm.edu/indmat/#SH5a); Chattopadhyaya, Debiprasad: Lokayata: A Study in Ancient Materialism, New Delhi 1978. 61 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 281. 60

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Literatur: Chattopadhyaya, Debiprasad: Lokayata: A Study in Ancient Materialism, New Delhi 1978. Fuchs, Martin: Self-affirmation, Self-transcendence and the Relationality of Selves: The Social Embedment of Individualisation in Bhakti, in: Fuchs, Martin et al. (Hgg.): Religious Individualisation: Historical Dimensions and Comparative Perspectives, Berlin 2019, S. 257–288. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode I. Grundzüge einer Philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. Ganeri, Jonardon: Analytic Philosophy in Early Modern India, in: Zalta, Edward N. (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Summer 2015 Edition (https://plato.stanford.edu/archives/sum2015/entries/ early-modern-india/). Hawley, John Stratton: A Storm of Songs. India and the Idea of the Bhakti Movement, Cambridge (Mass.) 2015. Malinar, Angelika: The Bhagavadgita. Doctrines and Contexts, Cambrige 2007. Radhakrishnan, Sarvepalli: Die Bhagadvagita: Sanskrittext mit Einleitung und Kommentar. Mit dem indischen Urtext verglichen und ins Deutsche übersetzt von Siegfried Lienhardt, Wiesbaden 1958. Pechilis, Karen: Bhakti traditions, in: Frazier, Jessica (Hg.): The Continuum Companion to Hindu Studies, London 2011, S. 107–122. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt: Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I–III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München, 2016–2018. Turner-Lauck Wernicki, Abigail: Lokayata / Carvaka: Indian Materialism, in: Internet Encyclopedia of Philosophy (http://www.iep.utm.edu/indmat/ #SH5a). Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II. Hinduismus und Buddhismus, Tübingen 61978.

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Sprache und Sprechen – Ausdruck und Bedeutung Andreas Hütig

1.

Zu Inhalt und Begrifflichkeit

Für eine Philosophie der Geschichten liegt die intensive Befassung mit dem Themenkomplex Sprache und Sprechen nicht nur nahe, sie ist nachgerade gefordert: Geschichten vollziehen sich im landläufigen Verständnis im Medium der Sprache, wir sprechen, wenn und indem wir Geschichten erzählen und uns auf Geschichten in einem übergeordneten Sinne beziehen. Zu Recht werden daher etwa von Nicole Thiemer Bezüge von der Geschichtenphilosophie Schapps zur hermeneutischen Tradition gezogen, in der die Sprache als »universale[s] Medium«1 eine zentrale Rolle spielt. Trotz dieser Nähe ist es aber wohl wichtig, darauf hinzuweisen, dass in Schapps Geschichtenphilosophie die Geschichte mehr und anderes als eine Erzählung meint: »Die Geschichten sind […] nicht aus Sätzen und aus Worten zusammengesetzt.« 2 Stefanie Haas betont zu Recht: »Den Erzählungen gehen notwendig die Geschichten im eigentlichen Sinne voraus […].« 3 Thiemer, Nicole: Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps und der Universalitätsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. B./München 2010, S. 142–158, hier: S. 153. 2 Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015, S. 311. Vgl. auch die Ausführungen zum Verhältnis von Erzählung und Geschichte in Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, 2. Abschnitt, Kap. 9: Neuer Versuch zum Erzählen und Hören, S. 117–119. 3 Haas, Stefanie: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten, in: Joisten: Das Denken Wilhelm Schapps, S. 86–101, hier: S. 94. Haas referiert (S. 96) zustimmend Odo Marquards Darstellung der Geschichtenphilosophie, die eine notwendige Verknüpfung der Geschichten im Sinne Schapps mit dem Erzählt-werden-müssen enthält; vgl. Marquard, Odo: Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004, S. 45–56. Mir scheint jedoch diese Notwendigkeit aus der 1

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Dennoch sind die Sprache und das Sprechen natürlich systematisch wie in Schapps Werk wichtige Themen der Geschichtenphilosophie. Schapp behandelt dann auch im vierten Teil der Philosophie der Geschichten unter dem Titel Das Wort und die Geschichte Fragen des Sprechens und Schweigens, der Sprache und des Hörens sowie weitere Aspekte aus dem Themenbereich. 4 Die thematisch anschließenden bzw. vorbereitenden nachgelassenen Texte bestehen v. a. in einem längeren zusammenhängenden Text aus dem August 1955, der mit Ausdruck und Bedeutung überschrieben ist. 5 Hinzu kommt ein etwas kürzerer Abschnitt vom September 1955 zur wissenschaftlichen Sprachtheorie 6 sowie weitere Passagen vom Dezember 1953 (Neuer Versuch über Sprache 7) und vom Juli 1955 (Die Überschrift 8). Diese erweitern und variieren die Themen aus den veröffentlichten Schriften, akzentuieren einzelne Aspekte deutlicher. Der umfangreichste Text hebt an mit einer erneuten Aufnahme der von Schapp in veröffentlichten Schriften mehrfach 9 umkreisten Frage, in welchem Verhältnis eine Überschrift zur Geschichte, ein Eigenname zum Menschen oder ein Ausdruck (hier verstanden als Benennung/Bezeichnung eines Wozudinges) zu eben diesem Ding steht. Steht in der Philosophie der Geschichten die Zeitbezogenheit der Überschriften über Geschichten (Eigennamen, Bezeichnungen) und damit die Verbindung zum erzählenden bzw. zum historischen Aspekt der in ihnen aufgehobenen Geschichten im Vordergrund – so etwa im Abschnitt Das Wort und die Zeit 10 –, so ergänzen die Nachlasstexte dieses Thema auf spezifische Weise und lassen stärker sprachphilosophische Seiten hervortreten. Drei Aspekte sind besongenannten Differenz zwischen Geschichte und Erzählung nicht so stark zu sein, auch wenn es natürlich eine enge Verbindung zwischen beiden gibt. 4 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 285–343. 5 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. B./München 2018, S. 21–36 [Seitenwechsel; S. 609–627]. 6 Ebd., S. 54–57 [Seitenwechsel; S. 651–653]. 7 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, erscheint Freiburg i. B./München 2016, S. 174–181 [Seitenwechsel; S. 170–179]. 8 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. B./München 2017, S. 194–199 [Seitenwechsel; S. 554–560]. 9 So etwa in Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 297 ff., S. 310 ff. 10 Ebd., S. 288 ff.

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Sprache und Sprechen – Ausdruck und Bedeutung

ders hervorzuheben: erstens der »Extrakt« 11-Charakter dieser Bezeichnungen, zweitens die auch bei Wozudingen festzustellende Bezogenheit auf die Geschichten der Menschen sowie drittens das Verhältnis von Einzelding zu der Geschichte gleichartiger Dinge inklusive Vorläufer und Nachfolger. Sie werden in den einleitenden Passagen heraus gestellt: Zum einen durch die explizite Wiederaufnahme der Überlegungen zu Überschrift und Eigenname und deren Ausweitung auf die Wozudinge, zum zweiten durch eben jenen Ausdruck »Wozudinge« 12, die darin mitschwingende Verwobenheit in den Zusammenhang mit ihrer Verwendung und die Betonung, dass das »letzte Verständnis« 13 der Wozudinge nur mit Rekurs auf die bzw. innerhalb der Geschichten der Menschen möglich ist. In Bezug auf den dritten Aspekt betont Schapp, dass »der Horizont, die Geschichte« 14 das tragende Moment der Wahrnehmungen der Dinge ist, so dass diese immer nur als Element einer Serie, als Vorkommnis eines Typs erfahrbar ist. Wahrnehmung selbst von Einzeldingen steht demnach nie für sich allein, sondern ist immer verwoben mit Reihen gleichartiger Instanziierungen desselben Typs und Exemplifikationen ähnlicher, historisch früherer oder späterer Varianten des Typs: Das Einzelstück ist Teil einer Serie, die Serie selbst ist in der »Folge der Serien« 15 verortet. Vorrangiges Ziel der Reflexionen ist dann die Klärung der eigentümlichen Leistung der Bezugnahme auf die Geschichte, die Schapp zufolge im Ausdruck vonstattengeht. Indem die klassische Ansicht, es gebe zu einem Ausdruck eine darunter liegende Bedeutung, die Sinn verleiht, als »unverständlich und leichthin« 16, zugleich aber als »einfach und bequem« 17 kritisiert wird, führt Schapp Überlegungen aus In Geschichten verstrickt und den Nachlassnotizen vom Dezember

»Die Überschrift vertritt nicht die ganze Geschichte, sondern die ganze Geschichte ist damit leiblich vorhanden in einem letzten Extrakt, was natürlich auch wenig besagt.« (Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 195 f. [Seitenwechsel; S. 556].) 12 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 11 ff., sowie ders.: Philosophie der Geschichten, S. 245 ff. 13 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 21 [Seitenwechsel; S. 609]. 14 Ebd., S. 22 [Seitenwechsel; S. 610]. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 24 [Seitenwechsel; S. 612]. 17 Ebd., S. 25 [Seitenwechsel; S. 613]. 11

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1953 18 fort, in denen nach dem Subjekt einer Aussage gefragt wird: So wie die Redeweise von einem Subjekt (als Übersetzung des to hypokeimenon der Grammatik) verkürzt ist und zu suggerieren scheint, dass es etwas gebe, das zuerst existiere und von dem dann etwas ausgesagt werde, so ist der Ausdruck nicht auf etwas Vorgängiges, Unabhängiges bezogen, sondern benennt etwas als Gegenstand einer Geschichte. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass wiederum Gegenstand hier nicht etwas außerhalb oder vor der Geschichte Existierendes meint, sondern dass sich das Benannte erst in der Geschichte, als die Geschichte und als in die Geschichten Verstricktes konstituiert. »Man könnte fast sagen, es wäre schön, wenn es etwas wie Bedeutung und Begriff gäbe«, 19 so die stoßseufzerartig anmutende Formulierung – denn dann ließe sich auch die Bezugnahme auf und das Formulieren von Überschriften leicht verstehen und auch praktizieren. Doch so einfach ist es in Schapps Sicht eben nicht, stellen Überschrift, Name, Bezeichnung doch hochgradig intensivierte Verdichtungen ganzer Geschichten (oder zumindest der überschauten Teilbereiche) dar. Deshalb kann sich Schapp auch gegen den Vorwurf verwahren, er identifiziere den Begriff mit dem Gegenstand und mache damit das zutiefst menschliche Phänomen der Sprachverwendung zu nicht mehr als einem »Hauch der Stimme« 20, also zu einem bloßen Epiphänomen. Vielmehr ist in seiner Sicht die spezifische Leistung einer treffenden Überschrift gerade das Auf-den-Begriff-Bringen der Geschichte und damit die Intensivierung, Verdichtung, Konkretion in der Abstraktion der kurzen, treffenden Formulierung. 21 Eine spezifische Wendung der Überlegungen Schapps im Nachlass bezieht sich dann jedoch auf die lebensweltliche Verankerung der Geschichten. »Die Geschichte des Schiffes in unserem Sinn ist keine Geschichte der Schiffsform und Materialien, nicht eine Geschichte der Ruderkunst, der Segelkunst, der Dampfmaschine, sondern eine Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 179 f. [Seitenwechsel; S. 177 f.]. 19 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 24 f. [Seitenwechsel; S. 613]. 20 Ebd., S. 25 f. [Seitenwechsel; S. 614]. 21 In dieser Hinsicht kann Schapp schreiben: »Nach unserer Ansicht ist, allerdings auch nur in gewissem Sinne, das Sein die umfassendste Überschrift, die Überschrift über das All der Geschichte […]. Wenn man das Sein so auffassen könnte, so wäre es zugleich das Konkreteste, was es geben kann.« (Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 311.) 18

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Sprache und Sprechen – Ausdruck und Bedeutung

Entfaltung des: »Ich muß hinüber«. Ohne diesen Spruch trifft man nichts vom Schiff, ist das Schiff etwas Totes.« 22 Anders gewendet: Geschichten sind nur dann lebendig, wenn die Verstricktheit des Ausdrucks in eine menschliche Geschichte mitgedacht wird, anklingt, erfahrbar ist. Eine Reduktion etwa im neutralen, verobjektivierenden Blick der Wissenschaft – und sei es der kulturhistorischen – zerstört dieses lebendige Verwobensein und verfehlt dadurch den eigentlichen Sinn der Bezeichnung. Schapp benutzt eine Anspielung auf den Vers aus dem ersten Standlied des Chores aus Sophokles’ Antigone zur Verdeutlichung: dass nichts gewaltiger ist als der Mensch, zeigt sich auch darin, dass alles, was als Wozuding ist, nur in der Verstricktheit in menschliche Geschichten lebendig ist. Schapps Formulierungen sind hier recht drastisch: Ohne Geschichten sind die Dinge nicht einmal quantitativ zu erfassen, bloß additiv zu gruppieren, sondern sie sind regelrecht tot: die Schiffe des Beispiels sind nicht nur keine Flotte, sondern sie sind »Gespenster, nur ein Friedhof von Schiffen«. 23 Nur die Verankerung in einer Geschichte oder in Geschichten vermag »das Eigentliche des Schiffes« 24 zu erfassen. Zergliederung, Verobjektivierung und bloß enumerative Aneinanderreihung oder Ordnung im Nebeneinander verfehlen dieses Eigentliche und werden weder den Dingen und den in ihnen aufscheinenden Geschichten gerecht noch vermögen sie etwas über menschliche Verstricktheiten bzw. Geschichte zu erfassen. Diese Bezogenheit auf lebendige Geschichten zeigt sich dann umgekehrt auch darin, dass eine Analyse der Sprache und ihrer Funktionsweisen und Bedeutungen gerade nicht durch die isolierende Betrachtung einzelner Elemente möglich ist, sondern nur dadurch, dass sie im lebendigen Vollzug, in den Geschichten aufgesucht und untersucht wird. 25 Methodisch führt Schapp dies dergestalt weiter, dass er den nahe liegenden Einwand, Sprachverwendung etwa im Alltag funktioniere nicht so »umständlich« 26 wie von ihm beschrieben, also auf die Art, dass Ausdrücke stets mit Rekurs auf ihre Geschichte(n) präsent sein müssten, durch eben den Verweis auf lebendige Geschichten entkräftet. Nur indem diese untersucht werden, kann die Funktion von 22 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 25 f. [Seitenwechsel; S. 614]. 23 Ebd., S. 26 [Seitenwechsel; S. 615]. 24 Ebd. 25 Ähnlich Thiemer: Das »stille Sprechen«, S. 147. 26 Ebd.

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Ausdrücken tatsächlich erhellt werden. Die isolierende Betrachtung verfehlt, so ließe sich bilanzieren, nicht nur das Eigentliche der Wozudinge, es verleitet auch dazu, die ganze Fülle des menschlichen Verstricktseins in Geschichten auszublenden und dadurch zu elementaren Fehldeutungen dieses menschlichen Grundphänomens zu kommen. Von hier aus erklärt sich auch der Rückgriff auf die Literatur, den Schapp häufig zur Illustration und Verdeutlichung vollzieht: Hier finden wir bereits lebendige, im Ganzen zu überschauende Geschichten. Sie haben schon eine Überschrift, die vor allem dann passend ist, wenn die Geschichte – zumindest vorläufig – abgeschlossen ist; für die Geschichten der menschlichen Welt gilt dagegen: »die Überschrift kann wechseln« 27, wenn sich im Laufe des Erlebens eine andere Perspektive auf das Erlebte ergibt. Dennoch gilt auch hier: »die vollste Erfüllung der Überschrift« ist »das Erleben der Geschichte […], die schon ihre Überschrift hat, bevor sie vollendet ist«. 28 Schapp stellt diese Überlegung in einer Passage an, der er zuschreibt, seine Stellung zur Phänomenologie erneut klären zu können – seine Nähe ebenso wie seine Distanz. 29 Im spezifischen Kontext des hier thematischen Komplexes scheint dies wohl zu bedeuten, dass das Verhältnis von Überschrift und Geschichte einerseits Parallelen zu dem von Intentio und Erfüllung hat – husserlianisch gesprochen: »keine Partialintention ist mehr impliziert, die ihrer Erfüllung ermangelte.« 30 Die Überschrift enthält also alle die Hinsichten, die die volle Geschichte erfahrbar macht – und allein sie erfahrbar macht. Andererseits ist Schapp ja überzeugt, dass eine Phänomenologie à la Husserl wegen ihres Ausgangs von Gegenständen und deren Erkenntnis das Erleben und das Verstricktsein in Geschichten reduziert bzw. verfehlt. Schapp sieht klar, dass letztlich für die ganze philosophische Tradition gilt: der Ausgang vom Menschen als dem in Geschichten Verstrickten ist mehr als bloß der Aufweis einer Lücke. Es handelt sich Ebd., S. 27 f. [Seitenwechsel; S. 617]. Ebd., S. 28 f. [Seitenwechsel; S. 618]. 29 Zur Frage nach einer genuinen Phänomenologie bei Schapp bzw. zum Verhältnis von Phänomenologie und Geschichtenphilosophie vgl. aus der Zahl der Beiträge etwa die Schlussbemerkungen bei Vetter, Helmut: Welt der Geschichten – Wilhelm Schapp, in: Pöltner, Günther und Wiesbauer, Martin (Hgg.): »Welten« – Zur Welt als Phänomen, Frankfurt a. M. 2008, S. 97–111. Siehe auch den Beitrag von Susann Gottlöber in diesem Band. 30 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen II/2, hg. v. Leopold Zechnal, Tübingen 1968, S. 118; zitiert nach Vetter: Welt der Geschichten, S. 111. 27 28

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um eine komplette Neuausrichtung des Philosophierens. Recht eigentlich – und drastisch formuliert – bedeutet es, die Vorgänger »aus ihren Sesseln [zu] zerren« 31. Selbst durch dialogische Versuche, den Grundgedanken mit anderen Systemen und Ansätzen ins Gespräch zu bringen, sieht Schapp »Konzessionen […] auf Kosten unseres Gesamtvorhabens« 32 als drohende Gefahr bzw. als um des Gesprächs willen einzugehenden Aufschub des eigenen Anliegens. Durchaus selbstironisch schreibt er, dass dies aber nicht zu schlimm wäre, »da wir durchaus keine Eile haben, Welträtsel zu lösen« 33. Der Vorwurf einer »Geschichtenvergessenheit« 34 der abendländischen Philosophie ist aber hier deutlich zu spüren. Weitere Ausführungen befassen sich dann, den eigenen methodischen Vorgaben folgend, mit den Vorkommensweisen der Namen »im lebendigen Sprechen« 35. Dabei ist abseits der verschiedenen thematisierten Funktionen – Namen verschiedener Herkunft, bekannte und unbekannte Namen etc. – zweierlei festzuhalten: Zum einen wird erneut bekräftigt, dass und warum die Analyse der lebendigen Geschichten so wichtig ist: Bei einer zu engen Anlehnung an traditionelle Wissensbestände – Schapp zieht es vor, »besser von Kennen als von Wissen« 36 zu sprechen – ist die Gefahr gegeben, die Überschrift und andere Elemente »zu versteinern« 37. Dies lässt sich dem oben erwähnten Tod der Wozudinge bei Nichtbeachtung ihrer Verwobenheit in Geschichten beiseite stellen. Zum andern ist zu betonen, dass die Vorkommensweisen und Funktionen des Namens – die in der Folge im Zentrum stehen – nie erschöpfend behandelt werden können. Die Geschichten sind, so ist das wohl zu verstehen, in ihrer Lebendigkeit der Analyse immer voraus und letztlich der diese tragende Grund. Schapp umkreist in allen Ausführungen zu den Funktionen der Namen und der Überschrift dieses Ungenügen nicht nur der philosophischen Analyse, sondern auch wohl der deutenden Besinnung 31 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 30 f. [Seitenwechsel; S. 620]. 32 Ebd., S. 30 f. [Seitenwechsel; S. 620]. 33 Ebd. 34 Eichler, Klaus-Dieter: Wilhelm Schapps narrative Ontologie. Eine Problematisierung seiner Geschichtsphilosophie, in: Joisten: Das Denken Wilhelm Schapps, S. 102– 125, hier: S. 105. 35 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 31 f. [Seitenwechsel; S. 622]. 36 Ebd., S. 32 f. [Seitenwechsel; S. 623]. 37 Ebd., S. 31 f. [Seitenwechsel; S. 622].

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auf eine erlebte Geschichte: eines ist es, die Geschichte als Verstrickter zu erleben, ein anderes, sie nach »Art einer Überschrift« 38 zu erleben, d. h. in zwar lebendiger, gleichwohl kondensierter, extrahierter oder wie auch immer verdichteter Form. Im Leben als dem in Geschichten Verstrickten ist immer mehr Latentes, »Aktivierbares« 39 – aber eben nicht zwingend Aktiviertes – vorhanden, als wir auch in der geduldigsten und vorsichtigsten Deutung fassen können. Selbst die entwickelte Geschichtenphilosophie kann letztlich nur »Deutungen von Geschichten« 40 vorbringen, Vorschläge zu einem geschichtenphilosophisch grundierten Selbstverständnis des Menschen als des in Geschichten Verstrickten. Sowohl die Unausschöpflichkeit des erfüllten Lebens als auch die Begrenztheit der Besinnung auf dieses stehen in Zusammenhang mit dem Widerfahrnischarakter der Verstricktheit, die ja eher zustößt als dass sie ein aktives Agieren des Subjekts umfasst. 41 So gilt: »die Geschichte tauft sich selbst, hebt sich selbst aus der Taufe« 42 – ein Name, eine Überschrift mag in der Geschichte auftauchen, »noch während sie weiterrollt« 43. Auch wenn Sprache also das Medium ist, in dem die Verstricktheit in Geschichten am klarsten hervortritt, ist das menschliche Sprechen bei aller Wichtigkeit den Geschichten selbst nachgeordnet. Die in dem zweiten, kürzeren Abschnitt aus dem September 1955 kursorisch referierten zeitgenössischen Positionen aus Sprachwissenschaft und (Lebens-)Philosophie, vorrangig die von Bühler und Klages, lassen sich gleichfalls in diesen Kontext stellen. Schapp bezieht Bühlers Sprachfunktionen – er nennt sie Äußerung, Einwirkung und Sachbezogenheit, während Bühler selbst hauptsächlich von Ausdruck, Appell und Darstellung spricht 44 – auf sein eigenes Sprachverständnis und sieht deutliche Parallelen. Allerdings stellt er knapp und wohl zutreffend heraus, dass es sich um ganz verschiedene Ebd., S. 34 f. [Seitenwechsel; S. 626]. Ebd., S. 33 f. [Seitenwechsel; S. 624]. 40 Ebd., S. 30 f. [Seitenwechsel; S. 620]. 41 Siehe ähnlich u. a. Vetter: Welt der Geschichten, S. 108; Klaus-Dieter Eichler: Schapps narrative Ontologie, S. 110. 42 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 35 f. [Seitenwechsel; S. 627]. 43 Ebd. 44 Vgl. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934, S. 28 ff. 38 39

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»Behandlungsweise[n]« 45 handelt: wo Bühler in der Sprache ein Organon sieht – sicher nur unzureichend mit Werkzeug zu übersetzen –, versteht Schapp Sprache in einem anderen, grundlegenderen Sinn: zwar sieht er die Berechtigung, konkrete Sprechakte und Sprachfunktionen mit Bühlers Modell zu beschreiben und voneinander abzugrenzen. Die entscheidende Frage ist aber: »Ist der Mensch das Aktzentrum oder der in Geschichten Verstrickte?« 46 Die Funktionen der Sprache sind für Schapp solche nur innerhalb von lebendigen Geschichten – »Befehlen, Bitten, Wünschen ist alles nur etwas in Geschichten« 47 – und können deshalb auch nur innerhalb einer Deutung des Verstricktseins in Geschichten erhellt werden, so Schapp mit Blick für den Unterschied ums Ganze. Weniger eindeutig fällt die Abgrenzung zu Klages aus. Schapp betont, dass es eine Auseinandersetzung mit dessen Lehre über Geist und Seele fordern würde, wollte er sich hier positionieren. Die Bemerkung, dass Leib und Seele in Klages’ Sinne in Schapps Überlegungen von der Verstricktheit in Geschichten »keinen Platz, wenigstens keinen beherrschenden Platz« 48 hätten, dürfte aber wohl zutreffend sein. Es ließe sich vermuten, dass Schapp den für Klages fundamentalen Gegensatz zwischen Seele und Geist und die Einheit von Leib und Seele durchaus als fruchtbare Lehrstücke ansehen könnte, dass aber diese Überlegungen für Schapp nur innerhalb von Geschichten bzw. für den Menschen als den in Geschichten Verstrickten – und damit auf seinen eigenen Ansatz hin bezogen – Bedeutung hätten gewinnen können.

2.

Kommentar

Mit den Ausführungen zu Ausdruck und Bedeutung scheint sich Schapp in virulente Debatten der Sprachtheorie und Sprachphilosophie einzuschreiben. In ganz unterschiedlicher Weise haben – um nur einige prominentere zu nennen – Frege, Cassirer, Wittgenstein oder auch Heidegger bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den

45 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 54 f. [Seitenwechsel; S. 651]. 46 Ebd., S. 56 f. [Seitenwechsel; S. 653]. 47 Ebd. 48 Ebd.

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Themenbereich der Sprache bearbeitet, von den empirisch oder psychologisch arbeitenden Wissenschaftlern jener Zeit zu schweigen. Schapps Ausführungen zum Thema sind jedoch, wie vermutlich nicht anders zu erwarten, von einer grundsätzlichen Haltung geprägt: alle Phänomene, die mit Sprache und Sprechen zu tun haben, lassen sich ihm zufolge nur verstehen, wenn sie vor dem Hintergrund der Geschichtenphilosophie betrachtet werden. Dadurch werden aber die positiven Gehalte des Nachdenkens über Sprache nicht nur zu einer bloß innersystemischen Angelegenheit. Es ist vielmehr nicht wirklich zu sehen, wie jenseits einer weiteren Ausarbeitung oder auch nur Plausibilisierung der Geschichtenphilosophie Bestimmungsstücke einer diskursiv anschlussfähigen Sprachphilosophie zu gewinnen wären. Dies gilt vielleicht noch am wenigsten für den Komplex, der mit Überschrift, Eigenname und Benennung der Wozudinge umschrieben ist. Schapps Vorstellung einer zunehmenden Intensivierung, Extrahierung, Konkretisierung durch Abstraktion, die in einer kurzen, aus einem Wort oder mehreren bestehenden Kennzeichnung – vielleicht wäre »Inbegriff« noch ein ebenfalls tauglicher Ausdruck gewesen – besteht, wirft Licht auf die Frage nach der Relation zwischen (Allgemein-)Begriff und Sache und erhellt als solches auch die Denkprozesse wie Handlungen der Begriffsbildung und des Zeichengebrauchs überhaupt. Schapp bewegt sich, lässt man die Verbindung zur Geschichtenphilosophie außer Acht, in den für die Zeit durchaus vertrauten Bahnen einer Betonung der lebendigen Sprache, die Weltzugänge formt und von einem Ineinander von Ausdruck und Proposition gekennzeichnet ist. Seine Zurückweisung der zergliedernden, isolierenden – gewissermaßen rein satzanalytischen oder logischen – Analyse der Sprache und seine an Metaphern reichen Warnungen vor dem Herabsinken, Versteinern oder Absterben des Eigentlichen der jeweiligen Geschichte zeugen von einem geschärften Bewusstsein für das, was der verobjektivierten Betrachtungsweise verloren geht. Dennoch lässt sich die angesprochene Grundierung all dieser Überlegungen und Positionierungen auch hier eben nicht außer Acht lassen. Dies liegt nicht nur an den wiederkehrenden Betonungen des geschichtenphilosophischen Hintergrunds durch Schapp selbst, sondern auch in den Positionen selbst: die spezifische Relation zwischen Überschrift und Geschichte, zwischen Eigennamen und Person bzw. zwischen Bezeichnung und Wozuding, um die es Schapp geht, ist ja die zwischen einer sprachlichen Entität und einem Element der Welt 116 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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– aber einer Welt, die aus Geschichten im Sinne Schapps besteht, und also auch auf Elemente, die selbst Geschichten sind. Nicht die ›klassischen‹ Fragen nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und deren Bezugnahme auf Gegenstände spielen also eine Rolle, sondern die nach der Relation zwischen Geschichten unterschiedlichen Typs und deren Kennzeichnungen, die durch die beschriebenen Intensivierungen und Verdichtungen entstehen. Diese spezifische Frage ist zwar in gewisser Weise strukturanalog zu den vorgenannten sprachphilosophischen Problemen, sie hat aber mit Blick auf die Relata der Beziehung eine Besonderheit: in der bezugnehmenden Relation, etwa zwischen Überschrift und Geschichte, wird ein sprachlicher Ausdruck auf eine Geschichte bezogen. Nun sind die Geschichten in Schapps Sinn ja keineswegs mit Erzählungen gleich zu setzen, wie oben betont wurde. Dennoch ist zu fragen, was es bedeutet, wenn dergestalt sprachliche Ausdrücke auf Entitäten bezogen werden, die nie in Gänze erfasst werden können, die dem Menschen allenfalls in Deutungen zugänglich sind und die sich im Raum der Sprache entfalten, aber nicht darin aufgehen. Wenn Schapp überdies beansprucht, dass die treffende Überschrift »das Eigentliche« 49 des Gegenstandes erfasst, so ist – bei aller Betonung, dass auch mehrere verschiedene Überschriften zur selben Geschichte möglich sind 50 – dadurch doch ein seltsames Verhältnis ausgesprochen: Einerseits besteht der Anspruch auf Erfassen wesentlicher Züge der Geschichte, andererseits sind alle Geschichten mehr und anderes als ihre Überschriften. Bei Schapp wird diese Spannung durch das Betonen des Vollzugscharakters des Lebens in Geschichten – besser des Verstricktseins in Geschichten – aufgelöst: Für den in Geschichten verstrickten Menschen ist der Umgang mit Überschriften nur eine weitere Art des Verstricktseins in eine andere Ge-

Ebd., S. 26 [Seitenwechsel; S. 615]. Vgl. ebd. – in interpretativer Hinsicht scheint es einigermaßen fraglich, ob eine Geschichte, die einmal diese und ein anderes Mal eine andere Überschrift dergestalt erhält, dass in beiden das Eigentliche getroffen wird, wirklich im strengen Sinne dieselbe Geschichte sein kann. Systematisch ähnelt diese Frage der Debatte um die extensionale Identität verschiedener Weltversionen etwa zwischen Nelson Goodman und Willard Van Orman Quine, auch wenn diese natürlich unter ganz anderen paradigmatischen Voraussetzungen stattfand und systematisch etwas weiter ausgreift. Vgl. dazu etwa Schneider, Hans Julius: Welche Welt ist wirklich?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008), Heft 6, S. 991–993.

49 50

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schichte. Über die Funktionen sprachlicher Bezugnahme und Spezifika der menschlichen Sprache ist so eher wenig zu erfahren. 51 Natürlich ist es müßig, dies der so spezifisch ausgerichteten Perspektive Schapps vorzuwerfen – der Ausgang von den Geschichten, in die wir verstrickt sind, eröffnet nun einmal ganz besondere Hinblicke auf die Angelegenheiten der menschlichen Welt. Dennoch wird, so ließe sich sagen, die Spezifik menschlicher Sprache einerseits verschliffen, andererseits aber gerade doch als bevorzugter Raum, in dem sich Geschichten entfalten, in Anspruch genommen. Es ist doch gar nicht nachvollziehbar, was es bedeutet, in Geschichten verstrickt zu sein, wenn wir nicht bereits einen etwa lebensweltlichen Zugriff auf das, was eine Geschichte ist, hätten. Dies würde aber wohl voraussetzen, dass dem menschlichen Sprechen – und damit dem Erzählen – eine methodische Priorität zugesprochen würde: nur weil der Mensch ein »Ausdruckswesen« 52 ist und mit dieser Ausdrucksdimension etwas Neues in die Welt kommt, ist diese als Welt der Geschichten überhaupt zugänglich. Für Schapp hingegen ist das die falsche Blickrichtung: »es läßt sich nicht einmal sagen, was Sprache ohne zugrunde liegende Geschichte noch sein sollte.« 53 Es handelt sich dabei wohl um eine sowohl methodologische als auch ontologische Vorentscheidung, der zu folgen ist, wenn Schapps Position rekonstruiert werden soll. Ob sie auch in systematischer Hinsicht Erhellendes erzeugen kann, müsste durch einen Vergleich der Erklärungsleistungen oder der Konsequenzen für ein jeweiliges Selbstverständnis des Menschen heraus gearbeitet werden. Ein zweiter Aspekt steht mit diesem in enger Verbindung und kann für den zuletzt angesprochenen Vergleich stehen: der Umgang mit Traditionen und der »Vergangenheit, die der Entwicklung ent-

Durchaus konsequent werden Tierlaute dann auch als in diejenigen Geschichten verwoben bezeichnet, in die Tiere verstrickt sind und »zu denen wir […] lediglich als Mitverstrickte einen gewissen Zugang haben.« (Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 56 f. [Seitenwechsel; S. 653].) 52 So Schwemmer, Oswald: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, S. 30, im Rückgriff auf Ernst Cassirer, der in seinen Grundlegungen mehrfach betont, dass die »elementare Ausdrucksbewegung […] eine erste Grenzscheide der geistigen Entwicklung« (Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Gesammelte Werke Bd. 11, Hamburg 2001, S. 125) bildet. 53 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 276. 51

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spricht« 54. Für Schapp wird gerade in der Besinnung auf die in den Überschriften, Eigennamen und Bezeichnungen aufgehobene Geschichte, im Vortragen der »Deutungen zu Geschichten« 55 die »Gemeinschaft der Vorfahren und der Enkel« 56 erfahrbar, weil »das Sprechen auf der Brücke von Geschichten weitergegeben wird.« 57 Auch aus dieser Perspektive steht das menschliche Sprechen, stehen Ausdrucksphänomene und Bedeutungen in einer gewissermaßen unselbstständigen Position zum Vorgezeichneten der unabhängig ablaufenden Geschichten, in die wir verstrickt sind. Zwar sind das In-Geschichten-verstrickt-Sein und das Sprechenlernen »gleichursprünglich« 58, ersteres hat aber natürlich systematisch einen Primat. Mit Blick auf Innovation und Erneuerung, gewissermaßen Gegenstücke der Verwobenheit in die Tradition, ergibt sich nun ein eigentümliches Verhältnis: Zwar sind durch kleine Verschiebungen, die sich aufaddieren, so große Veränderungen möglich, dass »Vorfahr und Enkel sich nicht mehr verstehen würden« 59. Diese geschehen aber allenfalls unintentional, kontingenterweise und ohne Einflussmöglichkeiten der in der jeweiligen Gemeinschaft lebenden Menschen, die auch in diese Art Geschichte auf passiv-hörende Art und Weise verstrickt sind. Dass laut-, bedeutungs- und ideengeschichtlicher Wandel auch so ablaufen (können), sei nicht bestritten. Mit Schapps Verständnis der Dominanz der ablaufenden Geschichten ist jedoch kaum verständlich zu machen, wie es zu Wandel, gar zu disruptiven Brüchen in Bedeutungen oder Traditionen kommen kann. Selbst das »aus der Mode kommen« 60 der Wozudinge oder – hochstufiger – das Auftauchen neuer Deutungen ist im Grunde nicht erklärbar, wenn nicht auf entsprechende Hintergrundprozesse in den Geschichten verwiesen wird. 61 Kreativität, selbst Reflexivität gegenüber historischen Abläufen und kulturellen Beständen, ist dann nur Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 21 [Seitenwechsel; S. 609]. 55 Ebd., S. 30 f. [Seitenwechsel; S. 620]. 56 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 276 (im Original in An- und Abführungszeichen). 57 Ebd. 58 Ebd., S. 279. 59 Ebd., S. 276. 60 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie III, S. 22 [Seitenwechsel; S. 610]. 61 Schapps Position ähnelt damit, ohne dies hier ausführen zu können, in einer Weise der unbedingten Einbettung allen kulturellen Lebens in dem menschlichen Zugriff entzogene geschichtliche Hintergrundprozesse, wie sie etwa in der Ritter-Schule kon54

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noch im Modus einer Selbstüberschätzung des Menschen, der glaubt, auf diese Bestände Zugriff haben zu können, denkbar. Wieder gilt: die letztlich ontologische Vorentscheidung, den Menschen als den in Geschichten Verstrickten zu verstehen, ist als solche schwer von einer anderen paradigmatischen Position aus zu kritisieren. Aber es ist darauf zu verweisen, was mit einer solchen Entscheidung verbunden ist – und was verloren geht oder gar nicht in den Blick genommen werden kann.

3.

Perspektiven

Wie lässt sich dessen ungeachtet mit Schapps Überlegungen zur Sprache, in Sonderheit zu Ausdruck und Bedeutung unter Berücksichtigung der bisher vorliegenden nachgelassenen Texte in fruchtbarer Weise umgehen? Methodisch dürfte sein Beharren darauf, das Nachdenken über Sprache und Sprechen nicht auf die zergliedernde Analyse satzförmiger Äußerungen zu reduzieren bzw. zu glauben, in dieser Art der Untersuchung bereits das Entscheidende über den ›Gegenstand‹ finden zu können, zu den Aspekten gehören, mit denen weiter zu philosophieren wäre. Dass es »im lebendigen Sprechen« 62 mehr und anderes zu entdecken gilt, ist ein wichtiger Hinweis für alles philosophische Nachdenken über die Sprache und das Sprechen. Und natürlich ist auch der stete Verweis darauf von Relevanz, dass dieses Sprechen dasjenige des Menschen ist, der in Geschichten verstrickt ist, eine bereichernde Variante noch der vergleichbaren Hinsichten auf Sprache, die in Gebrauchstheorien der Bedeutung eben nicht aufgehen. In diesem Zusammenhang kann auch die Warnung vor dem Absterben der Sprache in der isolierenden Perspektive einer Atomisierung der Worte und Bedeutungen nützlich sein. Die Vorstellung einer von Kontexten, Vorgeschichten und differenzieller Verwobenheit freien Bedeutung ist wohl in der Tat eine leere Abstraktion und kann zu steriler Scholastik führen. Erneut stellt sich hier indes die Frage, inwieweit umgekehrt die Entstehung der Bedeutungszusamzeptionell präsent sind, sowie Heideggers seinsgeschichtlichen Hypostasierungen, denen der Mensch bloß vernehmend gegenüberstehen kann. 62 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, S. 31 f. [Seitenwechsel; S. 622].

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menhänge und -sonderungen, seien sie diachron oder synchron, den Geschichten, dem Sprechen zugeschrieben werden oder als durch ein »Aktzentrum« 63 zumindest mit gesetzt gedacht werden. So bleibt an genuin sprachbezogenen Einsichten der Geschichtenphilosophie Schapps v. a. der Verweis auf die Einbindung der Sprache und des Sprechens in Lebenszusammenhänge, wie immer diese dann konzeptionell gefasst werden, und eine Betonung des nicht-atomaren, immer auf mehr und anderes bezogenen Charakters der bei ihm als Überschriften, Eigennamen und Bezeichnungen gefassten Phänomene von Ausdruck und Bedeutung. Dass diese Einsichten vorrangig auf der Grundlage der Geschichtenphilosophie entwickelt werden, ist angesichts der Wichtigkeit von Sprache und Sprechen für dieselbe wenig überraschend, hat aber ganz offensichtlich große Konsequenzen für die systematische Anschlussfähigkeit der Positionen.

Literatur: Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Gesammelte Werke Bd. 11, Hamburg 2001. Eichler, Klaus-Dieter: Wilhelm Schapps narrative Ontologie. Eine Problematisierung seiner Geschichtsphilosophie, in: Joisten, Karen: Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. B./München 2010, S. 102–125. Haas, Stefanie: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten, in: Joisten, Karen: Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. B./München 2010, S. 86–101. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen II/2, hg. v. Leopold Zechnal, Tübingen 1968. Marquard, Odo: Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004, S. 45–56.

Ebd., S. 56 f. [Seitenwechsel; S. 653]. Um erneut Cassirer zu zitieren, bei dem ein ähnliches Verhältnis von Einzelzeichen und Verweisungszusammenhang, aber eben mit Rekurs auf menschliche Bewusstseinsleistungen zu finden ist: »Es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst, dass in ihm kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne dass schon, eben durch diesen einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird.« (Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen I, S. 28.)

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Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I–III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. B./ München 2016/2017/2018. Schneider, Hans Julius: Welche Welt ist wirklich?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008), Heft 6, S. 991–993. Schwemmer, Oswald: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997. Thiemer, Nicole: Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelms Schapps und der Universalitätsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. B./München 2010, S. 142–158. Vetter, Helmut: Welt der Geschichten – Wilhelm Schapp, in: Pöltner, Günther und Wiesbauer, Martin (Hgg.): »Welten« – Zur Welt als Phänomen, Frankfurt a. M. 2008, S. 97–111.

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Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums. Grundzüge und Gesprächsanlässe Karen Joisten

Wilhelm Schapps Buch Zur Metaphysik des Muttertums, das in den 30er Jahren entstanden und 1965 in Den Haag bei Martinus Nijhoff erschienen ist, 1 nimmt in seinem Werk thematisch, stilistisch und vom Charakter des Vorgehens her eine merkwürdige Sonderstellung ein. 2 So ist es weder seinem frühen Werk verpflichtet, das in der Auseinandersetzung mit dem Denken Edmund Husserls steht und um eigene Antworten zu phänomenologischen Grundfragen ringt (wie z. B. die nach dem angemessenen Erfassen der Wahrnehmung in seiner Dissertation Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung 3), noch lässt es sich seinen rechtsphilosophischen Schriften zuordnen. Am ehesten kann man noch einen Bezug zu seiner sogenannten ›Geschichtentrilogie‹ herstellen, allerdings ist bei einer solchen Bezugnahme auch Vorsicht geboten. 4 Denn eindringlicher als in den drei Büchern seiner Geschichtenphilosophie legt Schapp im Buch über das Muttertum eine persönliche Stellungnahme vor. Ja, als Leserin habe ich den Eindruck, es mit einem Bekenntnis zu Die Beschäftigung Schapps mit den Themenkomplexen des Mutter- und Vatertums, der Liebe und der Liebe Gottes erstreckt sich demnach über Jahrzehnte, wie nicht zuletzt die Nachlassschriften, die in der Reihe Wilhelm Schapp. Werke aus dem Nachlass (hg. von Karen Joisten und Jan Schapp) seit 2016 im Verlag Karl Alber erscheinen, dokumentieren. 2 Der vorliegende Beitrag ist bereits erschienen in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 172–189. Er wurde ergänzt und modifiziert mit Hilfe von Schapps weiteren Ausführungen in seinen nachgelassenen Schriften. In diesen fokussiert er sich: 1. Auf das Kind und die Welt, wie sie sich langsam mit ihm bildet. 2. Auf den Leib des Kindes und dessen Bezüge zur Seele. 3. Auf die Beziehungen des Kindes zur Mutter, zum Vater und den Geschwistern. 3 Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 52013. 4 Vgl. etwa Schapps Ausführungen in In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 196 ff. 1

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tun zu haben, das sich durch Schapp hindurch Bahn bricht. Es verwundert daher nicht, im Klappentext vom Verfasser folgende Auskunft zu erhalten: »Das Buch über das Muttertum nimmt eine besondere Stellung ein. Man kann es nicht phänomenologisch nennen, es fällt auch nicht direkt unter die Philosophie der Geschichten. Es ist aus einer Stimmung heraus geschrieben, man kann vielleicht auch sagen, aus einer Urgewalt, die sich des Philosophen bemächtigt, und in deren Dienst sich der Philosoph bedingungslos stellt.« 5

Diese Selbstauskunft Schapps ist keine Nebensache. Nimmt man sie ernst, wird durch sie der Text nämlich zu einer wörtlich zu verstehenden inspirierten Botschaft, bei dem der sogenannte Autor sich in einen Mittler verwandelt, durch den hindurch sich eine höhere Macht mit »Urgewalt« Ausdruck verleiht. Es geht dann nicht um die Aussagen eines Subjekts, sondern um eine gewaltige Botschaft, die sich voller Wucht Gehör verschaffen will und sich daher des Schreibenden bedient. In Entsprechung wandelt sich auch das Verständnis des Zuhörers/Lesers. Er ist nicht der kritisch-nüchterne Rezipient, der mehr oder weniger unbeteiligt eine objektive Angelegenheit aufnimmt und diese als Faktenwissen buchstäblich ›nach Hause tragen kann‹. Stattdessen hat er von sich abzusehen und die Haltung des Vernehmens, Ausrichtens und Hörens auf die höhere Botschaft einzunehmen, die diesem Buch Schapps zum Muttertum zugrunde liegt. Ein solches hermeneutisches Modell findet sich primär in theologischen und dichterischen Kontexten, in denen die dienende Funktion des Vermittlers angesichts der Dignität des Zu-Sagenden betont wird und zugleich der Appell an den Hörer ergeht, die dieser Botschaft gemäße behutsam-vernehmende Haltung einzunehmen. Die Chance eines derartigen Modells liegt darin, die Botschaft in der Weise aufzuwerten, dass ihr unbedingte Geltung zuzubilligen ist, ohne ihr vorschnell von Rezipientenseite ins Wort zu fallen. Das Problematische, das gewissermaßen die Kehrseite dieser einseitigen Betonung der Botschaft vor Augen führt, liegt bekanntlich in deren Immunisierung vor kritischen Einwänden. So ragt sie vermeintlich grundsätzlich über den Rezipienten hinaus und kann von seiner subjektiv-perspektivischen Kritik scheinbar überhaupt nicht tangiert werden.

5 Siehe das Vorwort, o. S., von Schapp, Wilhelm: Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag 1965.

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Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums

Vor dem Hintergrund meiner Kenntnisse des Lebens und Denkens Wilhelm Schapps halte ich dessen Selbstauskunft im Klappentext nicht für einen literarischen Topos. 6 Im Gegenteil. Sie zeigt vielmehr die Wichtigkeit, die gerade dieses Buch über eine Metaphysik des Muttertums für Schapp persönlich gehabt haben muss. Denn er hat es nicht primär als Intellektueller, als Philosoph oder Denker geschrieben, sondern aus einer tiefen Betroffenheit heraus, die sich seiner bemächtigte und ihn buchstäblich die Hand beim Schreiben führte. Wozu diese einführenden Sätze? Wenn wir uns im Folgenden Schapp angemessen und das heißt, ihm entsprechend nähern wollen, haben wir den Status seines Redens angesichts dieser Selbstauskunft zu beachten. Es kann dann nicht darum gehen, ihm aus der heutigen Sicht vorschnell ins Wort zu fallen, sondern es gilt zunächst die von ihm geforderte hörend-achtende Haltung angesichts einer »Urgewalt«, die in ihm wirksam ist, einzunehmen. Nur so können wir uns die Möglichkeit eröffnen, seine durch ihn hindurch mit Vehemenz zutage tretende Einsicht überhaupt erfassen zu können. Allerdings sollte man bei diesem Element der hermeneutischen Redlichkeit, die dem Text die Chance eines ihm entsprechenden Zugangs und Wirkens gewährt, nicht stehen bleiben. Denn zu einer hermeneutischen Redlichkeit gehört als weiteres Element die Redlichkeit des Rezipienten, die ein anderes Verstehen des Textes zulässt, indem dieser produktiv-schöpferisch anverwandelt wird. Der Rezipient versucht dann nicht nur eine kritische Inblicknahme des Verstandenen aus einer sicheren Distanz vorzunehmen, sondern – wie man in Anknüpfung an Paul Ricœurs Konzeption einer »reflexiven Hermeneutik« sagen kann – ein Selbstverständnis des Lesers angesichts des Textes zu evozieren, also »das Werk und seine Welt den Horizont des Verständnisses erweitern lassen, das ich von mir selbst gewinne.« 7 Um diesen beiden Elementen einer hermeneutischen Redlichkeit gerecht zu werden, sollen zunächst Grundzüge und zentrale Gedanken des Textes dargelegt werden. Diese beziehen sich primär auf die Themenkomplexe: das Muttertum, das Vatertum und die WesenheiSiehe: Joisten, Karen: Wilhelm Schapp. Eine biographische Skizze, in: Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2016, S. 360–372. 7 Ricœur, Paul: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, in: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), hg. von Peter Welsen, Hamburg 2005, S. 109–134, hier: S. 129. 6

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Karen Joisten

ten Mann und Frau. Im nächsten Schritt werden dann Gesprächsanlässe formuliert, die Schapps Text initiieren und die es ermöglichen, mit Schapp in ein kritisches Gespräch einzutreten. Sie bieten die Chance, Schapp auf uns und die Herausforderungen unserer Zeit zu beziehen und mit ihm gemeinsam ein Stück weiter zu gehen.

1.

Grundzüge der Metaphysik des Muttertums

Die Metaphysik des Muttertums besteht aus drei Büchern. Das erste Buch lautet: »Familie und Verwandtschaft«. Das zweite Buch: »Das Stromgebiet der Liebe, die Strömungen der Mutterliebe darin«. Das dritte Buch: »Die Zusammenhänge zwischen der Liebe Gottes und der Mutterliebe«. Achtet man auf den Umfang der drei Bücher, ist ein Ungleichgewicht festzustellen. Während nämlich das erste Buch über die Familie und die Verwandtschaft mit etwa 100 Seiten den größten Raum einnimmt, bestehen die beiden anderen Bücher über die Liebe und die Mutterliebe bzw. über die Liebe Gottes und die Mutterliebe jeweils aus ca. 30 Seiten. Wollte man aus dieser äußerlichen Seitenzahl unmittelbar auf die Wichtigkeit schließen, wäre das sicherlich verfehlt. Achtet man nämlich auf den Gedankengang, dringt man auf diesem immer weiter vor hin zu den verborgenen Tiefen der Liebe, die aus Schapps Sicht »für die begriffliche Erfassung für die Objektivierung so ungeeignet [ist], wie kaum ein anderer Gegenstand.« 8 So lotet Schapp zunächst die »Bedeutung der Gebilde Familie und Verwandtschaft für den Zusammenhalt und Aufbau des menschlichen Geschlechtes« aus, wobei er dem Muttertum und dem Vatertum besondere Aufmerksamkeit zollt. Vor diesem Hintergrund geht es Schapp um den Nachweis, dass die Mutterliebe das Grundprinzip ist, angesichts dessen alle anderen Prinzipien nur zweitrangig und nachgeordnet sind. Metaphorisch gesprochen: die Mutterliebe ist der gewaltige Strom, mit dem verglichen alle »anderen Liebesregungen oder Arten der Liebe nur Episoden, nur rinnende Bächlein sind« 9. Geht man von hier aus mit Schapp einen Schritt weiter, wagt man mit ihm, wie er explizit schreibt, den »letzten Schritt«, kann schließlich sogar die Mutterliebe mit der Gottesliebe gleichgesetzt werden. 8 9

Schapp: Metaphysik des Muttertums, S. 168. Ebd.

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Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums

Die drei äußerlich (von der Seitenzahl her betrachtet) ungleichen Bücher der Metaphysik des Muttertums führen daher den Leser in einer spiraligen Bewegung so weit wie möglich in die Tiefen hinab, bei der man des Dreiklangs von Gott, Mutter und Liebe als Grundlage von Mutter und Welt immer wieder aus einer anderen Perspektive ansichtig wird. Der Gedankengang hat, wie in der Vorbemerkung bereits angeklungen ist, dabei den Charakter einer Selbstvergewisserung, und das heißt, es ist der Versuch Schapps, sich auf das Vatertum, genauer gesagt, sich auf sein Vatertum zu besinnen. Nimmt der Weg dieser Selbstbesinnung seinen Ausgang vom Muttertum, geschieht dies, weil sich das Vatertum nur in Abhebung und im Unterschied zum Muttertum erfassen lässt. Denn das Vatertum setzt das Streben der Mutter voraus, Vatertum entstehen zu lassen. Muttertum stellt also sachlich, zeitlich, aber auch historisch die Voraussetzung für die Herausbildung des Vatertums dar. So verfolgt der Gedankengang zunächst im ersten Abschnitt das Muttertum (auf 20 Seiten), um dann weitaus ausführlicher im zweiten Abschnitt das Vatertum zu behandeln (80 Seiten). Um Missverständnisse bei den Worten ›Muttertum‹ und ›Vatertum‹ zu vermeiden, muss Folgendes beachtet und an den Anfang gestellt werden: Schapp geht es primär nicht um Rollen und Rollenverständnisse, die Mann und Frau in der Gesellschaft im Laufe der letzten Jahrtausende in unterschiedlicher Weise zugewiesen bekommen haben, nach dem Motto: die Frau als gute Gesellschafterin, der Mann als guter Geschäftsmann (obwohl diese Rollenverständnisse bei ihm sicherlich mitschwingen). Es geht ihm auch nicht vornehmlich um die unterschiedlichen zentralen Aufgabengebiete des Mannes und der Frau, in deren Perspektive die Frauen z. B. gestern noch das Priestertum verwalteten und nur der Mann das Amt des Richters ausüben durfte (obwohl er dieser Aufgabenverteilung wohl zustimmen würde). Stattdessen geht es ihm vor allem um Mann und Frau als Inbegriff »zweier seelischer Seinsarten«, die Mann und Frau prinzipiell zukommen: »Wir zielen darauf ab, ob es, […] eine ewige Art zu sein, als Frau zu sein, als Mann zu sein, gibt, und wieweit sich die Wurzeln dieser beiden Arten der seelischen Existenz aufdecken und unterscheiden lassen.« 10

10

Ebd., Vorwort, o. S.

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Die Wendung »eine ewige Art zu sein, als Frau zu sein, als Mann zu sein« ist für Rezipienten im 21. Jahrhundert, die die Kritik gegen den sogenannten Essentialismus im Ohr haben, wie dieser etwa von Karl Raimund Popper entschieden geäußert wurde, alles andere als unproblematisch. 11 Hören wir allerdings zunächst nicht auf mögliche Einwände gegen Versuche einer Wesensdeutung, sondern achten wir auf die Intention Schapps. Diese scheint darin zu liegen, solches in der Frau aufzuweisen, was als das Göttliche in ihr angesprochen werden kann: die Mutterliebe. Denn Himmel und Erde, das Himmlische und das Irdische, klaffen für Schapp ebenso wenig auseinander, wie sich im Irdischen lediglich Spuren des Himmlischen aufzeigen lassen; vielmehr durchströmt und erhält das Himmlische das Irdische, wie Muttertum und Mutterliebe es von Beginn der Tage getan haben. 12 Nimmt man diesen Gedanken ernst, demzufolge das Himmlische im Irdischen präsent ist und diesem allererst Leben gewährt, ist das Göttliche und Gott auch dem Menschen immanent und ermöglicht sein Leben. Und hier sind wir wieder beim entscheidenden Punkt. Geht es nämlich darum, eine ewige Art ›als Frau zu sein‹ aufzuspüren und werden wir dabei unmittelbar zum Muttertum und zur Mutterliebe geführt, hat das seinen Grund darin, dass die Mutterliebe, wie Schapp wohl in Anlehnung an eine Wendung von Aurelius Augustinus formuliert, »aus den innersten Tiefen der Seele« hervordringt, 13 dort – so könnte man ergänzen – wo das Ewige in ihr zu Hause ist. 14 So ist die Besinnung auf das Muttertum letztlich zugleich eine Besinnung auf Gott, genauer gesagt, auf den christlichen Gott und auf die Liebe Gottes, die für Schapp sogar der »Grund- und einzige Pfeiler der christlichen Lehre« ist. 15 Die Deutung des Muttertums verwandelt sich unter den Händen Schapps dergestalt, wie der Titel bereits kenntlich macht, in eine Metaphysik des Muttertums, die den »ewigen Weg der Frau« in der »Verbindung mit dem Absoluten« nachspürt und uns unmittelbar zur Mutterliebe und zur Gottesliebe führt. Prägnant schreibt Schapp im Nachlass:

11 Vgl. dazu etwa Popper, Karl Raimund: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 41984, S. 203. 12 Vgl. Schapp: Metaphysik des Muttertums, S. 168. 13 Ebd., S. 132. 14 Ebd., Vorwort, o. S. 15 Ebd., S. 158.

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»Das Verhältnis von Mutter und Kind erweckt den Eindruck der ursprünglichsten Gemeinschaft zwischen zwei Seelen, zwischen zwei in Geschichten Verstrickten. Im nächsten Horizont des Kindes liegt die Mutter, im nächsten Horizont der Mutter das Kind, beide können nur zusammen verstanden werden. Es liegt aber keine Einheit vor, die sich nach außen abschließen ließe, die schon für sich eine vollendete Wirklichkeit wäre. Die relative Geschlossenheit tritt uns überzeugend in alten Marienbildern entgegen.« 16

Die Einheit zwischen Mutter und Kind erweist sich dergestalt als eine Einheit, wie sie idealtypisch in Maria gesehen werden könnte.

a)

Das Muttertum

Versuchen wir mit Schapp das Muttertum genauer zu erhellen, ist es förderlich mit Schapp die Frau vom Weib, der Gebärerin, der Mutter und der Urmutter abzuheben, wobei wir uns im Folgenden auf das Weib, die Gebärerin und die Mutter beschränken. Ich bin mir nicht sicher, ob das Wort Weib in den 30er bzw. 60er Jahren negativ konnotiert war. Bei Schapp erhält das Wort aber insofern eine negative Komponente, als er das Weib durch Kinderlosigkeit gekennzeichnet sieht. Dies stellt für ihn einen Mangel dar, da jede Frau aus seiner Sicht mütterliche Kräfte und Regungen in sich birgt, der sie sich nicht verschließen kann. Findet eine kinderlose Frau in ihrer Kinderlosigkeit keinen entsprechenden Ersatz für das fehlende Kind, dem sie sich voll und ganz hingeben kann, wird sie, wie Schapp explizit schreibt, verkümmern. 17 So ist das Weib eine Frau, die ihre Mütterlichkeit als das genuin Weibliche (später werden wir sehen: als das genuin Menschliche) nicht ausleben und zur Entfaltung bringen kann und daher, kurz gesagt, als Inbegriff einer reduzierten Form der Weiblichkeit anzusehen ist. 18 Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, [Seitenwechsel; Seite 115]. 17 Schapp: Metaphysik des Muttertums, S. 15. 18 Besondere Beachtung schenkt Schapp in den Notizen aus dem Nachlass dem innigen Verhältnis zwischen dem Leib der Mutter und dem des Kindes. Von hier her könnte man den angeführten Satz modifizieren: So ist das Weib eine Frau, die ihre Mütterlichkeit als das genuin Weibliche (später werden wir sehen: als das genuin Menschliche) nicht ausleben kann, insofern sie das Leibliche nicht mittels eines Kindes voll und ganz entfalten kann. Exemplarisch kann folgende Textstelle aus dem Nachlass angeführt werden, Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, [Seitenwechsel; Seite 111 f.]: 16

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Vom kinderlosen Weib kann die Gebärerin unterschieden werden. Die Gebärerin ist eine Frau, die aus einer rein biologischen Perspektive ein Kind in die Welt setzt. Sie ist aber keine richtige ›Mutter‹, da sie keine mütterlichen Regungen an den Tag legt. In ihrer Kälte und Lieblosigkeit gegenüber dem Kind hat sie mit einer Mutter rein gar nichts zu tun, weshalb die Bezeichnung ›Rabenmutter‹ als Indiz, wie Schapp heraushebt, einer Selbstkorrektur der Sprache angesehen werden kann. Will man daher präzise sein, darf man Mutter nicht in »wahre Mütter« und in »Rabenmütter« einteilen (dann wäre eine Rabenmutter nämlich immer noch eine Mutter, wenn auch eine schlechte). Vielmehr kann »man nur sagen, dass ein Teil der Gebärerinnen Mütter sind und dass einem anderen Teil die Mütterlichkeit fehlt.« 19 Interessant ist, dass Schapp im Kontext dieser Überlegungen implizit eine normative Dimension zum Vorschein treten lässt, insofern die Bezeichnung Mutter, wenn man sie auf Rabenmütter anwenden kann, vielleicht so etwas wie »eine Forderung zum Ausdruck [bringt], dass jede Gebärerin eine Mutter sein sollte.« 20 Auch wenn sich diese normative Dimension durch das gesamte Buch zieht, wird sie aber als eine solche nicht eigens kenntlich gemacht und kritisch in den Blick genommen. Wendet man sich nun der Mutter zu, zeichnet sie sich durch die (klassischen) Wesenszüge des Dienens und der Opferbereitschaft aus: »Ja, diese Aufopferung macht ihren eigentlichen Lebensinhalt aus und macht es ihr leicht, auf alle anderen Glücksquellen zu verzichten oder diese gering zu schätzen.« 21 Sie stellt ihr ganzes Verhalten in den

»Wenn wir uns mit dieser neuen Blickrichtung etwa dem Leibe des Neugeborenen, dem Leibe des Säuglings, zuwenden, so weist dieser in sich eine eigenartige Unvollständigkeit auf, er verweist auf den Leib der Mutter, mit dem er zusammen auch nach der Trennung vom Mutterleibe erst eine Einheit bildet, die vielleicht wieder auf diese Weise in größere Einheiten eingebettet ist. Wir müssen uns bei dieser Betrachtung davon frei machen, dass es sich äußerlich hier um zwei getrennte Körper oder, wenn wir die Mehrzahl gebrauchen dürfen, um zwei getrennte Leiber handelt. Hier ist es aber fast unmöglich, das Leibliche von dem sogenannten Seelischen noch in irgendeiner Hinsicht zu trennen. Es handelt sich hier um eine Einheit, die die beiden Wesenheiten durchdringt, durchzieht, um eine Einheit ganz anderer Art und um eine Einheit im strengeren Sinne als um die Einheit, die etwa zwischen den Teilen eines körperlichen Dinges, einer Sache, bestehen mag.« 19 Schapp: Metaphysik des Muttertums, S. 18. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 14.

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Dienst für das Kind, ohne die Entbehrungen, denen sie sich dabei aussetzt, selbst als Entbehrungen zu empfinden. Rückt man auf diese Weise die Opferbereitschaft ins Zentrum, darf allerdings nicht der umgekehrte Blick, der Blick auf das Verhalten der Kinder zu- und untereinander fehlen. Auch wenn nämlich die Mutter alle Kinder mit demselben Muttertum empfängt und sich voll und ganz für diese einsetzt, ist die harmonische Entfaltung ihrer Mutterliebe doch davon abhängig, dass sich auch die Kinder untereinander in Liebe und Wohlwollen begegnen. Jedes andere Verhalten als das der Brüderlichkeit zwischen den Geschwistern würde – Schapp zufolge – nämlich unweigerlich die Mutter in einen Zwiespalt führen, der sie daran hindert, ihre Mütterlichkeit gegenüber den einzelnen Kindern zu entfalten. 22 So lässt sich die Beziehung zwischen der Mutter und den Kindern als ein Resonanzphänomen lesen, bei dem die Entfaltung der beiden Seiten wechselweise zusammengehört und dergestalt die beiden Seiten voneinander abhängig sind. Versucht man das Muttertum, das mit Dienen und Opferbereitschaft auf Seiten der Mutter einhergeht und Brüderlichkeit auf Seiten der Kinder bewirkt, weiter zu kennzeichnen, lässt es sich als allgemeingültig bestimmen. Allgemeingültigkeit bedeutet in diesem Kontext, dass es zum Menschen als Menschen gehört und deshalb beim »ganzen Geschlechte der Menschen« angetroffen wird, und zwar zu allen Zeiten. Ja, Schapp geht sogar so weit, Muttertum mit Menschentum gleichzusetzen und im Muttertum die Repräsentation des Menschentums zu erkennen. Die Schärfe dieser Behauptung wird in ihrer Zuspitzung sichtbar: denn für ihn könnte es Sinn haben, »von einem Muttertum ohne Menschtum, ohne Humanität, ohne Ur-

Da die leibliche Seite auch für das Verhältnis der Geschwister untereinander von Relevanz ist, betont Schapp im Nachlass, Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, [Seitenwechsel; Seite 114–115]: »Ähnlich könnten wir das Verhältnis von dem Vater und dem Kind sowie das Verhältnis der Geschwister untereinander prüfen und dabei die leibliche und die seelische Seite dieses Verhältnisses zu bestimmen versuchen. Im Verhältnis von dem Vater und dem Kind ist die leibliche Seite noch vergleichbar mit dem, was wir bei dem Mutter-Kind-Verhältnis vorfanden; im Verhältnis der Geschwister zueinander tritt die leibliche Seite schon mehr zurück. Noch loser ist die leibliche Seite dann schließlich von Fremden zueinander. (Eine besondere Untersuchung würde noch nötig sein für die leibliche Seite des Verhältnisses zwischen den Geschwistern, die eng verwandt zu sein scheinen mit dem Verhältnis zwischen Mutter und Kind.)«

22

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menschlichkeit zu sprechen, dass es aber keinen Sinn hat, umgekehrt vom Menschtum ohne Muttertum zu sprechen.« 23 In der Konsequenz dieser Gedankenführung liegt es, auch jede Kultur und Zivilisation auf der Grundlage des Muttertums entstehen zu lassen. Allerdings wird das Muttertum, wie wir es bereits in der Gleichsetzung Menschtum-Muttertum gesehen haben, seinen letzten Inhalt auch ohne Kultur und Zivilisation erhalten, da es sich ja auch immer noch im engsten Kreise entfalten könnte, der in der Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind zu sehen ist.

b)

Das Vatertum

Mit diesen genannten Kennzeichnungen des Muttertums (Dienen und Opferbereitschaft, Brüderlichkeit, Allgemeingültigkeit) hat Schapp den Hintergrund konturiert, vor dem er das Vatertum abzuheben versucht. Dabei macht er die Einschränkung, dass er das Vatertum ausschließlich im Abendland zu betrachten beabsichtigt. Liest man diese Einschränkung, wie es Schapp selbst formuliert, als notwendige Konsequenz einer fehlenden oder mangelhaften Materialbasis, kann man sie getrost benennen, ohne sie weiter zu bedenken. Liest man sie aber als Einschränkung und Begrenzung des Vatertums auf eine bestimmte Kultur, nämlich unsere Kultur, klingt hier bereits eine wesentliche Differenz zur Allgemeingültigkeit des Muttertums an. Das Vatertum ist dann etwas, was in den unterschiedlichen Kulturkreisen differiert und je nach Raum und Zeit, in der es auftritt, seine Art verändert. Bevor dieser Gedanke vertieft wird, soll mit Schapp kurz ein Blick auf das Vatertum im Abendland seit Homer geworfen werden. Dabei ist der wesentliche Gesichtspunkt des Vater-Kind-Verhältnisses 24 (und auch schon früher), dass es dem Muttertum als gleichbeSchapp: Metaphysik des Muttertums, S. 25. Interessant ist, dass Schapp im Nachlass – wie auch in der veröffentlichten Schrift über das Muttertum – vor allem das Vater-Sohn-Verhältnis und nicht das Vater-Tochter-Verhältnis betrachtet, wie es in unserer Tradition häufig geschieht. In Auseinandersetzung und Abhebung von Heraklit schreibt er im November 1954, Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2017, S. 64 f. [Seitenwechsel; Seite 401]: »Diese Vater-Sohn-Vorstellung, diese Vater-Sohn-Geschichten, findet Heraklit so vor, wie sie Homer in immer neuen Wendungen vorträgt. Jeder Held tritt selbstver-

23 24

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deutend zur Seite gestellt wird. Die Grundauffassung ist, dass es sich beim Verhältnis der Mutter zum Kind und beim Verhältnis des Vaters zum Kind »um ein einheitliches Verhältnis zum Kind handelt, welches nur verschieden gefärbt ist. Bei dem Manne setzt man im Rahmen der Familie dieselbe Liebe voraus, wie bei der Frau, und umgekehrt, erwartet man von dem Kinde dieselbe kindliche Zuneigung zu beiden Elternteilen.« 25 Stellt man das Vatertum in dieser Weise dem Muttertum als gleichbedeutend zur Seite, besteht die Gefahr, das Spezifische des Vatertums nicht erfassen zu können. Man bleibt dann beim »Erscheinungsbild« stehen und dringt nicht zu seinem seelischen Gehalt vor. Und hier bringt Schapp endgültig seine Deutung des Vatertums zum Ausdruck. Wichtigstes Phänomen ist dafür vermutlich das, was man induzierte Väterlichkeit durch die Mutter nennen könnte, was er aber auf dem Umweg einer »induzierten Mütterlichkeit« oder auch einer »Induktionserscheinung des Muttertums« zu beschreiben versucht. 26 Die Sache, die hinter diesen letztgenannten Wendungen steht, können wir uns recht gut mit seiner Hilfe veranschaulichen. Nimmt man etwa ein Kindermädchen, dem die kinderreiche Mutter notgedrungen ihre jüngsten Kinder zur Sorge überlässt, sieht man, dass das Kindermädchen die Mutter mehr oder weniger aus dem

ständlich auf als Sohn seines Vaters, als Pelide, als Laertiade. Seine Geschichte ist eingewebt in die Geschichten seines Vaters. Wenn wir jetzt wieder zu Heraklit zurückkehren, so würden wir uns vielleicht erlauben, den Ausdruck, daß es sich bei Vater und Sohn um einen Gegensatz handelt, zu bemängeln, wenn dies Heraklits Meinung sein sollte. Eher würde es uns schon gefallen, wenn Heraklit von einem ständigen Werden spricht, und vielleicht noch mehr, daß das All eins ist, soweit Vater und Sohn in Frage kommt. Dies liegt etwa in der Richtung, daß der Vater immer zugleich Sohn ist und der Sohn werdender Vater, daß der Vater den Sohn nur verstehen kann, weil er selbst Sohn gewesen ist, und der Sohn den Vater, weil er zukünftiger Vater ist, und daß bei all dem gegenseitigen Verstehen immer eine unübersteigbare Kluft bleibt, wenn der Vater nur Vater sein will oder der Sohn nicht mehr Sohn sein will. Hier ist auch die Rede vom Kampf als des Vaters aller Dinge oder modern gesprochen, die Rede von der Spannung am Platze. Sicher ist das Verhältnis von Vater und Sohn nichts Starres, sondern etwas, was ständig wird, was sich sogar nach dem Tode des Vaters noch weiter entwickelt, wenn einmal die Zeit kommt, daß der Sohn seinen Vater für weiser als sich selbst hält. Einen Zugang zu diesem Verhältnis gibt es aber nur über Geschichten. Ich möchte fast annehmen, dass Heraklit an einigen Stellen den Zusammenhang alles dessen, was er sieht, mit Geschichten spürt.« 25 Schapp: Metaphysik des Muttertums, S. 26. 26 Ebd., S. 38 und 39.

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Herzen der Kinder verdrängt. Auf der Seite des Kindermädchens wird dabei so etwas wie Muttertum sichtbar, allerdings nicht das echte, sondern nur ein Abglanz davon. Schapp zufolge widerspricht dem nicht, dass das Kindermädchen »im Notfall ohne Besinnung ihr Leben für das Kind, das ihr anvertraut ist, [und] das sie in ihr Herz geschlossen hat«, opfert. 27 Denn der Einsatz für das Kind, den sie sogar mit ihrem Leben bezahlen würde, unterscheidet sich zwar äußerlich rein gar nicht von dem der Mutter, letztlich dringen aber, so die These Schapps, ihre mütterlichen Regungen nicht aus derselben Tiefe, wie bei der echten Mutter. Schapp gibt uns an dieser Stelle entsprechend dem Duktus seiner Selbstvergewisserung keine weiteren Plausibilitäten an die Hand, die diese These stützen könnten, sondern spricht lediglich davon, dass man ihm »ohne weiteres zugeben [wird], daß es sich nur um einen Abglanz des Muttertums handelt« 28. Kann man ihm dies allerdings nicht zugeben, hilft vermutlich auch seine eigenwillige Deutung des Vorgangs der Selbstopferung des Kindermädchens für das Kind nicht weiter. In dieser glaubt er nämlich, die bereits genannte Induktionserscheinung des Muttertums zu erkennen, wodurch der Vorgang der Selbstopferung »so aufzufassen sein [wird], dass eine dem Kinde fremde Seele in die Wirbel des echten Muttertums gerät, und von diesen Wirbeln des echten Muttertums mit fortgerissen wird.« 29 Bezieht man diesen Aufweis auf das Vatertum, kann man dieses, auch wenn es Schapp nicht explizit formuliert, für dessen Verständnis fruchtbar machen und es, wie erwähnt, als ein induziertes Vatertum durch die Mutter zu fassen versuchen. Soll sich nämlich das Vatertum im vollen Sinne des Wortes entfalten, ist dazu, so Schapp, die Mutter erforderlich. Sie führt das Kind, wie es an verschiedenen Textstellen lautet, dem Vater seelisch zu, wird also gewissermaßen als Vermittlerin zwischen Vater und Kind tätig, indem sie ihn zum Kind in Beziehung setzt. Die Funktion, die der Mutter zugesprochen wird, ist demnach die der Induktion des Vatertums, wodurch der Mann aller erst in seine Vaterstellung hineingeführt wird. Wie bei der Induktionserscheinung des Muttertums demnach mütterliche Gefühle bewirkt werden, die deskriptiv nicht von denen des echten Muttertums

27 28 29

Ebd., S. 38. Ebd. Ebd.

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unterschieden werden können, gerät auch beim Vatertum der Mann gewissermaßen in die Wirbel des echten Muttertums und wird von diesen hin zum vollen Vatertum geführt. Die religiöse Dimension dieser Deutung wird von Schapp eigens herausgestellt. Achtet man nämlich auf die Gotteskonzeption bei den Griechen, steht der Gott-Vater Zeus den Menschen gegenüber. Springender Punkt ist, dass neben ihm eine Gottmutter fehlt und dadurch »das mütterliche Element im Verhältnis Gott-Mensch ausgefallen ist« 30. Hieraus resultiert die Kühle und der Abstand zwischen Gott und Mensch, der Schapp zufolge »dem letzten Sinn von Religion noch nicht gerecht wird.« 31 Das unscheinbare Wörtchen ›noch‹, verweist auf die Gottvorstellung des Neuen Testamentes, in dem dieser Mangel behoben ist. Während nämlich im Alten Testament ähnlich wie bei den Griechen Gott und Mensch unüberbrückbar voneinander entfernt sind, wird erst im Neuen Testament dieser Abstand überwunden, indem Gott hier »unter dem Gesichtspunkt des Vatertums im Verhältnis zur Menschheit zu verstehen und zu fühlen« ist. 32 Die Pointe von Schapp liegt allerdings in seiner eigenwilligen Auslegung, die nun, salopp gesagt, die Mutter als Drahtzieherin ins Spiel bringt. Ausgangspunkt hierfür ist die Überlegung, dass die Familie aus der Dreiheit Vater-Mutter-Kind besteht. Nimmt man nun die Vorstellung von Gott als Vater, kann diese nicht von der Vaterseite ausgegangen sein – es sei denn es wäre eine Selbstverherrlichung Gottes. Sie muss vielmehr von der Kindseite aus erwachsen sein, bei der aber die Mutter an der Gestaltung mitwirkte. Sie war es nämlich, die »die Kindesseele von sich ab auf den Vater hinlenkte, auf das Vatertum, so daß all das Unsagbare sich über die Gestalt des irdischen Vaters auf den himmlischen Vater konzentrierte, auf den himmlischen Vater wandte, in den himmlischen Vater zusammengefasst wurde.« 33 Wie daher die Mutter den Vater im irdischen Leben zum Vatertum führt, so hat sie nach Schapp auch die Gestaltung Gottes als des Vaters bewirkt.

30 31 32 33

Ebd., S. 44. Ebd. Ebd., S. 45. Ebd., S. 45.

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c)

Die Wesenheiten Mann und Frau

Überblickt man das bisher Gesagte und vertieft es dabei zugleich, sieht Schapp bei den beiden Wesenheiten Mann und Frau keine »Übereinstimmung, Gleichheit oder Ähnlichkeit« in ihrem Wesen. Während die Frau nämlich von Anfang an den Keim des Muttertums in sich trägt, auf den hin sie sich ausrichtet und entwickelt, hat sich erst allmählich im Laufe der Jahrhunderte das Vatertum herausgebildet, wodurch sich der Mann neben seinem Leben in der Gemeinschaft, auch eine private Sphäre erschaffen konnte. Schärfer gesagt: Während das Frauentum sich fast im Muttertum erschöpft, erschöpft sich das Mannestum nicht im Vatertum. 34 Ein Indiz für den Beleg dieser These glaubt Schapp, im unterschiedlichen Verhältnis des Vaters und der Mutter zum unehelichen Kind zu sehen. Blickt man auf die Mutter, macht sie keinen Unterschied zwischen dem ehelichen und dem unehelichen Kind. Die Substanz ihres Muttertums wird sich trotz der Schwierigkeiten, auf die sie in der Gesellschaft stoßen wird, davon nicht berühren lassen und ihr Muttertum wird »wie von einer Urgewalt getrieben auch unter diesen ungünstigen Verhältnissen« wachsen und sich entfalten. 35 Ganz anders ist dagegen die Sache beim unehelichen Vater einzuschätzen. Der Mann wird sich der Vaterschaft zu entziehen suchen, wird also nicht aus einem inneren Drang heraus die Sorge für das Kind übernehmen wollen. Dieser enorme Unterschied in der Stellung des unehelichen Vaters und der unehelichen Mutter zeigt, dass »das Vatertum nicht ähnlich wie das Muttertum einer Urgewalt seine Entstehung verdankt«, sondern sich erst allmählich herausbildete. 36 Die Wesenheiten Mann und Frau sind daher als von Grund aus Verschiedenes zu fassen, da ihre jeweiligen Seelenkräfte je spezifischen »Urgesetzen und Urrichtungen« unterliegen. So bleibt nur ein »Zusammenpassen von den beiden Wesenheiten Mann und Frau übrig, welches in den Wesenheiten Mann und Frau begründet ist, ohne daß dies Zusammenpassen Übereinstimmung, Gleichheit oder Ähnlichkeit im Wesen bedingte.« 37

34 35 36 37

Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 54.

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2.

Gesprächsanlässe

Im Folgenden werden wir verschiedene Gesprächsanlässe, die der Text geboten hat, verfolgen. Diese Gesprächsanlässe erheben nicht den Anspruch der Vollständigkeit, da der Text bei weitem mehr Anregungen gegeben hat, als man jetzt verfolgen könnte. Auch wurden sie unter dem Gesichtspunkt der Strittigkeit ausgewählt, also daraufhin, ob aus ihnen jeweils eine intensive Kontroverse ausgehen kann. Dass diese Auswahl subjektiv ist, muss nicht eigens betont werden, wohnt eine subjektive Begrenztheit doch jedem partikularen Gesichts- und Standpunkt inne. So geht es auch nicht darum, den Autor Schapp im Schleiermacherschen Sinne besser verstehen zu wollen, als er sich selbst verstanden hat, vielmehr soll die Möglichkeit eröffnet werden, ihn vor dem Hintergrund des zuvor im ersten Teil Herausgearbeiteten anders zu verstehen. Dieses Verstehen in Andersheit ist als produktiv-schöpferische Anverwandlung der Welt des Textes zu fassen, durch die wir in einem Gespräch mit Schapp und unseren VorUrteilen uns vielleicht selbst neu zu entdecken vermögen. Ich komme zum ersten Anlass: die Botschaft. Das Buch Zur Metaphysik des Muttertums ist ein Bekenntnis, das einer Selbstvergewisserung dient. Diese steht im Dienst einer höheren Botschaft, durch die die Gleichursprünglichkeit von Mutterund Gottesliebe vernommen werden kann. Die Besinnung auf den ewigen Weg der Frau erweist sich dergestalt als eine Besinnung auf den christlichen Gott, aber auch als eine Besinnung auf das Vatertum, das sich erst vermittelt durch die Frau voll entfalten kann. In dem Status des Bekenntnisses und der Vermittlung einer höheren Botschaft gewinnt der Text eine Immunität, die wir ihm zubilligen wollen. Wir sprechen von ihm dann als einem historischen Zeugnis, das höchste Relevanz hat. Heben wir allerdings in unserem Gespräch die Immunität auf, bleibt z. B. die Frage nach weiteren Deutungsmöglichkeiten der Mütterlichkeit. Eine davon wäre, die Mütterlichkeit als ein ethisches Prinzip zu verstehen. Mütterlichkeit als ethisches Prinzip wäre dann nicht Inbegriff einer weiblichen Mutterliebe, vielmehr wäre es eine geschlechtsneutrale Haltung, die der Frau und dem Mann zu eigen sein kann. Sie würde sich auch nicht allein auf das Verhältnis der Mutter zum Kind beziehen, sondern prinzipiell eine Hinwendung zum An137 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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deren benennen, in der der Mensch von sich selbst abzusehen vermag. 38 Von Mütterlichkeit durchdrungen, durchbricht der Mensch die (vermeintliche) Souveränität seiner Selbstbezogenheit und erfasst das ›Du‹ als den anderen seiner selbst, für den er sich rückhaltlos und bedingungslos einsetzt. Dieses Du verwandelt sich dann, wie man in Anlehnung an den Philosophen Karl Löwith formulieren kann, dabei in den unverwechselbar Einzigen in der Nähe, wodurch der andere »nicht in der Bedeutung des lateinischen ›alius‹« als ein »Fremd-Ich« oder als ein »anderes Ich« verstanden wird, sondern im Sinne des ›alter‹ oder ›secundus‹, der mir dort begegnet, wo wir »zu zweit« sind. 39 Die von Mütterlichkeit durchdrungene Haltung kann (ebenso wie die Mutterliebe Schapps) zu einer radikalen Einstellung werden, die den eigenen Tod billigend in Kauf nimmt, um den anderen meiner selbst zu schützen und vor Unheil zu bewahren. Eine weitere (Um-)Deutungsmöglichkeit der Mütterlichkeit kann im Anschluss an Hans Jonas in den Blick treten. In seinem wichtigen Buch Das Prinzip Verantwortung mit dem sprechenden Untertitel Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation hebt Jonas im Kontext seiner »Theorie der Verantwortung« die elterliche und die staatsmännische Verantwortung als »zwei eminente« Paradigmen voneinander ab. 40 Das Gemeinsame dieser beiden Verantwortungsarten lässt sich mit Hilfe der Begriffe der »Totalität«, der »Kontinuität« und der »Zukunft« aufzeigen, wobei wir diese lediglich im Blick auf die elterliche Verantwortung grob skizzieren. Während mit Hilfe der Totalität kenntlich wird, dass die elterliche Verantwortung das »Kind als ganzes und in allen seinen Möglichkeiten, nicht nur den unmittelbaren Bedürfnissen« zum Gegenstand hat, verweist die Kontinuität nicht nur auf die Konstanz elterlicher Zuwendung, sondern auch auf das »Anliegen« der »Kontinuität dieser betreuten Existenz selbst« 41. Und die Kennzeichnung der Zukunft bringt schließlich zum Vorschein, dass die »Zukunft der ganzen Existenz, jenseits der direkten Einwirkung des verantwortlichen und daVgl. zum grundlegenden Prinzip der Mütterlichkeit meinen Aufsatz: Mütterlichkeit. Reichweite und Grenze eines ethischen Prinzips, in: ETHICA. Wissenschaft und Verantwortung 3/2 (1995), S. 163–172. 39 Vgl. dazu Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Darmstadt 31969, S. 55. 40 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, S. 184–198. 41 Ebd., S. 189 und 196. 38

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Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums

mit jenseits der konkreten Berechenbarkeit« von den Eltern berücksichtigt werden muss. 42 Im Rahmen der Verantwortungskonzeption wie sie Jonas vertritt, rückt der Sache nach das Paradigma der elterlichen Verantwortung an die Stelle der Mütterlichkeit und lässt dadurch Vater und Mutter untrennbar miteinander und gleichberechtigt (da niemals voneinander getrennt) als Träger der Verantwortung hervortreten. Ich komme zu einem weiteren Gesprächsanlass: das Verhältnis des Himmlischen zum Irdischen. Man kann eine Medaille bekanntlich von zwei Seiten aus in den Blick nehmen und, wenn es sich um das Verhältnis des Göttlichen zum Irdischen handelt, eher vom Ewigen oder eher vom Wandelbaren ausgehen. Man kann aber auch sagen, dass das Bild der Medaille bereits verfehlt ist, da es sich nicht um zwei Seiten handelt, die man getrennt voneinander in den Blick nehmen kann. Vermutlich würde Schapp diesen Einwand formulieren, da für ihn Himmel und Erde untrennbar zusammengehören und das Himmlische das Irdische durchströmt und erhält. Von diesem Verständnis bleibt der Primat des Himmlischen unberührt, da dieses Bedingung der Möglichkeit des irdischen Lebens ist. Im Gespräch wäre zu betrachten, ob man bezüglich der Lebenswelt nicht eher auf hierarchische Anordnungen, die teleologisch ausgerichtet sind, weitestgehend verzichten müsste. Immerhin könnte es sein, dass »die eine Lebenswelt sich in ein Netz und eine Kette von Sonderwelten verwandelt, die sich vielfach überschneiden und überlagern« 43. Wäre dem so – und damit wenden wir uns dem nächsten Gesprächsanlass der Wesenheiten Frau und Mann zu –, wäre es im nächsten Schritt auch problematisch vom »ewigen Weg der Frau« zu sprechen, der grundsätzlich von dem des Mannes differiert. Denn beide werden zwar bei Schapp über das Theoriestück »Zusammenpassen« vermittelt, was im Sinne der Komplementarität zu verstehen ist, letztlich sind sie aber prinzipiell als zwei Wesenheiten zu fassen. Vielleicht bin ich bescheidener, vielleicht bin ich aber auch einfach ein Produkt des 21. Jahrhunderts. Und so scheint mir in dieser Zuschreibung die Gefahr eines, wie ich es nennen möchte, mütter42 43

Ebd., S. 198. Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 21994, S. 27.

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lichen Fehlschlusses zu liegen. Bei diesem schließt man von der Mutterliebe auf die Rolle, die dem Erfüllen der Mutterliebe entspricht, nämlich Mutter zu sein. Unter der Hand werden dabei die Frauen wieder (bzw. immer noch) auf die Tätigkeiten im Haus, die Männer auf die Tätigkeiten im öffentlichen Raum verwiesen, die ihnen für immer und ewig entsprechen sollen. Problematisch erscheint mir dabei nicht die Zuschreibung der Mutterliebe auf die Mutter zu sein (man könnte sie als ethisches Prinzip verstanden auch auf den Mann beziehen), im Gegenteil, sondern, wie gesagt, der mögliche Schluss: die treue Mutter hat im Haus die Sorge der Kinder zu übernehmen, während der kluge, ihr überlegene Mann, die Welt erobert. Dass Schapp dieser Gedanke nicht völlig fremd war, zeigt eine Textstelle: »wir geben nur das wieder, was wir täglich und stündlich sehen und erleben, wie die Mutter dem Vater das Kind zuführt, wie sie das Kind dahin erzieht, dass es den Vater als letzte Instanz, als letzte und höchste Zuflucht zu empfinden lehrt, den Vater, der der Mutter an Mütterlichkeit gleichsteht, aber an Kraft, Weisheit, Stärke so überlegen ist, dass er für die Mutter selbst wieder eine Zuflucht ist, wie es die Mutter für das Kind ist.« 44

Vielleicht können wir vor diesem Hintergrund neben Schapp auch noch den Philosophen Dieter Thomä zu unserem Gespräch hinzubitten. Er hat vor nicht allzu langer Zeit in dem evangelischen Magazin chrismon gesagt: »Es gibt zwei Szenarien: Frauen werden wettbewerbsfähige Individuen wie Männer, dann bekommen wir eine kinderlose Gesellschaft. Oder: Frauen entwickeln berufliche Ambitionen und Männer entdecken die Welt der Familie. Diese Variante favorisiere ich. Mit Glück bekommen wir eine neue Balance, einen beeindruckenden Wandel der Geschlechterrollen. Ohne Neuentdeckung der Familie landen wir in einer Welt, in der der Glanz des Lebens mit Kindern verblasst.« 45

Damit kommen wir zu einem weiteren Gesprächsanlass: die Familie. Lassen Sie mich diesmal umgekehrt mit einer Position, die von außen kommt, beginnen. Diese Position ist weder differenziert noch ausgewogen, sondern einseitig und zugespitzt. In ihrer Schärfe kann sie aber vielleicht etwas ansichtig werden lassen, was sonst übersehen werden könnte.

44 45

Schapp: Metaphysik des Muttertums, S. 45 und 46. Thomä, Dieter: Dieter Thomä im Gespräch, in: chrismon (12/2008), S. 40.

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Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums

Der Medienphilosoph Vilém Flusser zeigt in seinem Spätwerk Aspekte einer neuen Lebenseinstellung auf, die beim Schritt von der Gutenbergschen in die elektromagnetische Kultur möglich werden. Im Zuge dieser neuen Lebenseinstellung kann der Mensch seine bisherige unterwürfige und unaufrichtige Rolle als sogenanntes »Subjekt« hinter sich lassen, er kann sich aufrichten und sich, wie er es nennt, in ein »Projekt«, in einen geistig-medialen Entwerfenden verwandeln. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum neuen Gestalten von Familien ist die Feststellung, dass das bisherige bürgerliche Familienhaus bzw. Familienmodell, das aus drei Stockwerken bestand, nämlich der Werkstatt im Erdgeschoss, dem Meister im ersten Stock und seinen Eltern im zweiten Stock, in eine heillose und Unheil verheißende Lage hineingeraten ist. 46 Denn zurück bleibt nur noch das erste Stockwerk zu Familienzwecken, da z. B. die Werkstatt »in Fabrik, Laboratorium und technologisches Institut« ausgesiedelt wurde und die Großeltern ins »Altersheim, Club Mediterranee und künstliche zweite Jugend« übersiedelten. Zudem ersetzt nun das Fernsehen für »die Kinder die Werkstatt und die Großeltern, was [wie Flusser in seiner drastisch-anschaulichen Art formuliert] den Eltern erlaubt, Stühlerücken zu spielen und Partner zu wechseln.« 47 Flusser bejammert diesen feststellbaren Zustand nicht, sondern begegnet ihm, was wir nicht weiter verfolgen können, mit einem Familienmodell, das an die Stelle von Blutsverwandtschaft die Wahlverwandtschaft setzt und dabei Klöster als »Hilfsfiguren für das Entwerfen künftiger Familien« verwendet. 48 Dieser Blick Flussers auf die faktische Familiensituation unserer Zeit entspricht sicherlich auch dem Bild, was uns vielerorts die Medien präsentieren. Gleichgültig, ob wir dieses für überzogen halten, gleichgültig, ob wir es beklagen oder vielleicht sogar begrüßen; es macht aber deutlich, dass wir bei unseren Beschreibungen und Deutungen der Familie das Brüchige und das Fragwürdige nicht vergessen dürfen. Denn die traditionelle Familie, in der Konstellation, wie sie Vgl. Flusser, Vilém: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Bensheim/Düsseldorf 1993, S. 80. 47 Ebd., S. 79. 48 Ebd., vgl. ferner meine Ausführungen in dem Aufsatz: »Vom Subjekt zum Projekt«. Verluste des Mensch-Seins in der »Post-Anthropologie« Vilém Flussers, in: Albertz, Jörg (Hg.): Anthropologie der Medien – Mensch und Kommunikationstechnologien, Berlin 2002, S. 51–64. Und in meiner Untersuchung: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003, S. 273–316. 46

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Schapp noch vor Augen haben durfte, mit Vater, Mutter, Kindern und Großeltern unter einem Dach, ist längst nicht mehr selbstverständlich. Und so müssen wir den Stachel des Versehrten und Verwundeten auch berücksichtigen und ihn in unsere Theorien ›einsetzen‹, um uns von der konkreten Lebenswelt mit ihren faktischen Gegebenheiten nicht allzu weit zu entfernen. Ich komme zum Schluss: Wilhelm Schapp hat uns mit seiner unzeitgemäßen, der heutigen Zeit entrückten Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums nicht nur eine Vielzahl von Grundeinsichten vermittelt, er hat auch eine Fülle von Gesprächsanlässen geboten, von denen einige herausgehoben wurden. Und das ist sicherlich das Größte, was ein Philosoph zu leisten vermag, unser Denken in Gang zu setzen, damit wir gemeinsam mit ihm weitergehen können. Dem Charakter seiner Schrift entspricht es, dass letztlich offene Fragen thematisch wurden, deren Antworten nicht feststehen, sondern verantwortet werden müssen. Dies geschieht, indem die Antworten in die Verbindlichkeit eigenen Tuns übernommen werden und sie sich dadurch zu bewähren und zu bewahrheiten haben. Denn, wie Schapp zu recht sagt, dass Liebe »zuletzt nur durch Liebe begriffen werden« kann, 49 so kann jeder von uns das Muttertum auch nur durch seine Mutterliebe begreifen.

Literatur: Flusser, Vilém: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Bensheim/Düsseldorf 1993. Joisten, Karen: »Vom Subjekt zum Projekt«. Verluste des Mensch-Seins in der »Post-Anthropologie« Vilém Flussers, in: Albertz, Jörg (Hg.): Anthropologie der Medien – Mensch und Kommunikationstechnologien, Berlin 2002, S. 51–64. Joisten, Karen: Mütterlichkeit. Reichweite und Grenze eines ethischen Prinzips, in: ETHICA. Wissenschaft und Verantwortung 3/2 (1995), S. 163– 172. Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010. Joisten, Karen: Wilhelm Schapp. Eine biographische Skizze, in: Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2016, S. 360– 372. 49

Schapp: Metaphysik des Muttertums, S. 169.

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Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums

Joisten, Karen: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984. Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Darmstadt 31969. Popper, Karl Raimund: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 41984. Ricœur, Paul: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, in: ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), hg. von Peter Welsen, Hamburg 2005, S. 109–134. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2016. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2017. Schapp, Wilhelm: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 52013. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag 1965. Thomä, Dieter: Dieter Thomä im Gespräch, in: chrismon (12/2008), S. 40. Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 21994.

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Abteilung II: Die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps – Fortsetzungen

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Abteilung II.1: Brückenschläge

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Essentia oder existentia? Vom wesentlichen und geschichtlichen Verstricktsein des Menschen in Geschichten Nicole Thiemer

Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie lässt sich wohl am eindringlichsten in dem meistzitierten Satz aus seiner Schrift In Geschichten verstrick: »Die Geschichte steht für den Mann« 1 komprimiert vor Augen stellen. Mensch und Geschichte(n) – ein untrennbares Gefüge, eine anthropo-ontologische Aussage: der Mensch schlechthin und wesentlich ist »In-Geschichten-Verstricktsein«. Einige Jahre später schreibt Schapp: »Wenn wir früher gesagt haben, die Geschichte steht für den Mann, so möchten wir jetzt den Satz aufstellen: die Geschichte steht […] gar für eine Welt« 2. Die universale Weite dieser Zeilen ist deutlich. Alles, was ist und wie es ist, ist nur: als Geschichten-Verstricktsein. Essentia oder existentia – diese Worte habe ich als Überschrift für diesen Beitrag gewählt. Diese Überschrift bedeutet, dass ich Wilhelm Schapps Grundthema seiner Geschichtenphilosophie, das Verstricktsein in Geschichten, aus der Perspektive einer traditionell abendländisch-philosophiegeschichtlichen Fragestellung bzw. Problematik lesen möchte. Die Problematik lässt sich mit Annemarie Pieper in folgenden Worten zusammenfassen: »Essentia oder existentia – welches Sein hat den Vorrang: das […] streng gedachte allgemeine und wesentliche Sein oder das empirisch-besondere, geschichtliche und zufällige Dasein des je Einzelnen?« 3 Annemarie Piepers Frage zielt daraufhin, den Unterschied zwischen einem essenzphilosophischen und einem existenzphilosophischen Denken aufzumachen, und zwar in Bezug auf die Konsequenzen, die die Antwort auf die Frage für die anthropologische Deutung 1 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Vom Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 103. 2 So schreibt Schapp am 27. Mai 1959; Schapp, Wilhelm: Geschichten und Geschichte, hgg. von Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2019, S. 32 [Seitenwechsel; S. 19]. 3 Pieper, Annemarie: Søren Kierkegaard, München 2000, S. 7.

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des Menschens hat. Einem essenzphilosophischem Ansatz entspricht der Vorrang des wesentlichen Seins vor der konkreten Existenz des je Einzelnen; einem existenzphilosophischem Ansatz der Vorrang und die Beachtung des besonderen, geschichtlichen, konkreten Daseins des je Einzelnen, das In-den-Blick-nehmen von dessen Individualität oder der Bedeutung der Endlichkeit für die Beschreibung der menschlichen Existenz. Das geschichtliche bzw. das In-Geschichten-Verstricktsein des Menschen ist ein Leitthema der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps. Dieses Leitthema deutet sowohl auf existenz- also auch auf essenzphilosophische Motive hin. Im Folgenden möchte ich Wilhelm Schapps Bedenken des In-Geschichten-Verstricktseins des Menschen unter der Perspektive der Frage: Welches Sein hat den Vorrang? betrachten. Und dies meint, sowohl existenz- als auch essenzphilosophische Momente innerhalb der Geschichtenphilosophie in den Blick zu nehmen.

I.

Zur Geschichtenphilosophie

Blickt man auf die von Wilhelm Schapp selbst veröffentlichten Schriften seiner Geschichtenphilosophie, dazu gehören die schon genannte Schrift: In Geschichten verstrickt. Zum Sein vom Mensch und Ding aus dem Jahr 1953, die Philosophie der Geschichten aus dem Jahr 1959 und die Metaphysik der Naturwissenschaft aus dem Jahr 1965, 4 so »können diese in ihrem Verhältnis zueinander als eine Art Dreiklang bezeichnet werden.« 5 Denn die drei Töne des Dreiklanges ergeben erst das Gesamtbild, jedoch jeder einzelne Ton birgt seine Besonderheit in sich, für die Stimmigkeit des besonderen Akkords. In diesem Bild weitergesprochen behandelt Schapp in den drei Schriften jeweils den ganzen Dreiklang, wobei jede einzelne jeweils einen Ton des Akkords primär entfaltet und dessen Bedeutung für die Stimmigkeit des Zusammenklangs vertieft. So ist das Verstricktsein des Menschen in Geschichten der Schwerpunkt von In Geschichten ver-

4 Siehe Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015 und ders.: Metaphysik der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 32009. 5 Joisten, Karen: Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten. Ein Zugang, in: Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 5–11, hier: S. 6.

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Essentia oder existentia?

strickt, in Philosophie der Geschichten steht die Auseinandersetzung mit der Tradition (insbes. von Geschichten als ursprünglichen und wesentlichen Kulturphänomenen) im Zentrum der gedanklichen Auseinandersetzungen (mit u. a. der abendländischen Philosophiegeschichte, der Bhagavadgita oder auch der Bedeutung des Sprechens und der Sprache) und in Metaphysik der Naturwissenschaft verfolgt Schapp insbesondere eine Auseinandersetzung seiner Auffassung der Welt im Sinne der Geschichtenphilosophie mit der naturwissenschaftlichen Welt, der »Sonderwelt des Abendlandes« 6, wie Schapp sie nennt. Blickt man auf die Nachlassschriften, die Schapp in den 50iger und 60iger Jahren verfasst hat, so zeigt sich deutlich, wie Schapp von einem Thema zum nächsten geführt wird. Um das Verstricktsein des Menschen auslegen zu können, muss der Blick geweitet werden –, und zwar nach vorwärts und nach rückwärts, auf die Vielzahl der Horizonte, 7 innerhalb deren sich das Verstricktsein vollzieht. Themen wie Religion, Philosophie, Wissenschaft, aber auch Welt, Kultur, Gemeinschaft, Erinnerung, Verstehen u. v. m. 8 – Schapps Schriften zeigen, dass hier ein Denken in Bewegung gesetzt ist, dass das All des Menschlichen und seiner Zeugnisse aus dem Gedanken des Verstricktseins in Geschichten zu erblicken sucht. Am 3. Dez. 1953 schreibt Schapp bspw.: »Die Art, auf die wir die Geschichten angehen, oder die Wege, auf denen wir uns den Geschichten nähern, weisen in sich eine Einheit auf, die wieder an die Einheit der Geschichten selbst erinnern mag.« 9 Und etwas später, am 2. März 1954, ist zu lesen: »Auch die Trennung nach Dichtkunst, Religion, Philosophie ist wohl […] eine äußerliche Trennung […]. Es handelt sich […] immer nur um Aspekte, die mehr oder weniger überwiegen. Man kann aber vielleicht diese Aspekte

6 Vgl. zu dieser Thematik Schapp, Jan: Positive Welten und Sonderwelt des Abendlandes in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps, in: Phänomenologische Forschungen 2004, S. 133–149. 7 Zum Thema »Horizont« bei Schapp siehe Sepp, Hans Rainer: Über die Grenze. Prolegomena zu einer Philosophie des Transkulturellen, Nordhausen 2014, S. 95–110. 8 Vgl. zur Themenvielfalt das Sachregister in: Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten III, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2018. 9 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2016, S. 157 [Seitenwechsel; S. 149].

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auseinanderhalten, wenn auch vielleicht der Zusammenklang aller erst die Geschichte zur Geschichte macht im Sinne einer letzten Wirklichkeit«10.

Die Geschichten sind die Zeugnisse der Verstrickungen und Schapps Darlegungen nehmen die Geschichten als Bezeugungen für das umfassende Verstricktsein, das der Gegenstand der Geschichtenphilosophie ist. Die Geschichten, das Verstricktsein in Geschichten, sind in der Philosophie Schapps die »letzte Wirklichkeit«. Von hier aus zeigt sich, dass Schapp – auch wenn Schapp in der Entwicklung seiner Philosophie einer phänomenologisch-hermeneutischen Methode folgt – eine ontologische Absicht verfolgt. Er will nicht nur einfach die Vielfalt der Gegebenheiten (in der Welt) mit dem Schlüssel der Geschichten zum Verständnis bringen, sondern es geht ihm um den Versuch, das »Urphänomen« 11 dessen, was es für den Menschen bedeutet, in der Welt zu sein, aufzuweisen, und dies heißt: das Verstricktsein in Geschichten zu beschreiben und zu deuten. Laut Schapp ist »Menschsein« gleichbedeutend mit »In-Geschichtenverstricktsein«. 12 Das ontologische ›Sein‹, und zwar aus der Perspektive wie es sich für den Menschen zeigt, meint ein Verstricktsein in vielerlei Geschichten. Und diese Geschichten sucht die Geschichtenphilosophie wieder zum Vorschein zu bringen, denn in einer mathematisierten Welt, der »Sonderwelt des Abendlandes«, lebt der Mensch und legt sich der Mensch seinem Wesen unentsprechend aus – eine dem Wesen des Menschen entsprechende Auslegung ist nur über Geschichten möglich, ist das In-Geschichten-Verstricktsein. Kurz gefasst: Nur anhand der Geschichten zeigt sich, was es bedeutet, Mensch zu sein und wie dieses ›Sein‹ gedeutet werden kann. Auffällig ist im Blick auf die Schriften der Geschichtenphilosophie, dass sich insbesondere in Zusammenhang mit der Charakterisierung des Menschen als In-Geschichten-Verstrickten an ausschlaggebenden Stellen Wendungen finden wie ›wesentlich‹, das ›Wesen‹, das ›Eigentliche‹. 13 Worte, die aus einer philosophiehistorischen BeEbd., S. 243 [Seitenwechsel; S. 250]. So schreibt Schapp in Philosophie der Geschichten, S. 133: »Für uns sind die Geschichten Urphänomene, Urgebilde, urhafter als die Gebilde der Wissenschaft.« 12 Siehe Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2017, S. 128 [Seitenwechsel; S. 481]. Die Schreibweise von ›In-Geschichten-Verstricktsein‹ wird von Schapp nicht einheitlich verwendet. 13 Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 105 wie auch Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 95 u. S. 268. Obwohl Schapp in In Geschichten verstrickt (S. 94 f.) 10 11

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Essentia oder existentia?

trachtungsweise an essenzphilosophische Untersuchungen erinnern. Dies ist der Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen, in denen zu zeigen ist, dass sich in der Geschichtenphilosophie Anklänge einer essenzphilosophischen Wesensbestimmung des Menschen finden, die im Widerspruch zu dem stehen, was man in einem gewissen Sinne eine existenzielle Deutung des Menschen nennen kann. Dies verwundert, da in der Geschichtenphilosophie der Akzent – von den Beispielen her, die Schapp wählt – auf dem konkreten Menschen liegt, der jeweils in besondere individuelle Geschichten verstrickt ist. Um auf die Differenz eingehen zu können, werde ich im Folgenden die Worte ›essentia und existentia‹ (in ihren Minimaldefinitionen) heranziehen, um sie mit der Geschichtenphilosophie Schapps ins Gespräch zu bringen. In einem zweiten Schritt werde ich Schapps Auffassung vom Menschen in In Geschichten verstrickt aufgreifen, um einerseits zu zeigen, in welcher Weise die Geschichten im Denken Wilhelm Schapps sozusagen das erste unhintergehbare Fundament ausmachen, von woher sich eine essenzphilosophische Tendenz zeigen lässt. Andererseits werde ich auch auf Momente eingehen, in denen Wilhelm Schapp den besonderen konkreten Menschen in den Blick nimmt. Folgt man nämlich dieser Perspektive, so weist der Ansatz der Geschichtenphilosophie in eine Richtung, die die Existenz des Menschen, des besonderen und des konkreten Menschen bedenkt.

II.

Essentia und existentia

Im Folgenden geht es darum, anhand der von mir gewählten Ausdrücke essentia und existentia auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam zu machen, zieht man sie zur Deutung dessen, was es bedeutet und (anthropologisch) ausmacht, Mensch zu sein, in Betracht. Spricht man in diesem Zusammenhang von essentia, so wird der Fokus auf das Was-Sein des Menschen gelegt. D. h.: leitend für einen essenzphilosophischen Ansatz bei anthropologischen Aussagen ist der Vorrang des Was-Seins vor der zufälligen konkreten Existenz des je Einzelnen. Bei existenzphilosophischen Ansätzen lässt sich als explizit schreibt, dass er methodisch eine »Wesensuntersuchung« ablehnt. Mit diesem Ausdruck meint Schapp jedoch an dieser Stelle, dass es ihm nicht um eine Merkmalsanalyse geht, um das Konzept Geschichte zu definieren; Kritik an einem ontologischen Philosophieren äußert Schapp nicht.

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»Gemeinsamkeit« festhalten, dass diese eine »Abkehr […] von der Wesensphilosophie« 14 vollziehen und sich dem Existieren des Menschen zuwenden. Denn, so heißt es bspw. bei Martin Heidegger: »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz.« 15 Beim fundamentalontologischen Ansatz im Sinne Heideggers lässt sich die Hinwendung zur Existenz des Menschen gut ablesen. Der zitierte Satz zeigt die Abkehr von einem essenzphilosophischen Ansatz, indem Heidegger den Ausdruck Wesen in Anführungszeichen setzt. Radikaler ist jedoch die These Jean-Paul Sartres, wenn dieser behauptet, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie die existentia, das Existieren des Menschen, beschreibend auslegen. Damit spielen bei anthropologischen Deutungen das Werden des Menschen, dessen Endlichkeit, dessen Möglichsein, dessen Sich-Entwerfen oder auch dessen Selbstverhältnis eine zentrale Rolle. Sie geben einer von der Betrachtung des Existierens des Menschen losgelösten Wesensbeschreibung des Menschen eine Absage. Die Aussage Sartres hat jedoch noch eine besondere Konsequenz. So schreibt Sartre: »[W]enn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist.« 16 Mit dem radikalen Freiheitsgedanken, für den ein Existenzialismus im Sinne Sartres steht, lässt sich erst die Verantwortung des Menschen für sein Existieren in dessen voller Radikalität denken. Existieren ist eine Aufgabe und Leistung, die der konkrete Mensch zu übernehmen hat, indem er sich zu sich und seiner Umwelt verhält. Solches Existieren kommt in den klassischen Wesensbestimmungen des Menschen als animal rationale oder als zoon logon echon nicht zum Ausdruck, denn hier liegt – wie Pieper ausführt: »der Akzent auf de[m] Begriff des Menschen und [auf] Definitionen unveränderlicher anthropologischer Wesensmerkmale […], unter Absehung vom geschichtlichen und sozialen Kontext, in welchem der Einzelne sich als existierende individuelle Person in [ihrer] einmaligen Besonderheit herausbildet. Die Betonung der existentia gegenüber der essentia [soll] die Eigen-

Thurnherr, Urs: »Existenzphilosophie« und »Existenzialismus« oder Kurze Geschichte »eines« Etiketts, in: ders./Hügli, Anton (Hgg.): Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt 2007, S. 9–17, hier: S. 12. 15 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 91960, S. 42. 16 Sartre, Jean-Paul: Ist der Existenzialismus ein Humanismus?, in: ders.: Drei Essays. Mit einem Nachwort v. Walter Schmiele, Frankfurt a. M. / Berlin 1961, S. 7–51, hier: S. 12. 14

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Essentia oder existentia?

leistung des Individuums ins Licht rücken, das nicht je schon ist, was es ist, sondern es selbst wird, indem es sich zu dem macht, das es ist.« 17

In Schapps Geschichtenphilosophie liegt der Schwerpunkt gerade auf dem geschichtlichen Kontext des Menschen. Der Mensch ist in Kontexte von einer Vielzahl von Geschichten Verstricktsein. Doch kann man in der Geschichtenphilosophie davon sprechen, dass er in und als dieses Verstricktsein in seiner Existenz (-wahl und -möglichkeit) frei ist? Oder ist der Mensch je schon im Sinngefüge des Verstricktseins in seinem Wesen festgestellt? Dann würde seine Essenz der Existenz vorausgehen – wie es bspw. in den Zeichnungen der homerischen Epen der Fall ist, die Schapp häufig heranzieht, um das Verstricktsein des Menschen zu veranschaulichen.

III. Zum Menschsein als In-Geschichten-Verstricktsein Schapp beginnt seine Schrift In Geschichten verstrickt mit folgenden Zeilen: »Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann.« 18 Geschichte und das, was der Mensch ist, gehören diesen Zeilen zufolge immer schon zusammen. Die Geschichte ist nicht Objekt oder Gegenstand eines die Geschichten bedingenden und hervorbringenden Subjektes. 19 Verstrickter, Verstricktsein in Geschichten und Geschichten als Inbegriff einer Vielzahl von Geschichten werden gleichursprünglich nebeneinander gestellt. Geschichten sind ein dynamisches »Gebilde«, ein Gebilde, das »nur insoweit ist, als ich in die Geschichte verstrickt bin. Dies Verstricktsein läßt sich nicht so aus der Geschichte lösen, daß auf der einen Seite die Ge17 Pieper, Annemarie: Art. Existenz, in: Thurnherr/Hügli: Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, S. 87–90, hier: S. 87. 18 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 1. 19 Vgl. hierzu Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 188 [Seitenwechsel; S. 188]: »Das Fundamentale unserer Betrachtungsweise, wenn wir so sagen dürfen, besteht ja darin, dass wir Objekte außerhalb der Geschichten leugnen und daß das, was für das Objekt gehalten wird, nicht als Objekt in die Geschichten eingeht, sondern von den Geschichten verzehrt wird und weder außerhalb von Geschichten noch in den Geschichten einen Platz hat und entsprechend auch nicht in Raum oder Zeit einen Platz oder Sein hat.«

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schichte übrigbliebe und auf der anderen Seite mein Verstricktsein oder so, daß die Geschichte überhaupt noch irgend etwas wäre ohne den Verstrickten, oder der Verstrickte noch irgend etwas wäre ohne die Geschichte.« 20

Wie Schapp das Gebilde Geschichte(n) und das Verstricktsein des Menschen beschreibt, zeigt deutlich, dass es Schapp nicht nur um einen Aufweis geht, dass der Mensch in seinem Leben von verschiedenen sozialen oder kulturellen Deutungszusammenhängen umgeben ist. Was Schapp zu zeigen sucht, ist radikaler. Der Mensch befindet sich immer und je schon in Geschichten. Will man sich philosophisch über das Sein des Menschen verständigen, so lautet die Antwort darauf, was das ›Sein‹ des Menschen ist: in Geschichten Verstricktsein. Geschichten und Verstricktsein sind die erste und letzte Wirklichkeit, Geschichten nehmen in Schapps Philosophie den Rang einer Fundamentalbestimmung dessen an, was je war, ist und sein wird, und zwar nicht nur in Bezug auf die Was-ist-Frage, sondern auch in Bezug auf die Wie-Frage der Weise des Gegebenseins von Seiendem in seinem Sein überhaupt. Von hier aus gesehen ließe sich Schapps Ansatz aus der Perspektive eines fundamentalontologischen Vorgehens in dem Sinne verstehen, dass das Gegegebensein von Geschichten an die Stelle rückt, an der in einer essenzphilosophischen Traditionslinie vom Vorrang der Essenz bei der Beschreibung des Menschen gesprochen wird. Die Geschichten fungieren als die Setzung, von der her sich das Menschsein als In-Geschichten-Verstricktsein wesentlich bestimmt. »Die Geschichte ist immer nur im Verstricktsein […]. Außerhalb dieses Verstricktseins von einem Sein zu reden, gibt für uns keinen Sinn.« 21Was es heißt, Mensch zu sein, erfüllt sich von diesem sinngebenden und unhintergehbaren Fundament her. Ansätze für eine solche Deutung der Geschichtenphilosophie finden sich in einer Vielzahl in In Geschichten verstrickt. Und sie zeigen sich schon im genaueren Blick auf den wohl bekanntesten Satz von Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie: »Die Geschichte steht für den Mann.« 22 Relativ zu Beginn des zweiten Abschnittes von In Geschichten verstrickt ist diese Formulierung sowohl als Überschrift wie auch als einleitender Satz des Kapitels aus In Geschichten verstrickt von Wilhelm Schapp festgehalten worden, das nicht nur Phi20 21 22

Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 85 f. Ebd., S. 178. Ebd., S. 103.

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Essentia oder existentia?

losophen sondern viele Disziplinen, die den Menschen zum ›Thema‹ haben, dazu veranlasst haben, sich mit der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps auseinanderzusetzen. 23 Schapp hat mit diesem Satz nicht nur im Sinn darauf hinzuweisen, dass Lebensläufe von Menschen als biographische Geschichten begriffen werden können und diese wiederum den Menschen in seinem Leben veranschaulichen. Es geht ihm nicht nur darum, dass bspw. in Romanen oder Märchen Geschichten von Menschen, wenn auch fiktiven Charakters, beschrieben werden, anhand deren Lektüre – um mit Paul Ricœur zu sprechen – sich der Mensch (und seine Welt) anders verstehen lernt, auch wenn eine Verbindung des narrativ(-ethischen) Ansatzes Ricœurs mit der Geschichtenphilosophie Schapps durchaus nahe liegt. 24 Schapp zufolge ist es so, dass das »Menschsein [sich] erschöpft im Verstricktsein in Geschichten« 25. Schapp setzt Menschsein und in Geschichten Verstricktsein gleich. D. h.: Den Menschen gibt es unabhängig von der Eingebundenheit in ein Netz von Geschichten nicht. Will man sein Wesen bestimmen, so sind es die Geschichten, die sein Wesen bestimmen. Und so schreibt er in der anthropologisch aussagekräftigen Passage: »Das Wesentliche, was wir von den Menschen kennen, scheinen ihre Geschichten und die Geschichten um sie zu sein. Durch seine Geschichten kommen wir mit einem Selbst in Berührung. Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. Denn an seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.« 26

Diese Passage zeigt das essenzphilosophische Moment der Geschichtenphilosophie Schapps. Hier wird eine Wesensbeschreibung vorgenommen, das Eigentliche, das Wesen, das ›Substanzhafte‹ am Menschsein sind die Geschichten im Sinne der Geschichtenphilosophie, das leibliche konkrete Dasein des Menschen nimmt eine seVgl. hierzu Joisten, Karen: Zu diesem Buch, in: Joisten (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps, S. 11–18. Das ›Stehen-für‹ wurde in der Vergangenheit auch als Repräsentationsmotiv in der Geschichtenphilosophie ausgelegt; vgl. hierzu Rolf, Thomas: »Die Geschichte steht für den Mann«. Ethische Aspekte der narrativen Repräsentation, in: Joisten, Karen (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin 2007, S. 151–167. 24 Vgl. Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002. 25 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 120. 26 Ebd., S. 105. 23

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kundäre Rolle in Bezug auf die Bestimmung des Menschen als in Geschichten verstricktes Wesen ein. Interessant ist, dass Schapp nach dem Erscheinen von In Geschichten verstrickt weiterhin mit diesem Gedanken gerungen hat. Zu vermuten ist, dass ihm die essenzphilosophische Tragweite dieser Aussage zu denken gab. So schreibt Schapp am 16. Dez. 1953, den genannten Gedanken aus In Geschichten verstrickt aufnehmend: »Von Beginn unserer Bemühungen an sagt uns irgendwie mehr ein Gefühl als eine klare Vorstellung, daß wir mit der Umwandlung des Menschen in Geschichten etwas Wesentliches verlieren, landläufig gesprochen, […] daß wir den Menschen in eine Art Gespenst verwandeln.« 27

Anders formuliert: Schapp sieht ein Problem darin, dass ihm das konkrete und besondere leibliche Existieren, wie er schreibt, »verloren [gegangen ist und fragt,] wie wir die Verbindung [zwischen dem Menschen als In-Geschichten-Verstricktsein und dem Menschen aus Fleisch und Blut; die Verf.] wieder herstellen können.« 28 Schapp weist im Folgenden daraufhin, dass insbesondere das Beachten der persönlichen Begegnung, das konkrete Zusammensein von Menschen einen Lösungsansatz – wenn auch keinen systematisch strengen – bietet. Schapp bleibt an dieser Stelle im Vagen 29 und verweist auf seine Ausführungen in In Geschichten verstrickt. Dort behandelt Schapp ein konkretes Beispiel ausführlich, das die essenzphilosophischen Implikationen der Geschichtenphilosophie abschwächt. Das Beispiel handelt davon, dass ein Richter eine Fallakte erhält. Diese Fallakte, eine »Anzeige gegen einen angesehenen Mann […] mit vielen delikaten Einzelheiten«, »enthält nach unserer Sprechweise eine Geschichte« 30, so Wilhelm Schapp. Der Inhalt der Fallakte lässt also eine Geschichte bzw. Geschichten im Horizont des Menschverständnisses des Richters auftauchen. Von der Fallakte her entwickelt der Richter ein Verständnis dessen, was und wie dieser konSchapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 185 [Seitenwechsel; S. 184]. 28 Ebd. 29 Er schreibt (ebd., S. 186 [Seitenwechsel; S. 185]): »Dies persönliche, oder besser ausgedrückt, leibliche Zusammensein könnte doch auch etwas neues und anderes sein als das Verständnis von Geschichten, wenn es vielleicht auch immer durch Verständnis von Geschichten vorbereitet sein muß, selbst wenn es immer in dies Verständnis von Geschichten eingebettet ist.« 30 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 103. 27

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Essentia oder existentia?

krete Mensch ist. Der Fall bringt einen besonderen Sinn zum Ausdruck. Von diesem Sinn her macht sich der Richter ein ›Bild‹, ein ›Gebilde‹ von diesem spezifischen Menschen, diesem konkreten Angeklagten. Charakterisiert diese Geschichte den Menschen in seinem Wesen? Ist sie das Eigentliche des Menschen? Nein – nicht im Sinne einer allgemeinen Essenz. Der Sinn dieser Geschichte eröffnet einen Zugang zu, ein Verständnis von diesem konkreten Menschen. Denn: Die Fallakte ist nur eine Geschichte. Diese eine Geschichte stellt den Menschen nicht allgemein in seinem Wesen fest. Was Schapp anhand des Richters und der Fallakte aufzuweisen sucht, ist, dass der Mensch nicht essenziell vorab anhand dieser einen Geschichte festgestellt werden kann. Denn folgt man Schapps Beispiel weiter, so erlebt der Richter, dass dieser Mensch eben nicht nur der Mensch dieser Geschichte der Fallakte ist, auch wenn er in diese verstrickt ist. Dieser konkrete Mensch, wie jeder Mensch, ist in eine Vielzahl von Geschichten verstrickt. Die jeweils unterschiedlichen Geschichten und die Vielzahl der Geschichten gilt es zu beachten, will man die Besonderheit des Existierens des In-Geschichten-Verstrickten verstehen. Die Besonderheit ergibt sich also durch das einmalige Sinngefüge des in eine Vielzahl von Geschichten Verstrickten, wobei jedem Verstrickten ein einmaliges Sinngefüge entspricht. Dies veranschaulicht Schapp mit seinem Beispiel. Denn nach der Lektüre der Fallakte trifft der Richter den Angeklagten persönlich. Die Frage, die Wilhelm Schapp anhand dieses Beispiels aufwirft, ist folgende: »Wie verhält sich das Gebilde Geschichte, welches an Hand der Akte vor dem Richter aufgetaucht ist, zu dem Mann selbst, der ihm nun gegenübertritt, […] mit welchem er in eine Unterhaltung kommt?« 31 Es handelt sich in gewisser Weise um die Frage: wie verhält sich das persönliche Kennenlernen in einer Unterhaltung als einer weiteren Geschichte zur Geschichte der Fallakte? Beide Geschichten, und noch viele mehr, machen das Sinngefüge aus, das den Menschen auszeichnet. Und beide Geschichten eröffnen verschiedene Verstehenshorizonte. Problematisch bleibt jedoch – auch in diesem Beispiel –, ob es in Schapps Geschichtenphilosophie den Horizont gibt, in dem sich der Mensch (in seinem Sein) frei entwerfen kann, denn auch hier wird der Mensch – selbst der konkrete – über seine Geschichte(n) in seinem Eigentlichsein definiert und festgestellt. 31

Ebd.

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Liest man Schapps Ansatz aus einer hermeneutischen Perspektive, so stellt dies auf den ersten Blick eine gelingende Lösung dar. Diverse Geschichten eröffnen den Zugang zum Menschen, den es auslegend zu gewinnen gilt. Die Vielzahl der Geschichten deutend lässt sich die Identität des konkreten Menschen erfassen, die sich dynamisch im Geflecht der Pluralität von Geschichten Schritt für Schritt im Existieren des Menschen ausbildet. Auch in Hinsicht auf die ontologische Wende der Hermeneutik, wie sie Martin Heidegger zum Programm des Philosophierens erhoben hat, zeigen sich Parallelen. Dadurch dass der Mensch immer schon in Geschichten verstrickt ist, ist das Verstehen (als »Zugang zu«, wie Schapp schreibt) sozusagen als Existenzial des Verstrickten gefasst, der sich wesentlich auf seine Geschichten und die Geschichten der Mit- und Umwelt versteht. Problematisch ist aber bei diesem Vergleich schon, dass bei Heidegger der Schwerpunkt bei der Auslegung von Existenz gerade darin besteht, dass Existenz »Möglichsein« bedeutet. 32 Dieser Möglichkeitscharakter taucht in Schapps Geschichtenphilosophie nicht in der Radikalität auf, wodurch die Differenz von Schapps Ansatz zum existenzphilosophischen sichtbar wird. Dies zeigt sich auch im Kapitel von In Geschichten verstrickt, das die Überschrift trägt: Das Verstricktsein in Geschichten und das Handeln – Kausalität und Freiheit. 33 Das Kapitel beginnt mit folgender Zeile: »Am schwierigsten ist vielleicht auseinanderzuhalten das Handeln in Geschichten und das Verstricktsein in Geschichten.« 34 Schapp begreift das Handeln, die Tat, als »Moment von Geschichten« 35. Das Handeln fasst Schapp nicht als existenziellen Freiheitsakt, denn: »Mit dem Handeln erhebt man sich nicht über die Geschichte, ragt man nicht über Geschichte hinaus, sondern das Handeln ist eigebettet in die Geschichte, gehört zum Verlauf der Geschichte.« 36 Obwohl Schapp nicht explizit von einer Determination des Handelns des In-Geschichten-Verstrickten spricht, so zeigen die Ausführungen Schapps im genannten Kapitel, dass Schapp nicht von einer absoluten Freiheit des Menschen ausgeht. Sein Begriff von Freiheit ist relational rückgebunden an die Verwobenheit des Menschen in seine Geschichten. Vgl. Heidegger, Martin: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). GA: Bd. 63, hg. v. Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M. 21995, S. 14–17. 33 Siehe Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 158–163. 34 Ebd., S. 158. 35 Ebd., S. 160. 36 Ebd., S. 158. 32

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Essentia oder existentia?

Diese Rückgebundenheit geht jedoch mit einem Verantwortungsbegriff Hand in Hand, der dem im Sinne Sartres genannten in seiner Maßgeblichkeit nicht nachsteht. Denn jedes Moment der Geschichte prägt das Sinngefüge der Geschichten, woraus folgt, dass der handelnde Mensch nicht einfach nur Spielball seiner Geschichten ist.

IV. Zwischen essentia und existentia Schapps Geschichtenphilosophie lässt sich nicht eindeutig festlegen. Es finden sich essenz- wie auch existenzphilosophische Implikationen. Blickt man auf das Fundament der Geschichten, so machen diese das »wesentliche Sein« aus, in dem sich aber »das empirisch-besondere, geschichtliche und zufällige Dasein des je Einzelnen«, um Piepers Worte aufzunehmen, vollzieht, was von Schapp nicht außer acht gelassen wird. Insbesondere in den Passagen, in denen Schapps Geschichtenphilosophie auf das Wie der Verstrickungen eingeht, scheinen die existenzphilosophischen Motive auf. Dies veranschaulicht das Beispiel des Richters und des Angeklagten. Das Phänomen der Geschichte, wie es Wilhelm Schapp umkreist, ist im Endeffekt eine Deskription dessen, dass der Mensch als Mensch nur als Sinngefüge verständlich werden kann. Die Fallakte veranschaulicht eine Geschichte, ein sinnvolles Gebilde, das für den Richter nachvollziehbar, verständlich ist. Im persönlichen konkreten Kennenlernen tauchen weitere Geschichten auf, weitere Sinn-Gebilde treten zum Vorschein. Die Sinn-Gebilde spiegeln ein Verhältnis des Menschen zu sich und seinem Leben wieder, in welchen verschiedene Selbstentwürfe anschaulich werden, die nicht ausschließlich von einer Essenz her bedingt sind. Auffällig ist jedoch, dass Schapp in seinen Darstellungen immer wieder zu dem ›wesentlichen‹ Kern zurückschwenkt. So schreibt er im Nachlass bspw.: »Dies leibliche Zusammensein, oder das Gegenteil, die Trennung und alles, was in dieser Richtung liegt, tragen auch viele Geschichten. Viele Geschichten sind darauf aufgebaut.« 37 Schapp wendet den Fokus von der Deskription des leiblichen Zusammenseins ab und geht wiederum darauf ein, dass jegliches Geschehen

Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, S. 186 [Seitenwechsel; S. 185].

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von Geschichten getragen ist und nicht ohne diese denkbar, verstehbar, erfahrbar sein kann. Auch wenn Schapp keine Ausdrücke wie Essenz, Substanz o. ä. verwendet, so erscheinen seine anthropologischen Aussagen rückgebunden an ein essenzphilosophisches Verständnis eines Geschichtenkosmos. Ohne dieses Verständnis wird der Gedanke des Sinngefüges des In-Geschichten-Verstricktseins brüchig, da die Geschichten das unhintergehbare Fundament sind, in das der Mensch immer schon geworfen ist. Man könnte dieses als Art ›Urfaktum‹ bezeichnen, von dem der Mensch her als In-Geschichten-Verstrickter in ein Sinngefüge eingebunden ist.

Literatur: Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Hildesheim / Zürich / New York 2002. Heidegger, Martin: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). GA: Bd. 63, hg. v. Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M. 21995. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 91960. Joisten, Karen: Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten. Ein Zugang, in: Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015, S. 5–11. Pieper, Annemarie: Art. Existenz, in: Thurnherr, Urs/Hügli, Anton (Hgg.): Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt 2007, S. 87–90. Pieper, Annemarie: Søren Kierkegaard, München 2000. Rolf, Thomas: »Die Geschichte steht für den Mann«. Ethische Aspekte der narrativen Repräsentation, in: Joisten, Karen (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin 2007, S. 151–167. Sartre, Jean-Paul: Ist der Existenzialismus ein Humanismus?, in: ders.: Drei Essays. Mit einem Nachwort v. Walter Schmiele, Frankfurt a. M. / Berlin 1961, S. 7–51. Schapp, Jan: Positive Welten und Sonderwelt des Abendlandes in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps, in: Phänomenologische Forschungen 2004, S. 133–149. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2016. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2017.

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Essentia oder existentia?

Schapp, Wilhelm: Geschichten und Geschichte, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg i. Brsg. 2019. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Vom Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Metaphysik der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 32009. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015. Sepp, Hans Rainer: Über die Grenze. Prolegomena zu einer Philosophie des Transkulturellen, Nordhausen 2014. Thurnherr, Urs: »Existenzphilosophie« und »Existenzialismus« oder Kurze Geschichte »eines« Etiketts, in: ders./Hügli, Anton (Hgg.): Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, Darmstadt 2007, S. 9–17.

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Die Narben der Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und die Psychoanalyse Dirk Stederoth

»Die Geschichten mögen erinnern an vernarbte Wunden, die jederzeit wiederaufbrechen können, oder auch an Wunden, die überhaupt nicht verheilen. Alle diese Geschichten haben nun das letzte Stigma, daß sie meine Geschichten sind.« 1

Diese Sätze aus Wilhelm Schapps Buch In Geschichten verstrickt können sehr gut als Motto für die Thematisierung der Auseinandersetzung desselben mit der Psychoanalyse dienen, fragt sich doch, warum Schapp gerade dieses Bild als Metapher für die Eigenverstrickung in Geschichten wählt. Der manifeste Gehalt dieser Metapher soll darauf verweisen, dass jeder einzelne von uns Menschen (auf Tiere, Pflanzen und Dinge sei hier nicht eingegangen) in seine eigenen Geschichten verstrickt ist und diese jederzeit wieder auftauchen und sich fortstricken können bzw. eine bestimmte Geschichte zum bleibenden Lebensthema sich verfestigen kann. Dies wird später noch thematisch werden. Zugleich liegt in dieser Metapher der vernarbten Wunde ein latenter Gehalt, der von der Psychoanalyse aus an die Geschichtenphilosophie Schapps Fragen stellt, mit denen sich dessen Ansatz auseinandersetzen muss. Solche Fragen wären, wenn man die Metapher beibehält: Sind alle Geschichten mit Verletzungen verbunden? Welche Strukturen führen zur Vernarbung der Wunde? Welche Faktoren können die Wunde zum Wiederaufbrechen bringen? Gibt es neben vernarbter Haut auch gesunde? Diese Fragen führen in den Kern der Auseinandersetzung Wilhelm Schapps mit der Psychoanalyse insbesondere in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen, denen im Folgenden in drei Schritten nachgegangen sei: erstens mit Blick auf das Verhältnis zwischen Schapps »Horizont«-Begriff zum Begriff des Unbewussten, zweitens in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem 1 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 126.

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Die Narben der Geschichten

Erinnern und Vergessen von Geschichten zur Struktur der Verdrängung bei Freud sowie schließlich drittens mit der Frage nach der Trennung zwischen normalen und pathologischen Geschichten. Inwiefern sich Wunden und Narben auf das Verständnis von Geschichten selbst auswirken, wird viertens thematisch werden, um dann mit einer zusammenfassenden Verhältnisbestimmung der Ansätze von Schapp und Freud zu schließen.

1.

Ozeanische Hintergründe: Der Horizont und das Unbewusste

In einer Notiz vom 22. 07. 1955 schreibt Schapp: »Was insbesondere Freud und seine Nachfolger betrifft, so kommen wir mit unseren Überlegungen, soweit ich sehe, an zwei Stellen in deren Bezirke, und zwar einmal mit unserer Ansicht vom Horizont […], und das andere Mal mit dem, was wir über Überschrift und Thema zu fassen versuchen. […] Wenn Freud und seine Nachfolger ausgehen von dem Gegensatz des Bewußten und Unbewußten, so wird, je tiefer wir uns in das versenken, was Horizont und Überschrift ist, desto klarer jegliche Sicherheit schwinden im Gebrauch der Ausdrücke bewußt und unbewußt. Für Freud ist selbstverständlicher Ausgangspunkt das Bewußtsein, für uns gibt es kaum etwas weniger Faßbares als Bewußtsein« 2.

Da Schapps Begriff der »Überschrift« im nächsten Teil im Zentrum stehen wird, sei zunächst der Begriff des »Horizonts« näher in den Fokus genommen, um zu sehen, inwiefern er die Rede von »bewusst« und »unbewusst« ins Schwanken bringt. »Horizont« ist neben »Geschichten« und »Verstricktsein« das bei Schapp wohl am häufigsten gebrauchte Wort, was eine eindeutige Klärung desselben nicht unbedingt leichter gestaltet. Auch ohne eine aufwendige Bedeutungsfeldanalyse durchgeführt zu haben, zeigt sich der Begriff »Horizont« bei Schapp immer mit halbklaren Hintergründen und weitergreifenden Verweisen im Gewebe der Geschichten verknüpft, die immer mehr bedeuten als bloße Kulissen, mit denen eine Geschichte ausstaffiert ist. »Horizont« meint nicht nur den starren Raum, in dem eine Geschichte steht, und ebenso wenig die abstrakte 2 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2017, S. 198 [Seitenwechsel; S. 559].

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zeitliche Reihe ihres Gewordenseins bzw. ihrer Herkunft. Das Gewebe, das die Geschichte umhüllt, durchzieht sie zugleich, so dass es vom Rand der Geschichte den Kern gleichsam mitwebt. Der Horizont ist also dynamisch zu verstehen und durchbricht damit die klare Unterscheidung zwischen dem bewussten Aktual der Geschichte, also deren Zentrum und den nicht-bewussten Hintergründen, da diese Hintergründe sich fortgesetzt in den Vordergrund mit einspielen. Hinzu kommt, dass dieses Einspielen nicht allen Elementen im Horizont gleichermaßen zukommt, was Schapp recht deutlich am Horizont der Vergangenheit zeigt, denn es sei »bei jedem Menschen verschieden, wie seine Vergangenheit ihn umgibt. Der Horizont der Vergangenheit kann eng und weit sein in seinem belichteten Teil. Das Eigenartige dieses Horizontes besteht darin, dass er nicht einen kontinuierlich abgeschatteten Charakter, etwa wie der räumliche Horizont, hat, sondern dass das in der Reihenfolge der Geschichte weit Zurückliegende hell beleuchtet sein, oder dass der Horizont an vielen Stellen hell beleuchtet sein, und dass das Dazwischenliegende im Dunkeln liegen oder von der Dämmerung der Bedeutungslosigkeit verdeckt sein kann.« 3 Der Horizont der Vergangenheit ist also qualitativ ganz unterschiedlich gestaltet, wobei sich dessen Elemente ganz unabhängig von ihrer zeitlichen Stellung in unterschiedlichen Graden von Dunkelheit, Zwielicht und heller Klarheit voneinander abstufen. Also auch hier werden die klaren Grenzen zwischen bewusst und unbewusst durchbrochen, so dass der Blick in die Vergangenheit eher dem Nachthimmel gleicht, der nur wenige lichte Sterne zeigt, die bei stärkerem Fokus sich zu dichteren Nebeln, Galaxien etc. verdichten, während manche Stellen im völligen Dunkel verbleiben. Doch fragt es sich, ob Schapp mit diesem Ansatz die Freudsche Rede von bewusst und unbewusst wirklich ins Wanken bringt, denn Freud ist weit entfernt von dem Bestreben, das Bewusste und das Unbewusste in einer starren Trennung zu sehen. Ganz im Gegenteil war es immer Freuds Bestreben aufzuklären, wie es dazu kommt, dass das bewusste Ich eben nicht Herr im eigenen Hause ist. Gerade seine Psychopathologie des Alltagslebens 4, die noch heute in dem geflügelten Wort des sog. »Freudschen Versprechers« sehr präsent ist, zeigt, Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 123 f. Vgl. Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt a. M. 1964. 3 4

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Die Narben der Geschichten

dass es Freud um die Klärung von Phänomenen ging, bei denen die Grenzen von bewusst und unbewusst gerade durchbrochen werden, insofern sich das Unbewusste aktiv in das bewusste Agieren einspielt und sich in diesem geltend macht. Dies hat Freud zur Theorie eines dynamischen Unbewussten geführt, demzufolge jede Geschichte, sei es eine Alltags- oder Traumgeschichte, gleichsam einen doppelten Boden hat. Die in seiner Traumdeutung eingeführte Unterscheidung eines manifesten und eines latenten Trauminhaltes 5 macht dieses recht deutlich: Der manifeste Trauminhalt stellt eine Geschichte dar, die sich zumeist an Alltagserfahrungen anknüpft und relativ klar beschrieben werden kann. Hinter dieser Geschichte verbirgt sich nach Freud jedoch noch ein zweiter Inhalt, den das Unbewusste mit seinen Konflikten in die Geschichte einspielt und der nicht so klar beschrieben werden kann, sondern erst gedeutet und ausgelegt werden muss. Erst diese Deutung legt den eigentlichen Gehalt der Traumgeschichte frei, während der manifeste Gehalt, also die präsente Geschichte des Traums, nur beiherspielendes Schmuckwerk bzw. ein Vehikel für den latenten Trauminhalt darstellt. Man könnte also von Freud her die Kritik an Schapp formulieren, dass er sich zu sehr auf die manifesten Gehalte der Geschichten kapriziert und sich zu wenig latenten Gehalten zugewendet hat, auch wenn bei Schapp im Verhältnis von der Geschichte zu ihrem Horizont eine solche Unterscheidung im Kern angelegt ist. Doch kommen wir zum zweiten von Schapp benannten Bezugspunkt zur Psychoanalyse: der Überschrift.

2.

Geschichten auf Tauchstation: Erinnern, Vergessen und die Verdrängung

In seiner Philosophie der Geschichten zeigt Schapp klar, dass für ihn jede Geschichte unter einer oder mehreren Überschriften steht. 6 Diese Überschriften sind gewissermaßen die Stichworte oder -sätze, mit denen die Geschichten fest verknüpft sind und bei deren Nennung die zugehörige Geschichte sich sogleich aktualisiert. So schreibt er: »Wir wollen keine Tests veranstalten, aber wir rufen hier etwa dem Leser zu: Rotkäppchen, Dornröschen, Schneewittchen, Heideröslein, König Lear, 5 6

Vgl. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 1991, S. 284 ff. Vgl. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, Frankfurt a. M. 32015, S. 297 ff.

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Dirk Stederoth

Hamlet, Die Räuber, Hektor. Mit diesen Namen wollen wir es bewenden lassen. Der Leser mag selbst urteilen, wie diese Namen Geschichten nach sich ziehen, und wenn er seine Aufgabe genau genommen hat, wird ihm auffallen, dass mit Heideröslein sich keine Geschichte einstellt, sondern nur die Frage: Was soll das dazwischen?« 7

An diesem Test zeigt sich sehr eindrücklich, inwiefern Überschriften oder »Stichworte«, wie Schapp es noch in seinem Buch In Geschichten verstrickt nannte, 8 ganze Handlungsstränge, Stimmungen, Charaktere etc. aktualisieren und aus dem Dunkel des Gedächtnisses hervorzaubern können. Erinnern braucht also Anlässe und diese Anlässe sind fast immer Namen, Überschriften, Stichworte, aber auch Bilder, mit denen die verbundene Geschichte sogleich mit auftaucht. So schreibt Schapp: »Bei all diesen Geschichten, die uns bekannt sind, kann man den Eindruck haben, als ob sie uns im Horizont umlagern und nur auf ein Stichwort warten, um sich gleichsam aus dem Schlaf zu erheben und uns gegenüberzutreten, auf uns zuzuschreiten.« 9 Es ist nun aber nicht immer so, dass auf die Nennung eines Stichwortes sofort die gesamte Geschichte in voller Klarheit vor Augen steht, sondern »sie können auch wie aus weiter Ferne erst langsam und in Bruchstücken auftauchen.« 10 Auch wenn sich Schapp zufolge die Geschichten nach und nach wieder ergänzen, 11 so fragt es sich doch, wann eine solche Ergänzung vollständig ist und warum manche Geschichten eher im Dunklen des Horizontes verbleiben und manche sich fast mühelos lichten, zumal Schapp davon ausgeht, »dass keine Geschichte jemals zum Abschluß kommt, dass keine Geschichte ganz im Horizont untertaucht.« 12 Um solche Fragen zu klären, bedürfte es aber nicht nur einer Theorie des Erinnerns, die Schapp ja mit der Überschrift bzw. dem Stichwort liefert, sondern mindestens ebenso sehr einer Theorie des Vergessens, die man aber in Schapps Buch In Geschichten verstrickt, von dem bloßen Hinweis darauf, dass die Geschichten, je länger sie zurückliegen, undeutlicher werden, 13 vergeblich sucht.

Ebd., S. 310. Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 112 ff. 9 Ebd., S. 112. 10 Ebd. 11 Vgl. ebd., S. 113. 12 Ebd., S. 124. 13 Vgl. ebd. 7 8

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Die Narben der Geschichten

Hier hat ihn allerdings die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse weitergebracht, wie seine Notizen vom 03. 08. 1955 belegen, die er mit »Vom Vergessen. (Beziehungen zu Freud?)« überschreibt. 14 Auch wenn hier Schapp nicht viel mehr als eine Aufzählung von Fragen ausführt, die eine Theorie des Vergessens zu beantworten hätte, so wurde ihm jedoch offensichtlich klar, dass hier eine deutliche Differenz seines Ansatzes zur Tradition der Psychoanalyse besteht, wenn er schreibt: »Bei Freud und seinen Nachfolgern wird die Frage nach dem Vergessen groß geschrieben, steht sie im Mittelpunkt. Eine andere Frage ist, ob es sich für uns lohnt, uns mit Freud auseinanderzusetzen und in welcher Weise die Auseinandersetzung erfolgen müßte, ob gelegentliche Seitenblicke genügen.« 15 Hieraus wird aber ebenfalls deutlich, dass für Schapp eine ausführliche Auseinandersetzung mit Freud noch ausstand. Dass er diese vermutlich nicht weiter verfolgt hat, zeigt sich an seiner vier Jahre später erscheinenden Philosophie der Geschichten, in der das Vergessen ebenfalls keine gesonderte Rolle einnimmt. Das ist insofern misslich, als Schapp für seine Geschichtenphilosophie eine wichtige Ergänzung aus der psychoanalytischen Theorie des Vergessens hätte gewinnen können, denn Freud kennt nicht nur ein zeitbedingtes allmähliches Verblassen von Ereignissen, sondern zudem ein aktives Verdrängen derselben, das in der Psychodynamik eine ganz zentrale Bedeutung einnimmt. Nehmen wir ein Beispiel, was Schapp selbst in den genannten Notizen ausführt: »Wenn einer einen anderen umgebracht hat und nachher sagt, er habe es vollständig vergessen, er könne sich mit dem besten Willen nicht daran erinnern, so scheint es nur zwei Möglichkeiten zum Verständnis zu geben: entweder lügt der Mann und ist geistig normal oder er sagt die Wahrheit und ist verrückt. Eine solche Geschichte kann man nicht vergessen.« 16

Angesichts einer Theorie des Vergessens, die vom Verblassen von Ereignissen durch zunehmende Bedeutungslosigkeit ausgeht, ist Schapps Urteil durchaus zu verstehen, denn die Bedeutung eines Tötungsdeliktes kann nicht so schnell verblassen. Allerdings kann es verdrängt werden, wenn es sich beispielsweise um einen unglücklichen Unfall handelt, und sich dann in neurotischen Symptomen Siehe Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 225 ff. [Seitenwechsel; S. 595 ff.]. 15 Vgl. ebd., S. 225 f. [Seitenwechsel; S. 595 f.]. 16 Vgl. ebd., S. 225 [Seitenwechsel; S. 595]. 14

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aufgrund von verdrängten Schuldgefühlen äußern. In diesem Fall steht dann in der Tat die Erinnerung nicht mehr zur Verfügung, wirkt sich aber weiterhin auf das Leben des Täters aus in Form von psychischen Symptomen. Mag sein, dass Schapp etwas Ähnliches mit dem Stichwort »verrückt« ausdrücken wollte – die psychodynamische Struktur dieser Form von Vergessen bzw. von Verstricktsein in eigene Geschichten, hätte er hingegen bei Freud lernen können. 17 Gleiches gilt womöglich für den Umgang mit den Geschichten von »Wahnsinnigen«, wie es Schapp nennt, die nun in den Fokus treten sollen.

3.

Verstrickte Fremdkörper: Normale und pathologische Geschichten

Im 14. Kapitel von In Geschichten verstrickt schreibt Schapp, dass »wir auch vielleicht die Trennungslinie zwischen den Gesunden und den Wahnsinnigen anders legen müssen, als die Tradition es tut. […] Wenn wir oben wagten, den Satz aufzustellen, dass man auch im Wachen noch in Traumgeschichten verstrickt sein könne, so mag man auch sagen können, dass der Gesunde oder Normale auch stets noch in Geschichten verstrickt ist nach Art der Geschichten des Wahnsinnigen oder Verrückten, vielleicht nur mit dem Unterschiede, dass es nicht zur vollen Verstrickung kommt, dass es gelingt, den Bann zu lösen.« 18

Nun sind zwar »wahnsinnig« und »verrückt« auch zu Schapps Zeiten keineswegs klar bestimmte klinische Begriffe, was auf einen erheblichen Informationsrückstand bei Schapp in diesem Bereich verweist, jedoch zeigt die Idee, die hinter diesen Ausführungen steht, eine enge Beziehung zur psychoanalytischen Krankheitsauffassung, die ebenfalls von einem fließenden Übergang zwischen normal und pathologisch ausgeht. Freud geht in seiner späten Schrift Das Unbehagen in der Kultur sogar so weit, die Kulturentwicklung selbst mit einem Anwachsen von Schuldgefühlen und entsprechend neurotischen Es ist der Tat bemerkenswert, dass Schapp sich der Struktur der Verdrängung nicht näher zugewandt hat, obgleich er sie natürlich durch das Werk Ernst von Asters (Psychoanalyse, Marburg 31959 – vgl. zur Verdrängung etwa: S. 52 ff.) und die Psychologischen Typen von C. G. Jung, auf die er mit explizitem Bezug zur Verdrängung in einer Notiz verweist (vgl. Notiz vom 21. 07. 1955, in Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, [Seitenwechsel; S. 557]), kannte. 18 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 154. 17

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Strukturen systematisch zu verbinden, 19 so dass von normal oder gesund gar nicht mehr die Rede sein kann, sondern vielmehr nur von Graden des Pathologischen. Vergegenwärtigt man sich, dass Freud seine Kulturtheorie in intensiver Auseinandersetzung mit den archaischen Kulturen des Totemismus in seiner Schrift Totem und Tabu 20 von 1913 entwickelt hat, und hier einen intrinsischen Zusammenhang zwischen Totemreligion, Neurose und Kulturentwicklung herausarbeitet, wird die Nähe zu Schapp noch deutlicher: »Es scheinen dabei enge Beziehungen zwischen Geschichten, Traumgeschichten, Wahnsinnsgeschichten, Rauschgeschichten und Zaubergeschichten zu bestehen. Wenn man von der Fülle der Geschichten ausgeht, werden sich diese Gebilde vielleicht überhaupt nicht trennen lassen. Die Trennung beruht vielleicht auf äußerlichen Gesichtspunkten und Merkmalen, die nicht in die Tiefe gehen.« 21

Für Schapp liegt diese Tiefe darin, dass alle diese Phänomene über Geschichten vermittelt und Ausdruck von Geschichten sind. Für Freud sind diese Phänomene aber ebenfalls über eine Geschichte vermittelt, die gewissermaßen die Urszene des neurotischen Charakters der Kultur darstellt: der bekannte Bruderhorden-Mythos, in dem die unterdrückte Bruderhorde den unterdrückenden Hordenvater tötet und im nachträglichen Gehorsam diesen im Totemtier wieder aufrichtet. Ohne das hier vertiefen zu wollen, zeigt sich bei Freud, dass jede Geschichte zugleich mit einer spezifischen Psychodynamik verbunden ist, die erst die wahre Bedeutung der Elemente einer Geschichte zum Ausdruck bringt, die in ihrem latenten und nicht unbedingt in ihrem manifesten Gehalt liegt. Auch in seinen Notizen vom 27. 07. 1955 kommt Schapp mit Bezug auf Ernst von Asters Buch zur Psychoanalyse 22, das Schapp offensichtlich durchgearbeitet hat, 23 auf psychische Störungen und insbesondere die Platzangst zu sprechen. Er schreibt: 19 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Abriss der Psychoanalyse / Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M. 1959, S. 89–191, hier: S. 174 f. 20 Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu, Frankfurt a. M. 1974. 21 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 154 f. 22 Vgl. von Aster, Ernst: Psychoanalyse, Marburg 1959. 23 In den nachgelassenen Notizen finden sich neben Erörterungen von Asters Buch lediglich ein Verweis auf eine direkte Rezeption von C. G. Jungs Psychologische Typen: Vgl. Notiz vom 21. 07. 1955 (Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 196 f. [Seitenwechsel; S. 557], die mit »Das Unbewußte« überschrieben ist. Verweise auf eine direkte Rezeption der Schriften Freuds sind nicht bekannt.

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»Wir sind von Anfang an etwas anders als Freud eingestellt. Die Platzangst zum Beispiel will uns nicht so ganz absonderlich erscheinen. Es gibt auch wohl viele Übergänge dazu. Es gibt Leute, die sich immer dicht an die Häuser halten, fast mit ihren Ärmeln die Häuser streifen. So mag man sich die Platzangst vorstellen können, als wenn ein Mann vom sicheren Ufer aus aufs Meer hinausfahren will. Die Platzangst mag auch im Zusammenhang stehen, dass man in einem Lokal oder Restaurant sich zunächst immer einen Eckplatz oder einen Platz an der Wand aussucht und dass die Plätze mitten im Saal weniger begehrt sind. Man könnte meinen, dass jeder nach Deckung sucht, nach Stütze, nach einem Haltepunkt. […] [F]ragen wir nicht mit Freud nach den Fremdkörpern in der Geschichte, sondern betrachten wir die ganze Geschichte« 24.

Schapp rezipiert hier Freud als eine psychiatrische Perspektive, die in allen Erscheinungen oder Geschichten eine Pathologie, oder einen »Fremdkörper«, wie Schapp sich ausdrückt, zu entdecken strebt. Vor diesem Hintergrund könnte man das Verhältnis von Schapp und Freud bezüglich der Relation normal/pathologisch wie folgt charakterisieren: Beide streben danach, die Grenze zwischen normal und pathologisch zum Fließen zu bringen, wobei aber Schapp das Pathologische durch die Einheit der Geschichten normalisieren will, während Freud umgekehrt das Normale durch den Aufweis psychodynamischer Strukturen pathologisiert. Vor dem Hintergrund dieser Verhältnisbestimmung könnte man von Freuds Perspektive aus gegen Schapp argumentieren, dass Schapp die Dramatik und das Leiden einer neurotischen Störung gehörig unterschätzt, wenn er sie lediglich mit der Gemütlichkeit eines Randplatzes in einem Restaurant vergleicht. Eine neurotische Störung wie Platzangst kann ja dazu führen, dass eine Person kaum noch fähig ist, überhaupt am sozialen Leben teilzunehmen. Wenn, wie Schapp sich im obigen Zitat ausdrückte, »der Bann nicht gelöst werden kann«, dann ist die betroffene Person diesem Bann gänzlich ausgeliefert, ist Sklave der eigenen unbewussten Dynamik, die nur in einem langwierigen therapeutischen Prozess gelöst bzw. gemindert werden kann. Nur weil der Neurotiker auch in Geschichten verstrickt ist, ist ihm dadurch nicht auch schon gleich geholfen. In umgekehrter Richtung könnte aber auch Schapp dem Freudschen Ansatz begegnen und ihm eine Dramatisierung der Normalität

Schapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 207 f. [Seitenwechsel; S. 570 f.].

24

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vorwerfen, denn nicht jede kleine Grille oder untypische Gewohnheit ist schon gleich als eine Pathologie anzusehen und auch das Leiden gehört fast in jede Geschichte mit hinein, gehört zum normalen Leben einfach hinzu – das Leiden ist ein Element, aber eben nur ein Element der ganzen Geschichte. In dieser Hinsicht ist der Ausdruck des Verstricktseins in die eigene Geschichte erheblich neutraler.

4.

Wunden und Narben der Geschichten

In einem letzten Schritt sei nochmals der Begriff der Geschichten selbst vor dem Hintergrund des erörterten Spannungsfeldes zwischen Schapp und der Psychoanalyse näher in den Blick genommen. In einer Notiz vom 02. 08. 1955 schreibt Schapp, »dass Freud keine Theorie von Geschichten hat« 25, wobei sich eine nähere Erläuterung dieser Behauptung in einer Notiz vom 27. 07. 1955 findet: »Der Analytiker, wenn wir so kurz sagen dürfen, hat die Geschichte nicht in dem Sinne im Griff wie wir, er sieht die Geschichte nicht so wie wir, ja er sieht sie als Geschichte, eingeordnet in andere Geschichten überhaupt nicht, er sieht den Wald der Geschichten vor lauter Bäumen nicht. Die Geschichte ist für ihn kein Element, welchem nur nach unserer Art beizukommen ist, sondern ein Gebilde, welches aufzulösen ist in Akte, Gegenstände, mit den Mitteln der Psychologie oder einer Ontologie oder einer unerkannten Metaphysik.« 26

Es lässt sich fragen, ob Schapp mit dieser Einschätzung dem Freudschen Ansatz wirklich gerecht wird. Zwar verwendet Freud das Wort »Geschichten« nicht allzu häufig, jedoch der Sache nach besteht etwa der therapeutische Prozess in wenig anderem als im Deuten von Geschichten, die der Klient dem Analytiker erzählt bzw. im freien Assoziieren über Träume und andere Geschichten, das vom Klienten selbst vorgenommen wird, wobei der Analytiker die Aufgabe hat, in den Geschichten und Assoziationen Muster zu erkennen, die die einzelnen Geschichten miteinander verbinden. Geschichten bilden also den Ausgangspunkt jeder Analyse, jedoch geht es über den bloßen Sachverhalt, dass es sich um Geschichten handelt, hinaus um das Aufweisen unbewusster Strukturen, die sich in die Geschichten mit einSchapp: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, S. 224 [Seitenwechsel; S. 594]. 26 Ebd., S. 205 [Seitenwechsel; S. 568]. 25

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schreiben und zu leidvollen Situationen führen. Jede Geschichte hat in der Analyse eben – wie bereits oben erwähnt – einen doppelten Bedeutungskontext, demgemäß sie einerseits einen manifesten Gehalt hat, der auf der Oberfläche der Geschichte spielt, und andererseits einen latenten Gehalt, der den Ausdruck der unbewussten Struktur darstellt, die sich in die Geschichte mitbestimmend eingewoben hat. Man könnte also, metaphorisch an das Eingangsbild anknüpfend, sagen, dass in der Psychoanalyse jede Geschichte im manifesten Gehalt, in ihrer Oberflächenstruktur also, Vernarbungen aufweist, die Ausdruck tieferliegender Wunden sind, wobei dies Bild nicht so zu verstehen ist, dass jede Geschichte nur auf eine Wunde verweist. Vielmehr ist die Geschichte der ursprünglichen Verwundung ins Unbewusste verdrängt worden und treibt von hier aus die Narben in alle Geschichten hinein. Diese Narben in den Geschichten aufzuweisen, um auf diesem Wege die ursprüngliche Verwundung wieder zum Bewusstsein, zu einer erinnerten Geschichte werden zu lassen, ist die Hauptaufgabe im klassischen Setting einer Psychoanalyse. Insofern greift Schapps Urteil über Freud zu kurz, da dieser sehr wohl eine Theorie der Individualgeschichten hat, jedoch zusätzlich eine Theorie, die die Wirksamkeit des Dunklen im Horizont der Geschichten zu erklären strebt. Doch fehlt Schapp nun eine solche Dimension völlig? Fehlt ihm ein Sensorium für die Narben in den Geschichten der Einzelnen? Keineswegs, könnte man sagen, wenn man sich etwa Schapps Umgang mit dem Märchen vom Rotkäppchen vergegenwärtigt: »Gegen alles Erwarten findet die Geschichte noch ihr glückliches Ende. Allerdings verschweigt uns die Geschichte die Nachgeschichte. Im Leben von Rotkäppchen wird diese Geschichte niemals ausgelöscht werden. Sie führt in ihrem Leben ein eigentümliches Dasein weiter. Die Geschichte wird sie im Wachen und im Traum nicht wieder loslassen.« 27

Wie sich jedoch das »eigentümliche Dasein« des traumatischen Erlebnisses von Rotkäppchen in die Nachgeschichte einspielt, darüber lässt uns Schapp weitgehend im Dunklen. Dass das Rotkäppchen beim Auftauchen möglicher Stichworte diese Geschichte wieder aktualisiert, sich an sie erinnert oder von ihr träumt, wäre nur eine Variante der Nachgeschichte. Angstzustände, Amnesien, Panikattacken wären 27

Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 92.

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andere Varianten aus dem reichhaltigen Set an traumatischen Symptomatiken.

5.

Schluss

Wie lässt sich nun das Verhältnis von Schapp zur Psychoanalyse und insbesondere Freud vor dem Hintergrund des Erörterten zusammenfassend beurteilen? Zum Einstimmen in die Beantwortung dieser Frage sei nochmals ein Passus aus Schapps Philosophie der Geschichten zitiert: »So wie die Dinge heute stehen, finden wir die meisten Berührungspunkte bei den Lehren von S. Freud, C. G. Jung und A. Adler […]. Mit Freud und seinen Nachfolgern verbindet uns, dass auch sie von Geschichten ausgehen, ohne allerdings die Zusammenhänge zu sehen, die für uns im Mittelpunkt stehen, oder auf die wir umgreifend unsere Untersuchungen auszudehnen versuchen.« 28

In Bezug auf die umgreifende Ausdehnung der Geschichtenphilosophie muss hier Schapp ohne Umschweife recht gegeben werden, insofern man bei Freud vergeblich nach einer Theorie der hergestellten Dinge sucht, also Schapps »Wozudinge«, wie er sie im ersten Teil von In Geschichten verstrickt ausführt. Ebenso findet man bei Freud keine Theorie der physikalischen Dinge und der Lebewesen, wie sie etwa in Schapps Metaphysik der Naturwissenschaft dargelegt wird. Allerdings wäre es auch müßig, diese Fehlstellen Freud ernsthaft vorwerfen zu wollen – hier haben der Philosoph Schapp und der Psychiater und Psychologe Freud selbstredend andere thematische Fokussierungen. Was allerdings das Verstricktsein des Menschen in seine eigenen Geschichten angeht, so ist das Verhältnis von Schapp und Freud durchaus anders einzuschätzen, denn es zeigte sich an den verschiedenen thematischen Bereichen, die im Vorangehenden durchgegangen wurden, dass Freud nicht nur den gleichen Ausgangspunkt in den Geschichten der einzelnen Menschen nimmt, sondern gerade, was die Erklärung des spezifischen Charakters der Verstrickungen betrifft, elaborierter als Schapp sich zeigte. Im Vergleich zu der sehr interessanten Ableitung des Zugangs zu physikalischen Dingen aus dem 28

Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 345.

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Herstellungsprozess von Dingen, also aus den »Wozudingen«, wie sie im ersten Teil von In Geschichten verstrickt vorgenommen wird, verbleibt Schapp im zweiten Teil des Buches häufig auf der Ebene des bloßen Aufweises von Phänomenen, wobei die explanative Dimension sich allzu häufig im bloßen Verweis auf die Geschichten erschöpft, was letztlich nicht viel zur Klärung der Phänomene beiträgt. Auch wenn Schapp mit dem Begriff des Horizontes, dem der Überschrift und der Angleichung von normalen und pathologischen Geschichten sehr interessante Ansätze ausführt, bleibt er eine vertiefte Erklärung dieser Strukturen im Vergleich zu den Freudschen Theorien häufig schuldig. Hier hat Freud weit mehr zu bieten und es ist sehr schade, dass sich Schapp wohl nie ausführlich und eingehend mit den Freudschen Schriften selbst auseinandergesetzt hat – dies hätte sicherlich zu einer gewinnbringenden Erweiterung seiner Theorie des Verstricktseins des Menschen in seine Geschichte geführt. Aber vergangenen Geschichten gegenüber lassen sich keine Wünsche äußern – gegenüber zukünftigen aber sehr wohl.

Literatur: Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Frankfurt a. M. 1964. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 1991. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Abriss der Psychoanalyse / Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M. 1959, S. 89–191. Freud, Sigmund: Totem und Tabu, Frankfurt a. M. 1974. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, Frankfurt a. M. 32015. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten II, hgg. v. Karen Joisten, Jan Schapp und Nicole Thiemer, Freiburg / München 2017. Von Aster, Ernst: Psychoanalyse, Marburg 1959.

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»Legenden als Geschichtsquellen.« Kirchengeschichtliche Aspekte einer Philosophie der Geschichten Volkmar Ortmann

Der Titel »Legenden als Geschichtsquellen« ist angelehnt an einen gleichnamigen Vortrag, den Adolf von Harnack 1890 in Berlin gehalten hat. Innerhalb des Gesamtwerks hat dieser Beitrag bisher nur wenig Beachtung gefunden. 1 Obwohl der Titel in eine andere Richtung zu weisen scheint und etwas anekdotenhaft wirkt, fügen sich Harnacks Ausführungen sachlich in die Reihe seiner geschichtstheoretischen Arbeiten ein, die alle in der Zeit danach verfasst wurden. Der hier besonders in den Blick genommene kurze Vortrag kann daher sogar als paradigmatisch für Harnacks Geschichtsverständnis gelten, soweit die später entfalteten Ansichten hier bereits angelegt und angedeutet sind. 2 In besonderer Weise lassen sich jedoch von diesem Vortrag aus Verbindungslinien zwischen einer kirchengeschichtlichen Betrachtungsweise und der Philosophie der Geschichten herstellen.

1.

Adolf (von) Harnack (1851–1930)

Adolf Harnack war Sohn des Luther-Forschers Theodosius Harnack (1817–1889) und wurde im damals livländischen Dorpat, dem heutigen Tartu in Estland, geboren. Er studierte Theologie in Leipzig, wo er sich 1874 habilitierte. Von 1879–1886 war er zunächst in Gießen, 1 Vgl. Harnack, Adolf von: Legenden als Geschichtsquellen, in: ders.: Reden und Aufsätze. Bd. 1, Gießen 21906, S. 1–27. Als Beispiel für die geringe Bedeutung, die diesem Beitrag innerhalb von Harnacks Gesamtwerk beigemessen wird, mag die von Kurt Nowak herausgegebene Sammlung der Reden und Schriften, Adolf von Harnack als Zeitgenosse. 2 Teile, Berlin 1996, gelten, in der er fehlt. 2 Zu Harnacks Geschichtsverständnis vgl. z. B. Basse, Michael: Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs, Göttingen 2001, S. 52–84, bes. S. 53 und S. 62 (mit Anm. 72). Vgl. auch Nowak, Kurt: Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker, in: ders. (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, S. 189–237, bes. S. 207–211.

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Volkmar Ortmann

anschließend (1886–1888) in Marburg Professor für Kirchengeschichte, bevor er nach Berlin wechselte. Dort war er bis zu seiner Emeritierung 1921 tätig und wurde dort auch beigesetzt. Harnacks wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität hatte ihre Schwerpunkte auf den Gebieten der Dogmengeschichte und der Patristik; zu seinen Schülern gehörten Dietrich Bonhoeffer (1906– 1945) und Rudolf Bultmann (1884–1976), aber auch Karl Barth (1886–1968). Darüber hinaus erlangte er Bedeutung als Wissenschaftsorganisator: So war er Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und Gründungspräsident der »Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft« (1911–1930), aus der 1948 die »Max-Planck-Gesellschaft« hervorging; für diese Verdienste wurde er 1914 in den Adelsstand erhoben. Außerdem war Harnack von 1903–1912 Präsident des Evangelisch-Sozialen Kongresses. 3 Für den hier besonders interessierenden Zusammenhang mag es zudem mehr als nur eine volkskundliche Randnotiz darstellen, dass Adolf von Harnack selbst im Rückblick über seine livländische Heimat schreibt: »Die Eigentümlichkeit dieser Kultur lag gerade in ihrer Verbreitung, nämlich durch den mündlichen Austausch und den lebendigen Verkehr von Person zu Person. Sie ist keine Buchkultur, sondern hat sich durch das lebendige Wort fortgepflanzt und konnte hier und dort einen Stand von seltener Höhe erreichen.« 4

Das Erzählen, die mündliche Überlieferung und das damit verbundene Anekdotenhafte, Legendarische war Harnack sehr vertraut. Diese Formen der Kommunikation gehörten zu seinen prägenden Lebenserfahrungen, die er selbst meisterlich beherrschte. 5 3 Vgl. zu Harnacks Biografie z. B. Hauschild, Wolf-Dieter: Harnack, Adolf, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3, hgg. v. Hans D. Betz, Don S. Browning, Bernd Jenowski und Eberhard Jüngel, Tübingen 42000, Sp. 1457–1458; Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Harnack, Adolf von (1851–1930), in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 14, hgg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin / New York 1985, S. 450–454; Nowak, Kurt: Historische Einführung, in: ders. (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 1–95. 4 Harnack, Adolf von: Festrede, in: Erinnerungsblätter an die Feier des Hundertjährigen Jubiläums der Livonia Dorpati in Jena, 19.–21. September 1922, hgg. vom Jubiläums-Festausschuß, Berlin 1922, S. 7–12, hier: S. 9. 5 Vgl. z. B. Zahn-Harnack, Agnes von: Adolf von Harnack, Berlin 21951, S. 20: »Auf den vom Weltverkehr abgelegenen Herrenhöfen blühten und gediehen die menschlichen Originale in ungehemmtem, eigenwilligem Wachstum und mit ihnen gedieh

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»Legenden als Geschichtsquellen.«

Darüber hinaus waren in Harnacks Geschichtsdenken und der Art seiner Geschichtsschreibung unterschiedliche Einflüsse wirksam: Neben seinem Dorpater Lehrer Moritz von Engelhardt (1828–1881) sind die Theologie Albrecht Ritschls (1822–1889) ebenso zu nennen wie die »Historische Schule« 6, namentlich Theodor Mommsen (1817–1903), und die Philosophie Wilhelm Diltheys (1833–1912). Diese vielfältigen und teilweise gegensätzlichen Einflüsse führte Harnack in seiner eigenen Geschichtsschreibung zusammen, ohne sie allerdings tiefer zu systematisieren: »Die Geschichtsschreibung war für Harnack das Resultat der Verbindung von ›Tatsachenforschung‹ und ›Lebensweisheit‹.« 7 Sie bewegte sich zwischen einem methodisch streng rückgebundenen Realismus mit dem Beharren auf rationaler objektiver Erkenntnis historischer Ereignisse einerseits und idealistischer Spekulation andererseits, womit Harnack insgesamt dem Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts wesentlich verhaftet blieb. Zugleich birgt sein Ansatz durchaus Potenzial, das aufgrund der mangelnden Systematisierung nur undeutlich erkennbar ist: Sein Anliegen, die Spannung zwischen historischer Methode und theologischem Denken konstruktiv aufzunehmen, gehört ebenso dazu wie die Verbindung von historischer Erkenntnis und je aktuellem Handeln. 8 Beide Aspekte können hier nur angedeutet werden; mit ihnen die Anekdote, die Kunst des pointierten Erzählens und der geistreich-witzigen Formulierung, eine Kunst, in der Adolf Harnack selbst ein Meister wurde.« Vgl. auch Nottmeier, Christian: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2004, S. 29. Vgl. z. B. auch Nowak, Kurt: Theologie, Philologie und Geschichte, S. 204: »Mit seinem ›Lehrbuch der Dogmengeschichte‹ hatte er eine ›große Erzählung‹ vorgelegt«. 6 Die Bezeichnung »Historische Schule« gilt zunächst der sogenannten »Historischen Rechtsschule«, zu der etwa Freiherr Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) oder Jacob Grimm (1785–1863) gerechnet werden. Darüber hinaus – in weiterem Sinne – werden damit die Vertreter einer kritischen Methode zur Erschließung und Interpretation von Quellen bezeichnet, z. B. Heinrich von Sybel (1817–1895) oder Johann Gustav Droysen (1808–1886), aber eben auch Theodor Mommsen und Adolf von Harnack, vgl. Mehlhausen, Joachim: Geschichte/ Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VII/2. 19.–20. Jahrhundert, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 12, hgg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin / New York 1984, S. 643–658, bes. S. 649–652. 7 Vgl. Basse: Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs, S. 54–62, Zitat a. a. O., S. 75. 8 Vgl. ebd., S. 82–84; Nowak: Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, S. 210 f.

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Volkmar Ortmann

verbunden ist aber die Frage nach der Vermittlung historischer Erkenntnisse, dem Erzählen von »Geschichte« und dem heuristischen Wert von »Legenden« als Geschichtsquellen.

2.

Legenden als Geschichtsquellen

In seinem Vortrag setzt sich Harnack mit folgendem Problem auseinander: Dem Bedürfnis »der wirklichen Geschichte ins Auge zu sehen«, stehe die Tatsache gegenüber, dass große und wesentliche Teile der historischen Überlieferung legendarisch überformt seien. Für viele prominente Ereignisse der Kirchengeschichte könne jenseits der Legende ein Geschehen gar nicht verifiziert werden. 9 Wenn Harnack von »der wirklichen Geschichte« schreibt, formuliert er den Anspruch, historische Ereignisse zu objektivieren. Die Legende steht dazu im Widerspruch und es ist umso interessanter, was Harnack über ihren Wert für Historiografie und historische Erkenntnis ausführt: »Die Legende will die Geschichte charakterisieren. Die Legende […] ist Beurteilung der Geschichte in der Form der Geschichtserzählung.« 10 In anderen Worten: Eine »Legende« ist die Deutung eines Geschehens, ein »Urteil projiziert in die Geschichte«. 11 Sie ist darüber hinaus eine Verdichtung von Geschehen, das die komplexen oder sogar amorphen Abläufe historischer Vorgänge überhaupt erst zu einem Ereignis konturiert. 12 Besonders betont er dieses Potenzial im Blick auf die Darstellung historischer Personen: »Indem die Legende ihre Helden charakterisiert, verstärkt sie oftmals das in ungeschichtlicher Weise, was ihnen eigentümlich gewesen ist.« 13

Vgl. Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 3–5, Zitat a. a. O., S. 4. Er nennt als Beispiele u. a. Luthers Tintenfass, das Rosenwunder der Heiligen Elisabeth und die Sibyllen Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle. 10 Ebd., S. 10. 11 Vgl. ebd., S. 9 ff., Zitat a. a. O., S. 10. 12 Vgl. ebd., S. 14: »Das Beste am Menschen, sagt Goethe, ist gestaltlos! Wie soll die reine Geschichtserzählung das Gestaltlose wiedergeben? Sie kann es nicht; aber die Legende vermag es.« 13 Vgl. ebd., S. 13–18. Zitat a. a. O., S. 16. Daran schließt sich gut die Formulierung Wilhelm Schapps an: »Es gibt […] Geschichten, die als Einzelgeschichte im Mittelpunkt eines ganzen Lebens stehen, Geschichten, von denen aus ein ganzes Leben verständlich wird, von denen aus erst alle vorhergehenden und nachfolgenden Geschich9

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»Legenden als Geschichtsquellen.«

Für Harnack besteht nun durchaus ein Unterschied zwischen den Geschehnissen der »tatsächlichen Geschichte«, den material und empirisch verifizierbaren Tatsachen, und ihrer Darstellung. Aber er hält die Differenz für marginal, ob diese Darstellung poetische oder wissenschaftliche Form hat. 14 Selbst wenn sie sich penibel und akribisch an die vermeintlichen Tatsachen hält, ist sie in der hier von Harnack verwendeten Diktion letztlich doch »Legende«. Gleichwohl fordert er, dass es darum gehen müsse, die »richtig erkannten Tatsachen nach Maßgabe ihrer Kräfte zu gruppieren« 15, also die Verifizierbarkeit der Darstellung in den Vordergrund zu rücken, um Beliebigkeit und bewusste Instrumentalisierung der Vergangenheit abzuwehren. Andererseits weist er die Erwartung ab, dass eine historische Darstellung völlig objektiv sein könnte: »Als ob es überhaupt eine lehrreiche Geschichtsschreibung geben könnte, die nicht subjektiv wäre!« 16 Die Wahrnehmung und Deutung der Geschehnisse ist unweigerlich an die Perspektive der Person gebunden, welche die historischen Tatsachen erforscht. In diesem Sinn ist jede Form der Geschichtsschreibung, sofern sie in irgendeiner Weise Geschehnisse anordnet, gruppiert und deutet für Harnack letztlich »Legende«. Sie kann sogar selbst zu einer geschichtlich wirksamen Größe werden, denn die »Macht der Legende« vermag die »Gewalt der Geschichte« zu brechen. 17 Das, was unwiderruflich geschehen ist, wird begleitet oder sogar überlagert von den Gedanken über das Geschehene. Harnack schreibt im Blick darauf ten ihren letzten Sinn erhalten.« Vgl. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 128. 14 Vgl. z. B. Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 12: »Der Sprachgebrauch nennt auch nicht alle Urteile über die Geschichte Legenden. Das zutreffende geschichtliche Urteil, wenn es nicht in eine poetische Form gekleidet wird, nennen wir nicht so. Aber im letzten Grunde ist kein Unterschied.« 15 Ebd., S. 21. 16 Ebd., S. 20. Vgl. auch ebd.: »Nur dem sehenden Auge und dem urteilenden Geist erschließt sich die Geschichte.« 17 Vgl. z. B. ebd., S. 20: »Der Prophet, der die Niederlage Israels als Züchtigung deutet, der sich Assur oder Babel entgegenstemmt, weil er an ihren definitiven Sieg trotz des Augenscheins nicht glaubt, ermutigt und rettet durch seine paradoxe Geschichtsdeutung sein Volk. Er bricht die Gewalt der Geschichte durch die Macht der Legende.« Vgl. auch Harnack, Adolf von: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, in: ders.: Reden und Aufsätze. Bd. 4. Erforschtes und Erlebtes, Gießen 1923, S. 3–23, bes. S. 4 (= Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 927–947, hier: S. 928): »Nicht nur wie die Geschichte gemacht wird, sondern auch wie sie erzählt wird, entscheidet über Gegenwart und Zukunft eines Volkes.«

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auch von einer »doppelten Geschichte«: eine »Geschichte der Tatsachen« und die »Geschichte der Gedanken über die Tatsachen«. 18 Die Legende ist diese zweite Geschichte, und Harnack betont sogar: »Wir alle leben in der Legende, d. h. in Urteilen über die Geschichte.« 19

2.1 In Geschichte(n) verstrickt Der Sinn, sich mit dem Vergangenen zu beschäftigen, liegt für Harnack in der Gegenwart, wie er an anderer Stelle formuliert: »Um in den Gang der Geschichte einzugreifen, deshalb treiben wir Geschichte.« 20 Es ist für Harnack also durchaus möglich, aus der Geschichte zu lernen, und dazu müsse sie »Gegenstand der Erkenntnis für uns […] werden«. 21 Und er führt wiederum an anderer Stelle aus: »Alles, was da in der Geschichte vorgegangen ist und vorgeht, das bist du selbst, und es kommt nur darauf an, dass du es mit Bewußtsein ergreifst.« 22 Ohne dass Harnack die Begrifflichkeit oder Aussagen Wilhelm Schapps vorwegnimmt, weisen seine Aussagen in dieselbe Richtung und lassen sich gut anschließen: Wir sind in Geschichten verstrickt, in Legenden. Exemplarisch ist dies an den besonderen historischen Gestalten erkennbar, denn: »Eine große Persönlichkeit, welche der Geschichte angehört, gehört ihr doch nur in dem an, was sie ihr bedeutet. Das bringt die Legende unübertrefflich zum Ausdruck.« 23 Die geschichtliche Bedeutung einer Persönlichkeit liegt weniger in ihr selbst, gleichsam absolut oder abstrakt, als darin, dass sie Teil eines Überlieferungs- oder Erzählzusammenhangs geworden ist. Ohne diesen Vgl. Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 10 f.: »Somit leben wir in einer doppelten Geschichte: in der Geschichte der Tatsachen […] und in der Geschichte der Gedanken über die Tatsachen. An jener Geschichte vermögen wir nichts zu ändern, wenn sie sich einmal vollzogen hat; an dieser Geschichte arbeiten wir unaufhörlich selbst mit.« 19 Ebd., S. 10. 20 Vgl. Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 7 (= Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 931). 21 Vgl. ebd., S. 8. 22 Harnack, Adolf von: Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?, in: ders.: Reden und Aufsätze. Bd. 4. Erforschtes und Erlebtes, Gießen 1923, S. 171–195, hier: S. 187 [= Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 964]. 23 Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 17. 18

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wäre ihre Bedeutung mindestens fraglich; wo nichts erzählt wird, wird auch nichts bekannt, und unabhängig von einer möglichen faktischen Bedeutung fällt eine Person ohne eine solche Überlieferungs-, Gedenk- und letztlich Erzählkultur dem Vergessen anheim, der damnatio memoriae. Eine Person, an die man sich nicht erinnert, war historisch unbedeutend. Wiederum lässt sich hier von Harnacks Position aus gut an Wilhelm Schapp anknüpfen, der schreibt: »Dies Bekanntsein von Geschichten lenkt wieder hin auf Bekanntsein von Menschen, die in die Geschichten verstrickt sind.« 24 Die Geschichte wird zum Synonym für die Person, über die sie erzählt: »Die Geschichte steht für den Mann.« 25 Harnack erläutert zudem, dass der jeweilige Erzählzusammenhang mehr beinhaltet als die Weitergabe sachlicher Information. Es geht um den »Eindruck«, den eine Person auf ihre Zeitgenossen gemacht hat: »Die gewaltige Persönlichkeit spiegelt sich niemals vollkommen in den Tatsachen; sie spiegelt sich in den Köpfen und Herzen derer, die sie entzündet und entflammt hat.« 26 Die Legenden entfalten und runden das Bild ab, das wir von einer historischen Person bekommen. In seinem Werk Das Wesen des Christentums geht Harnack sogar noch einen Schritt weiter und formuliert, dass »jede große, wirksame Persönlichkeit einen Teil ihres Wesens erst in denen offenbart, auf die sie wirkt« 27. Er vertritt damit keineswegs die theologisch Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 101. Vgl. auch a. a. O., S. 85 f.: »Dies Verstricktsein läßt sich nicht so aus der Geschichte lösen, […] dass die Geschichte überhaupt noch irgend etwas wäre ohne den Verstrickten, oder der Verstrickte noch irgend etwas wäre ohne die Geschichte.« 25 Ebd., S. 100. Vgl. auch a. a. O., S. 103–106. Vgl. auch Pohlmeyer, Markus: Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 126–141, hier S. 137 f. 26 Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 24. Vgl. auch a. a. O., 23 f.: »Sind Legenden Geschichtsquellen? Wir antworten: Nein; sie sind es zunächst in keinem Sinn; denn da sie sämtlich, die wahren und die falschen, aus dem Eindruck und dem Urteil geflossen sind, so bieten sie keine Gewähr dafür, dass die Tatsachen richtig wiedergegeben sind. […] Wer die Tatsachen ermitteln will, muß bei den Institutionen einsetzen; sie sind das Rückgrat der Geschichte. […] Aber wenn die Kette der Erscheinungen sicher hergestellt ist, dann hat der Geschichtsschreiber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, die Legenden kritisch zu benutzen.« 27 Harnack, Adolf von: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 22007, S. 15,6 f.; vgl. auch a. a. O., S. 192,20 f. 24

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zweifellos problematische Vorstellung von einer Fortsetzung der Offenbarung Gottes in der Geschichte. Harnack bleibt mit dieser Aussage ganz auf den Bereich einer grundsätzlich menschlichen und der allgemeinen historischen Forschung zugänglichen Erkenntnis bezogen. Im Hinblick darauf formuliert er die These, dass erst im Lauf der Zeit und in den Nachwirkungen erkennbar wird, was eine historische Persönlichkeit immer schon gewesen sei. Die Geschichte ist sozusagen der Spiegel, in dem sie sich zeigt, und die Legenden, die Erzählungen, aber auch die historisch-kritischen Darstellungen über sie, spiegeln dieses Bild dabei in besonderer Weise. Es geht um die Wirkung einer Lebensgeschichte, die eine aktuelle Beschäftigung provoziert, weil sie noch nachwirkt und – wie Schapp es formuliert – darin eine Fortsetzung findet. 28 Das Beispiel par excellence und geradezu Inbegriff für den unhintergehbaren Wert von Legenden ist für Harnack Jesus Christus, und er folgert: »Was hier im Großen gilt, das gilt auch im Kleineren. Die Tatsachen allein bringen uns nie einer entschwundenen Person näher. Aus dem Eindruck, den sie auf die Gemüter hinterlassen, wird sie selbst erkannt und geliebt: So entzündet sich eine Fackel an der anderen.« 29

Die fremde Geschichte wird – mithilfe der Legende – zur eigenen Geschichte. 30 Es lässt sich also durchaus auch von Harnacks Geschichtsverständnis her formulieren: »Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter.« 31

2.2 Wahre und falsche Legenden – die Ambivalenz der Verstrickung in Geschichte(n) Gerade im Blick auf die Geschichten, die über Personen erzählt werden oder die Personen von sich erzählen, liegt die Problematik auf der Hand, wie Wahres und Falsches voneinander geschieden werden könVgl. z. B. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 118 f. Harnack: Reden und Aufsätze. Bd. 1, S. 24 f. Vgl. auch a. a. O., S. 24: »Erst dadurch, dass wir die Legende von ihm besitzen […] – d. h. den Eindruck, den er auf seine Jünger gemacht, leuchtet uns das ganze Bild seiner Herrlichkeit auf.« Vgl. auch Harnack: Das Wesen des Christentums, S. 15 f.; S. 192,14–39. 30 Vgl. z. B. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 101 f. 31 Ebd., S. 1. 28 29

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nen. Ganz deutlich scheint hier Schapps juristische Erfahrung auf, und das Wissen um die Notwendigkeit, ein »Urteil« über die Person bzw. die sie konstituierenden Geschichten zu fällen. Allerdings ist dabei auch zu berücksichtigen, dass es »wahre« und »falsche« Geschichten gibt. 32 Eine Geschichte kann täuschen, daher soll sie sich »bewahrheiten«. So geht auch Schapp davon aus, dass eine Differenz bestehen kann zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was darüber erzählt wird, zwischen Aussage und Sachverhalt. Ebenso sieht Schapp durchaus die Aufgabe, diesen Sachverhalt zu erheben, eine Geschichte zu verifizieren; aber ebenso steht fest: Das geht nicht außerhalb von Geschichten. Selbst wenn handfeste Beweise für einen bestimmten Sachverhalt präsentiert werden, stehen sie für Schapp nicht absolut und jenseits einer Geschichte, sondern sind immer darin eingebettet. 33 Adolf von Harnack konstatiert ebenfalls einen fundamentalen Unterschied zwischen »wahren Legenden« und »falschen Legenden«, zwischen einem Sachverhalt und dem, was darüber erzählt, wie er bewertet wird. Sein Ansatz, um diese Differenz zu klären, beruht hingegen auf dem Vertrauen darauf, dass es möglich ist, über die Vermittlung eines Sachverhalts zu diesem vorzustoßen: Es gibt für ihn eine »Geschichte der Tatsachen«, von der aus die »Geschichte der Gedanken über die Tatsachen« korrigierbar ist. 34 Darin besteht dann auch für Harnack die Aufgabe der (Kirchen-)Geschichtsschreibung: Es gehe darum, »der falschen Legende kräftig entgegenzutreten und mitzuarbeiten an der Überlieferung der Wahrheit und der Kraft, an der Überlieferung der wahren Legende« 35. Hinter den Legenden scheint stets ein Sachverhalt auf, der unabhängig von diesen aufgehellt, ergründet und verifiziert werden kann (und muss). Für diese Geschichten über die Tatsachen verwendet Harnack das Bild einer Verpackung, die ihren echt wertvollen Inhalt umkleidet: »Das Futteral ist unecht und wertlos, aber in ihm ver-

Vgl. ebd., S. 91; S. 101; S. 172 f.; S. 181–185. Vgl. z. B. ebd., S. 182 f., Zitat a. a. O., S. 182. Vgl. dazu auch Pohlmeyer: Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung, S. 127 f., bes. S. 127: »Die Differenz zwischen wahr und falsch einer Geschichte im Sinne einer ontologischen Abwertung wird verflüssigt, denn es gibt keine Wahrheit außerhalb der Geschichten, auf die wir uns beziehen könnten.« 34 Vgl. Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 10 f. (vgl. oben Anm. 18). 35 Vgl. ebd., S. 23; S. 25 f. Zitat a. a. O., S. 26. 32 33

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borgen steckt ein wertvoller Diamant.« 36 Es entspricht dem, was er an anderer Stelle als die Aufgabe der Kirchengeschichte beschreibt, nach dem »Kern der Dinge« zu forschen, 37 ohne ihn von dem zu isolieren, was ihn umgibt, »das Wesentliche in der Erscheinung zu fassen« 38. An anderer Stelle beschreibt Harnack dies mit einem weiteren bildlichen Vergleich: Baum und Borke gehören zusammen, denn »zwischen Rinde und Stamm ist es, wo die Säfte kochen« 39. Legenden und Tatsachen sind wie zwei Pole, deren Dynamik den Gang der Geschichte im Fluss hält. Die Legenden (Rinde) haben zwar keine Qualität als Quellen, sie gehören insofern nicht zur Geschichte der Tatsachen, aber sie sind dennoch heuristisch unverzichtbar. 40 Harnack sieht die Aufgabe des Historikers durchaus darin, »die Wahrheit der Tatsachen zu ermitteln« 41. Das relativiert zwar den Wert der Legenden für die Geschichtsschreibung, hebt diesen aber dennoch nicht auf; sie sind vielmehr geradezu unverzichtbar: Ohne erzählende, legendarische Darstellung und Beurteilung können wir uns das Vergangene nicht aneignen. Auch für Harnack ist es keine Frage, dass die Vergangenheit immer mehr ist als die »Geschichte der Tatsachen«, aber er hält es für unumgänglich, diese »Tatsachen« mit kritischer Methodik zu erheben, weil nur vor dem Hintergrund ihres materialen Gehalts klar werden kann, was von den Geschichten zu halten ist, in denen die »Gedanken über die Tatsachen« enthalten sind. 42

Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 17 [= Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 941]. 37 Vgl. z. B. Harnack, Adolf von: Wie soll man Geschichte studieren, insbesondere Religionsgeschichte? Thesen und Nachschrift eines Vortrages vom 19. 10. 1910 in Christiana/Oslo, herausgegeben und eingeleitet von Christoph Markschies, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 2 (1995), S. 148–159, hier: S. 154. Vgl. auch a. a. O., S. 157. 38 Vgl. Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, S. 16,22–24; Zitate ebd. 39 Harnack: Wie soll man Geschichte studieren, insbesondere Religionsgeschichte?, S. 158. 40 Vgl. auch Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 185: »Wenn der Zeuge lügt, wenn seine Geschichte erfunden ist, dann hat man wenigstens den Faden in der Hand, an dem man die Nichtwirklichkeit der Geschichte, die zunächst als wirkliche Geschichte auftaucht, feststellen kann.« 41 Vgl. Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 23, Zitat, ebd. 42 Vgl. Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 10 f. (Vgl. oben Anm. 18.) 36

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2.3 Die Möglichkeiten, Geschichte(n) zu verifizieren Geschichten als Medium der Wirklichkeitsvermittlung sind ambivalent, weil sie immer von der Sicht dessen geprägt sind, der sie erzählt. Diese Perspektivität der Darstellung wird aber dann zu einem Problem, wenn es um die Ermittlung von Sachverhalten geht: Es gilt dann nicht nur die individuelle Sichtweise in der Geschichte im Blick zu behalten, sondern auch die Möglichkeit, dass hier irrtümlich oder sogar bewusst Falsches erzählt wird. Harnack sucht daher nach verlässlichen Ankerpunkten historischer Erkenntnis, die zugleich dem Vorwurf einer subjektivistischen Historiografie entgegentreten. Als Fixpunkte für die kritische Bewertung von »Legenden« als deutender Darstellung und Überlieferung historischer Begebenheiten gelten ihm die »epochemachenden Ereignisse« oder die »großen Tatsachen«, »Denkmäler« und »Institutionen«, also Aspekte einer Zeit oder Epoche, die in je unterschiedlicher Weise evident und unstreitig erscheinen. 43 Evident sind in dieser Hinsicht vor allem »Denkmäler«, zu denen die Fülle materieller Relikte, Bauwerke, Monumente, Inschriften und die Vielzahl von Urkunden gehören; evident in einer anderen Hinsicht sind für ihn Ereignisse wie die Reformation, der 30-jährige Krieg oder die Französische Revolution: »Ereignisse, die eine lebendige Tradition aufrecht erhält und an denen nicht gerüttelt werden kann, feststehend in ihren großen Umrissen« 44. Zu den »Institutionen« schließlich gehören für Harnack unter anderem Verfassungen, Gesetze und Kirchenordnungen, und er sieht ihren historischen Wert vor allem darin, dass sie am wenigsten von dem Interesse getragen seien, täuschen zu wollen. 45 Insbesondere in der Bezugnahme auf »Institutionen« lässt sich aber auch der Nachhall idealistischer Geschichtsbetrachtung bei Harnack erken-

Vgl. Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 14–17 [= Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 938–941], Zitate a. a. O., S. 14 f. Vgl. bes. a. a. O., S. 15 [S. 939]: »Die epochemachenden Ereignisse, die Denkmälerkenntnis und die Institutionenforschung bilden das Rückgrat der Geschichte.« Vgl. auch Harnack: Reden und Aufsätze. Bd. 1, S. 23. 44 Vgl. Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 15 f. [= Nowak (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 938 f.], Zitat a. a. O., S. 15 [S. 939]. 45 Vgl. ebd., S. 15 f. Vgl. auch Harnack: Reden und Aufsätze. Bd. 1, S. 23: »Wer die Tatsachen ermitteln will, muß bei den Institutionen einsetzen […]. Hier sind Täuschungen am wenigsten zu erwarten.« 43

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nen, entspringen sie ihm zufolge doch »aus einer politischen, sozialen, kulturellen oder religiösen Idee« 46. Diese drei Aspekte, »große Ereignisse«, »Denkmäler« und »Institutionen« liefern dem Historiker nach Ansicht Harnacks die notwendigen verlässlichen Maßstäbe für seine Arbeit: »Von diesem festen Grunde aus ist es aber nun auch möglich und erfolgreich, die Fülle der Traditionen und Legenden zu kritisieren, wie sie aus jeder Epoche auf uns gekommen sind. Zahllose solcher Überlieferungen erledigen sich nun und werden als aus der Parteilichkeit, dem Haß oder der Liebe oder dem Unverstand oder dem Eigennutz und der Lüge stammend, entlarvt, aber noch zahlreichere können nun beglaubigt werden […].« 47

So scheint es, dass Harnack mit seiner Aufzählung von Fixpunkten als Ausgangspunkte des historischen Arbeitens gleichsam eine Tür aufgestoßen hat, die aus der Welt der Geschichten hinaus zu den »Tatsachen« führt. Ein Weg, der sich für Wilhelm Schapp aber als letztlich ungangbar erweist, weil der Verstrickung in Geschichten letztlich nicht zu entgehen ist. 48 Immerhin aber gesteht er gerade im Blick auf die Verifikation von Geschichten die Möglichkeit zu, dass ein »Fall« aus seiner »Geschichte abgeblendet« werden könne. 49 Bei Harnack ist in gewisser Weise zu konstatieren, dass er die »Tatsachen« besonders in den Blick nimmt. Dabei versucht er, die damit verbundene Geschichte abzublenden, muss aber immer wieder eingestehen, dass sie miteinander verbunden sind. So postuliert er einerseits die grundlegende Differenz zwischen Geschichten und Geschichte: »Geschichten, ein unübersehbarer Haufen glitzernder und farbloser Sandkörner, vom Winde bewegt, zusammengefegt und auseinandergerissen; Geschichte, ein festes Bauwerk in strengem Stil.« 50 Andererseits gilt für Harnack, dass die methodisch strenge Suche Vgl. Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 17, Zitat ebd. Vgl. auch ebd.: »Im letzten Grund aber ist alle Institutionengeschichte Ideengeschichte«. Vgl. auch Basse: Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs, S. 70 f. 47 Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 17. 48 Vgl. z. B. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 85 f.; S. 168. Vgl. auch oben Anm. 25. 49 Vgl. ebd., S. 188 f., bes. S. 189: »Der Fall wird aus der Geschichte abgeblendet, löst sich aber nicht von der Geschichte.« 50 Vgl. Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 4 f., Zitat a. a. O., S. 5 [S. 929]. 46

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nach Tatsachen oder Beweisen der Geschichte ihre Grenze an Geschichten findet. 51 Das gilt im Blick auf die epochemachenden Ereignisse, deren Unfraglichkeit gerade an der aus ihnen entspringenden Überlieferung hängt, ebenso hinsichtlich der Denkmäler und der Institutionen wie der »Tatsachen« überhaupt: »Die Tatsache selbst ist stumm und brutal; aber der Geist deutet die Tatsache, und je nach dem Ausfall dieser Deutung bildet er eine neue Geschichte.« 52

3.

Geschichte und Geschichten

Adolf von Harnacks Perspektive ist die des Historikers, dem es um die Leistungsfähigkeit der Legenden als Quellen für die verlässliche Erkenntnis von Vergangenem geht, während Wilhelm Schapp vor allem die Frage behandelt, wie die Rekonstruktion und Aneignung von Vergangenem und Fremdem konstituiert ist. Trotzdem hat Harnack von seinen Voraussetzungen aus und im Kontext seiner geistesgeschichtlichen Position vieles gesehen und gleichsam vorweggenommen, was bei Schapp dann als Geschichtenphilosophie entfaltet wurde. In seinem Vortrag Legenden als Geschichtsquellen sind die Aspekte exemplarisch verdichtet, die sich auch in seinen anderen geschichtstheoretischen Arbeiten finden lassen, aber bislang ist gerade dieses Werk kaum rezipiert worden. Vielleicht liegt es daran, dass es auf den ersten Blick selbst eher anekdotenhaft wirkt, selbst mehr als eine Legende erscheint denn als ein Beitrag zur Geschichte der Tatsachen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass in der Kirchengeschichtsschreibung das Interesse an der »Geschichte der Tatsachen« nach wie vor stärker ausgeprägt ist als das Interesse an einer »Geschichte der Gedanken über die Tatsachen«. Die Wiederentdeckung des Erzählens als kirchengeschichtlicher Grundmethode und die Entdeckung der Geschichtenphilosophie als Hintergrund kirchengeschichtlichen Arbeitens steht insofern noch aus. Das aktuell feststellbare wachsende Interesse an Harnack und der liberalen Theologie könnte hier hilfreich sein, auch »Legenden« Vgl. z. B. ebd., S. 19: »Er [der Historiker, der Vf.] wird dann nicht durch Beweise, die er nicht immer zu geben vermag, wohl aber durch die Lebensweisheit, mit der er den Stoff durchleuchtet, Überzeugungen erwecken.« 52 Harnack: Legenden als Geschichtsquellen, S. 11. Vgl. auch Harnack: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, S. 15–17. Vgl. auch oben Anm. 44. 51

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im Sinne Harnacks in neuer Weise in den Blick zu nehmen: Historiografie im Spannungsfeld von Geschichte und Geschichten, zwischen methodischer Strenge und dem Bewusstsein für die Unmöglichkeit einer faktischen Objektivität. Auch hier gilt durchaus das, was Christoph Markschies bereits 1995 formuliert hat: »Der scheinbar so stark im wilhelminischen Zeitalter verwurzelte Gelehrte wird sich […] dann vielleicht sogar als unerwartet aktuell erweisen.« 53

Literatur: Basse, Michael: Die dogmengeschichtlichen Konzeptionen Adolf von Harnacks und Reinhold Seebergs, Göttingen 2001. Harnack, Adolf von: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, hg. v. Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 22007. Harnack, Adolf von: Festrede, in: Erinnerungsblätter an die Feier des Hundertjährigen Jubiläums der Livonia Dorpati in Jena, 19.–21. September 1922, hgg. v. Jubiläums-Festausschuß, Berlin 1922, S. 7–19. Harnack, Adolf von: Legenden als Geschichtsquellen, in: ders.: Reden und Aufsätze. Bd. 1, Gießen 21906. Harnack, Adolf von: Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis, in: ders.: Reden und Aufsätze. Bd. 4. Erforschtes und Erlebtes, Gießen 1923, S. 3–23. Harnack, Adolf von: Was hat die Historie an fester Erkenntnis zur Deutung des Weltgeschehens zu bieten?, in: ders.: Reden und Aufsätze. Bd. 4. Erforschtes und Erlebtes, Gießen 1923, S. 171–195. Harnack, Adolf von: Wie soll man Geschichte studieren, insbesondere Religionsgeschichte? Thesen und Nachschrift eines Vortrages vom 19. 10. 1910 in Christiana/Oslo, hg. und eingeleitet von Christoph Markschies, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 2 (1995), S. 148–159. Hauschild, Wolf-Dieter: Harnack, Adolf, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3, hgg. v. Hans D. Betz, Don S. Browning, Bernd Jenowski und Eberhard Jüngel, Tübingen 42000, Sp. 1457–1458. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Harnack, Adolf von (1851–1930), in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 14, hgg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin / New York 1985, S. 450–454. Mehlhausen, Joachim: Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VII/2. 19.–20. Jahrhundert, in: Theologische Realenzyklopädie.

Markschies, Christoph: Einleitende Bemerkungen, in: Harnack: Wie soll man Geschichte studieren, insbesondere Religionsgeschichte?, S. 148–153, hier: S. 152.

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Bd. 12, hgg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin / New York 1984, S. 643–658. Nottmeier, Christian: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2004. Nowak, Kurt: Adolf von Harnack als Zeitgenosse. 2 Teile, Berlin 1996. Nowak, Kurt: Historische Einführung, in: ders. (Hg.): Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, S. 1–95. Nowak, Kurt: Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker, in: ders. (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, S. 189–237. Pohlmeyer, Markus: Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung, in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, Freiburg i. Brsg. 2010, S. 126–141. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Zahn-Harnack, Agnes von: Adolf von Harnack, Berlin 21951.

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Die narrative Entstehung der personalen Identität Manuel García Serrano

Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie ist ungeachtet seiner unverkennbaren Originalität der langen Reihe von Konzeptionen zuzuordnen, welche im 20. Jahrhundert durch die Entwicklung von verschiedenen Formen eines »aktiven Kontextualismus« das moderne Paradigma der Bewusstseinsphilosophie und dessen Fundierung in dualen erkenntnistheoretischen Begriffen und in prozeduralen Abstraktionen in Frage gestellt hat. Kritische Vorbehalte werden gegen Dichotomien wie Subjekt/Objekt, Satz/Sachverhalt, Denken/Sein … sowie gegen das einsame cogito oder ein das objektive Sein konstituierendes, aber der Welt nicht zugehörendes transzendentales Ego geltend gemacht. Auch wenn Schapp sich durch einen strengen Konkretismus oder Nominalismus narrativer Prägung zudem von jedem »allgemeinen Wesenhaften«, von jeder »Vergegenständlichung des Allgemeinen« distanzierte, fußen manche seiner zentralen Intuitionen bekanntlich auf der Phänomenologie. Von dieser bewahrte er jedoch in seinem späteren Werk gerade jene Elemente, die dann als kritische Basis gegen die genannten Polaritäten und Konstrukte auch in Gadamers Hermeneutik verwendet wurden: in erster Linie die Kategorie Horizont als raum-zeitlicher Rahmen mit fließenden und unpräzisen Rändern, der die Vergangenheit umschließt, aber sich der Zukunft öffnet und mithin dem intentionalen Bewusstsein Potenzialitäten vorzeichnet und sich zugleich mit dessen Wendungen wandelt. 1 Auf den Seiten, auf denen Schapp sinnreiche Interpretationen Zur Rezeption der Phänomenologie bei Gadamer vgl. Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke 1. Hermeneutik I, Tübingen 61990, S. 246–254. Zu Husserls eigener Position vgl. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, Hamburg 31995, S. 46–48. Schapp bearbeitet die genannte Kategorie neu in Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 7, 17, 159. Siehe auch ders.: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015, u. a. S. 43, 109, 119– 122. 1

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Die narrative Entstehung der personalen Identität

von klassischen Erzählungen entwickelt (ich denke jetzt z. B. an die dem Märchen von Rotkäppchen gewidmeten Anmerkungen), antizipiert sein operativer Gebrauch des Begriffs Horizont bei der Analyse von bedeutsamen Leerstellen im Text die grundlegenden Annahmen einer wichtigen Folge der Phänomenologie: die Rezeptionsästhetik. 2 Der sinnstiftenden Rolle des Lesers oder Zuhörers bei dem impliziten Vorgriff (Protention) von Konsequenzen und Fortsetzungen des in der jeweiligen Geschichte sich augenblicklich Zutragenden sowie bei der passenden Erinnerung (Retention) der vorausgehenden geschilderten Geschehnisse wird in den exemplarischen Deutungen Schapps bereits deutlich Rechnung getragen. Die scharfsichtigen Beobachtungen von Schapp über die Voraussetzungen der Interpretation, die z. B. auch das implizite Postulat eines in dem Horizont der Geschichte eingebetteten idealen Lesers erfassen, werden aber in einer eigenartigen fundamentalen Ontologie des In-Geschichten-Verstricktseins schließlich eingebaut, die zur »letzten Wirklichkeit« emporgehoben und unter deren Primat die Kategorie »Außenwelt« zur zweitrangigen Größe herabgesetzt wird. 3 Aus dieser primären Unterordnung ergeben sich weitere spezifische: So etwa der in der Subordination der Materie unter den Wozudingen involvierte Instrumentalismus oder die daraus folgende Reduktion von allem Stofflichen und letztendlich von allem Gegenständlichen zum Auswas dessen, was der Mensch in einem Horizont von Nützlichkeiten durch mannigfache reale oder vorstellbare technische Eingriffe herstellt oder herstellen kann. Insoweit dies die Priorität eines aktiven und zeitlichen In-derWelt-sein gegenüber einer distanzierten und ahistorischen Erkenntnis der Welt impliziert, beruht Schapps Programm wohl auch auf Gedanken Heideggers. Die Nachrangigkeit, die der Unterscheidung von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit oder Wahrheit und Falschheit im Vergleich zur Ganzheitlichkeit des In-Geschichten-Verstricktseins (»das letzte Unteilbare« 4) beizumessen wäre, entspricht so der von Heidegger behaupteten Abkünftigkeit der Aussagewahrheit gegenüber der Welterschlossenheit, die sich eben durch das »hermeneutische Als« vollzieht – das heißt, durch jene elementare Inter-

2 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Lesevorgang, in: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik, München 41994, S. 253–276. Siehe auch: Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, München 41994. 3 Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 4–5. 4 Ebd., S. 148.

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pretationsform, die den einfachsten menschlichen Handlungen beim sich in der Umgebung Zurechtfinden innewohnt und sonach mit der Sorge des In-der-Welt-sein einhergeht. 5 Das Nachdenken über den Zeithorizont brachte jedoch in Schapps Philosophie eine neue Wende: Die Faktizität des In-Geschichten-Verstricktseins impliziert eine narrative Ausformung, die eine Sinnbedingung für jedes einzelne Tun darstellt. Die Infragestellung der Gegensätzlichkeit von erkennender Instanz und erkanntem Objekt sei nicht lediglich in der geschichtlichen Seinsart beider Pole begründet – maßgebend sei, dass die zwei Ebenen grundsätzlich in der diegetischen Struktur einer Erzählung zusammengefügt seien. Die von Schapp vertretene Position darf man allerdings nicht mit späteren Fassungen eines narratorischen Konstruktivismus identifizieren: Sie stützt sich nicht auf die Abhängigkeit der historischen Begebenheiten von deren Beschreibung (Danto, Baumgartner 6) und auch nicht auf die problematische Gleichsetzung der Geschichtsschreibung mit den Grundtypen der traditionellen fiktionalen Darstellungen und deren Stilmitteln (Hayden White 7). Seine Position ist gleichsam radikaler, aber auch zweideutiger. Schapp bezweckt nicht die irreduzible Eigenartigkeit der Geschichtswissenschaften gegenüber anderen Wissenschaften zu definieren oder zu untermauern. Und er hat auch nicht zum Ziel wiederum, die Wissenschaftlichkeit der ersten durch deren Koppelung mit literarischen Werken zu beschneiden. Seine Geschichtenphilosophie ist vielmehr eine erste Philosophie, welche auf einem pragmatischen, narratorischen Holismus basiert, der letztendlich keinen Unterschied zwischen Geschichte und Darstellung der Geschichte macht, zumal der Erzählakt (genauso wie der korrelative Akt des Zuhörens und des Interpretierens) als nicht objektivierbare Verwicklung in derselben Geschichte und somit als deren Fortführung betrachtet wird. Dieser Holismus bringt im ÜbriVgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 151984, S. 153–160, 211–230. Vgl. Danto, Arthur C.: Narration and Knowledge, New York 1985, S. 112–142, 233–256, 298–363. Siehe auch Baumgartner, Hans Michael: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1997, passim. 7 Vgl. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 22015, S. 15–62. Siehe auch White, Hayden: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 101–122. 5 6

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gen eine bedeutsame Unbestimmtheit mit sich: wenn man eine Differenzierung zwischen dem Erzählen und dem Erzählten zurückweist, kommt die Grundlage für eine Abgrenzung von Dichtung, Traumbild und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung abhanden. Schapps Geringschätzung der Trennung von Philosophie, Dichtkunst, Religion und Mythos sowie seine Auffassung über die Nachrangigkeit der Naturwissenschaften gegenüber der Poesie und der Kunst sind als indirekte logische Ableitungen daraus zu verstehen. 8 Die vielen von Schapp mit Scharfsinn abgehandelten Geschichten weisen die gewöhnliche Vielfalt an Darstellungsmodi vor: von Dehnungen und Raffungen bis variablen Perspektiven. Und die Elemente jeder von diesen Geschichten sind durch Kausalität und Kontiguität sowie durch symbolische und kompositorische Relationen mannigfacher Art intern miteinander verflochten. Der narrativen Instanz wird von Schapp indes eine in gewisser Weise sekundäre Funktion zugeschrieben. Wichtig sei das performative In-Geschichten-Verstricktsein, nicht aber die diegetischen Operationen eines Subjekts. 9 Mit der Ablehnung des epistemologischen Paradigmas und der mit ihm assoziierten Dichotomien von Satz und Sachverhalt sowie Subjekt und Objekt wird also zugleich nicht nur die Unterscheidung zwischen Erzählen und erzählter Geschichte aufgehoben, sondern auch der intentionale-sprachliche Aufbau der narrativen Ereignisse und Motive abgewertet. Auf den folgenden Seiten werde ich hingegen die Gültigkeit der angeführten Dichotomien annehmen. Ich werde also von der Relevanz der Differenzierung von Narration und Geschehen sowie von realen und fiktionalen Geschichten ausgehen. Trotzdem habe ich im Sinn, die Plausibilität eines narrativen Konstruktivismus zu fundieren und dessen Stellenwert innerhalb einer Theorie der personalen Identität zu erörtern. Ich möchte Argumente für die Kom8 Vgl. Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 37–39. Siehe auch: ders.: Metaphysik der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 32009, S. 5. 9 In seinen spiritualistischen Momenten – da etwa, wo er die heilige Geschichte und das Christentum insgesamt mit den Epopöen der griechischen Antike und nicht eher mit Aristoteles’ Philosophie verbindet – hebt Schapp bei den ursprünglichen Epikern (Hesiod, Homer) wie dann bei der jüdisch-christlichen Offenbarung eine passive Haltung hervor: Der große Erzähler wird entweder von den Musen inspiriert oder es kommt ihm eine delegierte prophetische Funktion zu. Vgl. Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 235–269. Dabei bleibt der Erzähler sicher essentiell – nicht jedoch aufgrund seiner sinngebenden Funktion (eine Funktion, die bei den faktualen Narrationen im Prinzip von einem anderen beliebigen Erzähler übernommen werden kann), sondern wegen seiner unersetzbaren Stellung als Auserwählter.

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patibilität dieses Konstruktivismus mit dem klassischen Paradigma der Bewusstseinsphilosophie vorbringen, die jedoch gewichtige vorzunehmende Korrekturen dieses Paradigmas indizieren sollen, die zum Teil in Schapps Werk bereits skizziert sind.

I. Kant verstand das Denken als eine Art Funktion: als eine Handlung, die verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinsamen Vorstellung einigt. 10 Die vereinigten Vorstellungen könnten von einem singulären und unmittelbaren Typus (so die Wahrnehmung eines konkreten Menschen) oder allgemein sein (das Menschsein, das Kranksein, das Sterblichsein). Der einigende Akt beinhaltet ein Urteil irgendeines Typus (wie etwa »dieser Mann ist krank« oder »jeder Mensch ist sterblich«) oder trachtet nach einem Urteil (wenn man z. B. überlegt oder fragt, ob dieser Mann krank sei). Nach diesem Kriterium bildet sich also ein Gedanke primär in der Form des Urteils oder Aussagesatzes und diese Form legt die Grundlage für die empirische Erkenntnis, bei der das entsprechende Urteil mit den Tatsachen übereinstimmen muss. 11 Man dürfte folglich sagen, dass ein Gedanke als Repräsentation zweiten Grades im Grunde für Kant eine gesättigte, gegebenenfalls mit Quantifikatoren und Konnektiven ausgestattete Funktion ist, als deren Wert man die Wahrheit oder die Falschheit betrachten kann und in der die denotativen Ausdrücke und die Prädikate Repräsentationen ersten Grades sind. Einerseits signalisiert eine derartige Gleichsetzung von Gedanken und Urteilen, dass, obgleich das Denken auf Repräsentationen ersten Grades und somit auf unmittelbaren Anschauungen beruhe, die Bedeutung dieser von deren Stellung innerhalb eines möglichen Urteils abhänge. 12 Andererseits bringt das aktive (spontane) Wesen des Denkens – im Gegensatz zur Rezeptivität der sinnlichen Anschauung – eine einigende Operation des Subjekts mit sich, die Kant Synthese nennt, wodurch die wirre Unbestimmtheit des vorpropositional Perzipierten den Zusammenhalt erhält, der nötig ist, damit es zum klaren Gedankeninhalt und

10 11 12

Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, A68. Vgl. ebd. Vgl. Frege, Gottlob: Die Grundlagen der Arithmetik, Hamburg 1988, S. 10.

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zur Basis eines propositionalen Wissens wird. 13 Kants Konstruktivismus zufolge kann das Denken an einen Gegenstand nicht die Realität dieses Gegenstands garantieren – nichts aber könne realer Gegenstand einer Erfahrung sein, wenn es nicht eine Einheit aufweise, die von der jedem Denken zugrunde liegenden Synthese bedingt ist. Wenn man seine Aufmerksamkeit auf diesen Gedankengang von Kant ausrichtet, von dessen starrer und vielleicht nicht ganz kohärenter Kategorientabelle aber absieht und also auf der Ebene bleibt, auf der sich referenzielle Ausdrücke und Prädikate (die Kategorien Substanz und Akzidens) innerhalb von Aussagesätzen aneinanderfügen, wird man gleich zur Rekonstruktion weiterer damit zusammenhängender Überlegungen Kants veranlasst. Es ist nun zu beachten, dass der Vorgang der angeführten Synthese (der transzendentalen Synthese), die laut Kant Rezeptivität und Spontaneität verknüpft, protonarrative und hyponarrative Dimensionen schließlich umfasst, in denen Erfahrungsinhalte auf einer ichzentrierten Basis geordnet werden, welche für die Bildung einer personalen Identität konstitutiv ist. Kant unterscheidet drei synthetische Momente, die jedoch nicht als sukzessive Phasen eines sinnstiftenden Prozesses angesehen werden sollen, sondern eher als miteinander verwobene Facetten davon. Das erste Moment des Prozesses wird von Kant Synthesis der Apprehension genannt, und es verbindet miteinander unmittelbare Augenblicke und Perspektiven der sensiblen Anschauung als Augenblicke und Perspektiven der Vorstellung desselben präsenten Objekts. Ein in nächster Nähe stehendes Haus zu sehen, impliziert zugleich einen vereinigenden Akt: Das Betrachten der Wände, der Türen, des Dachs, der Fassade und der Seitenteile, der Decken und des Fundaments als Elemente einer Einheit, die sie durch deren Zusammenstellung definiert. Jedes dieser Elemente wird so ferner als Einheit anderer Elemente wahrgenommen und man erkennt die Möglichkeit, weitere Perspektiven einnehmen zu können, die den Anblick des Hauses von hinten oder als Bestandteil einer ganzen Straße oder im Kontrast mit anderen Gebäuden ermöglichen. Kant bezeichnet diese Form von Synthesis auch als Synopsis: 14 Damit wird eine ausdehnende protothematische Intentionalität gemeint, die verschiedenen Elementen eine Einheit verschafft, indem sie innerhalb einer Abfolge von Zeitpunkten statisch (wie bei der Wahrnehmung eines festen Körpers) 13 14

Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A77. Vgl. ebd., A95.

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oder vielleicht dynamisch (wie bei einem Geschehnis) verkoppelt werden – als identische Teile (die gleiche Tür von davor), homogene Teile (so beim Betrachten einer Eisenkugel) oder heterogene Teile (beim Betrachten eines Hauses, eines Gesichtes oder des Ausuferns eines Flusses) innerhalb der nun fest umrissenen Präsenz jenes Ganzen, das sie definiert und sich gleichsam aus ihnen zusammensetzt. Eine solche Apprehension von Objekten oder Vorkommnissen ist auf jeden Fall dem, was Kant als Synthesis der Reproduktion in der Einbildung bezeichnet, unterstellt: In der Aufeinanderfolge von Momenten stützt sich die intentionale Repräsentation des augenblicklich Perzipierten auf die imaginative Präsenz des gerade schon Perzipierten. Unsere sensiblen Anschauungen sind unterschiedlich und diskontinuierlich (wir betrachten die Haustür aus verschiedenen Blickwinkeln im Lauf unserer körperlichen Bewegungen oder richten einfach unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die Tür, dann auf die Mauer und schließlich wieder auf die Tür), aber in jedem Moment halten wir uns auch die vorausgehenden Momente vor Augen, so dass sich eine performative Assoziation zwischen einem Vorher und einem Danach, einem Dort und einem Hier bildet und eine sinnhafte Einheit aus der zugehörigen Selektion von Relationen und Merkmalen im Rahmen von verketteten eigenen Handlungen resultiert (so wenn man weiter hinsieht, man sich daran nähert, man darauf zurückkommt, man sich vergewissert, man darum einen Bogen macht, man genauer hinschaut …). 15 Die synthetische Funktion der Einbildungskraft umfasst darüber hinaus eine produktive Aktivität, welche die substantielle Identität der Objekte mithilfe aller möglichen Präsuppositionen determiniert: 16 Wenn wir einen strömenden Fluss beobachten, stellen wir uns z. B. das darin enthaltene Leben vor sowie die von ihm eröffneten Möglichkeiten und die Gefahren, die in ihm drohen (die Gelegenheit, den Durst mit seinem Wasser zu stillen und sich darin zu erfrischen; die Schwierigkeit, ihn zu überqueren; das Risiko, in seinen Strudeln zu ertrinken). Bei der Betrachtung des feinen Asts einer Felsenbirne nehmen wir deren Wachstum und späteren Tod, deren Blüten und Früchte und den herbstlichen Laubabwurf gedanklich vorweg. Beim Erblicken eines verwundeten kauernden Soldaten hinter dem Gestrüpp in einem umkämpften Kriegsgebiet

15 16

Vgl. ebd., A101–102. Vgl. ebd., A118.

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malen wir uns ihn noch kerngesund in seiner militärischen Ausbildung und dann mitten in einem lärmenden Gefecht aus, wo Blut fließt und er selbst verletzt wird und woraus er nach einem sicheren Platz suchend flüchtet. In der Wahrnehmung eines Wrackteils an den Klippen wird implizit ein Schiff imaginiert, das über die Meere kreuzt und dann gegen die Felsen unter dem Getöse der Wellen zerschellt. Die synthetische Funktion der Einbildungskraft ist jedoch selbst mit der sogenannten Synthesis der Recognition in Begriffe koordiniert: Ein Gefüge von Begriffen (aber besser wäre es zu sagen: die Sprache) stelle die allgemeinen einheitlichen Denkregeln bereit, deren Anwendung – infolge des Aktualisierens in der realen Erfahrung von denkbaren intentionalen Gehalten – ermöglicht, Objekte, Sachverhalte und Vorkommnisse anhand einschlägiger Eigenschaften und Prädikate differenziert zu erkennen. 17 Eine differenzierte Abgrenzung der Objekte der Erfahrung erfordert jene feinen Unterscheidungen, die nur in einem Sprachsystem möglich sind. Der sprachliche Aufbau von Begriffen innerhalb einer »solidarischen Totalität« bietet so die formalen Bedingungen für die Möglichkeit einer gemeinsamen Erfahrung an. Die Identitäten und Unterschiede, die den funktionellen Stellenwert der Wörter innerhalb einer Sprache ausmachen, 18 verschaffen gleichzeitig den Analogien und Differenzen der möglichen Erfahrungen eine kongruente Struktur – die entsprechenden Merkmale einer konkreten Erfahrung bestimmen somit deren Einheit. Das von den lexikalischen Solidaritäten abgesteckte semantische Feld markiert solcherweise den logischen Raum der Sachverhalte: Ein vorliegender Kopfstein ist an sich mit den Möglichkeiten gegen Polizisten geworfen zu werden oder eine glatte Oberfläche zu haben »solidarisch«; »unsolidarisch« aber mit »an Wien zu denken« oder »zu verwelken«. Kant fragte sich selbst, wie es sein könne, dass eine derartige synthetische Subsumtion der sinnlichen Anschauungen unter etwas Intellektuellem und also ihnen heterogen zumal nicht Perzipierten – den Begriffen – zustande komme (eine Subsumtion, die nicht eine bloße Zuordnung von Elementen zu Klassen bedeutet, sondern die sinnliche Anschauung mit einem Sinninhalt versieht, so dass man dadurch etwas als etwas Präzises wahrnimmt). Die Antwort darauf, glaubte Kant, sei bei einer ermittelnden Instanz zu finden – die Vgl. ebd., A105–106. Vgl. Saussure, Ferdinand de: Cours de linguistique générale, Paris 2005, S. 144– 184.

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Vorstellungskraft nochmals, die durch eine systematische Praxis jeden Begriff mit einem sogenannten »Schema« verknüpfe, dergestalt dass man mit der betreffenden konzeptuellen Anwendung ein normierendes, schemenhaftes Bild assoziiere. 19 Das Erkennen des verwundeten Soldaten oder der Rest des Schiffbruches setzt so die Fähigkeit voraus, sich weitere Schiffwracks und weitere versehrte Soldaten unter anderen Zeitumständen vorzustellen: die Fähigkeit also, andere potenzielle token des gleichen Typus protonarrativ zu vergegenwärtigen und zu erkennen. Werden Kants transzendentale Deduktion und Schematismus in dieser Form rekonstruiert, kann seine Position dann nicht mit den sogenannten Theorien der direkten Referenz harmonieren. Sowohl die Erfahrung von präsenten Objekten als die Erwähnung von abwesenden Objekten bedarf (im Bereich der »Synthesis der Recognition in Begriffe«) der Vermittlung einer konnotierten Protonarrativität. Wenn wir im Gerichtssaal angesichts des merkwürdigen Verhaltens des Angeklagten sagen (oder auch nur denken), dass der angebliche Mörder von Schmidt verrückt sei, beziehen wir uns gewiss auf den Angeklagten, obschon er letztendlich niemanden ermordet hat und Schmidt sich selbst das Leben nahm. Aber ein derartiger Referenzakt kann nur gelingen, insofern die bestimmte Kennzeichnung (»der Mörder von Schmidt«) in einer Weise fehlschlägt, die eine sinnhafte Orientierung für ihre eigene Berichtigung darbietet. Wenn nämlich nicht nur niemand Schmidt getötet hätte, sondern auch kein Einzelwesen sich an dem gemeinten Platz im Gerichtssaal befände oder zumindest keines, dem man Handlungsfähigkeit, Absichten und moralische Verantwortung zuschreiben könnte oder einfach kein Individuum da säße, das des Mordes bezichtigt worden wäre oder in irgendeiner Form sich in dieser Hinsicht verdächtig gemacht hätte – dann würde unsere denotative Intention aufgrund einer nicht wiederherzustellenden inhaltlichen Leerstelle vollkommen misslingen; wir könnten somit kein konkretes Denotat anderen gegenüber meinen. Ähnliches gilt für den referenziellen Gebrauch der Eigennamen. Angenommen, Martin Luther hätte die Disputatio de homine nicht verfasst, nur 87 Thesen geschrieben und Katharina von Bora am Ende nicht geheiratet – der Name Martin Luther würde trotz alledem seine substantielle Denotation behalten. Wenn aber bekanntlich keine der

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Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A140–141.

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diesem Namen assoziierten protonarrativen Konnotationen auf jemanden passte, dann würden wir uns nicht einfach eine mögliche kontrafaktische Welt vorstellen – wir verbänden diesen Namen nicht mit einem klaren Gedanken und mit einer bestimmten möglichen Erfahrung. Gesetzt den Fall, dass Luther die Bibel nicht ins Deutsche übersetzt hätte und kein Urheber der Reformation gewesen wäre, auch kein Augustiner und kein Theologieprofessor, und sukzessive Generationen ihn in differenzierter Form nicht für einen geistigen Vater, einen nationalen Helden oder einen Häretiker gehalten hätten, mal angenommen, nicht die geringste religiöse Sorge hätte ihn gequält und keine von diesen missglückten Protoerzählungen durch deren Sinninhalt eine entsprechende deskriptive Berichtigung in eine gewisse Richtung ermöglichen würde und folglich Luther nicht das Subjekt wäre, in Bezug auf den eine Reihe von Charakterisierungen den Gegenstand eines gemeinsamen Gesprächs festlegen könnte – dann wäre für die scheinbare denotative Intention der nominalen Erwähnung keine rationale Rekonstruktion vorstellbar, die einem Gedanken eine kohärente Einheit sichern vermöchte, denn man hätte keine brauchbare Synthesis eines möglichen Objekts erreicht. Diese drei miteinander verwobenen Modalitäten einer Synthesis, die ich gerade skizziert habe, sind laut Kant jedoch von einem zusätzlichen zentralen Faktor abhängig: Der synthetische Akt setze jeweils ein Bewusstsein von der eigenen Identität voraus (das, was Kant als »transzendentale Einheit der Apperception« apostrophiert). Die Wahrnehmung desselben Objektes oder Sachverhalts erfordere Selbstbewusstsein: Die Korrelation von verschiedenen Aspekten als Aspekte eines gleichen Objektes beruhe so auf der Korrelation von verschiedenen Bewusstseinszuständen als Zuständen eines gleichen Bewusstseins. Die subtile Argumentation Kants gründet sich sonach auf eine zweifache Verknüpfung: Er präsupponiert, dass die personale Identität aus dem Selbstbewusstsein entspringt – aus dem Bewusstsein, dass diverse intentionale Zustände die eigenen sind. Und dann verweist er darauf, dass diese Bedingung der personalen Identität auch eine Bedingung der empirischen Erfahrung darstellt. In der dritten Phase der Synthesis verlange die sinnhafte Einheit einer einzelnen Erfahrung jene einfache Einheit des Bewusstseins, die einem entsprechenden Urteil zugrunde liege – die Kohäsion einer komplexeren oder umfassenden Erfahrung (einer Reihe von intentionalen Gehalten und illokutiven Kräften) ergibt sich dann analog aus dem inneren Zusammenhalt von diversen Repräsentationen als meinen Repräsen201 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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tationen. 20 Die Einheit des Bewusstseins ginge so aus dem impliziten »ich denke« hervor, das auf eine performative (nicht denotative) Weise alle unsere Repräsentationen begleite, 21 aber die Sequenz dieser Repräsentationen erhalte strukturierten Sinn durch das integrierende Wirken der Kontinuität einer Persönlichkeit.

II. Die der personalen Identität konstitutiven innerlichen Bewusstseinsbeziehungen weisen mithin eine anwachsende Strukturierung auf, die mit der Einheit des Bewusstseins und der entsprechenden Heranbildung einer sinnhaften Welt verbunden ist: Jenen Beziehungen entspringen Sinneinheiten, die sich dann in diskursiven Gebilden einordnen. Wir betrachten eine Reihe von Punkten als ein Quadrat, eine Abfolge von Ecken und Parallelogrammen als ein Haus, eine Fülle von Farben als eine bukolische Landschaft; eine Kette von Handlungen als einen Mord. Die Serie von (mindestens) drei Bewusstseinsepisoden »marchitará la rosa el viento helado« (»die Rose welkt, wenn eisige Lüfte wehen«) erfassen wir als komplette Aussage oder Vers; die unmittelbare Aufeinanderfolge von anderen satzförmigen Episoden als Sonett und Mahnruf; 22 den gestrigen schwierigen Tag als Konfiguration von Geschehnissen; Momente und Phasen der Vgl. ebd., B132. Der performative Charakter dieses »ich denke« ist von Audun Øfsti hervorgehoben worden. Vgl. Øfsti, Audun: Strawsons Paralogismus. Kants »ich denke« und die Kant-Rekonstruktion Strawsons im Lichte der »Doppelstruktur der Rede«, in: Siegfried Blasche, Wolfgang R. Köhler, Wolfgang Kuhlmann und Peter Rohs (Forum für Philosophie Bad Homburg) (Hgg.): Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, Frankfurt a. M. 1988, bes. S. 251–255. Der performative Charakter des isagogischen Ichs ist im Übrigen mit einem unbezweifelbaren und impliziten reflexiven Wissen gekoppelt, das die Voraussetzungen für explizite falsifizierbare Überzeugungen schafft: Erst die Unbestreitbarkeit der Tatsache, dass ich jetzt denke, macht die Wahrhaftigkeit dessen, was ich denke, bestreitbar. Aus dem reflexiven Wissen, das mit der Herausbildung der eigenen Identität einhergeht, würden dann transzendentale Evidenzen erwachsen: Gewissheiten, die nicht Bezug auf die Realität haben, sondern auf die Prämissen ihrer Erkennung. Aber das »Ich denke«, als »ursprüngliche-synthetische Einheit der Apperzeption« (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B132–134), sei eine Bedingung aller Welterfahrung und somit Voraussetzung auch für die Möglichkeit des Irrtums und der Diskrepanz. 22 Vgl. Vega, Garcilaso de la: Soneto XXIII, in: ders.: Obras, hg. v. Navarro Tomás, Madrid 101973, S. 225. 20 21

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eigenen Vergangenheit als Belastung, Schuld, Verhängnis, Anlass zu Stolz. Das narrative Profil der eigenen Identität resultiert so aus den eigenen inneren Zusammenhängen, auf denen sie fußt. Insofern als mit dieser Identität die Einheit des Bewusstseins verbunden ist, impliziert sie primär eine Kohäsion dessen, was jemand geglaubt, gewollt, versucht, gefühlt … hat, sowie auch eine Rationalisierung von Handlungen und die Zusammenfügung von den eigenen späteren Ansichten zu diesen vorherigen propositionalen Einstellungen und Taten. Bereits deswegen kann der diskursive Charakter einer personalen Identität nicht die Form der bloßen Protokolle, Aufzeichnungen oder Register annehmen – eine fortentwickelte, ausgereifte narrative Gestalt ist nötig. Die Egofokalität bildet eine Voraussetzung der Synthesis der Erfahrung – dies eben ermöglicht uns, alles, was vor sich geht, als Geschichte oder Teil einer Geschichte zu begreifen. Aber die Identitätsausformung, welche mit einer solchen Voraussetzung einhergeht, ist selbst diegetischer Natur. Die Einheit des Bewusstseins ist als eine Kontinuität zu verstehen. Personale Identität erfordert sonach eine gewisse Kontinuität des Bewusstseins. Dieser Form von Identität genügt nicht eine unbestimmte körperliche Fortdauer. Sie bedarf des Bewusstseins und einer mentalen Kontinuität, die auf Selbstbewusstsein basiert, das heißt: auf Bewusstseinszuständen, die sich auf andere eigene Bewusstseinszustände beziehen. Sind Bewusstsein und Selbstbewusstsein mit einem Körper gekoppelt, scheint eine ursprüngliche körperliche Kontinuität keine zusätzliche logische Bedingung für die personale Identität darzustellen. 23 Mythologie und Literatur haben uns mit allerlei Metamorphosen und Katasterismen vertraut gemacht – so sind physisch unmögliche Welten erdichtet worden, die indes eine innere logische Stringenz aufweisen vermögen. Zudem zeigen bestimmte lebende Körper derartige Schäden, dass wir in ihnen schwerlich die Dadurch wird die logische Notwendigkeit einer zumindest fragmentarischen körperlichen Kontinuität nicht bestritten, zumal jede individuelle Handlung auf der Welt durch konkrete raum-zeitliche Koordinaten definiert wird. Eine internalistische Auffassung der personalen Identität wird im Übrigen nur antimaterialistisch sein, wenn sie annimmt, dass eine Bewusstseinskontinuität zwischen verschiedenen Körpern nicht aus einer physikalischen Kausalität herzurühren vermag. Ein extremer Antiinternalismus, der aufgrund unerschütterlicher Adhärenz zum eigenen Körper schließlich eine Art resignativen Narzissmus ausdrückt, ist von John Perry vertreten worden. Vgl. Perry, John: A Dialogue on Personal Identity and Immortality, Indianapolis 1978.

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gleiche Person erkennen können, die wir in ihnen früher erkannten. Und es ist schließlich nicht absurd, sich einen anderen Körper zu wünschen – jung, gesund, schön, mit umgewandelten Geschlechtsmerkmalen. Sich wünschen, wirklich ein Anderer zu sein, impliziert dagegen einen performativen Widerspruch – man kann nicht eine Kontinuität des eigenen Bewusstseins erstreben, die in keiner Beziehung zu seiner jetzigen aktiven mentalen Kontinuität steht. Dieser für die personale Identität erforderliche Fortgang des eigenen Bewusstseins schließt die Irreduktibilität der Ich-Perspektive mit ein. Aus diesem Grund ist es nicht ganz falsch zu sagen, dass personale Identität entsteht, wenn mehrere intentionale Zustände infolge eines autoreflexiven vereinenden Akts zur Intentionalität des gleichen Ichs gehören – wobei, wohlgemerkt, dieses Ich als performative Achse einer verknüpfenden Handlung und nicht als denotierter Gegenstand fungiert. Nach der klassischen Position John Lockes sind die inneren Beziehungen, die solcherweise eine personale Identität hervorbringen, eine Gedächtnisleistung. 24 Erinnerungen sind eine Art von selbstbewusstem Zustand: eigene Bewusstseinszustände, die sich auf andere eigene Bewusstseinszustände richten – die eigentümliche Erfahrung, eine bestimmte Erfahrung gehabt zu haben. Die Identität zwischen einem vergangenen und einem aktuellen Individuum würde demgemäß aus der inneren Verquickung von einem erinnernden und einem erinnerten Bewusstseinszustand in reflexiven Sätzen der ersten Person herrühren. Wenn der einschlägige Rückblick nicht täuscht, dann besteht in der Tat eine interne kausale Korrelation zwischen zwei zeitlich entfernten Bewusstseinszuständen (von denen mindestens der letztere intentionaler Natur ist): Sowohl der Akt des Erinnerns als auch die zur alten Erinnerung gehörende Bewusstseinsform (ein Erlebnis oder eine Beobachtung von etwas, ein früherer Gedanke, eine kontextbezogene Emotion oder eine Gemütslage, eine vormalige Kenntnis, ein ehedem sich angeeignetes Wissen-wie) müssen meine sein. 25 Die Auffassung Lockes verwickelt sich aber in einer Vgl. Locke, John: An Essay concerning Human Understanding, hg. v. Roger Woolhouse, London 1997, S. 296–313. 25 Jede indirekte Erinnerung einer fremden Erfahrung, von der uns einmal erzählt wurde, kann zu einer direkten Erinnerung werden, wenn wir unser Augenmerk auf die Erfahrung des jeweiligen einstigen Zuhörens lenken. Ungeachtet all dieser Korrelationen muss die personale Identität jedenfalls eine anormale Identität sein, die mit den reflexiven Funktionen der Sprache, mit der Handlungsrationalität und der mora24

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Zirkularität, wenn die interne (und bei ihm auf narrativen Kennzeichnungen basierende) Erinnerung das Kriterium für die Ermittlung der Identität von a1 und a2 darstellen soll. Denn – könnte man dann einwenden – es ist nicht nur so, dass die Person a2 mit a1 zu identifizieren ist, wenn sie eine interne Reminiszenz von a1 bewahrt – diese Person hat auch nur diese interne Reminiszenz, wenn sie a1 ist. 26 Eine plausible Entgegnung darauf wäre, das reflexive Sich-Erinnern nicht als Mittel der Selbsterkennung, sondern als einen intentionalen Akt zu erachten, der für die Konstituierung von personaler Identität überhaupt erforderlich ist. Was den ersten Aspekt dieser Antwort anbetrifft: In aller Regel stimmt tatsächlich nicht, dass wir uns selbst (wie bei einem Familienvideo) durch eine Erinnerung erkennen (oder glauben uns zu erkennen). Wir haben einfach die (unter Umständen problematische) Erinnerung von einer Erfahrung als eigene Erfahrung. Das sich Erinnern impliziert aber nicht nur einen Wahrheitsanspruch in Bezug auf die Realität der erinnerten Sachverhalte, sondern auch die Prätention, selbst als Zeuge oder Akteur in solchen Sachverhalten involviert gewesen zu sein. Und weil die mögliche Gegenstandlosigkeit dieser Prätention gleichzeitig bedeutet, dass man sich eigentlich überhaupt nicht erinnert, scheint der erinnernde Akt nach wie vor in der personalen Identität genauso vorausgesetzt zu sein wie diese Identität in ihm. 27 Die grundsätzliche Unbeständigkeit der einzelnen Erinnerungen stellt ohnehin Lockes internalistische Annahmen in Frage: Man kann wohl in t2 die eigenen Gedanken und Empfindungen von t1 präsent haben und später in t3 auch die von t2 im Gedächtnis bewahren, aber nicht (oder nicht in gleicher Weise) jene von t1. Peter hasst Marie in t1. In t2 liebt er sie und der alte Hass ist ihm noch erinnerlich. In t3 liebt er nun Silke und kann über seine alte Liebe für Marie nachsinnen – dass er sie einmal gehasst hatte, hat er jedoch völlig vergessen. lischen Verantwortung zusammenhängt, aber aufgrund ihrer imaginablen Intransitivität – wie noch zu zeigen sein wird – nicht alle Eigenschaften der mathematischen Identität aufweist. 26 Vgl. Williams, Bernard: Personal identity and individuation, in: ders.: Problems of the Self, London 1978, S. 1–19. 27 Egofokalität geht zwar nicht nur mit der Einheit des Bewusstseins, sondern auch mit der subjektiven Qualität des Bewusstseins an sich einher (vgl. Nagel, Thomas: What Is It Like to Be a Bat?, in: Philosophical Review 83 (1974), S. 435–450). Aber diese vorauszusetzende Qualität, die etwa die Eigenart des sich an etwas Erinnerns vor der Eigenart des etwas Sehens noetisch unterscheidet, ist keine hinreichende Bedingung für ein wirklich sich Erinnern oder Sehen.

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Bei einer schlichten Interpretation der Argumentation Lockes wäre dann Kontinuität zwischen t1 und t2, aber nicht zwischen t2 und t3 vorhanden. Daraus ergibt sich ein Paradox, weil dann die Person, die in Marie verliebt war, auch die Person wäre, die sie einst gehasst hatte; und die Person, die jetzt Liebe für Silke empfindet, mit der gleichen Person ebenfalls identifiziert werden müsste, die ihr Herz für Marie verloren hatte; die Person, die Silke jetzt so verehrt, wäre jedoch nicht die gleiche Person, die früher Hass gegen Marie hegte. Wenn das Gedächtnis als grundlegende Bedingung der personalen Identität gelten soll, müsste man also seine vereinende Funktion in Einklang mit der Möglichkeit bringen, dass die interne Verbindung von zwei voneinander entfernten eigenen Bewusstseinszuständen aus dem Zeitpunkt des letzteren von beiden für die entsprechende Person unerkennbar ist. Eine aus diesem gestörten Rückblick entspringende transitive Relation mag genügen, um die Kontinuität der eigenen Identität zu sichern: Da die Person, die Silke liebt, sich daran erinnert, Marie geliebt zu haben und die Person, die in Marie verliebt war, damals ihren vorausgehenden Hass für sie noch nicht vergessen hatte, sei es folglich zwingend, dass die Person, die jetzt Silke liebt, auch die Person ist, die Marie hasste, ob diese Person sich daran entsinnen kann oder nicht. 28 Die Herausbildung von Persönlichkeit würde sonach der Gedächtnisleistungen weiterhin bedürfen; eine direkte erinnernde Verknüpfung von jedem Augenblick des eigenen Lebens mit jedem vorausgehenden Augenblick dieses Lebens wäre aber nicht erforderlich. Ein in solcher Weise rekonstruiertes Identitätskriterium ist freilich durch verschiedene Einwände anfechtbar. Man bedenke, dass viele unserer augenblicklichen Bewusstseinszustände aufgrund ihrer Flüchtigkeit keine unmittelbare Spur hinterlassen. Sonach kann es vorkommen, dass wir uns überhaupt nicht daran zu erinnern vermögen, was wir gerade willentlich gemacht haben: ob es sich um das Umgehen einer Pfütze beim Überqueren der Straße, um das kurze Reiben des Kinns oder um das Summen von Casta Diva unter der Dusche handelt. Die Trivialität derartiger Zustände ruft deren eigene sofortige Verflüchtigung hervor. Ähnliche Effekte können auch die In dieser Richtung der Verteidigung der Position Lockes gegenüber den alten Einwänden von Thomas Reid siehe Shoemaker, Sydney: Personal Identity: a Materialist’s Account, in: Shoemaker, Sydney and Swinburne, Richard: Personal Identity, Oxford 1989, S. 80 ff.

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umgekehrte Ursache haben: Gerade wegen ihrer besonderen Relevanz werden andere vergangene mentale Zustände in die Finsternis des Unbewussten verdrängt, ohne klare Reminiszenzen zurückzulassen. In dem einem wie in dem anderen Fall würde der Hinweis auf eine momentane oder latente Retention mehr Verwirrung als Klarheit schaffen. Auf der Basis der reichen Überlieferung von mythologischen Metamorphosen aus der Antike und in Anlehnung an die literarische Behandlung des Doppelgänger-Motivs von der Romantik bis Jorge Luis Borges hat sich die analytische Philosophie darüber hinaus zahlreiche Fälle der Aufspaltung einer Person ausgedacht, die schließlich eine mathematische Transitivität der personalen Identität in Zweifel ziehen: Demgemäß ist es vorstellbar, dass eine Person A identisch mit B und B identisch mit C ist – A und C jedoch unterschiedliche Personen sind. 29 Die personale Identität ist eine anormale Es sind sehr unterschiedliche imaginäre Situationen ersonnen worden, in denen die innere Beziehung zweier Bewusstseinszustände derartige Transitivität nicht impliziert. Würde man das Gedächtnis und die Grundeinstellungen von der Person A nach dessen Tod auf irgendeine Weise den Gehirnen von B und C übertragen, deren eigene Bewusstseinsinhalte man gelöscht hätte, gäbe es gute Gründe, sowohl B als auch C mit A zu identifizieren – B und C wären jedoch unterschiedliche Subjekte, zumal sich bei ihnen schon infolge der ungleichen räumlichen Positionen ihrer Köpfe sofort divergierende Bewusstseinsströme entwickeln müssten. Wenn A eine Familie gebildet hätte, würden B und C womöglich sogar zu erbitterten Rivalen, welche die Zuneigung des Ehepartners und der Kinder von A nicht mit dem anderen teilen möchten. Ausgehend von solcherlei Überlegungen hat Derek Parfit die Auffassung verfochten, die personale Identität spiele im Grunde keine so wichtige Rolle und was eigentlich zähle, sei nur eine psychologische Verknüpfung variablen Grades. (Vgl. Parfit, Derek: Personal Identity, in: Philosophical Review 80 (1971), S. 3–27; ders.: Reasons and Persons, Oxford 1987, S. 199–351; ders.: The Unimportance of Identity, in: Harris, Henry (Hgg.): Identity, Oxford 1995, S. 13–45). Erkennen wir die Signifikanz solcherlei Gedankenexperimente an – und dies scheint vernünftig –, werden wir zustimmen müssen, dass die personale Identität – im Gegensatz zur mathematischen Identität – nicht unbedingt eine transitive Relation darstellt. Diese Anomalie ist aber nicht kontraintuitiver als auf die mannigfachen Voraussetzungen, die mit unserem Selbstverständnis verbunden sind, zu verzichten. Der von Parfit herausgestrichene Gradualismus des psychologischen Nexus ist im Übrigen ziemlich naheliegend: Käme es ähnlich wie bei A zu einer Fission von B und C und hätte dieser Prozess weitere sukzessive Fortsetzungen, würde sich die Verbindung zwischen A und den Produkten der Fission allmählich abschwächen. Dies wäre schlechthin das Ergebnis einer narrativen Auflösung. Zu akzeptieren als bloßes Resultat der Änderungen der Persönlichkeit, der unverhofften Schicksalswendungen oder des Verschwimmens der eigenen Erinnerung, dass – wie Parfit andeutet – in den Phasen von A’s Körper verschiedene »Ichs« aufeinander folgen, widerspricht hingegen den praktischen und moralischen Rationalitätsbedingungen unseres Selbstbewusstseins.

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Identität, die ihren Namen nur durch sprachliche Logik verdient: Sie kohäriert mit dem anaphorischen Gebrauch von Pronomina, mit der Verwendung von Possessiva und Adjektiven wie »gleich« oder »eigen« in Verbindung mit Eigennamen und vor allem mit der Anführung des Pronomens der ersten Person des Nominativs in Kombination mit den Vergangenheitsformen. Die dargelegten Bedenken bringen im Übrigen keine definitiven Argumente gegen Lockes Intuition vor – dessen Internalismus, den man retten wollte, enthält trotz seiner Unzulänglichkeit einen zutreffenden Kern. 30 Aber dadurch wird deutlich, dass eine weitere Erörterung vonnöten ist, die eine andere Kohäsion der personalen Eigenheit in Betracht zieht.

III. In der aktiven Erinnerung bringt man durch eine Selektion gleichsam Ruhe und Ordnung in die turbulente Wirrnis des Bewusstseinshintergrundes. Die Intentionalität eines Gedankengangs schließt schon eine thematische Auswahl in einem heterogenen Kontinuum mit ein. 31 Und die Erinnerung an die Episoden des abgesteckten Themas Bevor ich zum Thema komme, sei mir ein triviales Gedankenexperiment gestattet: Stellen wir uns die Person A vor, die in einem Krankenhausbett aufwacht. Ein sie umkreisendes Ärzteteam verkündet ihr mit abbittendem Ton, dass ihre Gehirnfunktionen dermaßen beeinträchtigt gewesen seien, dass man nicht umhin konnte, sämtliche Inhalte ihres Bewusstseins und Unterbewusstseins zu löschen. Nach dieser mentalen »Reinigung« habe man im dadurch gesundeten Gehirn das entsprechende mentale Leben einer anderen Person B eingesetzt, die es gespendet habe, weil sie selbst eine grausame unheilbare Krankheit bei einem ganz gesunden geistigen Zustand erlitt. Das mentale Leben von B – das in dieser imaginären Welt übertragbar, aber nicht reproduzierbar wäre, solange eine adäquate neuronale Basis vorläge – würde sowohl intellektuelle Fähigkeiten als auch Erinnerungen, Haltungen, Überzeugungen, Projekte und Gefühle umfassen. Es ist nun der Logik dieser imaginären Situation inhärent, dass A sich nach dem Erwachen nicht über ihre Gedankenwelt, sondern doch vielmehr über ihren Körper und die Voraussetzungen der ärztlichen Rede wundern müsste. Jene, die eine Identität von A und B nach einem derartigen Eingriff verneinen (siehe – in Bezug allerdings auf problematischere imaginäre Fälle – Wiggins, David: Sameness and substance renewed, Cambridge 2004, S. 193–244), neigen aufgrund des Gewichts einer ehrwürdigen kritischen Tradition dazu, die Auszeichnung der Perspektive der ersten Person mit dem Solipsismus oder einem rudimentären Dualismus zu vermengen. 31 Über den Begriff »heterogenes Kontinuum« vgl. Rickert, Heinrich: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (EV 1926), Stuttgart 1986, S. 46–51. Siehe auch ders.: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen 1913, S. 30–44. 30

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ist wiederum selektiv. Aber auch wenn die inneren Relationen unserer Bewusstseinszustände den Einsatz des Gedächtnisses brauchen, fügen sie sich schon allein durch ihren Sinn zusammen, ohne das systematische Bemühen eines Rückblicks. Unsere Identität bildet sich, ohne dass wir es nötig haben, stets Rückschau zu halten. Das eigene Handeln und Denken ist intentional. Aber der logische Konnex von Handlungen und Gedanken kann nicht gleicherweise intendiert werden – er ist konstitutiv für die Intentionalität aber in seiner konstitutiven Funktion zunächst kein intentionales Objekt. Auf jeden Fall sind die Erfahrungen, welche die Entwicklung der eigenen Identität bestimmen, nicht hermetisch, punktuell und reihenförmig, sondern an sich offen, netzartig und diegetisch strukturiert. Bewusstseinszustände sind keine vereinzelten Vorgänge – jeder von ihnen verknüpft sich in mannigfacher Weise (innerhalb der Einheit des Bewusstseins) mit anderen vorausgehenden, simultanen und darauffolgenden. Und viele solcher Verknüpfungen sind dem Sinn eines jeweiligen propositionalen Gehalts immanent. Wird jemand bei einem Spaziergang an der Küste durch Hilferufe aus dem Wasser alarmiert, sind in seiner Sorge zahlreiche Annahmen in Bezug auf das Verhalten von Badenden oder die Gefahren des Meers einbezogen sowie vielleicht auch sein Wissen davon, dass seine kleine Tochter kurz davor schwimmen gegangen ist. Jeder Bewusstseinszustand im Vordergrund hängt so von einer Folie latenter Zustände ab, und zwar in ähnlicher koordinativer Weise wie auf anderen damit zusammenhängenden Ebenen die Bedeutung eines Wortes von dessen Kontrasten und Affinitäten mit anderen Vokabeln bestimmt ist und der Sinn einer Proposition auf den Potenzialitäten einer ganzen Sprache beruht. Der Parallelismus hat freilich eine wesentliche Restriktion: Die angeführte lexikalische und propositionale Vernetzung ist nur semantischer oder logischer Natur, während unsere Bewusstseinszustände darüber hinaus in kausaler Beziehung zueinander stehen. Wenn wir glauben, dass p und dass p → q, wird man wohl erwarten, dass diese zwei Überzeugen uns zu der Überzeugung führen werden, dass q. Mit einer wachsenden Komplexität bestimmen zwar die zwischen den Inhalten unserer Überzeugungen bestehenden Relationen nicht unbedingt entsprechende kausale Verbindungen – wir sind bisweilen irrational. Das Erkennen dieser Relationen trägt allerdings in sich – wenn es sich wahrhaftig um eine Erkenntnis handelt – eine kausale Wirkung: Die ganze argumentative Praxis basiert infolge der damit einhergehenden geregelten Meinungsbeeinflussung auf dieser 209 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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Annahme. Unsere Akte sind außerdem durch unsere Intentionalität begründet und obwohl unsere zuerst manifestierten Ansichten und Wünsche nicht ausreichen, um eine aktuelle Handlung auszulösen, besteht die primäre Erklärung einer bereits vollzogenen Tat darin, deren volitiven und kognitiven Gründe zu ermitteln. Hätte man andere Bestrebungen und Überzeugungen doch letztlich gehegt, wäre diese konkrete Aktion – nehmen wir dann an – doch nicht ausgeführt worden. 32 Mit unseren Überzeugungen und Wünschen sind ansonsten Erfüllungsbedingungen verbunden. Und wenn wir dann die Richtigkeit oder Falschheit einer eigenen vergangenen Meinung oder die Realisierung oder Enttäuschung eines Wunsches feststellen, entsteht eine innere Verbindung zwischen früheren und aktuellen intentionalen Zuständen, so dass die letzteren eine bedeutsame Nuance erhalten, die auch unsere spätere Intentionalität ausprägt. Ich versuche also nicht Maria ohne weitere Betrachtungen zu überreden, mit mir auszugehen – ich tue es trotz ihrer jüngsten Abfuhr oder aufgrund ihrer neulich angedeuteten Nachgiebigkeit, ich tue es als Familienvater oder Junggeselle. Jedes Moment der eigenen Intentionalität verwebt sich mit vorangegangenen oder nachfolgenden Momenten und die entstandene Struktur erzeugt und moduliert andere persönliche Bewusstseinszustände und Handlungen, die wiederum in einem konsekutiven Prozess weitere eigene intentionale Vorgänge in mannigfaltiger Form bestimmen. Eine Vielzahl der eigenen Bewusstseinszustände ist freilich keine direkte oder eindeutige Konsequenz der eigenen geistigen Geschichte – ihr unmittelbarer Anlass ist ein gegenwärtiger Aspekt der Welt oder sie treten als willkürliches Begehren auf. Sie ordnen sich trotzdem in diese Geschichte ein. Werden sie durch diese Einordnung belanglos, können sie sich für immer auflösen – das ist nämlich die Auswirkung ihrer herausgebildeten Irrelevanz. Zwei Bewusstseinszustände sind Merkmale des gleichen Subjekts, wenn sie Elemente eines derartigen Gefüges sind: Es ist für diese Struktur konstitutiv, dass die verflochtenen Elemente zum geisDie übliche deutende Rationalisierung fremden Verhaltens vermag jedoch nicht mit hinreichenden Gründen aufzuwarten, zumal das jeweilige Subjekt den zutreffenden Gründen (eine gewisse Konstellation von Überzeugungen und Wünschen oder bestimmte vorausgehende Absichten) hätte gerade widersprechen können. Im Augenblick der Handlung hätte das Subjekt einfach eine entgegengesetzte Intention in actu walten lassen. In der Diegese einer Identität eröffnet dies Raum für unerwartete Wendungen, Willensschwäche oder irrationale Taten.

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tigen Leben einer gleichen Person gehören. Die betreffende interne Koordination wird bereits in deren einfachsten Form angedeutet, wenn wir über die Erfüllung eines Wunsches, die Verwirklichung eines Projekts, die Vergebung einer Schmähung oder das Bereuen eines Fehlers sprechen. Im Übrigen stellen die verschiedenen Weisen des Vergessens und Verdrängens neue Knotenpunkte im Verlauf der personalen Identität dar, die ihre spezifische Bedeutung so erst im Ganzen der Persönlichkeit erlangen. Sogar bei Fällen von retrograder Amnesie tut sich nicht unbedingt eine so tiefe Kluft auf, dass eine neue Identität entsteht. Die Ratlosigkeit und Sorge der betroffenen Person wäre ggf. ein Zeichen dafür, dass sie ihre Entwurzelung als Anomalie wahrnimmt. 33 Und schließlich vermag eine Erinnerungsverfälschung Bedeutsamkeit im Bewusstseinskontinuum zu erlangen, sobald sie in den opportunen Koordinaten situiert wird. 34 In diesem Prozess sind inhaltliche Auslassungen auf jeden Fall ein selektives latentes Mittel, das Wichtiges von Unwichtigem scheidet. Meine Erinnerungen von gestern erstrecken sich nicht über einen ganzen Tag und mein peripheres Sehen, meine Automatismen und viele erledigte Routinen verfließen im Verhältnis zum Gewichtigen und Außerordentlichen in meiner Selbstwahrnehmung. Dies steht mit der Tatsache in Verbindung, dass unsere Identität keinen starren und glatten narrativen Aufbau aufweist, sondern sich durch eine sehr dehnbare Mehrsträngigkeit und eine Vielfalt von Fokussen Wie schon erwähnt, vereinigen sich in der narrativen Struktur der eigenen Vergangenheit nicht nur verschiedene langgezogene Linien, sondern auch viele unerwartete Schnittpunkte – wir kommen später noch dazu. Darüber hinaus gibt es in allen Abschnitten eines Lebensweges sehr konkrete Elemente, die aus einer verwobenen Gesamtheit hervorstechen. Daraus resultieren mannigfache narrative Momente, in denen etwa unterschiedliche Formen der Beseelung involviert sind. Dazu gehört etwa das hohe Vergnügen von herausragenden Kunsterlebnissen. In einem allgemeineren Sinne wird unsere Vergangenheit auch von akzidentellen Augenblicken des festlichen Frohmutes, der sinnlichen Gefühlsregung, des kreativen Funkelns, der gesuchten und überwundenen Gefahr oder des zeitweiligen dolce far niente geprägt. (Vgl. Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt 1995, S. 102–114). Man kann aber diese flüchtigen Ereignisse auch in komplexe Lebensentwürfe einbetten: Vielleicht erfüllen sie in deren Transitorität die Ziele einer ästhetischen Existenz oder entsprechen einer willentlichen Disposition zu Spiel, Kreativität oder Müßiggang. In ihrer Flüchtigkeit und Exzeptionalität werden sie jedenfalls innerhalb eines narrativen Geflechts definiert. 34 García Márquez gibt zahlreiche Beispiele für eine solche Einfügung in den der eigenen Kindheit gewidmeten Seiten seiner Memoiren. Vgl. García Márquez, Gabriel: Vivir para contarla, Barcelona 2002. 33

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auszeichnet. Müsste ich mein letztes Wochenende in Freiburg rekapitulieren, hätte meine Darstellung somit eine ganz andere Art von Komposition als mein Rückblick auf meinen dreimonatigen Aufenthalt in der Stadt im Breisgau. Und jede dieser narrativen Akte würde sich weiter ausdifferenzieren, je nachdem ob ich mein Augenmerk auf mein berufliches oder auf mein Gefühlsleben, auf meine Erlebnisse als Fahrradfahrer oder auf eine wissenschaftliche, politische oder ästhetische Erfahrung richte. Jedes Mal wird mit unserem Rückblick eine Kette von Begebenheiten hinsichtlich gegenwärtiger Belange selegiert. Die Art der referierten Geschichte, das Motiv, das den Rückblick auf sie veranlasst hat, unser Wissen von dem, was seit damals geschehen ist – das alles gibt den diversen Episoden eine besondere Bedeutung, und es wird dadurch ein kongruentes Ganzes ermöglicht. Marginales oder Irrelevantes wird so übersprungen und in Anbetracht einer Reihe von Vorkommnissen erkennt man eine kontextuelle Signifikanz, die in der Vergangenheit nicht in gleicher Weise zu erkennen war. 35 Dies ist nicht der einzige Grund, warum der narrative Aufbau der personalen Identität nicht mit einer konkreten Narration gleichgesetzt werden darf. Eine autobiographische Erzählung setzt diesen Aufbau voraus, wenn sie Taten und persönliche Ereignisse ins Gedächtnis ruft. Aber sie spiegelt nicht einfach in der gemeinsamen Sprache etwas wider, was schon vor dem Erzählen als eine Art Kryptogramm im Bewusstsein vorhanden war. Die der personalen Identität innewohnende Narrativität ist in dieser Hinsicht nur inchoativer Natur und sie beruht auf unterschiedlichen Stufen und Momenten des Selbstbewusstseins und auf dem von diesem ausgelösten synthetischen Effekt. Aufgrund seiner germinalen Beschaffenheit werde ich diese Ebene selbstreferenzieller Diegese hyponarrativ nennen. Sie geht aus der ausgedehnten reflexiven Fokussierung der eigenen Erfahrungen hervor. In einem Vorgang individueller Vereinzelung werden die Elemente und Segmente des Bewusstseinsstroms durch Autoreflexivität aneinandergefügt: als intentionale Zustände mit Erfüllungsbedingungen, als Motive für vollzogene Handlungen, als erklärbare Gemütslagen, als sinnstiftende Präsuppositionen … Jede Selbstrepräsentation stützt sich auf diese reflexive Basis, aber sie stellt einen intentionalen Akt dar, der in eigentümlicher Form über jene dieses hyponarrative Substrat gründenden Akte hinausgeht. Die Tatsache, dass so viele Erzählmodi uns in dieser 35

Vgl. Danto: Narration and Knowledge, S. 10–11 und S. 134.

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Hinsicht zur Verfügung stehen, deutet auf die Polysemie und Wendigkeit der hyponarrativen Struktur unserer personalen Identität hin. Eine schriftliche Selbstrepräsentation (in Gestalt etwa einer »Erzählung meines Lebens«) objektiviert und konkretisiert in einer narrativen Synthese das hyponarrative Flechtwerk unseres Bewusstseins. 36 Auf dieser voll entfalteten diegetischen Stufe werden ferner Relevanzfaktoren herausgegriffen und Spannungsbögen erschaffen, so dass sich eine narrative Pointe, eine tellability für Zuhörer oder Leser herausbilden kann. 37 Danach erhält diese Selbstrepräsentation eine Objektivierung und Konkretisierung vom Leser selbst, der den Text in vielfältiger Form vereinen und vervollständigen soll. 38 Zwischen der Kontinuität des Bewusstseins und deren symbolischer Repräsentationen entwickelt sich sonach eine eigenartige offene Dialektik, die in dem Zusammenspiel von auktorialer Synthese und Synthese des Interpreten eine andere Modalität einnimmt.

IV. Wenn eine personale Identität aus den angeführten inneren Relationen hervorgeht und wenn diese Relationen hyponarrativer Natur sind, inwiefern prägen sie die Darstellung der Identität? Jede Charakterisierung einer Identität muss die Elemente voraussetzen, aus denen jene Relationen sich entfalten – und im hyponarrativen Geflecht einer personalen Identität stellen die Formen des Glaubens und des Wollens gerade diese grundlegende Basis dar. 39 Unter der breiten RuEine Selbstrepräsentation dieser Art ist nicht mit einer Kette von expressiven Sprechakten gleichzusetzen, wie Jürgen Habermas gemeint hat (vgl. Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt 1988, S. 208). Insofern sie an Adressaten gerichtet ist, geht man damit freilich eine zweifache Verpflichtung von Aufrichtigkeit ein: Die Adressaten dürfen nämlich darauf vertrauen, dass die gegebene Person weder andere noch sich selbst belügt. Dies hebt jedoch keinesfalls den zentralen assertorischen Gehalt auf, der mit der Darstellung der selegierten betreffenden Geschehnisse und Sachlagen einhergeht. 37 Was die pragmatischen Voraussetzungen dieser Erzählwürdigkeit (tellability) anbetrifft, siehe Pratt, Mary Louise: Toward a Speech Act Theory of Literary Discourse, Bloomington 1977, S. 136–147. 38 Vgl. Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes, Tübingen 1968, S. 40–54. 39 Da in jeder Erzählung im Übrigen Geschehnisse geschildert werden, die sich aus dem Zusammenfluss von intentionalen Zuständen und Handlungen ergeben, erwei36

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brik des Glaubens sind Überzeugungen, Meinungen, Prognosen, Vorahnungen, Mutmaßungen oder Hypothesen einzuordnen, während unter der gleichfalls großzügigen Rubrik des Wollens stellvertretende Kategorien wie Interessen, Wünsche oder Präferenzen subsumiert sind – aber auch präsentische Emotionen (die ein Wissen oder Annehmen, dass jetzt p, voraussetzen: wie etwa das darüber empört, entsetzt, verärgert Sein, dass p) und antizipative Emotionen (die mit der Vermutung des Eintretens von p einhergehen: wie etwa das Befürchten, Hoffen, Erträumen, dass p). Absichten sind geradeso von ihrem volitiven Wesen gekennzeichnet: Eine Absicht ist schließlich ein von einem selbst eingewilligtes Ziel. Die Koordination von kognitiven und volitiven Momenten des Bewusstseins ist intern, insofern als sie aus einer ich-zentrierten Perspektive herrührt, in der – in Kants Worten – das Subjekt »Inhaber und Urheber« seiner eigenen Repräsentationen ist 40 – dementsprechend manifestiert sich die performative Art dieser Perspektive sowohl auf einer rein epistemischen als auch auf einer praktischen Ebene der Rationalität. Die inneren hyponarrativen Relationen, die eine personale Identität konstituieren, sind jedoch nicht in jeder Hinsicht auf einer Rationalitätsskala zu bewerten. Es ist rational, einen Regenschirm bei einem Spaziergang mitzunehmen, wenn man glaubt, dass es regnet und man vermeiden möchte, nass zu werden. Und wenn man von der Wahrheit von p ausgeht und denkt, dass p → q, ist es rational, zu glauben, dass q. Aber wenn ich Marie liebe, sie sich jedoch in Hans verliebt und ich mich dadurch schwermütig fühle, ist meine Schwermut zunächst weder rational noch irrational – sie ist schlechthin die Folge meiner Liebe für Marie und meiner Entdeckung ihrer starken Zuneigung für einen anderen. Die inneren Relationen des Bewusstseins sind auch oft von schlichter Juxtaposition (ich glaube, dass es um die Ecke einen Supermarkt gibt und ich mag Marmelade) und sie können dann eine Grundlage für potenzielle intentionale Verkettungen bereitstellen sen diese sich schließlich als primäre narrative Elemente. Die mythischen-finalistischen Komponenten etlicher Erzählungen der Vormoderne (wie auch ihre oft mehrdeutige moderne Fortsetzung oder Rekonstruktion) verringern die Bedeutsamkeit von der hypernarrativen Basis der Identität der Figuren, sobald deren Schicksal von einer höheren Gewalt vorausbestimmt ist. Vgl. Martínez, Matías: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996, S. 13–36. 40 Vgl. Kant, Immanuel: Opus Postumum. Kants Gesammelte Schriften, Band XXII, Berlin 1938, VII. Convolut, VII. Bogen, S. 83.

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(so etwa, wenn meine Marmelade zur Neige geht). Sie bilden aber auch Kontraste oder Oppositionen. Erglühe ich auf einmal in Liebe für Luise, nachdem ich schließlich das Herz von Marie erobert und sie geheiratet habe, wird mein Familienstand die Bedeutung meiner Gefühle für Luise in irgendeiner Form abtönen. Nachdem Paulus schlagartig vom Judentum zum Christentum übertritt, besitzt sein Bekenntnis das besondere Merkmal, das Bekenntnis eines Bekehrten zu sein. Verliert jemand vollkommen den Glauben seines katholischen Elternhauses, ist seine überzeugte Ungläubigkeit auch eine Apostasie. Ähnliche spezifische Färbungen weisen sämtliche unverhoffte biographische Änderungen auf: Ein ehemaliger General wird Pazifist, ein Schurke vollbringt eine Heldentat, einem mittelmäßigen Lyriker gelingt ein brillantes Gedicht … Jedes Mal ist ein jeder, das was er ist, in der bezeichnenden Form des Gewesen-seins, das was er gewesen ist. 41 Solche Verbindungen durch Juxtaposition, Kontrast und Opposition (die den Rahmen der von Roman Jakobson genannten »metonymische Relationen« sprengen 42) haben eine wichtige Funktion im Prozess der Individuation und sind somit zu beachten, um die resultierende Charakterisierung richtig erfassen zu können. In elaborierten Narrationen können andere scheinbar marginale Komponenten der Geschichte (Einschiebungen, Details einer weitschweifigen Beschreibung, kurze Episoden, unauffällige Vorgänge …) auch eine weitere Konnexion mit der zentralen Handlung erhalten: Vielleicht werden sie an diese in irgendeiner Form assimiliert und verstärken dadurch bedeutsame Zeichen (Jakobson hat in diesem John Searle meint, die Wirklichkeit des Ichs (gegen Humes diesbezügliche bekannte Kritik) liege in der Tatsache begründet, dass bei jeder rationalen Handlung die Handlungsmotive keinen hinreichenden Grund für die Handlung darstellen: Wie schon erwähnt, hätte man jedes Mal in der letzten Sekunde beschließen können, anders zu agieren (vgl. Searle, John: Mind. A Brief Introduction, New York 2004, S. 279–300). Dies kann jedoch nicht der entscheidende Punkt sein. Denn hätten wir uns andersartig verhalten und wäre unser entsprechendes Tun nicht kompulsiv gewesen, hätten wir letztendlich – wie dürftig und inkohärent es auch immer sei – irgendein Motiv gehabt: Unser hypothetisches Verhalten fände etwa seinen Grund darin, dass wir uns zum Schluss nicht auf die andere Weise verhalten wollten. Searles Position, auch wenn er angibt, formale Kriterien einzuhalten, öffnet einem substantiellen Ich Tür und Tor. Bei unerwarteten Handlungsmodi beruht jedoch die Kontinuität der personalen Identität schlechterdings auf der zugrundeliegenden performativen Hyponarrativität und den damit einhergehenden egofokalen Verquickungen. 42 Vgl. Jakobson, Roman: Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances, in: ders.: Jakobson, Roman / Halle, Morris: Fundamentals of language, The Hague 1971, S. 69–96. 41

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Zusammenhang von »metaphorischen Relationen« gesprochen). Etwas am Rande der Geschichte erhellt letztendlich deren Kern. Diese Art komplexer symbolischer Verknüpfung, die eine besondere interpretative Bemühung erfordert, ist eine der vielen Besonderheiten einer Logik der biographischen Repräsentation, welche über die hyponarrative Logik hinausgeht – in der Narratologie wird diesem Gegensatz durch die Unterscheidung zwischen der Motivierung der Figuren und der kompositorischen oder künstlerischen Motivierung gleichsam Rechnung getragen. 43 Da die Bedeutung von jedem Moment eines Lebenslaufs von einer entsprechenden Abfolge von Momenten abhängt, ist der hyponarrative Hintergrund der personalen Identität nicht nur ein Ergebnis der Verwurzelung in der Vergangenheit, sondern auch – und in Korrelation dazu – eine permanente Autoprojektion in die Zukunft. Die aus dem performativen Ich entspringenden synthetischen Akte beinhalten eine abgestufte Komponente von Zukünftigkeit. 44 In der imaginativen voraussehenden Funktion der Apperzeption wird in die Gegenwart eine mögliche Zukunft eingesetzt. Es werden mithin Pläne geschmiedet, weittragende Entscheidungen getroffen, moralische Prinzipien eingeschworen, Ideale verfolgt … 45 Oder es wird mit einer gewissen Apathie oder Selbstzufriedenheit erwartet, dass sich nichts ändert, dass alles, egal ob gut oder schlecht, beim Alten bleibt. Und jedes Mal wird eine Geschichte oder die Skizze einer Geschichte antizipiert. Freilich kennzeichnen die kritischen Augenblicke meines Lebenslaufs jetzt meine Identität als »schon gewesene« Erlebnisse, wähVgl. Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik, Wiesbaden 1985, S. 211– 238. 44 Vgl. Ortega y Gasset, José: Sobre la razón histórica, Madrid 1980, S. 212 ff. 45 Das Schuld- und Schamgefühl oder das reine Gewissen sind als Ergebnisse eines sich selbst gesetzten moralischen Ideals zu betrachten. Sie sind mithin episodische Zustände, die sich ins Werden der jeweiligen personalen Identität einfügen, insoweit sie gerade auf das Scheitern oder die Durchführung eines eigenen Projekts von Identität hindeuten. Vgl. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 60 und Korsgaard, Christine M.: The Sources of Normativity, Cambridge 1996, S. 113 ff. In ihrer Kritik an Derek Parfits Herabminderung der Bedeutung einer personalen Identität hat Christine M. Korsgaard (in der Tradition von Heidegger oder Ortega y Gasset) die projektive Natur des handelnden Subjekts herausgehoben (vgl. Korsgaard, Christine M.: Personal Identity and the unitiy of agency. A Kantian Response to Parfit, in: Philosophy & Public Affairs 18, no. 2 (1989), S. 101–132). Korsgaard grenzt aber hierbei in inadäquater Form die praktische von der ontologischen Dimension ab. 43

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rend das eigene Geschick, das ich gedanklich vorwegnehme, mich nur insofern charakterisiert, als ich gerade dies jetzt tue. Die ganze Signifikanz eines Geschehens für meine personale Identität ist somit vornehmlich retrospektiv. Wir befinden uns zudem immer in einem Jetzt, aber sobald das Jetzt mit einem Inhalt versehen wird (etwa mit dem Inhalt von dem, was wir jetzt denken oder wünschen oder uns widerfährt …), verliert das Jetzt Momentanität, zieht in sich Vergangenheit ein und erstreckt sich über die Zeit: Jedes Jetzt-Denken, Jetzt-Wünschen, Jetzt-Sich-vor-mir-Zutragen ist ein Beim-DenkenSein, ein Beim-Wünschen-Sein, ein Sich-Zutragendes. Die Deutung eines Sinnes im Jetzt erfordert immer einen dehnbaren, auf die Vergangenheit ausgerichteten Rahmen, der den schlichten Augenblick sprengt. 46 Der Vorgriff einer künftigen Zeit in das jetzige Bewusstsein ist indes nicht minder maßgeblich für unsere Identität: In Anbetracht des einmal sinngemäß Antizipierten müssen wir das dann Geschehene als Erfolg oder Fiasko, Verrat oder Loyalität, Glück oder Verhängnis betrachten. Wir verstehen das Woher einer aktuellen personalen Identität, sofern wir das Wohin dieses Woher gewahren. Und jedes solche Wohin erreicht ferner eine nuancierte Signifikanz durch seine Divergenz zu anderen nicht eingeschlagenen alternativen Wegen. Die komplexe narrative Eigenart einer personalen Identität zeigt sich sehr deutlich, wenn eine Wertung ihrer Inhalte vorgenommen wird. Eine Arithmetik der Präferenzen, die das Schicksal von jedem Einzelnen nach der Berechnung der entsprechenden erfüllten Vorlieben beurteilen würde, wäre eine sehr unzulängliche evaluative Grundlage. Im Verlauf der Zeit verändern wir innerhalb einer Erzählstruktur stets die Rangordnung unserer Präferenzen sowie deren Tenor, so dass wir das Misslingen einer unserer früheren Bestrebungen als glückliches Geschick erachten mögen, während die Erfüllung anderer persönlicher Ziele sich nun als unheilvoll für uns erweist. Aus der gegenwärtigen rückblickenden Perspektive können die alten Glücksmomente schmerzlich und die einstigen Nöte und Miseren hingegen gewissermaßen beglückend werden – die ursprüngliche Teleologie unserer Einstellungen ist jedoch nach wie vor maßgebend für die biographische Geschichte. Sowohl eine Aufwertung als auch eine Dilthey hat sich mit dieser Idee beschäftigt. Vgl. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. VII, Stuttgart 1973, S. 72–73.

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Abwertung eigener vergangener Präferenzen begleitet jede kritische Retrospektive. Es ist also nicht nur so, dass das Vorleben die Gegenwart mitgestaltet – unsere Gegenwart transformiert gleichsam auch unsere Vergangenheit: Die Bedeutung von früheren Erlebnissen verwandelt sich nämlich durch deren kausale, konsekutive und symbolische Verknüpfung mit späteren Situationen. Die innere diegetische Grundlage unserer Identität liegt jeder Selbstrepräsentation zugrunde. Welchen Zeitpunkt man als narrative Perspektive für eine Selbstrepräsentation wählen soll, hängt aber von der anvisierten biographischen Dimension ab, und es gibt in dieser Hinsicht keinen Zeitpunkt mit einer definitiven Sonderstellung.

V. Wir haben in Anlehnung an Kant argumentiert, dass das hyponarrative Geflecht innerer Relationen, das mit der Herausbildung einer personalen Identität einhergeht, auf einer Ontologie der ersten Person beruht und dass eine solche Ontologie aufgrund ihrer zusammenführenden, sinnstiftenden Funktion eine Bedingung für jedes Etwas als konkretes, greifbares Etwas darstellt. Die Ichzentriertheit dieser Ontologie rechtfertigt indes keine Art von Solipsismus, zumal die Konstitution von Individualität der Interaktion mit anderen Menschen und einem als schon gegeben angenommenen Realitätshintergrund bedarf. 47 Bei dieser Interaktion sind drei Ebenen zu unterscheiden: a) Die Ebene, auf der die Welt Sinn durch das Selbstbewusstsein erlangt und dieses durch alles, was die Welt uns abverlangt, bedingt wird. b) Die Ebene, auf der die mannigfaltige Begegnung einer Person mit anderen eine dispositio für komplementäre Formen von composi-

Das Verhältnis zwischen den Sphären des eigenen Bewusstseins, der Welt und des fremden Bewusstseins hat endlose Diskussionen ausgelöst. Aus der Unentbehrlichkeit einer Ontologie der ersten Person geht nicht ein Primat der einzelnen Subjektivität vor den anderen Dimensionen hervor. Donald Davidson hat die besondere Interdependenz der drei Bereiche hervorgehoben: »The conceptual connections between our knowledge of our own minds and our knowledge of the world of nature are not definitional but holistic. The same is true of the conceptual connections between our knowledge of behavior and our knowledge of other minds.« (Vgl. Davidson, Donald: Three Varieties of Knowledge, in: ders.: Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001, S. 214). Im Folgenden soll aber dieser diffuse holistische Konnex etwas präziser erläutert werden.

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tio aufschließt. c) Die Ebene, auf der die Autoreflexivität den Blick der anderen auf einen selbst voraussetzt. i) Ohne die setzenden Bewusstseinsakte des Subjekts gibt es keine konkrete Realität mit umrissenen, propositional definierten Inhalten. Aber die synthetischen Operationen des denkenden Subjekts präsupponieren zugleich eine ihm zusetzende konkrete Realität. 48 Descartes deutete seine metaphysische Grundintuition bekanntlich substantialistisch aus: In seiner epochalen Transformation des klassischen philosophischen Paradigmas bewahrte er gleichsam in seinem Postulat eines hypostasierten Ichs – einer res cogitans – die Idee der Substanz als selbständig Seiendes, die kein anderes zum Existieren braucht. Die Krise und Revision der modernen Metaphysik ist mit einer Untergrabung der cartesianischen Ich-Verkapselung verbunden – der amerikanische Pragmatismus, Heidegger, Ortega y Gasset, Gadamer oder Wilhelm Schapp selbst haben in dieser gleichen Richtung unterschiedliche kritische Positionen vertreten. Der zutreffende Kern derartiger Bemängelungen entkräftet jedoch nicht die hier rekonstruierte Auffassung Kants. Die intentionale Relation zwischen Subjekt und Welt erfordert ohnehin Selbstbewusstsein. 49 Sie rührt – in Kants Termini – aus der Aktivität des »Ich denke« her, die unsere Bewusstseinszustände begleitet und deren Kohäsion zuwege bringt. Diese Aktivität ist, wie oben dargelegt, bereits bei unseren elementarsten Erfahrungen vonnöten und verhindert eine ungeordnete Fragmentie48 Vgl. Ortega y Gasset, José: Qué es filosofía (EV 1929), Madrid 1991, S. 168–173. Welt und Bewusstsein sind in dieser Hinsicht – pflegte Ortega y Gasset zu sagen – gleichrangige Größen: dii consentes, deren Macht auf der Reziprozität ihres Geschehens fußt. Da die Dinge sich uns, je nachdem, als favorabel oder ungünstig darbieten und wir in der entsprechenden Weise darauf reagieren, hat Ortega y Gasset vorgeschlagen, sich von der Idee einer substantiellen Subjektivität zu verabschieden, und befunden, dass »der Mensch kein Gegenständliches ist, sondern ein Drama« (»el hombre no es cosa ninguna, sino un drama«). Vgl. Ortega y Gasset, José: Historia como sistema y otros ensayos de filosofía (EV 1935), Madrid 1981, S. 37. Schon der junge Ortega y Gasset hatte darüber nachgesonnen. 49 Zumindest in Qué es Filosofía (op. cit., S. 184 ff.) hat Ortega y Gasset dieser These zugestimmt. An anderen Stellen hat Ortega y Gasset hingegen den von ihm Husserls Phänomenologie zugeschriebenen Begriff von Selbstbewusstsein gescholten: als Reflexion eines Bewusstseinszustands über sich selbst. Aber es ist sehr fraglich, dass diese Definition Husserls Auffassung entspricht. In der Tradition des kritischen Idealismus impliziert Selbstbewusstsein in erster Linie, dass ein eigener intentionaler Zustand in irgendeiner Hinsicht auf einen anderen eigenen intentionalen Zustand Bezug nimmt. Eine solche Reflexivität bringt sonach mit sich, dass die zwei intentionalen Zustände unterschiedliche Wahrheits- oder Erfüllungsbedingung innehaben.

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rung der einzelnen Augenblicke, indem sie verschiedene Erscheinungen als Erscheinungen desselben Objekts oder Facetten eines Ereignisses zusammenfügt und sukzessive oder simultane Geschehnisse als Episoden einer gleichen Geschichte verbindet. Die jeweilige gegenständliche, ereignishafte oder voll narrative Einheit ergibt sich aus einem synthetischen Akt, in dem unterschiedliche Bewusstseinsmomente als Momente meines Bewusstseins verknüpft werden. Durch diese Verknüpfung werden Meinungen gebildet oder verändert, Wünsche gehegt und Pläne geschmiedet; aufgrund der entstandenen Geschichten kann man sich bekümmern oder erbauen, Genugtuung erhalten oder Kränkungen erleiden. Die daraus resultierende personale Identität ist ein Tun, ein reflexives Bewirken, das allerdings aus einer Notwendigkeit hervorgeht: Sie entfaltet sich in einer vielschichtigen Umwelt, in der man nicht umhin kann, zwischen mannigfachen Alternativen stets zu wählen. Unsere Identität stützt sich folglich sowohl auf der vereinenden Funktion des performativen, nicht referenziellen Ichs als auch auf einer auf uns wirkenden, schon konstituierten Welt, welche die sozialen und geistigen Dimensionen sowie die Dinge der Natur – mit Einschluss unseres eigenen Körpers – umfasst. Bei der Entstehung einer personalen Identität ist der Sinn der Realität von der Tätigkeit der subjektiven Apperzeption abhängig, während diese Tätigkeit gleichursprünglich durch die Umgebung bedingt ist, sofern jede Person sich immer auf der Welt befindet und sie sich mit deren Sachen beschäftigt. Unsere Identität kann nicht ein reines Selbstverhältnis sein: Sie erwächst aus seiner unausweichlichen Beziehung auf ein anderes. Auch wenn man sich zurückzieht und in den eigenen Gedanken versinkt, muss man erkennen, dass man sich grundsätzlich mit einer Vielfalt von Verhältnissen zu anderem befasst. Eine epistemologische Vorsicht stellt ein reflexives, philosophisches Innehalten dar, das nicht durchgehend fortgesetzt werden darf, wenn man sich nicht in einen performativen Widerspruch verwickeln möchte. Wenn wir vor Nässe triefend Schutz unter einer Überdachung suchen, tun wir es in unserem Selbstverständnis nicht, weil wir meinen, dass es regnet, sondern einfach, weil es regnet. Es ist eine konstitutive Voraussetzung unserer propositionalen Einstellungen, dass deren rationale Zusammenfügung nicht allein aus ihnen selbst herrührt. Obschon die Reflexion einer Person über die eigene Identität in die Sukzession ihrer Bewusstseinszustände eingebunden ist, stützt sich das Nachsinnen über sich selbst auf Zeitkoordinaten außerhalb dieser Sukzession. 220 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

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ii) Jede personale Identität entspringt einer Ichzentriertheit in dem vorhin erläuterten operativen Sinne. Infolge der prinzipiellen Dependenz unseres Bewusstseins von realen Verhältnissen transzendieren indes die Inhalte jener Identität durchaus die schlichte subjektive Sphäre. Diese Signifikanz der Umwelt kommt trivialerweise in den mannigfaltigen Elementen einer autobiographischen Geschichte zum Vorschein, die deren historische Situierung möglich machen, und in denen objektive Hintergründe und viele fremde sich kreuzende Schicksale eingeflochten werden. In diesem Rahmen zeichnen sich suprasubjektive Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Figuren und Motiven der Geschichte ab und alles, was in der Erzählung auftritt, ist dazu determiniert, eine Bedeutung in ihr zu haben. Jeder der einzelnen Figuren und sämtlichen Geschehnissen und Zuständen ist eine vorstellbare Vorgeschichte zuzuordnen, die wiederum auf einer Vorgeschichte fußen muss – in diesem unausweichlichen, unbegrenzten Horizont ist die jeweilige zentrale Haupthandlung mit ihren expliziten Strängen eingebettet. Die dabei erwähnten Details, die (mit einem sogenannten Realitätseffekt, »effet de réel«) keine narrative Funktion zu erfüllen scheinen, verweisen eigentlich – als eine Art stille Schnittpunkte – auf einen Hintergrund von anders fokussierten möglichen Geschichten. Da ein Großteil unserer Lebensgeschichte eben auf das Sichbegegnen und Sichkreuzen mit anderen Menschen (»Mitverstrickten« im Sinne Schapps) zurückzuführen ist, erfordert die adäquate Charakterisierung eines Individuums zudem, dass man sich in eine supraindividuelle Dimension begibt. 50 Der in dieser banalen Weise begründete Überblick erschließt somit narrative Konstellationen, die für den Einzelnen selbst ungeläufig sein und über den eigenen Lebenszyklus hinausgehen mögen. Jemand könnte folglich Abschnitte meiner zentralen Lebensgeschichte anhand mir völlig entgangener sozialer und historischer Faktoren nachzeichnen. Dies würDie resultierende Verflechtung ist vielfältiger Art. Aber es besteht gewiss ein Unterschied zwischen der Voraussetzung von anderen möglichen Fokussierungen innerhalb einer biographischen Episode (so ist in der auf das Opfer fokussierten Darstellung eines Mordes die potenzielle Entfaltung des Schicksals des Täters oder dessen mögliches Selbstbild einbezogen) und der Einbettung jeder der entsprechenden Geschichten in eine kohärente kollektive Geschichte (etwa in die der Opfer heutiger Jugendgewalt oder in die der hoffnungslosen Jugend im Slum) sowie in eine sie alle umfassende allgemeine Geschichte. Wilhelm Schapp hat in diesem Sinne von einer Verstrickung des Einzelnen in eine Wir-Geschichte und eine Allgeschichte gesprochen. Vgl. Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 201 ff.

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de die konstitutive Funktion des Selbstbewusstseins in der Bildung meiner Identität nicht aufheben; deren strukturelle Zusammenhänge erhielten aber dadurch eine Bedeutsamkeit, die ich davor wahrscheinlich nicht erkannt hätte. Dies alles versetzt uns in eine Außenperspektive auf die Identitätsgebilde, die den Übergang von der hyponarrativen zu einer gänzlich narrativen Ebene leitet. Aus diesem entfernten Blickwinkel kann das Signifikanteste in der Geschichte von A im Nachhinein etwas sein, was für A nicht signifikant hätte sein können. Dies wäre keine Verzerrung, zu der uns die bloße Distanz verleiten würde – die Außenperspektive setzt zwar die koordinative Rolle der Ich-Perspektive voraus, sie ist aber keinesfalls minderwertig. Die Wahrhaftigkeit einer Autobiographie ist mithin nicht größer per se als die einer reinen Biographie – es ist nur so, dass die falschen Erinnerungen, die Art der Verkennungen und Lügen der ersteren eine besondere Bedeutung selbst in der zu erzählenden wahrhaftigen individuellen Geschichte erhalten. 51 Zwischen der Innen- und der Außenperspektive entwickelt sich zudem eine Wechselbeziehung, die der zwischen Autor und Leser in einem gewissen Grade ähnelt. Wenn wir ein Buch lesen, wissen wir, dass das Gelesene in Korrelation zu bestimmten intentionalen Zuständen des Autors steht, welche der hyponarrativen Basis seiner personalen Identität zugehören und die Anfertigung des Werkes motiviert haben. Das Buch ist schließlich Produkt einer Handlung. Um das Gelesene gut zu verstehen, richten wir aber unser Augenmerk nicht nur auf diese Basis und deren begründende Funktion. Wir möchten etwa auch die Wirkungsgeschichte des Gelesenen kennen – man möchte bei der Interpretation eines einflussreichen argumentativen Werks ja wissen, inwiefern dieses in einem breiten diskursiven Kontext irreführend oder erleuchtend gewesen ist, und was für Diskussionen von ihm ausgelöst worden sind. Nicht nur deswegen messen wir der bewussten Intention des Autors keinen absoluten Stellenwert bei – wir halten es für wichtig, jene allgemeinen Hintergründe und Präsuppositionen zu beachten, die dem Autor selbst vielleicht ganz unbemerkt blieben. Die personale Identität stützt sich auf die zwischen sukzessiven Bewusstseinszuständen bestehenden hyponarrativen Relationen. Aus der Außenperspektive kann jedoch diese strukturierte Sukzession allein keine Identität definieren. Als bioVgl. Misch, Georg: Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum. Erste Hälfte, Bern 1949, S. 13–14.

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graphische Interpreten erweitern wir eigentlich den unmittelbaren Horizont der jeweiligen Person und betrachten ihr Dasein als historisches Resultat mit einer symbolischen Tragweite. Bei der Lektüre von Autobiographien, in denen das Subjekt der Aussage mit dem Subjekt des Ausgesagten zusammenfällt, bedarf man gleicherweise einer Erweiterung des Blicks auf epochale Zusammenhänge. 52 Das Buch besitzt als Selbstbesinnung keine geschlossene, endgültige Bedeutung – dessen Sinn fluktuiert und expandiert mit wechselnden diskursiven Konstellationen. Jede Autobiographie zeigt Merkmale einer Zeit auf und wird von den nachfolgenden Lesern im Lichte späterer Vorkommnisse und gemäß neuer Relevanzkriterien gedeutet. In den glücklichsten Fällen ist eine Autobiographie an sich eine kreative Leistung, deren bedeutsame Originalität jedoch nur aus der Distanz messbar wird. Der adäquate hermeneutische Vorgang ist jedenfalls beim Lesen etwa von Autobiographien der Romantik und der Renaissance unterschiedlich. Es ist nicht nur so, dass die Vielfalt an literarischen Typen der Selbstwahrnehmung und die Variabilität der entsprechenden interpretativen Anforderungen schon bei viel kleineren Zeitperioden augenscheinlich sind – die Signifikanz dieser Typen wandelt und erweitert sich in dem Maße, wie weitere Selbstdarstellungsformen im Laufe der Zeit sich herausbilden. Und diese ÜberSo wird man in einer umsichtigen Interpretation etwa der Selbstdarstellung von Jaime I. von Aragon in seinem Libre dels fets (der ersten Autobiographie eines europäischen Königs) die wiederholte Berufung des katalanischen Herrschers auf die Vorsehung als eine subtile Hochstilisierung seiner eigenen Figur betrachten müssen (vgl. Jaime I: Libro de los hechos, ed. de Julia Butiñá Jiménez, Madrid 2003). In der katholischen Dogmatik werden zwei Arten von Vorsehung unterschieden: die »ordentliche Vorsehung« des Normalen (das heißt: der Welt und ihrer kausalen Zusammenhänge) und die »außerordentliche Vorsehung« (die mit den übernatürlichen Ereignissen der Heilsgeschichte verbunden ist). Es ist nun darauf hingewiesen worden, dass die außerhalb der theologischen Kreise meistverbreitete Variante des Begriffs »providentia« im Mittelalter der zweiten Definition entspricht (vgl. Zilsel, Edgard: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 94–95). In der Weltanschauung jener Zeit prädominiere die Vorstellung der göttlichen Vorsehung im Sinne eines exzeptionellen Geschehens durch die Gnade Gottes. Folglich habe man die göttliche Präsenz kaum im normalen Lauf der Natur erblickt, sondern vielmehr in einer »übernatürlichen« Einflussnahme auf außergewöhnliche Phänomene oder auf das menschliche Glück: so beim plötzlichen Auftauchen eines Kometen, bei einer unverhofften Genesung oder bei der Vollbringung von erstaunlichen heldenhaften Taten. Die autobiographische Darlegung Jaime I. nutzt bewusst oder unbewusst diese Vorstellung, um dessen Platz als Auserwählter in einem göttlichen Plan herauszustellen.

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schreitung des subjektiven Rahmens bei dessen eigener Determination gilt im Grunde für jede Form selbstdarstellender Reflexivität, die man begreifen möchte. Die hyponarrative Einheit ist eine unabdingbare interne Bedingung der Subjektivität – für das substantielle Verständnis einer Individuation muss man aber deren externen, narrativen Bedingungen Rechnung tragen. iii) Die evaluative Dimension jeder Selbstrepräsentation bezieht die projektiven Momente der Hyponarrativität mit ein. Eine reflexive wertende Rekapitulation wurzelt aber zugleich in der imaginativen Fähigkeit, sich in die Situation von anderen hineinversetzen zu können. In der Beurteilung von Glück und Unheil, Meritum und Verfehlung, wird das Eigene immer an dem Fremden gemessen: Was einem selbst gelingt oder widerfährt wird durch das, was andere erreichen oder einstecken müssen, mit definiert. Es ist nicht nur so, dass die anderen in unserer Geschichte mitspielen – der einschätzende Rückblick auf das eigene Geschick setzt fremde Schicksale voraus. Der mit der subjektiven Selbstreflexivität einhergehende Begriff vom »Eigenen« präsupponiert überhaupt den Begriff vom »Fremden« – wie freilich auch das persönliche Eigensein im Fremdsein vorausgesetzt wird. Mit der Abstraktion eines »transzendentalen Subjekts« wird eine rationale Uniformität regulativ angenommen, in der letztendlich die individualisierende Funktion des performativen Ichs ausgeklammert bleibt – obschon diese Funktion Kant keineswegs entging. Die dramatische Schattierung – das Handlungsschema – der eigenen personalen Geschichte geht aber auf die wahrnehmbaren Divergenzen und Analogien zu fremden Geschichten in einer geteilten Welt zurück. 53

53 Zu diesem Punkt siehe Ortega y Gasset, José: El hombre y la gente (EV 1957), Madrid 1988, S. 170 ff. In diesem Sinne ist auch Ortega y Gassets Apophthegma »das konkrete Ego wird als Alter Du geboren« (»el ego concreto nace como alter tú«) zu verstehen (ebd., S. 174). Die Positionen von Ortega y Gasset und George Mead treffen hier teilweise zusammen (vgl. Mead, George: Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Works of George Herbert Mead. Vol. I, hg. v. Charles W. Morris, Chicago 1967, passim). Es ist jedoch anzumerken, dass Meads sonst aufschlussreiche soziale Psychologie die hyponarrative Ebene völlig übersehen hat. Die logischen Zusammenhänge zwischen subjektiven und gesellschaftlichen Funktionen werden somit durch eine einseitige Analyse der role taking Prozesse verschleiert – eine Analyse, die durch deren alleinige Fokussierung auf die Übernahme der Perspektiven der anderen Person auf sich selbst schließlich mit der Praxis der Interpretation und der moralischen Beurteilung nicht zusammenpassen kann, insofern als man bei

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Die öffentlichen Repräsentationen der personalen Identität rekurrieren auf die implizite Logik der Hyponarrativität. Aber während dieser logische Unterbau – mit der ihm innewohnenden Interaktion von kognitiven und volitiven Einstellungen – sich durch eine gewisse Zeitlosigkeit auszeichnet, werden jene Repräsentationen durch die periodischen Entwicklungen moduliert, die das literarische Schaffen begleiten. Die wertenden Konnotationen einer fiktionalen Exemplifizierung und die von ihr ermöglichten imaginären Erfahrungen verändern sich mit dem Zusammenspiel von verschiedenartigen Formen von Prolepse und Analepse, Raffung, Dehnung, Pause oder Ellipse. Zeit und Ort des Erzählens, die zwischen Erzähltem und Erzähler bestehende Beziehung, die sich ändernden narrativen Perspektiven, die Art der Zusammenfügung von dynamischen und statischen Erzählmotiven, die verschiedenen epistemischen Vorrechte der narrativen Instanz, die Abwandlung der dramatischen Stereotypen, die mannigfaltige Überschreitung von semantischen Feldern im Plot, die Lösungen von Komplikationen und Wendepunkten: Die Variation jedes dieser narrativen Parameter und deren vielschichtige Zusammenstellung hat historisch dem Leser neue Wege der Selbstwahrnehmung erschlossen. Im Übrigen konnte die wachsende Individualität der Figuren im modernen Roman einen Prozess initiieren, in dessen Verlauf die sozialen Subjekte außergewöhnliche, abweichende Lebensvorstellungen für sich nach und nach antizipiert haben. Mit Beginn der Moderne hat die verfügbare Palette von literarischen Erzählkonventionen die Autoren nicht mehr zu einer eindeutigen Wahl gezwungen – durch die neu erdichteten Figuren wurde (wie Cervantes’ Don Quijote paradigmatisch zeigt) die Exemplifizierung einer Individualität geschaffen, die aus der Kombination und Überwindung der prototypischen Eigenschaften der zentralen Gestalten jener vorausgehenden Romankonventionen sowie aus der reflexiven Anwendung metanarrativer Mittel entsprang. Dazu kam die bedeutsame Möglichkeit, dass die neuen Figuren ihre Rolle falsch aussuchen – man erinnere sich wieder an den Ritter von der traurigen Gestalt – oder dass sie erkennen müssen, dass keine der ihnen zur Disposition stehenden sozialen Rollen befriedigt.

dieser Praxis heuristisch gerade seine eigenen Parameter in der Rationalität des Gegenübers anzunehmen hat.

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Die fiktionale Erfahrung erhielt historisch mit ihrer zunehmenden Komplexität eine große Wichtigkeit für die Selbstwahrnehmung: Über die reale Welt hinaus erweiterten die romanhaften Welten den imaginativen Raum, in dem der Lebensweg des beteiligten Lesers durch seine Gegenüberstellung zu fremden Wegen präzisere Konturen erreicht. Die moralischen Aspekte der personalen Identität, die mit der Frage der Verantwortung und der Schuld zusammenhängen, erlangen für den Leser von Romanen somit eine neue Außenperspektive, die neue Selbstwahrnehmungen erzeugen kann. In Anbetracht des Gesagten könnten nun gewisse Ansichten der Wirkungsästhetik hinsichtlich der Wesenheit der Literatur neue Bedeutsamkeit erlangen – sieht man von manchen theoretischen Annahmen ab, die sie möglicherweise schwächen. Sofern die »formulierte Realität«, die der literarische Text »umformuliert«, einen normativen Rahmen und ein konventionelles Repertoire von Beispielen für die moralische Selbstrepräsentation darstellt, sieht man ein, dass daraus (obschon nicht immer – wider Wolfgang Isers Ansicht) eine »Umformulierung […], durch die etwas in die Welt kommt, das vorher nicht in ihr war« resultieren kann. Ausgezeichnete literarische Werke vermögen solcherweise die Bedingungen der Moralkonflikte zu problematisieren, »indem sie etwas hervortreiben, das von den geltenden Normen zwar bedingt ist, zugleich aber von ihnen nicht mehr gefasst werden kann.« 54 Dass ein bedeutsames fiktionales Werk nicht allein Dokument des Zeitgeistes oder Ausdruck einer Ideologie ist und dass es ferner nicht auf eine landläufige Botschaft oder eine dunkle Verkündigung des Autors reduzierbar ist, kann man damit begründen, dass ein solches Werk nicht den einen moralischen Sinn in sich birgt und keine eindeutige Direktive für das moralische Selbstgefühl befürwortet, sondern es die Notwendigkeit einer Umdefinierung und Anpassung der normativen Rahmenbedingungen der eigenen Verantwortung oder überhaupt des moralischen Paradigmas zur Debatte stellt. Aber mit den moralischen Voraussetzungen der personalen Identität und deren Repräsentationen können wir uns an dieser Stelle nicht weiter auseinandersetzen.

Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung, München 1994, S. 8. Siehe auch ebd., S. 16–17.

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Die narrative Entstehung der personalen Identität

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Die narrative Entstehung der personalen Identität

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Kulturelle Identität durch Erzählung. Kunio Yanagita im Kampf gegen westliche Wissenschaft 1 Angelika Bönker-Vallon

1.

Japan zwischen Fremd- und Eigenbestimmung

Unter den asiatischen Ländern scheinen die Voraussetzungen zur Sicherung der eigenen Identität für Japan besonders günstig. Die territorial klare Begrenzung als Inselstaat, eine fast durchwegs homogene Bevölkerung und die Existenz einer Nationalsprache sind Faktoren, die zu einer erfolgreichen Selbstbehauptung beitragen. 2 Trotz dieser Gegebenheiten ist die japanische Ideengeschichte jedoch wesentlich von der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem kulturell »Fremden« geprägt. Tatsächlich werden für die Entwicklung Japans zwei wesentliche Epochen des Kontaktes mit dem kulturell Fremden verzeichnet, die jeweils tiefgreifende Veränderungen für das eigene Selbstverständnis nach sich ziehen. Die erste Epoche meint den Zeitraum vom siebten bis zum neunten Jahrhundert, in dem der Einfluss Chinas als expandierender Kulturmacht auf vielen Ebenen des politischen, gesellschaftlichen und religiösen Lebens verinnerlicht wird. Der zweite Zeitabschnitt bezieht sich auf die Phase der Modernisierung nach westlichem Vorbild, die mit der Meiji-Restauration (1868–1912) einsetzt. 3 In beiden Fällen wird die fremde Kultur als dominant empfunden, so dass die eigene Kultur zur Übernahme des Fremden gezwunDer vorliegende Beitrag enthält leicht überarbeitete Teile meiner Abschlussarbeit Wissenschaft als Mittel der Selbststilisierung. Ethnozentrische Tendenzen im Denken Watsuji Tetsurōs und Yanagita Kunios am Japan-Zentrum der Ludwigs-MaximiliansUniversität München (2011). [https://epub.ub.uni-muenchen.de/17585/; abger. i. Okt. 2017] 2 Vgl. Rothermund, Dietmar: Konstruktionen nationaler Solidarität in Asien. Universalismus und Traditionalismus, in: Brocker, Manfred/Nau, Heino Heinrich (Hgg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997, S. 170–190, hier: 184 f. 3 Vgl. Hall, John Whitney: Das japanische Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1968, S. 41; Inoue, Mitsusada: The Century of Reform, in: Brown, Delmer M. (Ed.): The Cam1

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Angelika Bönker-Vallon: Kulturelle Identität durch Erzählung

gen wird. Die expandierende, »fortschrittlichere« Kultur setzt den Maßstab ihrer gesellschaftlichen, politischen, religiösen, technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften absolut und zwingt die »weniger erfolgreiche« Kultur zur Anpassung entsprechend der eigenen Wertvorstellungen. In diesem Sinn ist Japan schon seit dem Altertum mit Formen der Anpassung konfrontiert, die – je nach Interpretation – als kulturelle Bereicherung oder überfremdende Vereinnahmung empfunden werden können. 4

1.1 Nativismus und japanisches Selbstbewusstsein Vor dem Hintergrund des Gesagten wundert es nicht, dass japanische Gelehrte immer wieder den Versuch unternehmen, gegen den chinesischen Kulturimport ein spezifisch japanisches Selbstbewusstsein zu bestimmen. Versucht man die wichtigsten Stationen in diesem Prozess kultureller Selbstbehauptung zu nennen, kann vor allem auf die Entstehung der so genannten »Nationalen Schule der Philosophie« (kokugaku) während der Tokugawa-Zeit (1603–1868) verwiesen werden. Hatte sich schon vorher in der »Schule der alten Bedeutungen« (kogigaku) und der »Alten Schule« (kogaku) eine Konzentration auf sprachliche Studien abgezeichnet, um vor allem die Aussageabsicht der konfuzianischen Schriften ohne den Ballast einer Auseinandersetzung mit dem späteren chinesischen Lehrgebäude des Neo-Konfuzianismus erfassen zu können, 5 so steigert sich das Interesse an den Texten des Altertums mit den Vertretern der »Nationalen philosophischen Schule«. Im Vordergrund des Interesses steht eine Hinwendung zum Nativismus, 6 der in der Folgezeit eine »Art intellekbridge History of Japan. Vol. 1: The Ancient Japan, Cambridge 1993, S. 163–267, hier: S. 163. 4 Freilich gilt es an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass die Übernahme fremden Kulturguts nicht in jedem Fall nur erzwungen ist. Gerade für die Epoche des Altertums ist eine große Begeisterung für die chinesische Lebensart, Literatur und Kunst zu verzeichnen, die sich überdies mit einer ausgeprägten Reformfreudigkeit nach chinesischen Vorbildern verknüpft. Vgl. Inoue: The Century of Reform, S. 163 ff. 5 Vgl. Pörtner, Peter/Heise, Jens: Die Philosophie Japans, Stuttgart 1995, S. 276 ff. und S. 290 ff. 6 Der Begriff »Nativismus« wird in diesem Zusammenhang in einem kulturanthropologischen Sinn verstanden. Gemeint ist die Hinwendung zur eigenen kulturellen Tradition, der zufolge die »eigene, meist stark religiös geprägte nationale Überliefe-

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tueller Hegemonie-Stellung« 7 einnimmt. Damit vollzieht sich eine entscheidende Wende, die durch das wissenschaftliche Selbstverständnis der »Nationalen Schule der Philosophie« (kokugaku) wesentlich befördert wird. In Abwendung von dem nunmehr als fremd empfundenen »importierten« Gedankengut Chinas soll eine neue Wissenschaft entwickelt werden, die den Fokus ihrer Aufmerksamkeit auf spezifisch »japanische Themen« richtet, um auf diese Weise zum wahren Ursprung zurückzufinden. Fragt man, mit welchen wissenschaftlichen Mitteln die Rückwendung zum Ursprung verfolgt wird, so liegt der Schwerpunkt auf dem konsequenten Ausbau der Geschichts- und Sprachstudien. In diesem Sinn konzentriert sich etwa der Gründer der kokugaku, Mabuchi Kamo (1697–1769), auf die Bedeutung der Dichtung, um mit der Rekonstruktion der wahren und unverfälschten Gefühle die »Unschuld des japanischen Menschen« wiederzugewinnen, die durch das chinesische Erbe verfälscht wurde. 8 Motoori Norinaga (1730–1801) wiederum versucht als Hauptvertreter der »Nationalen Schule der Philosophie« durch die Lektüre der klassischen japanischen Literatur das »wahre Herz« (magokoro) des Altertums wieder zu entdecken und den Konfuzianismus als eine Ideologie zu entlarven, die letztlich allein der Eroberung anderer Länder dient. 9 Der shintōistische Weg der Götter, die Deutung der Dichtung als unverfälschter Ausdruck des Herzens und die Akzeptanz des Wunderbaren 10 bilden zentrale Diskussionspunkte, um zum »autochthonen Glauben« 11 der Japaner zurückzukehren und die rationalen Theorien der Konfuzianer als emotionsfeindlich, d. h. als »chinesisch entstellt« zurückzuweisen. 12 rung […] im Kontrast zur ›modernen‹ übernationalen Zivilisation gesehen« wird. Antoni, Klaus: Shintô & die Konzeption des japanischen Nationalwesens (kokutai). Der religiöse Traditionalismus in Neuzeit und Moderne Japans. Handbuch der Orientalistik, Abteilung 5, Japan, Bd. 8, Leiden / Boston / Köln 1998, S. 245. Zur ethnologischen Definition von »Nativismus« vgl. ebd., Anm. 74. 7 Pörtner/Heise: Die Philosophie Japans, S. 303. 8 Vgl. ebd., S. 304. 9 Vgl. Maruyama, Masao: Denken in Japan, Frankfurt a. M. 1988, S. 35. 10 Vgl. Pörtner/Heise: Die Philosophie Japans, S. 316 ff. 11 Maruyama: Denken in Japan, S. 36. 12 Vgl. Eubanks, Charlotte: On the Wings of a Bird: Folklore, Nativism, and Nostalgia in Meiji Letters, in: Asian Folklore Studies 65 (2006), S. 1–20, hier: S. 3 f. Vgl. hierzu auch das folgende Gedicht Norinagas: »Seit ihre Herzen / auf chinesische Weise / gegen den Strich sich / kehrten, ach, wie verdorben / sind doch seither die Menschen!« (Zitiert nach Pörtner/Heise: Die Philosophie Japans, S. 321.)

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1.2 Wendung zum ländlichen Japan und zur mündlichen Tradition Wenn sich Mabuchi und Norinaga mit ihrer Lehre an ein ausgewähltes Stadtpublikum wenden und der ästhetische Stellenwert der chinesischen bzw. der japanischen Dichtung – jedenfalls in gewisser Weise – noch einen Gegenstand der Reflexion bildet, 13 so ändert sich dies in einem nächsten Schritt mit Hirata Atsutane (1776–1843). Hirata verlässt Norinagas Ansatz, indem er nicht nur einen Perspektivwechsel von der Dichtung zur Religiosität vornimmt, sondern auch eine Wendung vom städtischen Ambiente zum ländlichen Japan vollzieht. So wird der »japanische Geist« (yamatogokoro) nach Hirata nicht mehr durch das Studium der Sprache und Literatur erfasst, sondern durch den so genannten »Alten Weg« (kodōron). 14 Die Suche muss sich somit auf die Alltagssprache und das tägliche Leben der einfachen Landeseinwohner richten, insofern sich die Werte des »Alten Weges« in den gelebten Formen der dörflichen Lebensgemeinschaften und deren religiösen Strukturen verwirklicht finden sollen. 15 Damit gipfeln Hiratas Ausführungen in der These, dass sich der »japanische Geist vor allem in einem »Japan der unmittelbaren alltagssprachlichen Äußerung« bzw. in einem »schriftlosen Japan« äußert. In der Folge werden die Unterschiede zwischen dem Japan der Vergangenheit und dem Japan der Gegenwart aufgehoben, so dass das Japan der Gegenwart zugleich als das »Land der Ahnen« gelten kann. 16

Vgl. ebd., S. 323. Vgl. Harootunian, Harry D.: Late Tokugawa Culture and Thought, in: Jansen, Marius B. (Ed.): The Cambridge History of Japan. Vol. 5: The Nineteenth Century, Cambridge 1989, S. 168–258, hier: S. 199. 15 Vgl. ebd., S. 200 ff. 16 Als Garanten dieser Konstellation fungieren die japanischen Kaiser, deren ununterbrochene Sukzession den Anspruch Japans als das »Land der Länder« verbürgt. Vgl. dazu das englische Zitat von Hirata Atsutane bei Harootunian: »Great Japan […] is the original country of all countries; it is the ancestral country. From this standpoint the august lineage of our emperor has been transmitted successively and rests with the great sovereign of all nations. The regulations of all countries are commended and controlled by this sovereign.« (Vgl. ebd., S. 201.) 13 14

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1.3 Japans kulturelle Auseinandersetzung mit dem Westen Ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts befindet sich Japan in einer dramatischen kulturgeschichtlichen Ausnahmesituation, die neue Formen der Anpassung an fremde kulturelle Vorgaben verlangt. Die innere Befriedung des Landes, die seit dem sechzehnten Jahrhundert das Ziel der bereits erwähnten Tokugawa-Regierung darstellt, wird um den Preis einer immensen außenpolitischen Isolierung erreicht. Ein strenges sowie finanziell aufwendiges Kontrollsystem unterbindet jedwede Eigenständigkeit der Adelsfamilien und ein rigider, konfuzianischer Wertekanon regelt sowohl die gesellschaftlichen als auch die familiären Beziehungen. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, genauer gesagt im Jahr 1853, wird die seit zweieinhalb Jahrhunderten bestehende Ordnung jedoch jäh in Frage gestellt. Die Schiffe des amerikanischen Commodore Matthew C. Perry (1794– 1858) nähern sich dem Hafen von Uraga in der Nähe von Edo (wie Tokyo damals noch heißt), um die Öffnung des Landes für neue Handelbeziehungen mit dem Ausland zu erzwingen. Es erstaunt nicht, dass sich mit diesem Zusammenstoß der Kulturen ein radikales Umdenken in der japanischen Führungsschicht anbahnt. Die Einsicht in die eigene wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Rückständigkeit löst einen Schock aus, der eine beispiellose Aufholjagd auf allen nur erdenklichen Ebenen in Gang setzt. Politisch geht die Ära der Tokugawa zu Ende, 1868 bricht die so genannte Meiji-Zeit an, die bis 1912 dauern wird. Das erklärte Ziel dieser Epoche besteht in der Auflösung der alten Feudalstrukturen zu Gunsten einer modernen imperialen Großmacht. Slogans wie »Verehrt den Kaiser – vertreibt die Barbaren« (sonnō jōi) oder – mehr in die Kulturgeschichte gewendet – »Zivilisation und Aufklärung« (bunmei kaika) bestimmen das politische und geistige Klima. Missionen in den Westen, um nur ein Beispiel der Aktivitäten herauszugreifen, 17 versuchen gezielt, die intellektuellen Standards Europas und Amerikas zu erforschen und für das eigene Land nutzbar zu machen. Die Auswirkungen des forciert durchgeführten Kulturimports zeigen sich bereits nach ein paar Jahrzehnten. Als im Jahr 1912 die so genannte Taishō-Ära anbricht, ist Japan ein fortschrittliches Land, in dem die »Aufklärung« nicht nur technisch etwa in Form hell erleuchVgl. beispielsweise die so genannte Iwakura-Mission unter Tomomi Iwakura (1825–1883). Zur Sache vgl. Hall: Das japanische Kaiserreich, S. 280.

17

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teter Städte, sondern auch intellektuell durch eine beträchtliche Anzahl im Westen ausgebildeter Gelehrter und Künstler Einzug gehalten hat. Freilich aber, so gilt es an dieser Stelle hinzuzufügen, mischen sich in die anfängliche Euphorie über die getätigten Errungenschaften allmählich auch kritische oder gar wehmütige Töne. So diskutiert die neue Generation der Intellektuellen die westlichen Theorien und Modelle nicht mehr gänzlich ohne Vorbehalt. Neben der weiter fortschreitenden Verwestlichung drängt sich auch die Frage auf, ob die Modernisierung Japans nicht womöglich um den Preis des Verlustes der eigenen kulturellen Identität erfolgt. Mit dieser Sorge wird die Auseinandersetzung der Kulturen um einen wesentlichen Akzent bereichert. In dem unaufhaltsamen Streben nach Fortschritt geht es jetzt erneut und in einem weit intensiveren Maß als zuvor um eine Rückbesinnung auf den eigenen kulturellen Standort. Ist es möglich, sich des eigenen kulturellen Erbes so zu vergewissern, dass es zur Grundlage einer spezifisch japanischen Identität wird?

2.

Kunio Yanagita als Begründer der japanischen Volkskunde

2.1 Inspiration durch westliche Erzählwerke Im Licht dieses geistesgeschichtlichen und historischen Klimas entwickelt der japanische Gelehrte Kunio Yanagita (1875–1962) seine Vorstellung von einer japanischen Volkskunde. Dabei wundert es nicht, dass sich in der Strategie, mit deren Hilfe die bis dahin unbekannte Disziplin begründet werden soll, vielfältige Einflüsse der Vergangenheit und Zeitgeschichte verdichten. So soll zum einen gegen die westliche Kulturauffassung ein Begriff von Kultur kreiert werden, der eine hinreichende Basis für eine nationale Identität bietet. 18 Zum andern aber soll sich die Volkskunde auf ein Konzept der »Zusammensetzung« (fukugōtai) 19 beziehen, in dem ein Zustand der Harmo-

Vgl. Morris-Suzuki, Tessa: The Invention and Reinvention of »Japanese Culture«, in: The Journal of Asian Studies 54 (1995), S. 759–780, hier: S. 766. 19 »Ich glaube, dass das, was man Kultur nennt, ein Komplex bzw. eine Zusammensetzung ist.« (Yanagita, Kunio: Tanoshii seikatsu, in: Teihon Yanagita Kunio Shū (= Yanagita Kunio Gesammelte Werke: TYKS), Tokio 1962–1971, hier: TYKS 30, Tokio 1964, S. 199. Dt. Übs. von der Verfasserin.) 18

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nie von neuen und alten Elementen sichtbar wird. 20 Es entsteht somit ein volkskundliches Programm, das nicht nur der Beschreibung dessen, »was ist«, sondern auch einer Wunschvorstellung dessen, »was kulturell sein soll«, verpflichtet ist. 21 Versucht man die ideengeschichtlichen Implikationen dieser Entwicklung nachzuvollziehen, dann überrascht das breit angelegte kulturelle Interesse, das Yanagita bereits in jungen Jahren demonstriert. Als Angehöriger eines shintoistisch geprägten Haushaltes 22 und beruflich mit Problemen der Agrarpolitik befasst, 23 ist Yanagita wesentlich durch nativistische Motive bestimmt. 24 Die Überzeugung, dass in Japan ein einzigartiger, indigener Glaube zu finden sei, der sich in einer dörflich organisierten Verehrung von Göttern und Zur Sache vgl. Morris-Suzuki: The Invention and Reinvention of »Japanese Culture«, S. 766; vgl. Kawada, Minoru: The Origin of Ethnography in Japan. Yanagita Kunio and his Times, London / New York 1993, S. 66 f. Zum Bezug auf die Verträglichkeit von alten und neuen Elementen im japanischen Alltagsleben vgl. beispielsweise Yanagita, Kunio: Senzo no hanashi (Über unsere Ahnen), in: Yanagita Kunio zenshū (= Yanagita Kunio Gesamtausgabe: YKZ), Tokio 1997 ff., hier: YKZ 15, Tokio 2004, S. 9. 21 So Morris-Suzuki: The Invention and Reinvention of »Japanese Culture«, S. 766. Vgl. auch die Schlussfolgerung zu Yanagitas Kulturbegriff: »›Culture‹, in short, must be something national, because defining it in any other way would erode social harmony; so the definition slips quietly from being a description of actual social beliefs and practices in all their dynamic complexity, to being a description of the beliefs and practices which must be created«. (Ebd.) Freilich gilt es anzumerken, dass das Phänomen der »erfundenen Tradition« keinesfalls auf Japan beschränkt ist, sondern sich insbesondere im Zusammenhang mit dem Gedanken des Nationalstaates in vielfältigen Kulturkreisen findet. Vgl. Hobsbawm, Eric: Introduction: Inventing Traditions, in: Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Eds.): The Invention of Tradition, Cambridge / New York / Melbourne et al. 1983, S. 1–14, insb. S. 6. 22 Vgl. Lutum, Peter: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio. Ihre kontroversen Ideen in der frühen Entstehungsphase der japanischen Volkskunde, Münster 2003, S. 6. 23 Vgl. Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 3 ff. 24 »Yanagita’s thought thus developed within an extensive background of ›nativist‹ sentiment. Confucianism had supplied the context for Motoori’s thought. Yanagita, however, had to define his interests within the context of an enthusiasm for things ›Western‹. The expert on Europe or America became his target for derision and criticism.« (Morse, Ronald A.: Yanagita Kunio and the Folklore Movement. The Search for Japan’s National Character and Distinctiveness, New York / London 1990, S. 128). Morses Urteil in Bezug auf Yanagitas Ablehnung westlicher Theorien ist durchaus berechtigt. Dennoch ist die Konstruktion von Yanagitas Volkskunde – wie Morse selbst ausführt – nicht ohne die Rezeption fremder Studien zu verstehen. Vgl. ebd., S. 140 ff. 20

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Ahnen artikuliere, findet sich von Anfang an als wesentlicher Inhalt in Yanagitas Werk. 25 Dennoch aber setzt Yanagita den Gedanken einer »japanischen Tradition« nicht einfach im Sinn der »Nationalen Schule der Philosophie« 26 oder der zeitgenössischen Kulturpolitik fort. 27 Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Konfrontation mit den Denkmodellen des Westens, die einen neuen Motivkreis bilden und sich – sei es als Anregung oder Bedrohung – auf die Verarbeitung von Yanagitas nativistischen Ideen auswirken. Fragt man, in welcher Weise sich der japanische Gelehrte der westlichen Kultur öffnet, dann ist zunächst die Lektüre europäischer Literatur wesentlich. Ein Schlüsselerlebnis für die Ausbildung von Yanagitas künftigen Interessen bildet die Bekanntschaft mit Heinrich Heines (1797–1856) Erzählwerk Die Götter im Exil (1853), das mit seiner Reflexion über das Schicksal der vom Christentum verdrängten heidnischen Götter in Yanagita die Vorstellung eines ursprünglich in Japan existierenden und bis in die Gegenwart wirksamen Götterglaubens wach werden lässt. 28 Eine ähnliche Faszination übt das Werk von Anatol France (1844–1924) aus, in dem Yanagita die Idee einer bis in die Gegenwart überlebenden vorchristlichen Kultur zu erkennen glaubt. 29 Die Märchensammlung der Brüder Jacob (1785–

Zu Yanagitas Interesse am indigenen Glauben vgl. Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 43 ff. 26 Vgl. Morse: Yanagita Kunio and the Folklore Movement, S. 128 ff. 27 Yanagita distanziert sich durchaus von verschiedenen Äußerungen des politischen Systems. Ein Beispiel hierfür ist der »Kaiserliche Erziehungserlass« (1890), den Yanagita auf Grund der in ihm enthaltenen konfuzianischen Implikationen lediglich für einen Teilsaspekt der japanischen Moral hält. Dennoch aber ist seine Kritik nicht wirklich tiefgreifend. Vgl. Mori, Kōichi: Yanagita Kunio: An Interpretive Study, in: Japanese Journal of Religious Studies 7 (1980), S. 83–115, hier: S. 103 ff. Für den Versuch einer differenzierten Bewertung von Yanagitas politischer Einstellung vgl. auch Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 81 ff. 28 Yanagita erwähnt seine Vorliebe für Heinrich Heines Erzählwerk Die Götter im Exil schon im Jahr 1905: »Es gibt ein Buch Heines [mit dem Titel] ›Die Götter im Exil‹ [shoshin ryūzan]. Als ich es las, war ich außerordentlich beeindruckt.« (Yanagita, Kunio: Yūmeidan (Gespräche über die verborgene Welt), in: Higashi, Masao (Hg.): Yanagita Kunio Shū, Tokio 2007 / 2008, S. 118. Dt. Übs. von der Verfasserin.) Zur Sache vgl. auch Gotō, Sōichiro: Yanagita Kunio ron, Tokio 1987, S. 164 und Lutum: Das Denken von Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 77 ff. 29 Vgl. Mori: Yanagita Kunio: An Interpretive Study, S. 83–115. Besonders beeindruckt zeigt sich Yanagita von Anatol Frances Roman Sur la Pierre Blanche (1905). Vgl. dazu Gotō: Yanagita Kunio ron, S. 167 f. 25

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1683) und Wilhelm Grimm (1786–1859) 30 wiederum befördert nicht nur die Zuwendung zu den Formen der mündlichen Überlieferung, 31 sondern regt auch zu eigener Sammeltätigkeit an, die schon im Jahr 1910 zur Veröffentlichung der Überlieferungen aus Tōno (Tōno-monogatari) führt. 32

2.2 Skepsis gegenüber westlichen Wissenschaftsmustern Wir sehen, dass sich Yanagita schon früh von der Literatur und vor allem von der kulturellen Bedeutung von Erzählungen anregen lässt. Doch neben diesen Interessen zeigt sich ein mindestens ebenso ausgeprägtes Interesse an den westlichen Schriften zur Ethnologie und Volkskunde. Autoren wie Edward Burnett Tyler (1832–1917) oder James George Frazer (1854–1941) als führende Vertreter der Ethnologie des neunzehnten Jahrhunderts sowie Folkloristen wie Kaarle Krohn (1863–1933), George Laurence Gomme (1853–1916) oder Charlotte Sophia Burne (1850–1923) lenken die Aufmerksamkeit auf die im Westen praktizierte wissenschaftliche Erforschung der Kulturen und akademische Darstellung der Ergebnisse. 33 Nun zeigt ein genauerer Blick auf die von Yanagita rezipierten wissenschaftlichen Vorstellungen, dass in diesem Zusammenhang eine Fülle von Schwierigkeiten auftreten, die für den japanischen Denker im Zuge des Imports westlicher Kultur virulent werden. Ein eindringliches Beispiel hierfür bildet die Beschreibung der konzeptioVgl. den Verweis auf die Brüder Grimm in Yanagita: Minkan denshō ron, S. 21. Vgl. auch Morse, Ronald A.: Yanagita Kunio and the Modern Japanese Consciousness, in: Koschmann, J. Victor/Ōiwa, Keibō/Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio and Japanese Folklore Studies. Cornell University East Asia Papers 37, Ithaka 1985, S. 11–28, hier: S. 21 und Eubanks: On the Wings of a Bird, S. 5 ff. Selbstverständlich sind Yanagitas Kenntnisse der westlichen Literatur mit dieser Aufzählung nicht abgeschlossen. Alphonse Daudet (1840–1897), Guy de Maupassant (1850–1893) oder Henrik Ibsen (1828–1906) sind weitere Namen in der Beschäftigung mit der westlichen Kultur. Vgl. Mori: Yanagita Kunio: An Interpretive Study, S. 85. 31 So zum Beispiel durch die Erzählungen des Gewährmannes Sasaki Kizen (1886– 1933), der Yanagita das Brauchtum der Stadt Tōno nahebringt und damit die Abfassung des Tōno-monogatari (Geschichten aus Tono) ermöglicht. Vgl. Nagaike, Kenji: Kaisetsu (Vorwort) zu YKZ 4, Tokio 1998, S. 507 ff. 32 Vgl. Eubanks: On the Wings of a Bird, S. 8 ff. 33 Vgl. Yanagita, Kunio: Minkan denshō ron, in: YKZ 8, Tokio 1998, S. 19 ff. und Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 108 ff. 30

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nellen Unsicherheiten der westlichen Wissenschaften im Umgang mit den Begriffen »Ethnologie« und »Anthropologie«. 34 So fallen Yanagita die diversen Bezeichnungen und die national unterschiedlichen Ausrichtungen der Ethnologie und Anthropologie in Europa auf, insofern die französische und britische Gesellschaft für Ethnologie mit »Ethnologie« und »Anthropologie« keinesfalls dieselben Vorstellungen verbinden. 35 Zusätzlich erweitert sich das Bedeutungsspektrum durch Autoren wie James Frazer, der unter dem Namen »Sozialanthropologie« »weniger kanonisierte Formen von Kultur« 36 abgehandelt habe, die an der Kaiserlichen Universität in Tokio nicht gelehrt würden. 37 Ähnliche Schwierigkeiten gelten nach Yanagita für den Begriff »Folklore«, der erst durch die von Franz Boas (1858– 1942) vorgenommene Identifizierung von »Folklore« als »Volkskun-

Vgl. dazu den Essay Ethnology to wa nani ka (Was ist Ethnonologie?) aus dem Jahr 1926, der in die Schrift Seinen to gakumon (Jugend und Studium) integriert ist. Vgl. Yanagita, Kunio: Seinen to gakumon, in: YKZ 4, Tokio 1989, S. 149 ff. Freilich sind Yanagita die dort beschriebenen Probleme schon früher bekannt. So widmet sich Yanagita beispielsweise schon ab dem Jahr 1912 der Lektüre von James Frazers The Golden Bough. Vgl. Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 109 f. 35 »Die Gründung der Societé d’Ethnologie in Paris als erster [Gesellschaft] fand von jetzt an [gerechnet] vor fünfundachtzig Jahren statt. Von jener Zeit bis jetzt wird in Frankreich das, was wir in Japan unter der Bedeutung von ›Anthropologie‹ (jinruigaku) verstehen, durch das Wort ›Ethnologie‹ ausgedrückt. […] England als das Nachbarland folgte [diesem Beispiel] und gründete mit nur vier Jahren Verzögerung ebenfalls eine ethnologische Gesellschaft und gleich von diesem Zeitpunkt an veränderte sich der Inhalt. Zum Beispiel hat E. B. Tylor, ein höchst einflussreicher Gelehrter auf einem Gebiet, das wir ›Volkskunde‹ (minzokugaku) nennen […], ohne dass von ihm im ganzen Leben das Wort »Ethnologie« gebraucht wurde, denselben Studieninhalt, der in Frankreich gänzlich als »Ethnologie« bezeichnet wird, von Anfang bis Ende unter dem Namen »Anthropologie« erklärt und [diese Bezeichnung] in seinem literarischen Werk [verwendet].« Yanagita: Seinen to gakumon, S. 149 f. Dt. Übs. von der Verfasserin. 36 Vgl. Ortabasi, Melek: Japanese Cultural History as Literary Landscape: Scholarship, Authorship and Language in Yanagita Kunio’s Native Ethnolgy, University of Washington 2001, S. 8. 37 So zum Beispiel den »Auf- und Niedergang von Magie« (jujutsu no seisu), die »Entwicklung der Idee der Unsterblichkeit der Seele« (reikonfumetsu shisō no hattatsu) oder »die Komposition der Legenden des Alten Testamentes« (kyūyakuzensho koden no kōsei). Vgl. Yanagita: Seinen to gakumon, S. 150. Mit der Erwähnung dieser Autoren und Thematiken ist Yanagitas begriffsgeschichtliche Reflexion freilich nicht erschöpft. Als weitere Variante ethnologischer Forschung wäre etwa Edward Burnett Tylors »rationale Ethnologie« (gōriteki minzokushigaku) zu nennen. Vgl. ebd., S. 152. 34

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de« und »Ethnologie« als »Völkerkunde« terminologische Klarheit erhalten habe. 38 Wenn sich die von Yanagita bemängelten Schwierigkeiten bis hierher auf Unklarheiten im Verständnis und in der Abgrenzung der Disziplinen der Ethnologie und Volkskunde beziehen, so zeigt sich der eigentliche Punkt der Kritik anhand der ethnozentrischen Tendenzen, die sich in den diskutierten westlichen Wissenschaftsmustern ausmachen lassen. So enthalten die studierten Theorien sowohl von der Naturwissenschaft als auch von der Evolutionstheorie inspirierte Annahmen, welche »die Weißen« (hakujin) an der Spitze der menschlichen Entwicklung sehen. Thesen dieser Art erscheinen Yanagita jedoch keinesfalls akzeptabel und so werden die betreffenden Theorien als willkürlich zurückgewiesen. 39 Weiterhin bemängelt Yanagita, dass sich die westliche Ethnologie seit ihren Ursprüngen in der Antike auf das kulturell Fremde, nicht aber auf die eigene Kultur konzentriert habe 40 und dementsprechend große Nachteile in Kauf nehmen müsse. Zum einen nämlich könnten sich die Forscher auf Grund mangelnder Empathie nicht in die fremde Kultur einfühlen und seien somit auf die Informationen der Angehörigen dieser Kultur angewiesen. 41 Zum zweiten aber führte gerade dieses fehlende EinIn Japan hingegen, so stellt Yanagita fest, sei mit »Folklore« eine Art von »Miszellenliteratur« (zuihitsubungaku) gemeint, in der noch die literarischen Praktiken der Edo-Zeit (1603–1868) nachwirkten. Vgl. Yanagita: Seinen to gakumon, S. 167. 39 Vgl. ebd., S. 170 f. Zur Sache vgl. Ortabasi: Japanese Cultural History as Literary Landscape, S. 35. Unter den von Yanagita studierten Autoren gelten beispielsweis Edward Burnett Tylor und James George Frazer als Vertreter des »ethnologischen Evolutionismus«. Vgl. Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, S. 472 ff. 40 »Aber in den Ländern westlicher Wissenschaft gibt es viele Menschen, die gewisse Dinge nicht denken wollen […]. Ein Grund hierfür besteht darin, dass diese Wissenschaft [der Ethnologie] – offen gesagt – in der griechischen Antike oder in den alten Zeiten der Republik China [als eine Wissenschaft] von den Barbaren entstanden ist«. Yanagita: Seinen to gakumon. S. 160. Dt. Übs. von der Verfasserin. Zur Sache vgl. Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 113 f. 41 »When Whites [European ethnologists] narrated studies of the lives of Blacks [Africans], they were to make some accurate observations […]. They knew that such and such a thing was done, but since it was impossible to reach the inner feelings involved, they were unable to avoid many misunderstandings. Surely someone raised in a different environment could not be expected to understand such things, so with respect to these, at least bit it is necessary to rely on natives (kyōdojun) themselves.« Mit dem Verweis auf Yanagita Kunios Kyōdo seikatsu no kenkyūhō zitiert bei Koschmann, J. Victor: Folklore Studies and the Conservative Anti-Establishment in Modern Japan, S. 150 f. 38

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fühlungsvermögen dazu, dass sich die Ethnologie auf die Erforschung der äußeren Formen der täglichen Lebensabläufe und das Sammeln von Erklärungen dieser Lebensformen beschränken müsse und die Möglichkeit zur Erforschung der inneren Beweggründe der Menschen nicht in den Blick genommen werden könne. 42 Als Konsequenz dieser Einsicht besteht Yanagita auf einer Trennung zwischen den Disziplinen der Ethnologie und der Volkskunde. Lediglich die Volkskunde, die es nunmehr zu entwerfen gilt, vermag nach Yanagita das eigene Brauchtum zu erforschen. 43

3.

Die Begründung der japanischen Volkskunde

3.1 Die Frage nach der wissenschaftlichen Ausrichtung der Volkskunde Angesichts der Tatsache, dass für die Volkskunde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch kaum ein Konzept vorliegt, sieht Yanagita sich genötigt, die wissenschaftlichen Richtlinien der Volkskunde allererst festzulegen. In diesem Sinn bietet die Rekonstruktion der Anfänge der von Yanagita in späteren Jahren »minzokugaku« 44 genannten Volkskunde nicht nur einen faszinierenden Blick in die Geschichte dieser Disziplin. Es konkretisiert sich vielmehr auch der Ver42 Vgl. Figal, Gerald: Civilization and Monsters. Spirits of Modernity in Meiji Japan, Durham / London 1999, S. 113. 43 Vgl. Yanagita, Kunio: Kyōdo seikatsu no kenkyūhō (Studien des Heimatlebens), in: YKZ 8, Tokio 1998, S. 232. Vgl. auch unten, Anm. 45. 44 Zu den Schwierigkeiten der Benennung der japanischen Volkskunde vgl. Kyōdo seikatsu no kenkyūhō, in: YKZ 8, Tokio 1998, S. 232 f. Zur Sache vgl. Ortabasi: Japanese Cultural History as Literary Landscape, S. 10. Die Bedeutung von minzokugaku beinhaltet für Yanagita offensichtlich sowohl die Disziplinen der Volkskunde als auch der Ethnologie. Zu den beiden Schreibweisen und Bedeutungen von minzogaku im Sinne von Volkskunde und Ethnologie vgl. Takayanagi, Shun’ichi: In Search of Yanagita Kunio. Rezension zu: The Legends of Tōno by Kunio Yanagita, translated by Ronald A. Morse, in: Monumenta Nipponica 31 (1976), S. 167. Darüber hinaus wird minzokugaku mit »Wissenschaft als Selbsterkenntnis von Japanern« oder »Selbstreflexion und -erkenntnis vom gemeinen Volk (jōmin)« wiedergegeben. Vgl. Morikawa, Takemitsu: Yanagita Kunio – Die Geburt der japanischen Volkskunde aus dem Geist der europäischen Romantik, Kassel 2008, S. 46. Ebenso findet sich die Übersetzung »Japanese folklore studies« bzw. »native ethnology«. Vgl. Tamanoi, Mariko Asano: Under the Shadow of Nationalism: politics and poetics of Japanese rural women, Honolulu 1998, S. 115.

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such, mit Hilfe der neu einzurichtenden Disziplin die Existenz einer rein »japanischen Kultur« nachzuweisen. Versucht man Yanagitas Vorgehensweise hinsichtlich der Festlegung der Richtlinien der Volkskunde nachzuvollziehen, dann ist vor allem der Streit mit dem zeitgenössischen Volkskundegelehrten und Autor Minakata Kumagusu (1867–1941) um die Ausrichtung einer »Zeitschrift für Heimatforschung« (Kyōdokenkyū) aufschlussreich. 45 Yanagita eröffnet seinem Bekannten Minakata im Jahr 1912 die Absicht, eine volkskundliche Zeitschrift herauszugeben. Da noch keine adäquate Methode für die Volkskunde bzw. der Heimatforschung 46 existiere, bittet er den Ansprechpartner zugleich um Vorschläge, wie dieser Mangel zu beheben sei. Dies ist der Auftakt einer Kontroverse, die vor allem um die Frage der internationalen Vergleichbarkeit der japanischen Heimatforschung kreist. Obgleich Yanagita die »Zeitschrift für Heimatforschung« als ein Organ ankündigte, das der Behandlung aller Formen des japanischen Lebens Raum bieten wolle, 47 lässt sich von seiner Seite aus schon früh eine Konzentration auf bestimmte Formen des Brauchtums, nämlich »Untersuchungen zu den Jahresfesten, Bräuchen und Zeremonien bei der Herstellung von Gütern, Tabuzaubern, Volksglauben und zu den religiösen Festen, zur Besessenheit, zum Spuk sowie zu Verwandtschaftsbeziehungen« 48 erkennen. Für Yanagitas Gesprächspartner Minakata verbindet sich damit jedoch eine Engführung, der er mit der Befürchtung der drohenden Belanglosigkeit und Banalität der Disziplin Ausdruck verleiht. 49 In diesem Sinn bedeutet die von Yanagita angestrebte Beschränkung der Thematik nach Minakata eine unstatthafte Verabsolutierung von Untersuchungsgegenständen der »Volkssittenkunde« 50, die ihrerseits als ein Teilbereich der Soziologie Vgl. Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 32 ff. 46 Die Bedeutung des Begriffs Kyōdokenkyū ist nicht eindeutig und kann sowohl »Heimatgeographie« als auch »Heimatgeschichte« bedeuten. Vgl. Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 34, Anm. 106. 47 Vgl. Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 109. 48 Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 39. 49 Vgl. ebd., S. 46. Sachlich setzt sich Minakata vor allem mit Yanagitas Schriften Ishigami-mondō (Gespräche mit einem Stein-Gott) und Tōno-monogatari auseinander. 50 So Lutums Übersetzung des Begriffs minzokugaku, dessen definitorische Reichweite zur Zeit der Kontroverse noch ungeklärt ist. Erst mit der Gründung der Gesell45

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zu betrachten sei. Im Weiteren aber – so fürchtet Minakata – habe die von Yanagita vorgenommene Reduktion der Themen ebenfalls Auswirkungen auf die Methode der Heimatforschung. Die Spezialisierung auf Teilbereiche des japanischen Lebens lasse keine vergleichenden Studien mit Ergebnissen aus anderen Teilen der Welt und damit auch keine vertiefende Ursachenforschung oder Reflexion auf historische Entstehungsbedingungen zu. 51 Yanagita wiederum verteidigt seine Leitlinien mit dem Hinweis auf die Bindung der Heimatforschung an die Agrarökonomie. Er verweist zudem auf die populärwissenschaftlichen Bedürfnisse der Leserschaft 52 sowie auf seinen Vorsatz, »aus eigenen Kräften eine patriotische Tat mittels derlei Prosa in Angriff« 53 zu nehmen.

3.2 Das Problem der Methode Eine weitere Schwierigkeit bildet die Methode der Volkskunde. Nachdem – wie bereits erwähnt – die meisten Ansätze der zeitgenössischen Ethnologie von Yanagita verworfen wurden, muss gefragt werden, wie die Volkskunde vorgehen soll. Vor dem Hintergrund der Vorliebe für mündliche Traditionen erstaunt es nicht, dass Yanagita von der Analyse theoretisch vermittelter Materialien Abstand nimmt, um eine praxisorientierte, »volksnahe« Vorgehensweise zu entwickeln. Besonderes Interesse erregen in diesem Zusammenhang die wissenschaftlichen Möglichkeiten der Feldforschung des zwanzigsten Jahrhunderts, wobei vor allem der funktionalistische Ansatz Bronislaw Malinowskis (1884–1942) an Bedeutung gewinnt. 54 schaft für Volkskunde (minzokugakkai) im Jahr 1929 wird der Begriff auf das gesamte gesellschaftliche Leben angewendet. Vgl. Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 45, Anm. 127; S. 48, Anm. 131. Zur Feststellung, dass sich Yanagitas Volkskunde außerhalb der professionellen Anthropologie entwickelt, vgl. auch Doak, Kevin Michael: A History of Nationalism in Modern Japan. Placing the People, Leiden / Boston 2007, S. 237. 51 Vgl. Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 45 f. 52 Vgl. ebd., S. 35; 47 f. 53 So in Yanagitas Brief vom 21. Januar 1913. Zitiert nach Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 54 und ebd., Anm. 137. 54 Obgleich eine genaue Rekonstruktion der Rezeption der Schriften Malinowskis durch Yanagita auf Grund spärlicher Zeugnisse schwierig ist, ist dennoch wahrschein-

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Wie Malinowski ist Yanagita der Auffassung, dass die adäquate systematische Durchführung von volkskundlichen Untersuchungen im Sammeln, Klassifizieren und Vergleichen von empirischen Daten bestehe. 55 Um eine größtmögliche Zuverlässigkeit der Untersuchungsergebnisse zu erreichen, müssten die erhobenen Daten selbstverständlich möglichst genau und umfassend sein. Vor allem aber müsse sich der Forscher den zu untersuchenden Gruppen in »teilnehmender Beobachtung«, d. h. in direktem Kontakt und sprachlichem Austausch zuwenden, um auf diese Weise Fehlinterpretationen durch lediglich aus »zweiter Hand« vermittelter Informationen zu vermeiden. 56 Jedoch – dies soll hier hinzugefügt werden – obgleich der von Yanagita gewählte induktiv-empirische Ansatz durchaus plausibel scheint, sind mit ihm einige Schwierigkeiten verbunden. Zum einen steht die methodologische Frage im Raum, wie Informationen zur mündlichen Tradition oder zum Brauchtum, die im Rahmen der Feldforschung von einzelnen Personen oder in lokalen Regionen gewonnen worden sind, über Einzelaussagen hinaus zu gesicherten Aussagen der Volkskunde werden können. Zum anderen aber zeigt die bisherige Rekonstruktion von Yanagitas volkskundlichem Konzept, dass eine Orientierung an fremden Wissenschaftsmodellen vermieden werden soll. Das Problem der Systematisierung kann somit weder im Vergleich mit Daten anderer Kulturen noch durch die Über-

lich, dass Yanagita Malinowskis Werk Argonauts of the Western Pacific (1922) während seines Europaaufenthalts zwischen Mai 1922 und November 1923 kennen gelernt hat. Yanagitas persönliche Bibliothek enthielt eine repräsentative Auswahl der wichtigsten Texte Malinowskis, erste explizite Erwähnungen lassen sich seit dem Jahr 1926 verzeichnen. Vgl. Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 117 ff. 55 »In vielen Fällen besteht die Reflexion (seisatsu) somit im Sammeln (saishū), ferner in der Klassifikation (bunrui) und im Vergleich (hikaku).« Yanagita: Minkan denshō ron, S. 31. Dt. Übs. von der Verfasserin. Zur Interpretation der Stelle vgl. auch Yamashita, Shinji: Ritual and ›Unconscious Tradition‹ : A Note on Yanagita Kunio’s ›About our Ancestors‹, in: Koschmann, J. Victor/Ōiwa, Keibō/Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio and Japanese Folklore Studies, S. 55–64, hier: 63 f. Vgl. ferner Yanagitas Konzentration auf die Themenbereiche der »äußeren Formen des Lebens« (seikatsu gaikei), der »Erklärung des Lebens« (seikatsu kaisetsu) und des »Bewusstseins des Lebens« (seikatsu ishigi), in Yanagita: Minkan denshō ron, S. 14. 56 Kawada: The Origin of Ethnography in Japan, S. 118 f. und Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie, S. 898.

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nahme westlicher Interpretationsmuster wie das der Kausalität 57 oder der Universalität 58 gelöst werden. In diesem Zusammenhang hilft sich Yanagita mit bestimmten Grundannahmen. Besonders wichtig ist die Überzeugung, dass das Brauchtum und die Erzählungen, die sich in der konkreten Praxis des alltäglichen Lebens finden, »überlebende« Strukturmomente einer »japanischen Vergangenheit« beinhalten sollen, die sich über die Zeiten unverändert erhalten hätten. 59 Durch diesen Kunstgriff, die Geschichte auf die eigene Landesgeschichte zu reduzieren und als Entwicklung eines »japanischen Ursprungs« zu interpretieren, ist die Voraussetzung für die wissenschaftliche Deutung des volkskundlichen Materials geschaffen. Die Tätigkeit des Sammelns, die – wie oben schon erwähnt – ein unabdingbares Element der Konzeption der Volkskunde bedeutet, 60 verknüpft sich mit einem zwanglos gegebenen »Ordnungsprinzip«, insofern die gegenwärtig vorgefundenen Bräuche und Traditionen eben nicht singuläre Fakten einer unverbundenen Lebensweise darstellen, sondern immer auf eine normstiftende Vergangenheit zurückweisen. Die Bedeutung der vorgefundenen volkskundlichen Daten erschließt sich in der Form einer »kulturellen Selbstbeschreibung«, in der die Urformen der Vergangenheit nicht nur als gleichsam zeitlose Grundmuster der Interpretation fungieren, sondern auch einen – letztlich idealen – Zusammenhang des empirischen Forschungsfeldes sichern. Vgl. Takayanagi, Shun’ichi: In Search of Yanagita Kunio, in: Monumenta Nipponica 29 (1974), S. 329–335, hier: S. 169. Yanagita zieht die Methode des Sammelns und des Vergleichens kausalen Deutungsmustern vor. »There is no sense of a single unrecurring event in the history we seek to know. The lives of the people in the past is a cumulative phenomenon that is renewed through the strength of the group. To base this on only one piece of accurate evidence and assume it is representative without clarification leaves one apprehensive. We must look for multiples examples. If there are no old records we must search among the facts that have survived into the present. By comparing a number of remains it will be possible to establish a method that traces the path of changes.« Yanagita, Kunio: Kokushi to minzokugaku (Nationalgeschichte und Volkskunde), in: YKZ 14, Tokio 1998, S. 106 f. Übs. bei Morse: Yanagita Kunio and the Folklore Movement, S. 163. 58 Vgl. Ortabasi: Japanese Cultural History as Literary Landscape, S. 34. 59 Vgl. beispielweise folgende Aussage: »Glücklicherweise oder unglücklicherweise hat unser Volksglaube (kokumin shinkō) eine Entwicklung genommen, in der das, was früher im Zentrum schlichter Alltagsangelegenheiten stand, in schwächerer Form [dank geringer Fortbestände] weiter existiert.« Yanagita: Senzo no hanashi, S. 141. Dt. Übs. von der Verfasserin. 60 Vgl. Yanagita: Minkan denshō ron, S. 10. 57

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Oder anders formuliert: Für Yanagita erklärt sich das Gegenwärtige vom Vergangenen her wie auch umgekehrt das Vergangene die Wurzel des Gegenwärtigen bildet. In der Folge hiervon können eventuelle Abweichungen, die in Bräuchen oder narrativen Traditionen beobachtet werden, als ledigliche Variationen einer im Grunde invarianten und vom Fortschritt unberührten »japanischen Ursprungsgeschichte« aufgefasst werden. 61

4.

Die Inhalte der Volkskunde

Welche Inhalte verfolgt Yanagita nun mit seiner Volkskunde? Tatsächlich liegt der sachliche Schwerpunkt von Yanagitas Interesse auf dem ländlichen Leben. Dieses Interesse ist wesentlich durch die demografischen Verschiebungen motiviert, die durch die Modernisierung bewirkt worden sind. So beobachtet Yanagita nicht nur die Migration der Landbevölkerung und die Vermassung der Städte mit Unbehagen, sondern bedauert auch die damit verbundenen Veränderungen der traditionellen Lebensformen. Die Einsamkeit und Vereinzelung in den Städten, die Trennung der Familien und die Entfremdung vom bisherigen dörflichen Leben sind ihm Begleiterscheinungen der modernen Lebensweise, deren zerstörerisches Potential frühzeitig sichtbar wird. 62 Vor diesem Hintergrund einer tief empfunden Heimatlosigkeit, die zugleich auch als »Krise des japanischen Wesens (Japaneseness) oder der japanischen Seele, also als Krise der nationalen und kulturellen Identität« 63 gedeutet wird, widmet sich Yanagita dem thematischen Aufbau der Volkskunde, der sich in mehreren Entwicklungsstufen vollzieht. In diesem Zusammenhang ist nun wesentlich, dass Yanagita von der Existenz eines Berg- oder »Waldmenschen« (yamabito, yamaotoko, yamaonna, yamauba) ausgeht, der als der Vertreter eines ur-

Vgl. Morse: Yanagita Kunio and the Folklore Movement, S. 168 ff. Vgl. Harootunian, Harry: Overcome by Modernity. History, Culture and Community in Interwar Japan, Princeton 2000, S. 9. 63 Morikawa, Takemitsu: Yanagita Kunio – Die Geburt der japanischen Volkskunde aus dem Geist der europäischen Romantik, Selbstbeschreibungsprobleme der japanischen Moderne, in: ders. (Hg.): Japanische Intellektuelle im Spannungsfeld von Okzidentalismus und Orientalismus, Kassel 2008, S. 45–73, hier: S. 54 61 62

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sprünglichen japanischen Volkes identifiziert werden kann. 64 Fragt man, welche Erkenntnisse Yanagita durch das Studium der »Bergmenschen« gewinnen möchte, dann stehen vor allem die psychische Verfassung und die inneren Beweggründe der Bergbewohner im Vordergrund. Die Vorstellungen des Seelenglaubens und ihre Artikulation in den mündlichen Überlieferungen bilden für Yanagita ein zentrales Feld kultureller Äußerungen, in denen sich urtümliche Formen der eigenen Kultur erhalten haben sollen.

4.1 Der Tengu-Glaube Einen ersten Schwerpunkt bilden hierbei die Untersuchungen zum so genannten Tengu-Glauben. Yanagita ist der Meinung, dass die TenguGestalten mit ihren koboldhaften Zügen innerhalb des schillernden Bereiches der übernatürlichen Wesen trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten mit indischen oder chinesischen Vorfahren keine fremden Gegenstücke aufweisen. 65 Insbesondere durch die Verbindung der Tengu zur Philosophie des bushidō beweist sich die Einzigartigkeit dieser Wesen, die sich nach Yanagita in keinem anderen Land finden 66 und

Zur Überzeugung, dass die Bergmenschen die Ureinwohner Japans sind, vgl. Yanagita, Kunio: Yamabito kō (Gedanken über die Bergmenschen), in: YKZ 3, Tokio 1997, S. 595 ff. Vgl. dazu die Darstellung von Tamanoi: Under the Shadow of Nationalism: politics and poetics of Japanese rural women, S. 122. Vgl. auch Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 25 f. und S. 26, Anm. 89. Yanagitas Theorie des japanischen Urmenschen ist offensichtlich von der Abhandlung Nihon kodaishi des Historikers Kume Kunitake (1839–1931) beeinflusst, der von einer vom nördlichen China eingewanderten Nordrasse und einer vom südlichen China eindringenden Südrasse ausgeht, wobei die Südrasse als die höher entwickelte Volksgruppe die Nordrasse in die Berge und die Wälder verdrängt habe. Trotz dieser Überlegungen ist Kume jedoch zugleich auch von der Einzigartigkeit Japans und dessen Bewohnern überzeigt, die direkt von den Göttern abstammen sollen. Vgl. ebd., S. 27 f. 65 Zum mutmaßlichen Ursprung des Tengu-Glaubens in Zentralasien vgl. Knutsen, Roald: Tengu. The Shamanistic and Esoteric Origins of the Japanese Martial Arts, Folkestone 2011, S. XV und S. 5 ff. 66 »Freilich haben sie [scil. die Tengu] verschiedene körperliche Ausprägungen, und sie scheinen nicht darauf beschränkt zu sein, Flügel oder eine große Nase zu haben. Was allein ihr Wesen angeht, so gibt es sie in anderen Ländern nicht, und wenn ich es etwas pompös ausdrücke, dann haben sie doch bestimmte Eigenschaften, nämlich Ursprungsformen, die denen des bushidō gleichen.« Yanagita: Yūmeidan, S. 128. Dt. Übs. von der Verfasserin. 64

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sich durch Eigenschaften wie Aufrichtigkeit (gi), rechtes Handeln (tadashii koto wo konomu) oder Reinheit (seisetsu) auszeichnen sollen. 67 Die populären Gestalten fungieren somit nicht nur allgemein als wichtiges Bindeglied zwischen der realen und der verborgenen Welt, sondern können als ein Phänomen betrachtet werden, in dem sich eine ausschließlich japanische Denk- und Vorstellungswelt artikuliert. 68 In diesem Sinn bestätigt die Einzigartigkeit der Tengu die Annahme eines im Grunde japanischen Volkscharakters, 69 der in seinem Innern freilich mysteriös und unvergleichlich bleibt. 70

4.2 Das Tōno-monogatari Das berühmte Tōno-monogatari bildet einen zweiten Schwerpunkt in Yanagitas wissenschaftlicher Laufbahn. Es entsteht das erste Vgl. Yanagita: Yūmeidan, S. 128. Zur Sache vgl. Figal: Civilization and Monsters, S. 114 f. Zu Yanagitas Interpretation der Tengu als ursprüngliche Krieger (bujin) unter den Göttern und dem Übergang ihrer Eigenschaften auf die Samurai (bushi) im Mittelalter vgl. ebd., S. 115. 68 Yanagita ist nicht der erste Gelehrte, der sich dem Phänomen des Tengu-Glaubens zuwendet. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf Enryo Inoue (1858–1919) und dessen Rolle als Mitglied der Kommission für die Abfassung von Textbüchern zur Ethik zu verweisen. So erfährt der Tengu-Glaube durch Inoues Forschungen eine Wandlung, indem die Tengu-Gestalten zu rein mentalen Phänomenen erklärt werden und das Übernatürliche in die menschliche Psyche verlagert wird. Die Tengu werden zu Erscheinungen, die so lange unerklärlich scheinen, bis sie mit den adäquaten wissenschaftlichen Mitteln erforscht werden. Vgl. Figal: Civilization and Monsters, S. 82 ff. Yanagita freilich folgt Inoues wissenschaftlichem Weg nicht, sondern akzeptiert die übernatürlichen Inhalte auf der Basis eines so genannten »poetischen Wissens«. Vgl. ebd., S. 117. 69 »Wenn ich sagen soll, warum mir diese Forschung nicht aus dem Sinn geht, [dann ist es die Überzeugung], dass es in jedem Volk eines Landes (doku no kuni no kokumin) nicht erfassbare Mysterien gibt (fukashigi). […] Gäbe es eine solche Forschung, dann, so denke ich, könnte man die Geschichte der Völker der einzelnen Länder erforschen.« Yanagita, Kunio: Yūmeidan, S. 116 f. Dt. Übs. von der Verfasserin. 70 Die Einzigartigkeit des japanischen Volkscharakters sieht Yanagita auch durch die Märchenforschung bestätigt. So glaubt Yanagita in Erzählungen wie dem »Pfirsichjungen« (Momotarō no tanjō), der »Melonenprinzessin« (Urikohime) oder auch der »Geschichte vom Bambusschneider« (Taketori monogatari) das gemeinsame Motive des »kleinen Kindes« (chissago) bzw. der »unnatürlichen Geburt« (ijō tanjō) ausmachen zu dürfen, um von hieraus weiter auf Eigentümlichkeiten zu schließen, die allein japanischen Märchen vorbehalten sein sollen. Vgl. Kawamori, Hiroshi: Folktale Research after Yanagita. Development and Related Issues, in: Asian Folklore Studies 62 (2003), S. 237–256. 67

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grundlegende Buch der japanischen Volkskunde, 71 in dem die Überlieferungen aus der Region um Tōno in einer spannungsvollen Mischung aus selbst vernommener Erzählung und literarischer Fiktion zusammengetragen werden. 72 Dabei geht es Yanagita jedoch nicht nur um die Sammeltätigkeit als solche oder die schriftliche Fixierung des mündlich mitgeteilten Materials. Das Projekt steht vielmehr unter dem Eindruck, dass diese Überlieferungen (densetsu) 73 von einer reichen Tradition der Berggötter (yamakami) und Bergmenschen (yamabito) sprechen, die als kulturelles Erbe gepflegt und weiter vermittelt werden sollte. 74 In diesem Sinn – so gibt Yanagita zu verstehen – seien die von ihm gesammelten Überlieferungen – anders als die populären, in ihrem Wahrheitswert nicht überprüfbaren Geistergeschichten der Gegenwart – tatsächlich von »aktueller Realität« (genzai no jijitsu) 75 und als faktischer Bestandteil der japanischen Kultur zu bewerten.

4.3 Ahnenverehrung als japanische Spiritualität Einen dritten Schwerpunkt schließlich bildet die Thematik der Ahnenverehrung, in der Yanagita ein spirituelles Leitmotiv zu entVgl. Lutum: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio, S. 11, Anm. 28. 72 Der Text des Tōno-monogatari wirft in Hinblick auf die auf ihn angewendete Methode erhebliche Fragen auf. Einerseits möchte die Schrift authentisches volkskundliches Material liefern, andererseits kann die Frage gestellt werden, ob und inwieweit die Sammlung als eigenständige Literatur zu betrachten ist: »Though the work can be read as a manifesto for the as yet unborn discipline of minzokugaku, the preface is clearly an address to Yanagita’s literary peers, who were his original audience.« Ortabasi: Japanese Cultural History as Literary Landscape, S. 91. Vgl. auch die Diskussion bei Figal: Civilization and Monsters, S. 107 ff. 73 Wie sehr sich Yanagita bei der Erstellung seiner volkstümlichen Stoffsammlungen der von ihm gebrauchten literarischen Kategorien bewusst ist, zeigt die folgende Erklärung: »Wie unterscheiden sich Überlieferungen (densetsu) von alten Geschichten (mukashibanashi)? Wenn man [diese Frage] beantworten möchte, dann sind alte Geschichten wie Tiere (dōbutsu), Überlieferungen [hingegen] wie Pflanzen (shokubutsu). Alte Geschichten springen und fliegen in alle Richtungen, und wohin immer man auch geht, kann man sie in der derselben Gestalt sehen. Überlieferungen aber lassen sich an einem Ort nieder und wachsen ständig weiter.« Yanagita, Kunio: Nihon no densetsu (Legenden Japans), Tokio 1977, S. 9. Dt. Übs. von der Verfasserin. 74 Vgl. Yanagita: Tōno-monogatari, in: YKZ 2, Tokio 1997, S. 9. 75 Vgl. ebd., S. 10. 71

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decken glaubt, die nur in Japan zu finden sei. Um eine Vorstellung von dem Gemeinten zu gewinnen, sei die folgende Begebenheit aus dem Tōno-monogatari erzählt: »Als die Urgroßmutter von Kizen Sasaki in hohem Alters starb, versammelten sich die Verwandten, um sie in den Sarg zu legen. Alle schliefen in dieser Nacht zusammen im Wohnraum. Die Tochter der toten Frau – sie war wirr und hatte mit der Familie gebrochen – war auch bei der Gruppe der Verwandten. Da es in der Region üblich war, während der Trauerzeit das Feuer nicht mehr ausgehen zu lassen, blieben die Großmutter und die Mutter wach, um das Feuer zu bewachen. Die Mutter stellte den Korb mit den Kohlen neben sich und von Zeit zu Zeit legte sie eine ins Feuer. Plötzlich hörte sie Schritte an der Hintertür. Sie drehte sich um und sah, dass es die alte verstorbene Frau war. Sie erkannte sie am Kimono, hinter dem sie sich zu verbergen versuchte. Sie erkannte, wie der Kimono, der wegen ihres gebückten Ganges am Boden schleifte, wie üblich dreieckig gefaltet und zusammengenäht war. Auch sonst war alles genau wie bei der verstorbenen Frau, sogar der gestreifte Kimono-Stoff. Als die Mutter ›Oh!‹ sagte, war die alte Frau gerade an der Herdstelle, wo die beiden Frauen saßen, und berührte den Korb mit dem Saum ihres Kimonos. Die Mutter, eine Frau mit starken Nerven drehte sich um und schaute, wo sie hinging. Gerade als die alte Frau zum Wohnraum kam, in dem die Verwandten schliefen, schrie ihre verwirrte Tochter mit schriller Stimme: ›Hier kommt die Großmutter!‹ Die anderen wurden wach und waren erschrocken.« 76

Fragt man, was Yanagita in Geschichten wie diesen erkennt, dann sind seine Forschungen zum Ahnenverständnis hilfreich. Die Quintessenz der Überlegungen besteht im Begriff des »Ahnen« (senzo), der keinesfalls nur ein Mensch ist, der vor der eigenen Zeit gelebt hat und dem die Lebenden Achtung und Verehrung schulden. Ein Ahne zeichnet sich vielmehr durch die Bindung an das japanische Haus aus, dem er entstammt und dem er über den Tod hinaus Aufmerksamkeit schenkt. In diesem Sinn bemerkt Yanagita: »According to Japanese feeling (nohonjin no kokorozashi) even if the flesh decays and the body disappears, the tie to the native land (ko kokudo) is not cut, and each year the spirit returns on a fixed day to the home of the descendants and wants to see how the children are growing […] and contrary to this sentiment of our people, Buddhist priest persuaded them to aim at attending Buddhahood to give up their to returning to this word, and to 76 Yanagita, Kunio: Geschichten aus Tono – Tono Monogatari, Begleitbuch zur Ausstellung »Kizen Sasaki – der japanische Grimm« im Brüder Grimm-Haus, Steinau an der Straße, 31. August 2014 – 2. November 2014, Worms 2014, S. 46 f.

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be helped off to a distant place. No matter how they explained it, their teaching has not been thoroughly accepted.« 77

Es wird also ein ursprünglich japanischer Glaube propagiert, der die Seele an das eigene Land und das eigene Hauswesen bindet. In diesem Sinn, so Yanagita, unterscheidet sich der urtümliche japanische Volksglaube grundlegend von den späteren, aus fremden Ländern importierten buddhistischen Glaubensinhalten, da die ursprünglich japanischen Toten nicht in ein Jenseits streben, sondern in heimatlicher Verbundenheit in der Nähe ihrer Angehörigen bleiben. Der Gegenwartsbezug und die einheitsstiftende Relevanz dieses Glaubens für die japanische Kultur manifestiert sich für Yanagita schließlich in der Wahl des Tages für die Ahnenverehrung (hotoke no shōgatsu), die in vielen Landesteilen zu einem ähnlichen Zeitpunkt begangen werde, 78 oder anhand der Überzeugung, dass sich bei der Feier des Bon-Festes (bonmatsu) die alten Bräuche trotz des buddhistischen Einflusses unbewusst im Wissen der Alten, Frauen und Kinder erhalten hätten. 79

5.

Die Macht des Erzählens: Ein Resümee

Yanagitas Beschäftigung mit den Erzählungen seines Landes bedeuten den Versuch, die eigene Kultur zum Gegenstand volkskundlicher Forschung zu machen. Obgleich die thematische Fixierung der Volkskunde durchaus Defizite aufweisen mag, 80 geht es Yanagita doch um eine Objektivierung der japanischen Kultur, ohne dass mit einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit die Maßstäbe der westlichen Wissenschaft übernommen werden. In offensichtlicher Furcht vor Yanagita, Kunio: About our ancestors. The Japanese Family System, New York / Westport / Connecticut / London 1970, S. 69. Für den japanischen Text vgl. ders.: Senzo no hanashi, S. 52. 78 Vgl. Yangita: Senzo no hanashi, S. 51 ff. 79 Vgl. ebd., S. 108 ff. 80 So z. B. Bernard Bernier, der vor allem aus soziologischer und ethnologischer Perspektive auf Mängel in Yanagitas Volkskunde aufmerksam macht, indem beispielsweise der Unterschiedlichkeit der Volksgruppen nicht Rechnung getragen werde. Vgl. Bernier, Bernard: Yanagita Kunio’s ›About our Ancestors‹ : Is it a Model for an Indigenous Social Science?, in: Koschmann, J. Victor/Ōiwa, Keibō/Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio and Japanese Folklore Studies, Cornell University East Asia Papers 37, Ithaka 1985, S. 65–95, hier: S. 84 ff. 77

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den Übergriffen einer »fremden Ethnologie« 81 unterläuft Yanagita diese Möglichkeit, indem er den Untersuchungsgegenstand der Volkskunde konsequent dem Forschungsbereich und den Deutungsmustern der »fremden Wissenschaftler« entzieht. Mit der Hinwendung zur analphabetischen und schriftlosen Erzählkultur wird eine Form des Wissens als Forschungsgegenstand installiert, die sich – als nicht verifizierbare oder falsifizierbare Erzählung – gerade nicht durch »begründbare Charakteristika« auszeichnet und damit nach den akademischen Maßstäben des westlichen Wissenschaftsverständnisses als Nicht-Wissen zu gelten hat. 82 In der Folge greifen weder kausale noch universelle Interpretationsmuster, sondern emphatische Fähigkeiten des Verstehens, über die nur Angehörige der japanischen Kultur verfügen und den japanischen Volkskundlern einen »einzigartigen Vorteil« sichern. 83 Gegen die »dominanten« Wissenschaftssysteme präsentiert Yanagita also einen Gegenpart auf der Ebene des Wissensbegriffs. Der japanische Gelehrte führt gegen das rationale Wissen des Westens ein rational nicht einholbares narratives Wissen ins Feld, dem – um es mit Jean-François Lyotard auszudrücken – die »Pragmatik seiner Übermittlung« 84 genügt und das sich dementsprechend nicht im westlichen Sinn als Wissen legitimieren muss. In letzter Konsequenz entwickelt Yanagita eine Strategie der Immunisierung gegenüber dem westlichen Denken, deren Ziel in der Verteidigung der Definitionshoheit für die eigene Kultur besteht. 85 Vgl. oben, S. 80 f. Vgl. dazu die folgende Aussage: »Wissen kann nur dann überhaupt eine sinnvolle Kategorie darstellen, wenn es sich durch begründbare Charakteristika auszeichnen lässt; all jene Konstrukte, die nicht diese Merkmale aufweisen, werden dann – das ist eine logische Folge – als Nicht-Wissen markiert.« Geiger, Daniel: Wissen und Narration. Der Kern des Wissensmanagements, Berlin 2006, S. 14 f. 83 So Koschmann, J. Victor: Folklore Studies and the Conservative Anti-Establishment in Modern Japan, in: ders./Oiwa, Keibō/Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio and Japanese Folklore Studies, S. 131–164, hier: S. 151. 84 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 2009, S. 78. 85 Ohne den Begriff »Postmoderne« ungeprüft für Yanagitas Denken in Anspruch nehmen zu wollen, scheint Yanagitas wissenschaftliches Programm der narrativen Formen durchaus den in der Postmoderne beschriebenen Konflikt zwischen legitimierten und nicht legitimierten Formen des Wissens anzudeuten. Zur erkenntnistheoretischen und politischen Dimension dieses Konfliktes vgl. die folgende Aussage Lyotards: »Der Wissenschaftler fragt nach der Gültigkeit narrativer Aussagen und stellt fest, dass sie niemals der Argumentation und dem Beweis unterworfen sind. Er 81 82

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Angelika Bönker-Vallon: Kulturelle Identität durch Erzählung

Literatur: Antoni, Klaus: Shintô & die Konzeption des japanischen Nationalwesens (kokutai). Der religiöse Traditionalismus in Neuzeit und Moderne Japans. Handbuch der Orientalistik, Abteilung 5, Japan, Bd. 8, Leiden / Boston / Köln 1998. Bernier, Bernard: Yanagita Kunio’s ›About our Ancestors‹ : Is it a Model for an Indigenous Social Science?, in: Koschmann, J. Victor/Ōiwa, Keibō/Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio and Japanese Folklore Studies. Cornell University East Asia Papers 37, Ithaka 1985, S. 65–95. Bönker-Vallon, Angelika: Wissenschaft als Mittel der Selbststilisierung. Ethnozentrische Tendenzen im Denken Watsuji Tetsurōs und Yanagita Kunios, Japan-Zentrum der Ludwigs-Maximilians-Universität München (2011). [https://epub.ub.uni-muenchen.de/17585/; abger. i. Okt. 2017] Doak, Kevin Michael: A History of Nationalism in Modern Japan. Placing the People, Leiden / Boston 2007. Eubanks, Charlotte: On the Wings of a Bird: Folklore, Nativism, and Nostalgia in Meiji Letters, in: Asian Folklore Studies 65 (2006), S. 1–20. Figal, Gerald: Civilization and Monsters. Spirits of Modernity in Meiji Japan, Durham / London 1999. Geiger, Daniel: Wissen und Narration. Der Kern des Wissensmanagements, Berlin 2006. Gotō, Sōichiro: Yanagita Kunio ron, Tokio 1987. Hall, John Whitney: Das japanische Kaiserreich, Frankfurt a. M. 1968. Harootunian, Harry D.: Late Tokugawa Culture and Thought, in: Jansen, Marius B. (Ed.): The Cambridge History of Japan. Vol. 5: The Nineteenth Century, Cambridge 1989, S. 168–258. Harootunian, Harry: Overcome by Modernity. History, Culture and Community in Interwar Japan, Princeton 2000. Hobsbawm, Eric: Introduction: Inventing Traditions, in: Hobsbawm, Eric/ Ranger, Terence (Eds.): The Invention of Tradition, Cambridge / New York / Melbourne et al. 1983, S. 1–14. Inoue, Mitsusada: The Century of Reform, in: Brown, Delmer M. (Ed.): The Cambridge History of Japan. Vol. 1: The Ancient Japan, Cambridge 1993, S. 163–267. Kawada, Minoru: The Origin of Ethnography in Japan. Yanagita Kunio and his Times, London / New York 1993. ordnet sie einer anderen Mentalität zu: Wild, primitiv, unterentwickelt, rückständig, verwirrt, aus Meinungen bestehend, Gewohnheiten, Autorität, Vorurteilen, Unwissenheit, Ideologien. Die Erzählungen sind Fabeln, Mythen, Legenden, gut für Frauen und Kinder. […] Dies ungleiche Verhältnis ist eine innere Wirkung der jedem Spiel eigenen Regeln. Man kennt ihre Symptome. Es ist die Geschichte des kulturellen Imperialismus seit den Anfängen des Abendlandes.« Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 78.

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Kawamori, Hiroshi: Folktale Research after Yanagita. Development and Related Issues, in: Asian Folklore Studies 62 (2003), S. 237–256. Knutsen, Roald: Tengu. The Shamanistic and Esoteric Origins of the Japanese Martial Arts, Folkestone 2011. Koschmann, J. Victor: Folklore Studies and the Conservative Anti-Establishment in Modern Japan, in: ders./Ōiwa, Keibō/Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio and Japanese Folklore Studies. Cornell University East Asia Papers 37, Ithaka 1985, S. 131– 164. Lutum, Peter: Die japanischen Volkskundler Minakata Kumagusu und Yanagita Kunio. Ihre kontroversen Ideen in der frühen Entstehungsphase der japanischen Volkskunde, Münster 2003. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 2009. Maruyama, Masao: Denken in Japan, Frankfurt a. M. 1988. Mori, Kōichi: Yanagita Kunio: An Interpretive Study, in: Japanese Journal of Religious Studies 7 (1980), S. 83–115. Morikawa, Takemitsu: Yanagita Kunio – Die Geburt der japanischen Volkskunde aus dem Geist der europäischen Romantik, Selbstbeschreibungsprobleme der japanischen Moderne, in: ders. (Hg.): Japanische Intellektuelle im Spannungsfeld von Okzidentalismus und Orientalismus, Kassel 2008, S. 45–73. Morris-Suzuki, Tessa: The Invention and Reinvention of »Japanese Culture«, in: The Journal of Asian Studies 54 (1995), S. 759–780. Morse, Ronald A.: Yanagita Kunio and the Folklore Movement. The Search for Japan’s National Character and Distinctiveness, New York / London 1990. Morse, Ronald A.: Yanagita Kunio and the Modern Japanese Consciousness, in: Koschmann, J. Victor/Ōiwa, Keibō/Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio and Japanese Folklore Studies. Cornell University East Asia Papers 37, Ithaka 1985, S. 11–28. Ortabasi, Melek: Japanese Cultural History as Literary Landscape: Scholarship, Authorship and Language in Yanagita Kunio’s Native Ethnolgy, University of Washington 2001. Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004. Pörtner, Peter/Heise, Jens: Die Philosophie Japans, Stuttgart 1995. Rothermund, Dietmar: Konstruktionen nationaler Solidarität in Asien. Universalismus und Traditionaliusmus, in: Brocker, Manfred/Nau, Heino Heinrich (Hgg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997, S. 170–190. Takayanagi, Shun’ichi: In Search of Yanagita Kunio, in: Monumenta Nipponica 29 (1974), S. 329–335. Tamanoi, Mariko Asano: Under the Shadow of Nationalism: politics and poetics of Japanese rural women, Honolulu 1998. Yamashita, Shinji: Ritual and ›Unconscious Tradition‹ : A Note on Yanagita Kunio’s ›About our Ancestors‹, in: Koschmann, J. Victor/Ōiwa, Keibō/ Yamashita, Shinji (Hgg.): International Perspectives on Yanagita Kunio

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Angelika Bönker-Vallon: Kulturelle Identität durch Erzählung

and Japanese Folklore Studies. Cornell University East Asia Papers 37, Ithaka 1985, S. 55–64. Yanagita, Kunio: About our ancestors. The Japanese Family System, New York / Westport / Connecticut / London 1970. Yanagita, Kunio: Geschichten aus Tono – Tono Monogatari, Begleitbuch zur Ausstellung »Kizen Sasaki – der japanische Grimm« im Brüder GrimmHaus, Steinau an der Straße, 31. August 2014 – 2. November 2014, Worms 2014. Yanagita, Kunio: Kokushi to minzokugaku (Nationalgeschichte und Volkskunde), in: Yanagita Kunio zenshū (= YKZ 86 14), Tokio 1998. Yanagita, Kunio: Kyōdo seikatsu no kenkyūhō (Studien des Heimatlebens), in: Yanagita Kunio zenshū (= YKZ 8), Tokio 1998. Yanagita, Kunio: Minkan denshō ron (Theorie der Volksüberlieferung), in: Yanagita Kunio zenshū (= YKZ 8), Tokio 1998. Yanagita, Kunio: Nihon no densetsu (Legenden Japans), Tokio 1977. Yanagita, Kunio: Seinen to gakumon. in: Yanagita Kunio zenshū (= YKZ 4), Tokio 1989. Yanagita, Kunio: Senzo no hanashi (Über unsere Ahnen), in: Yanagita Kunio zenshū (= YKZ 15), Tokio 2004. Yanagita, Kunio: Tanoshii seikatsu, in: Teihon Yanagita Kunio Shū (= Yanagita Kunio Gesammelte Werke: TYKS 87 30), Tokio 1964. Yanagita Kunio: Yamabito kō (Gedanken über die Bergmenschen), in: Yanagita Kunio zenshū (= YKZ 3), Tokio 1997. Yanagita, Kunio: Yūmeidan (Gespräche über die verborgene Welt), in: Masao Higashi (Hg.), Yanagita Kunio Shū 88, Tokio 2007/2008.

86 87 88

Dies ist die Abkürzung für Yanagita Kunio Gesamtausgabe. Dies ist die Abkürzung für Yanagita Kunio Gesammelte Werke. Dies meint Yanagita Kunio Werke.

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Abteilung II.2: Minima

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Im Horizont der Dichtung – Wilhelm Schapp und die Welt der Dichtung und Dichter Désirée Monsees

Wilhelm Schapp beginnt sowohl sein Werk In Geschichten verstrickt 1 als auch Philosophie der Geschichten 2 mit einem Verweis auf die (Welt-)Literatur, die Welt der Dichtung und der Dichter. In beiden Werken verwendet Schapp vielfältige Beispiele unterschiedlicher Erzählformen, die verschiedene Geschichtentypen repräsentieren: von Märchen und volksnahen Erzählungen, Passagen religiöser Texte über Klassiker der (Welt-)Literatur, zum Mythos und den Anfängen der abendländischen Philosophie bis hin zu neuzeitlichen Philosophen und auch bekannten Persönlichkeiten. Dabei beschränkt Schapp sich keinesfalls nur auf die abendländische Kultur, sondern erweitert sein Spektrum um den Kulturraum des Nahen und Mittleren Ostens. So bezieht er sich in In Geschichten verstrickt auf die Geschichten des Nasreddin und im folgenden Werk auf den Gilgamesch-Epos und die Bhagavadgita, einer zentralen Schrift des Hinduismus. Ein genauerer Blick auf die gewählten Beispiele Schapps zeigt, dass er besonders häufig an verschiedenen Stellen – in beiden Werken – auf Goethe, Shakespeare und Homer sowie auf Märchen und religiöse Texte zurückgreift. Die Übersicht 3 veranschaulicht die Reichhaltigkeit in exemplarischer Auswahl. Neben diesen Formen lässt Schapp zudem Namen der Weltgeschichte einfließen, die unmittelbar eine Geschichte evozieren sollen 4, und verweist vor einem solchen Hintergrund auch auf andere historische Persönlichkeiten aus der abendländischen Philosophietradition und der Wissenschaft. 5 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. 2 Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015. 3 Siehe die Übersicht am Ende des Beitrages. 4 In dem Werk In Geschichten verstrickt sind dies Napoleon (S. 120), Cäsar (S. 120) und Goethe (S. 133 f.). 5 In Philosophie der Geschichten fallen zwischen Vertretern der ionischen Aufklä1

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Wilhelm Schapp begründet selbst, warum er sich häufig auf die Dichter bezieht. So wendet er sich zu Beginn von Philosophie der Geschichten mit den Worten an den Leser: »Wir werden häufig gezwungen sein, um nicht langatmig zu werden, von Geschichten der Dichter auszugehen. Wir bitten den Leser, solche Geschichten immer in eine gegenwärtige Geschichte zu übertragen oder zu prüfen, ob das, was wir sagen, auf solche eigensten Geschichten zutrifft.« 6

Warum eignen sich gerade diese Erzählungen oder Geschichte(n) besonders zur Veranschaulichung von Schapps Betrachtungen? Zunächst legen die ausgewählten Beispiele eine Klassiker-bezogene Bildung Schapps nahe. 7 Zum anderen ist all diesen Beispielen der Geschichtentypen gemeinsam, dass sie als tradierte Geschichten fest in der westlichen bzw. östlichen Kultur verankert sind und größtenteils volks- und lebensnah sind. Sie ähneln wirklichen Geschichten bzw. solchen, in die der Leser verstrickt ist oder war. Damit verfügen sie über Qualitäten, die Schapp für wesentlich hält: Durch ihren intersubjektiven und interepochalen Charakter knüpfen sie in besonderem Maße an die bereits vorhandenen Horizonte bzw. die Alltagswelt des Lesers oder Hörers an. 8 Sie sprechen ein breites Publikum an. Deshalb bietet Schapp diese Geschichten seinem Leser quasi als Überprüfungsmöglichkeit an. 9 Gleichzeitig bedeuten sie ihm aber noch viel rung und Husserl (S. 265) Namen wie Alkmaion (S. 238), Demokrit (S. 132), Anaxagoras (S. 245) Platon (S. 56, 61 u. v. m.), Aristoteles (S. 100; S. 168 u. av. M.), Gottfried Wilhelm Leibniz (S. 266) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (S. 211); nicht zu vergessen die extra in einem Teil vorgenommene Auseinandersetzung mit den drei Philosophen Platon, Descartes und Kant sowie eine ausführliche Auseinandersetzung mit Heraklit. Aus der Wissenschaft nennt Schapp namentlich z. B. Charles Darwin (S. 51; S. 62 u. a.). 6 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 31. 7 Hermann Lübbe äußert sich über Schapps Bildung inklusiver jener auf dem literarischen Gebiet als »umfassend, aber konventionell klassikerbezogen«. (Lübbe, Hermann: Lebensweltgeschichten. Philosophische Erinnerungen an Wilhelm Schapp, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hrsg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004, S. 25–43, hier: S. 41). 8 Ausgehend von Schapp versucht Pohlmeyer sogenannte Klassiker folgendermaßen zu fassen: »So könnte man klassische Werke als literarisch fixierte Geschichten definieren, die besonders gelungen und allumfassend die Horizonte = Lebenssituationen der Leser und Hörer im Laufe der Zeiten auffangen oder ihnen sogar erst bewußt gemacht haben.« (Pohlmeyer, Markus: Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp, Berlin 22008, S. 86.) 9 Auf eine Differenzierung der Geschichte(n) im Sinne Schapps und die der Dichter

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mehr. Denn in Philosophie der Geschichten schreibt Schapp explizit, dass er in diesem Werk seine eigenen Überlegungen im Verhältnis zur Philosophie, Kunst, Weltgeschichte und Wissenschaft, insbesondere zur Dichtung und Phänomenologie überprüfe: »Wie aber diese, unsere Überlegungen unterzubringen sind in all dem, was Menschen treiben, in welchem Verhältnis sie zur Philosophie, zur Kunst, insbesondere zur Dichtung stehen, in welchem Verhältnis zur Weltgeschichte, zur Wissenschaft jeder Art, in welchem Verhältnis insbesondere zur Phänomenologie, darüber handelt diese ganze Schrift. Wir kommen dabei zu keinem Ende, und das ist auch gut so, denn fast möchte ich sagen: eine richtige Welt muß unausschöpfbar sein.« 10

Die eingewobenen Geschichten sind für Schapp selbst eine Hintergrundfolie. Stets sucht Schapp nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen seinen eigenen Betrachtungen und dem, was er bei den Dichtern vorfindet. Zugleich betont er, dabei kein endgültiges Ergebnis zu erlangen. Darüber hinaus existiert mit Schapp keine scharfe Trennung zwischen den Gebilden Dichtung, Weisheit, Philosophie, Religion und Wissenschaft. Für ihn sind sie alle miteinander verwandt. 11 Eine klare Trennung ist aufgrund der Berührungspunkte nicht möglich; weder zwischen Dichtung und wirklicher Geschichte noch zwischen Dichtung und den anderen Gebilden wie der Wissenschaft. Für die Beziehung von Geschichten und Dichtung bedeutet dies, dass beide gleichursprünglich sind. In den Worten Schapps: »Die Dichtung gehört von Anfang an zu den Geschichten, in die die Menschheit […] verstrickt war.« 12 Für eine nähere Betrachtung der Gemeinsamkeiten oder sogenannten Nahtstellen zwischen Schapp und den Dichtern bedarf es, die von Schapp herausgestellten Vorzüge der Dichter und deren Geschichten herauszuarbeiten. Grundlegend ist, dass ebenso wie bei Schapp das In-Geschichten-Verstricktsein und Geschichten Gegenstand großer Werke der Menschheit inklusive denen der Dichtung sind. Schapp führt hierfür einen heterogenen Autorenkatalog an. verzichte ich an dieser Stelle bewusst; siehe hierzu: Haas, Stefanie: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten; in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, unter Mitarb. v. Nicole Thiemer, Freiburg im Breisgau 2010, S. 86–101. 10 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 47. 11 Vgl. ebd., S. 38 u. a. 12 Ebd.

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Die Dichter sind dabei mitverstrickt in ihre Geschichten und versuchen keinen Standpunkt außerhalb dieser einzunehmen, weshalb es nicht verwundert, dass Schapp an keiner Stelle Kritik an den Dichtern äußert. 13 Schlagwortartig lassen sich diese Berührungspunkte bzw. Gebilde folgendermaßen benennen: Geschichte(n) als Urphänomene, ein ähnliches Verständnis von Geschichte(n), das Gebilde Tod, Weisheitswissen, Deuten von Geschichte(n), die Beachtung des Gesamtzusammenhangs als lebendigen Zusammenhang, der Duktus des Alltäglichen sowie ein undogmatisches Vorgehen. Im Folgenden möchte ich in einem kurzen Schlaglicht zwei zentrale Nahtstellen zwischen Schapp und den Dichtern vorstellen: Dies sind erstens das Gebilde Tod und zweitens das Weisheitswissen.

Gebilde Tod In Philosophie der Geschichten wendet sich Wilhelm Schapp dem Gebilde des Todes bei Homer zu. Schapp veranschaulicht mit Zitaten aus der Ilias, dass die Vergänglichkeit alles Irdischen die Grundstimmung im Leben bestimme. Dabei sei der Tod in der homerischen Dichtung negativ besetzt. Leben und Tod seien voneinander abgegrenzt, wobei der Tod den Dingen im Leben eine Bedeutung gibt. Beispielsweise hießen die Menschen auch Sterbliche, so Schapp, »und verdanken damit ihren Namen dem Tod« 14. Schapp selbst betrachtet sich und sein Gegenüber zwar als – wie er selbst schreibt – »späte[r] Deuter Homers« 15, nimmt aber ausgehend von Homer eine Änderung vor. Hierbei meint er, die homerischen Überlegungen nur fortzuführen, da diese Gedanken bereits in dem antiken Text angelegt seien. So verleiht der Tod allen Geschichten im Schappschen Sinne Gewicht. Denn wir setzen den Tod ständig in Beziehung zu allen anderen Gütern oder auch Übeln. Durch dieses In-Beziehung-Setzen zum Tode bekommt alles andere seinen Wert. Und auch in allen Werten ist damit stets etwas vom Tod enthalten. Leben und Tod bilden Durch das Wahrheitskonzept Wilhelm Schapps wird ein häufig in der Tradition eingewandter Kritikpunkt an erzählten und literarischen Geschichten hinfällig: der des Lügen- und Fiktionalitätscharakters. Vgl. hierzu v. a.: Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 148, S. 150. 14 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 218. 15 Ebd., S. 219. 13

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gemäß Schapp eine Einheit. Damit geht er über die dreigeteilte Welt Homers in Unterwelt, Erde und Himmel hinaus. Aber nicht nur bei Homer besitzt der Tod eine zentrale Stellung, sondern beispielsweise auch in der Bibel, in der Bhagavadgita oder im Gilgamesch-Epos, wie Schapp aufzeigt. Die Frage, warum diesem Gebilde nun eine solch zentrale Stellung zukommt, lässt sich über dessen Funktion in den Geschichten beantworten. Denn das Gebilde Tod ermöglicht einen Zugang, eine Annäherung an die Gebilde Welt: »dass eine Annäherung an diese Welten, ein Hineinkommen in diese Welten, ein Heimischwerden in diesen Welten […] nur über Geschichten möglich ist und auch wohl nur über solche Gebilde wie etwa den Tod mit seiner eigentümlichen zentralen Stellung in den Geschichten.« 16

Die Dichter ermöglichen folglich einen wichtigen Zugang zu den komplexen Gebilden.

Weisheitswissen Eine weitere Nahtstelle zwischen Schapp und den Dichtern ist das Weisheitswissen. Schapp bevorzugt ein in die Tiefe gerichtetes Wissen, ein Weisheitswissen. Dies zeigt sich besonders eindrücklich an einer Textstelle in In Geschichten verstrickt. Hier spricht Schapp über einen speziellen Typ von Geschichten, der Gleichnischarakter besitzt. An diesen Gleichnisgeschichten schätzt Schapp besonders die Tiefe, die eine solche Geschichte birgt. Und da auch die großen Werke der Dichtung sich durch ihren Gleichnischarakter auszeichnen, betont Schapp diesen Vorzug der Dichter. Im nachfolgenden Werk wird er noch konkreter, wenn er über den Trojanischen Krieg in den Texten Homers und Hesiods »und die ganze Weisheit, die sich in ihm birgt« 17, schreibt. Gerade in Abgrenzung zur abendländischen Tradition seit der ionischen Philosophie kritisiert Schapp immer wieder den Wandel des Wissensbegriffs und den damit verbundenen Verlust des Weisheitswissens. Hier kann man bereits erahnen, dass Schapp die Welt der Dichter und Dichtung häufig als positiv besetzten Ge-

16 17

Ebd., S. 41. Ebd., S. 240.

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genpol zur abendländischen Tradition betrachtet, als Gegenpol zu einem Denken in Begriffen und Systemen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Auseinandersetzung mit der Welt der Dichter und der Dichtung sowohl In Geschichten verstrickt als auch Philosophie der Geschichten durchzieht. Wilhelm Schapp verwendet in beiden Werken eine Vielzahl literarischer oder erzählter Geschichten zur Veranschaulichung und Verdeutlichung seiner Überlegungen. Zudem überprüft er stets seine eigenen Betrachtungen insbesondere mit dem, was er bei den Dichtern vorfindet. Zwar geschieht dies nicht immer vordergründig, läuft aber zumindest als Hintergrundfolie mit. Wie das kurze Schlaglicht auf die beiden Nahtstellen Tod und Weisheitswissen zeigten, schreibt Wilhelm Schapp den Dichtern und ihren Werken eine bedeutende Rolle zu und artikuliert ein durchweg positives Verständnis von den Dichtern.

Übersicht: Verwendete Beispiele aus der Welt der Dichtung und Dichter in exemplarischer Auswahl Homer, Dante, Cervantes, Swift, Shakespeare, Goethe, Dostojewski (GV, S. 1) Goethes Dichtung und Wahrheit (GV, S. 123), Werthers Leiden (PG, S. 32), Faust (PG, S. 38), Iphigenie und Torquato Tasso (PG, S. 286) Rousseaus Bekenntnisse (GV, S. 123) Cervantes Don Quichote (GV, S. 137; PG, S. 159) Homers Odyssee (GV, S. 137; PG, S. 156, S. 200) Hesiods Werke und Tage (GV, S. 124; PG, S. 215) Shakespeares Macbeth (GV, S. 152; PG, S. 35), Romeo und Julia (PG, S. 32), Hamlet und Ophelia, (PG, S. 35), König Lear (PG, S. 176) Schillers Wilhelm Tell und Wallensteins Tod (PG, S. 176) Rotkäppchen (GV, S. 89) Dornröschen (GV, S. 120) Hans im Glück (GV, S. 185), Der Fischer und seine Frau (GV, S. 185) Bekehrung des Apostels Paulus u. Bekehrung des Hl. Augustinus (GV, S. 128) Gleichnis vom verlorenen Sohn (GV, S. 186) Geschichten des Til Eulenspiegel u. die Geschichten des Nasr Eddin (GV, S. S. 128; PG, S. 159) Hemingways Der Spieler (PG. S. 102) 264 https://doi.org/10.5771/9783495823804 .

Im Horizont der Dichtung

Dantes Göttliche Komödie (PG. S. 38) Swifts Gullivers Reisen (PG, S. 146) Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, B. Traven (PG, S. 40; S. 299) Nibelungenlied (PG, S. 217; S. 322) und Gudrunlied (PG, S. 217)

Literatur: Haas, Stefanie: Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten; in: Joisten, Karen (Hg.): Das Denken Wilhelm Schapps. Perspektiven für unsere Zeit, unter Mitarb. v. Nicole Thiemer, Freiburg im Breisgau 2010, S. 86–101. Lübbe, Hermann: Lebensweltgeschichten. Philosophische Erinnerungen an Wilhelm Schapp, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg 2004, S. 25–43. Pohlmeyer, Markus: Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp, Berlin 22008. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt am Main 52012. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt am Main 32015.

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Durch den Traum hin zum Menschen Corvin Cornelius Kloppenburg

Der Satz: »Die Geschichte steht für den Mann.« 1 gilt als einer der Schlüsselsätze zum Zugang zu Wilhelm Schapps Werk. Er macht nämlich deutlich, dass man über die Geschichte zum »Sein« des Menschen gelangen kann. Somit bietet sich der letztmögliche Zugang zu dem Menschen für uns nur durch seine Geschichte, die als Inbegriff einer Vielzahl von Geschichten gefasst werden kann. Schon eine Geschichte verrät uns mehr über den Charakter eines Menschen als alle Bilder oder Statuen von ihm. Je intensiver wir mit den Geschichten eines Menschen arbeiten, desto deutlicher setzt sich uns sein Lebensbild zusammen, da eine einzelne Geschichte lediglich einen Ausschnitt des Menschen zeigt. Achten wir weiter auf Schapps Worte: »Der Mensch ist nicht ein Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.« 2 Zu diesem Eigentlichen gilt es vorzudringen, will man einem Menschen helfen, will man die Ursache seines Leidens bekämpfen und nicht bloß Symptome behandeln. Jedoch nehmen sich nur wenige Menschen die Zeit für Geschichten, nicht nur für vermeintliche Fremdgeschichten, auch nicht für ihre eigenen. Ebenso haben die meisten Ärzte weder Zeit noch Muße für die Geschichten ihrer Patienten und können dadurch lediglich Symptombehandlung betreiben und nicht zu dem Eigentlichen eines Menschen vordringen. Allerdings gibt es Ausnahmen, wie beispielsweise Carl Gustav Jung, ein Schüler Sigmund Freuds, Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie. Jung versuchte, durch die Träume und Geschichten seiner Patienten mit ihnen gemeinsam an den Ursachen ihres Leidens zu arbeiten und die Patienten somit zu heilen. Befasst 1 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Ding und Mensch, Frankfurt a. M. 52012, S. 103. 2 Ebd., S. 105.

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Durch den Traum hin zum Menschen

man sich mit den Werken von Schapp und Jung tauchen immer wieder Parallelen auf. »Wir sind in ein Muster geboren; wir sind ein Muster.« 3 Ein Jung-Zitat, welches veranschaulicht, wie nah Jungs und Schapps Denkwege in manchen Aspekten beieinanderliegen. Spricht Schapp von Geschichtsverstrickungen und den Lebensbildern, so spricht Jung von Mustern und dem kollektiven Unbewusstsein. Jung war das Bild wichtiger als das Geschriebene, da sich uns unser Unbewusstes in Bildern mitteilt, welche wir als Phantasien bezeichnen. Diese Phantasien sind nicht wertlos, schließlich war ein Großteil unserer Umwelt zuerst Phantasie. Dies erklärt Jungs Fokus auf den Traum, da dieser zu uns in Bildern spricht. Dem Traum wollen wir uns im späteren Vortragsverlauf noch einmal genauer widmen. Jung hegte auch eine starke Vorliebe für Mandalas, vor allem für indische und tibetische, da diese dem Betrachter – so Jung – das unauftrennbare Ganze des Kosmos näherbringen sollen. Man denke sich an dieser Stelle Schapps Weltgeschichte. Jung ermutigte seine Patienten, in ihrer Mandalaarbeit auch die dunklen und widersprüchlichen Seiten ihrer Psyche auszudrücken. Er war der Meinung, dass der westliche Mensch die Verstrickungen seiner Gefühlswelt nicht einfach meditativ loslassen kann, sondern sie bewusst durcharbeiten muss, um eine seelische Ganzheit zu erlangen. Hier spricht er von einer heilenden Vereinigung von Gegensätzen. 4 Diese Vereinigung von Gegensätzen kann ebenfalls erlangt werden, wenn wir akzeptieren, dass das Unbewusste auch imstande wäre, dem Bewusstsein ebenbürtig, eine final orientierte Führung zu übernehmen. Dementsprechend hätte dann der Traum den Wert einer positiv leitenden Idee oder einer Zielvorstellung, die in manchen Fällen dem momentanen Bewusstseinsinhalt an Bedeutung ebenbürtig wäre. Jung fragte sich, wozu der Traum diene – was er bewirken solle? Seine Antwort war, dass der Traum die psychologische Balance herstellen soll und somit Brücken zwischen Bewusstem und Unbewusstem schlagen kann. 5 Denn nur, wenn wir akzeptieren, dass sowohl Bewusstes wie Unbewusstes ineinandergreifen, dringen wir näher The Genetic Patterns of Character – Carl Jung. Youtube, 27. 09. 2016, Web, 13. 10. 2017 um 13:45 Uhr, in: https://youtu.be/Jqot0aZGhhQ »We are born into a pattern; we are a pattern.«. 4 Vgl. Kast, Verena: Die Dynamik der Symbole, Olten 1990, S. 136–141. 5 Siehe Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 8: Die Dynamik des Unbewussten, Olten 41982, § 491, S. 282. 3

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Corvin Cornelius Kloppenburg

zu dem zuvor genannten »Eigentlichen«, zu dem »Menschen« vor. 6 Häufig scheint es nämlich so, als wären Träume ausschließlich Verarbeitungsprozesse oder gänzlich überflüssig. Schapp schreibt hierzu: »Wenn man an die Unterschiede von Wachen und Träumen unter dem Aspekt des Verstricktseins in Geschichten herangeht, so können sich die Grenzlinien, […] vollständig verwischen, kann Traum und Wachen eins werden.« 7 Diese Akzeptanz des Traumes ist essentiell, um den Menschen in seiner Gesamtheit zu verstehen. Erst von diesem Verständnis ist eine intensive Beziehung und eventuell daraus folgende Hilfe oder gar Therapie möglich, denn der in Geschichten verstrickte Mensch ist mehr als ein kranker Patient, dessen Symptome es zu beseitigen gilt. Dieser auf seine Symptome reduzierte Patient wird vermutlich geringere Genesungschancen erfahren als der Patient, welcher von einem Mediziner in seiner Ganzheit betrachtet wird. Jung schreibt hierzu: »Das Krankhafte kann nicht einfach wie ein Fremdkörper beseitigt werden, ohne dass man Gefahr läuft, zugleich etwas Wesentliches zu zerstören.« 8 Für Schapp und Jung war es wichtig, einen ganzheitlichen Zugang zum Menschen zu finden. Den Menschen nicht als eindimensionalen Gegenüber zu sehen, sondern als den in Geschichten Verstrickten, als »Teil des kollektiven Unbewussten«. Diese Herangehensweise an den Menschen ist nicht nur eine sehr respektvolle Herangehensweise, sondern kann auch eine sehr gehaltvolle sein. Sie eröffnet uns viele produktive Möglichkeiten, von der Selbstreflexion bis hin zur Therapie. Schließen möchte ich mit einem Zitat Carl Gustav Jungs, welches mich während der Arbeit an diesem Vortrag begleitet hat und den Kern des Vortragsthemas zusammenfasst: »[…] das Leben hat nicht nur ein Gestern, und es ist nicht erklärt, wenn das Heute auf das Gestern reduziert wird. Das Leben hat auch ein Morgen, und das Heute ist nur dann verstanden, wenn wir zu unserer Kenntnis dessen, was Gestern war, noch die Ansätze des Morgen hinzufügen können.« 9

Vgl. Vogel, Ralf T.: C. G. Jung für die Praxis: Zur Integration jungianischer Methoden in psychotherapeutischen Behandlungen, Stuttgart 2008. 7 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 153. 8 Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 16: Praxis der Psychotherapie, Olten 4 1984, § 293, S. 174. 9 Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten 31982, § 67, S. 49 f. 6

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Durch den Traum hin zum Menschen

Literatur: Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 7: Zwei Schriften über analytische Psychologie, Olten 31982. Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 8: Die Dynamik des Unbewussten, Olten 41982. Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke. Bd. 16: Praxis der Psychotherapie, Olten 41984. Kast, Verena: Die Dynamik der Symbole, Olten 1990. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Ding und Mensch, Frankfurt a. M. 52012. Vogel, Ralf T.: C. G. Jung für die Praxis: Zur Integration jungianischer Methoden in psychotherapeutischen Behandlungen, Stuttgart 2008.

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Endlose Verstrickung? Wilhelm Schapp und Jacques Derrida; zwischen Geschichte(n) und Kontext(en) Verena Häseler

Auf den ersten Blick mag es vielleicht verwunderlich scheinen, eine Brücke zwischen Wilhelm Schapp und Jacques Derrida schlagen zu wollen – doch es gibt signifikante Gemeinsamkeiten im Denken beider, durch die eine vergleichende Betrachtung lohnt. Zunächst erdachten weder Schapp noch Derrida ein System der Philosophie. Beide Denkweisen sind Arten eines offenen Philosophierens, dessen Grenzen sich zunächst schwer – vielleicht gar nicht – erfahren lassen. Und genau hier, an der Frage einer Begrenzung offenen Philosophierens, eines Endes der Offenheit, lohnt eine Betrachtung der beiden doch so unterschiedlichen Denker und ihrem Umgang mit der stetigen Eingebettetheit ihres offenen Philosophierens und Denkens. Der Mensch ist (wesenhaft) in Geschichten und/oder Kontexte ›verstrickt‹. Keine Geschichte steht einzeln für sich, nichts ist ohne Kontext. Jede Geschichte ist Teil einer Geschichte, ist Teil einer Geschichte. Diesem ›Schema‹ folgend, nähern wir uns Wilhelm Schapp. Schapp betrachtet den Menschen als in Geschichten verstricktes Wesen; In-Geschichten-Verstricktsein ist seine anthropologische Grundkonstante, ist das, was den Menschen charakterisiert. Wilhelm Schapp formuliert in In Geschichten verstrickt: »Wir sind der Meinung, dass sich das Menschsein erschöpft im Verstricktsein in Geschichten, dass der Mensch der in Geschichten Verstrickte ist.« 1 Wir können, folgen wir Schapps Gedanken, nie außerhalb von Geschichten sein. All das, was uns ausmacht, findet in der Geschichtenverstricktheit statt, wir sind als Menschen per se in Geschichten verstrickt. Hinzu kommt, dass die Verstrickungen unserer eigenen Geschichte(n) den Horizont dessen überschreiten, was wir erfassen und erfahren können. Es gibt »unübersehbar viele Einzelgeschich1 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 123.

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ten […], so viele wie Sand am Meer« 2. Wir können unsere (Mit-)Verstrickungen nicht zählen, können kaum eine klar von der anderen abtrennen. Unsere eigene Geschichte ist immer auch Teil der Geschichte eines Anderen und vieler anderer. Untrennbar verwoben und unscharf getrennt. Mit Schapp stellt sich die Frage, ob alle (Einzel-) Geschichten zusammengefasst an die Grenzen des gleichen Horizontes stoßen würden, ob also alle Geschichten – alle Geschichten mit jeder Einzelgeschichte – am Ende doch nur Teile einer ganzen Geschichte sein können. Wenn jede Geschichte unzweifelhaft mit endlos vielen weiteren Geschichten verwoben ist – sind die einzelnen Geschichten dann nicht doch nur Kapitel einer großen (Gesamt-)Geschichte? Wilhelm Schapp formuliert in In Geschichten verstrickt: »Wenn jede Geschichte solche Horizonte mit sich führt, so ist die Frage berechtigt, ob schließlich der äußerste Horizont bei allen Geschichten der selbe ist, ob alle Geschichten aus diesem äußersten Horizont auftauchen, so dass es keinen Sinn hätte von zwei Geschichten zu sprechen, die nicht, wenn auch über viele Zwischenglieder, diesen äußersten Horizont als Horizont gemeinsam hätten.« 3

Gibt es also nun einen allen in Geschichten Verstrickten gemeinsamen äußersten Horizont, etwas Allumfassendes? Sind alle Einzelgeschichten verstrickt im großen Ganzen einer Gesamtgeschichte, enden oder beginnen am gleichen Horizont? Jede Einzelgeschichte ist in unzählige, unerfassbare andere Einzelgeschichten mit-eingestrickt und mit ihnen verwoben. Und mit Schapp »können [wir] weiter sagen, dass jede Geschichte, die uns begegnet, uns nur im Horizont unserer Einzelgeschichten und gleichzeitig im Horizont unserer Weltgeschichte begegnen kann. Ein Entwurf einer Geschichte mag noch so kühn sein, er muß sich in diesen Horizont hinein begeben, um Geschichte zu werden.« 4

Es gibt also, Schapp folgend, einen Horizont, in den sich jede Einzelgeschichte hineinfügt. »Jeder ist anders in dieselbe Geschichte ver-

Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. von Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015, S. 204. 3 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 91. 4 Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Joisten, Karen, Schapp, Jan u. Thiemer, Nicole, Freiburg / München 2016, S. 200 [Seitenwechsel; S. 202]. 2

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strickt.« 5 Wie kann man also die Einzelgeschichte losgelöst von der Gesamtgeschichte erfassen, bzw. kann man es überhaupt? »Die Schwierigkeit, die Akzente richtig zu verteilen, wie weit und wie dies alles zur Geschichte gehört, ist ebenso groß wie die Schwierigkeit, den Horizont überhaupt zu fassen, der aber andererseits doch wieder das sicherste zu sein scheint und den Vordergrund trägt. Wir können das auch so ausdrücken, dass die Geschichte nicht in das Nichts hineingestellt ist, nicht aus dem Nichts hervortaucht, sondern mit tausend Wurzeln in der Welt verwurzelt ist, und zwar in eine geschichtliche Welt, die unmittelbar mit der Geschichte mitgegeben ist.« 6

Eine Geschichte steht also nie für sich. Eine Geschichte ist immer viele Geschichten zugleich. Eine Geschichte wird zu der Geschichte, die sie ist, indem sie all ihren Kontext zugleich miterzählt, indem sie ihren Kontext zugleich in sich hineinerzählt, sie in einen Kontext hinein erzählt wird, indem ihre Grenzen eben im dichten wabernden Nebel anderer Geschichten zu erahnen, aber nicht klar auszumachen sind. »In diesem Sinne«, so Schapp, »mögen [auch] immer viele Geschichten, große und kleine, in die wir verstrickt sind, gleichzeitig verlaufen.« 7 Geschichten geschehen nebeneinander her, werden parallel und nebeneinander, synchron und asynchron erzählt und erlebt. Und all ihre Grenzen sind im wabernden Nebel der anderen Geschichten stets nur zu erahnen. Mag man den Beschreibungen Schapps folgen, so erscheint der Mensch als der stets in Geschichten Verstrickte – als der wesenhaft in Geschichten Verstrickte – als bald wie ein bloßer Knotenpunkt im Netz von Verweisungen. Als eine bloße Wegkreuzung der vielen kleinen Geschichten. Als winziger auf viele weitere Geschichten verweisender Verweis. Ist der Mensch bei Schapp ein bloßes in Geschichten verstricktes Verweisen? Die Grundzüge dieses Gedankens erinnern an Gedanken des französischen Philosophen Jacques Derrida. Dieser schreibt in seinem Beitrag Tympanon in dem Sammelband Randgänge der Philosophie über den Text 8: »Kann der vorliegende Text die Randzone einer RandSchapp: Philosophie der Geschichten, S. 202. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 90 f. 7 Ebd., S. 121. 8 Text ist bei Derrida keineswegs als reine Verschriftlichung, als »Text« im engen oder klassischen Sinne zu verstehen. Im Gegenteil: Derrida wendet sich gegen den von ihm sogenannten »Logo- und Phonozentrismus« und schreibt z. B in der Grammatologie (S. 29): »Wir werden zu zeigen versuchen, dass es kein sprachliches Zeichen gibt, das 5 6

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zone werden? Wo ist der eigentliche Text hingeraten, wenn die Randzone nicht mehr eine zweitrangige Leerzone, sondern eine unerschöpfliche Reserve ist?« 9 Mit Schapp gefragt: Kann also die Geschichte die Randzone einer Randzone werden? Wo ist die eigentliche Geschichte hingeraten, wenn die Randzone der Geschichte eben nicht mehr eine hintergestellte Leerzone ist, sondern eine unerschöpfliche Reserve weiterer Geschichten darstellt? Oder wie schon gefragt: Kann ich eine Geschichte klar von einer anderen abtrennen? Was Derrida über das, was er unter Text subsumiert und versteht, formuliert, könnte umformuliert und auf die Geschichten bezogen fast auch von Schapp formuliert worden sein. Für Jacques Derrida ist Text, wie Peter Engelmann in Jacques Derridas Randgänge der Philosophie formuliert, »praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere.« 10

Mit Derrida kann ein ›reiner‹, abgetrennter Kontext eines Textes ebenso wenig gedacht werden wie mit Schapp der ›alleinstehende‹ Kontext einer Geschichte – und zugleich müssen Kontext von Text und Geschichte immer präsent sein. Derrida formuliert in Tympanon weiter, »dass jenseits des philosophischen Textes nicht ein weißer Fleck, eine unberührte, leere Randzone, sondern ein anderer Text beginnt, ein Gewebe von Kraftdifferenzen ohne jedes aktuelle Bezugszentrum.« 11 der Schrift vorherginge.« Da der ›weite‹ (und ›neue‹) Textbegriffs Derridas weit über den klassischen Textbegriff hinaus und diesem zuvor geht, liegt ein Vergleich vom Derridaschen ›Textbegriff‹ und Schapps ›Geschichtenbegriff‹ – in ihrer jeweils heuristischen Definition – nah. Zum Textverständnis von Derrida siehe: Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983; Jacques Derrida: Die différance, in: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte philosophischer Autoren der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 76–111; Jacques Derrida: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ebd., S. 140–164. Engelmann, Peter: Jacques Derridas Randgänge der Philosophie, in: Bernard, Jeff (Hg.): Semiotica Austriaca 9/10, Wien 1987, S. 96–110, hier: S 107 f. 9 Derrida, Jacques: Tympanon, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 13–29, hier: 24. 10 Engelmann: Jacques Derridas Randgänge der Philosophie, S 107 f. 11 Derrida: Tympanon, S. 23.

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Auch mit Schapp lässt sich denken, dass jenseits einer Geschichte, nicht ein weißer Fleck oder eine unberührte, leere Randzone warten, sondern eine weitere Geschichte beginnt. Doch wo bei Derrida »jedes aktuelle Bezugszentrum« fehlt und »der Text […] kein Zentrum [bietet]«, sondern »Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung [ist]« 12, steht bei Schapp doch immer der Mensch als Mittel-, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte(n). Für Schapp gehören Geschichten und In-Geschichten-Verstricktsein so eng zusammen, dass man sie nicht trennen kann, dass sie, so scheint es, ineinander fallen. Derridas Gedanken sperren – ja verweigern – die Verortung oder eine Art Gesamtsinnzusammenhang, wohingegen Schapp den Menschen in einem Sinnzusammenhang verorten kann, eine relative und relationale Stabilität anbietet, der sich die Derridaschen Gedanken entziehen. Engelmann schreibt über Derridas Texte – und somit im weitesten Sinn auch über Derridas »Text«: »[Seine] Texte verlangen nicht nur viel Wissen und den Willen sich auf komplexe Denkwege und Strategien einzulassen. Sie verlangen von uns auch, was womöglich noch schwerer fällt, Sicherheiten und Festpunkte aufzugeben, Denkrisiken einzugehen und uns unbequemen, manchmal beängstigenden Resultaten zu stellen. […] Derrida verunsichert seine Leser aufs Äußerste, weil er ihnen ihre Sicherheit nimmt, ohne ihnen dafür neue, angstberuhigende Festpunkte und Fundamente zu geben.« 13

Laut Engelmann stellt Derrida – wie kein anderer – die Grenzen der Philosophie in Frage, den Rahmen, von dem her sich ihre Identität im Sinne einer Ganzheit mit feststehenden Grenzen ergibt und vielleicht sogar die Grenzen des Menschen und seiner Identität. 14 Mit Schapp hingegen haben wir stabilisierende Geschichten, wie er in Philosophie der Geschichten formuliert: »Jede Geschichte ist mehr oder weniger selbstständig. Sie kann sinnvoll für sich erzählt werden, und doch scheint sie andererseits nur in einem Meer von Geschichten zu schwimmen, in dem sie zugleich ihren Halt hat.« 15 Engelmann: Jacque Derridas Randgänge der Philosophie, S. 108. Ebd., S. 102. 14 »Seine Vorschläge zielen […] nicht auf eine Erneuerung der Philosophie, auf eine ganz neue Philosophie, sondern sie wollen die Position eines Philosophierens unter der Bedingung ausmessen, dass es eine Erneuerung der Philosophie im Sinne einer Philosophie jenseits der Grenzen der bisherigen Philosophie gar nicht geben könne.« (Ebd., S. 102.) 15 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 31. 12 13

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Eine Einzelgeschichte kann wie ein Tropfen in dem Ozean der Allgeschichte erscheinen – und dennoch, so groß und unendlich diese Allgeschichte erscheint, so ist sie im Horizont aller Einzelgeschichten – ein Zusammenhalt. Der Mensch ist als wesenhaft in Geschichten verstricktes Wesen – wie schon erwähnt – »mit tausend Wurzeln in der Welt verwurzelt […], und zwar in eine[r] geschichtliche[n] Welt, die unmittelbar mit der Geschichte mitgegeben ist.« 16 Der Mensch ist also für Schapp nicht verloren und völlig seiner Bezugssysteme beraubt, sondern in seinen Geschichten, in seinen Geschichtenbezugssystemen stabilisiert. Und dort, wo mit Derrida der rettende Horizont nicht mehr zu denken ist, 17 dort bietet Schapp mit seiner Geschichtenphilosophie dem Menschen einen Halt. Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten schließt wie folgt: »Wenn man uns aber fragt, was wir mit unseren Überlegungen bezwecken, […] so mag man das, was wir vortragen für den Entwurf einer Allgeschichte nehmen, in der alle Völker und Kulturen Platz haben. Es würde uns genügen, wenn alle fühlen würden, dass wir alle in einem Boot fahren, etwas mehr als Schiffbrüchige im Nichts und als solche zusammenhalten müssen.« 18

Schapp folgend haben wir alle einen – im weitesten Sinne gemeinsamen – Horizont, der uns Halt gibt, selbst wenn wir ihn nicht als solchen – als Gesamtgeschichte – zu erfassen und erfahren in der Lage sind. Selbst in der Diffusität des Nebels all der unendlichen Einzelgeschichten und ihrer Verwebungen lässt sich der stabilisierende Horizont erahnen, welcher mit Derrida undenkbar wird.

Literatur: Derrida, Jacques: Tympanon, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 13–29. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983.

Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 90 f. »Der geschichtliche Mensch will für die Geschichtlichkeit nicht einstehen und sich vor allem nicht den Abgrund eingestehen, der seine eigene Geschichtlichkeit aushöhlt.« Derrida, Jacques: Den Tod geben, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, S. 331–445, hier: S. 334. 18 Schapp: Philosophie der Geschichten, S. 346. 16 17

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Derrida, Jacques: Die différance, in: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte philosophischer Autoren der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 76–111. Derrida, Jacques: Den Tod geben, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, S. 331–445. Derrida, Jacques: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte philosophischer Autoren der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 140–164. Engelmann, Peter: Jacques Derridas Randgänge der Philosophie, in: Bernard, Jeff (Hg.): Semiotica Austriaca 9/10, Wien 1987, S. 96–110. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten, hgg. v. Karen Joisten und Jan Schapp, Frankfurt a. M. 32015. Schapp, Wilhelm: Auf dem Weg einer Philosophie der Geschichten I, hgg. v. Joisten, Karen, Schapp, Jan u. Thiemer, Nicole, Freiburg / München 2016.

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Diesseits und Jenseits der Sprache – Geschichten als Zugang zur Welt. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie im Kontext Pierre Bourdieus praxeologischer Soziologie Benjamin Schöter Kohärente Deformierung »Eine Bedeutung ist immer dann vorhanden, wenn die Gegebenheiten der Welt durch uns einer ›kohärenten Deformierung‹ unterworfen werden. Jede Konvergenz aller sichtbaren und geistigen Kraftlinien des Bildes auf ein und dieselbe Bedeutung hin, ist in der Wahrnehmung des Malers bereits skizziert.« 1

Nicht nur im Kunstwerk, nicht bloß im Schaffen des Malers zeigt sich das, was Maurice Merleau-Ponty hier eine »›kohärente Deformierung‹« nennt. Über die Pinsel- und Stiftstriche, über die Leinwände und Staffeleien hinweg bedeutet sie ein Einsetzen und Einfallen von Sinn in die Allheit. Als Bedeutung und Sinnverarbeitung kann kohärente Deformierung, wenn es zu einer lebensweltlichen Betrachtung kommt, als eine Notwendigkeit verstanden werden, erforderlich, um Sinn zu generieren und Anschluss an diesen zu gewährleisten, insofern dass immer wieder auf ihn Rückbezug genommen werden kann. Einige Breitengrade nördlicher, zeitlich und inhaltlich jedoch nah an der Feststellung Merleau-Pontys, ist es Wilhelm Schapp, der in ähnlicher Manier diese Deformierungen in seiner Geschichtenphilosophie beschreibt. Den Menschen außerhalb seiner Sinngeflechte zu denken, die Schapp Geschichten nennt, ist ihm nicht möglich. Eine zu fundamentale, ja eine ontologische Dimension weist er den Geschichten und ihren Deformierungen der Gegebenheiten der Welt zu. »Die Frage, was der Mensch oder die Seele gewesen sei, bevor sie in Geschichten verstrickt war«, erübrigt sich, ist doch das »In-Geschichten-Verstricktsein die Grundlage für jede Rede von Mensch Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 132–133.

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oder Seele« 2. Nie ist der Mensch außerhalb seiner Geschichten, nie kann er ohne sie gedacht werden – spinnen doch diese das Netz, bilden sie die Vorzeichen, unter welchen Welt erlebt, eingeordnet und gestaltet werden kann. Diese Auffassung vom Menschen und seiner Erkenntnis weisen Schapp und seine Philosophie – entgegen dem gewohnten Dualismus der Kontroverse um Erklären oder Verstehen – nicht eindeutig einer der beiden Seiten zu. Versteht man die Geschichtenphilosophie als fundamentale Ontologie, so mag ihr ein gewisser Erklärungsanspruch anhaften, beschreibt sie doch das Geschehen menschlicher Geschichtenpraxis vor dem Hintergrund ihrer eigenen historischen Position und Verwobenheit makroperspektivisch. Gleichzeitig aber bedeutet uns Schapp mit der Geschichtenphilosophie, dass, um den Menschen in seiner Welt, seinem Gefüge und seiner Zeit betrachten zu können, die Perspektive des Verstehens unerlässlich ist – bietet sie doch sowohl dem Beobachter als dem Beobachteten den einzigen Zugang zur Erfahrung von Welt. Diese Möglichkeit des Zugangs zur Welt über Geschichten verweist gleichzeitig jedoch auf das Bestehen epistemischer Grenzen. Auf die Tatsache, dass die Geschichten, mit denen wir unsere alltägliche Existenz verbringen, keineswegs beliebig sind, weist Alheit 3 hin. Unter linguistischen Gesichtspunkten setzen sie neben einer sprachlichen Fähigkeit auch Regeln der Kommunikation, Regeln des verstehenden Sprechens voraus. Seine These jedoch, wonach Lebenswelten »nicht bloß aus Geschichten« bestehen 4 und es vielmehr Deutungsschemata gebe, die sich längst von den Geschichten gelöst haben, Wilhelm Schapp somit nur einen Teil der »Wirklichkeit« 5 erfasse, rezipiert nur einen Teil des Schappschen Werks. Die »Wozudinge« lässt Alheit außer Acht, dabei sind diese doch für Schapp die »Nahtstelle zwischen den Geschichten und der Außenwelt« 6. Die Geschichten fungieren in diesem Sinne nicht ausschließlich als anekdotische Erzählungen. Sie subsummieren weit mehr als einen bloßen »Schwank aus dem Leben« unter sich. Indem sie die Wozudinge in den menschlichen Sinnzusammenhang einflechten, 2 Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012, S. 160. 3 Alheit, Peter: Geschichten und Strukturen. Methodologische Überlegungen zur Narrativität, in: Zeitschrift für Qualitative Forschung 8 (2007), S. 75–96. 4 Ebd., S. 80. 5 Ebd. 6 Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 3.

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konnotieren sie Elemente der Außenwelt mit menschlichem Leben – eben mit Geschichten. Wenn Schapp seine Geschichtenphilosophie in der eingangs beschriebenen Konsequenz verfolgt, dass die gesamte subjektive Lebenswelt des Menschen durch Geschichten vermittelt ist, ist eine Konkretisierung dieser Philosophie an den Stellen erforderlich, wo sie undeutlich erscheint. Das obige Beispiel der Interpretation Alheits scheint hier deshalb ein wichtiger Anhaltspunkt, um das Verhältnis zwischen Geschichten, Wozudingen und menschlicher Praxis zu vertiefen. Hierfür soll die Philosophie Schapps einer Lesart unterzogen werden, die sich auf die lebensweltlichen Implikationen fokussiert, die sein Werk aufwirft. Geeignet hierfür erscheint besonders die Soziologie Pierre Bourdieus – ist sie doch möglicherweise in der Lage aufzuzeigen, dass die Existenz der Wozudinge in Geschichten bedeutet, dass sowohl Geschichten als auch ihre Wozudinge jenseits des konkreten Erzählens, des gegenwärtigen Sprechens, in der Konnotation der Außenwelt Beständigkeit haben.

Die praxeologische Soziologie Bourdieus und das Konzept des Habitus Pierre Bourdieu, 1930 geboren und 2002 verstorben, studierte Philosophie, wurde jedoch für seine praxeologische Soziologie über die akademische Welt Frankreichs hinaus bekannt. Dass Grenzen zwischen Philosophie und Soziologie zuweilen verschwimmen mögen, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass er Teile seiner theoretischen Soziologie aus der Philosophie entnimmt. So findet das Konzept des Habitus, welches in diesem Aufsatz besondere Beachtung erfahren soll und Bourdieus Soziologie über weite Strecken maßgeblich beeinflusst, bereits Erwähnung bei Aristoteles 7 und Thomas von Aquin 8. Zugleich – und das mag dieser Aufsatz bezeugen – ist seine Soziologie höchst implikativ für eine philosophische Ontologie, eine Hermeneutik und Epistemologie. Im Folgenden wendet sich der Aufsatz diesen Schnittmengen zu, die sich besonders im Konzept des Habitus und

Vgl Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, neu hg. v. Rainer Nickel, Düsseldorf 2001, 1103b. 8 Vgl. Krais, Beate/Gebauer, Gunter: Habitus, Bielefeld 62013, S. 26. 7

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der Formen der Kapitalsorten, die Bourdieu formuliert, manifestieren. Es gilt nun, beide zu erläutern. Die aristotelische Verwendung des Begriffs der Hexis, der festen Grundhaltung im Sinne der Beständigkeit einer ethischen Tugend 9 und dessen Abwandlung durch Thomas, der den Begriff unter dem lateinischen Habitus wieder aufnimmt und ihn als »zuständliche Eigenschaft, dauerhafte Anlage eines Dinges zu etwas« 10 definiert, dienen Bourdieu als Fundament für ein Konzept praxeologischer Soziologie, die er Zeit seines Lebens erweitert. Praxeologie bedeutet in diesem Fall eine Theorie menschlichen Handelns, die dieses Handeln unter dem Gesichtspunkt sozialer Strukturen untersucht. Im Mittelpunkt stehen hierbei – philosophisch gesprochen – die subjektive Erkenntnis von Welt, das heißt zum Beispiel die durch Sozialisation vermittelte Auffassung, wie das Dasein im Sinne der jeweiligen Lebenswelt aufzufassen ist. Wesentlich und ausschlaggebend dafür sind die Ressourcen von Bildung, Geld und Einfluss. Diese variabel zur Verfügung stehenden Ressourcen nennt Bourdieu Kapital bzw. Kapitalsorten. Obwohl er den Begriff des Kapitals im Anschluss an Marx wählt, ist er nicht rein ökonomisch aufzufassen, vielmehr umschließt er auch die Bereiche Politik, Kunst, Beruf, Freundschaft, Religion usw. Kapital ist elementar für die ›Spielchancen‹ im sozialen Raum. 11 Explizit benennt Bourdieu vier Kapitalsorten, deren quantitative Verfügbarkeit und qualitative Beschaffenheit zu großen Teilen vom Elternhaus abhängen: ökonomisches, soziales, symbolisches und kulturelles Kapital. Ökonomisches Kapital bezeichnet die hauptsächlich monetären Ressourcen, also etwa Einkommen und Vermögen, die einem Akteur, wie Bourdieu den Menschen nennt, verfügbar sind. Soziales Kapital äußert sich in Beziehungen zu für die eigenen Absichten einflussreichen Personen und Gruppen, in Kontakten, die einem zum Vorteil werden können. Grundsätzliche Anerkennung, Prestige, Ehre und ein guter Ruf sind tragende Elemente symbolischen Kapitals. Kulturelles Kapital schließlich akkumuliert der Akteur etwa in Form der Vermittlung spezifisch kultureller Interessen durch das Elternhaus. Die Entscheidungen, ob Schlager-, Pop- oder Kammermusik präferiert werden, ob Kunstrezeption abstrakt oder Ebd. Ebd. 11 Vgl. Feldmann, Klaus: Soziologie kompakt. Eine Einführung, Wiesbaden 42006, S. 55. 9

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konkret vonstatten zu gehen hat, ob der eine Kleidungsstil dem anderen gegenüber bevorzugt wird, gehören ebenso zum kulturellen Kapital wie das akkumulierte Wissen zu Politik, Kunst, Geschichte und dergleichen mehr. Dass gewisse Geschmackspräferenzen hinsichtlich des Konsums und der Rezeption etwa von Malerei und Musik mit Einkommen, Bildungsabschluss und Beruf auch empirisch korrelieren, stellt Bourdieu in seiner viel rezipierten Studie Die feinen Unterschiede dar. 12 Die empirische Sozialforschung hat seitdem im Rekurs auf Bourdieu zahlreiche Analogien zwischen Bildung, Familie und spezifischen damit verknüpften Sachverhalten untersucht. So schreibt etwa Büchner in einer Studie zur Tradierung von Bildung in Familien, dass sich »Bildung […] im Familienalltag über die Reziprozität der gelebten familialen Generationenbeziehungen und die Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens [vollzieht] und […] die Aneignung der Grundvoraussetzungen für den Zugang zur sozialen und kulturellen Welt [befördert].« 13 Die Vermittlung eines Grundverstehens, eines basalen epistemischen Zugangs zur Welt erfolgt durch Erziehung und die gegenseitige Interaktion in der Familie, die neben der Schule, dem Beruf oder dem Freundeskreis zumeist den am längsten persistierenden Rück(be)zugsort bildet. Rückzug und Rückbezug meinen hier neben der leiblich-physischen Rückkehr auch den emotional-sprachlichen Rekurs auf das Elternhaus. Das bedeutet nicht, dass eine alleinige habituelle Konstitution vom Elternhaus und der Familie ausgeht – spielen doch, ganz besonders in Zeiten der Ganztagsschule, auch Bildungsinstitutionen und daraus resultierende soziale Kontakte eine wesentliche Rolle. Mit dem Eintritt in die Schule ist jedoch bereits eine familiäre Prägung und ein entsprechendes, mitunter Benachteiligungen evozierendes Verhalten der Kinder besonders der unteren Schichten zu erkennen: »Die Vorstellung der Lehrerinnen und Lehrer, wie sich Schüler zu verhalten haben, weicht besonders deutlich vom aktuellen Verhalten vieler Jungen aus den unteren Schichten ab […]« 14, bemerkt Quenzel. Auffallend häufig scheinen auch ein Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 241987. 13 Büchner, Peter: Der Bildungsort Familie, in: Büchner, Peter/Brake, Anna (Hgg.): Bildungsort Familie. Transmission von Bildung und Kultur im Alltag von Mehrgenerationenfamilien, Wiesbaden 2007, S. 21–47, hier: S. 41. 14 Quenzel, Gudrun: Das Konzept der Entwicklungsaufgaben zur Erklärung von Bil12

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niedriger sozialer Status mit einem abweichenden, mitunter etwa in der Schule zu Benachteiligung führendem Verhalten, empirisch zu korrelieren. Auch in Hinblick auf Gesundheitsvorsorge und -verhalten lassen sich Unterschiede zwischen verschiedenen soziokulturellen Hintergründen erkennen. Sting 15 verdeutlicht, dass der Arztbesuch von Kindern stark von den Krankheitskonzepten der Eltern abhängig ist, diese als »Schlüsselfiguren« 16 fungieren, wenn es um das Erkennen gesundheitlicher Auffälligkeiten geht. Dass materielle Aspekte und diverse Formen der Bildung dabei eine Rolle spielen, verdeutlicht auch sein Rekurs auf eine britische Studie, wonach Kinder der untersten sozialen Klasse im Gegensatz zur höchsten einem viermal so hohen Risiko, einen tödlichen Unfall zu erleiden, ausgesetzt sind. 17 Die vorzeitige Sterblichkeit bei Langzeitarbeitslosen ist im Vergleich zu Berufstätigen zudem um den Faktor 3,5 erhöht. Schwache emotionale Bindung zu den Eltern im Kindes- und Jugendalter, ein inkonsistenter oder gewalttätiger Erziehungsstil oder Vernachlässigung steigern die Wahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens. 18 Dieser kurze Rekurs auf die empirische Sozialforschung, der um ein erhebliches in die Länge gezogen würde, wollte man möglichst viele Facetten von Bourdieus Kapitalkonzept hier veranschaulichen, mag genügen, um ein grundlegendes Verständnis von Bourdieus Kapitaltheorie zu erlangen und damit auch die Funktionsweise des Habitus nachzuvollziehen, ist dieser doch die inkorporierte Form, die in den Körpern verankerte Manifestation sozialer Konstitution. In einer Abwandlung von Proust lässt sich sagen: Arme und Beine sind voller verborgener Imperative. »Als Vermittlungsglied zwischen der Position oder Stellung innerhalb des sozialen Raumes und spezifischen Praktiken, Vorlieben, usw. fungiert das, was ich ›Habitus‹ nenne, das ist eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt« 19, sagt Bourdieu dungsmisserfolg, in: Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hgg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten, Wiesbaden 2010, S. 123–136, hier: S. 134. 15 Vgl. Sting, Stephan: Gesundheit, in: Ecarius, Jutta (Hg.): Handbuch Familie, Wiesbaden 2007, S. 480–499, hier: S. 489. 16 Ebd. 17 Vgl. ebd., S. 487–488. 18 Vgl. z. B. Thomas, Jürgen et al.: Familie und Delinquenz, in: Kölner Zeitschrift Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 310–326. 19 Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur, Hamburg 2005, S. 31.

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und betont auch die exkludierende Funktion verschiedener Habitus: »Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist.« 20 Der Habitus ist ein System von Grenzen. Er verwehrt gewisses Verhalten, als Disposition eines Akteurs gegenüber der Welt beschränkt er seine Erkenntnis. Er ist gewissermaßen ein reziprokes Konglomerat, eine Triade aus Materialität, (sozialer) Symbolik und eigener Leiblichkeit. Die Manifestationen der verschiedenen Kapitalformen im Bewusstsein und Verhalten sind konstituierender Bestandteil eines Habitus. Mit ihm als Mechanismus generativer Grammatik 21 verfügen die Akteure über »ein System generativer Strukturen, das unbegrenzt viele Äußerungen erzeugen kann« 22. Bourdieu, der seine Soziologie als »konstruktivistischen Strukturalismus« 23 beschreibt, um die Unabhängigkeit des Habitus von den konkreten Akteuren zu betonen, widmet seine Aufmerksamkeit neben diesen prinzipiellen, fundamentalen Annahmen seiner Soziologie der Aufdeckung den Verborgenen Mechanismen der Macht, wie es einer seiner Buchtitel im Deutschen bereits darlegt. Das bedeutet, dass sich seine Arbeit auf die geringe Durchlässigkeit des sozialen Raumes hinsichtlich der Gleichstellung derjenigen konzentriert, deren habituelle Ausgangsvoraussetzungen keine große Aussicht auf sozialen oder ökonomischen Erfolg – wie immer auch geartet – versprechen. Im Sinne seines konstruktivistischen Strukturalismus weicht auch Bourdieus Verständnis, was Biographie bedeuten kann, von einem gängigen, kohärenten Bild des Nacherzählens immer schon angelegter Meilensteine im Lebenslauf ab. »Die Lebensgeschichte ist ein common sense-Begriff, der in das wissenschaftliche Universum eingeschmuggelt wurde« 24, heißt es in seinem kontroversen Aufsatz Die biographische Illusion. Dieser common sense beschreibe das Leben als eine Straße samt Kreuzungen, als gerichtete Reise mit Beginn

Ebd., S. 33. Eine Begrifflichkeit, die Bourdieu Noam Chomsky entlehnt, sie jedoch anders definiert. 22 Krais/Gebauer: Habitus, S. 32. 23 Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort, Frankfurt a. M. 31992, S. 132. 24 Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion, in: Fetz, Bernhard/Hemecker, Wilhelm (Hgg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin / New York 2011, S. 303–310, hier: S. 303. 20 21

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und Ende, linear, ausschließlich in eine Richtung führend. Das Ende kann hier neben dem Tod auch einen biographischen Endpunkt bedeuten, etwa den, immer schon darauf ausgerichtet gewesen zu sein, eine spezifische Karriere zu machen, eine gewisse soziale Stellung zu erreichen usw. Mit dieser Auffassung von Biographie als gerichtetem Geschehen gehe, so fügt Bourdieu hinzu, eine spezifische Philosophie einher, die »mit einer bestimmten Theorie der Erzählung impliziert ist« 25. Eine historische Erzählung und ein prädisponierter Ablauf eines Romans oder Dramas klassischer Art seien unter diesen Gesichtspunkten wesensgleich. Es verwundert daher nicht, dass Bourdieu im Rekurs auf Autoren wie Faulkner oder Proust veranschaulicht, dass der moderne Roman vom Telos in der Erzählung Abschied genommen habe. Gerade am Beispiel Faulkners, der mittels der Technik des Bewusstseinsstroms in der Ich-Perspektive vermeintlich identische Sachverhalte nacheinander von verschiedenen Personen erzählen lässt, wird deutlich, dass Biographie für Bourdieu nicht nur etwas Kontingentes, etwas Zufälliges ist, sondern auch maßgeblich aus der Rhetorik des Erzählenden und seiner bewussten und unbewussten Färbung der Lebensereignisse heraus entsteht. »Der Neigung, sich zum Ideologen seines Lebens zu machen«, komme eine gewisse »natürliche Komplizenschaft des Biographen entgegen, der […] geneigt ist, diese künstliche Sinnschöpfung zu akzeptieren.« 26 Sowohl Erzähler wie Biographen setzen damit Akzente, müssen Akzente setzen, wollen sie die Lebensgeschichte zu einem einheitlichen Gebilde hin formen, zu einer Existenz gestalten, deren Sinn sich durch die Erzählung erhellen und entbergen soll. »Vielleicht huldigt man überhaupt nur einer rhetorischen Tradition, […] die von einer ganzen literarischen Tradition unablässig verstärkt wurde« 27, gibt Bourdieu zu bedenken. Die Lebensgeschichte und ihre Meilensteine werden auch durch den Habitus zu dem, was erzählt wird. Das gilt nicht ausschließlich für den Akteur, der einem Biographen diese Darstellung zu Protokoll gibt. Diese vom Habitus abhängige Sinnsetzung, die sich durch ihre Welt selbst konstituiert, gewissermaßen in Teilen mit sich selbst rückkoppelt, ist notwendige Hermeneutik der Lebenswelt. Der Habi-

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Ebd. Ebd., S. 304 f. Ebd., S. 305.

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tus fungiert im Sinne Wilhelm Schapps als »Nahtstelle zwischen den Geschichten und der Außenwelt« 28.

Ausblick Wieweit reicht die Dimension, die Wilhelm Schapp als das Verstricktsein in Geschichten bezeichnet? Für ihn ist sie gewiss ultimativ – ohne Geschichten ist der Mensch nicht zu denken. Damit ist die Tragweite des Begriffes zwar theoretisch – durch Schapp selbst – festgelegt, ihre Dimensionen jedoch sind dadurch nicht unbedingt ergiebig erschlossen. Um ihr Ausmaß daher abseits der reinen Erzählung, der Anekdote und des Geredes zu fassen, um die Bedeutung der Wozudinge weiter zu umreißen, ist die Abstraktion von der Geschichte als bloßem Reden unbedingt erforderlich. Das Verinnerlichen der Geschichten, ihre Inkorporation, trägt sie jenseits der Sprache in die Praxis des Handelns, trägt sie in den Körper, der sich durch sie, stumm oder sprechend, zur Welt verhält, sie denkend, sprechend und schweigend, sie deutend begreift. Die Betonung liegt auf dem Begreifen und Handeln durch die Geschichten. Damit wird klar, dass die aktiven Anteile des produktiven Verarbeitens von Welt durch den Menschen zwar aus ihm heraus geschehen, er aber in keinster Weise alleiniger Autor seines Wirkens ist. Die Auffassungen von Gesundheit, Kultur oder Politik, der Zugang zu ihnen, fußen sie nicht in Geschichten? Ist Schweigen nicht auch Geschichte? Auch wenn mit dem Terminus der Geschichten immer eine gewisse Rekursivität verbunden ist – suggeriert er doch auch die Narration im Rückblick auf etwas – ist es, so die These, falsch, sich von dieser vermeintlichen narrativen Ausschließlichkeit im Hinblick oder Rückblick auf etwas in die Irre führen zu lassen. Geschichten können auch unmittelbar entstehen, können Schweigen sein. Ein simples Umschalten des Radiosenders von einem Informationsprogramm auf Popularmusik, ein gleichgültiges Schweigen oder gar die Abwesenheit der Mutter oder des Vaters, deren Kind sich durch unvorsichtiges Handeln in eine Gefahr bringt – sind diese nicht-sprachlichen Äußerungen ex negativo nicht trotzdem Regungen, die eine Geschichte bilden, sie gewissermaßen auch erzählen? Gerade das bestärkt Bourdieu, indem er die Geschichten und Wo28

Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 3.

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zudinge, die Verstrickungen des Akteurs in sie durch eine strukturalistische Dispositionstheorie näher beleuchtet. Der Habitus ist diese Verinnerlichung der Dispositionen, der sprachlichen und nichtsprachlichen Geschichten. Er trägt diese in die Praxis, in das Handeln hinein. Die Geschichten, die wir uns untereinander aktiv erzählen, sind demnach mehr als das bloße Austauschen von Informationen mit der Hoffnung, neue Informationen aus beiden Aussagen zu schöpfen. Im Erzählen besteht immer eine Dimension dessen, was sich ausspricht durch das, was nicht explizit ausgesprochen wird. Das meint in diesem Fall zweierlei. Dem mehr oder minder sensiblen Zuhörer offenbart sich einerseits eine Dimension, die anzeigt, was dem Gesprächspartner verwehrt ist – welche Perspektive, welcher Zugang, welcher Umgang mit einem Sachverhalt. Das Nichtansprechen oder das sehr subjektive Betrachten einer Begebenheit offenbart dem Zuhörer die blinden Flecke seines Gegenübers und markiert damit den zutiefst menschlichen Mangel, seine lebensweltliche Verortung, seine nicht erreichbare Allwissenheit. Andererseits hegt Erzählung, hegen Geschichten und Lyrik gleichsam wie Romane und auch Fachliteratur etwas auszusagen, was sich nur in der Gesamtheit ihrer Rezeption indirekt ausspricht; unter den Wörtern soll sich etwas konkretisieren, das alleine durch sie nicht fassbar ist. Auch hier wird die Dimension dessen deutlich, was dieser Aufsatz unter der nicht-sprachlichen Dimension Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie versteht. Mehr als eine grobe Skizze ist dies freilich nicht, es bedarf zukünftig weit längerer sprachphilosophischer Ausführungen zum Verhältnis von Geschichten innerhalb und außerhalb konkreten Sprechens, liegt doch in einer solchen Analyse zum Verhältnis zwischen Sprache, Leib und Lebenswelt ein großer Teil dessen, was das Werks Wilhelm Schapps auch zukünftig weiter fruchtbar machen könnte.

Literatur: Alheit, Peter: Geschichten und Strukturen. Methodologische Überlegungen zur Narrativität, in: Zeitschrift für Qualitative Forschung 8 (2007), S. 75–96. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, neu hg. v. Rainer Nickel, Düsseldorf 2001.

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Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion, in: Fetz, Bernhard/Hemecker, Wilhelm (Hgg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin / New York 2011, S. 303–310. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 241987. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur, Hamburg 2005. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort, Frankfurt a. M. 31992. Büchner, Peter: Der Bildungsort Familie, in: Büchner, Peter/Brake, Anna (Hgg.): Bildungsort Familie. Transmission von Bildung und Kultur im Alltag von Mehrgenerationenfamilien, Wiesbaden 2007, S. 21–47. Feldmann, Klaus: Soziologie kompakt. Eine Einführung, Wiesbaden 42006. Krais, Beate/Gebauer, Gunter: Habitus, Bielefeld 62013. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 12003. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Quenzel, Gudrun: Das Konzept der Entwicklungsaufgaben zur Erklärung von Bildungsmisserfolg, in: Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hgg.): Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten, Wiesbaden 2010, S. 123–136. Sting, Stephan: Gesundheit, in: Ecarius, Jutta (Hg.): Handbuch Familie, Wiesbaden 2007, S. 480–495. Thomas, Jürgen et al.: Familie und Delinquenz, in: Kölner Zeitschrift Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 310–326.

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