Die Religionen Chinas 9783825232603, 9783525036365, 3825232603

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Die Religionen Chinas
 9783825232603, 9783525036365, 3825232603

Table of contents :
Die Religionen Chinas
Inhalt
Einführung
Karte von China
I. Die Religionen in der chinesischen Geschichte
1. Frühe Geschichte bis zum 8.Jh. v.Chr.
2. Die klassische Periode (8.–3.Jh. v.Chr.)
3. Die ersten kaiserlichen Dynastien: Qin (221–206 v.Chr.) und Han (206 v.Chr.–220 n.Chr.)
4. Religiöse Entwicklungen vom 3. bis zum 6.Jh.
5. Die Tang-Dynastie (618–907)
6. Die Song-Dynastie (960–1279)
7. Die Yuan-Dynastie (1279–1368)
8. Die Ming-Dynastie (1368–1644)
9. Die Qing-Dynastie (1644–1911)
10. Die Republikzeit (1912–1949)
11. 1949 bis heute
II. Strukturen, Systeme und Themen in der chinesischen Religionsgeschichte
1. Religiöser Pluralismus: Die Drei Lehren
2. Die „Fremdreligionen“: Christentum und Islam
3. Religion und Sozialstruktur
4. Elementare Formen religiöser Kommunikation: Opfer, Schamanismus und Divination
5. Religion in Kunst und Literatur
Literatur
Index

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UTB 3260

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Philip Clart

Die Religionen Chinas

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Philip Clart ist Professor für die Kultur und Geschichte Chinas an der Universität Leipzig.

Mit 9 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3260-3 (UTB) ISBN 978-3-525-03636-5 (Vandenhoeck & Ruprecht)

© 2009 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Gesamtherstellung: h Hubert & Co, Göttingen ISBN 978-3-8252-3260-3 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Religionen in der chinesischen Geschichte . . . . . . . . 17

1. Frühe Geschichte bis zum 8. Jh. v.Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Die klassische Periode (8.–3. Jh. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Die ersten kaiserlichen Dynastien: Qin (221–206 v. Chr.) und Han (206 v. Chr.–220 n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Religiöse Entwicklungen vom 3. bis zum 6. Jh. . . . . . . . . . . . 68 5. Die Tang-Dynastie (618–907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6. Die Song-Dynastie (960–1279) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 7. Die Yuan-Dynastie (1279–1368) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 8. Die Ming-Dynastie (1368–1644) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 9. Die Qing-Dynastie (1644–1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 10. Die Republikzeit (1912–1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 11. 1949 bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Strukturen, Systeme und Themen in der chinesischen Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

1. Religiöser Pluralismus: Die Drei Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1.1 Der Konfuzianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1.2 Der Daoismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

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Inhalt

1.3 Der Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Die „Fremdreligionen“: Christentum und Islam . . . . . . . . . 164 2.1 Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.2 Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Religion und Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.1 Götter, Geister, Ahnen und Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.2 Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3.3 Ortsgemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3.4 Der Staat und die Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4. Elementare Formen religiöser Kommunikation: Opfer, Schamanismus und Divination . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4.1 Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4.2 Schamanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.3 Divination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5. Religion in Kunst und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Einführung

Eine Einführung in die Religionsgeschichte Chinas ist in Ansatz und Aufbau naturgemäß anders geartet als diejenigen Beiträge in der vorliegenden Reihe „Studium Religionen“, die sich mit einer „Gründerreligion“ wie dem Christentum, dem Buddhismus und dem Islam befassen oder auch mit nationalen religiösen Traditionen wie dem Judentum oder dem Hinduismus. Im Falle Chinas liegt das Augenmerk nicht auf einer einzelnen religiösen Tradition, sondern vielmehr auf der Koexistenz und Interaktion mehrerer Lehren, sowohl indigener (Konfuzianismus, Daoismus), wie auch von außen kommender (Buddhismus, Christentum, Manichäismus, Islam). Im chinesischen Sprachgebrauch werden davon der Konfuzianismus, der Daoismus und der Buddhismus als die „Drei Lehren“ (sanjiao) hervorgehoben, die zusammen das geistige Erbe Chinas verkörpern. Jede Einführung in die chinesische Religionsgeschichte wird daher diesen drei Traditionen besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Hier bildet die vorliegende Darstellung keine Ausnahme. Im nächsten Schritt stellt sich dann aber die Frage nach der angemessenen Darstellung des Zusammenspiels dieser Drei Lehren, die sich im Laufe der Geschichte in vielfältiger Weise gegenseitig beeinflussten, aber auch bewusst voneinander abgrenzten. Wie wird man gleichzeitig dem Eigengewicht jeder Lehre sowie ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten gerecht? Die Antwort darauf hängt u. a. davon ab, welche Position der Autor in einer der Grundsatzdebatten der sinologischen Religionsforschung bezieht. Diese betrifft die relative Gewichtung von Einheit und Vielfalt in der chinesischen Religionsgeschichte und kommt im Sprachgebrauch darin zum Ausdruck, dass die einen von einer chinesischen Religion sprechen, während andere den

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Einführung

Plural bevorzugen und lieber die Religionen Chinas behandeln.1 Die empirische Realität entzieht sich jedoch einer klaren „entweder-oder“Konzeptualisierung. Sowohl in diachronischer wie in synchronischer Perspektive finden sich die separaten Traditionen einerseits in stetigem Austausch miteinander, andererseits eingebettet in die weitgehend nicht traditionsspezifische Religionskultur der fundamentalen Sozialformen (Familie, Ortsgemeinde, Staat). Einheit und Vielfalt sind zwei Seiten derselben chinesischen Münze und jedes Lehrbuch muss sich der Herausforderung stellen, beiden Perspektiven angemessenen Raum zu gewähren. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dieser Anforderung zu entsprechen;2 der vorliegende Band versucht, seiner Thematik durch die Aufteilung in einen historischen und einen systematischen Teil gerecht zu werden. Ersterer bietet einen chronologischen Abriss der chinesischen Religionsgeschichte, letzterer fasst die in der historischen Übersicht bereits angesprochenen Kernthemen in knappen Abhandlungen zusammen und hebt ihre Grundzüge und Bedeutung für das Gesamtbild der chinesischen Religiosität hervor. Somit liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Kontextualisierung, d. h. auf der Einbettung allen religiösen Handelns und aller religiösen Sinngebung im gegebenen historischen und soziokulturellen Zusammenhang. Was ein solcher Ansatz naturgemäß nicht leisten kann, ist eine tiefergehende Behandlung einzelner Traditionen. Der Leser mit einem besonderen Interesse an einer bestimmten religiösen Tradition Chinas ist daher gut beraten, nach Lektüre dieses Bandes auf spezialisierte Einführungen zu der jeweiligen Religion zurückzugreifen. Verweise auf die entsprechende weiterführende Literatur finden sich in den Fußnoten. Bei der Literaturauswahl wurden in der Regel neuere Publikationen bevorzugt, um dem Leser den Zugang zum aktuellen Forschungsstand zu erleichtern. Die Darstellung wird ergänzt durch eine Anthologie von übersetzten Primärquellen in einem als E-Book verfügbaren Reader, auf welche je1 Siehe dazu FREEDMAN, Maurice, On the Sociological Study of Chinese Religion, in SKINNER, G. William (Hg.), The Study of Chinese Society. Essays by Maurice Freedman, Stanford 1979, 351–369. 2 Für Beispiele siehe andere deutschsprachige Einführungen in die chinesische Religionswelt: EICHHORN, Werner, Die Religionen Chinas, Stuttgart 1973; MALEK, Roman, Das Tao des Himmels. Die religiöse Tradition Chinas, Freiburg 1996; REITER, Florian, Religionen in China. Geschichte, Alltag, Kultur, München 2002.

Einführung

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weils verwiesen wird. Zur besseren Orientierung folgt auf diese Einleitung eine Zeittafel der chinesischen Geschichte sowie ein Ausspracheschlüssel für die hier verwendete Pinyin-Umschrift, das offizielle System der Volksrepublik China für die Latinisierung der chinesischen Zeichenschrift. Aussprache chinesischer Namen und Begriffe Dieses Buch verwendet die offizielle Lateinumschrift der Volksrepublik China, das sogenannte Hanyu Pinyin-System (wörtlich: „chinesische Lautschrift“). Pinyin ist mittlerweile auch zum Standard in der wissenschaftlichen Literatur geworden, wenn auch noch vereinzelt andere Umschriftsysteme verwendet werden. In der älteren Literatur trifft man häufig auf ältere Lateinumschriften, hauptsächlich auf das WadeGiles-System sowie auf ältere französische und deutsche Umschriften. So wird der Name eines bedeutenden daoistischen Philosophen des 4.Jh. v.Chr. in der Pinyin-Version „Zhuangzi“ geschrieben. Die WadeGiles-Version ist „Chuang-tzu“, während ältere deutsch- und französischsprachige Abhandlungen „Dschuang Dsï“ oder „Tchouang-tseu“ verwenden. Alle auf der lateinischen Schrift basierenden Umschriftsysteme ersetzen die chinesischen Schriftzeichen durch eine alphabetische Wiedergabe ihres Lautwerts in der modernen Hochsprache, dem sogenannten „Mandarin“. Dies ist nicht der Lautwert, den die Schriftzeichen vor 1500, 2000 oder 2500 Jahren hatten; Meister Zhuang sprach seinen Familiennamen ganz anders aus als die moderne Aussprache des für ihn verwendeten Schriftzeichens 嘙. Die nicht unmittelbar die Aussprache wiedergebenden Schriftzeichen konnten so trotz signifikanter Änderungen in der gesprochenen Sprache die Jahrtausende überdauern und sogar eine semantische Brücke zu Nachbarvölkern wie Korea und Japan bauen, deren Sprachen nicht mit dem Chinesischen verwandt sind, aber ebenfalls durch die von der Aussprache relativ unabhängige Zeichenschrift schriftlich wiedergegeben werden können. Leider ist die Pinyin-Umschrift nicht speziell auf die Bedürfnisse des deutschsprachigen Lesers zugeschnitten. Daher sollen ein paar Aussprachetipps helfen, eine Annäherung an die chinesischen Lautwerte zu erreichen. Die folgende Liste beschreibt nur solche Buchstaben und Buchstabenkombinationen, deren Aussprache vom deutschen Gebrauch deutlich abweicht.

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Einführung

Pinyin

Aussprache

c ch h j q r s sh w x y z zh

ts, tz tsch wie ch in lach en zwischen dj und dch zwischen tj und tch zwischen franz. j und engl. r ß ähnlich sch wie engl. w ähnlich ch in ich j ds (stimmhaft) ähnlich engl. j, dt. ähnlich dsch wie in Dsch ungel (stimmhaft)

ao an e

au wann ; vor g: Hang; nach i oder y: Ambien te meist kurz und offen gesprochen (baue); nach i oder y geschlossen (wie langes ä) wie engl. ay (way ) wie engl. err unbetonter Auslaut [Ǩ] nach z, c, s , zh , ch , sh und r ; geschlossenes i vor n ; ähnl. j vor Vokalen je nach Kontext kurzes oder langes offenes o ung wie in engl. no geschlossenes u (Bu ch); kurz und offen, vor Vokalen in engl. w übergehend; nach j, q, x, y als ü gesprochen

ei er i o ong ou u

Zeittafel der chinesischen Geschichte Die wissenschaftliche Literatur zur chinesischen Geschichte folgt in der Regel der traditionellen Einteilung der Chronologie in Dynastien und andere Perioden, die nach dem politischen Kriterium der Herrschaft voneinander abgegrenzt werden. Diese Dynastienfolge liefert einen einfach zu handhabenden historischen Referenzrahmen und wird daher auch für die Gliederung des vorliegenden Bandes verwendet. Die Übersicht mag dem Leser bei der Orientierung behilflich sein.

Einführung

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Dynastie oder Daten Zeitalter

Ausgewählte Vergleichsdaten der Weltgeschichte

Xia (legendär)

traditionell: ca. 2200–1750 v. Chr.

Shang

Zhou

ca. 1600–1045 v. Chr. (traditionell: 1766–1122 v. Chr.) ca. 1045–256 v. Chr.

Qin

221–206 v. Chr.

Frühere Han

206 v.Chr.–9 n.Chr.

Spätere Han

23–220

– Mittleres Reich in Ägypten, ca. 2010–1793 v. Chr. – Altbabylonisches Reich, ca. 1893–1595 v. Chr. – Zweite Zwischenzeit und Neues Reich in Ägypten, 1648–1070 v. Chr. – Dritte Zwischenzeit und Spätzeit in Ägypten, ca. 1070–332 v. Chr. – erste Olympische Spiele, 776 v.Chr. – Sokrates, 469–399 v. Chr. – Perserreich (Achämeniden), ca. 550–330 v. Chr. – Alexander der Große, 356–232 v. Chr. – Römische Republik, 510–27 v. Chr. – Buddha (5. Jh. v. Chr.) – Kaiser As´oka in Indien, ca. 273–232 v. Chr. – Punische Kriege, 264–146 v. Chr. – Römische Bürgerkriege, 133–31 v. Chr. – Ermordung Cäsars, 44 v. Chr. – Kaiser Augustus, 27 v. Chr.–14 n.Chr. – Nero, reg. 54–68 – Vespasian, reg. 69–79 – Trajan, reg. 98–117 – Marcus Aurelius, reg. 161–180

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Einführung

Dynastie oder Daten Zeitalter

Ausgewählte Vergleichsdaten der Weltgeschichte

Sechs Dynastien

220–589

Sui Tang

589–618 618–906

Fünf Dynastien Song

907–960 960–1279

Yuan

1279–1368

– Sassanidenreich in Persien, 224–651 – Gupta-Reich in Indien, ca. 330–550 – Kaiser Konstantin in Rom, reg. 306–337 – Teilung des Römischen Reiches, 395 – Völkerwanderung, 5./6. Jh. – Ende des Weströmisches Reiches, 476 – Muhammad, ca. 570–632 – Schlacht von Tours und Poitiers, 732 – Karolingerreich, 8. und 9. Jh. (800 Krönung Karls des Großen) – Abtei Cluny, 910 – Heiliges Römisches Reich, ab 962 – Schlacht von Hastings, 1066 – Kaiserkrönung Friedrichs I. Barbarossa, 1155 – Kreuzzüge, 1096–1291 – Magna Charta, 1215 – Thomas von Aquin, 1225– 1274 – Ende der christlichen Herrschaft in Jerusalem, 1291 – Päpste in Avignon, 1309–1376 – Gründung der Hanse, 1344 – Pestepidemien in Europa, 1347–1351

Einführung

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Dynastie oder Daten Zeitalter

Ausgewählte Vergleichsdaten der Weltgeschichte

Ming

1368–1644

Qing

1644–1911

Republik China

1912–1949 (auf Taiwan bis heute)

Volksrepublik China

1949–heute

– Hundertjähriger Krieg, 1339–1454 – Johannes Gutenberg, ca. 1398–1468 – Kolumbus in Amerika, 1492 – Ende der Reconquista, 1492 – Luther, 1483–1546 – Renaissance, 16./17.Jh. – Shakespeare, vor 1564– 1616 – Dreißigjähriger Krieg, 1618–1648 – Ludwig XIV. König von Frankreich, 1643–1715 – Voltaire, 1694–1778 – Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, 1776 – Franz. Revolution, 1789 – Schlacht von Waterloo, 1815 – Revolution in Deutschland, 1848 – Amerikanischer Bürgerkrieg, 1861–1865 – Gründung des Deutschen Reichs, 1871 – Weltkrieg, 1914–1918 – Russische Revolution, 1917 – Weimarer Republik, 1919–1933 – 2. Weltkrieg, 1939–1945 – Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, 1949

Karte von China

Quelle: Central Intelligence Agency, United States of America

I. Die Religionen in der chinesischen Geschichte

1. Frühe Geschichte bis zum 8.Jh. v.Chr. Die erste Gesamtgeschichte Chinas, die Aufzeichnungen des Historikers (Shiji) des kaiserlichen Hofschreibers Sima Qian (ca. 145–90 v. Chr.), präsentiert uns eine Sicht der chinesischen Frühgeschichte, die deutlich rückwärtige Projektionen des dynastischen Systems seiner eigenen Zeit und der für ihn jüngeren Vergangenheit enthält. Das Dunkel der Vorgeschichte wird hier erhellt durch eine Darstellung aufeinanderfolgender mythischer Mythische Herrscher Herrscher, die Kulturheroen und erste OrI. Die Drei Erhabenen ganisatoren politischer Gemeinwesen sind. (San Huang) Vor der Herrschaft des Gelbkaisers, mit der 1. Fu Xi Sima Qian sein Werk beginnen lässt, nen2. Zhu Rong nen andere Quellen noch die Drei Erhabe3. Shennong nen (San Huang): Fu Xi wird u. a. die DoII. Die Fünf Kaiser mestizierung des Rinds und die Erfindung (Wu Di) einer ersten Form von Schrift zugeschrie1. Huang Di ben, Zhu Rong zähmte das Feuer und 2. Zhuan Xu Shennong (der „göttliche Bauer“) erfand 3. Di Ku die Landwirtschaft. Laut den Aufzeichnun4. Tang Yao gen des Historikers führten die Fünf Kaiser 5. Yu Shun das Werk ihrer Vorgänger fort: Huang Di (der Gelbkaiser) erfand Medizin, Kriegstechnik, Seide, Regierung, Astronomie und Schrift und legte den Grundstein für ein geordnetes und zentral geführtes Gemeinwesen. (Tang) Yao und (Yu) Shun werden in der Tradition als ideale Herrscher dieses Gemeinwesens verehrt, die ihren Nachfolger jeweils unter den

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Die Religionen in der chinesischen Geschichte

Tüchtigsten des Reiches aussuchten. Shuns Erbe Yu etablierte schließlich die erste Dynastie, indem er seinen Sohn zum Nachfolger bestimmte. Die von Yus Nachkommen geführte Xia-Dynastie wurde abgelöst von der Shang-Dynastie, welche wiederum von der Zhou-Dynastie beerbt wurde. Sima Qian konstruiert die Abfolge dieser sog. Drei Dynastien (Sandai) als eine zyklische Sequenz von Aufstieg und Niedergang, bedingt durch die allmähliche moralische Degeneration der Herrscherfamilie bis zu ihrer Ablösung durch einen würdigeren Mann und Gründer einer neuen Dynastie. Die letzte der Drei Dynastien endete gut hundert Jahre vor Sima Qians Lebenszeit im Jahre 249 v. Chr.1 Während dieses Enddatum historisch gesichert ist, ist der Rest von Sima Qians Die Drei Dynastien Chronologie mit größter Vorsicht zu genieI. Xia ßen. Sie stellt ein Idealbild der monolinearen II. Shang Entwicklung der chinesischen Zivilisation dar, III. Zhou das mehr von den politischen Idealen und kulturellen Werten der Zeit Sima Qians geprägt ist als von gesicherter historischer Erkenntnis. Dennoch ist diese traditionelle Geschichtssicht nicht zu ignorieren, da sie das Selbstverständnis der chinesischen Kultur für die nächsten 2000 Jahre prägte und heute weiterhin sehr einflussreich ist. Dies gilt auch in der modernen historischen und archäologischen Forschung Chinas, wo die zeitliche Einordnung von Bodenfunden in die dynastische Abfolge der Drei Dynastien nach wie vor gang und gäbe ist. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die archäologische Forschung uns ein deutlich abweichendes Bild der chinesischen Frühgeschichte liefert, ein Bild allerdings, das in Bewegung ist und bei weitem noch keine abschließende Form gefunden hat. Neue Funde werden beinahe täglich gemacht und die Geschichte der Anfänge der chinesischen Kultur muss immer wieder umgeschrieben werden. Der gegenwärtige Konsens beschreibt das steinzeitliche China vom Gebiet des Gelben Flusses im Norden bis zu den Ufern des Südchinesischen Meeres als einen Flickenteppich verschiedener Regionalkulturen, die durch ihre Stile in Töpferei und Bestattungskultur unterschieden werden können. Zunehmende 1 Siehe die Teilübersetzung des Shiji von CHAVANNES, Édouard, Les mémoires historiques de Se-ma Ts’ien, Paris 1895–1905.

Frühe Geschichte bis zum 8.Jh. v.Chr.

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Kommunikation unter diesen Regionalkulturen führte zu allmählicher Angleichung und der Herausbildung gemeinsamer kultureller Kennzeichen (bei Bewahrung vieler regionaler Besonderheiten). Diese Phase im 4. und 3. Jahrtausend v. Chr. wird gemeinhin als Longshan-Kultur bezeichnet, nach einem frühen Fundort in der heutigen Provinz Shandong in Nordost-China. Der Longshan-Kultur zugeordnete Ausgrabungsfunde zeigen die Entwicklung von urbanen Ansiedlungen, sozialer Stratifikation und erste Anzeichen von Metallverarbeitung. Die religiöse Welt scheint gekennzeichnet von Schamanismus, Ahnenkult, Tier- und Menschenopfer, Verehrung von Naturgottheiten, sowie der Divination mittels Erhitzung von Tierknochen und der Interpretation der dabei entstehenden Risse. Diese Kennzeichen werden deutlicher an einem bedeutenden Fundort namens Erlitou in der heutigen Provinz Henan. Die zahlreichen Metallfunde an diesem auf die erste Hälfte des 2. Jahrtausends v.Chr. datierten Ort markieren den Beginn der Bronzezeit; chinesische Archäologen identifizieren Erlitou mit der Hauptstadt der Xia-Dynastie, die die traditionelle Geschichtsschreibung auf ca. 2200–1750 v.Chr. datiert hatte. Mit seinen Hinweisen auf Palastanlagen und eine entwickelte Bronzeverarbeitung scheint Erlitou gegenwärtig der beste Kandidat für eine solche Identifikation zu sein, welche allerdings weiterhin heftig umstritten ist und in Abwesenheit von Schriftfunden wohl nicht endgültig entschieden werden kann. Ob Erlitou nun mit der Xia-Dynastie in Verbindung steht oder nicht, so steht es doch außer Frage, dass wir hier ein komplexes Gemeinwesen vor uns haben, möglicherweise mit einer aristokratischen Führungsklasse, die für ihr religiöses Ritualwesen sowohl eigene Tempelgebäude wie spezielle Bronzegerätschaften schuf, welche das Formenvokabular der folgenden Shang-Dynastie vorwegnehmen.2 Shang-Dynastie Mit der Shang-Dynastie erreichen wir nun gesicherten historischen Boden. Die traditionelle Historiographie datiert die Shang auf 1766–1122 v.Chr. und liegt damit recht nah bei der archäologischen Einschätzung von ca. 1600–1045 v.Chr. Letztere Daten beruhen auf Funden an meh-

2 THORP, Robert L., China in the Early Bronze Age, Philadelphia 2006.

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Die Religionen in der chinesischen Geschichte

reren bedeutenden Ausgrabungsorten, die aufgrund der vorgefundenen Schriftzeugnisse eindeutig der Shang-Dynastie zuzuordnen sind. Der bedeutendste Fundort ist Anyang (in der heutigen Provinz Henan), wo in den Überresten von Palastanlagen die Divinationsarchive der letzten neun Shang-Könige entdeckt wurden. Diese datieren ungefähr in die Jahre zwischen 1200 und 1045 v. Chr. Es handelt sich hierbei um Aufzeichnungen in der frühesten fassbaren Form der chinesischen Schrift, ausgeführt auf Schulterblattknochen von Rindern sowie auf dem flachen Bauchpanzer von Schildkröten. Die Texte beziehen sich auf vom König durchgeführte Divinationen zur Erhellung vielfältiger Fragen politischer, religiöser und persönlicher Natur. Hier einige Beispiele: Am Tage Dingwei wurde das Orakel befragt, ob dem verstorbenen Prinzen Ding ein Rind geopfert werden sollte. Wird der Flussgott He am kommenden Tage Jiaxu den Befehl zum Regnen geben? Am Tage Bingchen fragte Zheng das Orakel: ‚Der Heerführer Xifa geht als Vorhut voraus und der König wird ihm nachfolgen. Wird Di damit einverstanden sein und uns beistehen?‘ Am Tage Xinsi fragte Ke das Orakel: ‚Soll Wein vergossen werden? Sollen wir den Ahnen Dajia und Zuyi als Dankopfer zehn enthauptete Menschen und zehn Schafspaare darbringen?‘3

Die Antworten auf diese Fragen wurden aus Rissen im Knochenmaterial gelesen, die durch Erhitzung erzeugt wurden. Diese Texte geben uns Einblicke in die Vorstellungen der Shang (oder zumindest ihres Hofstaates) von einer Welt der Götter und Geister, die Einfluss auf Geschehnisse in der Welt der Menschen nehmen konnten und die daher mittels Divination befragt und mittels Opfer wohlwollend gestimmt werden mussten. Wir begegnen hier neben Naturgottheiten der Erde, der Flüsse und Berge vor allem den Ahnen des Herrscherhauses. Letzteren sind bei weitem die meisten Inschriften gewidmet und sie waren es anscheinend, die den größten Einfluss auf die Geschicke der Shang

3 CHANG, Tsung-tung, Der Kult der Shang-Dynastie im Spiegel der Orakelinschriften, Wiesbaden 1970, 141, 167, 217, 127.

Frühe Geschichte bis zum 8.Jh. v.Chr.

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nahmen. Jenseits der Vielzahl der Ahnen und Naturgottheiten taucht noch die etwas nebulöse Gestalt des Di oder auch Shangdi auf. „Di“ wird später der Titel der chinesischen Kaiser und tritt in dieser Bedeutung auch in Sima Qians oben genannter Liste der „Fünf Kaiser“ (Wu Di) auf; die genaue Bedeutung und Etymologie des Schriftzeichens in den Shang-Quellen ist jedoch ungeklärt. Die alternative Bezeichnung „Shangdi“ stellt dem Zeichen für di ein Zeichen mit der Bedeutung „oben“ voran, so dass „Shangdi“ wörtlich „Di in der Höhe“ bedeutet. Di stand im Rang deutlich über den anderen genannten Gestalten und empfing anders als diese offenbar keine direkten Opfer. Er ist daher als eine Art Hochgott interpretiert worden, und „Shangdi“ wurde viel später von christlichen Missionaren zur Übersetzung von „Gott“ verwendet. Dennoch ist das Shang-zeitliche Verständnis von Di weitgehend ungeklärt; es ist gut möglich, dass er einen ShangZehn Himmelsstämme Zwölf Erdzweige Urahnen bezeichnet und zi jia vielleicht sogar das Kollekchou yi tiv der Shang-Ahnen. yin bing Wie die oben zitierten mao ding Inschriften zeigen, waren chen wu Trank-, Tier- und Mensi ji wu geng schenopfer üblich und wei xin Ausgrabungen in Anyang shen ren und anderswo im Einflussyou gui bereich der Shang haben xu zahlreiche Belege dafür gehai funden. Als Menschenopfer Kombinationen im Sechzigerzyklus: dienten anscheinend haupt10. jiayou 1. jiazi sächlich Gefangene aus mit 11. jiaxu 2. jiachou den Shang verfeindeten 12. jiahai 3. jiayin Ethnien, insbesondere den 13. yizi 4. jiamao weiter westlich siedelnden 14. yichou 5. jiachen Qiang. Für den Kult fertig15. yiyin 6. jiasi ten die Shang aufwändig 16. yimao 7. jiawu verzierte Bronzegerätschafusw. 8. jiawei ten, deren Inschriften und 9. jiashen Motive Rückschlüsse auf

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Die Religionen in der chinesischen Geschichte

die zugrunde liegenden religiösen Vorstellungen und Praktiken gestatten, wenn auch keine gesicherten Erkenntnisse. So sind die Tier- und Maskenmotive als Hinweise auf schamanische Praktiken gedeutet worden, für die es archäologische Zeugnisse bereits in neolithischen Kulturen vor der Shang-Zeit gab. Mit Divination, Ahnenkult, Opferritual und Schamanismus weist die Religiosität der Shang-Zeit bereits grundlegende Züge auf, die für die Religionsgeschichte in China von großer Bedeutung bleiben sollten. Ein weiteres Element, das fester Bestandteil der chinesischen Weltsicht wurde, ist die Zeitrechnung. Die Datierungen in den Orakelknocheninschriften belegen die frühe Existenz der Grundeinheiten des chinesischen Kalenders, der sogenannten Zehn Himmelsstämme und Zwölf Erdzweige. Diese werden so miteinander kombiniert, dass sich ein Zyklus von 60 Datumseinheiten ergibt. Ein Sechzigerzyklus war unterteilt in sechs Wochen (xun ) mit je zehn Tagen, die sich wiederum zu zwei Mondmonaten addierten. Ein Mondjahr (ohne Schaltmonat) enthielt also sechs dieser Sechzigerzyklen, d. h. 360 Tage. Diese zyklische Zählweise bildete die Basis der traditionellen Kosmologie und Kalenderberechnung und reguliert bis in die Gegenwart zeitliche Abläufe z. B. von Tempelfesten und Ahnenopfern. Zhou-Dynastie Um das Jahr 1045 v.Chr. wurde die Shang-Dynastie von ihren westlichen Nachbarn und Vasallen, den Zhou, gestürzt. Mit der ZhouDynastie verlassen wir endgültig den von den Orakelinschriften und Ausgrabungsfunden der Shang-Zeit nur spärlich erhellten Dunst der Vorgeschichte und treten in eine formative und weitaus besser dokumentierte Periode der chinesischen Geschichte ein. In den ca. 800 Jahren tatsächlicher und nomineller Zhou-Herrschaft, die 256 v. Chr. zu Ende ging, wurden die Grundsteine der chinesischen Religions- und Geistesgeschichte gelegt. Obwohl die Zhou sich ethnisch von den Shang unterschieden, brachte der dynastische Wechsel keine dramatischen kulturellen Brüche mit sich. Die Zhou hatten bereits viele Elemente der Shang-Kultur übernommen, bevor sie die Herrschaft an sich rissen. So setzte sich die Formensprache der Shang-Bronzeplastik in den Ritualgeräten der frühen Zhou-Zeit fort und das Schriftsystem der Shang entwickelte sich

Frühe Geschichte bis zum 8.Jh. v.Chr.

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unter den Zhou weiter. Gleichzeitig jedoch traten neue Züge auf, von denen im religiösen Bereich besonders der Kult des Himmels zu nennen ist. Der Himmelskult war wohl bereits Teil der Zhou-Kultur während der Shang-Zeit. Mit der Gründung der neuen Dynastie jedoch gewann der Himmelskult eine neue Funktion. Frühe Zhou-Texte erklären den dynastischen Wechsel als eine Verschiebung des himmlischen Mandats (tianming ) von den Shang zu den Zhou. Wir sehen hier die Entstehung einer politischen Theorie, die großen Einfluss in der chinesischen Geschichte hatte und bis ins 20. Jh. hinein den konzeptionellen Rahmen für die Bewertung legitimer Machtausübung bereitstellte. Der moderne chinesische Begriff für „Revolution“, geming , bedeutet wörtlich „Änderung des Mandats“. Wenn für die Zhou der Himmel (Tian ) die Stelle von Shangdi einnahm, so war dies nicht einfach eine Namensänderung, sondern repräsentierte ein fundamental neues Verständnis der religiösen Legitimation von Herrschaft. Im Gegensatz zu Shangdi, der dem Herrscherhaus der Shang entweder direkt (als Vorfahr) oder durch die Vermittlung der Shang-Ahnen verbunden war, weist Tian deutlich universale Züge auf. Er ist klar von den königlichen Ahnen unterschieden und übernimmt viele der legitimatorischen Funktionen, die die Shang-Ahnen noch innehatten. Tian erweist seine Gunst dem, der sie durch seine Pietät und seinen moralischen Wandel verdient. Der letzte Shang-Herrscher verlor die Gunst des Himmels durch seine Grausamkeit und dekadenten Exzesse; die Gründer der Zhou-Dynastie erschien dagegen als Lichtgestalten, die sich des Mandats als würdig erwiesen und so eine neue Herrschaft von Himmels Gnaden begründen konnten. Diese neue Ideologie legitimierte einerseits die Machtübernahme der Zhou und setzte andererseits eine neue Dynamik in Gang, die Herrschaft und Moral eng miteinander verband. Gewinn und Verlust von legitimer Macht wurden seither in Begriffen von moralischer Eignung und Würdigkeit diskutiert und die Abfolge der Dynastien bis ins 20. Jh. hinein als eine Kette von Mandatsverlusten und -übertragungen aufgefasst. Für die Zhou ergab sich aus der Natur ihrer Herrschaftsbegründung die Pflicht, ihre Beibehaltung durch Beweis der fortgesetzten Herrschaftswürdigkeit zu ermöglichen. Einer der ältesten überlieferten Texte Chinas, das Kapitel „Verkündigung des Herzogs von Shao“ (Shaogao) im Buch der Urkunden (Shujing), beinhaltet eine Ermahnung an den jungen dritten König der Dynastie, sich

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die Mandatsverluste der Xia und Shang ein warnendes Beispiel sein zu lassen und seine Herrschaft durch seine Tugend zu sichern.4 Das chinesische Wort für „Tugend“, de , hat eine interessante Doppelbedeutung, die für das Verständnis politischer Macht in der ZhouZeit (und später) wichtig ist. Einerseits meint es Tugend im moralischen Sinne, andererseits aber auch Kraft, Macht, Charisma. Diese machtvolle Ausstrahlung des Zhou-Herrschers vermittelte sich den Untertanen durch ein komplexes System ritueller Kommunikation, mittels dessen der König Autorität durch die Verehrung des Himmels und seiner Ahnen gewann und diese durch die soziale Hierarchie nach unten verteilte. Das Reich wurde in quasi-feudaler Manier unter Vasallen aufgeteilt, die in der Regel zum Herrscherclan gehörten und dem König durch Treueschwur verbunden waren. Es gab mehr als hundert solcher Lehnsgebiete, die von Vasallen an des Königs Stelle verwaltet wurden. Ihrer Loyalität versicherte sich der Herrscher durch aufwändige Investituren und Zeremonien, die das harmonische Verhältnis von Lehnsherr und Belehntem regeln sollten. Ritual distanzierte und überhöhte die Figur des Königs; die sakrale Macht, die dem Ritus innewohnt, stärkte des Herrschers de und übermittelte es seinen Untertanen. Die ritualisierte Gesellschaft der Zhou sollte später für Konfuzius zum Ideal menschlichen Zusammenlebens und sozialer Ordnung werden und übte bleibenden Einfluss auf das politische Denken Chinas aus. Leider hatte dieses System, so es denn je mehr als ein Ideal war, nicht lange Bestand. Die belehnten Fürsten agierten allmählich unabhängiger und ihre Treue zum König schwächte sich ab. Kämpfe um die Vorherrschaft brachen zwischen einzelnen Fürsten aus und der König konnte nicht mehr auf die geeinte militärische Unterstützung seiner Vasallen vertrauen. Als im 8. Jh. v. Chr. fremde Völker ins Zhou-Reich einfielen, ging das Kernland der Zhou am Wei-Fluss verloren, also die Domäne, 4 Siehe eine weitere frühe Formulierung des Mandatsgedankens in der „Großen Verkündigung“ („Dagao“) des Buches der Urkunden (siehe Reader). Die Verkündigungskapitel wurden bislang als zu den ältesten des Shujing gehörig angesehen, wenn auch in neuerer Zeit Zweifel an dieser Datierung angemeldet werden. Siehe dazu VOGELSANG, Kai, Inscriptions and Proclamations. On the Authenticity of the ‘gao’ Chapters in the Book of Documents, Bulletin of the Museum of Far Eastern Antiquities 74 (2002), 138–209.

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die unter der direkten Herrschaft des Königs gestanden hatte. Der König fand den Tod und sein Sohn und Nachfolger musste eine neue Hauptstadt weiter östlich errichten, im Gebiet seiner Lehnsfürsten. Diese Ereignisse im Jahre 771 v. Chr. markieren das Ende der sogenannten Westlichen Zhou-Dynastie, und läuten gleichzeitig den Beginn der Östlichen Zhou ein, während derer sich der politische Schwerpunkt endgültig hin zu den Lehnsträgern verschiebt, deren Ländereien sich mehr und mehr zu autonomen und miteinander in Konflikt stehenden politischen Gebilden („Staaten“) wandelten. Das Zhou-Königtum blieb erhalten, verlor aber jede reelle politische Bedeutung. Die Auslöschung des Zhou-Hauses wenige Jahre vor der Wiedervereinigung Chinas in der kaiserlichen Qin-Dynastie, war denn auch nicht mehr als eine symbolische Bestätigung realer Machtverhältnisse und erregte kaum noch Aufmerksamkeit. Die 550 Jahre der Östlichen Zhou erscheinen in konfuzianischer Perspektive als eine Zeit des Chaos und des weitgreifenden Verlustes an Ordnung. Der unvoreingenommene Beobachter kann sicherlich nicht die zahlreichen Kriege und Kämpfe um die Vorherrschaft ignorieren, welche die Zahl der Staaten stetig reduzierten, bis schließlich nur noch einer übrig war und ein neues geeintes Reich begründete. Gleichzeitig war aber diese Zeit durch ihre große intellektuelle Kreativität besonders herausragend, die inmitten der Trümmer der alten Ordnung eine neue zu errichten suchte. Es gab wohl kaum wieder eine Zeit in der chinesischen Geschichte, in der die Möglichkeiten menschlicher Gemeinschaftsbildung so intensiv hinterfragt wurden und in der so viele verschiedene Entwürfe auf dem Marktplatz der Ideen frei konkurrierten. Das folgende Kapitel wird die einflussreichsten dieser Entwürfe nachzeichnen, welche wesentliche Eckpunkte der chinesischen Religionsund Geistesgeschichte etablierten.

2. Die klassische Periode (8.–3. Jh. v. Chr.) Die Östliche Zhou-Dynastie Die politische Geschichte der östlichen Zhou-Zeit ist die einer sich intensivierenden Konkurrenz zwischen immer souveräner agierenden Staaten, die wechselnde Allianzen schlossen und sich häufig im Kriegs-

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zustand befanden. Die Östliche Zhou-Dynastie wird grob in zwei Abschnitte unterteilt: die Frühlings- und Herbstperiode (722–481 v. Chr., so genannt nach den Konfuzius zugeschriebenen Annalen des Staates Lu) und die Zeit der Streitenden Reiche (403–221 v. Chr.). Wie die Namensgebung der späteren Periode zeigt, waren diese Zeitalter von der zunehmenden Verschärfung der Konflikte zwischen den Staaten gekennzeichnet. Die permanente Bedrohungslage beförderte Innovation in Verwaltung und Technologie. Im späten 7. Jh. v. Chr. beginnt die Herstellung von Gusseisen, zunächst vor allem für Werkzeuge und landwirtschaftliche Geräte, wo bis dahin Stein und Holz immer noch die Grundmaterialien gewesen waren. Mit der Entwicklung der Schmiedekunst im 4.Jh. und damit der Möglichkeit, Eisen zu härten und zu schärfen, verdrängte das neue Metall schließlich die Bronze im Bereich der Kriegstechnik. Auch die Verwaltungstechnik erfuhr eine gründliche Umgestaltung. Die Staaten ersetzten das Zhou-System feudaler Herrschaft durch Lehnsvergabe allmählich durch eine zentralisierte Verwaltung mit einem professionellen Beamtenapparat. So führte z.B. Lu, der Heimatstaat des Konfuzius, im Jahre 594 v. Chr. eine Reform durch, nach der die Bauern ihren Tribut nicht mehr an ihren Lehnsherren, sondern als eine Steuer direkt an die Regierung zu entrichten hatten. Als Folge dieser „Entfeudalisierung“ verloren Teile des niederen Adels (shi) ihre Apanagen und mussten sich ihren Lebensunterhalt als Fachleute für Verwaltung, Regierung, Erziehung, Ritual und Militär verdienen. Aus den Reihen dieser Bildungselite rekrutierten sich die bedeutendsten Denker der Östlichen Zhou-Zeit, von denen hier die wichtigsten vorgestellt werden sollen: Konfuzius und seine Nachfolger Menzius und Xunzi; die Daoisten, repräsentiert durch die beiden Texte Laozi und Zhuangzi; die Legalisten; und die Schule des Mozi. Konfuzius und seine Nachfolger Sowohl chronologisch wie aufgrund seines langfristigen Einflusses auf die Geistesgeschichte muss Konfuzius zuerst erwähnt werden. Sein Familienname war Kong, sein Kindesname Qiu, sein Großjährigkeitsname Zhongni. Im chinesischen Gebrauch wird der Familienname vorangestellt, so dass Konfuzius zu seinen Lebzeiten (551–479 v. Chr.) Kong Qiu oder Kong Zhongni genannt wurde. Spätere Generationen nann-

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ten ihn respektvoll Kongzi oder Kong fuzi, „Meister Kong“. Die letztere (weniger gebräuchliche) Form liegt der von den jesuitischen Missionaren des 16. Jh. eingeführten Latinisierung „Konfuzius“ zugrunde. Konfuzius wuchs im kleinen östlichen Staat Lu auf, im Gebiet der heutigen Provinz Shandong. Die Lu-Hauptstadt Qufu mit ihren zahlreichen Gräbern von Konfuzius-Nachkommen und massiven Tempelanlagen ist bis heute das wichtigste Zentrum der Konfuzius-Verehrung. Konfuzius entstammte der Seitenlinie eines Adelgeschlechts mit Verbindungen zum ehemaligen Herrscherhaus der Shang, wuchs aber in relativer Armut auf. Dennoch erhielt er die gründliche Ausbildung eines shi und verdiente sich seinen Unterhalt als Lehrer und politischer Berater. Im Laufe seines Lebens soll er rund 3000 Schüler in den Sechs Künsten unterrichtet haben, den Hauptabteilungen der shi-Erziehung: Schreiben, Rechnen, Ritual, Musik, Bogenschießen und Wagenlenken. Seine politische Karriere war weniger erfolgreich. Obwohl er ausgedehnte Reisen unternahm, um seine Dienste den Herrschern mehrerer Staaten anzubieten, bekleidete er niemals mehr als untergeordnete Ämter. Im Jahre 484 kehrte Konfuzius in seinen Heimatstaat Lu zurück, wo er seinen Lebensabend als hoch geachteter und von seinen Schülern umgebener Lehrer verbrachte. Die beste Quelle für Leben und Lehre des Konfuzius ist die von nachfolgenden Schülergenerationen posthum zusammengestellte Sammlung seiner Sprüche, das Lunyu („Analekten“, „Gespräche“). Das Lunyu ist eingeteilt in 20 Bücher mit insgesamt ungefähr 500 Abschnitten, die Aussprüche des Meisters und seiner Schüler, Dialoge und deskriptive Passagen enthalten. Der Text ist recht heterogen und erlangte seine heutige Form endgültig erst im 3. Jh. n. Chr., also mehr als 700 Jahre nach dem Tod des Meisters.5 Die textgeschichtliche Forschung geht davon aus, dass lange Zeit abweichende Spruchsammlungen in den von den Schülern des Konfuzius begründeten Traditionen kursierten und die heutige Standardversion ein Komposit mehrerer solcher

5 Jedoch ist davon auszugehen, dass sehr ähnliche Versionen bereits viel früher kursierten. So weichen die in einem auf das Jahr 55 v. Chr. datierten Grab gefundenen Textfragmente des Lunyu nur unwesentlich vom textus receptus ab. Siehe AMES, Roger T. und ROSEMONT, Henry Jr., The Analects of Confucius. A Philosophical Translation, New York 1998.

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Sammlungen ist.6 Der Reader enthält eine Auswahl von Sentenzen aus dem Lunyu in der Übersetzung von Ralf Moritz, auf welche im Verlauf der Darstellung der Lehren des Konfuzius verwiesen werden wird. Eine Schlüsselaussage des Texts ist des Meisters Selbsteinschätzung, dass er das Alte überlieferte und nichts Neues schuf (Lunyu 7.1). Konfuzius bewertete die soziopolitische Misere seiner Zeit als Verlust einer idealen Ordnung, die in der frühen Zhou-Zeit einst bestand und deren Wiederentdeckung die Voraussetzung für die Schaffung einer humanen und friedlichen Gesellschaft war. Die Essenz der Zhou-Ordnung waren die Riten, die (wie oben dargestellt) die soziale Interaktion regelten und Harmonie zwischen Herrschern und Beherrschten wie auch zwischen menschlicher Gesellschaft und Kosmos stifteten. Die Riten (li ) waren für Konfuzius der Schlüssel zu einer wahrlich humanen Gesellschaftsordnung, da sie die Zustimmung aller Beteiligten voraussetzten. Im Gegensatz zu der von den Legalisten (s. u.) vertretenen Herrschaft durch Gesetz und Zwang, Belohnung und Bestrafung, regierte für Konfuzius der ideale König allein durch die Riten. Als Vorbild sah er den mythischen Urkaiser Shun, von welchem es hieß, er hielte das Reich in Ordnung, indem er einfach die für den Herrscher rituell korrekte, nach Süden gewandte Position einnahm (Lunyu 15.5). In einer ritualisierten Gesellschaftsordnung ist diese Handlung ausreichend, um sozusagen durch eine Kettenreaktion die Untertanen dazu zu bewegen, ihre standesgemäßen Pflichten zu erfüllen. Einst fragte der Herzog Jing von Qi Konfuzius nach dem Geheimnis erfolgreicher Regierung. Konfuzius antwortete lakonisch: „Der Herrscher muss Herrscher sein, der Untertan muss Untertan bleiben. Der Vater sei Vater, der Sohn Sohn“ (Lunyu 12.11). Mit anderen Worten: Nur wenn ein jeder die ihm zugeordnete Rolle nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt, hat eine Gesellschaft Bestand. Wie kann dies erreicht werden? Durch die Charakterbildung jedes Einzelnen und durch den Einfluss eines würdigen Herrschers. Einen solchen suchte Konfuzius vergebens auf seinen Reisen durch die Staatenwelt der Frühlings- und Herbstperiode; jedoch hatte er niemals 6 Der legalistische Philosoph Han Feizi (ca. 280–233 v.Chr.) erwähnt, dass es zu seiner Zeit acht miteinander konkurrierende konfuzianische Lehrtraditionen gab, die alle beanspruchten, die wahre Lehre des Konfuzius zu vertreten. Han Feizi, Kap. 50.

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erwartet, einen Idealherrscher nach Art des Shun oder des Herzogs von Zhou fertig vorzufinden. Er hoffte vielmehr auf einen Fürsten, der sich durch des Meisters Unterweisung zu einem wahren Herrscher heranbilden könnte. Damit führen auch die politischen Aspirationen des Konfuzius letztlich wieder zurück zur fundamentalen Rolle des Lernens. Das allererste Wort des Lunyu ist „lernen“ (xue ): „Etwas lernen und sich immer wieder darin üben – schafft das nicht auch Befriedigung?“ (Lunyu 1.1). Der Mensch wird Mensch erst durch das Lernen; Menschlichkeit ist eine Kulturleistung, und eine humane Gesellschaft braucht Mitglieder, die sich bemühen, ihre Menschlichkeit voll zu entwickeln. Die erste Voraussetzung für solches Lernen ist das korrekte Verständnis des zu Lernenden. Für Konfuzius war die Wurzel allen Übels das Vergessen – das Vergessen der wahren Bedeutung und Funktion der in den Riten der Zhou wurzelnden Werte. Wie kann ein Vater ein rechter Vater sein, oder ein Sohn ein rechter Sohn, wenn beide nicht wissen, was diese Rollen beinhalten? Wie kann ein Sohn ein wahrer Sohn sein, wenn er nicht versteht, was Kindespietät (xiao) ist? Diesem Vergessen und Nicht-mehr-Verstehen begegnet Konfuzius mit einer Strategie des Erinnerns. Seine Schüler studierten die klassischen Schriften der Zhou, um sich ihrer Institutionen und Werte zu erinnern; dieses Textstudium wurde begleitet von der praktischen Einübung der Zhou-Riten und ihrer exegetischen Durchdringung. Letztere wird als „Richtigstellung der Namen“ (zhengming ) bezeichnet.7 Viele Passagen im Lunyu liefern Definitionen, welche die verloren gegangenen Bedeutungen und Wertungen von Kernbegriffen wie Herrschaft, Ritus, Menschlichkeit, Loyalität usw. rekonstituieren sollten. So bestimmt Konfuzius z.B. die Menschlichkeit (ren ) in folgender Weise: „Sich selbst überwinden und zu den Riten zurückkehren, das ist Menschlichkeit“ (Lunyu 12.1).8 Lernen bedeutete also im Kern, seine Menschlich-

7 GASSMANN, Robert, Cheng Ming, Richtigstellung der Bezeichnungen. Zu den Quellen eines Philosophems im alten China. Ein Beitrag zur Konfuzius-Forschung, Bern 1988. 8 Die Übersetzung des Kernbegriffs ren ist in der westlichen Forschung umstritten. Die im Reader verwendete Übersetzung von Ralf Moritz benutzt dafür „sittliches Verhalten“. Ich bevorzuge „Menschlichkeit“ sowohl aus etymologischen wie auch philosophisch-systematischen Erwägungen.

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keit mithilfe der Riten zu formen und zu entwickeln. Wenn dieses Programm auch in Begriffen des Erinnerns, des Zurückkehrens und der Übermittlung alter Weisheit dargelegt wird, so liegt ihm doch eine wesentliche Neuerung zugrunde. Auch wenn Konfuzius keinerlei Innovation für sich in Anspruch nahm (s. o.), so betrat er doch Neuland, indem er die aristokratische Ethik und Ästhetik der Zhou umdeutete in ein Programm der Selbstkultivierung, das jedem offen stand und ein universelles Ideal wahren Menschentums etablierte. Für Konfuzius trat der Adel der Geburt hinter den Adel des Charakters zurück; die Ausbildung des letzteren sah er als seine Aufgabe. Jeder (Mann) konnte und sollte ein „Edler“ (junzi ) werden: „Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen“ (Lunyu 15.39). Konsequenterren weise legte Konfuzius keinen Wert auf adlige AbMenschlichkeit stammung bei seinen Schülern, eine Einstellung, die ihn von anderen, auf ihre Standesprivilegien bedachten shi unterschied. „Ich habe niemandem – sofern er nur etwas, und war es noch so wenig, mitbrachte – jemals die Unterweisung verweigert“ (Lunyu 7.7). Während in den Schriften der Zhou der „Edle“ eine Standesbezeichnung war, wird er bei Konfuzius zum Inbegriff ethischer Veredlung des Menschen: Es ist der Edle, der die wahrhafte Menschlichkeit verwirklicht. Der chinesische Begriff der Menschlichkeit, ren , wird durch ein Schriftzeichen wiedergegeben, das die Elemente „Mensch“ und „zwei“ kombiniert. Damit verweist es auf die fundamentale Relationalität der konfuzianischen Ethik. Der Mensch ist ein soziales Wesen und kann Mensch sein und werden nur in Beziehung mit anderen Menschen. Kindespietät, Loyalität, Rechtlichkeit, Vertrauenswürdigkeit – all diese Tugenden sind relationaler Natur. Sie beziehen sich stets auf einen anderen und sind daher nur im sozialen Kontext erlernbar und praktizierbar. Erlernen und Ausübung von Tugend sind dabei gleichzeitig Erlernen und Ausübung der Riten, da diese den Tugenden Form geben. So wird Kindespietät z. B. im respektvollen und formell korrekten Umgang mit den Eltern sowohl erlernt wie ausgedrückt. Die tiefe Verbeugung vor dem Vater ist gleichzeitig eine Lektion in Kindespietät wie auch ihr genuiner und angemessener Ausdruck. Diese Doppelfunktion des Rituals, didaktisch und expressiv, ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der konfuzianischen Sicht



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des Menschen und seiner Vervollkommnung. Nimmt man dann noch die bereits erwähnte kommunikative und regulative Funktion von Ritual in der sozialen Steuerung menschlichen Verhaltens hinzu, so wird deutlich, warum für Konfuzius die Riten eine solch maßgebliche Rolle in der Integration und Harmonisierung sowohl des Individuums wie auch der Gesellschaft spielen. Etwas überraschend mag es erscheinen, dass Konfuzius der religiösen Dimension der Riten wenig Aufmerksamkeit schenkte. In den Gesprächen heißt es von ihm, dass er Opfer für Ahnen und Gottheiten stets so ausgeführt habe, als seien diese Wesen tatsächlich zugegen (Lunyu 3.12). Er war jedoch nie gewillt, sich in Diskussionen über die Geistwesen und das Nachleben verwickeln zu lassen. Einem Schüler, der ihn nach beidem fragte, beschied er: „Wenn du noch nicht den Menschen dienen kannst, wie willst du dann den Geistern dienen? . . . Wenn du noch nicht das Leben verstehst, wie könntest du da den Tod verstehen?“ (Lunyu 11.12). Die Haltung des Konfuzius ist zusammengefasst in folgendem Diktum: „Zu den Pflichten stehen, die man gegenüber dem Volke hat, die Geister verehren, aber nicht darin aufgehen – das kann man Weisheit nennen.“ (Lunyu 6.22). Sein Verständnis des Himmels (Tian ) ist weniger distanziert; Konfuzius sah sich als vom Himmel in besonderer Weise beauftragt an und er meinte, dass nur der Himmel ihn recht kenne (Lunyu 14.35). Als sein Lieblingsschüler Yan Yuan starb, klagte der Meister, dass der Himmel ihn verlassen habe (Lunyu 11.9). Dennoch wird aus diesen Aussagen nicht klar, wie Konfuzius sich den Himmel und seine Rolle in den Geschicken der Menschen vorstellte. Letzten Endes blieb sein Augenmerk fest auf die Pflichten und Bedürfnisse der Menschen gerichtet und er enthielt sich jeder metaphysischen Spekulation. Wenn er auch in der Verwirklichung der politischen Dimension seines Ideals scheiterte, so war Konfuzius doch letztlich erfolgreich in seiner persönlichen Menschwerdung und in der Vermittlung dieses Ideals an seine Schüler. Gegen Ende seines Lebens soll er die folgende Bilanz gezogen haben: Als ich fünfzehn war, war mein ganzer Wille aufs Lernen ausgerichtet. Mit dreißig Jahren stand ich fest. Mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr. Mit fünfzig kannte ich den Willen des Himmels. Als ich sechzig war, hatte ich ein feines Gehör, um das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche he-

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rauszuhören. Mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu überschreiten. (Lunyu 2.4)9

Des Meisters Ideal der menschlichen Selbstvervollkommnung und einer rituell harmonisierten Gesellschaft setzte sich zwar zu seinen Lebzeiten nicht durch, wurde aber für die weitere chinesische Geschichte richtungsweisend und behält ihre kulturelle Bedeutung bis heute bei. In der Östlichen Zhou-Zeit wurden die Ideen des Konfuzius von seinen Schülern weitergegeben und auch weiterentwickelt. Zwei wichtige Texte, die aus der frühen konfuzianischen Tradition stammen, sind das Große Lernen (Daxue ) und Maß und Mitte (Zhongyong ). Ersterer wird Konfuzius und Meister Zeng (Zengzi), einem seiner Schüler, zugeschrieben; die moderne Textkritik setzt ihn allerdings wesentlich später an, im 3. oder 2. Jh. v.Chr. Der Konfuzius zugeschriebene Hauptteil des Großen Lernens ist im Reader wiedergegeben. Er liefert einen knappen und prägnanten Abriss der Bildung des Edlen, und im Besonderen des künftigen Herrschers.10 Maß und Mitte wird traditionell einem Enkel des Konfuzius zugeschrieben (Zisi, 492–431 v. Chr.), ist aber wohl eher eine Sammlung von Texten verschiedener Provenienz, deren jüngste um 200 v.Chr. datieren dürften. Dieser Text vertieft das konfuzianische Projekt der Selbstkultivierung, indem es ihm eine metaphysische Dimension verleiht. Hier stiftet der Edle Harmonie nicht nur in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch im Verhältnis von Menschheit, Himmel und Erde. Das Ideal ist hier der Weise (shengren), dessen Wahrhaftigkeit (cheng ) die Welt ins Lot bringt.11 Für den bedeutenden Neokonfuzianer des 12.Jh., Zhu Xi (1130–1200), waren das Große Lernen und Maß und Mitte jeweils Anfangs- und Endpunkt der Kultivierung des Edlen. Zusammen mit den Gesprächen des Konfuzius 9 Allgemeine Einführungen in das Denken des Konfuzius bieten u.v. a. HALL, David L. und AMES, Roger T., Thinking through Confucius, Albany, NY, 1987; ROETZ, Heiner, Konfuzius, München 1998. 10 Übers. v. MORITZ, Ralf, Das Große Lernen (Daxue), Stuttgart 2003. Siehe die Auszüge im Reader. 11 Übers. in WILHELM, Richard, Li Gi. Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche, Jena 1930; AMES, Roger T. und L. HALL, David, Focusing the Familiar. A Translation and Philosophical Interpretation of the Zhongyong , Honolulu 2001. Siehe auch die Auszüge im Reader.

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und dem Menzius bildeten sie als die Vier Bücher (Sishu ) den Kern des neokonfuzianischen Kanons. Das soeben erwähnte Buch Menzius ist nach dem Konfuzianer Mengzi („Meister Meng“) benannt, der im 4.Jh. v. Chr. lebte. Die Tatsache, dass es eine latinisierte Form seiner Ehrenbezeichnung gibt, zeigt seine Bedeutung in der späteren konfuzianischen Tradition, die ihn als den „zweiten Weisen“ (yasheng ) nach Konfuzius verehrte. Menzius war ein beredter Apologet der konfuzianischen Lehre in den heißen philosophischen Debatten seiner Zeit und entwickelte sie in fruchtbarer Weise weiter. Hier will ich mich auf zwei wichtige Beiträge beschränken: das politische Denken des Menzius und seine Ideen hinsichtlich der menschlichen Natur. Im ersten Bereich entwickelte Menzius den Gedanken des Mandats des Himmels dahingehend weiter, dass den Untertanen eine Rolle bei der Legitimation von Herrschaft zugestanden wird. Es ist nun die Zustimmung der Bevölkerung, die den Herrscher legitimiert; nur ein Staat, dessen Regierung vom Volk gestützt wird, wird stark genug sein, sich seiner Feinde zu erwehren. Das Mandat des Himmels äußert sich also im Willen des Volkes, denn, so zitiert Menzius das Buch der Urkunden, „der Himmel sieht, wie mein Volk sieht; der Himmel hört, wie mein Volk hört“ (Menzius 5A5).12 Ein weiterer wichtiger Beitrag des Menzius war seine Theorie, dass die menschliche Natur an sich gut ist. Konfuzius hatte sich nicht klar zur Frage der moralischen Natur des Menschen geäußert. Die einzige Stelle dazu im Lunyu besagt, dass die Menschen in ihrer Natur ähnlich seien, sich aber in ihrem Lebenswandel voneinander entfernen (Lunyu 17.2). Menzius präzisierte nun, dass die menschliche Natur gut sei; das Böse sei nicht in ihr verankert, sondern entstehe durch die Vernachlässigung der guten Anlagen. Das Gute ist präsent in Form von vier Tugendpotenzialen (den sogenannten Vier Schößlingen): die Fähigkeiten zu Mitgefühl, Scham, Ehrerbietung und zur Unterscheidung von richtig und falsch. Werden diese Potentiale voll entwickelt, so entfalten sie sich zu den Tugenden von Menschlichkeit, Rechtlichkeit, Sittlichkeit und Weisheit. Wie Pflanzensprosse müssen diese Anlagen gehegt und gepflegt werden, damit sie sich entfalten; aber selbst wenn sie vernachlässigt werden, verlieren sie nie völlig ihr Wachstumspotential. Menzius 12 Siehe auch die Auszüge im Reader.

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verwendet hier die Metapher des kahlen Berges, der vom Vieh abgeweidet worden ist; trotz der völligen Kahlheit, die sich dem Auge darbietet, sind die Samen neuer Vegetation immer noch in seiner Erde vorhanden. Genauso verliert auch das übelste menschliche Subjekt niemals die Möglichkeit des Guten, auch wenn sich dieses vielleicht nie äußert. Durch seine optimistische Sicht der menschlichen Natur verschaffte Menzius dem konfuzianischen Ideal des Edlen eine solide anthropologische Grundlage.13 Xunzi (3.Jh. v. Chr.) versuchte ebenfalls, die Lehre des Konfuzius auf eine systematisch konstruierte philosophische Basis zu stellen, kam dabei jedoch mitunter zu anderen Ergebnissen als Menzius. Insbesondere in der Frage der menschlichen Natur widersprach er Menzius aufs Schärfste. In seinem herausfordernd betitelten Essay „Die menschliche Natur ist schlecht“ (Xing e ) sucht er Menzius zu widerlegen und plädiert für eine Sicht des Menschen als im Grunde selbstsüchtig. Um Gemeinschaft zu ermöglichen, schufen die Weisen des Altertums daher die Riten, um das menschliche Wesen zu zähmen und in konstruktivere Bahnen zu lenken. Der Mensch tendiert nicht zur Tugend, sondern muss diese aus höherer Einsicht erlernen. Das, was uns wahrlich menschlich macht und von den Tieren unterscheidet, ist also unsere Kultur.14 Aus dieser Sichtweise ergaben sich für Xunzi auch unterschiedliche politische Perspektiven. Er vertraute weniger als Menzius auf das Volk als Stimme des Himmels und auf die Riten als alleiniges Steuerungsmittel; stattdessen folgte er den Legalisten (s.u.), indem er Gesetzen und Strafen eine legitime Rolle in der Gesellschaft zuschrieb. Gleichzeitig vertrat er die Anwendung der Gesetze und Anerkennung von persönlichem Verdienst ohne Ansehen der Person, und führte damit Konfuzius’ Ideal der Überwindung der Standesunterschiede in Bildung und Erziehung weiter zu einem Konzept von Meritokratie, das u. a. im späteren Beamtenprüfungswesen Ausdruck finden sollte: Die wahrhaft Tüchtigen und Fähigen sollen, ohne sie erst alle Dienstgrade der Reihe nach durchmachen zu lassen, gefördert werden. Die Ungeeigneten und Unfähigen sollten, ohne auch nur einen Augenblick zu warten, entlassen werden. [. . .] Mag jemand auch der Nachkomme eines Königs, eines Her13 Siehe auch die Auszüge im Reader. 14 Siehe auch die Auszüge im Reader.

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zogs, eines Gebildeten oder Großwürdenträgers sein, wenn er sich nicht im Rahmen von Tradition und Schicklichkeit halten kann, zählt er doch zum gewöhnlichen Volk. Wo umgekehrt einer von ganz gewöhnlichen Leuten abstammt, sich aber immer wieder um feine Formen und Bildung bemüht, seinen persönlichen Lebenswandel ins rechte Lot bringt und fähig ist, sich im Rahmen der traditionellen Schicklichkeit zu halten, dann gehört dieser doch zu (so hochstehenden Menschen wie) den höchsten Staatsbeamten, den Gebildeten und Großwürdenträgern.15

Obwohl Menzius und Xunzi in ihrer Auffassung der menschlichen Natur einander scheinbar diametral gegenüberstehen, sind sie sich doch einig, dass es des Lernens bedarf, um das Ideal zu erreichen, wobei das Lernen für Menzius der Entwicklung der Natur und für Xunzi ihrer Zähmung diente. In Ziel und Methode der Selbstkultivierung besteht zwischen den beiden Philosophen also weitgehende Übereinstimmung; auf lange Sicht jedoch übte Menzius den größeren Einfluss auf die konfuzianische Tradition aus.16 Mo Di Der Begründer des Mohismus, Mo Di (5. Jh. v. Chr.), auch Mozi (Meister Mo) genannt, war die Ausnahme von der sozialen Regel, da er als einziger der führenden Denker der Östlichen Zhou-Zeit höchstwahrscheinlich nicht dem Adel entstammte. Dies zeigt sich u.a. in seinem Misstrauen allem Standesprivileg gegenüber. Er vertrat zwar keine egalitäre Gesellschaftsform und konnte sich Ordnung nur in hierarchischer Form vorstellen, aber er lockerte diese Hierarchie doch im Sinne sozialer Mobilität auf. Abstieg und Aufstieg innerhalb der sozialen Pyramide sollten allein von der Befähigung des Einzelnen abhängen, nicht von Abstammung und Familienverbindungen. Xunzi übernahm dieses 15 KÖSTER, Hermann, Hsün-tzu ins Deutsche übertragen, Kaldenkirchen 1967, 89– 90. 16 Zu Menzius siehe IVANHOE, P. J., Ethics in the Confucian Tradition. The Thought of Mencius and Wang Yang-ming, Atlanta 1990; SHUN, Kwong-loi, Mencius and Early Chinese Thought, Stanford 1997; CHAN, Alan Kam-leung (Hg.), Mencius. Contexts and Interpretations, Honolulu 2002. Zu Xunzi siehe GOLDIN, Paul R., Rituals of the Way. The Philosophy of Xunzi, Chicago 1999; KLINE, T. C. und IVANHOE, P.J. (Hg.), Virtue, Nature, and Moral Agency in the Xunzi, Indianapolis 2000; HAGEN, Kurtis, The Philosophy of Xunzi. A Reconstruction, Chicago 2007.

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meritokratische Prinzip von Mo Di, ohne dadurch aber den breiteren Rahmen von Mo Dis Philosophie zu akzeptieren. In diesem war die Meritokratie nämlich nicht in erster Linie ein moralisches Gebot, sondern beruhte auf einer Nützlichkeitserwägung. Wo Konfuzius die Riten als Maßstab individuellen und politischen Handelns gesetzt hatte, ließ Mo Di allein den Nutzen für die Allgemeinheit gelten. Sein Vorbild war hier der mythische Urkaiser und Gründer der Xia-Dynastie Yu, der sich zum Wohle aller Menschen abgemüht hatte, indem er die Flussläufe durch Deiche und Kanäle zähmte. Ebenso sollte Mo Dis idealer Herrscher zum Wohle aller regieren, indem er sein Handeln nicht von Eigennutz, sondern von der Erwägung des größtmöglichen Nutzens für alle leiten lassen sollte. Für Mo Di bedeutete dies im politischen Bereich u.a auch den Verzicht auf Angriffskriege, da diese allen Beteiligten nur Nachteile brächten. Auf die zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen führte dieser Ansatz für Mo Di zur Ablehnung jeglichen Partikularismus. Das Ideal war für ihn die einigende Liebe (jian’ai ), die z.B. keinen Unterschied zwischen dem eigenen Vater und den Vätern anderer macht. Diese höchste Form der Elternliebe überwindet die partikulären Interessen der Kleingruppe und öffnet den Blick des Einzelnen für das Allgemeinwohl. Für diese Ideen sind Mo Di und seine Schüler heftig kritisiert worden. Aus konfuzianischer Sicht liegt ihrem utilitaristischen Altruismus eine Fehleinschätzung der menschlichen Natur zugrunde, welche sich nur in der Pflege partikularistischer Beziehungen entfalten kann. Mo Dis Thesen untergrüben damit die Familie als das primäre soziale Beziehungsfeld, in dem sich das moralische Individuum entwickelt. Egalitarismus dieser Art schwäche daher die Fundamente der Zivilisation und wahrer Menschlichkeit. Dies war nur einer der Konfliktbereiche zwischen Konfuzianern und Mohisten. Ein weiterer war Mo Dis Anwendung des Nützlichkeitskriteriums auf die Zhou-Riten. Während Konfuzius die Riten als Repositorien der Weisheit des Altertums heilig waren, sah Mo Di in ihnen nur unnützen und verschwenderischen Zeremonienkram. Insbesondere die aufwändigen Begräbnis- und Trauerriten gehörten seiner Ansicht nach auf ein praktisches Minimum zusammengestrichen.17 Darüber hinaus

17 Siehe auch die Auszüge im Reader.

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teilte Mo Di nicht das eher distanzierte Verhältnis des Konfuzius zur Welt der übernatürlichen Wesen und Kräfte. Er hatte eine recht personale Vorstellung vom Himmel als einer all-sehenden Gottheit mit Vorlieben und Abneigungen, deren Wille für die Menschheit normativ ist. Drei Kapitel seines Buches Mozi sind der näheren Erörterung dieses Willens gewidmet.18 Ein weiteres Kapitel ist den Geistern gewidmet, deren Hauptfunktion die Überwachung, Belohnung und Bestrafung der Menschen ist.19 Sein Theismus hebt Mo Di unter den Denkern dieses Zeitalters hervor, war aber im kulturellen Rahmen des gesellschaftlichen Lebens sicherlich nichts Ungewöhnliches, wie unsere Übersicht des Religionslebens der Östlichen Zhou-Zeit weiter unten aufzeigen wird. Die „Legalisten“ Eine weitere bedeutsame Schulrichtung war die der Legalisten. Diese erst später erfundene Bezeichnung versammelt eine Reihe von Philosophen, die sich selbst nicht unbedingt als einer gemeinsamen Schule zugehörig fühlten, deren Gedankengut aber dennoch genug Ähnlichkeiten aufwies, um von der Nachwelt unter einen gemeinsamen Namen subsumiert zu werden. Kern der chinesischen Nomenklatur ist der Begriff des Gesetzes (fa), daher die Übersetzung „Legalismus“. Das zentrale Anliegen dieser Denker war die Schaffung einer stabilen staatlichen Ordnung und die Stärkung der politischen Macht des Herrschers. Dies sollte durch ein System von Anreizen und Bestrafungen erreicht werden, das in Gesetzen festgelegt und vom Herrscher unparteiisch angewendet werden sollte. Im Unterschied zu Mo Di diente das Gesetz hier nicht der Mehrung des Gemeinwohls, sondern der Kontrolle der Untertanen und dem Machtzuwachs des Staates. Das konfuzianische Ideal der humanen Herrschaft durch die Riten der Zhou hielt ein Legalist wie Gongsun Yang (gest. 338 v. Chr.) für nostalgischen Unfug: Frühere Generationen folgten verschiedenen Lehren – welches Altertum sollen wir zum Vorbild nehmen? Die Kaiser und Könige ahmten einander nicht nach – welchem Ritus sollen wir folgen? Fu Xi und Shennong belehrten, aber straften nicht; der Gelbkaiser, Yao und Shun straften, aber nicht exzessiv. Bis 18 Siehe auch die Auszüge im Reader. 19 Siehe auch die Auszüge im Reader.

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in die Zeit der Könige Wen und Wu [der Zhou] wurden Gesetze und Riten gemäß den Zeitumständen etabliert. [. . .] Daher sage ich, es gibt mehr als einen Weg, die Welt zu regieren, und es ist nicht nötig, das Altertum nachzuahmen.20

Stattdessen traten Gongsun Yang und spätere Legalisten wie Han Feizi (gest. 233 v.Chr.) für die Anwendung des Gesetzes ohne Ansehen der Person ein: Was ich mit der Vereinheitlichung der Strafen meine, ist ihre Anwendung ohne Rücksicht auf Rang und Stand. Von den Ministern und Generälen bis hinab zu Beamten und gemeinem Volk soll jeder ohne Begnadigung mit dem Tode bestraft werden, der den Befehlen des Königs nicht folgt, staatliche Verbote missachtet, oder die Kontrolle der Obrigkeit stört. Frühere Verdienste mildern nicht die Strafe für spätere Vergehen; früheres gutes Verhalten ändert nicht das Gesetz für spätere Verstöße. Wenn sich loyale Minister und pietätvolle Söhne etwas zuschulden kommen lassen, so müssen auch sie gemäß der Schwere ihres Vergehens gerichtet werden.21

Als Staatsphilosophie war der Legalismus in der Zeit der Streitenden Reiche höchst attraktiv und half dem Staate Qin, die Vereinigung Chinas ebenso erfolgreich wie brutal zu vollenden.22 Daode jing und Zhuangzi Dieser Abschnitt ist zwei Texten gewidmet, die gemeinhin als „daoistisch“ bezeichnet werden, auch wenn sie (wie im Fall der gerade besprochenen Legalisten) in ihrer eigenen Zeit noch nicht als Produkte der gleichen Schule angesehen wurden. Gemeinsam ist beiden Texten der Begriff des „Dao“, wörtlich: des Weges. Viele der hier bereits vorgestellten Denker benutzten diesen Begriff ebenfalls. Im vorangegangenen Abschnitt sprach der Legalist Gongsun Yang gerade davon, dass es mehr als einen „Weg“ (dao ) gebe, die Welt zu regieren. Dao bedeutet in nicht-daoistischen Zusammenhängen meist eine konkrete Methode, oder einen Weg unter mehreren. Im Daode jing und Zhuangzi hinge20 DUYVENDAK, J. J. L., The Book of Lord Shang, Chicago 1928, 172–173. 21 DUYVENDAK, J. J. L., The Book of Lord Shang, Chicago 1928, 279. 22 Zur legalistischen Philosophie des Han Feizi siehe WANG, Xiaobo und ZHANG, Chun, The Philosophical Foundations of Han Fei’s Political Theory, Honolulu 1986; LUNDAHL, Bertil, Han Fei Zi. The Man and His Work, Stockholm 1992.

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gen ist die Rede vom Dao als dem Einen, dem kosmischen Prinzip, dem Ursprung und Ziel aller Existenz. Es nicht ein Weg, es ist der Weg. Das Problem des Verfalls und der Unordnung im China ihrer Zeit ist für die Autoren dieser beiden Texte im Wesentlichen ein Problem der Disharmonie, der Entfernung der Menschen vom Dao. Und so sprechen sie über Formen individueller und sozialer Gestaltung, die diese verlorene Harmonie wiederherzustellen vermögen. Jenseits dieser gemeinsamen Thematik könnten die beiden Texte aber kaum verschiedener sein. Das Daode jing ist kurz und kryptisch, der Zhuangzi ausschweifend und humorvoll. Beide nähern sich dem Mysterium des Dao in sehr unterschiedlicher Weise an, wohl wissend, dass mehr als eine Annäherung ohnehin nicht möglich ist. Beginnen wir mit dem kürzeren der beiden Bücher, dem Daode jing. Der „Klassiker vom Dao und seiner Kraft“ (Daode jing ) ist sicherlich der im Westen bekannteste daoistische Text und ist vielfach übersetzt worden.23 Traditionell wurde er dem Weisen Laozi („Alter Meister“) zugeschrieben, einem Zeitgenossen des Konfuzius, und daher führt das Werk auch den alternativen Titel Laozi. Die textkritische Forschung hat jedoch gezeigt, dass das Daode jing sicherlich nicht einem einzigen Autor zuzuschreiben ist, sondern vielmehr eine Sammlung von Textstücken unterschiedlicher Provenienz ist; hinzu kommt, dass die Gestalt des Laozi historisch nicht fassbar und wohl als legendär einzustufen ist. Der heutige Text geht auf Rezensionen der Han-Zeit und der Drei Reiche zurück, insbesondere die des Wang Bi (226–249 n.Chr.).24 Allerdings sind in den letzten Jahrzehnten durch Ausgrabungen Manuskripte zum Vorschein gekommen, die beweisen, dass dem modernen 23 Gängige deutsche Übersetzungen sind u. a.: WILHELM, Richard, Tao te king. Texte und Kommentar, München 1998 (Erstausgabe 1910/1925); SCHWARZ, Ernst, Daudedsching, München 1985 (Erstausgabe 1978); MÖLLER, Hans Georg, Taote-king. Die Seidentexte von Mawangdui, 500 Jahre älter als andere Ausgaben, Frankfurt a. M., 1995. Letztere Übersetzung liegt den in den Reader aufgenommenen Passagen zugrunde. 24 CHAN, Alan K.L., Two Visions of the Way. A Study of the Wang Pi and the HoShang Kung Commentaries on the Lao-Tzu, Albany, NY, 1991; WAGNER, Rudolf G., The Craft of a Chinese Commentator. Wang Bi on the Laozi, Albany, NY, 2000.

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Standardtext sehr ähnliche Versionen bereits im 2.Jh. v. Chr. (Mawangdui-Funde) und zumindest große Teile des Daode jing schon im 4.Jh. v.Chr. (Guodian-Funde) existierten. Der textus receptus besteht aus 81 Abschnitten oder Kapiteln, welche die Zentralbegriffe des Titels dao und de in mannigfaltiger Weise behandeln. Das erste Kapitel des Buches beginnt mit einer Absage an jede sprachliche Erfassung des Dao: „Ein Dao – kann es als Dao bestimmt werden, ist es kein stetiges Dao. Ein Name – kann er als Name bestimmt werden, ist er kein stetiger Name.“ (Daode jing 1). Das Dao ist die Totalität aller Existenz und daher nicht benennbar, denn jeder Name würde es ja von etwas anderem abgrenzen und damit seine allumfassende Natur verfehlen („Ein Dao – kann es als Dao bestimmt werden, ist es kein stetiges Dao.“). Durch Benennung werden Dinge voneinander geschieden und erlangen ihre individuelle Existenz („Namen-habend ist die Mutter der zehntausend Dinge“), der Urgrund des Dao aber bleibt jenseits aller Benennung. So überrascht es denn auch nicht, dass der Weise es vorzieht, nicht über das Dao zu sprechen, da jeder sprachliche Ausdruck unzureichend ist: „Wer weiß, redet nicht; wer redet, weiß nicht“ (Daode jing 56). Dennoch ist das Daode jing natürlich ein Buch und spricht daher über das Dao, tut dies aber in einer Art und Weise, die begriffliche Eingrenzung zu vermeiden sucht. So wird die Unteilbarkeit des Dao durch den Namen „das Eine“ angedeutet; dieses Eine wiederum wird nicht direkt, sondern durch seine Wirkungen beschrieben: Der Himmel erhielt die Einheit – zur Klarheit. Die Erde erhielt die Einheit – zur Ruhe. Die Geister erhielten die Einheit – zur Geisterkraft. Die Flusstäler erhielten die Einheit – zur Fülle. Fürsten und Könige erhielten die Einheit – um der Welt das Rechte zu schaffen. (Daode jing 39)

Alle Dinge erfüllen also ihre Bestimmung, wenn sie das Eine erlangen. Geht das Dao verloren, so verschwindet auch die natürliche Ordnung der Dinge und Chaos breitet sich aus. Für die Autoren des Daode jing liegt in der Entfernung vom Dao die Wurzel allen Übels; die Rezepte der Konfuzianer zur Überwindung von Anomie und Niedergang machen die Lage nur noch schlimmer, ja sind selber sogar Zeichen des Verfalls:

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Mit dem Niedergang des großen Dao entstanden Menschlichkeit und Rechtlichkeit; sobald es Klugheit gab, entstand die große Heuchelei; als die Familienbeziehungen nicht mehr harmonisch waren, entstanden Kindespietät und elterliche Fürsorge; als die Staaten ins Chaos stürzten, entstanden loyale Minister. (Daode jing 18)

Die Schaffung moralischer Werte ist nur nötig, weil die natürliche Güte, die sich aus der Harmonie mit dem Dao ergab, verloren gegangen war und durch „Künstlichkeit“ (wei , oben als „Heuchelei“ übersetzt) ersetzt wurde. Welches Gegenmittel empfiehlt das Daode jing ? Es richtet seine Hoffnung auf einen weisen Herrscher, der es versteht, so zu regieren, dass das Gemeinwesen zum Dao zurückgeführt wird. Kapitel 19 enthält Ratschläge für einen solchen Herrscher: Beende Weisheit und verwerfe Klugheit – das Volk wird hundertfachen Nutzen daraus ziehen. Beende Menschlichkeit und verwerfe Rechtlichkeit – das Volk wird zu Kindespietät und elterlicher Fürsorge zurückkehren. Beende Geschicklichkeit und verwerfe Profit – und es wird keine Räuber und Diebe mehr geben.

Diese praktischen Instruktionen fasst der Text in der folgenden Maxime zusammen: „Daher veranlasse deine Untergebenen, das Einfache und Schlichte zu ergreifen und Selbstsucht und Begierden zu vermindern.“ Der weise Herrscher erreicht dies mittels der machtvollen Ausstrahlung, die ihm kraft seiner eigenen Harmonie mit dem Dao zuwächst. Er steuert sein Volk nicht mit Gesetzen oder Riten, sondern durch das de , die Kraft des Dao, welche sich den Untertanen beinahe unbewusst vermittelt, ohne dass der Herrscher sichtbar handelt. Dieses „Nicht-Handeln“ (wuwei ) ist keine Untätigkeit, sondern ein Handeln im Einklang mit dem Dao, das Hindernisse nicht niederreißt, sondern umfließt wie Wasser einen Fels. Das Dao selbst handelt durch NichtHandeln und der Herrscher muss sich dies zum Vorbild nehmen: „Das Dao bleibt stets namenlos. Können Fürsten und Könige es bewahren, dann wandeln sich die zehntausend Dinge von selbst“ (Daode jing 37). Und so heißt die Handlungsmaxime des nicht-handelnden Fürsten: Ich handle nicht und das Volk wandelt sich selbst; ich liebe die Stille und das Volk richtet sich selbst; ich unternehme nichts und das Volk wird von selbst wohlhabend; ich bin frei von Begierde und das Volk bescheidet sich von selbst mit dem Schlichten. (Daode jing 57)

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Solche Regierung wird von den Untertanen nicht einmal als Herrschaftsausübung empfunden: „Wenn [des weisen Herrschers] Werk vollendet ist, sagt das Volk, ‚Wir sind so von selbst geworden.‘“ (Daode jing 17). Dieses politische Programm ist allerdings nur eine Auslegungsebene des Daode jing , ein Werk, das viele Lesarten zulässt und durch die Jahrhunderte denn auch in mannigfaltiger Weise interpretiert wurde und weiterhin wird. Von dieser exegetischen Fruchtbarkeit zeugen die unzähligen Kommentare und Übersetzungen dieses Textes.25 Im Unterschied zum Daode jing hat das Buch Zhuangzi („Meister Zhuang“) einen historisch einigermaßen klar zuordenbaren Autor, eben den Meister Zhuang des Titels. Sein voller Name war Zhuang Zhou und er lebte im späten 4.Jh. v. Chr. (gest. 290 v. Chr.) im südlichen China. Die moderne Version des Zhuangzi in 33 Kapiteln geht auf eine um 300 n. Chr. erstellte Fassung zurück, die neben weitgehend von Zhuang Zhou selbst verfassten Abschnitten zahlreiche andere Teile enthält. Die textkritische Forschung schreibt nur die ersten sieben, die sogenannten Inneren Kapitel, Meister Zhuang selbst zu; Kapitel 16 bis 27 werden der Schule des Zhuangzi zugeordnet, während die übrigen vierzehn Kapitel mehr oder weniger stark von Zhuangzi abweichende Denkansätze widerspiegeln. Obwohl die Nachwelt beide Bücher als „daoistisch“ einordnet, unterscheidet sich der Zhuangzi deutlich vom Daode jing sowohl in stilistischer wie in inhaltlicher Hinsicht. An die Stelle der poetischen Kürze des Daode jing tritt hier eine reiche Prosa in diskursiver und narrativer Form; anstelle von Ratschlägen an den Herrscher finden wir Geschichten, die das Individuum und seine Lebensführung in den Vordergrund stellen.26 Eine berühmte Geschichte 25 Zu Geschichte und Auslegung des Daode jing siehe u.a. JACOBS, Jörn, Textstudium des Laozi. Daodejing, Frankfurt a. M. 2001; WOHLFART, Günter, Der philosophische Daoismus. Philosophische Untersuchungen zu Grundbegriffen und komparative Studien mit besonderer Berücksichtigung des Laozi (Lao-tse), Köln 2001; KOHN, Livia und LAFARGUE, Michael (Hg.), Lao-tzu and the Tao-te-ching, Albany 1998; MOELLER, Hans-Georg, The Philosophy of the Daodejing, New York 2006. 26 Mehr oder weniger vollständige deutsche Übersetzungen des Zhuangzi gibt es von Richard WILHELM (Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Düsseldorf

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im 17. Kapitel erzählt, wie Zhuangzi einst am Flussufer angelte, als zwei Emissäre des Königs von Chu kamen und ihm ein hohes Amt anboten. Ohne sich umzudrehen, sagte Zhuangzi: „Ich habe gehört, dass es in Chu eine heilige Schildkröte gibt, welche bereits seit 3000 Jahren tot ist. Der König verwahrt sie in Tüchern eingeschlagen in einer Kiste im Ahnentempel. Nun, wäre diese Schildkröte wohl lieber tot, damit ihre Knochen verehrt werden können, oder wäre sie lieber am Leben und schleppte ihren Schwanz durch den Schlamm?“ Die beiden Gesandten mussten zugeben, dass die Schildkröte wohl lieber lebendig im Schlamm säße als tot im königlichen Ahnentempel. Worauf Zhuangzi erwiderte: „Fort mit euch! Auch ich schleppe lieber meinen Schwanz durch den Schlamm!“

Für Zhuangzi ist ein Leben im Einklang mit dem Dao nur jenseits politischer Verwicklungen vorstellbar. Er teilt mit dem Daode jing die Überzeugung, dass das Dao jenseits menschlicher Sprach- und Denkkraft liegt und daher nicht analysiert und erklärt, sondern nur erlebt werden kann. Es geht nicht darum, das Dao zu verstehen, sondern sich ihm anzuverwandeln. Dazu muss das Individuum sein Bewusstsein von allem Gerümpel erlernten Wissensgutes und gedanklicher Unterscheidungen befreien; letztlich geht es dabei um die Aufhebung der Distanz zwischen Subjekt und Objekt durch Überwindung des Ichs oder vielmehr sein Aufgehen im Dao. Anstatt die Sinneserfahrungen zu bewerten und zu interpretieren kann man sie nun einfach erfahren, akzeptieren und leben. Sogar der Tod erscheint in dieser Perspektive nur mehr als ein weiterer Schritt der Wandlung in dem ewigen und beständigen Wandel des Dao. Das fröhliche Wandern in der Freiheit des Dao ist das Ideal des Zhuangzi und sein Buch ist voller Beispiele von Menschen, die dieses Ideal für sich verwirklicht haben. Solche „großen“ oder „vollendeten Menschen“ (daren, zhenren ) überwinden die Grenzen der Konventionen von Denken und Gesellschaft und werden 1972, Erstausgabe 1912) und Stephan SCHUHMACHER (Zhuangzi. Das klassische Buch daoistischer Weisheit, Frankfurt a. M. 1998). Letztere wurde auf der Grundlage der exzellenten englischen Übersetzung des Victor Mair erstellt. Siehe MAIR, Victor H., Wandering on the Way, Honolulu 1998. Siehe auch WATSON, Burton, The Complete Works of Chuang Tzu, New York 1968, sowie GRAHAM, Angus C., Chuang-tzu. The Seven Inner Chapters and Other Writings from the Book Chuang-tzu, London 1981. Siehe auch die Auszüge im Reader.

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eins mit dem Dao.27 Sowohl das Daode jing wie das Buch Zhuangzi hatten enormen Einfluss auf die weitere Entwicklung der chinesischen Religions- und Geistesgeschichte, wie die folgenden Kapitel zeigen werden. Konfuzius und seine Nachfolger, Mo Di, die Legalisten, die daoistischen Autoren von Daode jing und Zhuangzi – dies war nur eine kleine Auswahl aus der vielfältigen Geisteswelt Chinas zwischen dem sechsten und dritten vorchristlichen Jahrhundert, einer Zeit, die gekennzeichnet ist von einer pluralistischen „Blüte der Hundert Schulen“, eine Auswahl, die im Wesentlichen vom Blick auf die langfristige Wirkung der behandelten Schulen bestimmt war. Bevor wir diese Wirkungen in den nachfolgenden Dynastien der Qin und Han weiterverfolgen, müssen wir uns zunächst noch einigen Entwicklungen der späten Zhou-Zeit zuwenden, die sich nicht ohne weiteres im Überblick der Schulrichtungen unterbringen ließen. Konkret müssen wir fragen, was die Zeitquellen uns sagen über Ideen und Praktiken im Bereich von Divination, Ritualwesen, Bestattungspraktiken und Jenseitsvorstellungen, Schamanismus, Kosmologie, Magie, sowie Techniken der Selbstkultivierung. Während unsere bisherige Darstellung sich überwiegend aus den historisch tradierten schriftlichen Quellen nährte, werden wir für viele der gerade erwähnten Sachbereiche zusätzlich auch auf archäologische Quellen zurückgreifen, die aber durchaus auch Texte beinhalten können (Inschriften, Manuskripte). Dieses Material erlaubt uns, den religiösen und kulturellen Hintergrund zu skizzieren, vor dem die eben behandelten philosophischen Schulen mitei27 Als weiterführende Studien zum Zhuangzi seien empfohlen: CHANG, Tsungtung, Metaphysik, Erkenntnis und praktische Philosophie im Chuang-Tzu. Zur NeuInterpretation und systematischen Darstellung der klassischen chinesischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1982; ALLINSON, Robert E., Chuang-tzu for Spiritual Transformation. An Analysis of the Inner Chapters, Albany 1989; AMES, Roger T. (Hg.), Wandering at Ease in the Zhuangzi, Albany 1998; HOFFMANN, Hans Peter, Die Welt als Wendung. Zu einer literarischen Lektüre des Wahren Buches vom südlichen Blütenland (Zhuangzi), Wiesbaden 2001; COOK, Scott Bradley (Hg.), Hiding the World in the World. Uneven Discourses on the Zhuangzi, Albany 2003; COUTINHO, Steve, Zhuangzi and Early Chinese Philosophy. Vagueness, Transformation, and Paradox, Aldershot 2004.

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nander disputierten. Die wichtigste Quelle der religiösen Gebräuche der Zhou-Zeit sind die zahlreichen gut erhaltenen Gräber dieser Periode, welche in den letzten Jahrzehnten gefunden wurden. Grabbeigaben wie Bronzegeräte, Texte auf Seide und Bambustäfelchen, Malereien auf Wänden und Stoffen geben uns Einblicke in die religiöse Welt zumindest der wohlhabenden Oberschicht. Kosmologie Im Verlaufe der Östlichen Zhou entwickelt sich eine korrelative Kosmologie, die Phänomene verschiedener Natur und verschiedener Realitätsebenen dadurch in Beziehung setzt, dass sie sie in einheitliche Raster ordnet, deren Kategorien in klar definierten Relationen zueinander stehen. Die ältesten dieser korrelativen Kategorien sind yin und yang. In ihrer ursprünglichen Verwendung bezeichneten diese Termini die Schatten- respektive Sonnenseite eines Berges. Diese Etymologie deutet bereits auf die charakteristische Komplementarität des yin/yang-Dualismus hin. Yin und yang beschreiben gegensätzliche Eigenschaften wie Dunkel und Licht, Nord und Süd, die aber gleichzeitig Aspekte eines Ganzen sind. Hinzu kommt ein dynamisches Element, in dem yin und yang nicht klar voneinander geschieden sind, sondern in ständiger Interaktion stehen, ja sogar sich in einander verwandeln können. Das bekannte Taiji-Symbol drückt dies aus, indem es der dunklen yin-Hälfte den Keim des yang hinzufügt, und der hellen yang-Seite dementsprechend den Taiji Keim des yin. Dies weist auf die prozessuale Abfolge von yin und yang hin, wie sie sich z. B. in der Folge der Jahreszeiten zeigt: Auf den Frühling (wachsendes yang) folgt der Sommer (yang in seiner größten Ausdehnung), an dessen Sonnenwende yin zuzunehmen beginnt (Verkürzung des Tageslichtes); durch den Herbst hindurch nimmt yin weiter zu und erreicht seine größte Ausdehnung im kalten und dunklen Winter, bis am Tag der Wintersonnenwende die Tage wieder länger werden und yang sich somit wieder zur Geltung bringt. Die Anfänge dieses komplementären und dynamischen Dualismus liegen im Dunkel der Vorgeschichte verborgen; in der späten Zhou-Zeit sind diese Begriffe bereits Allgemeingut und dienen der Erklärung vielfältiger Prozesse, von der Entstehung der Welt durch die Scheidung des Urchaos in die Kräfte von yin und yang (deren Wechsel-

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wirkung dann alle Dinge hervorbringt) bis hin zu Musiktheorie, Divination und Heilkunst.28 Im Laufe der Zhou-Zeit taucht ein anderes (und ursprünglich wohl konkurrierendes) korrelatives System auf, das der „Fünf Wandlungsphasen“ (wuxing ). Dieses sucht prozessuale Abläufe durch eine Abfolge von fünf Phasen zu konzeptualisieren: Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde. Diese werden in zwei Zyklen angeordnet, einen der gegenseitigen Hervorbringung und einen der gegenseitigen Überwindung. Im ersten bringt Wasser Holz hervor, Holz Feuer, Feuer Erde, Erde Metall, und Metall Wasser. Im zweiten überwindet Wasser Feuer, Feuer Metall, Metall Holz, Holz Erde, und Erde Wasser. Die früher übliche Übersetzung von xing als „Elemente“ ist irreführend, denn es handelt sich hierbei nicht um Substanzen, sondern um Phasen in einem zyklischen Prozess, der als Modell für die Konzeptualisierung von anderen prozessualen Abläufen dient, wie z. B. der Abfolge der Jahreszeiten oder der Dynastien. Sowohl die Fünf Wandlungsphasen wie auch yin und yang werden als Formen von qi angesehen, einem weiteren Kernbegriff der traditionellen Weltsicht, der in Zhou-Quellen Gestalt annimmt. Wörtlich „Atem“ oder „Odem“, ist qi eine Kraft, Energie oder FluiEinige Korrelationen dum, welche die Formen belebt. Ob im AlYin Yang tertum qi selbst als eine Form von Materie kalt warm verstanden wurde, ist umstritten. Die gängidunkel hell ge (und ebenfalls umstrittene) englische weiblich männlich Erde Himmel Übersetzung als „energy-matter“ demonstNorden Süden riert die Ambiguität, die dem Begriff anhafMond Sonne tet. Er wird jedenfalls in äußerst vielfältiger Manier sowohl zur Beschreibung von (aus moderner westlicher Sicht) materiellen wie auch psychischen Phänomenen und Prozessen verwendet und in der wissenschaftlichen Literatur heutzutage in der Regel unübersetzt gelassen. Mit qi, yin und yang, den Fünf Wandlungsphasen, sowie den bereits in der Shang-Zeit existierenden zyklischen Zeitkategorien der Zehn Himmelsstämme und Zwölf Erdzweige haben wir Grundbausteine des kosmologischen Den28 Zu yin und yang allgemein siehe GRANET, Marcel, Das chinesische Denken, Frankfurt a. M. 1985 (französische Erstausgabe 1934); LINCK, Gudula, Yin und Yang. Die Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken, München 2000.

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kens, die im Verlauf der chinesischen Geschichte weiter entwickelt und miteinander kombiniert wurden, wodurch korrelative Systeme von zunehmender Komplexität entstanden.29 Divination Ein Bereich, in dem sich ein kosmologisches Denken in zunehmend abstrakten Begriffen auswirkte, war die Divination. Die Shang-Praxis der Orakelknochen wurde in der Westlichen Zhou-Zeit zunächst noch fortgesetzt, dann aber allmählich durch eine neue Methode verdrängt: die des Buches der Wandlungen (Yijing). Anstatt der Befragung von Ahnen und Gottheiten operiert das Yijing mit einer Analyse von Konstellationen von yin- und yang-Kräften, deren rechtes Verständnis Vorhersagen über zukünftige Tendenzen ermöglicht. Die möglichen yinund yang-Konstellationen werden in 64 Hexagrammen dargestellt, welche aus gebrochenen (yin ) und ungebrochenen (yang ) Linien bestehen. So ergeben sechs ungebrochene, also yang , Linien das Hexagramm qian , sechs gebrochene, also yin , Linien das Hexagramm kun . Ersteres steht für den Himmel, letzteres für die Erde. Die Sprüche („Urteil“ und „Bild“) für qian lauten: „Das Schöpferische wirkt erhabenes Gelingen, fördernd durch Beharrlichkeit. [. . .] Des Himmels Bewegung ist kraftvoll. So macht der Edle sich stark und unermüdlich.“ Beim Hexagramm kun heißt es dagegen: Das Empfangende wirkt erhabenes Gelingen, fördernd durch die Beharrlichkeit einer Stute. Hat der Edle etwas zu unternehmen und will voraus, so geht er irre; doch folgt er nach, so findet er Leitung. Fördernd ist es, im Westen und Süden Freunde zu finden, im Osten und Norden der Freunde zu entraten. Ruhige Beharrlichkeit bringt Heil. . . . Der Zustand der Erde ist die empfangende Hingebung. So trägt der Edle weiträumigen Wesens die Außenwelt.30

Die Sprüche beschreiben also die yin - bzw. yang-Kennzeichen des jeweiligen Hexagramms („empfangend“ und „schöpferisch“) und leiten 29 Siehe HENDERSON, John B., The Development and Decline of Chinese Cosmology, New York 1984. 30 WILHELM, Richard, I Ging. Das Buch der Wandlungen, Düsseldorf 1976 (Erstausgabe 1924), 25–32. Siehe Reader für den vollständigen Begleittext zum Hexagramm qian.

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daraus dann mehr oder weniger vage Handlungsanweisungen und Vorhersagen ab. Diese Vagheit öffnet den Text der Interpretation und ermöglichte so verschiedenen Schulrichtungen, ihn für sich in zu vereinnahmen und durch ihre Kommentare für ihre Zwecke fruchtbar zu machen. So konnten sowohl Konfuzianer wie auch Daoisten das Yijing als ihren eigenen Klassiker betrachten, was dem Text einen großen Einfluss bis heute bewahrt hat. Die Linien der Hexagramme werden durch Zählprozesse ermittelt, die jeweils eine gerade (yin ) oder ungerade (yang ) Zahl ergeben. Die traditionelle Methode zählte zu diesem Zweck Bündel von Schafgarbenhalmen ab. Jedes Hexagramm wird von Sprüchen und Kommentaren begleitet, die der Auslegung dienen. Traditionell wird das Yijing vier Weisen zugeschrieben: dem mythischen Fu Xi, dem Zhou-Gründer König Wen, dem Herzog von Zhou und Konfuzius. Die Ergebnisse der textkritischen Forschung widersprechen zwar der traditionellen Sichtweise, aber sie betrachten das Yijing weiterhin als einen der ältesten tradierten Texte Chinas. Sein Kern, die Hexagramme und ihre Begleitsprüche, sind sehr alt und gehen vermutlich bis ins 9.Jh. v. Chr. zurück; die Kommentare (auch die Konfuzius zugeschriebenen) sind jüngeren Datums und mögen wohl ins 2.Jh. v. Chr. datieren. Die moderne Fassung geht auf eine Rezension des 3.Jh. n.Chr. zurück.31 Ahnen, Götter und Dämonen Nimmt man die bislang gegebene Übersicht der philosophischen Schulen, der korrelativen Kosmologie, sowie der Yijing -Divination zusammen, so scheint sich ein Gesamtbild der allmählichen Rationalisierung des Denkens und Diskurses zu ergeben. In der Tat ist dies ein deutlich ausgeprägter Trend dieser Jahrhunderte, was u. a. auch an der fort31 Neben der bereits zitierten Übersetzung von Richard Wilhelm sind die folgenden empfehlenswert: SHAUGHNESSY, Edward L., I Ching. The Classic of Changes, New York 1996; LYNN, Richard John, The Classic of Changes. A New Translation of the I Ching as Interpreted by Wang Bi, New York 1994. Einführende Studien bieten WILHELM, Hellmut, Sinn des I Ging, Düsseldorf 1982; HERTZER, Dominique, Das alte und das neue Yijing. Die Wandlungen des Buches der Wandlungen, München 1996; BOHN, Hermann G., Die Rezeption des Zhouyi in der chinesischen Philosophie, von den Anfängen bis zur Song-Dynastie, München 1998.

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schreitenden Abstrahierung des Himmels ersichtlich ist. Mo Di war wohl der letzte Philosoph, der den Himmel noch als eine durchaus personale Kraft betrachtete, während sich sonst weitgehend die Sicht des Himmels als einer unpersönlichen moralischen Instanz und Quelle von Wertvorstellungen durchsetzte. Für den Konfuzianer Xunzi stellte Tian schließlich gar im Wesentlichen die Naturordnung dar, deren normative Bedeutung für Individuum und Gemeinschaft nicht mehr ohne weiteres gegeben war.32 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rationalisierung begleitet wurde von scheinbar gegenläufigen Vorstellungen und Praktiken im religiösen Leben aller sozialen Schichten, und insbesondere der Oberschicht, über die wir die besten Informationen haben. Zahlreiche Grabfunde bezeugen, dass die diesseitige Orientierung der Philosophen einherging mit Jenseitsvorstellungen, welche enorme finanzielle Aufwendungen seitens der Nachkommen erforderten. Die Gräber der Oberschicht waren aufwändig gestaltete Strukturen, mit mehreren Kammern, welche kostbare Grabbeigaben enthielten. Menschenopfer als Teil des Grabkultes nehmen im Laufe der Zhou-Zeit ab und werden schließlich durch Figurinen aus Ton oder Holz ersetzt. Die bronzenen Ritualgeräte, die bereits in der Shang-Zeit in Gebrauch waren, durchlaufen einen Formenwandel und werden zu Trägern von Inschriften, welche häufig dazu dienten, die Ahnen über Leistungen und Ehrungen ihrer Nachfahren zu informieren und sie um ihren Segen zu bitten.33 Welches Schicksal den Verstorbenen in der Nachwelt erwartete, ist aus den Quellen der Zhou-Zeit nicht ohne weiteres ersichtlich. In der tradierten Literatur gibt es Hinweise auf ein Totenreich namens Gelbe Quellen (Huangquan) oder Dunkle Stadt (Fengdu ), während archäologische Funde darauf hinweisen, dass das Grab selbst möglicherweise als der letzte Aufenthaltsort des Toten verstanden wurde, woraus sich die aufwändige Ausstattung erklären würde. Andererseits könnten die reichhaltigen Beigaben aber

32 Siehe ENO, Robert, The Confucian Creation of Heaven. Philosophy and the Defense of Ritual Mastery, Albany, NY, 1990; MACHLE, Edward J., Nature and Heaven in the Xunzi. A Study of the Tian Lun, Albany, NY 1993. 33 Zum Wandel des Grabkultes siehe DITTRICH, Edith, Grabkult im alten China, Köln 1981.

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auch für eine lange Reise des Totengeistes in den Himmel gedacht sein, wo er in die Reihe der Ahnen eintritt. In Gräbern gefundene Texte geben uns Einblicke in eine reich bevölkerte Welt von Göttern, Geistern, Ahnen und Dämonen, die in vielfältiger Weise in die Geschicke der Menschen eingreifen. In einem in das Jahr 316 v.Chr. datierten Grab fand sich ein Archiv von Divinationstexten, die den Krankheitsverlauf des später Verstorbenen dokumentieren und seine Symptome auf den Einfluss einer Vielzahl von Göttern und Ahnen zurückführen, die jeweils durch Gebet und Opfer zufriedenzustellen waren. Dämonischen Einflüssen war mit Exorzismen beizukommen.34 Eine in einem auf 217 v. Chr. datierten Grab gefundene Sammlung von exorzistischen Rezepten öffnet uns den Blick auf eine reich bevölkerte Welt von Dämonen und Geistern, die Krankheiten, Depressionen und Unglücke aller Art verursachen und denen nur durch Austreibung zu begegnen war.35 Neben Divination, Opfer, Gebet und Exorzismus war Schamanismus eine weitere Form der Interaktion mit der Welt der Götter und Geister. Weibliche und männliche Schamanen und Medien waren Teil des Zhou-Hofstaates und spielten eine wichtige (wenn auch im Laufe der Zeit abnehmende) Rolle im Ritualwesen. Das Schamanentum des südlichen China hinterließ Spuren in den Gesängen von Chu (Chuci), wo wir lyrische Beschreibungen ekstatischer Reisen in die Welt der Götter finden.36 Solche Trance-Erfahrungen beeinflussten die Entwicklung von Transzendenzvorstellungen und sollten auch das entstehende Unsterblichkeitsideal mitprägen, denn Unsterblichkeit kann ein Resultat der Vereinigung des Schamanen mit der Gottheit sein. Die Östliche Zhou-Zeit legte die Grundlagen der chinesischen Religionsgeschichte. Viele der hier angetroffenen Themen werden über die folgenden Jahrhunderte weiter entwickelt und ändern ihre Gestalt in

34 Siehe COOK, Constance A., Death in Ancient China. The Tale of One Man’s Journey, Leiden 2006. 35 HARPER, Donald, „Spellbinding“, in Donald S. LOPEZ (Hg.), Religions of China in Practice, Princeton 1996, 241–250. 36 Siehe WALEY, Arthur, The Nine Songs, London 1955; WEBER-SCHÄFER, Peter, Altchinesische Hymnen aus dem Buch der Lieder und den Gesängen von Ch’u, Köln 1967. Siehe die Auszüge im Reader.

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mannigfacher Weise, aber wenig verschwindet gänzlich aus dem historischen Blickfeld.

3. Die ersten kaiserlichen Dynastien: Qin (221–206 v. Chr.) und Han (206 v. Chr.–220 n.Chr.) Die Qin-Dynastie Nach der gewaltsamen Reichseinigung der chinesischen Staaten erklärte sich der König von Qin zum „Ersten Kaiser der Qin-Dynastie“ (Qin Shi Huangdi). Als Anhänger der legalistischen Philosophie vertraute er auf einen Apparat drakonischer Gesetze, um sein Reich unter Kontrolle zu halten. Die eroberten Gebiete wurden in 36 Territorien eingeteilt, welche nicht als Lehen vergeben, sondern von vom Kaiser eingesetzten Beamten verwaltet wurden. Straßen und Kanäle wurden gebaut, um alle Teile des Reiches miteinander zu verbinden, und Maße, Gewichte, Währung und Schrift wurden vereinheitlicht, um Handel und Kommunikation zu erleichtern. Das Reich wurde nach außen abgesichert durch die ersten Abschnitte des Bauwerkes, das später zur „Großen Mauer“ Chinas werden sollte. Das Projekt der Vereinheitlichung erstreckte sich auch auf die Welt der Ideen. Alle Bücher, die nicht von praktischem Nutzen waren, wurden verboten und größtenteils verbrannt. Dies führte zu einem schwerwiegenden Bruch in der schriftlichen Überlieferung und ist der Hauptgrund, warum viele Zhou-zeitliche Texte verloren gingen oder nur in Han-zeitlichen Rekonstruktionen vorliegen. Der Verengung des intellektuellen Milieus unter der Qin-Herrschaft steht eine weitgreifende religiöse Praxis des Kaiserhofes gegenüber. Die Kontrolle seiner menschlichen Untertanen ergänzte das Qin-Regime durch eine intensive und systematische Beziehungspflege mit den Göttern und Geistern. Regelmäßige Opfer sollten Himmel und Erde, den Göttern von Bergen und Flüssen, Sonne und Mond, verschiedenen Sternbildern, dem Windgott, der Regengottheit usw. dargebracht werden. In der Qin-Hauptstadt sollen mehr als hundert Schreine und Tempel dem offiziellen Kult gedient haben, unter denen die Heiligtümer der Vier Kaiser besonders hervorgehoben waren. Jenseits der Hauptstadt meldete der Kaiser auf Reisen durch sein Reich seinen symbolischen Besitzanspruch durch

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Opfer für die Gottheiten aller Regionen an, die er besuchte. Von besonderer Bedeutung waren die vom Kaiser 219 v. Chr. selbst vollführten feng und shan Opfer auf dem heiligen Berg Taishan in der heutigen Provinz Shandong, die den Herrschaftsanspruch der Qin unterstreichen sollten. Während der aufwändig betriebene Staatskult repräsentative und legitimatorische Funktionen hatte, hegte der Erste Kaiser auch sehr persönliche religiöse Motive. Legendär ist sein Verlangen nach Unsterblichkeit, das ihn See-Expeditionen auf der Suche nach den Inseln der Unsterblichen aussenden ließ. An seinem Hof beschäftigte er eine Schar von Mantikern (fangshi ), die ihn berieten und ihm Elixiere brauten. Letzten Endes nutzte jedoch alles nichts und der mit 49 Jahren verstorbene Kaiser wurde in einem prächtigen Mausoleum zur letzten Ruhe gebettet, dessen Bau er praktisch seine gesamte 37-jährige Herrschaft hindurch (zuerst als König, dann als Kaiser von Qin) vorangetrieben hatte. Die Öffnung dieser Grabanlage mit ihrer „Terrakotta-Armee“ seit den siebziger Jahren war eines der bedeutendsten archäologischen Ereignisse des 20.Jh.37 Die Han-Dynastie Die Qin-Dynastie hatte keinen Bestand; die in Frondiensten geknechtete Bauernschaft erhob sich und auch die alte Aristokratie wandte sich gegen die Qin-Herrscher. Im Jahre 206 v. Chr. rief der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende Rebellenführer Liu Bang (gest. 195 v. Chr.) eine neue Dynastie aus, die Han, welche (mit einer kurzen Unterbrechung von 9 bis 23 n.Chr.) bis 220 n. Chr. Bestand haben sollte. Es vergingen noch weitere vier Jahre, bevor er seine letzten Konkurrenten besiegt hatte und das neue Regime festigen konnte. Nach anfänglichen Ansätzen einer Refeudalisierung durch Lehnsvergabe an Verwandte, Unterstützer und Verbündete setzte sich bei den Han-Kaisern doch bald die Erkenntnis der Überlegenheit des zentralistischen Verwaltungsapparates der Qin durch. In der späteren Geschichte wurde dieses Modell nie mehr wesentlich in Frage gestellt, sondern nur noch weiter entwickelt und verfeinert. Die ersten Jahrzehnte der Han waren eine Konsolidierungsphase, in der sich die Konturen der neuen Ordnung 37 Siehe LEDDEROSE, Lothar und SCHLOMBS, Adele (Hg.), Jenseits der Großen Mauer. Der Erste Kaiser von China und seine Terrakotta-Armee, Gütersloh 1990.

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erst allmählich herausbildeten. Dieser Prozess erreichte seinen Höhepunkt mit der langen Herrschaft des sechsten Han-Kaisers Wu (140–86 v.Chr.), der das Reich nicht nur erweiterte und nach außen absicherte, sondern auch in seiner inneren Ordnung maßgebliche Entscheidungen traf. Aus religionsgeschichtlicher Sicht ist hier zuerst der Aufstieg des Konfuzianismus zu nennen. Die konfuzianische Schule wurde unter der Qin-Herrschaft verfolgt und ihre Texte wurden zerstört. Als der Legalismus zu Beginn der HanZeit durch seine enge Verbindung mit der Qin-Dynastie in Missruf geraten war, boten Konfuzianer den Han-Herrschern ihre ethisch-politischen Lehren als Alternative an. Liu Bang, der bäuerliche Gründerkaiser, hatte an diesem Angebot noch recht wenig Interesse. Besonders Kaiser Wu verhalf der konfuzianischen Lehre schließlich mittels einer Reihe von institutionellen Neuerungen zum Durchbruch. Besonders zu nennen sind die Gestaltung des Staatskultes und der Beamtenrekrutierung – beides Bereiche, in denen Konfuzianer eine besondere Rolle spielten. Der Staatskult entwuchs einem kumulativen Prozess, der durchaus nicht durchweg konfuzianischen Charakters war. Während der ersten Jahrzehnte der Han-Herrschaft setzte man die Qin-Politik der kultischen Vereinnahmung möglichst vieler Gottheiten fort. Der Qin-zeitliche Kult der Vier Kaiser wurde unter dem Einfluss der Fünf-PhasenLehre zu dem der Fünf Kaiser erweitert (welche nicht zu verwechseln sind mit den oben erwähnten Fünf Kaisern der Vorgeschichte). Dieser Kult blieb bis ins 1. Jh. v.Chr. ein Kernstück der Han-zeitlichen Staatsreligion.38 Außer den Schreinen der Fünf Kaiser enthielt die HanHauptstadt Chang’an zahlreiche Heiligtümer von regionalen Gottheiten, die von Schamanen ihrer Ursprungsregionen im kaiserlichen Auftrag verehrt wurden, womit wohl die Beziehungen von Zentrale und Provinz symbolisch gestärkt und der Machtanspruch der Dynastie unterstrichen werden sollten. Weitere religiöse Neuerungen, so der zunehmende Einfluss korrelativ-kosmologischer Vorstellungen und die Einrichtung neuer Kulte für den Herrscher (oder die Kaiserin) der Erde (Houtu) und die Gottheit Große Einheit (Taiyi) gehen vermutlich zurück auf eine in der frühen Han-Dynastie am Hof dominante staats38 Siehe KERN, Martin, Die Hymnen der chinesischen Staatsopfer, Stuttgart 1997.

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philosophische Richtung, welche die Quellen als Huang-Lao bezeichnen (wörtlich „Gelbkaiser und Laozi“). Nicht viel ist darüber bekannt, aber man geht davon aus, dass die Huang-Lao-Denker eine daoistische Sicht des Staatswesens als Teil des Dao vertraten, kombiniert mit Elementen der legalistischen Lehre.39 Kaiser Wu belebte auch die in der Qin-Dynastie eingeführten feng und shan Opfer wieder, welche er im Jahre 110 v.Chr. persönlich auf dem Taishan vollzog, wobei sich in seinem Fall wohl Staatsräson und persönliche religiöse Anliegen mischten, da er sich vom Vollzug der Zeremonie Unsterblichkeit erhoffte.40 Der kumulative und heterogene Charakter des Staatskultes der frühen Han zeigt, wie in Abwesenheit einer einigenden Ideologie die Entwicklung des Kultwesens stark von den Interessen verschiedener Akteure geprägt wurde: den persönlichen Vorlieben der Kaiser, den HuangLao-Sympathien von Hofbeamten, den Ideen und Anregungen von Schamanen und Magiern und den politischen Anforderungen der Reichseinigung. Wenn diese Tendenzen unter der Herrschaft des eigenwilligen Kaisers Wu auch ihren Höhepunkt erreichten, so war er es doch auch, der gleichzeitig den Grundstein für die konfuzianische Systematisierung des Staatskultes im 1. Jh. v. Chr. legte, indem er der konfuzianischen Lehre eine institutionelle Basis im Staatsgefüge verschaffte. Nachdem schon seine Vorgänger institutionelle Verfahren zur Empfehlung talentierter Männer eingerichtet hatten, ging Kaiser Wu einen Schritt weiter und begründete im Jahre 124 v. Chr. eine kaiserliche Akademie (Taixue ) zur Ausbildung der Elite des Reiches. Mit der Entscheidung für einen zentral regierten und verwalteten Staatsapparat ergab sich die Notwendigkeit, Mechanismen für die Rekrutierung der Beamtenschaft zu etablieren. Wie erwähnt hatte Xunzi sich bereits Mo Dis Prinzip der Beförderung des Tüchtigsten zu eigen gemacht, ein Prinzip, das dem Standesbewusstsein einer feudalen Ordnung widersprach, aber den Bedürfnissen eines zentralistischen Staatswesens entgegenkam. Die Akademie des Kaisers Wu sollte nun die Ausbildung der Füh39 Zu Huang-Lao siehe PEERENBOOM, R. P., Law and Morality in Ancient China. The Silk Manuscripts of Huang-Lao, Albany, NY, 1993; YATES, Robin, Five Lost Classics. Tao, HuangLao, and Yin-yang in Han China, New York 1997. 40 LEWIS, Mark Edward, “The feng and shan Sacrifices of Emperor Wu of the Han”, in Joseph P. MCDERMOTT (Hg.), State and Court Ritual in China, Cambridge 1999, 50–80.

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rungselite des Staates zentralisieren und standardisieren. Das Curriculum dieser Akademie war fest in konfuzianischer Hand und konzentrierte sich auf fünf Texte, die von nun an den kanonischen Status von „Klassikern“ (jing ) haben sollten: das Buch der Wandlungen , das Buch der Lieder, das Buch der Urkunden , die Ritenklassiker, sowie die Frühlings- und Herbstannalen. Dies ist der Anfang einer festen Verbindung von Beamtenlaufbahn und konfuzianischer Bildung, die mit wenigen Unterbrechungen bis zum Ende des Kaiserreichs im frühen 20.Jh. Bestand hatte. Die Ausrichtung des Lehrplans auf die klassischen Texte signalisierte gleichzeitig die Institutionalisierung eines konfuzianischen Verständnisses von Bildung. Es ging nicht um die Vermittlung von Fachwissen z. B. in Verwaltungswesen, Recht, Finanzen oder militärischen Angelegenheiten, sondern um die charakterliche Formung loyaler Staatsdiener. Die „Konfuzianisierung“ der Beamtenschaft hatte u. a. die bereits erwähnte Ritenreform im 1.Jh. v. Chr. zur Folge, in deren Verlauf das bunte Sammelsurium offizieller Kulte stark reduziert und am angeblich Zhou-zeitlichen Vorbild der Verehrung von Himmel und Erde durch den Herrscher neu orientiert wurde. Die Kulte der Fünf Kaiser, des Houtu und des Taiyi wurden abgeschafft und durch Schreine für Himmel und Erde ersetzt. Wenn diese Reform auch nicht endgültig war und es im Verlaufe der Han-Zeit (und der chinesischen Geschichte überhaupt) immer wieder zu Abweichungen vom „klassischen“ Vorbild kam, so waren doch die Grundlagen einer konfuzianischen Ausrichtung der Staatsreligion gelegt; die Himmels- und Erdschreine der letzten kaiserlichen Dynastie der Qing sind heute noch in Beijing zu besichtigen.41 Grundlage der konfuzianischen Prägung des Staatskultes bildeten die kanonischen Ritenbücher: Etikette und Riten (Yili), Riten der Zhou (Zhouli ) und das Buch der Riten (Liji ).42 Die Tradition betrachtet diese 41 Zu diesem Thema siehe EICHHORN, Werner, Die alte chinesische Religion und das Staatskultwesen, Leiden 1976; LOEWE, Michael, Faith, Myth and Reason in Han China, Indianapolis 2005 (Erstausgabe 1982); POO, Mu-chou, In Search of Personal Welfare. A View of Ancient Chinese Religion, Albany 1998; BUJARD, Marianne, Le sacrifice au Ciel dans la Chine ancienne. Théorie et pratique sous les Han occidentaux, Paris 2000. 42 Zum Kanonisierungprozess siehe NYLAN, Michael, The Five „Confucian“ Classics, New Haven 2001.

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Texte als Werke der Zhou-Zeit, die so illustren Gestalten wie dem Herzog von Zhou und Konfuzius und seinen Schülern zugeschrieben und die nach der Qin-zeitlichen Bücherverbrennung rekonstituiert wurden. Tatsächlich enthalten sie einiges älteres Material, sind aber im Ganzen wohl ein Produkt der zunehmenden konfuzianischen Beteiligung an den Verwaltungs- und Ritenreformen der Han-Zeit, für die sie einen (bei weitem nicht immer befolgten) „klassischen“ Standard lieferten.43 Die Kompilation der Ritentexte war Teil eines konfuzianischen Projektes der Wiedergewinnung der von der Qin-Verfolgung geschädigten klassischen Texttradition. In einer Jahrhunderte währenden Anstrengung wurden aus überlebenden Manuskripten die Standardfassungen der kanonischen Bücher erstellt, die bis zu den archäologischen Textfunden des 20.Jh. unsere Sichtweise der vor-Han-zeitlichen Texttradition bestimmten. Dieses Unterfangen verlief nicht ganz harmonisch, da lange Zeit zwei Schulen auf Grundlage unterschiedlicher Textversionen miteinander konkurrierten: die Neutext- (jinwen ) und die Alttext(guwen ) Schule. Erstere schrieb den klassischen Texten esoterische Bedeutungsebenen und ihren Autoren (besonders Konfuzius) quasi-prophetische Fähigkeiten zu, während letztere eine mehr anthropozentrisch-moralistische Auslegung bevorzugte. Die Alttext-Schule setzte sich letzten Endes durch, aber die Anliegen der Neutextler bezeugen doch die Bandbreite intellektueller Perspektiven, die im Han-Konfuzianismus möglich war. Ein repräsentatives Beispiel der neuen Richtungen, in welche die konfuzianische Tradition während der Han-Zeit entwickelt werden konnte, bietet der Philosoph und Ratgeber des Kaisers Wu, Dong Zhongshu (ca. 179–ca. 104 v. Chr.). Er suchte die Lehren des Konfuzius zu „modernisieren“, indem er sie an das gewandelte soziale, politische und intellektuelle Umfeld des 2. Jh. v. Chr. anpasste. Ein wichtiges neues Element war die Entwicklung einer Metaphysik nach Vorgaben der korrelativen Kosmologie. War die menschliche Gesellschaft für Konfuzius noch Hauptanliegen seines Denkens gewesen,

43 Für Übersetzungen der Ritenklassiker siehe STEELE, John, The I li, or Book of Etiquette and Ceremonial, London 1917; BIOT, Édouard, Le Tcheou-li ou Rites des Tcheou, Paris 1851; LEGGE, James, The Li Ki, in The Sacred Books of the East, Oxford 1879–1885; WILHELM, Richard, Li Gi. Das Buch der Sitte des älteren und jüngeren Dai, Jena 1930.

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so existierte die Menschenwelt für Dong Zhongshu in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis mit Himmel und Erde und unterlag daher auch deren Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten. Wer die Gesellschaft ordnen wollte, musste die Ordnung von Himmel und Erde verstehen, die mit der menschlichen Gesellschaft die gleichen kosmologischen Grundprinzipien teilte. 䘚 Der Herrscher hatte daher bei seiner Regierung den wang König Wechsel von yin und yang sowie die Abfolge der Fünf Wandlungsphasen zu beachten. Nur so konnte er die drei Sphären von Himmel, Erde und Menschheit verbinden und harmonisieren und damit seine Funktion als Herrscher erfüllen. Dong illustrierte diese Sichtweise mit der graphischen Struktur des Schriftzeichens für „König“, wang. Dieses besteht aus drei übereinander liegenden horizontalen Linien, die durch eine vertikale Linie verbunden sind. Die drei horizontalen Linien stehen für Himmel, Menschenwelt und Erde, während die vertikale Linie ihre harmonische Verbindung symbolisiert, welche die Aufgabe des Herrschers ist.44 Mit dieser kosmischen Rolle des Kaisers geht einerseits ein enormer Machtzuwachs einher, der die reellen Machtverhältnisse im zentralisierten Han-Staat reflektierte, andererseits aber auch eine gestiegene Verantwortung. Der Herrscher war nun nicht nur für Ordnung und Sicherheit der Gesellschaft, sondern ebenso für die der Natur zuständig. Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen und Erdbeben waren daher vom Kaiser zu verantworten und konnten als Hinweise auf Mängel in seiner Herrschaft ausgelegt werden. Eine Folge dieser „Kosmisierung“ der Politik war die große Aufmerksamkeit, die am Han-Hof Omina aller Art geschenkt wurde. Sonnenfinsternisse, Kometen, seltene Planetenkonjunktionen, das Erscheinen seltsamer Tiere – alles konnte als glücksoder unglücksverheißender politischer Kommentar gelesen werden und in der politischen Rhetorik des Hofes Verwendung finden. Diese kosmische Einbettung der Geschicke der Menschenwelt bedingt ein In-

44 Dongs Hauptwerk, das Chunqiu fanlu liegt in deutscher Teilübersetzung von Robert H. GASSMANN vor: Ch’un-ch’iu fan-lu. Üppiger Tau des Frühlings- und Herbst-Klassikers, Bern 1988. Zu Dong Zhongshu siehe auch QUEEN, Sarah A., From Chronicle to Canon. The Hermeneutics of the Spring and Autumn Annals according to Tung Chung-shu, Cambridge 1996.

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teresse an kosmologischen Fragen, das als ein Hauptmerkmal des Geisteslebens der Han-Zeit gelten kann. Neben der Philosophie Dong Zhongshus zeigt sich diese Orientierung auch an der intensiven Beschäftigung mit Divinationstechniken, insbesondere dem Buch der Wandlungen , das in dieser Periode die Form annahm, in der es heute noch zirkuliert und verwendet wird.45 Ein origineller Denker entwarf sogar ein neues Orakelbuch auf der Basis von 81 Tetragrammen, das seiner Meinung nach eine bessere Analyse der yin-yang-Konstellationen erlaubte als die 64 Hexagramme des Yijing. Zwar setzte sich Yang Xiongs (53 v.Chr.–18 n. Chr.) Klassiker des Großen Mysteriums (Taixuan jing) nie gegen das ehrwürdige Buch der Wandlungen durch, aber es bezeugt die Intensität und Kreativität der kosmologischen Spekulation dieses Zeitalters.46 Dabei ist zu beachten, dass Kosmologie zweierlei Konsequenzen haben kann: Zum einen kann sie der Verzauberung der Welt Vorschub leisten, indem sie natürliche und übernatürliche Dimensionen von Realität verbindet und ineinander verschachtelt; zum anderen aber kann sie den dadurch entstehenden Kosmos auch entzaubern, indem es ihn einer Naturgesetzlichkeit abstrakter Kräfte unterwirft. So hat Yang Xiongs yin-yang-Denken durchaus rationalistische Züge, indem es die Spielräume personaler übernatürlicher Kräfte stark einschränkt. Einen noch dezidierter rationalistischen Ansatz verfolgte in der nächsten Generation Wang Chong (27–ca. 100) mit der größten Konsequenz. Sein Lunheng enthält zahlreiche Essays, die scheinbar übernatürliche Phänomene „wissenschaftlich“ zu erklären suchen. So kritisiert er z.B. das Verständnis von Blitz und Donner als Zorn des Himmels und führt diese Erscheinungen stattdessen auf natürliche Interaktionen von yin- und yang-Kräften zurück.47 Die Skeptik einiger Denker hatte jedoch keinen merklichen Einfluss auf die allgemeinen Ansichten zur Existenz von Göttern, Geistern, Ahnen und Unsterblichen. Die Koexistenz abstrakter kosmologischer 45 BOHN, Hermann G., Die Rezeption des Zhouyi in der Chinesischen Philosophie, von den Anfängen bis zur Song-Dynastie, München 1998. 46 NYLAN, Michael, The Canon of Supreme Mystery, Albany, NY, 1993. 47 Übers. von Alfred FORKE, Lun-hêng, Leipzig 1907–1911. Zu Wang Chong siehe auch ZUFFEREY, Nicolas, Wang Chong (27–97?). Connaissance politique et vérité en Chine ancienne, Bern 1995.

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Schemata mit einer überbordenden Welt personaler Gottheiten und Geistwesen ist ein Kennzeichen chinesischer Religiosität bis heute geblieben. Sie ist nicht mit klassenspezifischen Unterschieden zu erklären, da Grabfunde und Schriftzeugnisse der Han-Zeit zeigen, dass die Oberschicht, der Männer wie Yang Xiong und Wang Chong angehörten, dem Kult der Unsterblichen 淑 und Gottheiten wie der Königinmutter des Weshun , Geistseele tens ebenso oder gar mehr als kosmologischer 淓 Spekulation frönten. Wir hatten bereits vom kaipo , Körperseele serlichen Kult der höchstwahrscheinlich anthropomorph dargestellten Götter Houtu und Taiyi gehört, der mehrmals abgeschafft und wieder eingeführt wurde. Während die immer einflussreichere konfuzianische Beamtenschaft langsam die Schamanen und Schamaninnen aus den offiziellen Kulten verdrängte, blieben ihre Dienste im privaten und lokalen Bereich weiter gefragt, wie auch in persönlichen Diensten des Kaisers. Die Jenseitsvorstellungen, die uns Oberschichtgräber der Han-Zeit veranschaulichen, stehen in Kontinuität mit denen der Streitenden Reiche, wobei insbesondere die Vielfalt und relative Unbestimmtheit der diesbezüglichen Ideen auffällt. Das yin-yang-Schema wirkte sich auf die Seelenvorstellung aus, indem nun die bereits aus vor-Han-zeitlichen Quellen bekannte Unterscheidung von Körper (po )- und Geistseele (hun ) weitere Verbreitung erfuhr, wobei erstere mit yin, letztere mit yang assoziiert wurde. Die Schriftzeichen für hun und po bestehen aus dem gleichen bedeutungsangebenden Element gui („Geist“) sowie einem jeweils spezifischen phonetischen Element. Die Vorstellung einer zweigeteilten Seele vermochte u. a. die scheinbar widersprüchlichen Ideen des Bestimmungsortes der Seele als himmlisches Paradies oder unterirdische Gelbe Quellen aufzulösen, indem man sie jeweils einer der beiden Seelen zuordnete, wobei die hun -Seele zum Himmel flog, während die poSeele im Grab verblieb. Und in der Tat gibt es Textbelege, welche einen solchen Dualismus belegen. Gleichzeitig zeigen archäologische Funde, dass in der Praxis keine saubere Trennlinie zwischen hun und po gezogen wurde. Für die moderne Volksreligion in Taiwan hat der Ethnologe Stevan Harrell die Hypothese erstellt, dass sich hinter der konzeptuellen Unterscheidung mehrerer Seelen die Vorstellung einer einheitlichen Seele verbirgt, die jedoch in verschiedenen rituellen Kontexten (Grab,

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Quelle: Loewe, Michael, Ways to Paradise. The Chinese Quest for Immortality, London 1979, 36.

Ahnentafel, Unterwelt) verschiedene Bedeutungen annimmt und daher auch verschieden behandelt wird.48 Möglicherweise lag dem hun -po Dualismus der Han-Zeit eine ähnliche Dynamik zugrunde. In den Gräbern der Han-Zeit zeigt sich die Unterscheidung in einer Hierarchie 48 HARRELL, Stevan, The Concept of „Soul“ in Chinese Folk Religion, Journal of Asian Studies 38.3 (1979), 519–528.

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chthonischer Gottheiten und eines Reiches fliegender Unsterblicher. Zweifellos beeinflusst von der zunehmenden Bürokratisierung und Zentralisierung des Staatsapparates der Han erscheinen in Grabtexten dieser Zeit auch die Gelben Quellen als eine bürokratisch organisierte Jenseitswelt, mit der man in der Manier offiziellen Schriftverkehrs kommunizierte. Dem Grab beigelegte Dokumente sind an Unterweltsmagistraten und -büttel gerichtet und behandeln Fragen wie Steuerund Arbeitsdienstleistungen des Verstorbenen in der Unterwelt. Manches Grab enthielt Bleifigurinen, die anstelle des Toten den Arbeitsdienst verrichten sollten. Ebenso enthielten viele Gräber Besitzurkunden für das Land, auf dem das Grab errichtet worden war, welche die Rechte des Toten auf seine Behausung den Unterweltsbehörden gegenüber klarstellen sollten.49 Gleichzeitig legen viele Gräber von der Hoffnung auf den Aufstieg in ein himmlisches Reich Zeugnis ab, das von gefiederten Unsterblichen bevölkert ist. Einer der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen aus der frühen Han-Zeit ist das auf das Jahr 166 v. Chr. datierte Grab der Markgräfin von Dai, das neben dem perfekt erhaltenen Leichnam ein auf dem Sarg liegendes Seidengemälde enthielt, das die Jenseitsreise der Seele darstellt (s. S. 60). Wie die Einzelheiten des Bildes zu deuten sind, ist unter den Experten umstritten, aber das Gesamtschema scheint klar: Der untere Abschnitt zeigt die Verstorbene als auf einen Stock gestützte und von Dienern umgebene alte Frau (5), die im oberen Abschnitt verjüngt und in ein schlangenschwänziges Hybridwesen verwandelt (25) wieder auftaucht, platziert zwischen dem von einer Kröte symbolisierten Mond (22) und dem Sonnenraben (20).50 Die Verbindung zwischen den beiden Sektionen des Gemäldes bildet ein von zwei männlichen Figuren bewachtes Tor. Dieses Ideal eines Aufstieges zur Unsterblichkeit erscheint auch auf 49 Siehe SEIDEL, Anna, Geleitbrief an die Unterwelt. Jenseitsvorstellungen in den Graburkunden der späteren Han-Zeit, in Gert NAUNDORF, Karl-Heinz POHL, und Hans-Hermann SCHMIDT (Hg.), Religion und Philosophie in Ostasien. Festschrift für Hans Steininger, Würzburg 1985, 161–183. 50 Abweichende Deutungen sehen in der Figur 25 eine (verschiedentlich identifizierte) Gottheit anstelle der Seele der Verstorbenen. Für eine detaillierte Besprechung siehe LOEWE, Michael, Ways to Paradise. The Chinese Quest for Immortality, London 1979, 17–59.

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einem wesentlich häufigeren Typ von Talisman, der wie das Seidengemälde vermutlich die Funktion hatte, die Seele ins Paradies zu leiten: dem Bronzespiegel. Solche auf der Rückseite reich verzierten Spiegel tauchen in Gräbern ab dem 1.Jh. v. Chr. auf, sind normalerweise rund (wie der Himmel) mit einem Quadrat (= Erde) in der Mitte, dessen Zentrum wiederum von einem Buckel eingenommen wird. Das Erdquadrat enthält die Symbole der Zwölf Erdzweige. Die Scheibenringe enthalten verschiedene Elemente. Häufig ist eine Inschrift vorhanden, welche auf die paradiesische Existenz der Unsterblichen hinweist, sich auf bestimmte Gottheiten wie die Königinmutter des Westens bezieht oder allgemein Glück verheißt. Die meisten Spiegel enthalten Winkelfiguren, von denen die technische Bezeichnung „TLV-Spiegel“ abgeleitet ist und deren Funktion nicht eindeutig geklärt ist. Ein weiteres Band enthält die Tiersymbole der vier Himmelsrichtungen: Grüner Drache (Osten), Weißer Tiger (Westen), Roter Vogel Quelle: LOEWE, Ways to Paradise, 81. (Süden) und Dunkler Krieger (Norden, dargestellt durch eine von einer Schlange umwickelten Schildkröte). Deutete man den Buckel in der Mitte des Spiegels als Erdhügel, so sind die Fünf Wandlungsphasen komplett und der Spiegel wird zu einem Modell des Kosmos, das der Totenseele den Weg ins Paradies weist, womöglich reisend auf dem Wolkenband, das in der Regel den äußersten Ring des Spiegels einnimmt.51 Die bereits erwähnte Königinmutter des Westens (Xiwangmu ) taucht des Öfteren auf Spiegeln und in Grabschmuck auf. Schon seit der Zeit der Streitenden Reiche wurde sie in Verbindung mit dem Elixier der Unsterblichkeit gebracht und ihr Bergreich Kunlun war das 51 Siehe LOEWE, Ways to Paradise, 60–85.

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westliche Gegenstück zu den Inseln der Unsterblichen im Osten. Die Ikonographie der Xiwangmu taucht verstärkt in der Östlichen Han-Dynastie, also ab dem 1. Jh. n. Chr. auf und zeigt sie meist mit einer charakteristischen Krone, auf Drachen und Tiger (oder einem hybriden Drachentiger) sitzend (Symbolen von yang und yin, Osten und Westen), Xiwangmu mit Begleitern. Han-zeitlicher und begleitet von einem neun- Grabziegel aus der Provinz Sichuan. schwänzigen Fuchs und vom Quelle: FINSTERBUSCH, K., Verzeichnis und MoSonnenraben und Mondha- tivindex der Han-Darstellungen, Bd.II, Wiesbaden 1971, Abb. 44. sen, wobei letzterer häufig gezeigt wird, wie er in einem Mörser das Elixier der Unsterblichkeit bereitet. Xiwangmu war auch der Gegenstand der ersten religiösen Massenbewegung, welche die chinesische Geschichte verzeichnet. Das Geschichtswerk Buch der Han-Dynastie (Hanshu ) berichtet für das Jahr 3 v. Chr., dass während einer schweren Dürre Massen von Bauern durchs Land zogen und die Ankunft der Königinmutter des Westens verkündigten. Diese offenbar millenaristische Bewegung gab einen Vorgeschmack auf religiöse Entwicklungen im 2.Jh. n. Chr., gegen Ende der Han-Dynastie.52 Nach einer kurzen Unterbrechung durch die Xin-Dynastie des Usurpators Wang Mang wurde die Han-Herrschaft im Jahre 25 n. Chr. wieder errichtet und erhielt sich noch einmal knapp zwei Jahrhunderte bis zum Jahre 220. In der chinesischen Geschichtsschreibung wird diese Zeit als die der Späteren oder Östlichen Han bezeichnet. Allerdings war das 2. Jh. gekennzeichnet vom fortschreitenden Verfall der dynastischen 52 Zu Xiwangmu siehe CAHILL, Suzanne, Transcendence and Divine Passion. The Queen Mother of the West in Medieval China, Stanford 1993; FRÜHAUF, Manfred, Die Königliche Mutter des Westens. Xiwangmu in alten Dokumenten Chinas, Bochum 1999.

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Autorität der Han. Die Schwächung der Zentralregierung ging einher mit der Stärkung der lokalen Aristokratie. Folgen waren zunehmende Ausbeutung der Bauernschaft, Fehlen von koordinierten Gegenmaßnahmen bei Naturkatastrophen und Missernten und die Wandlung von Han-Generälen in weitgehend selbstständig agierende Warlords. Eine Konsequenz der sich verschlechternden soziopolitischen Rahmenbedingungen waren wiederholte Bauernaufstände. Die politischen Motive dieser Entrechteten, die nichts mehr zu verlieren hatten, vermischten sich mit religiösen Hoffnungen auf eine neue, gerechtere Ordnung und die größten Aufstandsbewegungen hatten daher deutlich chiliastische Züge. So brach im Jahre 184, einem jiazi-Jahr, also dem ersten Jahr eines neuen Sechziger-Zyklus, der Aufstand der nach ihrer Kopftracht benannten Gelben Turbane aus. Nicht viel ist bekannt über diese Bewegung, deren Rebellion ein neues Zeitalter des Großen Friedens (Taiping ) einläuten sollte und die damit an in dieser schwierigen Zeit weit verbreitete Hoffnungen auf Erneuerung anknüpfte – Hoffnungen, die nicht nur die geknechtete Bauernschaft beflügelten, sondern auch am Kaiserhof Gehör fanden. Das Ideal eines neuen Reiches des Großen Friedens und der Harmonie mit dem Dao war Thema prophetischer Texte, die Han-Kaisern im 1. Jh. v. Chr. und im Jahre 166 n. Chr. als politisch-geistige Reformmodelle vorgelegt wurden; Teile dieser Texte sind möglicherweise in der im Daoistischen Kanon erhaltenen Schrift vom Großen Frieden (Taiping jing ) enthalten.53 Zwar gelang es den Han noch, den Aufstand der Gelben Turbane niederzuwerfen, jedoch war die Dynastie hiernach so geschwächt, dass ihre Kaiser fortan im Schatten der jeweils mächtigsten Militärführer standen. Als der letzte Han-Kaiser im Jahre 220 zugunsten des Cao Pi (187–226), Sohn des Han-Generals Cao Cao (155–220), abdankte, war dies lediglich die formelle Bestätigung einer politischen Realität, die schon seit Jahren bestanden hatte. Der von Cao Cao gegründete Staat Wei stand im Wettstreit mit zwei anderen Han-Nachfolgestaaten: Shu und Wu. Ihre Kämpfe und Intrigen in der Zeit der Drei Reiche (220– 280) wurden zum Stoff von Legende und Literatur und die Namen der 53 Zur komplizierten Textgeschichte des Taiping jing , siehe HENDRISCHKE, Barbara, The Scripture on Great Peace. The Taiping jing and the Beginnings of Daoism, Berkeley 2006.

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Beteiligten wurden zu Archetypen in Oper und Roman späterer Zeitalter: Cao Cao, der gerissene Bösewicht; der edle Shu-Herrscher Liu Bei; sein genialer Stratege Zhuge Liang; der loyale General Guan Yu. Letzterer wurde später zum Gott von Krieg und Handel erhoben und wird in der modernen Volksreligion weithin verehrt. Neben Geschichten und Helden gab uns diese Periode aber auch eine religiöse Bewegung, die großen Einfluss auf die weitere Geschichte Chinas ausüben sollte und bis heute Bestand hat: der Weg der Himmelsmeister (Tianshi Dao ), die früheste Form des Daoismus als religiöser Institution mit Ritualen, Priesterschaft und den Anfängen eines Kanons heiliger Schriften. Der Gründer des Weges der Himmelsmeister war ein gewisser Zhang Daoling, dessen Vita so von Legenden überwuchert wurde, dass der historische Kern kaum zu isolieren ist. Er war wohl ein Experte in okkulten Techniken (Mantiker, fangshi ), den es aus Zentralchina in die isolierte Westprovinz Sichuan verschlagen hatte. Dort hatte er der Überlieferung nach im Jahr 142 auf dem Berg des Kranichrufs (Heming shan) eine Vision des vergöttlichten Laozi, der mit ihm einen Bund schloss und ihm den Titel „Himmelsmeister“ sowie eine Anzahl heiliger Texte verlieh.54 Als Teil des Bundes verpflichtete sich Zhang Daoling (und seine späteren Anhänger), dem Kult der unreinen Götter und Geister der Volksreligion mit ihren blutigen Tieropfern abzuschwören und stattdessen ein von Laozi neu offenbartes und angeführtes Pantheon zu verehren. Im Gegenzug würden die neuen Götter alle Teilnehmer des Bundes im apokalyptischen Übergang zu einem neuen Reich des Friedens vor dämonischen Angriffen schützen. Die Bundesmitglieder würden so zum Saatvolk (zhongmin ) des kommenden neuen Zeitalters werden. Die Entwicklung des Laozi vom vermuteten Autor des Daode jing zu einer weithin verehrten Gottheit ist Resultat der kumulativen Zuschreibung immer neuer mystischer Einsichten und magischer Kräfte an diese legendäre Gestalt, unter anderem durch die Anhänger der HuangLao-Lehre und durch die Mantiker (fangshi ). Eines der frühesten Dokumente religiöser Verehrung des Laozi ist eine auf das Jahr 163 datier54 Zu Zhang Daoling siehe OLLES, Volker, Spuren des Himmelsmeisters. Zur Rolle von Zhang Daoling in der frühen daoistischen Religion, Münster 1998.

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te Inschrift, in welcher der Han-Kaiser Huan (reg. 146–168) die Gottheit pries.55 Neben Zhang Daoling setzten auch andere religiöse Führer des 2. Jh. auf Laojun („Herrn Lao“) als Personifizierung des Dao, als kosmischen Gott, welcher die aus den Fugen geratene Welt richten und erneuern würde. Ein auf die zweite Hälfte des 2. Jh. datierter Text („Schrift von den Wandlungen des Laozi“, Laozi bianhua jing ) zeigt Laozi als apokalyptische Erlösergestalt, welche die korrupte Herrschaft der Han beenden würde.56 Diese Rolle als eine Art daoistischer Messias (oft unter dem Namen Li Hong) erfüllte Laozi für eine Abfolge chiliastischer Bewegungen im Laufe der chinesischen Geschichte, besonders in den Jahrhunderten zwischen dem Ende der Han und dem Beginn der Tang-Dynastie (2.–6. Jh.).57 Die Erscheinung von Laozi in Zhang Daolings Vision war also im gegebenen religionsgeschichtlichen Kontext nicht ungewöhnlich; die von Zhang begründete Bewegung teilte sich ihren Hoffnungsträger mit anderen religiösen Bewegungen wie derjenigen, welche die oben erwähnte Schrift der Wandlungen des Laozi hervorgebracht hatte und ebenfalls in der Provinz Sichuan angesiedelt war. Im Gegensatz zu ihren Konkurrenten gelang es der Bewegung der Himmelsmeister jedoch, eine Organisationsstruktur zu entwickeln, die ihre langfristige Existenz über die „heiße Phase“ der apokalyptischen Begeisterung hinaus sicherte. Dies war wohl hauptsächlich das Verdienst von Zhang Daolings Enkel Zhang Lu (?-215/216), dem dritten Himmelsmeister, der von der Forschung als der eigentliche Begründer und Organisator dieser frühesten Form des religiösen Daoismus angesehen wird. Unter seiner Führung nahm die Bewegung Züge eines autonomen theokratischen Gemeinwesens an. In den Wirren gegen Ende der Han-Zeit gelang es Zhang Lu, die Kontrolle über ein Gebiet in Sichuan zu erlangen, das er in 24 „Diözesen“ (zhi ) einteilte, welche durch von ihm eingesetzte Ho-

55 SEIDEL, Anna, La divinisation de Lao tseu dans le taoïsme des Han, Paris 1969. 56 Op. cit.; SEIDEL, Anna, Das neue Testament des Tao. Lao-tzu und die Entstehung der taoistischen Religion am Ende der Han-Zeit, Saeculum 29 (1978), 147–172. 57 SEIDEL, Anna, The Image of the Perfect Ruler in Early Taoist Messianism. Laotzu and Li Hung, History of Religions 9 (1969–70), 216–247. Für eine Übersicht der Entwicklung des Laozi-Mythos siehe KOHN, Livia, God of the Dao. Lord Lao in History and Myth, Ann Arbor 1998.

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hepriester verwaltet wurden.58 Er errichtete eine hierokratische Struktur, die bis in die Lokalgemeinden herabreichte und die Himmelsmeister-Gefolgschaft straff ordnete. Es gab eine Hierarchie von Initiationsgraden, die jedes Mitglied, Mann oder Frau, mit zunehmendem Alter durchlief. Auf jeder Stufe wurden dem Register (lu ) des Initianden neue Schutzgeister hinzugefügt, welche ihm oder ihr bei der Durchführung von Ritualen und Exorzismen zur Seite standen und Schutz vor Dämonen gewährten. Der Kalender war um drei große Feste gegliedert, die den „Drei Ämtern“ (sanguan ) von Himmel, Erde und Wasser gewidmet waren, Gruppen von Gottheiten, die mit der direkten Aufsicht über das „Saatvolk“ betraut waren. Bei diesen Versammlungen im ersten, siebten und zehnten Mond legten die örtlichen Gemeinden Rechenschaft ab, erneuerten ihr Gelübde, zahlten ihre Steuern, rezitierten das Daode jing und hielten rituelle Bankette ab. Da ein moralischer Lebenswandel ein wichtiger Teil des Bundes mit Laozi war, erstellten die Himmelsmeister Listen von ethischen Regeln, deren Einhaltung durch die Götter überwacht und deren Verletzung durch Verkürzung der Lebensspanne und durch Unglücke aller Art geahndet wurde. Wie schon in der frühen Han-Zeit, so sahen auch die Himmelsmeister dämonische Einflüsse als die Ursache von Krankheiten und Exorzismus als die beste Therapie. Im Kontext ihrer Glaubensvorstellungen tritt jedoch ein ethisches Element hinzu, indem die Anfälligkeit für dämonische Attacken durch moralische Verfehlungen des Erkrankten erklärt wurden. Dementsprechend war Heilung nur durch Beichte der Verfehlung zu erlangen, welche in Form einer Petition an die Drei Ämter übermittelt wurde, welchen es dann oblag, die Dämonen auszutreiben. Die Rekonstruktion des Gemeinschaftslebens der frühen Himmelsmeister-Bewegung ist schwierig, da nur wenige heute noch vorhandene Texte einigermaßen sicher dieser Anfangsperiode zugeordnet werden können. Einer davon ist der sogenannte Xiang’er-Kommentar zum Daode jing , welcher vermutlich von Zhang Lu selbst verfasst wurde. Dieser Text bezeugt die Vorstellung von Laozi als Personifikation des Dao, die Herleitung ethischer Regeln aus dem Text, ein Interesse an physiologischen Praktiken der internen Zirkulation von qi zum Zwe58 OLLES, Volker, Der Berg des Lao Zi in der Provinz Sichuan und die 24 Diözesen der daoistischen Religion, Wiesbaden 2005.

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cke der Lebensverlängerung und Erlangung von Transzendenz, sowie das Bedürfnis, sich von den „heterodoxen“ Lehren anderer Gruppen abzugrenzen.59 Zhang Lu konnte die Unabhängigkeit seines kleinen Reiches bis 215 erhalten, als er sich dem General Cao Cao ergeben musste. Cao suchte ihn zu einem Verbündeten zu machen, indem er einige seiner Töchter mit Söhnen des Zhang Lu verheiratete, zerschlug aber gleichzeitig die territoriale Basis der Himmelsmeister-Gemeinschaft, indem er ihre Mitglieder in Gebiete zwangsumsiedelte, wo sie besser unter Kontrolle zu halten waren. Die Himmelsmeister-Bewegung blieb von da an als eine Priesterschaft erhalten, deren rituelle Fertigkeiten auf einer Textund Lehrtradition beruhten, die auf die ursprüngliche Himmelsmeister-Gemeinschaft zurückging, aber im Laufe der folgenden Jahrhunderte zahlreiche neue Elemente aufnahm. Bis zum heutigen Tag ist das Amt des Himmelsmeisters bestehen geblieben und der jetzige 65. Inhaber führt seinen Stammbaum in direkter Linie auf den ersten Himmelsmeister, Zhang Daoling, zurück.

4. Religiöse Entwicklungen vom 3. bis zum 6. Jh. Cao Caos Bezwingung des Himmelsmeister fällt beinahe zusammen mit dem offiziellen Ende der Han-Dynastie im Jahre 220 und dem Beginn einer fast 400 Jahre währenden Periode politisch-militärischen Konflikts unter den Nachfolgestaaten des Han-Reiches. Auf die bereits erwähnte Zeit der Drei Reiche (220–280) folgte eine kurzlebige Reichseinigung unter der Jin-Dynastie (265–316), bevor diese sich unter dem Druck eindringender Nomadenvölker in den Süden zurückziehen und den Norden einer Abfolge nicht-chinesischer Herrscher überlassen musste. Als Östliche Jin-Dynastie regierte sie im Süden noch bis 406 als erste der sogenannten Sechs Dynastien, bis schließlich im Jahre 589 dem ersten Kaiser der Sui-Dynastie (581–618) die Wiedervereinigung Nord- und Südchinas gelang. Ähnlich dem Schicksal der Qin-Dynastie vermochten auch die Sui-Herrscher ihr neues Reich nicht zu stabilisie59 Der Xiang’er-Kommentar ist übersetzt in BOKENKAMP, Stephen, Early Daoist Scriptures, Berkeley 1997, 29–148.

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ren und wurden bald durch ein wesentlich langlebigeres Regime abgelöst: das der Tang-Dynastie (618–907), welche einen kulturellen Höhepunkt in der chinesischen Geschichte repräsentieren sollte. Wenn die der Tang-Zeit vorangegangenen 400 Jahre auch oft als eine Art dunkles Zeitalter bewertet werden, so trifft diese Einschätzung jedoch auf keinen Fall auf die religionsgeschichtliche Dimension zu. Die politische Zersplitterung Chinas in dieser Zeit begünstigte das Aufkommen neuer Ideen und religiöser Bewegungen, welche die weitere Geschichte entscheidend mit prägen sollten. Dabei sind insbesondere die weitere Entwicklung und Differenzierung des religiösen Daoismus sowie die Ankunft des Buddhismus zu nennen. Religiöser Daoismus Die grundlegenden Strukturen des religiösen Daoismus bildeten sich in den 400 Jahren zwischen Han- und Tang-Dynastie heraus. Diese Entwicklung stellt man sich am besten als Zusammenfluss verschiedener Traditionen und Praktiken vor, deren gemeinsamer Nenner das Dao als erste und letzte Quelle von Wahrheit und Lebenszweck war. Wir besprachen bereits die Bewegung der Himmelsmeister, eine chiliastische und theokratische Organisation, die einer entwurzelten Bevölkerung neue soziale und Sinnstrukturen anbot. Die Zerschlagung des Himmelsmeister-Staates im Jahr 215 bedeutete nicht das Ende der Himmelsmeister als einer religiösen Bewegung. Im Gegenteil, in gewisser Hinsicht ermöglichte die Zerstreuung der Bewegung durch Cao Cao erst die Ausbreitung ihres Einflusses in ganz China und sie sollte auf diese Weise sowohl ihre Kontinuität bis in die Gegenwart bewahren wie auch ein wesentlicher Bestandteil des komplexen Phänomens werden, das rückblickend als religiöser Daoismus bezeichnet wird. Welche anderen Strömungen flossen in dieser Zeit in die Entwicklungslinie ein? Zuerst ist die Tradition der Han-zeitlichen Mantiker (fangshi ) zu nennen, die als Berater und Alchemisten der Qin- und Han-Kaiser fungierten. Ihr esoterisches Wissen wurde zum Teil schriftlich, zum Teil mündlich jeweils von Meister an Schüler übertragen. Diese Praxis setzte sich nach der Han-Dynastie fort und wurde eine Quelle neuer Formen daoistischer Übung. Der aufgrund seiner zahlreichen erhaltenen Schriften wichtigste Träger dieser Tradition war Ge Hong (283–343),

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Spross einer adligen Familie des Südens, die etliche bekannte fangshi unter ihren Mitgliedern zählte. Ge Hong wuchs also sozusagen inmitten von Magiern, Alchemisten und anderen Vertretern esoterischer Künste auf und machte sich diese Interessen zu eigen. Er sammelte zahlreiche Texte und Methoden und veröffentlichte sie in seinem voluminösen Werk Baopuzi (Meister, der die Einfachheit umfasst). Das Baopuzi besteht aus zwei Teilen, einem äußeren (waipian ), der eher konfuzianischen Anliegen gewidmet ist, und einem inneren (neipian ), der Ge Hongs Wissen und Ansichten zu Alchemie, Meditation, Lebensverlängerung und Unsterblichkeit enthält.60 In diesem Werk sehen wir die Fusion der Mystik eines Zhuangzi mit dem Vertrauen auf die Technologien der fangshi -Tradition. Bei Ge Hong wird Zhuangzis Ideal der Vervollkommnung des Menschen zu einem Projekt der Lebensverlängerung und – letztlich – Unsterblichkeit, das den Einsatz aller seinerzeit erhältlichen Methoden erfordert: Ernährung, Atemtechniken, Gymnastik, Amulette, Rituale, Meditation und Alchemie. Letztere war für ihn die Königin der Künste, da nur das alchemistische Elixier die letzte Transformation in einen Unsterblichen (xian ) bewirken konnte. Das Baopuzi enthält zahlreiche alchemistische Rezepte, deren getreue Befolgung es ermöglichen sollte, das Elixier der Unsterblichkeit zu erlangen. In der Lehre Ge Hongs geschah dies durch die Reinigung, Konzentration und Essentialisierung ausgewählter Metalle und Mineralien, insbesondere Gold, Zinnober (Quecksilber), Silber, Arsen, Realgar und Schwefel. Diese wurden in einem Athanor wiederholt erhitzt, bis eine extrem konzentrierte Substanz entstand, die demjenigen, der sie einnahm, Unsterblichkeit verleihen sollte. Während Ge Hongs Alchemie die rituellen Aspekte des Großen Werkes betonte, konzeptualisierte eine andere Schule den Prozess eher in Begriffen der korrelativen Kosmologie als eine Komprimierung und Umkehrung des Schöpfungsprozesses von yin und yang. Diese Methode betonte Blei und Quecksilber als die Essenzen von yang und yin, deren Rückführung in den

60 Übersetzungen und Studien des Baopuzi finden sich bei WARE, James R., Alchemy, Medicine and Religion in the China of A. D. 320. The Nei p’ien of Ko Hung (Pao-p’u’tzu), Cambridge, MA 1966; SAILEY, Jay, The Master Who Embraces Simplicity. A Study of the Philosopher Ko Hung, A.D. 282–343, San Francisco 1978.

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ursprünglichen ungeteilten Zustand den Alchemisten an das Dao als Urgrund des Kosmos heranführt. Die Einnahme eines solchen Elixiers bewirkt eine Kosmisierung des Individuums, eine grundlegende Transformation und Vereinigung mit dem Dao.61 Die alchemistische Suche nach Unsterblichkeit scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu Zhuangzis Akzeptanz des Todes als natürlichen Wandlungsprozess des Dao zu stehen. Jedoch ist sie als Produkt des korrelativen Weltbildes zu sehen, welches zu Zhuangzis Zeiten noch in seinen Anfängen begriffen war. Die technische Perspektive, mit der die fangshi der Welt begegneten, legte ein Verständnis des Dao in abstrakten Begriffen nahe, welches das Dao und seine Wandlungen darstellbar und für den Eingeweihten zugänglich machte. Vereinigung mit dem Dao war weiterhin das Ziel, aber nun gab es hierfür konkrete Methoden jenseits der mystischen Versenkung des Zhuangzi. Da Vereinigung mit dem Dao aber Teilhabe am Dao bedeutet, kommt der Adept auf diese Art auch in den Besitz der wichtigsten Qualität des Dao, seiner Ewigkeit. Für Ge Hong war die Unsterblichkeit kein vager Traum, sondern eine reale Möglichkeit, wenn er nur die Prozesse erfolgreich durchführen konnte. Neben technischen Anleitungen und philosophischen Texten sammelte er daher auch eifrig Geschichten über diejenigen, denen der Übertritt in die Unsterblichkeit gelungen war. Sein Shenxian zhuan (Biographien der göttlichen Unsterblichen) ist eine umfangreiche Sammlung von Geschichten über Unsterbliche, die großen Einfluss auf spätere daoistische Hagiographien haben sollte.62 Der Legende nach soll Ge Hong schließlich seine Hoffnung erfüllt haben und „von seinem Leichnam befreit“ worden sein. Die „Befreiung vom (oder durch den) Leichnam“ (shijie ) bezeichnete eine Form der Unsterblichkeit, bei welcher der Adept einen

61 Zur Geschichte der chinesischen Alchemie siehe SIVIN, Nathan, Chinese Alchemy. Preliminary Studies, Cambridge, MA 1968; NEEDHAM, Joseph, Science and Civilisation in China, Bd.V, Teile 2, 3 und 4, Cambridge 1974, 1976, 1980; PREGADIO, Fabrizio, Great Clarity. Daoism and Alchemy in Early Medieval China, Stanford 2006. 62 Siehe GÜNTSCH, Gertrud, Das Shen-hsien chuan und das Erscheinungsbild eines Hsien, Frankfurt a. M. 1988; CAMPANY, Robert F., To Live as Long as Heaven and Earth. A Translation and Study of Ge Hong’s Traditions of Divine Transcendents, Berkeley 2002. Siehe auch die Auszüge im Reader.

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scheinbaren Tod stirbt, um dann seinen Körper zurückzulassen und zum Himmel emporzusteigen; manchmal führt shijie auch zur körperlichen Unsterblichkeit, wenn nämlich bei der späteren Öffnung des Sarges entdeckt wird, dass der Leichnam verschwunden ist und lediglich ein Platzhalter in Form eines Stabes oder eines Kleidungsstückes zurückgeblieben ist.63 Die alchemistische Transformation war aber nicht der einzige Weg zur Unsterblichkeit. In der Generation nach Ge Hong entstand eine weitere später einflussreiche Strömung, die Schule der Höchsten Reinheit (Shangqing). Diese geht auf eine Serie von Séancen zurück, die zwei Mitglieder der adligen Xu-Familie nahe der heutigen Stadt Nanjing in den Jahren 364–370 abhielten. Es begann, als die Brüder Xu Mai (301–?) und Xu Mi (303–376) ein Medium anstellten, um Kontakt mit Xu Mis 362 verstorbener Frau Tao Kedou aufzunehmen. Was als für damalige Verhältnisse durchaus nicht ungewöhnliche „spiritistische“ Sitzung begann, nahm schnell eine neue Qualität an, als die Verstorbene begann, Beschreibungen des Jenseits und des Himmels zu übermitteln und andere Geistwesen einführte, die ebenfalls von dem Medium Yang Xi (330–386) Besitz ergriffen. Diese Kräfte übermittelten nun durch Yang Xi über mehrere Jahre hinweg einen umfangreichen Korpus von Texten, die neue Vorstellungen über die Welt der Götter, sowie Wege zur und Vorstellungen von Unsterblichkeit enthielten. Die XuFamilie war mit der Familie Ge Hongs verschwägert, so dass die Offenbarungen des Yang Xi offensichtlich auf den fruchtbaren Boden eines sozialen Milieus fielen, das bereits von starkem Interesse an spirituellen Praktiken bestimmt war. Die Zeitumstände sind ebenfalls von Bedeutung: Diese Ereignisse fallen in die Jahrzehnte unmittelbar nach der Spaltung Chinas in einen chinesisch regierten Süden und einen von den „Barbaren“ beherrschten Norden. Die südchinesische Aristokratie, zu der die Familien Xu und Ge gehörten, sah ihre Privilegien durch aus dem Norden geflohene Adelsfamilien bedroht, die von den Herrschern der Östlichen Jin-Dynastie begünstigt wurden. Die religiösen Aktivitäten der Gebrüder Xu sind daher als Reaffirmation der ekstatischen und

63 ROBINET, Isabelle, Metamorphosis and Deliverance from the Corpse in Taoism, History of Religions 19 (1979), 37–70.

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schamanischen Traditionen Südchinas angesehen worden, welche sich von der Kultur der nordchinesischen Aristokratie unterschieden.64 In den Offenbarungen des Yang Xi tritt diese nördliche Kultur u. a. in der Gestalt der Wei Huacun in Erscheinung, zu Lebzeiten (251–334) eine Priesterin der Himmelsmeister-Tradition, welche mit der Östlichen Jin-Dynastie 317 in den Süden geflohen war. Die Himmelsmeister hatten viele Konvertiten im nördlichen Adel gefunden, welche diese Form des Daoismus nun in den Süden mitbrachten. In ihren posthumen Erscheinungen nahm die Priesterin an der Offenbarung eines ganzen Korpus von Texten teil, welcher die Götter der Himmelsmeister einer neuen Dimension kosmischer Gottheiten unterordnete, mit dem Himmelskönig des Uranfangs (Yuanshi tianwang) an der Spitze. Das Verhältnis des Menschen zu diesen Göttern ist auch ein anderes als das der Himmelsmeister. Während im letzteren Fall der Mensch mit den Göttern durch Gebet und Bußritual kommunizierte, verkehrte der Shangqing-Adept mit ihnen durch Visionen und mystische Begegnungen, die deutliche Züge der ekstatischen Tradition Südchinas tragen, wie wir sie früher in den Gesängen von Chu angetroffen hatten. Allerdings werden diese Praktiken in den Shangqing-Texten internalisiert und nehmen die Form einer visualisierenden Meditation an, welche die Götter gleichzeitig in himmlischen Gefilden und im menschlichen Körper lokalisiert. Durch die Visualisierung der Körpergottheiten wird eine Kosmisierung des Körpers bewirkt, welche die Grenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos verwischt und es oft schwierig macht zu unterscheiden, ob ein Text eine schamanische Reise in den Himmel oder interne Visualisierung des Adepten beschreibt. Diese Praxis der Visualisationsmeditation wurde zu einem bleibenden Beitrag der Shangqing-Schule zum religiösen Daoismus.65 Ein weiterer wichtiger Unterschied zur Himmelsmeister-Tradition ist die individuelle Natur der religiösen Unterweisung: Die Texte richten sich nicht an eine kollektive Bewegung, sondern an einzelne Adepten. Wie die Verfahren der Alchemisten sind Shangqing-Praktiken also Methoden individueller 64 Zum Hintergrund der Shangqing-Offenbarungen siehe STRICKMANN, Michel, Le taoïsme du Mao Chan. Chronique d’une révélation, Paris 1981. 65 Zur Meditationsmethodik der Shangqing-Texte siehe ROBINET, Isabelle, Méditation taoïste, Paris 1979.

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Heilssuche, unterscheiden sich von ersteren aber deutlich durch ihre theistische und ekstatische Natur. Dieses mystische Element trug zum hohen literarischen Wert der Shangqing-Texte bei, welcher ihre Akzeptanz in der Oberschicht Südchinas erleichterte und sich deutlich vom technischen Stil alchemistischer Handbücher unterschied.66 Streng genommen kann man mit der Offenbarung der ShangqingTexte noch nicht von einer Schule sprechen, da diese zunächst im Besitz der Familie Xu verblieben und nur begrenzt zirkulierten. Xu Mis Enkel Xu Huangmin (361–429) war verantwortlich für die Zerstreuung der Texte, indem er Teile des Korpus recht freigebig verteilte. Der eigentliche Gründer der Shangqing-Schule wurde schließlich Tao Hongjing (456–536), ein Mitglied der Familie von Xu Mis Frau Tao Kedou. Tao Hongjing war ein bekannter Gelehrter, der einen Teil seines Lebens zurückgezogen auf dem Berge Mao (Maoshan) verbrachte, nahe der Orte, wo hundert Jahre zuvor die Offenbarungen Yang Xis stattgefunden hatten. Er nahm es auf sich, die Shangqing-Texte wieder zu vereinen und sammelte eine große Zahl davon zwischen 488 and 490, welche er dann edierte und kommentierte. Damit schuf er die kanonische Basis für die Entwicklung einer institutionellen Shangqing-Tradition mit eigenen Ordinationsritualen und Patriarchen (als deren neunter Tao Hongjing nachträglich eingeordnet wurde).67 Zu Tao Hongjings Zeiten existierte bereits eine weitere daoistische Strömung, welche ihren eigenen Beitrag zur Geschichte des religiösen Daoismus leistete: die Schule des Göttlichen Juwels (Lingbao), welche den Schwerpunkt vom individuellen Adepten wieder hin zum gemeinschaftsstiftenden Ritual verschob und dabei zahlreiche buddhistische Einflüsse integrierte.68 Dieser Textkorpus erscheint gegen Ende des 66 Allgemein zum Shangqing-Daoismus, siehe ROBINET, Isabelle, La révélation du Shangqing dans l’histoire du taoïsme, Paris 1984; ROBINET, Isabelle, Geschichte des Taoismus, München 1995, 167–213; MILLER, James, The Way of Highest Clarity. Nature, Vision and Revelation in Medieval China, Magdalena, NM, 2008. 67 Stephen BOKENKAMPs Teilübersetzung von Taos Werk Zhen’gao, Declarations of the Perfected, in LOPEZ, Donald S. (Hg.), Religions of China in Practice, Princeton 1996, 166–179. 68 Das Verhältnis von Daoismus und Buddhismus in dieser Periode war von gegenseitiger Beeinflussung gekennzeichnet. Siehe dazu MOLLIER, Christine, Buddhism and Taoism Face to Face. Scripture, Ritual, and Iconographic Exchange in Medieval China, Honolulu 2008.

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4.Jh. und wird von der Forschung Ge Chaofu (fl. 402), einem Großneffen Ge Hongs, zugeschrieben. Während die Shangqing-Texte überwiegend Anleitungen zu individueller Meditationspraxis waren, sind die Lingbao-Schriften in der Mehrzahl Ritualtexte, welche die rituelle Tradition der Himmelsmeister mit Shangqing-Visualisierungen verbinden, und das Ganze mit buddhistischen Elementen kombinieren, indem als Zweck des Rituals die Erlösung aller Lebewesen gesetzt wird. Einer der bedeutendsten Lingbao-Texte, die Erlösungsschrift (Duren jing ) etablierte nicht weniger als ein daoistisches Bodhisattva-Ideal.69 Hinzu kamen Vorstellungen von Karma, Reinkarnation, kosmischen Zeitaltern (kalpas ), und Buddha-ähnlichen Gottheiten, die in den Lingbao-Schriften den Titel „Himmelswürdige“ (tianzun ) tragen. Die Lingbao-Rituale liefern bis heute die Grundstruktur des daoistischen Ritualwesens und stellen eine Art Summe der Geschichte des religiösen Daoismus der Sechs Dynastien dar.70 Die frühe Geschichte des religiösen Daoismus ist nicht leicht zu systematisieren, so dass ich auf das oben genannte Bild der Ströme zurückgreifen möchte, die im Laufe dieser Jahrhunderte zusammenflossen: die Bewegung der Himmelsmeister, Alchemie, die ekstatische Meditation der Shangqing-Offenbarungen, die rituelle Innovation und buddhistische Beeinflussung der Lingbao-Schriften – all dies sind Elemente, welche die weitere Geschichte des religiösen Daoismus bestimmen sollten. Schon in der nun folgenden Tang-Zeit gab es Ansätze, diese scheinbar disparaten Elemente zu einem Ganzen zusammenzufügen. Der Buddhismus Der Buddhismus geht auf die Lehren eines nordindischen Weisen des 5.Jh. v.Chr. zurück, dessen Name von der Tradition als Siddha¯rtha

69 Übersetzt in BOKENKAMP, Stephen, Early Daoist Scriptures, Berkeley 1997, 373– 438. Siehe auch STRICKMANN, Michel, The Longest Taoist Scripture, History of Religions 17 (1978), 331–354. 70 Zum Lingbao-Daoismus siehe BOKENKAMP, Stephen, Sources of the Ling-pao Scriptures, in STRICKMANN, Michel (Hg.), Tantric and Taoist Studies in Honor of Rolf A. Stein, Brüssel 1981–85, Bd.2, 434–486; ROBINET, Isabelle, Taoism. Growth of a Tradition, Stanford 1997, 149–183.

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Gautama angegeben wird.71 Der deutsche Name der von ihm begründeten Bewegung leitet sich von seiner Ehrenbezeichnung ab, Buddha, „der Erleuchtete“ oder auch „Erweckte“. Der Legende nach soll der Buddha ein Fürstensohn gewesen sein, der durch seine Erfahrung des allgegenwärtigen Leids der menschlichen Existenz angerührt seinen Palast verließ, um einen Weg zu finden, das Leiden zu überwinden. Zuerst folgte er verschiedenen Lehrern auf dem Pfad der extremen Askese, bis er diesen verwarf und ihm seinen eigenen Weg der Mitte entgegensetzte, ein Weg, der dem Körper das zubilligte, was er brauchte, um die meditativen Anstrengungen des Geistes zu unterstützen. Dieser Ansatz ermöglichte ihm in einer 49-tägigen Meditation den geistigen Durchbruch zur Einsicht in die wahre Natur des Leidens und den Weg seiner Überwindung. Diese Einsicht ist zusammengefasst in den Vier Edlen Wahrheiten: 1. Alle Existenz ist Leiden; 2. die Ursache des Leidens ist die Begierde; 3. das Leiden kann daher durch Beseitigung der Begierde überwunden werden; 4. dies wird erreicht durch die Befolgung des Edlen Achtfachen Pfades: rechte Erkenntnis, rechte Gesinnung, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebensunterhalt, rechtes Streben, rechte Achtsamkeit, rechte Versenkung. Diese acht Bereiche werden üblicherweise in drei Kategorien eingeteilt: Weisheit (rechte Erkenntnis und Gesinnung), Tugend (rechte Rede, Handeln und Lebensunterhalt) und Versenkung (rechtes Streben, Achtsamkeit und Versenkung). Der Schlüssel zur Vernichtung der Begierden ist die Erkenntnis ihrer wahren Quelle, nämlich der Illusion des Selbst. Die indische Tradition hatte bis dahin den letzten Grund des menschlichen Wesens in seinem Selbst, seinem a¯tman (etymologisch verwandt mit dt. „atmen, Atem“) gesehen, welches wiederum mit dem kosmischen Selbst, dem Brahman, identisch war. Der a¯tman des Einzelnen war dementsprechend die individuelle Teilhabe an der Weltseele und damit der ewige Aspekt des Menschen, der Teil, der den Tod überlebte und im Prozess der Reinkarnation wiedergeboren wurde. Der Buddha widersprach nicht der Reinkarnationslehre, ja sah diese nur als weiteren Beleg der Allgegenwart des Leidens an, da sie ja bedeutete, dass selbst der Tod dem Leid kein Ende bereitet, sondern lediglich der Auftakt zu einer 71 Zur Erforschung des „historischen Buddha“, siehe KLIMKEIT, Hans-Joachim, Der Buddha. Leben und Lehre, Stuttgart 1990.

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neuen leidbehafteten Existenz ist. Wo er von der Tradition radikal abwich, war in seiner Einschätzung des a¯tman. Der Lehre der Einheit von a¯tman und Brahman setzte er den Gedanken des ana¯tman , des NichtSelbst entgegen. Kern seiner Erleuchtung war die Erkenntnis, dass der a¯tman eine Täuschung und die Quelle allen Übels ist. Solange der Mensch glaubt, ein ewiges Selbst zu besitzen, wird er selbst-bezogen und selbst-süchtig handeln. Diese Einstellung äußert sich in Begierden, die allesamt darauf abzielen, Vorteile für sich selbst zu erlangen. Die einzige Möglichkeit, diese Begierden zu überwinden, ist die tiefe Einsicht in und Akzeptanz der Wahrheit, dass der Mensch kein ewiges Selbst besitzt, sondern lediglich eine temporäre Ansammlung vergänglicher Elemente ist, nämlich der Fünf Daseinsgruppen (skandhas ): Körperlichkeit, Empfindungen, Wahrnehmungen, geistige Formationen und Bewusstsein. In Abwesenheit eines leidenden Selbst verschwindet das Leid und jeder Grund, etwas zu begehren. Mit dem Ende der Begierde endet auch die Ansammlung von Karma, dem Produkt aller selbstbezogenen Gedanken und Taten des Einzelnen, das die Energie liefert, welche das Rad der Wiedergeburten weiterdreht. Kein Selbst, keine Begierde, kein Karma, keine Wiedergeburt – stattdessen Eintritt in den seligen Zustand des nirva¯na. Zu Lebzeiten wird nirva¯na als die Abwesenheit von subjektivem Leiden und jeder Trennung zwischen Selbst und Anderen erfahren, woraus sich ein tiefes Mitgefühl für alle Lebewesen ergibt; nach dem Tod bedeutet es das Ende der Wiedergeburten und damit das Ende allen Leidens.72 Nach seiner Erleuchtung lehrte der Buddha seine Einsichten 45 Jahre lang, bis zu seinem Tod, oder vielmehr seinem Eintritt ins „vollständige nirva¯na “ (parinirva¯na ). Nach seinem Dahinscheiden versammelten sich seine Schüler zum Ersten Konzil, um die Lehren des Buddha zu rezitieren und in der Erinnerung zu verankern. Die mündliche Tradition, die mit diesem Konzil (so es denn tatsächlich stattfand) ihren Anfang nahm, wurde erst im 1.Jh. v. Chr. in Sri Lanka in Form des so-

72 Einführungen in die Lehren des Buddhismus bieten CONZE, Edward, Buddhism. Its Essence and Development, Oxford 1951; KLIMKEIT, Hans-Joachim, Der Buddha. Leben und Lehre, Stuttgart 1990; SCHMIDT-GLINTZER, Helwig, Der Buddhismus, München 2005; MITCHELL, Donald W., Buddhism. Introducing the Buddhist Experience, Oxford 2008.

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genannten Pali-Kanons schriftlich niedergelegt. Die Anhänger der Lehre des Buddha pflegten ein Leben der Betrachtung in zölibatären, klösterlichen Gemeinschaften. Der Beitritt zum Sangha (samgha , der bud˙ dhistischen Gemeinschaft) erfolgte durch die Erklärung der Zuflucht zu den Drei Juwelen: dass man Zuflucht nehme zum Buddha als seinem Lehrer, zur Lehre (dharma ) des Buddha sowie zur Gemeinschaft seiner Anhänger (samgha). Jeder Buddhist hatte fünf Gebote einzuhal˙ ten: nicht zu töten, nicht zu stehlen, sich keine sexuellen Vergehen zuschulden kommen zu lassen, nicht zu lügen, und keine Rauschmittel einzunehmen. Diese galten sowohl für Laien wie auch für Mönche und Nonnen, wobei die letzteren Gruppen noch fünf weitere Gebote zu beachten hatten: nicht nach der Mittagsstunde zu essen, keine Vergnügungen zu besuchen, sich nicht zu schmücken, nicht in bequemen Betten zu schlafen, und kein Gold oder Silber anzunehmen. Mönche und Nonnen sollten sich ganz dem meditativen Leben widmen können und allein von den Almosen der Laien leben. In den Jahrhunderten nach dem parinirva¯na des Buddha entstanden buddhistische Klöster in ganz Indien, gefördert unter anderem durch dem Buddhismus wohlgesonnene Herrscher wie Kaiser As´oka (reg. ca. 268–233 v.Chr.). Mit der wachsenden Größe und der zunehmenden geographischen Verbreitung des Sangha sowie der Entfernung vom Zeitalter des Gründers traten Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des rechten Verständnisses des Dharma und seiner rechten Praxis auf. Für eine detaillierte Schilderung der Schulmeinungen im frühen Buddhismus ist hier kein Platz; als nötiger Hintergrund für die Geschichte des chinesischen Buddhismus sei hier daher nur die Entstehung des Maha¯ya¯na-Buddhismus erwähnt, dessen Anfänge ins erste vorchristliche Jahrhundert zurückgehen. Diese Richtung führt die Lehren des Buddhas fort und entwickelt aus ihnen das „Große Gefährt“ (Maha¯ya¯na), welches es vom „kleinen Gefährt“ (Hı¯naya¯na) konservativerer Schulrichtungen abgrenzt. Insbesondere setzt die Maha¯ya¯na-Bewegung dem traditionellen Ziel individueller Erleuchtung als arhat („Würdiger“) das neue Ideal des Bodhisattva („erleuchtetes Wesen“) entgegen. Im Gegensatz zum arhat bewegt die Vervollkommnung von Weisheit und Mitgefühl den Bodhisattva dazu, auf die Erlösung aller in der Welt des Leides (samsa¯ra) gefangenen Wesen hinzuarbeiten und für dieses ˙ hehre Ziel sogar den eigenen Eintritt ins nirva¯na hintanzustellen. Mit

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dem Bodhisattva-Gedanken wird damit zum einen sozusagen der Korb der Vervollkommnung höher gehängt, zum anderen ergibt sich daraus die Möglichkeit der Existenz buddhistischer Gottheiten, die dem Einzelnen auf dem Weg zur Erleuchtung behilflich sein können, entgegen der traditionellen Auffassung, dass die Überwindung des Leidens nur von jedem Einzelnen für sich erreicht werden kann. Im Maha¯ya¯naSystem entwickeln sich dann auch ganz folgerichtig neue Vorstellungen einer Vielzahl von Buddhas und Bodhisattvas, die mit mannigfaltigen „geschickten Methoden“ (upa¯ya, chin.: fangbian ) alle Lebewesen auf den Weg der Erkenntnis zu bringen suchen. U.a bewerkstelligen sie dies durch die Übertragung ihres unerschöpflichen Schatzes an religiösem Verdienst; diese zuvor mit dem Ideal der rein individuellen Erleuchtung unverträgliche Übertragbarkeit von Verdienst hatte wichtige Auswirkungen auf buddhistische Praktiken im rituellen und karitativen Bereich. Neben diesen das praktische Religionsleben unmittelbar beeinflussenden Entwicklungen zeichnete sich die Maha¯ya¯na-Schule durch die Fortentwicklung der buddhistischen Metaphysik aus, indem sie die Dualismen von nirva¯na und samsa¯ra, Erleuchtung und Illusion prob˙ lematisierte und auf höherer Ebene aufzulösen versuchte, so vor allem mittels Rekurs auf die gemeinsame ontologische Dimension der „Leere“ (s´u¯nyata¯ ). Ziel der höchsten Erkenntnis wird nun die Leere aller Phänomene, die Leere, die nirva¯na und samsa¯ra gemein ist und die es ˙ durch die Identifikation von Transzendenz und Immanenz ermöglicht, 73 erstere in letzterer zu entdecken. Von Nordindien wurde der Buddhismus durch Händler und Mönche von Kaschmir durch den Hindukusch in die Oasenstädte entlang der zentralasiatischen Seidenstraße getragen und erreichte von dort schließlich im 1.Jh. n. Chr. auch China. Es dauerte aber bis zum 2. Jh., ehe sich der Buddhismus eine nachhaltige Existenzgrundlage durch erste Übersetzungen seiner Texte ins Chinesische verschaffte.74 Der erste namentlich bekannte Übersetzer war der parthische Mönch An Shigao, der sich 73 Zur Entwicklung des Maha¯ya¯na siehe WILLIAMS, Paul, Mahayana Buddhism. The Doctrinal Foundations, London 1989. Seine konziseste Formulierung findet das Maha¯ya¯na-Verständnis der „Leere“ im Herz-Sutra (siehe Reader). 74 Übersichten der Geschichte des chinesischen Buddhismus bieten ZÜRCHER, Erik, The Buddhist Conquest of China, Leiden 1959; CH’EN, Kenneth K.S., Buddhism in China. A Historical Survey, Princeton 1964.

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um das Jahr 148 in der Han-Hauptstadt Luoyang aufhielt und dort eine Übersetzergruppe bildete. Der Prozess des Übersetzens lief etwa wie folgt ab: Ein ausländischer Mönch rezitierte einen Text aus dem Gedächtnis, ein zweisprachiger Dolmetscher gab eine mündliche Übersetzung ins Chinesische, welche ein chinesischer Schreiber dann schriftlich niederlegte. Dieser erste Entwurf wurde dann noch einmal überarbeitet und verfeinert. Das Resultat waren meist nicht exakte Übersetzungen, sondern lose Paraphrasen der Ursprungstexte; die meisten von An Shigaos Team übersetzten Texte entstammten der „Hı¯naya¯na“-Tradition und waren eher technischer Natur, d. h. mehr mit praktischen Meditationsanleitungen als mit den Grundlehren des Buddha befasst. Diese Tatsache lässt die Forschung vermuten, dass Ans Publikum möglicherweise überwiegend aus Daoisten bestand, die sich von den Buddhisten in erster Linie neue „Meditationstechnologien“ erhofften. Daoistischer Einfluss ist auch in der Terminologie früher Übersetzungen zu erkennen, welche buddhistische Fachbegriffe mitunter durch daoistische Äquivalente wiedergaben. Nachdem das Interesse am Buddhismus solchermaßen stimuliert worden waren, erscheinen dann aber später im 2.Jh. auch bald Übersetzungen grundlegenderer Texte, insbesondere wichtiger Maha¯ya¯na-Sutren wie den Sutren zur Vollendung der Weisheit. Damit war der Auftakt gemacht zu einem gewaltigen Projekt der Sammlung und Übersetzung buddhistischer Texte, welches die chinesischen Buddhisten auf hunderte von Jahren hinaus beschäftigen und manche von ihnen zu diesem Zwecke gar die lange Reise nach Indien antreten lassen sollte. Die zweite Hälfte des 2.Jh. war Yungang, Provinz Shanxi. Statuen in Yunein günstiger Zeitpunkt für die gang, Quelle: Wikipedia

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buddhistische Mission: Die Han-Dynastie trieb gerade ihrem Ende entgegen und mit ihr die ideologische Vormachtstellung des Konfuzianismus; die politischen und sozialen Verwerfungen des Zeitalters öffnete die Sinne vieler für neue Ideen und Hoffnungen. Wie wir sahen, blühten in diesem Klima früh-daoistische chiliastische Bewegungen, aber auch eine fremde Religion, welche die Überwindung des Leidens versprach, konnte unter solchen Bedingungen mit offenen Ohren rechnen. So kam es, dass sich der Buddhismus in den vier Jahrhunderten zwischen dem Ende der Han- und der Gründung der Tang-Dynastie überraschend schnell ausbreitete. Dabei folgte die neue Religion recht unterschiedlichen Entwicklungsmustern in Nord- und Südchina. Viele der nicht-chinesischen Regime des Nordens förderten den Sangha und finanzierten bedeutende Klöster in ihren Hauptstädten, die über den nordchinesischen Zugang zur Seidenstraße die Verbindung mit den buddhistischen Zentren in Indien und Zentralasien aufrecht erhielten. Ein Kalkül dieser Politik war sicherlich, dass der Buddhismus als nichtchinesische Religion ein gemeinsames Band zwischen den Herrschern der Nord-Dynastien und ihren chinesischen Untertanen stiften sollte. Die finanzielle Grundlage der Klöster wurde durch Steuerbefreiung und Zuweisung von abgabepflichtigen Bauern gesichert, wodurch viele Klöster zu Großgrundbesitzern wurden. Solche staatliche Patronage schuf die Grundlage für ein blühendes buddhistisches Leben, dessen materieller wie geistiger Reichtum Ausdruck fand in Monumentalplastiken und opulenter Ikonographie (z. B. in den Yungang- und Longmen-Höhlen in den heutigen Provinzen Shanxi und Henan)75 und in mächtigen Fortschritten im Übersetzungswesen und der Lehre. Besonders zu nennen ist hier der aus dem zentralasiatischen Kucha stammende Mönch Kuma¯rajı¯va (343–413), der in Chang’an, der Hauptstadt der Späteren Qin-Dynastie, ab 402 ein Übersetzungsprojekt leitete, welches neben wichtigen Maha¯ya¯na-Sutren wie dem Lotos- und dem Vimalakı¯rti-Sutra den monastischen Regelkodex des Buddhismus (Vinaya) in China bekannt machte und damit das Klosterleben auf eine ortho75 Zur buddhistischen Kunst dieser Periode, siehe u. a. CASWELL, James, Written and Unwritten. A New History of the Buddhist Caves at Yungang, Vancouver 1998; MCNAIR, Amy, Donors of Longmen. Faith, Politics, and Patronage in Medieval Chinese Buddhist Sculpture, Honolulu 2007.

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doxe Grundlage stellte. Kuma¯rajı¯va ist auch die Einführung der Ma¯dhyamaka-Philosophie des Na¯ga¯rjuna (3. Jh.?) in China zu verdanken. Diese „Mittlere Lehre“ entwickelte den Gedanken der Leere entscheidend weiter und wurde zu einer der philosophischen Hauptgrundlagen des chinesischen Buddhismus.76 Die Abhängigkeit des nordchinesischen Sangha von staatlicher Unterstützung hatte aber auch seine Schattenseiten, wenn der dadurch bedingte Wohlstand der Klöster nach innen korrumpierend auf den Sangha wirkte und nach außen Begehrlichkeiten weckte. So kam es 446 und 574–577 in den Nordreichen zu den ersten behördlichen Verfolgungen des Buddhismus, deren Ziele u.a die Beschlagnahmung der materiellen Güter der Klöster und die Rückführung eines großen Teils des (steuerlich unproduktiven) Sangha in den Laienstand waren. Daneben spielte auch die wachsende Konkurrenz zwischen pro-buddhistischen und pro-daoistischen oder konfuzianischen Faktionen bei Hofe eine Rolle. Im von chinesischen Dynastien regierten Süden entwickelte sich der Buddhismus in anderen Bahnen. Zwar gab es einzelne Herrscher, die der neuen Lehre zugeneigt waren und sie förderten, wie z. B. Kaiser Wu der Liang-Dynastie (reg. 502–549), aber es gab keine systematische und langfristige politische Stützung wie in den Nordreichen.77 Statt staatlich alimentierten Klöstern war die soziale Basis des südchinesischen Buddhismus die Laienschaft, insbesondere die Patronage adliger Familien. Eine Folge dieser Rahmenbedingungen waren ungewöhnliche Formen von Vergemeinschaftung, wie z. B. das Ostwald-Kloster (Donglinsi ), welches der aus dem Norden geflohene Mönch Huiyuan (334–417) auf dem Berg Lu (Lushan) in der heutigen Provinz Jiangxi errichtete. Dies war eine Gemeinschaft von Mönchen und Laien, die sich der Verehrung des Buddha Amita¯bha widmete. Diese Gestalt des 76 Zur Ma¯dhyamaka -Lehre siehe KALUPAHANA, David, Na¯ga¯rjuna. The Philosophy of the Middle Way, Mulamadhyamakakarika, Albany, NY 1986. 77 JANOUSCH, Andreas, The Emperor as Bodhisattva. The Bodhisattva Ordination and Ritual Assemblies of Emperor Wu of the Liang Dynasty, in Joseph P. MCDERMOTT (Hg.), State and Court Ritual in China, Cambridge 1999, 112–149; JANSEN, Thomas, Der chinesische Kaiser Liang Wudi (reg. 502–549) und der Buddhismus, in Peter SCHALK et al. (Hg.), Zwischen Säkularismus und Hierokratie. Studien zum Verhältnis von Religion und Staat in Süd- und Ostasien, Uppsala 2000, 89–118.

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Maha¯ya¯na-Pantheons sollte in der später entstehenden Schulrichtung des Reinen Landes (Jingtuzong) eine zentrale Rolle spielen; Huiyuans Gemeinschaft, welche später den Namen „Gesellschaft des Weißen Lotos“ (Bailianshe) zugeschrieben bekam, ist als ein früher Vorläufer dieser Bewegung anzusehen. Durch die enge Verbindung mit der Aristokratie fand der Buddhismus Eingang in die Oberschichtenkultur des Südens und damit in den Hauptstrom des intellektuellen Lebens. Mit der Reichseinigung unter dem erklärt buddhistischen ersten Kaiser der Sui-Dynastie 589 konnten die jeweiligen Stärken der beiden Regionen vereint werden: Die soliden monastischen Strukturen des Nordens und die kulturelle Verflechtung mit der herrschenden Klasse des Südens. Kaiser Wen der Sui-Dynastie (reg. 581–604) eiferte dem von dem indischen Kaiser As´oka gesetzten Vorbild des idealen buddhistischen Herrschers nach und förderte den Sangha nach Kräften; ähnlich wie As´oka mit seinen Inschriftenstelen ließ Kaiser Wen über sein Reich verteilt 111 stu¯pas (Reliquienschreine) errichten, die seine Herrschaft und seine Zuflucht zu den Drei Juwelen verkünden sollten. Zwar war dieser Versuch, den Buddhismus als Staatsideologie auf Kosten des Konfuzianismus zu etablieren, nur von kurzer Dauer, aber er zeigt doch den Grad der Akzeptanz und kulturellen Integration, die diese ursprünglich fremde Religion in nur 400 Jahren erreicht hatte. Das heißt nicht, dass diese Integration konfliktfrei verlaufen wäre. Es wurden schon die staatlich initiierten Verfolgungen von 446 und 574–577 angesprochen. Neben materiellen Motiven spielten hier durchaus auch grundsätzliche religiöse Vorbehalte gegen den Buddhismus eine Rolle. Die Verfolgung von 446 ging von einem Staatswesen aus, das unter der Führung des daoistischen Himmelsmeisters Kou Qianzhi (365?-448) und des Konfuzianers Cui Hao (381–450) eine daoistische Theokratie einzurichten suchte; die vor allem von Cui Hao betriebene Verfolgung des Buddhismus sollte einen gefährlichen weltanschaulichen Rivalen beseitigen.78 Hintergrund der anti-buddhistischen Kampagne der Nördlichen Zhou-Dynastie waren langwierige Debatten bei Hofe zwischen Befürwortern von Buddhismus, Daoismus 78 MATHER, Richard B., K’ou Ch’ien-chih and the Taoist Theocracy at the Northern Wei Court, 425–451, in Holmes WELCH und Anna SEIDEL (Hg.), Facets of Taoism. Essays in Chinese Religion, New Haven 1979, 103–122.

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und Konfuzianismus. Ein besonderer Streitpunkt war ein apokrypher daoistischer Text, die Schrift von der Bekehrung der Barbaren (Huahujing ), welche von Laozis Auftreten in Indien in Gestalt des Buddhas erzählt und damit den Buddhismus als eine barbarischen Verhältnissen angepasste und damit minderwertige Form des Daoismus verunglimpfte.79 Seit der Entstehung der frühesten Version dieses Texts um das Jahr 300 gab es häufig hitzige Debatten zwischen Daoisten und Buddhisten über die relative Überlegenheit und Priorität ihrer jeweiligen Tradition; oft wurden solche Debatten unter kaiserlicher Ägide bei Hofe abgehalten und beeinflussten, in welche Richtung sich die Gunst des Herrschers wenden würde.80 Der Verfolgung von 574 waren eben solche Hofdebatten vorausgegangen, welche zu der Entscheidung des Kaisers im Jahre 573 führten, dass dem Konfuzianismus die höchste Ehre gebühre, der Daoismus an zweiter und der Buddhismus an dritter Stelle stehe; im nächsten Jahre gipfelte diese Politik dann in der Proskription sowohl des Buddhismus wie des Daoismus. Jenseits der Klöster und politischen Zentren interagierte der Buddhismus in vielfältiger Weise mit der chinesischen Kultur. Diese Wechselbeziehung beinhaltete sowohl die Integration buddhistischer Einflüsse in die chinesische Kultur, wie auch die „Sinisierung“ mancher Aspekte buddhistischer Lehre und Praxis. Dieser mehrere Jahrhunderte andauernde Prozess ermöglichte die weitgehende Anerkennung des Buddhismus und seine faktische Gleichstellung mit den indigenen Lehren des Konfuzianismus und Daoismus, auch wenn dies Konflikte und weiter bestehendes nativistisches Misstrauen gegen die „fremde“ Lehre des Buddha nie völlig ausschloss. Ein frühzeitig hervortretender Problembereich war die buddhistische Pflege des zölibatären Klosterwesens, 79 SEIDEL, Anna, Le su¯tra merveilleux du Ling-pao supreme, traitant de Lao tseu qui convertit les barbares (le manuscrit 2081). Contribution à l’étude du bouddho-taoïsme des Six Dynasties, in SOYMIÉ, Michel (Hg.), Contributions aux études de Touen-houang, Bd.3, Paris 1984, 305–352; REITER, Florian C., Leben und Wirken Lao-Tzu’s in Schrift und Bild. Lao-chün pa-shih-i-hua t’u-shuo, Würzburg 1990. 80 Siehe dazu KOHN, Livia, Laughing at the Tao. Debates among Buddhists and Taoists in Medieval China, Princeton 1995; DEEG, Max, Laozi oder Buddha? Polemische Strategien um die ‚Bekehrung der Barbaren durch Laozi‘ als Grundlage des Konflikts zwischen Buddhisten und Daoisten im chinesischen Mittelalter, Zeitschrift für Religionswissenschaft 11 (2003), 209–234.

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welches der konfuzianischen (wie auch daoistischen!) Betonung von Familie, Nachkommenschaft und Ahnenverehrung widersprach. Beinahe von Anbeginn mussten buddhistische Apologeten ihre Tradition gegen Angriffe ob ihrer angeblichen Pietätlosigkeit in Schutz nehmen. Dabei verwiesen sie u. a. auf indigen-chinesische Eremitentraditionen oder darauf, dass das religiöse Verdienst des Mönchs seinen Eltern von größerem Nutzen sei als die Handreichungen des daheim gebliebenen Sohnes.81 Gleichzeitig passte sich das buddhistische Klosterleben der umgebenden Kultur und Gesellschaft an, indem sich eine Art Ahnendienst zwischen den Mönchsgenerationen entwickelte. Angesichts konfuzianischer Kritik am buddhistischen Klerus als unproduktive Parasiten war ein weiterer Bereich der kulturellen Anpassung die weitgehende Aufgabe des Bettelns als Teil der Klosterdisziplin. Der indische Buddhismus konnte auf eine lange vor-buddhistische Tradition der Almosengabe an heilige Männer bauen und verbot seinen Mönchen und Nonnen die körperliche Arbeit und Handhabung von Geld, auf dass sie sich ganz ihrer wahren Arbeit, der Meditation widmen konnten. Der Lebensunterhalt sollte durch Betteln verdient werden, was gleichzeitig als Demutsübung der Verringerung des Selbstgefühls diente. Während die Idee des Verdiensterwerbs durch Almosengabe an Mönche, Nonnen, und Asketen auch in China Fuß fasste, erlangte dieser Aspekt buddhistischer Religionspraxis niemals die Bedeutung, die er in Indien hatte. Haupteinnahmequelle chinesischer Klöster waren Geldund Sachspenden, Patronage, Pachteinnahmen sowie Gebühren für rituelle Dienstleistungen. In einer dynamischen Wechselbeziehung von neuer Religion und chinesischer Kultur bildete sich so ein genuin chinesischer Buddhismus heraus, der innovative Impulse sowohl im transnationalen Buddhismus wie auch in chinesischer Kultur und Gesellschaft gab. Mit dem Buddhismus verbunden waren zahlreiche Neuentwicklungen in der materiellen Kultur des mittelalterlichen China, angefangen bei der Ablösung der Sitzmatte durch den Stuhl bis hin zu Tee und Buchdruck. Das älteste erhaltene gedruckte Buch der Welt ist 81 Ein früher apologetischer Text ist das Mouzi lihuo lun (Meister Mous Erläuterung der Missverständnisse). KEENAN, John P., How Master Mou Removes Our Doubts. A Reader-Response Study and Translation of the Mou-Tzu Li-Huo Lun, Albany, NY 1994. Siehe auch die Auszüge im Reader.

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ein Diamantsutra aus dem Jahre 868, das in einer Höhle der Oasenstadt Dunhuang überlebte.82 Im religiösen Bereich gab der Buddhismus vielfältige Anstöße. Wir sahen bereits die Übernahme des Bodhisattva-Ideals durch den Daoismus im Textkorpus der Lingbao-Tradition. Darüber hinaus gestaltete die neue Lehre die chinesischen Vorstellungen vom Nachleben gründlich um. Buddhistische Vorstellungen von Karma, Wiedergeburt und einem komplexen System von Höllen, in denen schlechtes Karma mit fürchterlichen Qualen vergolten wird, vermählten sich mit bestehenden chinesischen Ideen von einer bürokratisch organisierten Unterwelt.83 Daraus entwickelte sich allmählich (spätestens bis zum 7. Jh.) die in der chinesischen Volksreligion bis heute weithin gültige Nachweltszenerie von zehn Unterweltregionen, welche die Seele des Verstorbenen durchläuft. In jeder dieser Höllen (diyu , wörtlich „Erdgefängnis“) wird sie einem Richter vorgeführt, der das Strafmaß festlegt.84 Erst nach Erleidung aller verdienten Qualen in den zehn Höllen schreitet die Seele zur Reinkarnation in einem der Sechs Wege: als Mensch, als Tier, als hungriger Geist, als Gottheit, als „Titan“ (asura) oder als Bewohner der Hölle.85 Gleichzeitig bot der Buddhismus aber auch zahlreiche neue Rituale an, die der menschlichen Interaktion mit dieser Welt der Götter, Geister und Ahnen dienten: Riten, welche die Passage der Seele durch die Hölle begleiteten und erleichterten; Riten zur Beschwichtigung und mitleidsvollen Versorgung der hungrigen Geister; neue Erlöserfiguren wie den Bodhisattva Dizang (Ksitigarbha ), dessen Mission ˙ die Erlösung aller leidenden Wesen der Unterwelt ist.86 Manche Neuerung bezog ihre Autorität aus der Betonung und Weiterentwicklung 82 Siehe KIESCHNICK, John, The Impact of Buddhism on Chinese Material Culture, Princeton 2003. 83 Dabei integrierten buddhistische Innovationen jedoch bestehende indigene Nachweltsvorstellungen. Siehe dazu BOKENKAMP, Stephen R., Ancestors and Anxiety. Daoism and the Birth of Rebirth in China, Berkeley 2007. 84 TEISER, Stephen F., The Scripture of the Ten Kings and the Making of Purgatory in Medieval Chinese Buddhism, Honolulu 1994. 85 Zur Ikonographie der Reinkarnationsvorstellungen siehe TEISER, Stephen F., Reinventing the Wheel. Paintings of Rebirth in Medieval Buddhist Temples, Seattle 2006. 86 ZHIRU, The Making of a Savior Bodhisattva. Dizang in Medieval China, Honolulu 2007.

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von im indischen Buddhismus und seinen kanonischen Texten relativ randständigen Figuren und Praktiken; für andere Entwicklungen dienten neugeschaffene, sogenannte „apokryphe“ Sutren als kanonische Basis.87 Weitere religiöse Entwicklungen in der Zeit der Sechs Dynastien Die Herausbildung im Laufe der Sechs Dynastien von Buddhismus und Daoismus als überregionalen Religionssystemen mit eigenen kanonischen Texten und Ritualtraditionen ging einher mit neuen Trends in der volksreligiösen Praxis. Die neuen Jenseitsvorstellungen verbanden sich mit einem neuen Verständnis des Verhältnisses zwischen Lebenden und Toten. Mit dem buddhistischen Karma-Konzept hatte das Prinzip der soteriologischen Eigenverantwortung Einzug gehalten: Das nachweltliche Schicksal des Einzelnen war nun nicht mehr einzig von der Fürsorge der Nachkommen im Rahmen des Ahnenkultes abhängig, sondern oblag auch seiner eigenen karmischen Konstitution, die durch moralisches Tun und Lassen zu Lebzeiten bestimmt war. Gleichzeitig erweiterte das universalisierende Bodhisattva-Ideal die Pflicht der Fürsorge über den Kreis der eigenen Ahnen hinaus hin zur Schar der nicht-verwandten Geister und der Lebewesen generell. Die zahlreichen Geistergeschichten in der Literatur des Zeitalters geben Zeugnis ab von dieser Verschiebung der Schwerpunkte im Verhältnis von Menschen und Geistwesen, welche parallele Veränderungen in der Sozialstruktur widerspiegelt.88 Während Konfuzius die Verehrung von Geistern, die nicht die eigenen Ahnen sind, strikt abgelehnt hatte, betonte der Buddhismus die allgemeine Fürsorgepflicht und stellte gleichzeitig die rituellen Mittel dafür zur Verfügung.89 Ein Echo dieser weltanschaulichen Wandlungen stellt möglicherweise die Entwicklung überregionaler Kulte volksreligiöser Gottheiten dar, wie zum Beispiel dem des Generals Jiang Ziwen. Nach seinem gewaltsamen Tod im frühen 3.Jh. verbreitete sich der Glaube, dass der mächtige, aber unruhige Geist des Generals für Epidemien und Naturkatastrophen verantwortlich war 87 BUSWELL, Robert E., Jr. (Hg.), Chinese Buddhist Apocrypha, Honolulu 1990. 88 CAMPANY, Robert F., Ghosts Matter. The Culture of Ghosts in Six Dynasties Zhiguai , Chinese Literature. Essays, Articles, Reviews 13 (1991), 15–34. 89 TEISER, Stephen F., The Ghost Festival in Medieval China, Princeton 1988.

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und Opfer wurden zu seiner Beschwichtigung dargeboten. Die Entstehung eines Kultes für Jiang Ziwen ging einher mit seiner Umdeutung in eine machtvolle Gottheit, die in vielen Regionen Chinas verehrt wurde.90 Solche Kulte erweiterten die Götterwelt der Lokalreligion über die traditionellen Ahnengeister sowie Erd- und Naturgottheiten hinaus und förderten und reflektierten die Vereinheitlichung der chinesischen Regionalkulturen. In der Geschichte des Konfuzianismus wird diese Zeit in der Regel als ein Tiefpunkt angesehen. Tatsächlich büßte die offizielle Lehre der Han mit dem Untergang der Dynastie erheblich an Prestige ein; viele Intellektuelle wendeten sich nun eher legalistischen Politikentwürfen oder kontemplativer, häufig daoistisch gefärbter Privatphilosophie zu. So erfreute sich das Buch Zhuangzi neuer Beliebtheit und erhielt um das Jahr 300 seine heutige Form in den Händen des Gelehrten Guo Xiang (252–312). Hinzu kam, dass dem Konfuzianismus mit dem Verschwinden eines einheitlichen Staatswesens und kontinuierlicher Beamtenprüfungen in der schnellen Abfolge nördlicher und südlicher Dynastien die für seine Übermittlung so wichtigen soziopolitischen Rahmenbedingungen entzogen wurden. Nimmt man noch die zunehmende weltanschauliche Konkurrenz durch Buddhismus und religiösen Daoismus hinzu, so verwundert es nicht, dass der Konfuzianismus keine prominente Rolle in der Geistesgeschichte dieser Periode spielte. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass Elemente des Konfuzianismus als Staatslehre durchaus einflussreich blieben und die meisten Dynastien das konfuzianisch geprägte Staatskultwesen der Han-Zeit im wesentlichen fortzusetzen versuchten. Die unter den Han-Kaisern geschmiedete Verbindung von konfuzianischer Lehre und Vorstellungen der idealen Ordnung von Staat und Kosmos hatte durch diese 400 Jahre hindurch und, mutatis mutandis, bis zum Ende des kaiserlichen Chinas 1911 Bestand. Ebenso ist zu beachten, dass sich ein Wertekonsens herausbildete, der dem konfuzianischen Menschenbild viel schuldete und als ein kulturelles Substrat fungierte, auf das sich Konfuzianer jederzeit berufen konnten und dem sich auch die neue Lehre des Buddhismus nicht entziehen konnte. Stellvertretend sei hier nur die zunehmende 90 LIN Fu-shih, The Cult of Jiang Ziwen in Medieval China, Cahiers d’Extrême-Asie 10 (1998), 357–375.

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Zentralität des Ideals der Kindespietät im ethischen Diskurs der Sechs Dynastien genannt, wie auch seine buddhistischen Anverwandlungen.91 Damit war der Nährboden gegeben, aus dem die Renaissance des Konfuzianismus erwachsen konnte, die in der Tang-Dynastie begann und in der darauf folgenden Song-Dynastie (960–1279) einen Höhepunkt erreichte.

5. Die Tang-Dynastie (618–907) Die Tang-Dynastie (618–907) stellt einen Höhepunkt der chinesischen Kulturgeschichte dar. Die Reichseinigung unter einer starken Zentralregierung schuf stabile Entwicklungsbedingungen im Inneren und dehnte den politischen und kulturellen Einfluss Chinas nach Zentralasien, Korea, Japan und Indochina aus. Die 300 Jahre der Tang-Herrschaft waren gekennzeichnet von einer Blüte der Künste und der Literatur, von Wissenschaft und Handel. Im religiösen Bereich war dies eine Zeit beispielloser Vielfalt, während derer die aufstrebenden Religionen des Daoismus und Buddhismus reiften und sich konsolidierten, konfuzianische Denker ihrer Tradition neue Impulse gaben und neue Religionen wie Manichäismus, Christentum, Islam und Judentum über die rege bereisten Handelswege der Seidenstraße und des südchinesischen Meeres in China Eingang fanden. Die religiöse Vielfalt und kosmopolitische Kultur der Zeit spiegelte sich auch in der Religionspolitik des Herrscherhauses, die keine der Traditionen zur Staatsreligion erhob, sondern allen ein Existenzrecht zubilligte und Förderung und Anerkennung zukommen ließ. Politisches Kalkül spielte dabei eine Rolle, indem man so z. B. Buddhisten und Daoisten gegeneinander ausspielen konnte; gleichzeitig eröffnete die Abhängigkeit des Klerus von staatli91 Siehe COLE, Alan, Mothers and Sons in Chinese Buddhism, Stanford 1998; KNAPP, Keith, Selfless Offspring. Filial Children and Social Order in Medieval China, Honolulu 2005. Eine wichtige kanonische Grundlage für die Kindespietät war (neben anderen ehrwürdigen Texten der konfuzianischen Tradition) der vermutlich ins 3. Jh. v.Chr. datierende Klassiker der Kindespietät (Xiaojing). Siehe WILHELM, Richard, Hiau Ging. Das Buch der Ehrfurcht, Peking 1940; ROSEMONT, Jr., Henry und AMES, Roger T., The Chinese Classic of Family Reverence. A Philosophical Translation of the Xiaojing, Honolulu 2009.

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chen Zuwendungen die Möglichkeit, auf die internen Verhältnisse der Religionsgemeinschaften Einfluss zu nehmen. So wurde z. B. die Erteilung eines amtlichen Zertifikats Vorbedingung für die Ordinierung neuer Priester, Mönche und Nonnen. Die Zahl dieser Zertifikate war beschränkt, mit festgelegten Quoten für jeden Verwaltungsbezirk. Ziel dieser Maßnahme war sowohl die zahlenmäßige Beschränkung des daoistischen und buddhistischen Klerus wie auch seine Zerstreuung über das Reichsgebiet. In der Praxis funktionierte es nicht ganz wie geplant, u. a. weil korrupte Beamte bald jenseits aller Quoten einen schwunghaften Handel mit den begehrten Zertifikaten betrieben, welche nicht nur das Recht auf Ordinierung, sondern auch Befreiung von Steuer und Arbeitsdienst verbrieften. Dennoch sind sie ein gutes Anschauungsbeispiel für eine Religionspolitik, die Förderung und Kontrolle zu kombinieren suchte. Jenseits aller Staatsräson unterlag diese Politik jedoch den persönlichen Vorlieben des jeweiligen Kaisers, welche zumindest zeitweilig zu Vorzugsbehandlung gegenüber einer bestimmten Religion oder Schulrichtung innerhalb einer Religion führen konnte. Zu Beginn der Dynastie galt das kaiserliche Wohlwollen eindeutig dem Daoismus, mit dem sich die neue Dynastie zum einen vom Staatsbuddhismus der vorangegangenen Sui-Dynastie absetzen konnte, mit dem sich die Herrscherfamilie zum anderen aber auch persönlich verbunden fühlte, sah sie doch Laozi (mit dem sie den Familiennamen Li teilte) als ihren Urahnen an. Daher ist es sinnvoll, unsere Betrachtung der einzelnen Religionen in der Tang-Zeit mit dem Daoismus zu beginnen. Der Daoismus in der Tang-Zeit In den 400 Jahren seit dem Ende der Han-Zeit hatte es eine rasante Entwicklung von Ideen, Praktiken, Texten und sozialen Bewegungen gegeben, die sich in verschiedenster Weise auf das Dao des Laozi beriefen. Alchemisten, Priester der Himmelsmeisterbewegung, Anhänger chiliastischer Bewegungen, die Laozi als künftigen Messias verehrten, Eremiten der Shangqing-Tradition, Ritualisten in der liturgischen Reformbewegung der Lingbao-Texte – alles Elemente, die in mancher Weise überlappten und miteinander in Beziehung standen, deren genaues Verhältnis zueinander jedoch für Außenstehende unklar war. Die kaiserliche Patronage für die „Lehre vom Dao“ (Daojiao ) erforderte ei-

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ne genauere Definition des Empfängers dieser Wohltaten. Wer gehörte dazu? In welcher Relation standen die Teile dieses Konstrukts zueinander? Patronage erforderte nicht nur die Klärung, sondern ermöglichte sie auch mittels finanzieller Unterstützung für Tempel, Rituale und Bibliotheken. Die Daoisten der Tang-Zeit konnten in diesem Unterfangen auf frühere Bemühungen in der Zeit der Sechs Dynastien zurückgreifen. Im 5.Jh. hatte der Daoist Lu Xiujing (406–477) bereits eine Synthese der Traditionen versucht, die er der „Schule des Dao“ (Daomen ) zuordnete;92 im 6.Jh. war es Patronage seitens der Nördlichen Zhou-Dynastie, die den Anstoß zur Kompilation einer daoistischen „Enzyklopädie“ und Anthologie gab, welche die zugehörigen Texte kanonisierte.93 In der Tang-Zeit wurden diese Anstrengungen fortgesetzt. Im 7. Jh. erschien eine wichtige Anthologie daoistischer Texte94 und im 8.Jh. der erste echte Kanon, also eine autoritative Sammlung anerkannter daoistischer Texte, die auf kaiserlichen Befehl im Jahre 748 angefertigt wurde. Nach dem Vorbild der „Drei Körbe“ (tripitaka , chin. ˙ sanzang ) des buddhistischen Kanons war die daoistische Textsammlung in „Drei Höhlen“ (sandong ) unterteilt. Jeder dieser Abschnitte enthielt die Texte einer Überlieferungstradition: der erste die der ShangqingOffenbarungen, der zweite die Lingbao-Texte, und der dritte die Texte der sogenannten Drei Erhabenen (San Huang ), einer Schulrichtung, die während der Tang-Zeit ausstarb. Dieser Dreiteilung wurden Anhänge angefügt, welche Texte anderer, von den Drei Höhlen nicht abgedeckter Traditionen enthielten, darunter auch die der Himmelsmeister. Aus dieser Abfolge der Sektionen des Kanons ist bereits die Dominanz des Shangqing-Daoismus zu erkennen, dessen Patriarchen häufig enge Beziehungen zum Kaiserhof und der gesellschaftlichen Elite unterhielten. Im Gegenzug gewährten die Staatsorgane daoistischen Institutionen 92 Zu Lu Xiujing siehe NICKERSON, Peter, „Abridged Codes of Master Lu for the Daoist Community“, in Donald S. LOPEZ (Hg.), Religions of China in Practice, Princeton 1996, 347–359; BOKENKAMP, Stephen, Lu Xiujing, Buddhism, and the First Daoist Canon, in PEARCE, Scott, SPIRO, Audrey and EBREY, Patricia (Hg.), Culture and Power in the Reconstitution of the Chinese Realm, 200–600, Cambridge, MA, 2001, 181–199. 93 LAGERWEY, John, Wu-shang pi-yao. Somme taoïste du VIe siècle, Paris 1981. 94 REITER, Florian, Der Perlenbeutel aus den Drei Höhlen. Arbeitsmaterialien zum Taoismus der frühen T’ang-Zeit, Wiesbaden 1990.

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beträchtliche Fördergelder, welche die Ausbildung eines institutionellen Fundaments in Form eines Systems von dem buddhistischen Vorbild nachempfundenen Klöstern und Tempeln ermöglichten.95 Zeitweise war das Daode jing einer der für die Beamtenprüfungen zugelassenen Texte, eine Maßnahme, die ein Mindestmaß an daoistischer Ausbildung der Beamtenschaft garantieren sollte. Der enge Kontakt Tang-zeitlicher Daoisten mit den aufblühenden Schulen des Buddhismus führte zu einer gegenseitigen geistigen Befruchtung, welche ihre Spuren in der weiteren Geschichte beider Religionen hinterließ. So integrierte der seinerzeit berühmte Shangqing-Patriarch Sima Chengzhen (647–753) Elemente der buddhistischen Tiantai-Lehre (s. u.) in die daoistische Meditationspraxis.96 Umgekehrt beeinflusste daoistisches Gedankengut die in der Tang-Zeit Gestalt annehmende Schule des Chan-Buddhismus (s.u.). Damit wollen wir nun zu einer Darstellung des Tang-Buddhismus übergehen.97 Der Buddhismus in der Tang-Zeit Trotz seiner kaiserlichen Förderung konnte sich der Daoismus nicht mit dem Buddhismus messen, was die Zahl seiner Tempel und Klöster betraf. Mehr noch als für den Daoismus war die Tang-Dynastie ein goldenes Zeitalter für den Buddhismus, der in eine wichtige Phase institutioneller Konsolidierung und intellektueller Kreativität eintrat. Letztere wurde ermöglicht durch eine Kombination von neuen Einflüssen aus dem Geburtsland der Religion, Indien, und der intellektuellen Reifung des chinesischen Buddhismus, die sich in der Herausbildung originär chinesischer Schulrichtungen äußerte. Neue Kontakte mit Indien waren durch die Ausdehnung des chinesischen Einflusses nach Zentralasien und die damit einhergehende Befriedung der Seidenstraße er95 KOHN, Livia, Monastic Life in Medieval Daoism. A Cross-Cultural Perspective, Honolulu 2003. 96 KOHN, Livia, Seven Steps to the Dao. Sima Chengzhen’s Zuowanglun, St. Augustin/Nettetal 1987. 97 Für eine weiterführende Gesamtübersicht des Tang-zeitlichen Daoismus siehe BARRETT, Timothy, Taoism under the T’ang, London 1996. Der Reader enthält eine Übersetzung der Tang-zeitlichen Schrift der Reinheit und Stille, eine im Stil dem buddhistischen Herz-Sutra nachempfundene Summa der daoistischen Lehre.

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möglicht worden. Während das prosperierende Tang-Reich Händler und Missionare aus Süd-, Zentral- und Westasien anzog, reisten in die entgegengesetzte Richtung chinesische Buddhisten nach Indien, um den Spuren des Buddha zu folgen und in den indischen Klosterzentren zu studieren. Der berühmteste Indienpilger war zweifellos der Mönch Xuanzang (ca. 602(?)-664), der China im Jahre 629 verließ und 645 aus Indien zurückkehrte, im Gepäck 657 Texte, deren Übersetzung und Deutung er den Rest seines Lebens widmete und die zur Grundlage der chinesischen Version der Yoga¯ca¯ra-Schule wurden.98 Xuanzang war jedoch nur einer unter hunderten von Pilgern, von denen etliche Reiseberichte verfassten, welche bis heute wichtige Quellen nicht nur für die Geschichte des chinesischen Buddhismus, sondern auch für die Indiens sind.99 Während Chinesen gen Westen pilgerten, kamen aus dem Nordosten koreanische und japanische Buddhisten nach China, um unter chinesischen Meistern zu lernen. Die zwei wichtigsten Schulen des mittelalterlichen japanischen Buddhismus wurden von China-Pilgern begründet: die Tendai-Schule des Saicho¯ (767–822) und die Shingon-Schule des Ku¯kai (774–835). Und ebenso wie Chinesen Berichte über Indien verfassten, schrieben Japaner und Koreaner über ihre Erfahrungen in China; der bekannteste Reisebericht ist der des japanischen Mönchs Ennin (794–864).100 In den buddhistischen Zentren Tang-Chinas begegneten sich Buddhisten aus ganz Asien und wirkten an der Weiterentwicklung und -verbreitung ihrer Religion mit. In dieser kosmopolitischen Atmosphäre bildeten sich die großen Schulen des Tang-Buddhismus heraus, die hier nur kurz skizziert werden können. Der soeben erwähnte Tendai-Buddhismus Japans leitet 98 Zu Xuanzangs Leben und Wirken siehe GROUSSET, René (übers. v. Peter FISCHER und Renate SCHMIDT), Die Reise nach dem Westen, München 1986; MAYER, Alexander Leonhard, Xuanzangs Leben und Werk. Teil 1. Xuanzang, Übersetzer und Heiliger, Wiesbaden 1992. 99 Bereits vor der Tang-Zeit waren vereinzelt chinesische Mönche nach Indien gereist, so z.B. im Jahr 399 Faxian, der nach seiner Rückkehr 414 einen ausführlichen Bericht über seine Erlebnisse verfasste. Siehe DEEG, Max, Das Gaoseng-Faxian-Zhuan als religionsgeschichtliche Quelle. Der älteste Bericht eines chinesischen Pilgermönchs über seine Reise nach Indien mit Übersetzung des Textes, Wiesbaden 2005. 100 REISCHAUER, E.O., Ennin’s Travels in T’ang China, New York 1955; idem, Ennin’s Diary, New York 1955.

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sich von der chinesischen Tiantai-Schule ab, die nach dem Berg benannt ist, auf dem sich ihr Hauptkloster befand. Den führenden Tiantai-Denkern (vor allem Zhiyi, 538–597) verdankt der chinesische Buddhismus eine großartige Synthese aller buddhistischen Schulrichtungen, deren scheinbare Widersprüche sich dieser Ansicht nach in der höchsten und reinsten Lehre des Buddha auflösen, die im Lotos-Sutra ihren Niederschlag gefunden habe.101 Der Pilger Xuanzang führte die indische Yoga¯ca¯ra-Lehre ein, derzufolge die Wahrnehmung der phänomenalen Welt ein Produkt des Bewusstseins ist; Ziel der Meditationspraxis ist daher die Reinigung der Bewusstseinsstrukturen, deren Verdunkelung das einzig wahre Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung ist.102 Die Huayan- (Avatamsaka oder „Blumengirlanden“) Schule des ˙ Fazang (643–712) spekulierte über die wesensmäßige Verbundenheit und gegenseitige Bedingtheit aller Phänomene in der Leere, welche in der letzten Konsequenz dualistische Unterscheidungen von nirva¯na und samsa¯ra aufhebt und die Präsenz des Ganzen in jedem Teil postu˙ liert.103 Diese (und weitere, hier nicht behandelte) philosophisch ausgerichteten Schulen lieferten das Ideenfundament, auf dem die zwei großen und die weitere Entwicklung des chinesischen Buddhismus do101 Zu Zhiyi und der Tiantai-Lehre siehe PETZOLD, Bruno, Die Quintessenz der T’ien-t’ai-(Tendai)-Lehre, Wiesbaden 1982; SWANSON, Paul L., Foundations of T’ien-T’ai Philosophy. The Flowering of the Two Truths Theory in Chinese Buddhism, Berkeley 1989; DONNER, Neal and STEVENSON, Daniel B., The Great Calming and Contemplation. A Study and Annotated Translation of the First Chapter of Chih-I’s Mo-ho chih-kuan, Honolulu 1993; KANTOR, Hans-Rudolf, Die Heilslehre im Tiantai-Denken des Zhiyi (538–597) und der philosophische Begriff des „Unendlichen“ bei Mou Zongsan (1909–1995). Die Verknüpfung von Heilslehre und Ontologie in der chinesischen Tiantai, Wiesbaden 1999. Das Lotos-Sutra liegt in mehreren Übersetzungen vor, auf Deutsch zuletzt von DEEG, Max, Das Lotos-Sutra, Darmstadt 2007. Siehe auch die Auszüge im Reader. 102 Siehe dazu u.a. LUSTHAUS, Dan, Buddhist Phenomenology. A Philosophical Investigation of Yogacara Buddhism and the Ch’eng Wei-shih lun, London 2002. 103 Die Vertreter der Huayan-Schule sahen diese Vision vor allem im Avatamsaka Sutra (Sutra der Blumengirlande) realisiert. Zu Fazang und der Huayan-Philosophie siehe ELBERFELD, Rolf, LEIBOLD, Michael, OBERT, Mathias, Denkansätze zur buddhistischen Philosophie in China. Seng Zhao, Jizang, Fazang zwischen Übersetzung und Interpretation, Köln 2000; CHEN, Jinhua, Philosopher, Practitioner, Politician. The Many Lives of Fazang (643–712), Leiden 2007.

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minierenden Richtungen aufbauten: der Chan-Buddhismus und die Lehre des Reinen Landes. Die Chan-Lehre ist eine originär chinesische Schöpfung, auch wenn sie sich traditionell auf eine lange Linie indischer Patriarchen beruft. In dieser Darstellung geht die Chan-Schule in direkter Linie auf den Buddha selbst zurück, der eines Tages eine Predigt ankündigte, dann aber lediglich wortlos eine Blume hochhielt. Unter all seinen Schülern verstand nur Ka¯s´yapa die tiefere Bedeutung dieser Geste und lächelte, worauf ihn Buddha zum Hüter der wahren Lehre und damit zum ersten Patriarchen der Chan-Linie ernannte. Nach einer langen Reihe von indischen Chan-Meistern reiste der 28. Patriarch Bodhidharma nach China, wo er gleichzeitig der erste chinesische Patriarch wurde und die Chan-Lehre im Reich der Mitte etablierte. Zahlreiche Legenden ranken sich um die Gestalt des Bodhidharma, die möglicherweise keine historische Grundlage hat. Dennoch kann man weder Bodhidharma noch die historisch vermutlich ebenfalls fiktive Reihe der indischen ChanPatriarchen ignorieren, da diese Legenden das Selbstverständnis der Chan-Buddhisten ausdrückten und in der Rückkopplung stark beeinflussten. Dieses Selbstverständnis findet seinen prägnantesten Ausdruck in der Formel, dass Chan stets in „einer besonderen Linie außerhalb der Schriften“ gelehrt und tradiert worden sei. Der Name „Chan“ ist eine Verkürzung von channa , der chinesischen phonetischen Wiedergabe des Sanskrit-Begriffes dhya¯na , „Meditation“. Der Name war Programm, markierte er doch eine Abwendung von scholastischer Spekulation zugunsten intensiver Meditationspraxis. Die Chan-Lehre ging davon aus, dass dieselbe Erleuchtung, welche der Buddha erlangt hatte, jedem möglich war, wenn man sie nur mit der nötigen Disziplin und richtigen Methode verfolgte. Ganz im Sinne der Maha¯ya¯na-Sicht der Identität von samsa¯ra und nirva¯na wurde Erleuchtung dabei nicht als ˙ die Erlangung eines gänzlich Anderen, sondern als die Schau der wahren Natur des Selbst und aller Existenz gesehen, nämlich der allen und allem innewohnenden Buddha-Natur. Diese Einheit ist aber nur durch die Überwindung aller Dualismen im individuellen Bewusstsein zu erlangen, ein Ziel, das durch asketische Meditationspraxis unter der Anleitung eines bereits erleuchteten Meisters verfolgt wurde. Die ChanSchule verschmolz Impulse verschiedener buddhistischer Schulrichtungen und wohl auch daoistischer Ideen zu einem Programm asketi-

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scher Meditationsübung im klösterlich-hierarchischen Kontext der strikten Führung durch einen Meister. Dessen große Bedeutung tritt hervor in der starken Personalisierung der Geschichtssicht des Chan. Die wahre Erleuchtung wird weitergereicht vom Meister an einen auserwählten Schüler oder „Dharma-Erben“, der nun Meister für die nächste Generation wird. In der Chan-Literatur findet diese didaktische Methode ihren Widerhall in den zahlreichen Sprüchesammlungen (yulu , „Aufzeichnungen der Gespräche“) berühmter Meister und in der Betonung der Legitimation der Erleuchtung des Einzelnen durch seine oder ihre Einordnung in eine dokumentierbare Abfolge erleuchteter Meister.104 Aus den daraus entstehenden Lehrlinien bildeten sich die Schulrichtungen des Chan, deren Abweichungen voneinander typischerweise stark personalisiert dargestellt werden. So wurde der Widerstreit zwischen den Lehrmeinungen der graduellen und der plötzlichen Erleuchtung narrativ in den Wettstreit zweier Schüler des fünften Chan-Patriarchen Hongren (602–675) gekleidet: Shenxiu (ca. 605– 706) und Huineng (gest. 713). In der Version des Plattform-Sutras stach der ehemalige Holzfäller Huineng, der weder lesen noch schreiben konnte, den gelehrten Shenxiu durch den Erweis seiner wahren Erleuchtung aus und wurde daraufhin von Hongren heimlich zu seinem Nachfolger ernannt.105 Während diese Ereignisse wohl eher ins Reich der Legende gehören, sind sie doch als Ausdruck der Chan-Kultur zu verstehen, in der die Meister-Schüler-Beziehung sowie Fragen der Meditationstheorie und -praxis zentrale Bedeutung haben.106 Auch werden in solchen Geschichten wie auch in den Sprüchesammlungen die Selbstsicht des Chan als jenseits aller Konventionen und gesellschaftlicher Werte stehend gefeiert; sie sind daher wichtige Quellen für Einblicke in das Selbstverständnis der Chan-Buddhisten seit der Tang-Zeit. Bizarres Verhalten, absurde Dialoge, Verstöße gegen gesellschaftliche 104 WELTER, Albert, The Linji Lu and the Creation of Chan Orthodoxy. The Development of Chan’s Records of Sayings Literature, Oxford 2008. 105 Eine vollständige Übersetzung dieses Textes liegt vor von YAMPOLSKY, Philip B., The Platform Sutra of the Sixth Patriarch, New York 1967. Zur Gestalt des 6. Patriarchen Huineng siehe JORGENSEN, John, Inventing Hui-neng, the Sixth Patriarch. Hagiography and Biography in Early China, Leiden 2005. 106 FAURE, Bernard, The Will to Orthodoxy. A Critical Genealogy of Northern Chan Buddhism, Stanford 1997.

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Konventionen – all dies verweist auf die Radikalität des Chan-Weges, für den die Erleuchtung nur in der Überwindung aller Dualismen und allen konzeptuellen Denkens zu finden ist. Wird die Buddha-Natur dann tatsächlich geschaut, ist ihre Erkenntnis nicht direkt kommunizierbar, ebenso wenig wie für Zhuangzi das Dao in Worte zu kleiden war. Der Meister kann daher nicht direkt lehren, sondern muss seinen Schüler zur eigenen Erfahrung hinführen. Konventionelle Lehrreden können dazu dienen, aber ebenso rätselhafte Paradoxien und Absurditäten, ja sogar physische Gewalt, welche durch ihren Schock-Effekt das Bewusstsein des Schülers aus seinen normalen, begrenzten Bahnen werfen sollte.107 In der TangZeit blühte Chan auf und legte die Grundlagen für seine spätere Entwicklung hin zu einer der beiden dominanten Formen des chinesischen Buddhismus. Gleichzeitig fand in dieser Zeit die Transmission der Chan-Lehre nach Korea und Japan statt, wo sie unter den Amita¯bha, traditioneller chin. Druck, Namen So˘n respektive Zen großen Xifang gongju Einfluss erlangte.108 Während Chan die Fähigkeit des Einzelnen betonte, durch meditative Bemühung den Durchbruch zur Erleuchtung zu erlangen, betonten die Texte und Vertreter der Schulrichtung des Reinen Landes eher die menschliche Schwäche, die den Chan-Weg für die Mehrheit unbegeh107 FAURE, Bernard, The Rhetoric of Immediacy. A Cultural Critique of Chan/Zen Buddhism, Princeton 1991; HEINE, Steven und WRIGHT, Dale S. (Hg.), The Ko¯an. Texts and Contexts in Zen Buddhism, Oxford 2000. Siehe die Auszüge aus Chan-Spruchsammlungen im Reader. 108 Für Überblicksdarstellungen des Chan-Buddhismus, siehe Heinrich DUMOULIN, Zen. Geschichte und Gestalt, Bern 1959; Michael VON BRÜCK, Zen. Geschichte und Praxis, München 2004; Peter D. HERSHOCK, Chan Buddhism, Honolulu 2005.

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bar macht. Da aber nun zahlreiche Bodhisattvas das Gelübde abgelegt haben, alle Lebewesen zum Nirvana zu führen, muss es logischerweise einen anderen Weg geben, der den Massen offen steht. Dieser Weg ist der der frommen Hingabe an den Buddha Amita¯bha, der eine Buddhasphäre, genannt das „Reine Land“ (Jingtu ), geschaffen hat, in die alle wiedergeboren werden, die ihr Schicksal ganz in seine Hände legen. Das Reine Land ist eine Welt ohne jegliche geistige Verschmutzung und ohne die zahlreichen karmischen Hindernisse, welche das Erlangen der Erleuchtung in der Menschenwelt so erschweren, zumal in dem korrupten Zeitalter des „Endzeit-Dharmas“ (mofa ), als welches chinesische Buddhisten des Mittelalters ihre eigene Zeit betrachteten. Im „Westlichen Paradies“ des Reinen Landes meditieren die Wiedergeborenen in Gegenwart Amita¯bhas und erlangen durch seine Hilfe schließlich das nirva¯na. Frühe Formen des Amita¯bha-Kultes waren in der bereits erwähnten „Gesellschaft des Weißen Lotos“ des Mönches Huiyuan im späten 4. Jh. sichtbar, nahmen aber erst in den Schriften des Tanluan (476–542) deutlichere Gestalt an. Als kanonische Basis diente eine Gruppe von Sutren, welche Amita¯bha verherrlichten und die wunderbaren Eigenschaften seines Reinen Landes anpriesen.109 Die „Theologie“ des Reinen Landes wurde in Kommentaren zu diesen Sutren sowie in popularisierenden Schriften entwickelt und von Predigern unter das Volk gebracht. Der Reader enthält Auszüge aus den Schriften des Tangzeitlichen Patriarchen Shandao (613–681), welche die Menschen- und Weltsicht dieser Schule illustrieren. Die Hingabe an den Buddha Amita¯bha fand Ausdruck in der Rezitation seines Namens: namo Amituofo, „Ehre sei Amita¯bha Buddha!“ Diese Anrufung aus vollem Herzen und mit festem Glauben genügte, um sich die Wiedergeburt im Reinen Land zu sichern. Wie der Chan-Buddhismus wurde auch die Lehre vom Reinen Land nach Korea und Japan exportiert und so verbreitete sich die Verehrung Amita¯bhas durch ganz Ostasien. In China selbst revolutionierte der neue Glaube Jenseitsvorstellungen und Tempelkulte und wirkte weit über die Klöster hinaus auf die Volksfrömmigkeit. Zusammen mit dem Kult Amita¯bhas verbreitete sich die Verehrung mit ihm assoziierter Figuren wie dem Bodhisattva Avalokites´vara/Guanyin, 109 PAS, Julian, Visions of Sukha¯vatı¯. Shan-tao’s Commentary on the Kuan Wuliang-shou-fo ching, Albany, NY, 1995.

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oder funktional ähnlicher Erlösergottheiten wie dem bereits erwähnten Bodhisattva Ksitigarbha/Dizang. Insbesondere der Bodhisattva Avalo˙ kites´vara/Guanyin entwickelte einen eigenständigen Kult, welcher dieser Figur eine spezifisch chinesische Prägung gab, indem sich der vormals männlich dargestellte Avalokites´vara nun allmählich zur weiblichen Gestalt der Guanyin wandelte und Funktionen übernahm, die weit über die traditionelle Rolle dieses Bodhisattvas als Helfer des Buddha Amita¯bha hinausgingen.110 Die Tang-Zeit ist somit gekennzeichnet von der geistigen Reifung, kulturellen Integration und institutionellen Konsolidierung des Buddhismus. Diese erlitt jedoch in der späten Tang-Zeit einen schweren Rückschlag durch die anti-buddhistischen Kampagnen ab dem Jahr 840, in deren Verlauf zahlreiche Klöster geschlossen, ihre Güter enteignet und ihre Bewohner in den Laienstand versetzt wurden. Während religiöse Vorbehalte gegen die fremde Lehre seitens des neuen, dem Daoismus zugeneigten Kaisers eine Rolle gespielt haben mochten, rührten diese Verfolgungen wohl hauptsächlich von amtlichen Begehrlichkeiten her, die durch den enormen Reichtum des Sangha geweckt worden waren. Klöster und ihre Bewohner waren von Steuern und Arbeitsdienst befreit. Neben dem bereits erwähnten raschen Wachstum des Sangha führte dies auch zu einer zunehmenden Konzentration von Ackerland im Besitz der Klöster, die so zu Großgrundbesitzern wurden. Darüber hinaus nutzten auch private Grundherren die Steuerbefreiung des Sangha, indem sie pro forma ein Kloster stifteten, dem sie dann ihre Ländereien überschrieben. Der Eigentumstransfer war jedoch lediglich nominell, da der ursprüngliche Besitzer die Kontrolle über das Land und das daraus erwachsende Einkommen behielt, welches nun allerdings von Steuern und Abgaben befreit war. Solcherlei Missbräuche trugen dazu bei, dass immer mehr Land von den Steuerlisten verschwand, die Steuereinnahmen entsprechend sanken und der Staat 110 REIS-HABITO, Maria-Dorothea, Die Dha¯ranı¯ des Großen Erbarmens des Bodhisattva Avalokites´vara mit tausend Händen und Augen, Nettetal 1993; YÜ, Chün-fang, Kuan-yin. The Chinese Transformation of Avalokites´vara, New York 2001. Im Reader siehe die Übers. des 25. Kapitels des Lotos-Sutra, „Das Universelle Tor des Bodhisattva Avalokites´vara.”

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nach neuen Einkommensquellen Ausschau halten musste. Die Verfolgungen unter Kaiser Wuzong (reg. 840–846), die im Jahre 845 ihren Höhepunkt erreichten, können daher auch als eine Art fiskalischer Befreiungsschlag angesehen werden. Gemäß einem am Ende der Kampagne verfassten Memorandum sollen dabei insgesamt 4.600 Klöster und 40.000 Tempel zerstört, 260.500 Mönche und Nonnen in den steuerpflichtigen Laienstand versetzt, 150.000 Klostersklaven vom Staat übernommen und riesige Ländereien konfisziert worden sein.111 Wie realistisch diese Zahlen sind und wie groß die langfristigen Auswirkungen dieser Maßnahmen waren, ist in der Forschung umstritten, zumal viele davon unter Wuzongs Nachfolger wieder rückgängig gemacht wurden. Dennoch wird auf das Jahr 845 oft als eine Zäsur verwiesen, die den Übergang zu den neuen, von den Schulen des Chan und des Reinen Landes dominierten institutionellen Strukturen des Buddhismus markierte.112 Der Konfuzianismus Während für Daoismus und Buddhismus die Tang-Dynastie eine Blütezeit darstellt, werden diese Jahrhunderte in der Geschichte des Konfuzianismus eher als eine Zeit des allmählichen Erwachens, als eine Vorbereitungsphase für den Neokonfuzianismus des 11. und 12. Jh. angesehen. Die Restauration der Zentralregierung zu Beginn ging einher mit der Neubelebung vieler Einrichtungen und Verfahrensweisen, die seit der Han-Zeit stark konfuzianisch geprägt waren. Besonders zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Beamtenprüfungen und das Staatskultwesen. Eine wichtige institutionelle Entwicklung war die Umbildung der Staatsverwaltung in sechs Ministerien, von denen eines das Ritenministerium (libu ) war. Diese von der vorangegangenen SuiDynastie übernommene Reform gab dem Staatskultwesen eine stabile und auf der höchsten Regierungsebene verortete Verwaltungs- und Leitungsstruktur, welche dem Konfuzianismus eine solide institutionelle 111 CH’EN, Kenneth, Buddhism in China. A Historical Survey, Princeton 1964, 232. 112 Zu wirtschaftlichen und politischen Aspekten des Buddhismus unter der TangDynastie siehe GERNET, Jacques, Les aspects économiques du bouddhisme dans la société chinoise du Ve au Xe siècle, Saigon 1956; WEINSTEIN, Stanley, Buddhism under the T’ang, Cambridge 1987.

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Basis verschaffte, die bis zum Ende der Kaiserzeit Bestand haben sollte. Dem Ritenministerium oblagen nicht nur die Durchführung der Staatsopfer, sondern u. a. auch das Hofzeremoniell, die Beamtenprüfungen und die Kontrolle des buddhistischen und daoistischen Klerus. So nimmt es nicht Wunder, dass im Verlauf der Tang-Zeit die Beamtenprüfungen wieder eine zunehmende Bedeutung bei der Auswahl der Elite gewannen, auch wenn das Lehrmaterial noch nicht gänzlich unter konfuzianischer Kontrolle stand. Im Staatskultwesen suchten die TangHerrscher an die Traditionen der Han-Dynastie und des klassischen Altertums anzuknüpfen, was zum verstärkten Studium der konfuzianischen Ritenklassiker und zur Kompilation von umfangreichen RitualKompendien führte, Werke, die bis zum Ende der Kaiserzeit normative Bedeutung haben sollten.113 Eine für die weitere Entwicklung des Konfuzianismus bedeutsame rituelle Neuerung (die allerdings an Han-zeitliche Vorbilder anknüpfte) war die Förderung des Konfuzius-Kultes, für den Tempel und Schreine auf allen Verwaltungsebenen eingerichtet wurden. Der staatliche Tempelkult des Konfuzius setzte sich von hier an bis in die Gegenwart fort und wird auch heute noch sowohl in Taiwan wie (wieder) in der Volksrepublik China praktiziert.114 Wenn das Geistesleben der Tang-Zeit auch sicherlich von Daoismus und Buddhismus dominiert wurde, regten sich doch gleichzeitig erste Bemühungen, zu einem neuen Verständnis der konfuzianischen Tradition zu gelangen und diese in Abgrenzung zu Daoismus und Buddhismus zu definieren. Der bekannteste Verfechter eines neu belebten Konfuzianismus war der Staatsmann, Literat und Philosoph Han Yu (768– 824), dessen Kampfschrift „Grundlagen des Dao“ (Yuan Dao ) eine 113 Siehe EICHHORN, Werner, Die alte chinesische Religion und das Staatskultwesen, 153–190; WECHSLER, Howard J., Offerings of Jade and Silk. Ritual and Symbol in the Legitimation of the T’ang Dynasty, New Haven 1985; MCMULLEN, David, Bureaucrats and Cosmology. The Ritual Code of T’ang China, in CANNADINE, David, und PRICE, Simon, (Hg.), Rituals of Royalty. Power and Ceremonial in Traditional Societies, Cambridge 1987, 181–236. 114 WILSON, Thomas A., Ritualizing Confucius/Kongzi. The Family and State Cults of the Sage of Culture in Imperial China, in idem (Hg.), On Sacred Grounds. Culture, Society, Politics, and the Formation of the Cult of Confucius, Cambridge/Mass. 2002, 43–94.

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neue konfuzianische Orthodoxie zu bestimmen suchte. In diesem Essay erklärte Han Yu, dass der letzte wahre Vertreter des Weges der alten Weisen Menzius gewesen und dass China seitdem auf Irrwegen gewandelt sei, die zu Unordnung und Leid aller Art geführt hätten. Die Wiedererlangung des wahren Dao oblag nun Han Yus Generation und er verfolgte dieses Ziel auf mannigfaltige Weise. Im Bereich der Literatur setzte er sich für die Ersetzung des vorherrschenden blumigen Stils, den er auf buddhistische Einflüsse zurückführte, durch den sogenannten „alten Stil“ (guwen ) ein, der besser zur klaren Formulierung von Ideen geeignet war. Auf politischer Ebene suchte er den Einfluss des Buddhismus zurückzudrängen; eine seine berühmtesten Schriften ist eine Eingabe an den Kaiser, in welcher er aufs Schärfste gegen die Verehrung einer Buddha-Reliquie in der Hauptstadt und gar im Kaiserpalast protestierte.115 In diesem Fall trug ihm seine Polemik die Verbannung als Magistrat in die südchinesische Provinz ein, was allerdings seinen Ruhm eher noch mehrte.116 Während Han Yu auf Abgrenzung setzte, versuchte sein Zeitgenosse Li Ao (772–836), die konfuzianische Tradition im fruchtbaren Austausch mit Buddhismus und Daoismus neu zu beleben. Diese Haltung brachte ihm zwar seitens späterer Konfuzianer den Vorwurf des Synkretismus ein, war aber ebenso wichtig als Vorbereitung für den Neokonfuzianismus der folgenden Song-Dynastie wie Han Yus strikt abgrenzende Sicht.117 Fremde Religionen in der Tang-Zeit Neben den oben beschriebenen Entwicklungen im Bereich der Drei Lehren ist die Tang-Periode von besonderem religionsgeschichtlichen Interesse durch das erstmalige Auftreten vorderorientalischer Religionen in China: Christentum, Manichäismus, Mazdaismus, Judentum und Islam. Eine wichtige Quelle dieser Religionen war Persien, mit dem China über die Seidenstraße einen regen Handel unterhielt; zahlreiche persische Händler ließen sich im China der Tang-Zeit nieder 115 Siehe die Auszüge im Reader. 116 Zu Han Yu siehe HARTMAN, Charles, Han Yü and the T’ang Search for Unity, Princeton 1986. 117 Zu Li Ao siehe BARRETT, T. H., Li Ao. Buddhist, Taoist, or Neo-Confucian?, Oxford 1992.

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und brachten ihre Religionen mit. Der in China als „persische Lehre“ oder „Lehre der Feueranbetung“ bekannte Mazdaismus war die vorislamische Staatsreligion des persischen Reiches und wurde in China u. a. von persischen Flüchtlingen praktiziert, die vor den arabisch-islamischen Eroberern geflohen waren, welche 637–642 das persische Reich überrannt hatten. Teil dieser Diaspora-Gemeinde waren auch Abkömmlinge des sassanidischen Herrscherhauses, die (vergeblich) hofften, von China aus ihr Reich zurückzuerobern. Mehr Spuren als der Mazdaismus hinterließ der Manichäismus in der chinesischen Religionsgeschichte. Diese im 3. Jh. n. Chr. in Mesopotamien von Mani (216–277) begründete dualistische Religion erreichte China spätestens gegen Ende des 7. Jh. und wurde dort als eine Variante des Buddhismus wahrgenommen. Im Gegensatz zu den Mazdäern betätigten sich die Manichäer missionarisch und traten offenbar in religiösen Dialog mit Buddhisten und Daoisten, was sich in synkretistischen Tendenzen der überlieferten chinesischen Texte der Religion zeigt.118 Das mit der Tang-Dynastie verbündete Turk-Volk der Uighuren trat in der Mehrzahl zum Manichäismus über. Als sich Uighuren in China niederließen, errichteten sie vielerorts manichäische Tempel. Ein solcher dem „Buddha des Lichtes“ (= Mani) gewidmeter Tempel ist heute noch nahe der südostchinesischen Hafenstadt Quanzhou zu besichtigen. Die früheste Form des Christentums in China war die „nestorianische“ Kirche, so genannt nach dem Bischof Nestorius (ca. 381–ca. 451), den das Konzil von Ephesus 431 der christologischen Häresie bezichtigt hatte. „Nestorianisch“ ist hier in Anführungszeichen gesetzt, da die historische oder theologische Verbindung der „Kirche des Ostens“ mit Nestorius oder seinen Lehren unklar ist; die Bezeichnung wird hier nur aufgrund ihrer weiten Verbreitung in der Fachliteratur verwendet.119 Die Nestorianer entfalteten von ihrer Basis im heutigen Syrien und Irak aus eine rege Missionstätigkeit gen Osten und gründeten christliche 118 Siehe SCHMIDT-GLINTZER, Helwig, Chinesische Manichaica, mit textkritischen Anmerkungen und einem Glossar, Wiesbaden 1987. 119 Zur terminologischen Problematik siehe MALEK, Roman und HOFRICHTER, Peter (Hg.), Jingjiao. The Church of the East in China and Central Asia, Sankt Augustin 2006.

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Gemeinden in Indien („Thomaschristen“) und Zentralasien. So trat z.B. ein Teil der im Zusammenhang mit dem Manichäismus bereits genannten Uighuren zum nestorianischen Christentum über. Die berühmte nestorianische Stele von 781 berichtet, dass im Jahre 635 eine von einem gewissen Aluoben geführte nestorianische Delegation von mehr als siebzig Mönchen in China eintraf und vom Tang-Kaiser Taizong empfangen wurde, welcher der neuen Religion die Erlaubnis gab, sich in China niederzulassen.120 Die nestorianischen Christen gründeten Kirchen und Klöster und stellten ihre Lehre in chinesischer Sprache dar, um über die ethnisch definierten Diaspora-Gemeinden hinauszureichen. Dabei verfolgten sie eine Akkulturationsstrategie, welche das Christentum durch mancherlei kulturelle und religiöse Anpassung akzeptabler machen sollte. Charakteristisch für diesen Ansatz ist die Gestaltung des Kreuzsymbols, welches häufig mit dem buddhistischen Lotos (Symbol der Erleuchtung) kombiniert wurde. Diese im Chinesischen als „Leuchtende Lehre“ (Jingjiao ) bekannte Form des Christentums hielt sich über mehrere Jahrhunderte in China selbst und unter den benachbarten Steppenvölkern, hatte jedoch letztlich keinen größeren Einfluss auf die chinesische Gesamtkultur.121 Während wir für Christen, Manichäer und Mazdäer relativ gute Tangzeitliche Quellen besitzen, rücken Moslems und Juden erst etwas später ins Blickfeld der Geschichtsschreibung. Jedoch gibt es keinen Zweifel, dass Anhänger beider Religionen bereits während der Tang-Dynastie in China anwesend und aktiv waren. Die Blüte all dieser aus der Religionsgeschichte des Westens bekannten Traditionen in China unterstreicht die weltoffene Atmosphäre des Tang-Reiches, welche allerdings mit der Verfolgung des Buddhismus 845 ein vorläufiges Ende nahm. Vor allem Christen und Manichäer wurden in die Verfolgung mit einbezogen und gingen eines Großteils ihrer religiösen Einrichtungen und ihres Vermögens verlustig. Die fremdenfeindliche Rhetorik, welche die120 XU, Longfei, Die nestorianische Stele in Xi’an. Begegnung von Christentum und chinesischer Kultur, Bonn 2004. 121 Zum „Nestorianismus“ in China siehe TANG, Li, A Study of the History of Nestorian Christianity in China and its Literature in Chinese. Together with a New English Translation of the Dunhuang Nestorian Documents, Frankfurt a. M. 2002.

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se Maßnahmen begleitete, war ein Anzeichen der zunehmenden Schwäche der Tang-Herrscher. Wenig mehr als sechzig Jahre später stürzte die Dynastie und China trat in eine neuerliche Übergangsphase ein, die von politischer Zersplitterung gekennzeichnet war.

6. Die Song-Dynastie (960–1279) Eine rasche Abfolge von fünf Dynastien endete im Jahre 960 mit der Gründung der Song-Dynastie, welche allerdings nicht die Ausdehnung der Tang-Herrschaft erreichte. Teile Nordchinas gerieten unter die Kontrolle von nicht-chinesischen Steppenvölkern, die ihre eigenen Dynastien gründeten. Der anhaltende militärische Konflikt mit ihren nördlichen Nachbarn bestimmte das politische Geschehen der SongDynastie, führte im Jahre 1138 zur Verlegung der Hauptstadt ins südlich des Jangtse gelegene Hangzhou und kulminierte im Jahre 1279 in der Eroberung des Song-Restreiches durch die Yuan-Dynastie der Mongolen. Die Flucht des Hofes in den Süden im Jahr 1127 war bedingt durch katastrophale militärische Niederlagen des Song-Heeres, in Folge derer die Dynastie ihr Territorium nördlich des Huai-Flusses verlor. Die chinesische Geschichtsschreibung markiert diese Zäsur, indem sie die Song-Dynastie in zwei Abschnitte einteilt: die Nördliche (960–1127) und die Südliche Song (1127–1279). Trotz ihrer relativen politischen Schwäche stellt die Song-Zeit einen wichtigen Wendepunkt in der chinesischen Geschichte dar. Für manche Historiker verkörpert sie das endgültige Ende des chinesischen Mittelalters und den Beginn der frühen Neuzeit. Solche an der europäischen Geschichte orientierten Periodisierungen sind zwar umstritten, verweisen aber zumindest auf einige fundamentale Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die durchaus ihre Parallelen im Europa der frühen Neuzeit haben. An erster Stelle zu nennen ist die wirtschaftliche Entwicklung, die gekennzeichnet war von Steigerungen in der landwirtschaftlichen Produktion durch neue Getreidesorten und Anbaumethoden, Entwicklung neuer Technologien (z.B. Stahlherstellung), Verbreitung von Papiergeld und einer starken Zunahme des überregionalen Handels. Gekoppelt daran war eine Zunahme der Größe und Mobilität der Bevölkerung (ca. 100 Millionen Einwohner um das Jahr 1100). Zusammengenommen mit

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der Entwicklung einer wachsenden Klasse von wohlhabenden Kaufleuten führte dies zu einer Schwächung der sozialen Position des alten Erbadels, der Einkommen und Macht aus seinen Lehnsgütern bezogen hatte. Die Entwicklung von Handel und Gewerbe eröffnete neue Wege des sozialen Aufstiegs, förderte die Herausbildung neuer Eliten und schuf neue Nachfrage nach Bildungsangeboten. Der Buchdruck war bereits in der Tang-Dynastie erfunden worden, aber erst in der SongZeit setzte sich die kommerzielle Verwendung dieser Technologie durch. Buchdruck und ein aufkeimendes Verlagsgewerbe beförderten das Bildungswesen und erhöhten den Anteil derer, die des Lesens und Schreibens kundig waren. Damit wuchs auch die Zahl der Teilnehmer an den Beamtenprüfungen, einer Institution, die zunehmend den Zugang zur politischen Elite monopolisierte (wenn auch die Patronage als alternative Aufstiegsmöglichkeit nicht gänzlich verschwand). Da der Verwaltungsapparat sich nicht in gleichem Ausmaß vergrößerte wie die Zahl der Bewerber, verringerten sich die Erfolgsaussichten beträchtlich und zahlreiche hoch gebildete Männer mussten andere Möglichkeiten des Lebensunterhaltes finden. Neben Handel und Gewerbe fungierten der daoistische und buddhistische Klerus wie auch der private Bildungssektor als Auffangbecken. Hier ist insbesondere in der Südlichen Song-Zeit die Entwicklung der privaten Akademien (shuyuan ) zu erwähnen, die ihre Schüler auf die Beamtenprüfungen vorbereiteten, aber auch zu Brutstätten einer konfuzianischen Renaissance, des sogenannten Neokonfuzianismus, wurden. Handel, kommerzielles Verlagswesen sowie private Schulen und Akademien waren allesamt Elemente einer sich herausbildenden Zivilgesellschaft und boten die institutionellen Grundlagen für einen öffentlichen Diskurs über Politik, Kultur, Religion und Gesellschaft, der weitgehend der direkten staatlichen Kontrolle entzogen war. Diese Faktoren trugen wesentlich zum Aufblühen des Geisteslebens unter der Song-Dynastie bei, dessen Manifestationen in der chinesischen Religionsgeschichte wir uns nun zuwenden. Für die Religionsgeschichte ist die Song-Zeit von entscheidender Bedeutung, bildeten sich in ihrem Verlauf doch Strukturen und Schwerpunkte heraus, die das religiöse Leben bis zum Ende der Kaiserzeit und zum Teil bis in die Gegenwart bestimmen sollten.

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Der Neokonfuzianismus Wie wir sahen, gab es bereits in der Tang-Zeit Bemühungen um eine Stärkung der konfuzianischen Tradition. Die Song-Zeit knüpfte an die Erfolge von Tang-Gelehrten wie Han Yu an und brachte die wohl bedeutendste Reformbewegung in der Geschichte des Konfuzianismus hervor. Der Boden wurde im 11. Jh. von einer Reihe von Denkern bereitet, welche die konfuzianische Tradition gegenüber der Vorherrschaft von Daoismus und Buddhismus im kulturellen Leben dieses Zeitalters neu aufzustellen versuchten. Diese Bewegung kam nicht von ungefähr, ging sie doch einher mit politischen und sozialen Veränderungen, welche eine förderliche Wirkung hatten. Ein nativistisches Element entstand angesichts der ständigen Bedrohung der Song-Herrschaft durch nicht-chinesische Nomadenvölker, die häufig den Buddhismus bevorzugten. Die Ausweitung des Bildungssystems bei gleichzeitiger Abnahme der Beamtenrekrutierungsquoten sorgte (wie oben beschrieben) für einen beträchtlichen Überschuss von am konfuzianischen Kanon gebildeten Männern, die für ihr Wissen Anwendungsmöglichkeiten jenseits der Staatsverwaltung finden mussten. Darüber hinaus sind Änderungen in der Familienstruktur zu nennen. Zwar verloren, wie bereits gesagt, die aristokratischen Klans des Mittelalters an Einfluss, aber dies bedeutete nicht das Ende der Sippenstruktur. Im Laufe der Song-Zeit bildeten sich vielmehr neue, komplexere Organisationsformen heraus, die es Sippen erlaubten, sich den politischen und ökonomischen Bedingungen anzupassen. Die ökonomische Grundlage der Sippe diversifizierte sich, indem Handel, Landwirtschaft und politische Karriere kombiniert wurden. Sippen schufen sich eine feste Machtbasis, indem sie Führungsfunktionen in ihren Heimatdistrikten einnahmen. Mit diesen Veränderungen ging eine interne Schichtung der Sippen in ärmere und reichere Zweige einher, was wiederum eine rationalisierte Verwaltung und Verteilung des korporativen Vermögens erforderte. Konfuzianische Wertperspektiven boten hier sinnvolle Ansätze zur Ausarbeitung neuer Formen hierarchischer Familienorganisation, was sich u.a in zahlreichen Sammlungen von Sippenregeln widerspiegelte.122 Die „Konfuzia122 Siehe hierzu u. a. TWITCHETT, Denis, The Fan Clan’s Charitable Estate, 1050– 1760, in NIVISON, David und WRIGHT, Arthur F. (Hg.), Confucianism in Action, Stanford 1959, 97–133.

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nisierung“ der sich ab der Song-Zeit herausbildenden „Gentry“ verschaffte der Lehre eine solide institutionelle Basis in Sippe und lokaler Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund traten nun Denker auf den Plan, welche die konfuzianische Tradition in die intellektuellen Diskurse ihres Zeitalters einzubringen suchten. Zu diesem Zweck wurden buddhistische und daoistische Konzepte umgedeutet und in eine in den Klassikern verankerte systematische Metaphysik integriert. Zhou Dunyi (1017–1073) und Zhang Zai (1020–1077) führten Elemente einer Begrifflichkeit ein, die in der Synthese des großen Meisters des 12.Jh., Zhu Xi (1130–1200), zur Ausreifung gelangen sollten. Während Zhang über qi (Odem, Pneuma, Energie-Materie) als die ontologische Basis aller Stofflichkeit spekulierte und damit der buddhistischen Doktrin der Leere (s´u¯nyata¯ ) entgegentrat,123 entwarf Zhou eine deutlich daoistisch inspirierte Kosmogonie, die das Sein als einen dynamischen aus dem Wuji (dem Unbegrenzten) hervorgehenden Wandlungsprozess interpretiert, in dem der Mensch und insbesondere der Weise eine privilegierte Stellung und Funktion innehat.124 In ihrer eigenen Zeit einflussreicher als Zhang und Zhou waren die Gebrüder Cheng, Cheng Hao (1032–1085) und Cheng Yi (1033–1107), die vor allem durch ihre zahlreiche Schülerschaft ins 12.Jh. hineinwirkten und den Weg für Zhu Xi bereiteten.125 Zhu Xi baute auf den Gedanken seiner Vorgänger in der Nördlichen Song-Dynastie auf und integrierte sie in ein System, das zu seinen Lebzeiten kontrovers war, jedoch schon bald nach seinem Tod zur offiziellen Lehre erhoben und als für die Beamtenprüfungen verbindlich erklärt wurde. Die Dominanz der von Cheng Yi ererbten und von Zhu Xi weiterformulierten „Lehre vom Rechten Weg“ (Daoxue) sollte bis zum Ende der Kaiserzeit andauern. Hier können nur einige wenige Aspekte 123 FRIEDRICH, Michael, LACKNER, Michael und REIMANN, Friedrich, Chang Tsai. Rechtes Auflichten, Hamburg 1996. Der Reader enthält Zhang Zais programmatische und viel zitierte „Westinschrift“. 124 Siehe die Auszüge im Reader. Zu Zhou Dunyi siehe EICHHORN, Werner, Chou Tun-i. Ein chinesisches Gelehrtenleben aus dem 11.Jh., Leipzig 1936; CHOW, Yih-Ching, La philosophie morale dans le néo-confucianisme (Tcheou Touenyi), Paris 1954. 125 GRAHAM, Angus C., Two Chinese Philosophers. Ch’eng Ming-tao and Ch’eng Yi-ch’uan, London 1958.

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dieser Lehre angesprochen werden. Zhu Xi und seine Vorgänger gingen davon aus, dass die Tradition des konfuzianischen Weges (daotong ) seit langem verloren gegangen war. Der letzte Übermittler des Weges wäre Menzius gewesen, an dessen Lehren die Song-Konfuzianer nun anknüpften, um die authentische Tradition wiederzubeleben. Zhu Xi lokalisierte die Essenz dieses dao in vier Texten, die später als die Vier Bücher (Sishu ) Grundlage aller konfuzianischen Bildung wurden: die Analekten des Konfuzius, das Buch Menzius sowie zwei (oben bereits angesprochene) Kapitel aus dem Buch der Riten: das Große Lernen und Maß und Mitte. Diese Vier Bücher stellten das grundlegende Curriculum des Neokonfuzianismus dar. Nach Zhu Xis Vorstellung sollte der Schüler mit dem Studium des Großen Lernens beginnen, um eine Gesamtübersicht des Dao zu erhalten. Als nächstes sollte die Lektüre der Analekten ein solides Fundament schaffen, auf dessen Grundlage man sich der Weiterentwicklung der Grundlehren im Menzius widmen konnte. Zum Abschluss eröffnete einem Maß und Mitte „die profunden Geheimnisse der Weisen des Altertums“.126 Zhu Xi nahm Begriffe aus dem klassischen Kanon auf und erweiterte ihre Bedeutung in seiner neuen Systematik. Von besonderer Bedeutung ist hier der von Zhang Zai bereits hervorgehobene qi -Begriff, den Zhu Xi mit dem Konzept des li zusammenstellte. Dieses li ist nicht mit dem als „Riten“ übersetzten li zu verwechseln. Die beiden Wörter sind homonym, werden im Chinesischen aber mit verschiedenen Schriftzeichen wiedergegeben. Zhu Xis li -Begriff wird meistens als „Prinzip“ übersetzt, was nicht unumstritten ist, aber der Mehrheitsmeinung in der Forschung entspricht.127 Qi ist die Grundlage der phänomenalen Welt (der Welt „unterhalb der Formen“, xing er xia ), li sind die Prinzipien, die den Formen innewohnen und ihnen Identität geben. Diese Prinzipien verwirklichen sich nur in den Formen, existieren jedoch in reiner Form jenseits von ihnen („oberhalb der Formen“, xing er shang , eine Wen126 Zu den Vier Büchern siehe GARDNER, Daniel K., The Four Books. The Basic Teachings of the Later Confucian Tradition, Indianapolis 2007; WILHELM, Richard, Die Lehren des Konfuzius. Die vier konfuzianischen Bücher, Frankfurt a.M. 2008. 127 Siehe die Diskussion bei VAN ESS, Hans, Der Konfuzianismus, München 2003, 78–82. Eine Alternative ist die Übersetzung als den Dingen in ihrer Relationalität inhärentes Muster (pattern).

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dung, welche im modernen Chinesisch den Begriff „Metaphysik“ übersetzt). So gibt es das reine Prinzip „Baum“, das allen individuellen Bäumen ihre Natur verleiht; gleichzeitig aber ist jeder Baum nur eine begrenzte Verwirklichung des Prinzips – begrenzt durch die Qualität des zur Verfügung stehenden qi. Diesen an die platonische Ideenlehre erinnernden Ansatz trägt Zhu Xi auch an die für Konfuzianer stets relevante Frage der menschlichen Natur heran. Ausgehend von Menzius’ Bestimmung der Natur als ursprünglich gut erklärt er die große Variabilität in der moralischen Festigkeit der Menschen durch Schwankungen in der Qualität des qi. Der Weise und der Unwürdige teilen die gleiche Natur (das gleiche Prinzip), aber dies verwirklicht sich in ihnen in verschiedenem Maße, da das qi des Weisen „klar“, das des Unwürdigen hingegen „trüb“ ist. Bildlich spricht Zhu Xi von der menschlichen Natur als einer im Wasser liegenden Perle: Im klaren Wasser des Weisen ist die Perle sichtbar, im trüben des Unwürdigen hingegen nicht. Daraus ergibt sich die Aufgabe des Menschen, sein qi zu reinigen, auf dass sich die Prinzipien von Menschlichkeit manifestieren können. Diese Reinigung geschieht durch meditative Praxis und das Studium der Prinzipien mittels der „Erforschung der Dinge“ (gewu , in der Terminologie des Großen Lernens ). Dies ist möglich durch die Fähigkeit des menschlichen Geistes zur rationalen Einsicht in die Natur von Mensch und Kosmos; die Harmonisierung seines qi durch meditatives „Sitzen in Stille“ (jingzuo ) tritt zur Verstandesleistung hinzu und schafft die Grundbedingungen zur Umsetzung und Verwirklichung des gewonnenen Verständnisses der Prinzipien. Auf diese Weise entwarf Zhu Xi eine Lebensphilosophie, in der Lernen und meditative Versenkung den Weg zum Urgrund wahren Menschseins eröffneten.128 Wenn auch das Ideal des Dienstes an der Gesellschaft mittels einer Beamtenkarriere damit nicht entwertet wurde, so war Prüfungserfolg in Zhu Xis Perspektive kein sine qua non der erfolgreichen konfuzianischen Lebensführung. Zhu Xi war zwar sicherlich nicht der erste Konfuzianer, der Selbstverwirklichung in Studium und Betrachtung einen eigenständigen Wert beimaß (das klassische Vorbild dafür lieferte Yan Hui, ein Lieblings128 Zu Leben und Denken des Zhu Xi siehe CHAN, Wing-tsit, Chu Hsi and NeoConfucianism, Honolulu 1986; idem, Chu Hsi. Life and Thought, Hongkong 1987.

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schüler des Konfuzius), aber sein Entwurf kam zur rechten Zeit am rechten Ort und wirkte sinnstiftend für die große Zahl hochgebildeter Männer, denen die Beamtenlaufbahn in der Süd-Song-Dynastie versperrt blieb. Er schuf auch die ideologische Basis für die Entwicklung der privaten Akademien als Stätten nicht rein zweckgebundener Lehre und Disputation, worin manche Forscher Ansätze zur Herausbildung einer Frühform von Zivilgesellschaft zu erkennen meinen. Für die Geschichte des Konfuzianismus ist als bedeutend herauszustreichen, dass die Akademien von Staat und Familie gesonderte Einrichtungen darstellten, die der konfuzianischen Lehre eine institutionelle Basis bereitstellten, wie sie Buddhismus und Daoismus in ihren Klöstern besaßen. Diese standen eindeutig Pate beim Entwurf der Regeln, die das Zusammenleben von Lehrern und Schülern ordnen sollten; solche Regelsammlungen geben Einblicke in die religiösen Aspekte eines Lehrbetriebs, der vor dem Hintergrund regelmäßiger Opfer an Schreinen für die Weisen des Altertums ablief. Zhu Xi selbst verfasste ein solches Regelwerk für die von ihm geförderte Akademie der Weißhirschgrotte.129 Solche Entwicklungen gingen einher mit staatlicher Kultpraxis in offiziellen Konfuziustempeln und örtlichen Initiativen zur Errichtung von Schreinen für Männer, die sich um ihre Heimatdistrikte verdient gemacht hatten.130 All dies deutet auf eine im Vergleich zu früheren Zeitaltern solidere und gleichzeitig breiter gestreute soziale Basis des Konfuzianismus hin. Trotz dieser Tendenzen setzte sich Zhu Xis Version eines neuen Konfuzianismus zu seinen Lebzeiten noch nicht durch. Kritik schlug ihm sowohl von offizieller Seite wie auch von philosophischen Rivalen entgegen. Stellvertretend für letztere mag Lu Xiangshan stehen (1139– 1193), der dem menschlichen Geist/Herz (xin) als Einheit von Ratio und Empfinden eine größere Rolle in der Erkenntnis zumaß und der daher Zhu Xis Ansatz der „Erforschung der Dinge“ als fehlgeleitet betrachtete. Da alle Prinzipien bereits im menschlichen Geist angelegt 129 Articles of the White Deer Grotto Academy, in DE BARY, Wm. Theodore und BLOOM, Irene (Hg.), Sources of Chinese Tradition. From Earliest Times to 1600, New York 1999, 742–744. Siehe die Übersetzung im Reader. 130 Siehe dazu Ellen G. NESKAR, The Cult of Worthies. A Study of Shrines Honoring Local Confucian Worthies in the Sung Dynasty (960–1279), Diss., Columbia University, 1993.

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seien, sei dieser gleichzeitig das wahre Objekt und Subjekt aller Erkenntnis.131 Lus buddhistisch beeinflusste Perspektive sollte wenige Jahrhunderte später im Denken des Wang Yangming (1472–1529) Früchte tragen und wird in diesem Zusammenhang noch näher erörtert werden. Auf staatlicher Seite wurzelten Zhu Xis Probleme nicht so sehr in philosophischen Grundsatzfragen als in dem wuchernden Faktionalismus der Song-Politik. Ränkespiele am Hofe führten gegen Ende des 12.Jh. zur Niederlage der Gruppe, welcher Zhu Xi zugerechnet wurde, und damit zum Verbot seiner Lehren. Das Blatt wendete sich jedoch bald nach Zhu Xis Tod wieder. Schon im Jahre 1212 wurden Zhu Xis Kommentare zu den Analekten des Konfuzius und zum Menzius als verbindlich für die Beamtenprüfungen erklärt; 1241 wurde seine Version des Neokonfuzianismus zur Staatslehre erklärt, eine Position, die sie bis zum Ende der letzten Kaiserdynastie nicht mehr verlieren sollte. Buddhismus Wie wir sahen, empfing der Neokonfuzianismus Anregungen durch die kreative Auseinandersetzung mit buddhistischen Lehren. Der Buddhismus selbst hingegen fiel in der Song-Zeit nicht durch radikale Neuerungen in Lehre oder Praxis auf. Früher wurde die Song-Dynastie sogar als eine Verfallsperiode interpretiert, während derer keine neuen Schulen des Buddhismus entstanden, die Qualität des Sangha stetig abnahm und eine Verschiebung weg von buddhistischer Gelehrsamkeit hin zu einer Betonung der meditativen oder devotionalen Praxis stattfand. Richtig an diesem Bild ist sicherlich, dass in dieser Zeit die Schwerpunkte buddhistischer Praxis sich zu den Richtungen des Chan und des Reinen Landes zu verlagern begannen, letztere übrigens im institutionellen Rahmen einer wiederauflebenden TiantaiSchule, welche sich in der Song-Zeit neue Strukturen schuf und die größte Konkurrentin des Chan-Buddhismus darstellte. Gleichzeitig begann eine allmähliche Vermischung der Lehrrichtungen, ein „ökumenischer“ Ansatz, der charakteristisch für den chinesischen Buddhismus werden sollte. So propagierte der Chan-Meister Yongming Yan131 HUANG, Siu-chi, Lu Hsiang-shan. A Twelfth-Century Chinese Idealist Philosopher, Westport, CT 1977.

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shou (904–975)132 die kombinierte Praxis von Chan-Meditation und Anrufung Amita¯bhas und setzte damit ein Beispiel, das für die weitere Entwicklung des chinesischen Buddhismus bestimmend sein sollte. Darin unterschied dieser sich deutlich von seiner japanischen Variante, welche ihre Inspiration vom chinesischen Buddhismus der TangZeit bezogen hatte und bis heute eine größere Vielfalt von Schulrichtungen beibehalten hat. Parallel zu dem recht freizügigen Austausch von Ideen und Praktiken entwickelten sich Schulidentitäten, die mehr von Lehr- und Ordinationspraktiken bestimmt wurden als von konkreten Inhalten. Die Klassifizierung beruht auf Traditionslinien, innerhalb derer die Lehre (und Lehrbefugnis) jeweils von einer Generation zur nächsten in Meister-Schüler-Verhältnissen weitergegeben wurde. In der Song-Zeit begannen sich diese formellen Strukturen von Schulidentitäten und Tradierungsmechanismen herauszubilden. Dieser Prozess ist insbesondere für den Chan-Buddhismus gut erforscht worden. Dabei stellte sich heraus, dass manche Darstellungen des Tang-zeitlichen Chan in Wirklichkeit die Blickweise von Song-Buddhisten repräsentierten, welche rückblickend ungebrochene Traditionslinien zu konstruieren suchten. Dabei projizierten sie Song-zeitliche Anliegen in die Tang-Zeit zurück, in der die Chan-Schule bei weitem noch nicht die Formalisierung und institutionelle Verfestigung besaß, welche sie unter der Song-Dynastie erreichen sollte. Das traditionelle Bild des Chan-Meisters, der seine Schüler mit Rätselsprüchen in die Erleuchtung treibt und den Würdigsten zu seinem Dharma-Erben bestimmt, reflektiert im Wesentlichen die Verfahrensweisen und Erwartungen späterer Generationen. Die Buddhisten der Song-Zeit schufen auf diese Weise die institutionellen Grundlagen und das (Selbst-)Bild des chinesischen Buddhismus, welche bis heute seine Wahrnehmung dominieren.133 Die Konsolidierungstendenzen des Song-Buddhismus waren sicherlich auch von der Tatsache beeinflusst, dass keine neuen Anstöße mehr 132 WELTER, Albert, The Meaning of Myriad Good Deeds. A Study of Yung-ming Yen-shou and the Wan-shan t’ung-kuei chi, New York 1993. 133 Zum Buddhismus der Song-Zeit siehe GREGORY, Peter N. und GETZ, Daniel A. (Hg.), Buddhism in the Sung, Honolulu 1999; HALPERIN, Mark, Out of the Cloister. Literary Perspectives on Buddhism in Sung China, Cambridge, MA 2006.

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aus dem Heimatland der Tradition kamen. Der indische Buddhismus war allmählich vom Hinduismus verdrängt worden und die letzten buddhistischen Zentren gingen im Zuge der muslimischen Eroberung Nordindiens gegen Ende des 12. Jh. unter. Die intellektuelle Kreativität der Tang-Zeit hatte zumindest teilweise auf dem regen Austausch von Ideen und Pilgern beruht. Diese Kommunikationslinien waren nun gekappt und der chinesische Buddhismus war weitgehend auf sich selbst gestellt. Daoismus Wie der Buddhismus erwarb auch die daoistische Tradition während der Song-Dynastie einige der Züge, die sie bis heute kennzeichnen. Hier sind im besonderen die Entwicklung der sogenannten Inneren Alchemie (neidan ) und Neuerungen in der rituellen Praxis zu nennen. Ansätze zu einer Umdeutung alchemistischer Verfahren und Prinzipien in eine meditative und physiologische Disziplin finden sich bereits in der Tang-Zeit, kommen aber erst in der Song-Zeit zur Blüte. So wie die Labor-Alchemie Substanzen zu veredeln, konzentrieren und reinigen suchte, so zielt die Innere Alchemie darauf ab, die Energiesubstrate des menschlichen Körpers schrittweise zu sublimieren, bis aller sterbliche Ballast entfernt und ein unsterbliches Selbst geschaffen ist. Es gibt dieser Lehre nach drei Typen von Energien im Körper: Essenz (jing ), Odem (qi) und Geist (shen ). Essenz wird zu Odem sublimiert, Odem zu Geist, Geist zum Urzustand der Einigkeit und Unsterblichkeit. Konkret findet dieser Prozess im Rahmen einer Meditation statt, welche die Energien visualisiert und mittels Atemtechniken sammelt und durch den Körper zirkulieren lässt. Yin- und yang-Energien werden dabei verschmolzen und letztendlich in kosmogonischer Umkehrung in den ungetrennten Zustand des Urchaos zurückgeführt. Eine reiche Metaphorik verschlüsselt und veranschaulicht diese Prozesse zugleich; mal werden sie als die Verschmelzung von Metallen wie Blei und Quecksilber dargestellt, mal als Kampf von Tiger und Drache, und mal als eine Art „chymische Hochzeit“, die zur Bildung eines unsterblichen Embryos führt.134 Einer der grundlegenden Texte war Zhang Boduans (gest. 134 Zur Inneren Alchemie allgemein siehe NEEDHAM, Joseph, Science and Civilisation in China, Cambridge 1983, Bd.5, Teil 5; ROBINET, Isabelle, Introduction à

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1082) Buch über die Erweckung zur Vervollkommnung (Wuzhen pian ), ein Werk, das noch heute eine wichtige Quelle der Inneren Alchemie ist.135 Parallel zu dieser Neuorientierung in der Meditationspraxis des Individuums erfuhr die liturgische Praxis des Daoismus grundlegende Neuerungen. Als soziale Basis des Daoismus traten in der Song-Zeit zunehmend örtlich oder verwandtschaftlich definierte Gruppen auf (Dörfer, Stadtviertel, Sippen). Diesen dienten daoistische Priester mit ihren Passageriten (z.B. Begräbnisritualen), Liturgien zur Weihung von Tempeln oder auch Exorzismen. So nimmt es nicht Wunder, dass die Song-Zeit mehrere neue daoistische Bewegungen hervorbrachte, die sich im wesentlichen auf Innovationen im liturgischen Bereich konzentrierten. Einer der berühmtesten (oder auch berüchtigtsten, je nachdem, wem man Gehör schenkt) Daoisten der Song-Zeit war Lin Lingsu (1076–1120), der die besondere Gunst des Kaisers Huizong (reg. 1101–1125) genoss und eine auf einer neuen Offenbarung beruhenden Richtung des Daoismus, die Shenxiao („Göttlicher Himmel“)Schule zu repräsentieren behauptete. Huizongs großzügige Patronage des Daoismus stellt ein nützliches Korrektiv zur vorherrschenden Sicht einer durch und durch konfuzianischen Dynastie dar. Volksreligion Die zunehmende Bedeutung von Orts- und Sippengemeinschaften als Auftraggeber für daoistische Ritualexperten deutet bereits auf signifikante Wandlungen in der Volksreligiosität hin. Beschränkten sich in der Tang-Zeit lokale Kulte weitgehend auf die Verehrung von örtlichen Erd- und Naturgottheiten sowie lokalen Heroen, so führte die zunehmende Mobilität der Song-Gesellschaft zur stärkeren Verbreitung regionaler und sogar national bedeutsamer Gottheiten. Beamte und Kaufleute trugen ihre heimatlichen Götter in alle Ecken und Winkel des Reiches; für manche Gottheiten lässt sich zeigen, wie ihr Kult sich l’alchimie intérieure taoïste. De l’unité et de la multiplicité, Paris 1995; KOHN, Livia (Hg.), Daoism Handbook, Leiden 2000, Kap. 16. 135 Übersetzungen dieses Werkes: ROBINET, Introduction à l’alchimie intérieure taoïste; CLEARY, Thomas, Understanding Reality. A Taoist Alchemical Classic, Honolulu 1987.

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entlang der wichtigen Handelsrouten stetig verbreitete. Dies führte zu einer gewissen Standardisierung der volksreligiösen Kulte, welcher aber gleichzeitig eine größere Autonomie der Ortsgemeinden entgegenwirkte. Mit der oben beschriebenen Entwicklung der Gentry etablierte sich vielerorts eine lokale Elite, die ihre Macht zum einen von ihrer örtlichen politischen und ökonomischen Vormachtstellung, zum anderen aber von ihrer Teilhabe an den bürokratischen Strukturen des Staates bezog. Dieser Doppelcharakter erklärt das eigentümliche Verhältnis dieser Eliten zu den lokalen Tempelkulten. Letztere boten der Gentry Möglichkeiten der Patronage und Repräsentation durch Förderung von Tempelbauten, Stiftung von Statuen und Inschriften usw., andererseits aber waren sie auch Gegenstand einer kulturellen Vereinheitlichung, indem die lokalen Götter den Kriterien von Orthodoxie angepasst wurden, aus welchen die Gentry ebenfalls ihre Legitimität bezog. Damit wurden die lokalen Tempelkulte zu Foren der Verhandlung nationaler und lokaler Identitäten und Interessen und bekamen eine besondere Dynamik, die bis heute andauert.136 Die zunehmende Integration sowohl daoistischer wie buddhistischer Ritualexperten in die religiöse Ökonomie der Volksreligion führte zu einer größeren Durchlässigkeit aller beteiligten Traditionen und gab synkretistischen Bestrebungen beträchtliche Spielräume. Die bereits erwähnten neuen Formen daoistischen Rituals wären z. B. nicht denkbar gewesen ohne die verstärkte Nachfrage durch Lokalgemeinschaften und individuelle Klienten einerseits und die religiösen Einflüsse der buddhistischen (und besonders tantrisch-buddhistischen) „Konkurrenz“ andererseits.137

136 Zur Entwicklung der Volksreligion in der südlichen Song-Zeit siehe HANSEN, Valerie, Changing Gods in Medieval China, 1127–1276, Princeton 1990; HYMES, Robert, Way and Byway. Taoism, Local Religion, and Models of Divinity in Sung and Modern China, Berkeley 2002. 137 Siehe DAVIS, Edward L., Society and the Supernatural in Song China, Honolulu 2001.

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7. Die Yuan-Dynastie (1279–1368) Die Yuan-Dynastie war Teil des von Dschingis Khan begründeten mongolischen Weltreiches, das sich von China bis ins Zweistromland und nach Osteuropa erstreckte. Das chinesische Teilreich wurde schrittweise von den Nachfahren des Dschingis erobert: Sein Sohn Ögödei (reg. 1229–1241) unterwarf bereits 1234 die Jin-Dynastie der Dschurdschen, welche die Kontrolle über Nordchina ausgeübt hatte. Dschingis Khans Enkel Khubilai (reg. 1260–1294) beendete die Unterwerfung Chinas mit seinem Sieg über die Südliche Song-Dynastie im Jahre 1279. Der „Mongolensturm“ wurde in China ähnlich traumatisch empfunden wie in Europa oder Persien, er bedeutete aber auch die Überwindung der Trennung von Nord- und Süd-China und eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse unter einer Art pax Mongolica. Die enorme Größe des mongolischen Reiches eröffnete neue Wege des kulturellen Austausches, welche u.a. die muslimische Präsenz in China verstärkten. Syrische, persische und zentralasiatische Muslime genossen eine rechtlich privilegierte Stellung, die unter den Mongolen, aber über den Chinesen angesiedelt war. Sie bekleideten wichtige Posten in der Staatsverwaltung, kontrollierten den Handel über die Seidenstraße und brachten ihre Kunst und Wissenschaft nach China. Akademien und Behörden für muslimische Medizin und Astronomie wurden parallel zu ihren chinesischen Pendants eingerichtet. Der Papst suchte den Khan für das Christentum zu gewinnen und Schutz für seine christlichen Untertanen zu erlangen. So reiste im Jahre 1253 der Franziskanerpater Wilhelm von Rubruck (1220–1293) an den Hof des Khans in Karakorum und wurde dort freundlich aufgenommen. Zwar gelang es ihm und seinen späteren Glaubensbrüdern nicht, den Khan zu taufen, aber sie erlangten Protektion für die katholische Lehre und schufen die Grundlage für die Gründung der ersten Erzdiözese in China (Beijing, 1307). Neben Muslimen und Christen verstärkte auch das Judentum als der dritte im abrahamitischen Bunde seine Präsenz in China, die u. a. in den Reiseberichten von Marco Polo (1254–1324) bezeugt ist und in der Yuan-Zeit auch zum ersten Mal in offiziellen chinesischen Quellen erwähnt wird (frühere Zeugnisse stammen überwiegend aus Berichten arabischer Reisender). Wenn sie auch zahlenmäßig klein waren, überlebten jüdische Gemeinden doch bis ins

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19. Jh., bevor ihre Mitglieder kulturell fast vollständig assimiliert wurden.138 Wenn wir uns von diesen religiösen „Nebenschauplätzen“ den großen chinesischen Traditionen zuwenden, so sehen wir, dass die mongolische Fremdherrschaft bedeutsame Brüche in den soziopolitischen Rahmenbedingungen mit sich brachte, die sich in mannigfaltiger Weise auf das Religionsleben in China auswirkten. Für viele Konfuzianer stellte sich mit dem Sturz der Song-Dynastie die Frage nach der Legitimität der neuen Herrscher: Hatten die Khane das Mandat des Himmels empfangen? Verdienten sie die Loyalität ihrer chinesischen Untertanen? Solche Fragen wurden zwischen Song-Loyalisten und „Realpolitikern“ heiß diskutiert und es gab keine einheitliche Linie. Viele mieden den Staatsdienst und wichen in andere Betätigungsfelder aus (Medizin, Akademien, Religion), andere traten in den Staatsdienst ein, wo sie sich mit von traditionellen chinesischen Praktiken abweichenden Vorstellungen von politischer Ordnung auseinandersetzen mussten. Die Gesellschaft wurde in nach Privilegien abgestufte Kategorien eingeteilt, mit den Mongolen an der Spitze, gefolgt von den nicht-chinesischen Verbündeten der Mongolen (wie z. B. Perser und diverse Turk-Völker), den Bewohnern Nordchinas und schließlich den Untertanen der zuletzt besiegten Südlichen Song-Dynastie. Auf den meisten Posten wurde dem chinesischen Amtsinhaber ein mongolischer oder nicht-chinesischer Aufpasser beigesellt, was zusätzliche Entscheidungsebenen schuf, die Korruption begünstigte und die Effizienz der Verwaltung insgesamt minderte. Ernennungen kamen auf dem Weg der Patronage zustande, was dem Politikempfinden der Khane entsprach, deren Macht auf der persönlichen Loyalität ihrer Untergebenen beruhte, die mit Gunsterweisen vergolten werden musste. Die Idee einer meritokratischen Rekrutierung mittels unpersönlicher schriftlicher Prüfungen war ihrem politischen Denken fremd und es dauerte bis 1313, ehe Kaiser Renzong (reg. 1312–1320) Beamtenprüfungen genehmigte, die dann 1315 abge138 Zur Geschichte des Judentums in China siehe LESLIE, Donald Daniel, The Survival of the Chinese Jews. The Jewish Community of Kaifeng, Leiden 1972; idem, Jews and Judaism in Traditional China. A Comprehensive Bibliography, Sankt Augustin 1998.

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halten wurden. Diese waren allerdings von vornherein eingeschränkt, da weiterhin Sonderbestimmungen für Mongolen und ihre Verbündeten bestanden. Zwanzig Jahre darauf wurden selbst die eingeschränkten Prüfungen wieder abgeschafft, nur um weitere sieben Jahre später erneut eingeführt zu werden. Unter diesen Bedingungen konnte sich ein konfuzianischen Vorstellungen entsprechendes Staatswesen nicht konsolidieren. Trotz alldem waren die mongolischen Herrscher dem Konfuzianismus als solchem nicht feindlich gesinnt und als religiös-philosophische Orientierung profitierte er von der durch die Reichseinigung ermöglichten besseren Kommunikation zwischen Nord- und Südchina. Die Dominanz der Lehre des Zhu Xi verfestigte sich in dieser Zeit und wurde zum Standard bei den Prüfungen von 1315 erhoben. So beschwerlich die Yuan-Herrschaft für viele Bevölkerungsgruppen war (z.B. durch die hohe Steuerlast), so tolerant waren die Yuan-Kaiser in der Regel gegenüber den Religionen und ihren Repräsentanten. Die ursprünglich den schamanistischen Traditionen ihrer Heimat verpflichteten Khane waren zum einen Ziel mancher Bekehrungsversuche, zum anderen informierten sie sich ganz bewusst über die verschiedenen Religionen ihrer Untertanen und ließen Hofdebatten zwischen ihren Anhängern abhalten, um ihre jeweilige politische Tauglichkeit abzuschätzen. Letztendlich war es aber keine chinesische Religionsgemeinschaft, welche die persönliche Zuwendung der Yuan-Kaiser gewann, sondern der tibetische Buddhismus („Lamaismus“, nach dem tibetischen Wort für „Mönch“). Im Zuge ihrer Eroberungen waren die Mongolen 1240 auch in Tibet eingefallen; Verhandlungen führten zur Einsetzung des Oberhauptes der buddhistischen Sakya-Sekte als tibetischen Statthalter und spirituellen Berater der Khane. Diese Allianz hatte historische Bedeutung, etablierte sie doch ein politisches Modell theokratischer Herrschaft, das in Tibet bis in die jüngste Vergangenheit hinein Geltung hatte; für die Mongolen hatte sie ihren allmählichen Übertritt zur tibetischen Version des tantrischen Buddhismus zur Folge. Dies war ein langwieriger Prozess, der für das mongolische Volk insgesamt erst im 17. Jh. weitgehend abgeschlossen war. Die mongolische Elite in China vollzog diesen religiösen Wandel jedoch wesentlich schneller und gewährte tibetischen Lamas auch in China besondere Förderung und einflussreiche Positionen am Hofe.

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Bevor die religiösen Präferenzen der mongolischen Herrscher in dieser Weise endgültig entschieden waren, hatte eine neue daoistische Bewegung einen zeitweise erfolgreichen Versuch unternommen, die Gunst der Khane zu erwerben. Diese Bewegung blieb über die Yuan-Zeit hinaus eine der Hauptkräfte des Daoismus und soll daher hier nun dargestellt werden. Es handelt sich um den sogenannten Quanzhen-Daoismus (Weg der Vollkommenen Verwirklichung), der im 12. Jh. von Wang Zhe (alias Wang Chongyang, 1112–1170) begründet worden war. Wang diente als Beamter in der Militärverwaltung der Jin-Dynastie, bevor er sich 1159 in die Berge zurückzog, um ein Leben in Kontemplation zu führen. Die Legende berichtet, dass er zwei Unsterblichen begegnete, die ihm ihre Lehren übermittelten – Lehren, die daoistische, konfuzianische und buddhistische Ideen und Perspektiven vereinigten. Wang sammelte sieben Schüler um sich (darunter eine Frau namens Sun Bu’er), die sich nach dem Tode des Meisters zerstreuten, um die neue Lehre der Vollkommenen Verwirklichung in alle Winkel des von der Jin-Dynastie kontrollierten Nordchina zu tragen. Ein wesentliches Kennzeichen des Quanzhen-Daoismus war die systematische Praxis der Inneren Alchemie in zölibatären Klostergemeinschaften, die nach buddhistischem Vorbild organisiert waren.139 Der Ruf eines der sieben Jünger, Qiu Chuji (alias Qiu Changchun, 1148–1227), drang bis ans Ohr des Dschingis Khan, der Qiu daraufhin an seinen Hof in Karakorum einlud. Der mittlerweile 72 Jahre alte Qiu machte sich 1219 auf die beschwerliche dreijährige Reise in das zentralasiatische Hauptquartier des Khans.140 Zwar konnte er dem Khan nicht mit dem von diesem gewünschten Elixier der Unsterblichkeit dienen, erwarb sich aber dennoch den Respekt des Herrschers, welcher ihm und seinen Nachfolgern die Oberhoheit über alle religiösen Gruppen und Einrichtungen in den zu dieser Zeit von den Mongolen beherrschten 139 Zur Geschichte des Quanzhen-Daoismus siehe ESKILDSEN, Stephen, The Teachings and Practices of the Early Quanzhen Taoist Masters, Albany, NY, 2004; KOMJATHY, Louis, Cultivating Perfection. Mysticism and Self-transformation in Early Quanzhen Daoism, Leiden 2007. Die Klosterregeln des Quanzhen liegen in Übersetzung von Heinrich HACKMANN vor: Die dreihundert Mönchsgebote des chinesischen Taoismus, Amsterdam 1931. 140 Siehe die Übersetzung des von seinem Schüler Li Zhichang verfassten Reiseberichtes: WALEY, Arthur, The Travels of an Alchemist, London 1931.

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Gebieten Nordchinas übertrug. Mit dem erfolgreichen Fortgang der mongolischen Eroberung der restlichen Gebiete Chinas erlangte die noch junge Quanzhen-Bewegung auf diese Weise eine Hegemonie, welche die Grundlage für ihre Fortdauer bis zum heutigen Tag legte. Allerdings hatte ihre Bevorzugung unter den Mongolen keine lange Dauer; vor allem die chinesischen Buddhisten beschwerten sich über ihre Unterordnung unter die Quanzhen-Patriarchen und beschuldigten diese zahlreicher Übergriffe auf buddhistisches Klostervermögen. Unter Ögödei, dem Sohn des Dschingis Khan, ging die Quanzhen-Schule ihrer Privilegien daraufhin wieder verlustig. Mit dem Übertritt des Herrscherhauses zum tibetischen Buddhismus kam es im späten 13.Jh. sogar zu einzelnen Verfolgungen des Daoismus und Verbrennungen daoistischer Texte, dies u. a. als Folge einer Neuauflage des Streites zwischen Buddhisten und Daoisten um die (aus buddhistischer Sicht) ehrrührige Legende, dass der Buddha lediglich eine Manifestation des Laozi gewesen sei. Die letzte religiöse Erscheinung der Yuan-Zeit, die aufgrund ihrer Bedeutung für die weitere Religionsgeschichte Chinas angesprochen werden soll, ist die zunehmende Verbreitung religiöser Sekten. Als Teil der Konsolidierungsprozesse im chinesischen Buddhismus hatten sich bereits in der Song-Zeit diverse laienbuddhistische Gesellschaften gebildet, die häufig von der Lehre des Reinen Landes inspiriert waren und sich der Verehrung des Buddha Amita¯bha und des Bodhisattva Avalokites´vara widmeten. Manche dieser Gruppen entwickelten eine Eigendynamik, die sie sowohl in Organisation wie auch Lehre der Kontrolle des Sangha entzog. Ein bekanntes Beispiel ist die Gesellschaft der Weißen Wolke (Baiyunshe), eine Song-zeitliche pietistische Gemeinschaft, die von manchen Seiten der Häresie verdächtigt wurde. Ebenfalls in der Song-Zeit hatten die sogenannten Gesellschaften vom Weißen Lotos (Bailianshe) ihren Anfang, die ihren Kern in der Amita¯bha-Verehrung hatten, aber schon früh des religiösen Extremismus, der Hexerei und der Verachtung der allgemein akzeptierten Moralvorstellungen verdächtigt wurden. Die Yuan-Dynastie setzte die Song-zeitliche Proskription der Gesellschaft vom Weißen Lotos fort und zeigte sich in ihrer argwöhnischen Haltung gegenüber vom offiziellen (und kontrollierbaren) Klerus unabhängigen Gruppierungen als treue Erbin der chi-

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nesischen Tradition. Diese Sicht war nicht ganz unberechtigt, da eine der gefährlichsten Herausforderungen der mongolischen Herrschaft von einem Aufstand kommen sollte, der unter religiösen Vorzeichen stand. In einer von messianischen Hoffnungen auf das Kommen des Buddha Maitreya geprägten Atmosphäre gelang es den nach ihrer Kopftracht benannten Roten Turbanen im Jahre 1352, weite Teile Chinas unter ihre Kontrolle zu bringen. Maitreya war in der buddhistischen Lehre der Buddha des kommenden Zeitalters, welcher den Übeln der jetzigen Zeit ein Ende bereiten und einen neuen Anfang machen würde. Die Tatsache, dass der messianische Hoffnungsträger dieses Zeitalters Maitreya anstatt des daoistischen Li Hong des Mittelalters war, zeigt, wie weit der Buddhismus die Vorstellungswelt der Volksreligion bereits durchdrungen hatte. Der Aufstand der Roten Turbane führte zu einer ganzen Serie weiterer regionaler Rebellionen mit millenaristischem Hintergrund und letztlich zum Ende der Mongolenherrschaft. Dieses wurde von einem Rebellenführer herbeigeführt, der vorher buddhistischer Mönch gewesen war und sich nun anschickte, seine eigene Dynastie zu gründen.

8. Die Ming-Dynastie (1368–1644) Sein eigener Weg zur Macht hatte Zhu Yuanzhang (1328–1398), dem Gründer der Ming-Dynastie, gezeigt, welches enorme politische Potenzial religiöse Massenbewegungen haben konnten. Sehr bald nach seiner Machtergreifung verbot er daher religiöse Vereinigungen wie solche, die ihn auf den Thron gebracht hatten. Diese Maßnahme bestimmte früh den Ton der Religionspolitik dieser Dynastie, welche das religiöse Leben durch vielfältige Gesetze und Verwaltungsbestimmungen zu regeln und kontrollieren suchte. Der buddhistische und daoistische Klerus wurde dem Ritenministerium unterstellt, das Listen der ordnungsgemäß ordinierten Priester und Mönche führte, welche an alle Klöster verteilt wurden, mit der Auflage, damit die Echtheit reisender Kleriker zu prüfen. Wie schon in früheren Dynastien wurde die Zahl der zulässigen Ordinierungen beschränkt und ein Geflecht weiterer Regeln geschaffen, welche die staatliche Kontrolle über den Klerus stärken sollten. Für den Daoismus bedeutete dies u. a. eine Teilung in zwei staatlich

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anerkannte Schulen, Quanzhen und Zhengyi („Orthodoxe Einheit“). Letztere berief sich auf die Tradition der Himmelsmeister und hatte ihr Zentrum auf dem Drachen-und-Tigerberg (Longhushan) in der Provinz Jiangxi. Dort residierte der jeweilige Himmelsmeister, der direkte Abstammung vom Gründer der Tradition, Zhang Daoling, für sich in Anspruch nahm. Diese Zweiteilung in Quanzhen und Zhengyi entsprach zwar nicht der wahren Komplexität des gelebten Daoismus, bestimmte jedoch bis in die Gegenwart die amtliche und auch öffentliche Wahrnehmung der Religion. Wenn die Ming-Herrscher dem Daoismus auch nicht in dem Maße gewogen waren wie manche Kaiser der SongZeit, so erwiesen sie doch ausgewählten Projekten ihre Gunst. So profitierten die daoistischen Klöster auf dem Berge Wudang von kaiserlicher Patronage für die Gottheit Zhenwu („Wahrer Krieger“), welche als Schutzgott der Dynastie angesehen wurde und welcher dieser Berg geweiht war. Für die weitere Geschichte (und Erforschung) des Daoismus ist zudem die Tatsache von überragender Bedeutung, dass ein MingKaiser die Kompilation des Daoistischen Kanons (Daozang ) initiierte, eine ca. 1500 Texte umfassende Sammlung, die im Jahre 1445 zum ersten Mal gedruckt wurde und bis heute grundlegend für das Verständnis daoistischer Lehren, Praxis und Geschichte geblieben ist.141 Einschränkungen von Buddhismus, Daoismus sowie volksreligiösen Laienbewegungen wurden begleitet von Bemühungen, konfuzianische Moral- und Soziallehren zu verbreiten. Nach dem Vorbild illustrierter Hagiographien des Buddha wurden Bildbiographien des Konfuzius unters Volk gebracht und mit anderen stark konfuzianisch ideologisierten Lehrbüchern an den Schulen verwendet.142 Zhu Xis Lehre wurde als orthodoxer Standard bestätigt und zur Grundlage eines wiederbelebten und weiter als je greifenden Beamtenprüfungswesens. Nach den autokratischen Anfängen unter dem ersten Ming-Kaiser entspannte sich die Lage allerdings unter seinen Nachfolgern allmählich wieder, so dass die Religionsgeschichte der Ming-Dynastie durchaus nicht nur von totalitärer Repression bestimmt war. Im Gegenteil: Trotz aller regierungs141 SCHIPPER, Kristofer und VERELLEN, Franciscus (Hg.), The Taoist Canon. A Historical Companion to the Daozang , Chicago 2004. 142 MURRAY, Julia K., Mirror of Morality. Chinese Narrative Illustration and Confucian Ideology, Honolulu 2007.

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amtlichen Abgrenzungen waren die knapp dreihundert Jahre der Ming-Zeit mehr als je zuvor von einer zunehmenden gegenseitigen Durchdringung der religiösen Traditionen Chinas bestimmt. Die „Einheit der Drei Lehren“ wurde zwar auch vom Staat propagiert, trat in diesem Kontext jedoch im wesentlichen als zweckgerichtete Verkürzung der „Drei Lehren“ auf ihre staats- und gesellschaftstragende Sozialethik auf. Für religiös interessierte Individuen hingegen ergaben sich profundere Perspektiven einer traditionsübergreifenden Spiritualität. Im Daoismus z.B. spiegelte sich der Zeitgeist in der Bewegung des „Weges der Reinen Erleuchtung“ (Jingmingdao, auch: „Weg der Reinen Erleuchtung, der Loyalität und Kindespietät“, Jingming zhongxiao dao) wider, welche Innere Alchemie mit konfuzianisch definierter moralischer Kultivierung sowie liturgischer Praxis verband. Auf buddhistischer Seite setzte sich einerseits die Song-zeitliche Tendenz zur Verbindung von Chan und Reinem Land fort, andererseits gab es Bemühungen, sich für die religiösen Trends des Zeitalters zu öffnen und dem Dharma auf diese Weise Zugang zu immer breiteren Schichten der Bevölkerung zu verschaffen. Die zweite Hälfte der Ming-Zeit erlebte einen regelrechten Boom in der Gründung neuer und Erweiterung und Renovierung bestehender Klöster, die hauptsächlich der Patronage reicher lokaler Eliten zu verdanken war. Diese Gentry-Familien sahen offenbar keinen Widerspruch zwischen der konfuzianischen Erziehung und Teilnahme an den Beamtenprüfungen ihrer männlichen Mitglieder einerseits und der finanziellen Förderung buddhistischer Institutionen andererseits.143 Der Mönch Zhuhong (1535–1615) machte sich besonders um die Förderung verschiedener Formen buddhistischer Laienpietät verdient, für die seine Schriften heute noch grundlegend sind.144 Dazu gehören z.B. Gesellschaften, die sich der Freisetzung gefangener Tiere widmeten (fangshenghui ); noch heute besitzen viele buddhistische Klöster Teiche speziell für die Freisetzung von Fischen und Schildkröten – welche in der Regel übrigens eigens für diesen Zweck gefangen oder gezüchtet 143 Siehe dazu BROOK, Timothy, Praying for Power. Buddhism and the Formation of Gentry Society in Late-Ming China, Cambridge, MA, 1993. 144 YÜ, Chün-fang, The Renewal of Buddhism in China. Chu-hung and the Late Ming Synthesis, New York 1981.

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und von Händlern direkt vor den Klostertoren verkauft werden! Ein weiteres Beispiel für Zhuhongs Haltung zur Laienreligiosität ist seine Förderung der sogenannten Verdienstregister (gongguoge ). Dies sind Listen von guten und schlechten Taten mit beigeordneten Angaben von Verdienst (gong )- oder Vergehenseinheiten (guo ). Die Vorstellung der Quantifizierbarkeit von Moral hat daoistische Ursprünge, wurde aber in der Ming-Zeit zu einer nicht an eine bestimmte Tradition gebundene Form der Lebensführung, die wert- und zweckrationale Elemente (im Sinne Max Webers) kombiniert. Aus Zhuhongs Register mit dem Titel „Aufzeichnungen zur Selbstkenntnis“ (Zizhilu ) lernen wir z. B., dass derjenige, der einem schwer kranken Menschen hilft, wieder gesund zu werden, dadurch zehn gong verdient; wer dies jedoch unterlässt, dem werden zwei guo zugeteilt. Ein Verdienstkonto mit einem Überschuss an guten Taten bringt seinem Inhaber Glück, Gesundheit und Erfolg, während viele Vergehen mit Krankheit, Rückschlägen und einem frühen Tod vergolten werden. Diese moralische Buchhaltung erlaubt interessante mentalitätsgeschichtliche Einblicke wie auch Perspektiven auf die religiösen Hintergründe der zunehmenden Aktivitäten privater Wohltätigkeitsinitiativen, welche für Armengräber, kostenlose medizinische Versorgung, Katastrophenhilfe, Waisenhäuser, Fährdienste und vieles mehr aufkamen. Solche Dienstleistungen dienten der sozialen Stabilisierung und der Profilierung lokaler Eliten, aber eben auch dem individuellen Streben nach moralischem/karmischem Verdienst.145 Zhuhongs Register war inspiriert von den Schriften seines Zeitgenossen Yuan Huang (alias Yuan Liaofan, 1533–1606), dem in seiner Jugend von einem Daoisten ein früher Tod ohne Nachkommenschaft sowie nur mäßiger Erfolg in den Beamtenprüfungen prophezeit wurde. Als sich einige der Weissagungen zu bewahrheiten begannen, traf der deprimierte Yuan einen buddhistischen Mönch, der ihn darüber aufklärte, dass karmisches Verdienst sogar das Schicksal ändern kann. Als Yuan sich daraufhin auf Wohltätigkeit und gute Taten konzentrierte, wendete sich das Blatt: Er bestand die höchste Beamtenprüfung als Jahrgangserster, bekam einen Sohn und lebte weit über das ihm geweissagte Alter hinaus. Sein Leben und seine Schriften dienen bis heute als Vorbild 145 SMITH, Joanna F. Handlin, The Art of Doing Good. Charity in Late Ming China, Berkeley 2009.

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für eine aktivistische und methodische Lebensführung.146 Die genannten Beispiele bezeugen die Herausbildung eines sozialethischen Grundkonsens während der Ming-Zeit, der nicht nur der staatlichen Propaganda zu verdanken ist, sondern tiefere sozialgeschichtliche Wurzeln hat. Die genannten Schriften von Yuan Huang und Zhuhong wurden Teil eines sich ab der Ming-Zeit herausbildenden Korpus von sogenannter „Moralliteratur“ (shanshu) , Texte, die in zahlreichen Nachdrucken und in mündlicher Form als öffentliche Rezitationen unters Volk gebracht wurden und viel zur Entstehung des erwähnten ethischen Konsenses in der späten Kaiserzeit beitrug. Der klassische Text dieses Genres ist der vermutlich ins 12. Jh. datierende Traktat des Höchsten über Taten und ihre Folgen (Taishang ganying pian ); in diesem kurzen Werk werden gute und schlechte Taten aufgelistet und mit spezifischen von den Göttern erlassenen Belohnungen und Strafen korreliert.147 Harmonisierende Tendenzen zeigten sich sogar im Denken dezidierter Konfuzianer. Der bedeutendste Vertreter dieser Tradition in der Ming-Zeit war zweifelsohne Wang Yangming (1472–1529). Als Spross einer angesehenen Beamtenfamilie erhielt Wang eine solide konfuzianische Erziehung und durchlief die niederen Beamtenprüfungen ohne Probleme. Bei der letzten, der Hauptstadtprüfung, scheiterte er jedoch zweimal, woraufhin er sich zurückzog, Meditation übte und buddhistische und daoistische Schriften studierte. Auch nachdem er die Hauptstadtprüfung des Jahres 1499 bestanden hatte verfolgte er vielfältige spirituelle Interessen und fand befriedigende Antworten schließlich in den Schriften des Rivalen von Zhu Xi, Lu Xiangshan. Wang entwickelte Lus Gedanken weiter und baute sie zu einem System aus, das eine ernsthafte Konkurrenz zur Orthodoxie der Lehre des Rechten Weges wurde, wenn es die Dominanz der letzteren in den Beamtenprüfungen auch 146 Siehe die Auszüge aus seinen „Vier Belehrungen“ im Reader. Zu Yuan Huang siehe BROKAW, Cynthia J., The Ledgers of Merit and Demerit. Social Change and Moral Order in Late Imperial China, Princeton 1991; LEHNERT, Martin, Partitur des Lebens. Die Liaofan si xun von Yuan Huang (1533–1606), Bern 2004. 147 Siehe die Auszüge im Reader. Der Traktat ist mehrfach ins Englische übersetzt worden. Siehe z.B. Teitaro SUZUKI und Paul CARUS, T’ai-Shang Kan-Ying P’ien, LaSalle, Illinois, 1950 (1906); James LEGGE, ‘The Thâi-shang Tractate of Actions and Their Retributions’, in idem, The Texts of Taoism, Bd.2, New York 1962 (Oxford 1891), 235–246.

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nie ernsthaft in Frage stellen konnte. Stein des Anstoßes für Wang war Zhu Xis Forderung „die Dinge zu untersuchen“ (gewu ), um ihre Prinzipien zu verstehen. „Dinge“ (wu ) meint belebte und unbelebte Objekte außerhalb des betrachtenden Subjekts. Für Wang hingegen war das wahre Erkenntnisobjekt der menschliche Geist, in welchem alle Prinzipien bereits angelegt seien. Er baute hier auf die Theorie des Menzius auf, nach welcher die Tugenden als Schösslinge in der menschlichen Natur vorhanden seien und lediglich entwickelt werden müssten. Wang führte diesen Ansatz weiter, indem er postulierte, dass die Tugenden als reine und perfekte Prinzipien im Geist (den er mit der Natur gleichsetzt) präsent seien und lediglich aktualisiert werden müssten. Zu diesem Zweck sind Intuition, meditative Introspektion und ständige moralische Selbstbeobachtung wichtiger als das Studium von Externa, einschließlich des Studiums der kanonischen Klassiker. Vor die Wahl gestellt zwischen Schriftautorität und dem „angeborenen Wissen“ (liangzhi) des eigenen moralischen Empfindens, zögerte Wang nicht, letzterem den Vorrang zu gewähren: „Die tausend Weisen sind allesamt vergangene Schatten – das angeborene Wissen allein ist mein Lehrer!“ Ähnlichkeiten dieser Doktrin mit der Chan-Lehre von der vollkommenen Buddha-Natur, welche die Meditation lediglich freilegen muss, sind sicherlich nicht zufällig, und Wang und seine Anhänger wurden oft des Krypto-Buddhismus beschuldigt. Dem ist entgegenzuhalten, dass Wang die kontemplativen Aspekte eng mit ihrer praktischen Umsetzung verband. „Angeborenes Wissen“ war unlöslich verbunden mit „angeborener Befähigung“ (liangneng ) zum Handeln und die Einheit von Wissen und Handeln war ein Kernkonzept seiner Lebensphilosophie, das er selbst in vorbildlicher Weise umsetzte.148 Wang Yangming zeichnete sich im Dienste der Ming-Dynastie sowohl als Magistrat wie auch als höchst erfolgreicher General aus. Seine schillernde und charismatische Persönlichkeit trug sicherlich zum Erfolg seiner „Lehre vom Geiste“ (Xinxue ) bei, aber mehr noch waren dafür Charakteristika dieses Neuentwurfes verantwortlich, welche den Konfuzianismus für brei148 Zu Leben und Denken des Wang Yangming siehe CHING, Julia, To Acquire Wisdom. The Way of Wang Yang-ming, New York 1976; TU, Wei-ming, Neo-Confucian Thought in Action. Wang Yang-ming’s Youth (1472–1509), Berkeley 1976. Siehe den Textauszug im Reader.

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tere Schichten attraktiv machten. Die Lehre von der präexistenten moralischen Vollkommenheit, die Betonung des subjektiven Empfindens und die Herabstufung der Büchergelehrsamkeit machten Wangs Weg zu einer realen Option für die Massen. Wang merkte einmal an, dass „die Straßen voll von Weisen seien“, und einige seiner Schüler trugen diese frohe Botschaft mit gleichsam missionarischem Eifer in alle Winkel des Reiches. Wang Gen (1483–1541) und seine Taizhou-Schule waren besonders in der Popularisierung von Wang Yangmings Lehren engagiert und trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass die Lehre vom Geiste tiefe Spuren in der Volksreligiosität hinterließ.149 Der Subjektivismus von Wangs Philosophie verhinderte, dass sie jemals die staatstragende Funktion der Lehre vom Rechten Weg hätte übernehmen können, machte sie aber gleichzeitig höchst attraktiv für religiös kreative Virtuosen, welche sich bemühten, die Drei Lehren zu harmonisieren. So kombinierte Lin Zhao’en (1517–1598) Wang Yangmings Konfuzianismus mit der Inneren Alchemie des Quanzhen-Daoismus sowie buddhistischen Elementen zu seiner eigenen „Lehre von den Dreien im Einen“ (Sanyijiao), einer religiösen Bewegung, die im Südosten Chinas heute noch ihre Tempel und Anhänger hat.150 Lin Zhao’ens Beispiel ist gleichzeitig typisch und untypisch für ein wichtiges religiöses Phänomen der Ming-Zeit: die Konsolidierung und zunehmende Verbreitung von Sekten, die eigene Organisationsstrukturen jenseits von Familie und Territorialgemeinschaft, eigene Rituale und eine eigene kanonische Texttradition entwickelten.151 Lin Zhao’en 149 ÜBELHÖHR, Monika. Wang Gen (1483–1541) und seine Lehre. Eine kritische Position im späten Konfuzianismus, Berlin 1986; DE BARY, Wm. Theodore, Wang Ken and his School. The Common Man as Sage, in idem (Hg.), Learning for One’s Self. Essays on the Individual in Neo-Confucian Thought, New York 1991, 155–202. 150 BERLING, Judith A., The Syncretic Religion of Lin Chao-en, New York 1980; DEAN, Kenneth, Lord of the Three in One. The Spread of a Cult in Southeast China, Princeton 1998. 151 Allgemein zur Rolle von Sekten in der chinesischen Religionsgeschichte siehe OVERMYER, Daniel L., Folk Buddhist Religion. Dissenting Sects in Late Traditional China, Cambridge, MA, 1976; SEIWERT, Hubert mit MA Xisha, Popular Religious Movements and Heterodox Sects in Chinese History, Leiden 2003; LIU, Kwang-ching und SHEK, Richard (Hg.), Heterodoxy in Late Imperial China, Honolulu 2004.

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ist untypisch darin, dass er ein Mitglied der lokalen Elite war, Spross eines reichen Clans in der südöstlichen Provinz Fujian, der sich nach seinem Scheitern in den Beamtenprüfungen religiösen Interessen zuwandte und eine eigene Lehre entwickelte, die den gemeinsamen Urgrund der Drei Lehren repräsentieren sollte. Als klassisch gebildeter Literat und Gentry-Mitglied hat Lin Zhao’en zahlreiche Schriften hinterlassen und wir kennen seinen Lebenslauf recht gut. Der soziale Hintergrund der meisten anderen Sektengründer und -führer war bescheidener und sie haben weniger Spuren in der Geschichtsschreibung hinterlassen. Als Gegenbeispiel soll hier Luo Qing (alias Luo Menghong, 1443– 1527) dienen, ein religiöser Denker, der einen weit größeren Einfluss auf die chinesische Sektentradition haben sollte als Lin Zhao’en. Früh verwaist wuchs er bei Verwandten auf und wurde Soldat. Mit 28 Jahren machte er sich auf die Suche nach dem wahren Weg der Erlösung, lernte bei verschiedenen Meistern und erlangte 1482 mit 40 Jahren schließlich die Erleuchtung. Er sammelte Schüler um sich und schrieb sein Hauptwerk, die Fünf Bücher in Sechs Bänden (Wubu liuce ), welches 1527 zum ersten Mal gedruckt wurde. Stil und Inhalt dieses Werkes bezeugen, dass wir es hier mit einem Autor aus einem ganz anderen sozialen Umfeld als Lin Zhao’en zu tun haben. Luo hatte offensichtlich keine klassische Bildung genossen, besaß aber das Selbstbewusstsein, seine hart errungenen Einsichten in einem einfachen und direkten Stil niederzuschreiben und für sie den Wert letztgültiger Wahrheit zu postulieren. Wenn er auch deutlich buddhistisch beeinflusst war, so wies er doch die Autorität des ordinierten Sangha zurück und bestand auf der Befähigung jedes Einzelnen, Erleuchtung und Erlösung zu erreichen. Im Kern ist seine Lehre eine volkstümliche Form des Chan-Buddhismus, welche die egalitären Aspekte von Buddha-Natur und Leere betont und Unterschiede zwischen Laien und Mönchen, Mann und Frau sowie sozialen Klassen aufhebt. All dies ist in eine bildliche Sprache gekleidet, in welcher Erlösung als eine Heimkehr zum Urgrund aller Existenz wird, welche er verschiedentlich als „Heimat“, „Mutter“, „Wahre Leere“ oder auch „Wuji“ (das Unbegrenzte) bezeichnete.152 So wurde er zum Gründer einer religiösen Laienbewegung, die sowohl 152 Siehe die Auszüge im Reader.

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vom etablierten buddhistischen Sangha wie auch staatlicherseits mit einigem Misstrauen beobachtet wurde. Luo Qing selbst verbrachte wohl einige Zeit im Gefängnis. Religiöse Bewegungen, die sich später auf den „Patriarchen Luo“ beriefen, wurden häufig vom Staat als heterodoxe Sektierer verfolgt, weil sie angeblich die öffentliche Moral und Ordnung untergruben. Luo Qings Lehren waren weitgehend frei vom Maitreya-Millenarismus der religiösen Bewegungen der vorangegangenen Yuan-Zeit. Diese Strömung setzte sich jedoch in der Ming-Zeit fort und manifestierte sich in verschiedenen Bewegungen. Der früheste erhaltene Text, der dem Sektenmilieu zugeordnet werden kann, ist das Vom Buddha dargelegte Schatzbuch über die Vollendung des Karmas im Zeitalter des Erhabenen Höchsten (Foshuo huangji jieguo baojuan , 1430). Dieses Buch legt einen klaren Schwerpunkt auf die Abfolge dreier Zeitalter, die von drei Buddhas regiert werden: Dı¯pamkara, S´a¯kyamuni, und im nun beginn˙ enden letzten Zeitalter, Maitreya. Jenseits dieser Buddhas existiert der Alte Buddha Ungeboren (Gufo wusheng), eine Personalisierung des kosmischen Urprinzips, der das Schicksal der im Leid befangenen Menschheit beweint und dieses Schatzbuch offenbart, um den Menschen den Weg zurück zu ihrem Ursprung zu weisen. Damit enthält dieser frühe Text Kernthemen der späteren reichen Tradition von „Schatzbüchern“ (baojuan ), mittels derer eine Vielzahl religiöser Bewegungen ihre Lehren kodifizierte und verbreitete.153 Diese Texte sind Zeugnisse einer blühenden Kultur autonomer Laienreligiosität jenseits der Strukturen von Staat, Familie und Klerus und geben Einblicke in religiöse Welten, die in den Schriften der sozialen, politischen und religiösen Eliten wenig und wenn, dann kritisch verzerrt dargestellt werden. In der späten Ming-Zeit flossen millenaristische Strömungen mit den Lehren des Luo Qing zusammen. Dieser Prozess lässt sich gut am Beispiel des Drachenblumensutras (Longhuajing) verfolgen, ein Text, der gegen Ende der Ming-Zeit verfasst und 1654, kurz nach Beginn der

153 Zur Texttradition volksreligiöser Sekten siehe OVERMYER, Daniel L., Precious Volumes. An Introduction to Chinese Sectarian Scriptures from the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Cambridge, MA 1999.

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Qing-Zeit, zum ersten Mal gedruckt wurde. Das Drachenblumensutra ist eine Art Summe des Gedankengutes der Ming-zeitlichen Sekten und sollte bis in die Gegenwart hinein einflussreich bleiben. Motive des Weltendes und der Heimkehr zum Ursprung verbinden sich hier mit Innerer Alchemie und der Gestalt der kosmischen Ungeborenen Ehrwürdigen Mutter (Wusheng Laomu), die ihre verlorenen Kinder zu sich nach Hause ruft. Zu diesem Zwecke entsendet sie Buddhas zur Erde, die in Gestalt von Sektenführern auftreten, deren Lehren den Weg zurück zur kosmischen Mutter weisen. Im Mittelpunkt des Drachenblumensutra steht der Patriarch Gongchang, eine Manifestation des von der Mutter entsandten Alten Buddha Himmelswahrheit (Tianzhen Gufo) und wohl eine historische Gestalt des 16.Jh. Gongchang war Mitglied einer Gruppe von Sekten, die aus der Anfang des 16. Jh. zerschlagenen Lehre des Großen Gefährts (Dachengjiao) hervorgegangen waren, und bemühte sich offensichtlich um die Vereinigung mehrerer Sekten unter seiner Führung. Das Drachenblumensutra lieferte das Programm für dieses Vorhaben, dessen Erfolg zu Gongchangs Lebzeiten unklar ist. Klar ist jedoch, dass viele spätere Sekten das Drachenblumensutra in Ehren hielten und Gongchang einen Platz in ihrer Patriarchenreihe einräumten.154 Die reiche Texttradition der Ming-zeitlichen Sekten ist auch ein Anzeichen für die immer größere Verbreitung von Bildung und Schriftkultur jenseits der sozialen Elite. Die religiösen Schatzbücher sind eines von mehreren literarischen Genres, welche die Konventionen der klassischen Schriftsprache abwarfen und sich der Umgangssprache angenäherter (wenn auch nicht mit ihr identischer) Idiome bedienten. In der Yuan-Zeit hatte sich das Singspiel der Alltagssprache bedient, um Zuschauer aller Klassen zu erreichen und auf diese Weise u. a. auch religiöse Themen und Ideen unter das Volk zu bringen.155 Die Ming-Zeit brachte den Roman als wesentliche literaturgeschichtliche Neuerung

154 SEIWERT, Hubert, Häresie im neuzeitlichen China. Die Erlösungslehre der Drachenblumenschrift (Longhua jing ), in Manfred HUTTER, Wassilios KLEIN und Ulrich VOLLMER (Hg.), Hairesis. Festschrift für Karl Hoheisel zum 65. Geburtstag, Münster 2002, 341–353. 155 IDEMA, Wilt und WEST, Stephen H., Chinese Theater, 1100–1450. A Source Book, Wiesbaden 1982.

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hervor.156 Der umgangssprachliche Roman erzählte von Liebe und Abenteuer, Schlachten und Politik, aber auch religiöse Themen wie die Suche nach Erlösung und der Kampf zwischen Göttern und Dämonen gehörten zu seinem Themenkreis. Einer der „vier großen Romane“ der Ming-Zeit157 ist Die Reise nach dem Westen (Xiyouji), welcher die Pilgerfahrt des Tang-zeitlichen Mönchs Xuanzang nach Indien in eine Allegorie der individuellen Sinnsuche und spirituellen Vervollkommnung verwandelt, die man wahlweise unter buddhistischen und daoistischen Vorzeichen lesen kann.158 Andere Romane halfen, die Legenden und den Kult einzelner Gottheiten zu verbreiten (so z. B. Die Reise nach dem Norden, welcher die Legende des Gottes Zhenwu/Wahrer Krieger erzählt)159 oder religiöse Lehren zu propagieren (wie der daoistische Lehrroman Die Geschichte des Han Xiangzi).160 Theaterstücke, Romane, Balladen, wandernde Geschichtenerzähler – alle trugen dazu bei, Legenden und Doktrinen in alle Regionen und durch alle sozialen Schichten zu verbreiten und damit einerseits zu standardisieren, andererseits aber auch das Material für vielfältige kreative Innovationen und Neukombinationen zu liefern. Die Literatur ist somit zugleich Spiegel wie aktiver Kommunikationskanal der Religionskultur in diesem Zeitalter. Ein Randphänomen der chinesischen Religionsgeschichte, aber bedeutsam für die Beziehungen Chinas mit dem Westen, war der Beginn der katholischen Mission im 16.Jh. Früheren Versuchen des Christentums, in China Fuß zu fassen, war kein dauerhafter Erfolg beschieden gewesen. Dies sollte sich mit der Ankunft jesuitischer Missionare ändern. Angespornt durch die Missionserfolge des spanischen Jesuiten Franz Xaver (Francisco de Xavier, 1506–1552, 1622 heilig gesprochen) in Japan, gelang es seinen italienischen Ordensbrüdern Matteo Ricci (1552– 1610) und Michele Ruggieri (1543–1607) im Jahre 1583, Zutritt zum 156 ZIMMER, Thomas, Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit, Bd.2 der Geschichte der chinesischen Literatur, KUBIN, Wolfgang (Hg.), München 2002. 157 PLAKS, Andrew H., The Four Masterworks of the Ming Novel. Ssu ta ch’i-shu, Princeton 1987. 158 Übers. v. YU, Anthony, The Journey to the West, 4 Bde., Chicago 1977–1983. 159 Übers. v. SEAMAN, Gary, Journey to the North, Berkeley 1987. 160 Übers. v. CLART, Philip, The Story of Han Xiangzi, Seattle 2007.

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chinesischen Reich zu erlangen. Sie bemühten sich, die japanischen Erfahrungen mit einem kulturell akkommodierenden Missionsstil auf China anzuwenden und das Christentum in möglichst chinesischer Gestalt auftreten zu lassen. Ricci insbesondere war erfolgreich darin, die Bildung und Erscheinung eines konfuzianischen Gelehrten anzunehmen, um mit der chinesischen Elite auf sozialer Augenhöhe kommunizieren zu können. Er präsentierte die Frohe Botschaft Jesu Christi nicht als fremde Lehre, sondern suchte aufzuzeigen, dass sie nicht nur kompatibel mit den Lehren des Konfuzius war, sondern diese sogar zu ihrer letzten Erfüllung führte. Dieser Ansatz war höchst erfolgreich und trug ihm 1601 eine Einladung an den Kaiserhof ein. Dies markierte den Beginn einer dauerhaften jesuitischen Präsenz in der Hauptstadt bis ins späte 18. Jh. Ricci übersetzte europäische wissenschaftliche und philosophische Werke ins Chinesische, zeichnete Weltkarten und verfasste eine Einführung in die Lehre der katholischen Kirche (Tianzhu shiyi, Die wahre Bedeutung des Herrn des Himmels).161 Die Kombination von praktischer Betätigung als Kartographen, Mathematiker, Astronomen, Maler, Ingenieure und Dolmetscher mit der eigentlichen Missionstätigkeit sollte für spätere Jesuiten typisch werden und verschaffte ihnen den Respekt sogar von Beamten und Kaisern, die dem Christentum gleichgültig oder gar feindlich gegenüberstanden. Unter dem Einfluss Riccis ließen sich einige hochrangige Beamte taufen und wurden zu profilierten Fürsprechern eines chinesischen Christentums.162 Riccis Arbeit war ein vielversprechender Anfang und legte Grundlagen für eine langfristige und erfolgreiche katholische Missionstätigkeit während der nächsten 150 Jahre.163 161 Übers. v. Douglas LANCASHIRE and Peter HU Kuo-chen, The True Meaning of the Lord of Heaven = T’ien-chu shih-i, St. Louis 1985. 162 Siehe z. B. STANDAERT, Nicolas, Yang Tingyun, Confucian and Christian in Late Ming China. His Life and Thought, Leiden 1988; ÜBELHÖHR, Monika, Hsü Kuang-ch’ı¯ (1562–1633) und seine Einstellung zum Christentum, in Oriens Extremus XV (1986), 191–257; XVI (1969), 41–74. 163 Zu Matteo Ricci und der Jesuitenmission der Ming-Zeit siehe u.a. BETTRAY, Johannes, Die Akkommodationsmethode des P. Matteo Ricci S.I. in China, Rom 1955; SPENCE, Jonathan, The Memory Palace of Matteo Ricci, New York 1984; RULE, Paul A., K’ung-tzu or Confucius? The Jesuit Interpretation of Confucianism, Sydney 1986; CRIVELLER, Gianni, Preaching Christ in Late Ming China. The Jesuits’ Presentation of Christ from Matteo Ricci to Giulio Aleni, Taipei

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9. Die Qing-Dynastie (1644–1911) Der Übergang von der Ming- zur Qing-Dynastie wurde politisch als traumatischer Bruch empfunden, unterwarf er China doch wieder der Fremdherrschaft, diesmal durch die Mandschus, einem Nomadenvolk, das eng mit den Dschurdschen verwandt war, welche im 12. und 13. Jh. unter dem Namen der Jin-Dynastie Nordchina beherrscht hatten. Die Mandschus nutzten die interne Schwäche der späten Ming-Dynastie, um ihre eigene Dynastie, die Qing, auszurufen und bis 1644 große Teile Chinas unter ihre Kontrolle zu bringen. Bis zum Jahre 1683 hatten die neuen Herrscher ganz China erobert und konsolidierten ihr Reich mit eiserner Hand. Die Fremdherrschaft brachte zwar manche Demütigung für ihre chinesischen Untertanen mit sich (so z. B. für Männer die Verpflichtung, als Zeichen ihrer Unterwerfung unter die Mandschu die Stirn auszurasieren und die übrigen Haare in einen langen Zopf zu binden), andererseits schufen die neuen Herren die Bedingungen für soziale Stabilität und Wohlstand, wie man sie in den krisengeschüttelten letzten Jahrzehnten der Ming-Dynastie nicht mehr gekannt hatte. Diese Stabilität zeigte sich unter anderem an den langen Regierungszeiten zweier Qing-Kaiser, Kangxi (reg. 1662–1722) und Qianlong (reg. 1736–1795). Die historische Forschung betrachtet ersteren als einen der bedeutendsten Kaiser Chinas überhaupt164 und das von beiden bestimmte 18. Jh. als eine späte Blüteperiode der traditionellen Kultur, bevor die Konfrontation mit dem Westen im 19. Jh. tiefe Verwerfungen mit sich brachte.165 Trotz ihrer gewaltsamen Anfänge bewahrten die Qing-Herrscher doch grundlegende Kontinuitäten mit der vorangegangenen Ming-Dynastie. Zwar wählten sie (wie die Mongolen vor ihnen) den tibetischen Buddhismus als ihre eigene Religion, aber das Ming-zeitliche Staatskultwesen wie auch die Gesetze und Verwaltungspraktiken der Vorgängerdynastie wurden ohne große Änderungen übernommen. Das System der Beamtenprüfungen und der Status des 1997; BROCKEY, Liam Matthew, Journey to the East. The Jesuit Mission to China, 1579–1724, Cambridge, MA 2007. 164 SPENCE, Jonathan D., Emperor of China. Self Portrait of K’ang Hsi, New York 1974. 165 RAWSKI, Evelyn S. und NAQUIN, Susan, Chinese Society in the Eighteenth Century, New Haven 1987.

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Neokonfuzianismus der Schule des Zhu Xi als orthodoxer Standard blieben unangetastet. Ebenso übernommen wurde der Ming-zeitliche Ansatz, den buddhistischen und daoistischen Klerus der Kontrolle des Ritenministeriums zu unterstellen. Im Bereich der Volksreligion setzten sich im wesentlichen die Trends der Ming-Zeit fort, sowohl in den Kultaktivitäten von Familie und Ortsgemeinschaft wie auch unter den volksreligiösen Sekten. Letztere erscheinen in den offiziellen Berichten hauptsächlich als Objekte periodischer Verfolgungen und Anstifter mancher Rebellion, doch verstellen diese Quellen den Blick auf die Rollenkonstanz dieser Gruppen als überwiegend friedlich gesinnte religiöse Alternativen für das Individuum jenseits der familiär oder territorial definierten Kultkollektive.166 Das politische Trauma der Eroberung hatte im geistesgeschichtlichen Bereich die deutlichsten Auswirkungen im Konfuzianismus. Viele Beamte der Ming-Dynastie verweigerten den neuen Herrschern ihre Loyalität und zogen sich ins Privatleben zurück, wo sie über die Ursachen für den Untergang der Ming sinnierten. Hieraus entwickelte sich eine kritische Perspektive auf die eigene konfuzianische Tradition, wobei die Kritik in erster Linie den angeblich buddhistisch inspirierten Verzerrungen der reinen Lehre durch die Neokonfuzianer galt. Besonders harsch waren die Anwürfe gegen den Subjektivismus des Wang Yangming und seiner Nachfolger, dem eine direkte Mitschuld an der Schwächung der Ming-Dynastie gegeben wurde. Aber auch die Songzeitlichen Neokonfuzianer, allen voran Zhu Xi, wurden von der Kritik nicht ausgenommen. Während Zhu Xis Schule ihre Dominanz im Prüfungswesen beibehielt, suchte die konfuzianische Avantgarde der QingZeit die authentische Tradition im Studium der Klassiker und ihrer Han-zeitlichen Kommentare wiederzuentdecken. Die Anhänger dieser „Han-Schule“ (Hanxue ) entwickelten akribische philologische Methoden, um die Klassiker in ihrer Urfassung zu rekonstruieren. Ihr textkri166 Zu religiös motivierten Aufständen während der Qing-Zeit und der staatlichen Verfolgung volksreligiöser Sekten siehe DE GROOT, J. J. M., Sectarianism and Religious Persecution in China, Amsterdam 1903; NAQUIN, Susan, Millenarian Rebellion in China. The Eight Trigrams Uprising of 1813, New Haven 1976; NAQUIN, Susan, Shantung Rebellion. The Wang Lun Uprising of 1776, New Haven 1981; SEIWERT, Hubert mit MA Xisha, Popular Religious Movements and Heterodox Sects in Chinese History, Leiden 2003.

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tischer Ansatz legte die Grundlagen für die moderne Erforschung des konfuzianischen Kanons, neigte aber auch dazu, sich in Textgelehrsamkeit zu erschöpfen und die noch von Wang Yangming so hochgehaltene Einheit von Wissen und Handeln aus den Augen zu verlieren.167 Trotz ihrer Verdienste ist das Bild der Qing von der Tatsache überschattet, dass sie die letzte kaiserliche Dynastie war und den Kräften der Moderne in Form der Waffen und Ideen des westlichen Imperialismus nicht gewachsen war. Im 18.Jh. konnte sich das chinesische Reich noch souverän gegen als negativ empfundene westliche Einflüsse durchsetzen. Ein bekannter Anlass dafür war der sogenannte „chinesische Ritenstreit“. Dieser begann als interne Kontroverse in der katholischen Kirche darüber, ob es für chinesische Katholiken zulässig sei, ihre Ahnen zu verehren und an den offiziellen Riten für Konfuzius teilzunehmen. Die meisten Jesuiten vertraten einen akkommodierenden Ansatz, der solche Riten als nicht-religiös ansah und auf ihre große kulturelle, politische und rechtliche Bedeutung in China verwies. Ihre Gegner, überwiegend Dominikaner und Franziskaner, bestanden jedoch darauf, dass diese Riten den Tatbestand des Götzendienstes erfüllten und daher für unzulässig erklärt werden sollten. Ihre Sicht der Dinge setzte sich schließlich im Jahre 1715 durch, als Papst Clemens XI. (reg. 1700– 1721) die „chinesischen Riten“ verbot. Dieses Verbot wurde 1742 in der Bulle Ex quo singulari durch Papst Benedikt XIV. (reg. 1740–1758) bestätigt. Inzwischen hatte aber bereits der Kangxi-Kaiser 1721 auf diesen Affront mit einem Verbot des Christentums reagiert, was von seinem Nachfolger Yongzheng (reg. 1723–1735) 1724 nochmals bestätigt und in die Tat umgesetzt wurde. Aus chinesischer Sicht hatte die katholische Kirche zentrale Werte der Kultur und öffentlichen Ordnung Chinas in Frage gestellt und sich damit in die Gesellschaft anderer „heterodoxer Lehren“ begeben, die vom Staate aktiv verfolgt und unterdrückt werden mussten. In der Folge wurden die meisten Missionare des Landes verwiesen und chinesische Katholiken konnten ihren Glauben nurmehr heimlich praktizieren. Es sollte mehr als hundert Jahre dauern, bis katholische Missionen wieder geduldet wurden, nachdem 167 ELMAN, Benjamin A., From Philosophy to Philology. Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China, Cambridge, MA 1984.

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Frankreich dem chinesischen Reich dieses Zugeständnis in einem aufgezwungenen Vertrag 1844 abgerungen hatte.168 Der Vertrag von Huangpu war einer von vielen „ungleichen Verträgen“, welche die Qing-Dynastie ab 1842 mit diversen westlichen Mächten abschließen musste. Neben militärischen, wirtschaftlichen und territorialen Konzessionen beinhalteten mehrere Verträge auch Vereinbarungen zur Freizügigkeit christlicher Missionen im chinesischen Reich. Unter dem Schutz westlicher Kanonenboote und dem Zugriff chinesischer Gerichtsbarkeit entzogen strömten im 19.Jh. Missionare aller christlichen Kirchen nach China. Eine unbeabsichtigte Konsequenz der christlichen Mission war die Entstehung einer christlich inspirierten religiösen Bewegung, deren bewaffneter Aufstand beinahe zum Sturz der Qing-Dynastie führte. Ihr Anführer, Hong Xiuquan (1814–1864), war ein mehrfach gescheiterter Examenskandidat, der in der südchinesischen Metropole Guangzhou (Kanton) 1836 mit westlichen Missionaren in Kontakt kam und christliche Traktate las. Ab 1837 erlebte er Visionen, die ihm offenbarten, dass er der jüngere Bruder Jesu sei und ihm die Erneuerung Chinas im Sinne der Zehn Gebote aufgetragen sei. Er entwarf ein Programm, das allen seinen Anhängern ein „Himmlisches Reich des Großen Friedens“ (Taiping Tianguo ) versprach, in dem Mann und Frau gleichberechtigt waren und Gütergemeinschaft herrschte. Hong Xiuquans eigentümliche Mischung christlicher und chinesischer Elemente fand eine große Gefolgschaft und Konflikte mit den Behörden mehrten sich. Kämpfe brachen 1850 aus und leiteten über in eine militärische Kampagne, in deren Verlauf die Taiping-Rebellen große Teil Südchinas unter ihre Kontrolle brachten und die Jangtse-Metropole Nanjing zu ihrer Hauptstadt machten. Es dauerte bis 1864 und kostete an die 20 Millionen Menschenleben, bevor es Qing-Truppen gelang, die Rebellion endgültig niederzuschlagen.169 168 Im Jahre 1939 hob Papst Pius XII. (reg. 1939–1958) das Verbot der chinesischen Riten wieder auf. Zum Ritenstreit siehe MINAMIKI, George, The Chinese Rites Controversy. From Its Beginning to Modern Times, Chicago 1985; MUNGELLO, D. E. (Hg.), The Chinese Rites Controversy. Its History and Meaning, Nettetal 1994. 169 Zur Taiping-Rebellion siehe WAGNER, Rudolf G., Reenacting the Heavenly Vision. The Role of Religion in the Taiping Rebellion, Berkeley 1982; SPENCE, Jonathan, God’s Chinese Son. The Taiping Heavenly Kingdom of Hong Xiuquan,

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Der neue Missionsschub des 19.Jh. fand unter ganz anderen Vorzeichen als die früheren der Nestorianer, Franziskaner und Jesuiten statt. Die Missionare kamen jetzt mit einem Gefühl der zivilisatorischen Überlegenheit nach China. Vorbei war es mit der Begeisterung eines Leibniz oder Voltaire für ein von der Jesuitenmission befördertes Bild Chinas als ein von einem aufgeklärten und weisen Herrscher gelenktes Staatswesen, das seinen Bürgern Gewissens- und Religionsfreiheit gewährte. Im Zeitalter des Imperialismus wurde dieses Bild von dem der orientalischen Despotie verdrängt, die ihre Untertanen in rückständiger Umnachtung gefangen hielt. Die christliche Mission sah es als ihre Aufgabe, das Licht von Evangelium und Zivilisation nach China zu tragen, zur Not auch gegen den Willen der Chinesen und ohne zwischen diesen beiden „Lichtern“ klar zu unterscheiden.170 Die enge Identifizierung der Interessen von christlicher Mission und westlicher Machtpolitik führte unvermeidlich dazu, dass anti-westliche Ausschreitungen sich häufig auch gegen Missionare und ihre Konvertiten wandten, so im sogenannten Boxer-Aufstand des Jahres 1900.171 Als Resultat des mit großem Personal- und Geldaufwand betriebenen Projektes der Christianisierung Chinas gab es im Gründungsjahr der Volksrepublik China (1949), also ca. hundert Jahre nach der Öffnung Chinas für die christlichen Missionen, ungefähr 3 Millionen Katholiken und eine Million Protestanten – 1,6% der Gesamtbevölkerung. Diese Zahlen geben jedoch einen falschen Eindruck vom tatsächlichen Einfluss der Missionen auf China. Wenn sich auch nur eine kleine Minderheit taufen ließ, so erhielt doch eine um ein Vielfaches größere Zahl von Menschen in den von den Missionen betriebenen Schulen, Kranken- und Waisenhäusern sowie Universitäten Einblicke in eine ganz andere Welt als die des traditionellen Chinas, eine Welt zudem, deren Repräsentanten mit Macht in China auftraten und in mancherlei Hinsicht überlegen zu sein schienen. Die Missionen fungierten daher

New York 1996; REILLY, Thomas H., The Taiping Heavenly Kingdom. Rebellion and the Blasphemy of Empire, Seattle 2004. 170 REINDERS, Eric, Borrowed Gods and Foreign Bodies. Christian Missionaries Imagine Chinese Religion, Berkeley 2004. 171 COHEN, Paul A., History in Three Keys. The Boxers as Event, Experience and Myth, New York 1997.

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sozusagen als Geburtshelfer der in der zweiten Hälfte des 19. Jh. beginnenden Debatten um die Modernisierung Chinas. War die Überlegenheit des Westens nur eine technologische? Genügte es, Technologie und Wissenschaft zu importieren, um zum Westen aufzuschließen? Oder gründete technologische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Überlegenheit in kulturellen Werten, die womöglich chinesischen Werten widersprechen? Wieviel von der eigenen kulturellen Substanz (ti ) musste man aufgeben, um in Ausübung (yong) von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung mit den westlichen Mächten gleichzuziehen? Die verschiedensten Modelle der Verhandlung von ti und yong , von Tradition und Neuerung wurden zwischen Reformern und Konservativen diskutiert. Als Anschauungsbeispiel soll hier die HundertTage-Reform des Jahres 1898 dienen. Eine Gruppe von Reformern konnte den jungen Kaiser für radikale Maßnahmen in der Modernisierung von Staat, Verwaltung und Gesellschaft gewinnen. Zwar hatte die Reform keine direkte praktische Wirkung, da sie von konservativen Kräften am Hofe schnell im Keim erstickt wurde, doch geben die dahinter stehenden Ideen gute Einblicke in die zeitgenössischen Bemühungen, Tradition und Moderne miteinander zu verbinden. Einer der führenden Köpfe der Reformergruppe war Kang Youwei (1858–1927). Kang vertrat insbesondere in seinem späteren Werk Datongshu zahlreiche höchst modern anmutende Visionen, wie Gleichheit der Geschlechter, Abschaffung von Familie und Nationalstaat sowie Schaffung einer Weltregierung, Einrichtung von Altersheimen usw., war jedoch bemüht, für diese eine konfuzianische Grundlage zu schaffen. So entdeckte er im Buch der Riten den Begriff der Drei Zeitalter: Chaos, Kleiner Frieden, Große Einheit. Er sah die Welt an der Schwelle zur Utopie der Großen Einheit und Konfuzius als den Propheten, der den Weg zu diesem Paradies auf Erden gewiesen hatte. Der Konfuzianismus solle zu einer institutionalisierten Staatsreligion ausgebaut werden; zu diesem Zweck sollte ein Religionsministerium geschaffen werden, das konfuzianische „Kirchen“ im ganzen Land einrichten sollte. Der Geburtstag des Konfuzius sollte als erster Tag einer neuen chinesischen Zeitrechnung zählen.172 Ein Anhänger Kangs, Tan Sitong (1865–1898), 172 Zu Kang Youwei siehe HSIAO, Kung-chuan, A Modern China and a New World. K’ang Yu-wei, Reformer and Utopian, 1858–1927, Seattle 1975. Teile von Kangs

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versuchte den konfuzianischen Kernbegriff der Menschlichkeit (ren ) für sein Zeitalter neu zu interpretieren, indem er ihn in universelle Liebe umdeutete und zum ersten Prinzip aller (geistigen wie materiellen) Existenz erklärte.173 Auch verstärkte Reformbemühungen nach der Jahrhundertwende (einschließlich der Abschaffung der traditionellen Beamtenprüfungen im Jahre 1905 zugunsten des Aufbaus eines modernen Erziehungssystems) konnten die Dynastie aber nicht mehr retten. Im Jahre 1911 diente die versuchte Verstaatlichung privater Eisenbahngesellschaften als Auslöser für eine Revolution, die zum Sturz der Dynastie und der Ausrufung der Republik im Jahre 1912 führte.

10. Die Republikzeit (1912–1949) Die Revolution von 1911 markierte den Beginn einer Periode politischer Instabilität, die erst mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 enden sollte. Der Sturz der Qing-Dynastie schuf ein Machtvakuum, das verschiedene konkurrierende Kräfte zu füllen versuchten: die revolutionäre nationalistische Partei (Kuomintang, KMT) unter Führung von Sun Yat-sen (1866–1925); konservative Kräfte wie der autoritäre erste Präsident der Republik, Yuan Shikai (1859–1916), der vergeblich versuchte, sich selbst zum neuen Kaiser zu erklären; zahlreiche Warlords mit ihren regionalen Einflussbereichen; die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Hinzu kamen die Aktivitäten diverser ausländischer Mächte, z. B. der sowjetischen Agenten der Komintern, welche als Berater für KMT wie KPCh fungierten. Die größte Rolle spielte jedoch eindeutig Japan, das die Schwächung der chinesischen Zentralgewalt für territoriale Zugewinne nutzte. 1931 besetzte Japan die Mandschurei und installierte den letzten Kaiser der Werk liegen in deutscher Übersetzung vor: KUBE, Horst (Übers.), Ta t’ung shu. Das Buch von der großen Gemeinschaft, Düsseldorf 1974. 173 KWONG, Luke S. K., T’an Ssu-t’ung, 1865–1898. Life and Thought of a Reformer, Leiden 1996. Zum geistigen Klima dieser Zeit allgemein siehe CHANG, Hao, Chinese Intellectuals in Crisis. Search for Order and Meaning (1890– 1911), Berkeley 1987.

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Qing-Dynastie, Puyi (1906–1967), als Kaiser des neu geschaffenen Marionettenstaates Mandschukuo. Die imperialistischen Bestrebungen Japans führten 1937 zum offenen Krieg mit China, der bis 1945 dauern sollte und in dessen Verlauf Japan große Teile des chinesischen Territoriums im Norden und Osten unter seine Kontrolle brachte. Die äußere Bedrohung bewegte die verfeindeten Parteien KMT und KPCh zur Bildung einer Einheitsfront, die allerdings von gegenseitigem Misstrauen bestimmt war und nach der japanischen Niederlage 1945 schnell zerbrach. Der anschließende Bürgerkrieg endete 1949 mit der Ausrufung der Volksrepublik China durch Mao Zedong (1893–1976), während die KMT-Führung unter Chiang Kai-shek (1887–1975) sich mit einem Teil ihrer Truppen auf die Insel Taiwan absetzte und dort Taipei zur provisorischen Hauptstadt der Republik China erklärte. Die generelle Atmosphäre der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Unsicherheit der Republikzeit zeigte ihre Auswirkungen auch im Bereich der chinesischen Religionen. Das intellektuelle Klima der Zeit war den traditionellen Religionen überwiegend feindlich gesinnt, wurden diese doch nun als Quell rückständigen Aberglaubens angesehen, der China auf dem Weg in eine von Rationalität und Wissenschaft bestimmte Moderne behindere. Die Übernahme eines westlichen Religionsbegriffes, für den der Neologismus zongjiao eingeführt wurde, führte zur Unterscheidung von organisierter Religion mit eigenen kanonischen Texten, Klerus und Institutionen einerseits, und amorpher Religiosität unter dem Sammelbegriff „Aberglaube“ (mixin ) andererseits. Da sich diese Unterscheidung auch im Gesetzeskodex niederschlug, machte es die Tempel und Schreine der Volksreligion höchst angreifbar für regierungsamtliche Kampagnen zur Umwandlung von Tempeln in Schulen und andere Gebäude des öffentlichen Gebrauchs.174 Auch buddhistische und daoistische Tempel und Klöster waren gegen solche „feindlichen Übernahmen“ nicht unbedingt gefeit. Eine

174 Siehe dazu DUARA, Prasenjit, Culture, Power and the State. Rural North China, 1900–1942, Stanford 1988; GOOSSAERT, Vincent, 1898. The Beginning of the End for Chinese Religion?, Journal of Asian Studies 65.2 (2006), 307–335.

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Reaktion auf die rechtliche Unsicherheit war die Gründung von buddhistischen und daoistischen Dachverbänden, welche die Interessen ihrer Religionsgemeinschaften der Regierung gegenüber vertreten und gleichzeitig ihren Mitgliedern, sowohl Individuen wie auch Korporationen (Klöstern, Tempeln), Legitimität und Schutz als Angehörige einer amtlich anerkannten Religionsgemeinschaft geben sollten. Für Teile des Klerus beider bislang eher dezentral strukturierten Religionen stellten diese neuen Organisationsformen lediglich unumgängliche Anpassungen an die neuen politischen und juristischen Realitäten dar, welche jedoch keinen Einfluss auf die überkommene Praxis haben sollten.175 Insbesondere im Buddhismus jedoch wurden Stimmen hörbar, die Neuerungen auch in Lehre und Praktiken forderten. Anders als die Daoisten hatten die Buddhisten (begrenzten) Zugang zu den Erfahrungen ihrer Sangha-Genossen in anderen Ländern Asiens (vor allem in Japan) und hatten es daher leichter, über die möglichen Rollen des dharma in der modernen Welt zu reflektieren. Buddhistische Modernisierungsansätze hatte es bereits in der späten Qing-Zeit gegeben, als der Laienbuddhist Yang Wenhui (1837–1911) ein buddhistisches Verlagshaus nebst Druckerei gründete. Die Veröffentlichungen seines Hauses zusammen mit Reformen in der Ausbildung des Sangha sollten die intellektuelle Qualität sowohl des Klerus wie auch der Laienfrömmigkeit anheben.176 Der berühmteste „Reformmönch“ der Republikzeit, Taixu (1890–1947), hatte eine Weile an der von Yang Wenhui gestifteten buddhistischen Akademie studiert. Taixu setzte Yangs Bemühungen um eine moderne Ausbildung für den Sangha fort, propagierte einen sozial engagierten Buddhismus und stellte auf seinen Reisen Kontakte mit Buddhisten in Japan, Europa, den USA, Sri Lanka (Ceylon), Burma, Malaya und Indien her. Wenn seine Erfolge zu Lebzeiten unter den instabilen Bedingungen der Republikzeit auch begrenzt waren, so legte er doch die intellektuellen Grundlagen für die Blüte des Buddhis175 Zum Daoismus im Übergang von der Qing-Dynastie in die Republikzeit siehe GOOSSAERT, Vincent, The Taoists of Peking, 1800–1949. A Social History of Urban Clerics, Cambridge, MA, 2007; LIU, Xun, Daoist Modern. Innovation, Lay Practice, and the Community of Inner Alchemy in Republican Shanghai, Cambridge, MA 2009. 176 GOLDFUSS, Gabriele, Vers un bouddhisme du XXe siècle. Yang Wenhui (1837– 1911), reformateur laïque et imprimeur, Paris 2001.

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mus in Taiwan nach 1949, deren Führer unter seinem Einfluss standen.177 Was den Dritten im Bunde der Drei Lehren betrifft, so setzten Kang Youwei und andere, nunmehr als Konservative geltende Intellektuelle ihre Anstrengungen fort, den Konfuzianismus zur chinesischen Staatsreligion erklären zu lassen, schwammen damit aber eindeutig gegen den Strom der Zeit. Die meisten progressiven Intellektuellen gaben dieser Tradition die Mitschuld an Chinas Rückständigkeit und riefen dazu auf, „den Laden des Konfuzius zu zerschlagen“. Hinzu kam, dass mit der Abschaffung der traditionellen Beamtenprüfungen 1905 der konfuzianischen Dominanz im Erziehungswesen endgültig die Grundlage entzogen worden war. Wenn weder Staat noch Schulen und Akademien als institutionelle Träger des Konfuzianismus zur Verfügung standen, welche sozialen Formen konnten dann an ihren Platz treten? Neben langfristig erfolglosen Bemühungen, eine Konfuzianische Vereinigung nach dem Vorbild der daoistischen und buddhistischen Dachverbände einzurichten, waren die wichtigsten Zufluchtsorte des Konfuzianismus zwei scheinbar sehr verschiedene soziale Milieus: Gelehrtenstuben und neue religiöse Bewegungen. Erstere waren die Brutstätte eines akademischen Neuen Konfuzianismus, der ab den 50er Jahren stärkeres Profil gewann.178 Letztere vereinnahmten Konfuzius als Religionsgründer im gleichen Rang wie Jesus, Mohammed, Buddha und Laozi. Die alte Formel von der Harmonie der Drei Lehren wurde nun auf die Fünf Lehren von Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus, Christentum und Islam erweitert. Ausgewählte Elemente der konfuzianischen Tradition fanden ihren Platz in von Gruppe zu Gruppe variierenden Kombinationen von Ideen und Praktiken. Konfuzianischen Puristen graute es angesichts solch synkretistischer Tendenzen, doch kann man mit Fug und Recht sagen, dass solche religiösen Gruppierungen wohl mehr zur Verbreitung konfuzianischen Gedankengutes in der allgemeinen Bevölkerung beitrugen als die neukonfuzianischen Akademiker, zumal ihre Mit177 Zu Taixu siehe PITTMAN, Don A., Toward a Modern Chinese Buddhism. Taixu’s Reforms, Honolulu 2001. Allgemein zum Buddhismus der Republikzeit, WELCH, Holmes, The Buddhist Revival in China, Cambridge, MA 1968. 178 BRESCIANI, Umberto, Reinventing Confucianism. The New Confucian Movement, Taipei 2001; MAKEHAM, John, Lost Soul. ‘Confucianism’ in Contemporary Chinese Academic Discourse, Cambridge, MA 2008.

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gliedschaft sich aus allen Gesellschaftsklassen rekrutierte. Der konfuzianische Reformer Kang Youwei selbst war in seinen letzten Lebensjahren Vorsitzender solch einer neuen religiösen Bewegung, der „Moralischen Vereinigung aller Nationen“ (Wanguo Daodehui). Eine im weiteren Verlauf des 20. Jh. einflussreiche religiöse Sekte, die in der Republikzeit ihren Anfang nahm, ist der „Weg der Einheit“ (Yiguandao). Sie wurde in den 20er Jahren von Zhang Tianran (Zhang Guangbi, 1889–1947) gegründet, steht aber in direkter Nachfolge der Ming- und Qing-zeitlichen Sektentradition mit ihrer millenaristischen Ausrichtung und Verehrung der Ewigen Mutter. Zhang Tianran wurde als Inkarnation eines von der Mutter gesandten Buddhas verehrt, der die Menschheit vor der nahen Apokalypse warnen und möglichst viele ihrer Kinder in das Paradies der Mutter zurückführen soll. Dem Zeitgeist entsprechend verehrte auch der Weg der Einheit die Gründer der Fünf Religionen, allerdings in der Ewigen Mutter und ihren gegenwärtigen Abgesandten klar untergeordneter Stellung. Die neue Sekte verbreitete sich rasch in Nordchina und gewann in den 30er Jahren einige hohe Politiker der von den Japanern eingesetzten chinesischen Marionettenregierung als Mitglieder. Dies begünstigte die Missionstätigkeit der Gruppe, trug ihr aber nach 1945 den Vorwurf des Landesverrats und Verfolgung sowohl seitens der KMT wie der KPCh ein. Dennoch überlebte die Bewegung zumindest außerhalb der Volksrepublik China und ist heutzutage z.B. die drittgrößte Religionsgemeinschaft in Taiwan.179 Die rasante und teilweise chaotische Entwicklung neuer Religionen und neuer Organisationsformen alter Religionen in den Jahrzehnten nach der Revolution von 1911 ist symptomatisch für eine Umbruchsituation, in welcher die traditionelle Ordnung auseinandergebrochen ist, aber sich noch keine stabile Alternative etabliert hat. Das Ende des Bürgerkriegs 1949 setzte dem militärischen Konflikt ein vorläufiges En179 Zum Weg der Einheit siehe JORDAN, David K. und OVERMYER, Daniel L., The Flying Phoenix. Aspects of Chinese Sectarianism in Taiwan, Princeton 1986; LU, Yunfeng, The Transformation of Yiguan Dao in Taiwan. Adapting to a Changing Religious Economy, Lanham, MD 2008.

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de, aber die politischen, sozialen und kulturellen Umwälzungen gingen weiter, nun allerdings auf zwei verschiedenen Entwicklungsschienen: auf dem chinesischen Festland unter der Führung der KPCh, auf der Insel Taiwan unter der der KMT. Das Schicksal der Religionen unterschied sich deutlich unter den beiden Regimen und soll daher nun getrennt behandelt werden.

11. 1949 bis heute Die Volksrepublik China Die Ausrufung der Volksrepublik China durch Mao Zedong am 1. Oktober 1949 stellte in vieler Hinsicht einen historischen Bruch dar, der sich in Parolen vom Aufbau eines „neuen Chinas“ widerspiegelte. Jenseits dieser Rhetorik jedoch gab es durchaus Kontinuitäten mit der unmittelbaren vorangegangenen Republikzeit und sogar mit der Kaiserzeit. Dies zeigt sich besonders deutlich im Bereich der uns hier interessierenden Religionspolitik. Wie schon die Ming- und Qing-Dynastien und die Republik, so bestand auch das neue Regime auf dem Primat der Staatsideologie, auch wenn diese Position nun vom Marxismus-Leninismus der KPCh eingenommen wurde. Das organisierte religiöse Leben wurde unter amtliche Aufsicht gestellt; legitime religiöse Betätigung war nur im Rahmen von fünf anerkannten Dachverbänden (für Buddhisten, Daoisten, Muslime, Protestanten und Katholiken) möglich, die auf Loyalität der Partei gegenüber eingeschworen wurden. Diese Verbände sollten (wie schon unter der Republik) die Interessen ihrer Religionsgemeinschaften gegenüber dem Staat vertreten, dienten aber gleichzeitig als Kommunikationskanäle und ausführende Organe für Parteidirektiven. Bis in die frühen sechziger Jahre verfolgte die KPCh eine Politik der Einheitsfront, die alle gesellschaftlichen Kräfte, einschließlich der durch die fünf Verbände repräsentierten Religionsgemeinschaften, für das Projekt eines neuen Chinas bündeln sollte. Daraus ergab sich für die Religionen eine Kombination von (relativ eng) definierten Freiräumen für die Religionsausübung mit klaren Beschränkungen, die durch die Interessen und Ziele des sozialistischen Aufbaus bestimmt wurden. Eine Konsequenz war z. B., dass die Religionsgemeinschaften sich von ausländischen Institutionen und Geld-

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quellen abzunabeln hatten. Für die beiden christlichen Gemeinschaften bedeutete dies u.a. die Ausweisung aller ausländischen Missionare und Kappung aller Verbindungen mit westlichen Missionsgesellschaften. Stattdessen wurde des Parole des „Drei-Selbst“ ausgegeben: Das chinesische Christentum sollte selbst-geleitet, selbst-finanziert und selbstpropagiert sein.180 Für die Katholiken warf dies natürlich besondere Probleme auf, da die apostolische Autorität des Vatikans konstitutiv für ihr Selbstverständnis war. Als die „Katholische Patriotische Vereinigung“ begann, Priester- und Bischofsweihen ohne Autorisierung Roms vorzunehmen, kam es schnell zur Trennung in eine offizielle Kirche und eine Rom-treue Untergrundkirche, welche Ziel staatlicher Repressionsmaßnahmen wurde. Jegliche Religionsausübung außerhalb dieser anerkannten Verbände war illegal und konnte unterdrückt werden. In den ersten Jahren der Volksrepublik bekamen dies vor allem volksreligiöse Sekten und sogenannte „Geheimgesellschaften“ zu spüren, gegen welche hart durchgegriffen wurde. Anlass war dabei nicht nur ihre allgemeine ideologische Heterodoxie, sondern auch die sehr konkrete (und mancherorts auch berechtigte) Besorgnis der Behörden, dass solche Gruppen als Sammelbecken und Organisationsbasis konterrevolutionärer Kräfte dienen könnten.181 Die territorial definierten Kulte der Volksreligion fielen ebenfalls aus dem auf die fünf nationalen Vereinigungen verengten Rahmen legitimer Religionsausübung heraus. Da „Religion“ seit der Republikzeit zunehmend in westlicher Manier als Merkmal organisierter und institutioneller Gemeinschaften mit eigenem Kanon und Klerus definiert wurde, wurde Dorftempeln und Ahnenkult sogar der religiöse Charakter überhaupt abgesprochen. Stattdessen wurden solche Praktiken als „feudalistischer Aberglaube“ (fengjian mixin) und damit als nicht schutzwürdig eingestuft. Die schon unter der Republik begonnenen säkularistischen Kampagnen setzten sich die fünfziger Jahre hindurch fort und führten zusammen mit der Kollektivierung der land180 Das Schicksal der chinesischen Protestanten wird anschaulich dargestellt von WICKERI, Philip L., Seeking the Common Ground. Protestant Christianity, the Three-Self Movement and China’s United Front, Maryknoll, NY 1988. 181 Ein nordchinesisches Fallbeispiel der Verfolgung volksreligiöser Sekten wird in einer Studie von Thomas David DUBOIS behandelt, The Sacred Village. Social Change and Religious Life in Rural North China, Honolulu 2005.

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wirtschaftlichen Produktion ab 1955 zu einem rapiden Niedergang traditioneller volksreligiöser Formen. Auch für die offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften stieg der politische Druck zunehmend, bis 1965 mit dem Ausbruch der sogenannten Kulturrevolution auch die letzten Freiräume verschwanden. Die von Mao Zedong entfesselten Eiferer der Roten Garden stürmten und zerstörten Klöster, Tempel und Kirchen im ganzen Land, töteten Priester und Mönche oder schickten sie in Arbeitslager. Der Versuch, den Sprung in eine religionsfreie sozialistische Gesellschaft mit Brachialgewalt durchzusetzen, dauerte bis zum Tode Maos 1976, auch wenn die heiße Phase bereits 1969 beendet worden war. Ab 1977 begann sich in der KPCh eine Reformfraktion unter der Führung Deng Xiaopings (1904–1997) durchzusetzen, die sich von den Exzessen der Kulturrevolution distanzierte und eine vorsichtige Öffnung Chinas in Angriff nahm. Im Laufe der achtziger Jahre gewannen die Reformen sichtlich an Dynamik und leiteten über in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalisierung, die bis heute anhält und das soziale Klima entscheidend verändert hat. Dieser Wandel zeigt sich auch im religiösen Leben. In den achtziger Jahren war die KPCh zur korporatistischen Politik der Einheitsfront zurückgekehrt, gemäß derer alle gesellschaftlichen Kräfte zur Modernisierung Chinas beitragen sollten, darunter auch die Religionen. Die nationalen Dachverbände wurden wiederbelebt und die religiöse Glaubensfreiheit wurde in die neue Verfassung der Volksrepublik China von 1982 aufgenommen. Die nächsten Jahre sahen eine zunächst zögerliche, ab den neunziger Jahren aber rasante Wiederkehr der Religion. Allerorts wurden zweckentfremdete Klöster, Tempel und Kirchen ihren Glaubensgemeinschaften zurückgegeben und renoviert; neue Ausbildungsstätten für den Klerus der fünf anerkannten Religionen wurden geschaffen; berühmte Heiligtümer wurden mit öffentlichen Geldern restauriert, wobei die Hoffnung auf Einnahmen aus dem Pilgertourismus für lokale Behörden eine wichtige Motivation bildete. Der rasch fortschreitende Verfall der ideologischen Legitimation der KPCh angesichts der wachsenden Widersprüche zwischen sozialistischer Ein-Parteienherrschaft und de facto kapitalistischer Wirtschaftsordnung führte zu einem Sinn- und Orientierungsvakuum, von dem die Religionen profitierten. Vor allem das protestantische Christentum ist in den letzten zwei Jahrzehnten rapide gewachsen

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und zwar vorwiegend in Form sogenannter Hauskirchen, also informeller, meist evangelikal orientierter Gruppen, die sich außerhalb der institutionellen Grenzen der offiziellen Kirche organisieren. Wie die katholische Untergrundkirche sehen sich auch diese inoffiziellen Kongregationen immer wieder behördlichen Repressalien ausgesetzt. Gleichzeitig ist aber eine zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen anerkannten und Untergrundgemeinden sowohl bei Protestanten wie auch Katholiken feststellbar, was sicherlich mit der insgesamt gestiegenen Toleranz gegenüber Manifestationen von Religiosität im öffentlichen Leben zu tun hat. Im Falle des Islams entspannte sich das Verhältnis zu den Behörden ebenfalls, wobei hier allerdings das Problem der Verflechtung der Religion mit der ethnischen Identität nationaler Minderheiten, vor allem in der Autonomen Region Xinjiang, hinzutrat. Unabhängigkeitsbestrebungen werden dabei von der Regierung schnell unter den Verdacht des islamischen Fundamentalismus subsumiert und der chinesische Staat neigt in solchen Fällen wie auch in Tibet zu höchst restriktiver Kontrolle der Religionsausübung.182 Buddhismus und Daoismus profitierten von der Rückgabe vieler ihrer wichtigsten Klöster und Tempel. Tausende von neuen Mönchen und Nonnen beider Religionen wurden ordiniert; daraus ergibt sich jedoch das Problem der Ausbildung des Nachwuchses, da es nur wenige erfahrene Kleriker gibt. So sieht man in vielen Klöstern sehr junge und sehr alte Mönche, aber nur wenige mittleren Alters, also solche aus der Generation, die während der Kulturrevolution aufgewachsen ist. Beide Religionen befinden sich in einer Periode des dynamischen Wiederaufbaus, dem bald eine Reife- und Konsolidierungsphase folgen wird. Auch außerhalb der fünf staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften und ihres weiteren Umkreises belebt sich die religiöse Szenerie wieder. Vielerorts werden Dorftempel und Ahnenhallen wiederaufgebaut, so vor allem im Süden und Südosten, wo Chinesen aus Taiwan und Übersee als Sponsoren für religiöse Bauprojekte auftreten. Aber auch andernorts, im Westen, Norden und Nordwesten, finden sich viele Beispiele des Wiederaufblühens der Kulte für lokale Gottheiten und Ah182 Zum Islam im modernen China siehe GLADNEY, Dru C., Muslim Chinese. Ethnic Nationalism in the People’s Republic, Cambridge, MA 1991.

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nen.183 Was früher als „feudalistischer Aberglaube“ verschrien war, erhält nun als „volkstümliches Brauchtum“, kulturelles Erbe oder Lokalkolorit offizielle Approbation. Nach dem schweren Erdbeben in der Provinz Sichuan im Mai 2008, das an die 70.000 Opfer forderte, brannten an den Trümmern zusammengestürzter Häuser allenthalben Weihrauchstäbchen und Bündel von „Geistergeld“, um die Seelen der Toten zu versorgen und besänftigen. Weiterhin von strenger staatlicher Kontrolle und Repression gekennzeichnet ist jedoch der Bereich der Sekten und neuen religiösen Bewegungen. Das bekannteste Beispiel in neuerer Zeit ist die Bewegung der „Großen Methode des Dharma-Rades“ (Falun Dafa), besser bekannt als Falungong („Übung des Dharma-Rades“). Diese von Li Hongzhi (ca. 1951–heute) begründete neue Lehre verbindet daoistische, buddhistische und New Age-Elemente, wobei der Schwerpunkt auf einem System kalisthenischer Übungen liegt, die sowohl körperliche Heilung wie spirituelle Läuterung hervorbringen sollen. Das rasante Wachstum dieser Bewegung in den neunziger Jahren sowie ihre Fähigkeit, ihre Mitglieder für Massendemonstrationen zu organisieren, alarmierten die Behörden und führten im Jahre 1999 schließlich zu ihrem Verbot. Viele Falungong-Mitglieder wurden verhaftet und in Arbeits- und Umerziehungslager eingewiesen.184 Die Unterdrückung der Falungong-Be183 Siehe die folgenden Fallstudien: JING Jun, The Temple of Memories. History, Power, and Morality in a Chinese Village, Stanford 1996; DUBOIS, Thomas David, The Sacred Village. Social Change and Religious Life in Rural North China, Honolulu 2005; CHAU, Adam Yuet, Miraculous Response. Doing Popular Religion in Contemporary China, Stanford 2005. 184 Zu Falungong und dem weiteren Umfeld der Qigong-Praxis, aus der sie erwuchs, siehe SEIWERT, Hubert, Falun Gong – Eine neue religiöse Bewegung als innenpolitischer Hauptfeind der chinesischen Regierung, Religion – Staat – Gesellschaft 1.1 (2000), 119–145; HEBERER, Thomas, Falungong – Religion, Sekte oder Kult? Eine Heilsgemeinschaft als Manifestation von Modernisierungsproblemen und sozialen Entfremdungsprozessen, Duisburg 2001; CHEN, Nancy N., Breathing Spaces. Qigong, Psychiatry, and Healing in China, New York 2003; JOHNSON, Ian, Wild Grass. Three Stories of Change in Modern China, New York 2004; PALMER, David A., Qigong Fever. Body, Science, and Utopia in China, New York 2007; OWNBY, David, Falun Gong and the Future of China, New York 2008.

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wegung zeigt die Grenzen der behördlichen Toleranz, wenn organisierte Religiosität außerhalb der anerkannten Institutionen auftritt und die Staatsgewalt herauszufordern scheint. Weitgehend unbemerkt von der internationalen Presse richten sich ähnliche Repressionsmaßnahmen gegen zahlreiche kleinere religiöse Bewegungen, darunter auch mehrere christlich inspirierte.185 Die KPCh hat vom warnenden Beispiel der Qing-Dynastie gelernt und ist entschlossen, eine mögliche moderne Version der Taiping-Bewegung schon im Keim zu ersticken. Neben der Unterdrückung „heterodoxer“ Religionen und der vorsichtigen Kooptierung offiziell anerkannter Institutionen zum Zwecke der Förderung einer „harmonischen Gesellschaft“ unternimmt die chinesische Führung seit den neunziger Jahren auch Versuche, ihre ideologische Autorität mittels der Wiederbelebung einiger Versatzstücke des alten Staatskultes zu stärken. Dies ist u. a. an der Rehabilitierung des Konfuzius sichtbar, dessen Lehren wieder in Ehren gehalten und dessen Tempel in vielen Städten wiederhergestellt werden. Die Tempel- und Grabkomplexe des Kong-Clans in der mutmaßlichen Heimatstadt des Konfuzius, Qufu in der Provinz Shandong, sind mit Millionenaufwand restauriert worden und dienen als Kulisse aufwändiger Ritualinszenierungen. In der Provinz Shaanxi ist am Grab des Gelbkaisers, dem mythischen Urvater der chinesischen Nation, eine Art Nationalheiligtum entstanden, an dem hohe Regierungsvertreter Opfer darbringen. So sind wir dieser Tage Zeugen der öffentlich inszenierten Versuche eines nominell kommunistischen Regimes, sich selbst und sein Volk davon zu überzeugen, dass es die Traditionen bewahrt und ein würdiger Träger des himmlischen Mandates ist.186 Taiwan Von 1949 bis in die achtziger Jahre hinein war die Volksrepublik China kaum für westliche Forscher zugänglich, während gleichzeitig die chinesische Religionsforschung durch ideologische Barrieren behindert 185 KUPFER, Kristin, Christlich inspirierte, spirituell-religiöse Gruppierungen in der VR China seit 1978, China heute 21.4–5 (2002) – 22.3 (2003). 186 Zur aktuellen Religionspolitik der VR China siehe KOENIG, Wiebke und DAIBER, Karl-Fritz (Hg.), Religion und Politik in der Volksrepublik China, Würzburg 2008.

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wurde. Dadurch bedingt fand der größte Teil der Erforschung des religiösen Lebens in der zweiten Hälfte des 20. Jh. auf der Insel Taiwan statt, mit Nebenschauplätzen in der britischen Kronkolonie Hongkong sowie in Übersee-chinesischen Siedlungsgebieten in Südostasien (vor allem Singapur und Malaya/Malaysia). Die KMT-Regierung der Republik China in ihrer „provisorischen“ Hauptstadt Taipei präsentierte ihr 36.000 km2 großes Inselreich als das wahre und freie China und westliche (vor allem amerikanische) Ethnologen und Religionsforscher nutzten gerne den ihnen gewährten relativ ungehinderten Zugang, um hier die chinesischen Religionen in situ zu studieren. Vor allem das noch heute dominante Bild der chinesischen Volksreligion basiert weitgehend auf Feldforschungen im Taiwan der 60er, 70er und 80er Jahre. Dabei wurde gerne übersehen, dass Taiwan nicht einfach ein kleines China ist, sondern eine regionalkulturelle Variante darstellt, die manche historische Verbindung mit südöstlichen Regionen des chinesischen Festlandes besitzt, von wo die ersten Siedler im 16. Jh. gekommen waren, in den 400 Jahren seitdem aber eine Reihe spezifischer Züge angenommen hat.187 Die ethnographische Forschung liefert daher in erster Linie Einblicke in die Volksreligion Taiwans, deren Übertragbarkeit auf andere Regionen eines kulturell-linguistisch definierten China nicht ausgeschlossen, aber auch nicht unproblematisch ist. Die in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der VR China durchgeführten Feldforschungen haben ein tieferes Verständnis für die starke Variabilität der Regionalkulturen Chinas mit sich gebracht und so eine bessere Einordnung der taiwanischen Forschungsergebnisse ermöglicht. Die günstigeren Forschungsmöglichkeiten waren auch bedingt durch eine Religionspolitik des autoritären KMT-Regimes Chiang Kaisheks, die zwar einige formelle Parallelen mit den Maßnahmen der VR China aufweist, insgesamt jedoch bei weitem nicht so repressiv ausgeführt wurde wie auf dem Festland. Wie ihre kommunistischen Feinde in Beijing verfolgte auch die KMT eine Strategie der Einheitsfront, wel-

187 Eine historische Überblicksdarstellung der volksreligiösen Traditionen bietet SEIWERT, Hubert, Volksreligion und nationale Tradition in Taiwan. Studien zur regionalen Religionsgeschichte einer chinesischen Provinz, Stuttgart 1985. Eine ethnographische Perspektive findet sich bei FEUCHTWANG, Stephan, Popular Religion in China. The Imperial Metaphor, Richmond, Surrey, 2001.

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che staatliche Anerkennung und rechtlichen Schutz nur einer begrenzten Anzahl, in der Partei hörigen nationalen Vereinigungen organisierten Religionsgemeinschaften gewährte. Zu den fünf in der VR China anerkannten Religionen trat noch eine kleine Zahl neuer religiöser Bewegungen. Anders als die Regierung in Beijing suchte Taipei seine Religionsgemeinschaften jedoch nicht zu isolieren, sondern ermutigte internationale Kontakte sogar, um auf diesem Weg der zunehmenden diplomatischen Isolierung der Republik China entgegenzuwirken. Dies eröffnete vor allem christlichen Missionen, die gerade aus der VR China vertrieben worden waren, ein neues Betätigungsfeld. Der Vatikan unterhält bis heute (2009) diplomatische Beziehungen ausschließlich mit der Republik China auf Taiwan und die katholische Kirche ist vielerorts mit Kirchen, Krankenhäusern und Universitäten präsent. Trotz der intensiven Missionstätigkeit von Protestanten und Katholiken machen Christen jedoch nur etwa 4% der Gesamtbevölkerung von ca. 23 Millionen Einwohnern aus. Die brutale Verfolgung von volksreligiösen Sekten auf dem Festland hatte kein wirkliches Pendant in Taiwan. Zwar waren einige Gruppen verboten, so vor allem der bereits erwähnte „Weg der Einheit“ (Yiguandao ), das Verbot wurde jedoch bei weitem nicht mit der Härte durchgesetzt wie in der Volksrepublik. So konnte sich der Weg der Einheit unter den Bedingungen der Illegalität dennoch zu einer der größten religiösen Bewegungen Taiwans mausern und schließlich im Jahre 1987 seine Legalisierung erreichen.188 Die in der VR China als „feudalistischer Aberglaube“ diskreditierte Volksreligion wurde auch von den säkularistischen KMT-Behörden als abergläubisch kritisiert und mit vielerlei Verordnungen und Beschränkungen zur Nutzung öffentlicher Räume usw. behindert. Hinzu traten hier ethnische Spannungen zwischen den von Festlandchinesen dominierten Behörden und der einheimischen Bevölkerungsmehrheit der Taiwaner, die ihre eigenen Dialekte (Hokkien und Hakka) sprachen und die Amtssprache Mandarin oft nicht verstanden. Die Zelebrierung aufwändiger Feste zu Ehren der lokalen Schutzgottheiten fungierte mitunter als symbolischer Wider188 LU, Yunfeng, The Transformation of Yiguan Dao in Taiwan. Adapting to a Changing Religious Economy, Lanham, MD 2008.

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stand und kulturelle Selbstbehauptung gegenüber einem als repressiv empfundenen Regime, das solche traditionellen Praktiken als rückständig und verschwenderisch abtat und zusammen mit anderen Manifestationen einer taiwanischen kulturellen Identität (wie z. B. den Dialekten) zu unterdrücken versuchte.189 Das heißt nicht, dass die traditionelle Volksreligion unverändert weiter bestanden hätte, aber die Kräfte des Wandels waren weniger die bewussten Bemühungen der Regierung als der drastische Wandel der Gesellschaft im Zuge der raschen Industrialisierung und Modernisierung Taiwans. Von einer überwiegend agrarisch bestimmten Wirtschaft in den fünfziger Jahren entwickelte sich Taiwan innerhalb von nur drei Jahrzehnten zu einer modernen Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung in Städten lebt und die große Mehrheit der Wertschöpfung durch Industrie und Dienstleistungen geschieht. Diese Entwicklung macht Taiwan quasi zu einem Labor, in dem man die Muster religiösen Wandels unter den Bedingungen beschleunigter Modernisierung studieren kann. Teil dieses Wandels ist das Aufblühen des Buddhismus in Taiwan, das sich teilweise der Übersiedelung bedeutender Mönche vom Festland 1949 verdankt, andererseits aber auch von den sich wandelnden sozialen Bedingungen begünstigt war, unter denen viele Stadtmigranten, die des volksreligiösen Milieus ihrer Heimatdistrikte verlustig gegangen waren, sich universalistischen Alternativen öffneten. Ein erneuerter, besser ausgebildeter und für Laienanliegen offener Sangha konnte hier religiöse Angebote liefern, die weithin Anklang fanden.190 Eine Vielzahl bedeutender Mönche und Nonnen hat eine weite Gefolgschaft gefunden und wirkt weit über Taiwan hinaus unter Überseechinesen wie in neuerer Zeit auch in der VR China. Zu nennen sind hier stellvertretend die Mönche

189 Eine Fallstudie hierzu bietet AHERN, Emily Martin, The Thai Ti Kong Festival, in AHERN, Emily Martin/GATES, Hill (Hg.), The Anthropology of Taiwanese Society, Stanford 1981, 397–425; KATZ, Paul R./RUBINSTEIN, Murray A. (Hg.), Religion and the Formation of Taiwanese Identities, New York 2003. 190 Zur Geschichte des Buddhismus in Taiwan siehe GÜNZEL, Marcus, Die TaiwanErfahrung des chinesischen Sangha. Zur Entwicklung des buddhistischen Mönchs- und Nonnenordens in der Republik China nach 1949, Göttingen 1998; JONES, Charles B., Buddhism in Taiwan. Religion and the State, 1660– 1990, Honolulu 1999.

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Yinshun (1906–2005),191 Hsing Yun (Xingyun, 1927–?),192 Sheng Yen (Shengyan, 1930–2009)193 sowie die Nonne Cheng Yen (Zhengyan, 1937–?).194 Letztere hat sich besonders im karitativen Bereich hervorgetan. Ihre Tzu Chi-Stiftung unterhält mittlerweile Tochtergesellschaften in vielen Ländern und ist in der internationalen Katastrophenhilfe tätig. Cheng Yen, die eine Schülerin Yinshuns ist, wird auch eine wichtige Rolle in der Blüte des weiblichen Sangha zugesprochen. Nonnen stellen mittlerweile die Mehrheit des taiwanischen Sangha.195 Nach dem Tode Chiang Kai-sheks im Jahre 1975 setzte unter seinem Sohn Chiang Ching-kuo (1910–1988, Präsident der Republik China 1978–1988) eine allmähliche Liberalisierung ein, die Taiwan von einer Ein-Parteien-Diktatur zu einem genuin demokratischen Staatswesen wandelte. Politikwissenschaftler haben diese in der Geschichte Chinas vorbildlose Entwicklung genutzt, um die Rolle der chinesischen Religionen in einem demokratischen Gemeinwesen zu untersuchen.196 So ist Taiwan vielleicht doch in gewisser Weise repräsentativ für China geworden – nicht für eine ideologisch definierte und abstrahierte chinesische Zivilisation, sondern für die Spielräume und -formen von Religion in einer modernen, pluralistischen und demokratischen chinesischen Gesellschaft. Dass die Reformpolitik der VR China in diese Richtung weist, ist mehr als eine fromme Hoffnung und das Beispiel Taiwans mag uns daher Ausblicke auf die Zukunft der chinesischen Religionen erlauben. 191 BINGENHEIMER, Marcus, Der Mönchsgelehrte Yinshun (*1906) und seine Bedeutung für den Chinesisch-Taiwanischen Buddhismus im 20.Jh., Heidelberg 2004. 192 CHANDLER, Stuart, Establishing a Pure Land on Earth. The Foguang Buddhist Perspective on Modernization and Globalization, Honolulu 2004. 193 SHENGYAN, STEVENSON, Daniel B., Hoofprint of the Ox. Principles of the Chan Buddhist Path as Taught by a Modern Chinese Master, Oxford 2001. 194 HUANG, C. Julia, Charisma and Compassion. Cheng Yen and the Buddhist Tzu Chi Movement, Cambridge, MA 2008. 195 CHENG, Wei-Yi, Buddhist Nuns in Taiwan and Sri Lanka. A Critique of the Feminist Perspective, London 2007. 196 Siehe z. B. LALIBERTÉ, André, The Politics of Buddhist Organizations in Taiwan, 1989–2003, London 2004; MADSEN, Richard, Democracy’s Dharma. Religious Renaissance and Political Development in Taiwan, Berkeley 2007; KUO, Chengtian, Religion and Democracy in Taiwan, Albany, NY, 2008.

II. Strukturen, Systeme und Themen in der chinesischen Religionsgeschichte

1. Religiöser Pluralismus: Die Drei Lehren Die Geschichte des Begriffs der „Drei Lehren“ (sanjiao ) ist so wechselhaft wie es das Verhältnis von Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus im Laufe der chinesischen Geschichte war. Es lässt sich jedoch eine harmonisierende Tendenz beobachten, die vor allem ab der SongZeit diesem Begriff die Vermutung der Kompatibilität und gar Komplementarität der drei Traditionen unterlegt.1 Diese ideologische Gewichtung ist selbst ein Gegenstand religionsgeschichtlicher Forschung, ist aber in der Verwendung hier als Kapitelüberschrift nicht impliziert. Wenn ich hier von den Drei Lehren spreche, dann lediglich als Sammelbegriff für Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus, ohne eine Vorentscheidung über ihr Verhältnis zueinander zu treffen. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es vornehmlich, die im historischen Teil dieses Buches skizzierten Entwicklungslinien in einem synthetisierenden Überblick zusammenzuführen und so dem Leser die Umrisse der Diskursfelder anzudeuten, die unter den Oberbegriffen Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus zusammengefasst werden.

1 GENTZ, Joachim, Die Drei Lehren (sanjiao) Chinas in Konflikt und Harmonie, in FRANKE, Edith, PYE und Michael (Hg.), Religionen nebeneinander. Modelle religiöser Vielfalt in Ost- und Südostasien, Berlin 2006, 17–40.

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1.1 Der Konfuzianismus Es ist bedeutsam, dass keine der Drei Lehren problemlos mit dem traditionellen Religionsbegriff der europäischen Geistesgeschichte in Einklang gebracht werden kann. Jede einzelne bringt problematische Unterscheidungen von Religion und Philosophie mit sich sowie die Frage nach der Notwendigkeit der Orientierung hin auf eine letztgültige Realität, ehe man Religiosität konstatieren zu können meint. Der Konfuzianismus ist sicherlich einer der schwierigsten Fälle in dieser Hinsicht, eine Schwierigkeit, die sich jedoch im Wesentlichen daraus ergibt, dass man versucht, diese Tradition in westliche Kategorien wie Religion und Philosophie zu zwängen. Die Skizzierung fällt wesentlich leichter, wenn man sich solche Windmühlenfechterei erspart und das Augenmerk stattdessen auf die verschiedenen Weisen richtet, in denen die Tradition interpretiert und für die Bedürfnisse von Individuen und Kollektiven angepasst worden ist. Im Falle des Konfuzianismus beginnt ein solcher Ansatz damit, darauf hinzuweisen, dass der Begriff selbst eine späte Prägung jesuitischer Provenienz ist (wie natürlich auch der latinisierte Name „Konfuzius“ für Meister Kong).2 Die wenigsten chinesischen Namen für diese Tradition beziehen sich auf Konfuzius, und solche, die es tun, sind meist rezente Rückübersetzungen aus westlichen Sprachen. Stattdessen erscheint im historischen Sprachgebrauch am häufigsten das Wörtchen ru , wenn über die Lehren des Konfuzius und seiner Nachfolger gesprochen wird. Die Lehre der ru (rujiao ), die Schule der ru (rujia ) und das ru -Studium (ruxue ) waren und sind gebräuchlichen Begriffe für das, was in westlichen Sprachen in der Regel als Konfuzianismus bezeichnet wird. Was bedeutet ru ? Die Etymologie ist unter Experten umstritten, aber es scheint klar, dass in der späten Zhou-Zeit Experten in den Sechs Künsten (Riten, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Schreiben und Rechnen) als ru bezeichnet wurden. Im engeren Sinne bezog sich der Begriff auf gelehrte Fachleute im Ritualwesen; aufgrund der „konfuzianischen“ Betonung der Riten wurde der Begriff ru schließlich gleichbedeutend mit Interpreten der Lehrtra2 Zur jesuitischen „Erfindung“ des Konfuzianismus siehe RULE, Paul, K’ung-tzu or Confucius? The Jesuit Interpretation of Confucianism, Sydney 1986; JENSEN, Lionel M., Manufacturing Confucianism. Chinese Traditions and Universal Civilization, Durham, NC, 1997.

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dition, die mit Konfuzius ihren Anfang genommen hatte.3 Wenn auch einige moderne Gelehrte fordern, den historisch vorbelasteten Begriff des „Konfuzianismus“ durch eine dem chinesischen Gebrauch angenäherte Alternative wie „Ru-Lehren“ zu ersetzen, ist es für die vorliegende einführende Darstellung wohl doch sinnvoll, nach gebührlicher Bekenntnis seiner Problematik beim vertrauteren „Konfuzianismus“ zu bleiben. Der historische Überblick hat gezeigt, dass die konfuzianische Tradition eine durchaus wechselhafte Geschichte durchlaufen hatte. Konfuzius war einer unter vielen Denkern seines Zeitalters, die neue Wege individueller und gesellschaftlicher Verwirklichung unter Bedingungen signifikanten soziokulturellen Wandels suchten. Für Meister Kong kennzeichnend war es, dass er für sich nicht in Anspruch nahm, einen wirklich neuen Ansatz zu präsentieren, sondern die bewährte Ordnung eines goldenen Zeitalters neu zu vergegenwärtigen. Die auseinanderbrechende soziale Ordnung sollte durch eine Rückbesinnung auf die stabilen Ordnungsprinzipien der frühen Zhou-Zeit wieder zusammengefügt werden. Kern dieser Ordnung war die rituelle Gestaltung hierarchischer sozialer Beziehungen, welche jedem Individuum seinen Platz im sozialen Gefüge zuwies und damit Statuskonflikte verringerte. Die Funktionsfähigkeit dieses Modells hing jedoch wesentlich von der moralischen Qualität der Gesellschaftsmitglieder ab und insbesondere von der moralischen Autorität der Höherstehenden im jeweiligen Beziehungsgeflecht. Moralisches Charisma (de ) floss von oben nach unten und deshalb war es das erste Ziel des Konfuzius, einen Herrscher für seine Vorstellungen von einer harmonischen, rituell modulierten Gesellschaftsordnung zu gewinnen. Wie wir sahen, schlug dieses Vorhaben fehl, aber dennoch schuf der Meister ein bleibendes Ideal sozialer Harmonie und individueller Kultivierung. Der erste Aspekt dieses Ideals prägt das chinesische politische Denken bis in die Gegenwart: Chaos, Korruption und Unsicherheit bringen nicht nur die politische Kompetenz einer Regierung in Misskredit, sondern stellen direkt ihre moralische Herrschaftslegitimation in Frage. Das heißt nicht, dass auch nur eine einzige Dynastie in der chinesischen Geschichte die Vollkom3 Zur Begriffsgeschichte siehe YAO, Xinzhong, An Introduction to Confucianism, Cambridge 2000, 16–21.

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menheit des mythischen Kaisers Shun erreicht hätte, der lediglich die rituell korrekte Position auf seinem Thron einzunehmen hatte, um Friede und Ordnung in seinem Reich zu stiften. Dennoch hat dieses Ideal im politischen Diskurs stets eine wichtige Rolle gespielt und tut dies unter gewandelten Vorzeichen auch heute noch. Was das Individuum betrifft, so bot Meiser Kong eine Lebenskunst an, welche die wahre Selbstverwirklichung in der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen lokalisierte. Erkennt man die fundamental soziale Natur des Menschen an, so ist wahre Menschlichkeit in der Tat nur in der Hinwendung auf den anderen möglich. Die Pflege relationaler Tugenden wie Loyalität und Kindespietät ermöglicht die Selbstverwirklichung in sozialer Eingebundenheit und Orientierung hin auf die anderen, welche die Verwirklichung eines Selbst erst möglich machen. In der weiteren Entwicklung der konfuzianischen Tradition wurde der integrative Kontext des Edlen oder gar Heiligen über die soziale Relationalität hinaus zu einer kosmischen Harmonisierung erweitert und damit eine transzendente Dimension zumindest angedeutet, die dem Konfuzianismus in der Literatur häufig abgesprochen wird. Dies minderte nie die grundsätzliche Ausrichtung auf das Hier und Jetzt, auf die Schaffung von Ordnung und Sinn in dieser Welt anstelle ihrer hoffnungsvollen Verschiebung auf die nächste. Alle konfuzianischen Ausflüge in die Metaphysik blieben letztlich verankert in einer Praxisbezogenheit, welche in der Bewährung neuer Ideen in der Integration persönlicher Sinnsuche und sozialer Gestaltung bestand. Dies ist der rote Faden, der sich durch die Geschichte der konfuzianischen Tradition zieht und die Orientierung in der ansonsten möglicherweise verwirrenden Abfolge von Schulrichtungen und großen Denkern ermöglicht. Wesentliche Stationen dieser Abfolge sind die wichtigen Weiterentwicklungen der Gedanken des Konfuzius in der Zeit der Streitenden Reiche (Menzius und Xunzi), die Etablierung eines Korpus von kanonischen Schriften und der Beginn der konfuzianischen Symbiose mit der Herrschaft der Kaiserdynastien in der Han-Zeit sowie die philosophische Synthese des Neo-Konfuzianismus der Song- und Ming-Dynastien. Letztere erlebten auch die Vollendung der „Konfuzianisierung“ des Beamtenprüfungswesens und damit die weitgehende Integration von Konfuzianismus und Staatsideologie. Ich sage „weitgehend“, da es immer wieder Individuen und Bewegungen gab, welche das konfuzianische Projekt der Ver-

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wirklichung von Menschlichkeit vor dem Schicksal der Degenerierung hin zu einer bloßen Prüfungs- und Karrieregelehrsamkeit zu retten suchten. Die Akademien der Süd-Song-Zeit, Wang Yangming und die Protagonisten der „Lehre vom Geiste“ in der Ming-Zeit, die Vertreter der philologischen „Han-Schule“ in der Qing-Zeit sind Zeugen dafür, dass staatliche Vereinnahmung den kreativen Impuls der Tradition nie völlig erstickte. Das Ende der traditionellen Beamtenprüfungen im Jahre 1905 bedeutete denn auch nicht das Ende des Konfuzianismus als einer Option des Denkens über Sinn und Zweck menschlichen Lebens und des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Sowohl innerhalb wie außerhalb Chinas geben die Lehren der ru auch heute noch wichtige Denkanstöße in der politischen Arena, im philosophischen Diskurs und im religiösen Leben.

1.2 Der Daoismus Lange Zeit war es Gegenstand der gelehrten Debatte, in welchem Verhältnis „philosophischer“ und „religiöser“ Daoismus zueinander stehen. Ersterer bezog sich auf die daoistischen Schriften der klassischen Periode (vor allem Daode jing und Zhuangzi), letzterer auf die daoistischen Bewegungen und Schulen, die ab dem 2. Jh. n. Chr. auftraten. Die rapide quantitative und qualitative Zunahme der Daoismusforschung in den letzten dreißig Jahren hat die Sichtweise dahingehend verändert, dass man der traditionellen chinesischen Kultur fremde Konzepte wie „Religion“ und „Philosophie“ vermeidet und stattdessen die Kontinuitäten und Brüche zwischen verschiedenen Phänomenen untersucht, die unter dem Dach eines weit gefassten Daoismusbegriffs versammelt werden. In dieser Sichtweise orientieren sich alle Versionen des Daoismus auf ein Konzept des Dao, des Weges, hin. Der Begriff „Dao“ wird zwar auch von Konfuzianern und Buddhisten verwendet, meint bei ihnen in der Regel aber einen spezifischen Weg der SelbstKultivierung oder Praxis. So waren z. B. die Neo-Konfuzianer der Song-Zeit bemüht, eine historische Abfolge der Meister zu konstruieren, die das wahre konfuzianische Dao besaßen (daotong ). Hier jedoch ist in erster Linie eine bestimmte Lehre oder Lehrtradition gemeint. Typisch für den daoistischen Diskurs hingegen ist die Verabsolutierung

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des Dao-Begriffes zum Urgrund allen Seins. Sobald dieses Prinzip akzeptiert ist, ergeben sich daraus zwingend Fragen nach der Natur des Dao und nach seinen Konsequenzen für die menschliche Lebensführung. Beide Fragenbereiche haben recht unterschiedliche Antworten und Lebensentwürfe hervorgebracht. Im Daode jing und Zhuangzi haben wir zwei Texte vor uns, deren Verständnis des Dao recht ähnlich ist, die aber unterschiedliche Konsequenzen daraus ziehen. Das Daode jing entwirft ein politisches Modell, das die Gesellschaft in Harmonie mit dem Dao zu bringen sucht und dem Herrscher empfiehlt, seinen Einfluss durch Nicht-Eingreifen (wuwei ) zur Geltung zu bringen. Der politischen Orientierung des Daode jing steht im Zhuangzi die Ausrichtung auf das Individuum gegenüber, dem ein Dao-gemäßer Lebenswandel am ehesten jenseits der Verwicklungen und Gefahren des öffentlichen Lebens gelingen mag. Ein Leben mit dem statt gegen das Dao ist hier eine Frage der Bewusstseinsveränderung, der Befreiung des menschlichen Geistes von den Grenzen des nur scheinbar rationalen Denkens und seiner sprachlichen Kategorien. Dem wird eine mystische Sicht der Einheit im Dao entgegengesetzt, welche dem Individuum Gleichmut, Glück und Spontaneität ermöglicht. War für Zhuangzi das Dao nur intuitiv und unter Überwindung aller Kategorien zu erfassen, so entwickelte sich in der Endphase der Zeit der Streitenden Reiche eine alternative Weltsicht, welche im Dao kalkulierbare Strukturen zu erkennen meinte. Die Verschmelzung zweier Modelle unterschiedlichen Ursprungs, yin/yang und die Fünf Wandungsphasen, legte die Grundlagen für eine bis heute einflussreiche Kosmologie sowie für Methoden physisch-spiritueller Kultivierung und Lebensverlängerung. Für die Experten dieser Methoden (die fangshi ) waren die Zeichen einer sinnvollen Lebensführung Gesundheit und Langlebigkeit, und beides hing von einem korrekten Verständnis und der Nutzung der kosmischen Kräfte ab. In letzter Konsequenz konnte der Virtuose dieser neuen spirituellen Technologie sich sogar die wichtigste Eigenschaft des Dao aneignen, seine Ewigkeit, d. h. Unsterblichkeit. Das Unsterblichkeitsideal wiederum verschmolz mit Vorstellungen von den Unsterblichen (xian) als vollkommenen Wesen, die außer von ihrer Mortalität auch von den anderen Beschränkungen menschlicher Existenz befreit sind. Sie haben magische Kräfte, fliegen durch die Luft und verkehren in der Welt der Götter. Diese Vorstellungen haben

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ihre Basis in einem Milieu, wo Schamanen in Trance jenseitige Welten besuchen und mit Göttern und Geistern kommunizieren. Vor allem Berge wurden ob ihrer Entfernung von menschlichen Siedlungen und Nähe zum Himmel als bevorzugte Aufenthaltsorte der Unsterblichen angesehen und als Refugium von denjenigen gewählt, welche es den xian gleichtun wollten. In den Schriften des gelehrten Alchemisten Ge Hong im 3. und 4. Jh. n. Chr. laufen diese Fäden exemplarisch zusammen. Sie bilden ein Gewebe kosmologischen, religiösen und technischen Gedankengutes, das als Quelle für vielerlei mantische Künste, medizinische Theorien wie auch diverse Manifestationen des Daoismus dienten. Schon im 2.Jh. war die Bewegung der Himmelsmeister entstanden, welche sich durch die Personifizierung des Dao und seiner konstitutiven Kräfte in Form einer komplexen Götterwelt auszeichnete, an deren Spitze die Dao-Gottheit par excellence, Laozi, stand. Die Himmelsmeister folgten dem Text des Daode jing in dem Sinne, dass auch sie die Kultivierung des Dao als ein soziales Projekt ansahen, welches eine utopische Ordnung hervorbringen sollte. In ihrem Denken war es die neue Gesellschaft des Saatvolkes, welche das nahende Weltenende überleben und ein neues, gerechteres Zeitalter einläuten sollte. Rituelle Handlungen sollten dazu das Saatvolk in Einklang und Harmonie mit den Gesetzen der Götter halten. Wurde das Dao für die fangshi und ihre Nachfolger greifbar in seinen regelmäßigen kosmischen Mustern und Rhythmen, so nahm es für die Himmelsmeister und ihre Anhänger Gestalt an in Form einer himmlischen Sphäre reiner Gottheiten jenseits der „Dämonen“ und unreinen Geister der zeitgenössischen Volksreligion. Da das Dao gestaltlos und unfassbar ist, kann es vielerlei Gestalten annehmen. So verschieden auch die Mystik eines Zhuangzi, die Unsterblichkeitssehnsucht und -technologie eines Ge Hong, sowie die millenaristische Heilserwartung und rituelle Fertigkeit der Himmelsmeister sind, so ziehen sie doch alle in der einen oder anderen Form ihre Inspiration aus dem Dao, welches sich ihnen in jeweils ihren Bedürfnissen entsprechender Weise vergegenwärtigt. Die weitere Geschichte des Daoismus ist geprägt von der gegenseitigen Durchdringung der verschiedenen Ansätze, sich dem Dao zu nähern. Alchemie vermengt sich mit Ritual, die Götter spiegeln sich außerhalb wie innerhalb des Körpers, wo sie Gegenstand einer visualisierenden Meditation werden. Die Vielfalt der Schulen und Methoden reduzierte

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sich schließlich in der späten Kaiserzeit scheinbar auf zwei staatlich anerkannte Formen des Daoismus: den monastischen Daoismus der Vollkommenen Verwirklichung (Quanzhen) und die Schule der Orthodoxen Einheit (Zhengyi), deren oberster Repräsentant der jeweilige Himmelsmeister war und deren Mitgliedschaft überwiegend aus nichtzölibatären Priestern bestand, die ihre Rituale als Dienstleistungen für Individuen, Familien und Ortsgemeinden anboten. Die Zhengyi-Tradition ist der westlichen Forschung am vertrautesten, da sie in Taiwan dominiert und somit Gegenstand der ersten systematischen Feldforschungen wurde.4 Die bessere Zugänglichkeit der VR China seit den achtziger Jahren rückt nun einerseits den Quanzhen-Daoismus wieder stärker ins Licht des wissenschaftlichen Interesses, andererseits bestätigen die seitdem getätigten Forschungen den schon von früheren Forschungen in Taiwan und Hongkong her bekannten Sachverhalt, dass die Dichotomie von Zhengyi und Quanzhen zu simpel ist. Es gibt zahllose lokale und regionale Ritualtraditionen, die sich relativ autonom tradieren und deren Verhältnis zu den großen daoistischen Traditionen sich recht verschieden gestaltet. So hat der moderne Daoismus seine historische Komplexität bewahrt. Vielfalt und Einheit sind dabei Aspekte eines zusammenhängenden Phänomen-Komplexes, der trotz aller Divergenzen die Verwendung des Wortes „Daoismus“ im Singular weiterhin rechtfertigt.

1.3 Der Buddhismus Eine der Leitfragen in der Forschung zum chinesischen Buddhismus lautet: Hat der Buddhismus China erobert oder China den Buddhismus? Die Antwort lautet natürlich: sowohl als auch. Der Buddhismus ist ohne Zweifel diejenige „Fremdreligion“, die sich am tiefsten in China verwurzelt hat und es geschafft hat, integraler Bestandteil der chinesischen Kultur zu werden. Keine andere nicht-indigene Religion hat den Anerkennungs- und Integrationsgrad des Buddhismus erreicht, 4 SCHIPPER, Kristofer, The Written Memorial in Taoist Ceremonies, in Arthur P. WOLF (Hg.), Religion and Ritual in Chinese Society, Stanford 1974, 309–324; SASO, Michael, The Teachings of Taoist Master Chuang, New Haven 1978; LAGERWEY, John, Taoist Ritual in Chinese Society and History, New York 1987.

Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus

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der durch seine Aufnahme in den „Klub“ der Drei Lehren zum Ausdruck kommt. Andererseits war dieser Erfolg nur möglich durch eine weitgehende Anpassung des Buddhismus an das kulturelle Milieu Chinas, welche manchen Forscher dazu brachte, von der Sinisierung des Buddhismus zu sprechen.5 Die weitgehende Aufgabe des Bettelmönchtums, die Betonung der Kindespietät bis hin zur quasi-verwandtschaftlichen Definition des Verhältnisses zwischen Novizen und Tonsurmeistern, die Rolle buddhistischer Rituale im familiären Ahnenkult, die Integration daoistischer und konfuzianischer Konzepte und Denkansätze in einer Art sinobuddhistischer Scholastik, die Verschmelzung buddhistischer und daoistischer Horizonte im Chan-Buddhismus – all dies sind Aspekte der Heimischwerdung des Buddhismus, die ihm ein deutlich chinesisches Antlitz verliehen haben. Die Geschichte des Buddhismus vom 2. Jh. bis zur Tang-Zeit wird in der Regel als ein Prozess zunehmender Inkulturierung dargestellt, angefangen bei den noch recht ungeschlachten ersten Textübersetzungen unter Zuhilfenahme daoistischen Vokabulars über die Einführung subtilen indischen Gedankengutes wie der Ma¯dhyamaka- und Yoga¯ca¯ra-Philosophie bis hin zur Blüte genuin chinesischer Schulrichtungen wie Chan, Tiantai, Huayan und auch der spezifisch chinesischen Ausgestaltung der Lehre des Reinen Landes. Im Gegenzug übte die Lehre des Buddha wichtige Einflüsse auf die Religionswelt Chinas aus, so z. B. mit der Einführung der im Karma-Konzept vorgegebenen Vorstellung von der Alleinverantwortung des Individuums für seine Erlösung; dies modifizierte bestehende Ideen von einem Kollektivschicksal, welches Familien mit ihren Ahnen verbindet, verdrängte sie aber nicht. Solche „individualistischen“ Tendenzen spiegeln sich im chinesischen Begriff für das Eintreten in den Sangha wider (chujia , „die Familie verlassen“) und werden durch die Praxis von Mönchen und Nonnen bekräftigt, ihren eigenen Familiennamen aufzugeben und den des Buddha anzunehmen (shi von Shijiamouni /S´a¯kyamuni ). Auch die Jenseitsvorstellungen krempelte der Buddhismus gründlich um, indem er indische Ideen einer Unterwelt, in welcher die Verstorbenen ihre Vergehen mit schrecklichen Qualen büßen müssen, in China heimisch machte, dabei aber typischerweise bürokratisierte. In der volksreligiösen wie auch daoistischen Vorstel5 GREGORY, Peter N., Tsung-mi and the Sinification of Buddhism, Princeton 1991.

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lung standen den Zehn Unterweltshöfen zehn Könige vor, die man sich nach dem Vorbild menschlicher Magistrate ausmalte und die über die Totenseelen in förmlichen Verfahren zu Gerichte saßen. Dies ist nur einer der Bereiche, in denen der Buddhismus großen Einfluss auf die Vorstellungswelt und Grundstrukturen der sich ab dem späten 4.Jh. entwickelnden daoistischen Lingbao-Liturgie ausübte. Die Periode nach dem „goldenen Zeitalter“ der Tang-Zeit wurde früher oft als eine Zeit des Niedergangs beschrieben, eine Sichtweise, welche die neuere Forschung so nicht mehr akzeptiert. Wie im historischen Überblick beschrieben, konsolidierte sich der Buddhismus in der chinesischen Gesellschaft zu dieser Zeit und schuf sich stabile soziale Strukturen, die bis heute Bestand haben und ihm die erfolgreiche Anpassung an die Bedingungen der Moderne erlaubten. Trotz aller politischen Widrigkeiten unter den anti-religiös gesinnten Regimen der frühen Republikzeit und der Volksrepublik ist es dem Buddhismus gelungen, Formen von Organisation, Lehre und Praxis zu entwickeln, die sich zumindest außerhalb der VR China als höchst erfolgreich erwiesen haben und sich nun allmählich auch auf dem chinesischen Festland verbreiten. Unter den „Drei Lehren“ ist der Buddhismus im ersten Jahrzehnt des 21.Jh. eindeutig die dynamischste Religionsgemeinschaft mit der größten Breitenwirkung.

2. Die „Fremdreligionen“: Christentum und Islam Es ist verlockend, den Drei Lehren die drei Religionen gegenüberzustellen, die sich von Gottes Bund mit Abraham herleiten: Judentum, Christentum und Islam. Hier will ich jedoch nur auf die letzteren beiden eingehen, da der Einfluss des Judentums in China historisch zu unbedeutend war. Christentum und Islam hingegen haben deutliche Spuren in der chinesischen Religionsgeschichte hinterlassen und zum Teil mit ähnlich gelagerten Problemen zu kämpfen gehabt. Im Folgenden will ich kurz das historische Schicksal der beiden Religionen in China resümieren, um dann einige wesentliche Charakteristiken dieser vorderasiatischen Monotheismen in Relation zur chinesischen Religionskultur zu skizzieren.

Christentum und Islam

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2.1 Christentum Wie wir sahen, unternahmen verschiedene christliche Kirchen mehrere Anläufe, im Reich der Mitte Fuß zu fassen: die sogenannten Nestorianer ab dem 7.Jh., die Franziskaner unter der Mongolenherrschaft im 13. und 14. Jh., die Jesuiten und andere katholische Orden vom 16. bis zum 18. Jh. und schließlich eine Vielzahl katholischer, protestantischer und orthodoxer Missionen ab dem 19. Jh. Bis in die jüngste Vergangenheit sind Massenbekehrungen die Ausnahme geblieben, und das Christentum blieb die Religion einer kleinen Minderheit. Welche historischen und kulturellen Faktoren spielten bei dieser Entwicklung eine Rolle? Die nestorianische Mission begann als religiöse Dienstleistung in der Gemeinschaft hauptsächlich vorder- und zentralasiatischer Kaufleute in den Fernhandelszentren Chinas, war also zunächst eine im wesentlichen ethnisch definierte Religionsgemeinschaft. Mit der Zeit und der zunehmenden Akkulturierung der Gemeinschaft entwickelte sich ein Bedürfnis, diese Religionstradition besser in den chinesischen kulturellen Kontext einzufügen. Texte wurden auf Chinesisch verfasst, wobei buddhistisches und daoistisches Vokabular zur Übermittlung christlicher Inhalte verwendet wurde. Damit einher ging eine Tendenz, christliche Themen in die konzeptuellen Kontexte dieser beiden Religionen einzubetten, was zumindest einen Autor dazu führte, die Nestorianer als „daoistische Christen“ zu bezeichnen.6 Es ist umstritten, wie weit synkretistische Tendenzen im chinesischen Nestorianismus gingen, aber es ist klar, dass Inkulturierung ihnen ein wichtiges Anliegen war. Nach dem historisch relativ folgenlosen Zwischenspiel der franziskanischen Mission am Hof der mongolischen Khane rückt das Problem der Inkulturierung bei den Jesuiten ab dem 16. Jh. wieder in den Mittelpunkt des theologischen und missionspraktischen Interesses. Eine Kernstrategie Matteo Riccis und seiner Nachfolger war es, das Christentum nicht als fremde Lehre erscheinen zu lassen, sondern als genuin chinesisch. Dies war nicht manipulativ gemeint, da im Geschichtsbild der Jesuiten die gesamte Menschheit im Bund Gottes mit Noah eingeschlossen und damit heilsgeschichtlich verbunden war. Da6 PALMER, Martin, The Jesus Sutras. Rediscovering the Lost Scrolls of Taoist Christianity, New York 2001.

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her war bei jedem Volksstamm davon auszugehen, dass zumindest Überreste einer Erinnerung an diesen Bund vorhanden sein müssten. Matteo Ricci entdeckte solch eine verschüttete Erinnerung in den konfuzianischen Klassikern, die in seiner Interpretation das Wissen um einen höchsten Gott reflektieren, den sie mal Shangdi, mal Himmel nennen, der aber in Wahrheit kein anderer als der biblische Jahweh ist. Die biblische Offenbarung knüpft an die verschüttete Gotteserinnerung in der chinesischen Tradition an, konkretisiert und erfüllt sie. Konfuzius ist daher ähnlich den großen Philosophen des klassischen Griechenland ein Vorläufer der wahren Religion, welche seine Lehren vervollkommnet und zu ihrer wahren Bestimmung führt. Die „Figuristen“ unter den China-Missionaren widmeten sich dem Studium der chinesischen Klassiker mit dem expliziten Ziel, darin Zeichen (figurae) der Uroffenbarung zu entdecken und die biblischen Ursprünge Chinas zu beweisen.7 Wenn der figuristische Ansatz auch umstritten war, so gründete er doch in einer vor allem unter den Jesuiten weitverbreiteten Überzeugung, dass die Inkulturierung des Christentums keine rein instrumentale Missionsstrategie war, sondern auf fundamentalen heilsgeschichtlichen Übereinstimmungen gründen konnte. Die bereits erwähnte Ritenkontroverse stellte diesen Ansatz in Frage und verschob die Perspektive von postulierten Gemeinsamkeiten weg, hin zu grundsätzlichen Widersprüchen zwischen Christentum und chinesischer Kultur. Diese beinhalten nicht nur Fragen des Ritus, sondern z. B. auch elementare Unterschiede im Menschenbild. Die christliche Lehre von der Erbsünde und der Gnadenbedürftigkeit des Menschen steht im Gegensatz zur im Konfuzianismus und Daoismus vorherrschenden Annahme, dass die menschliche Natur im Grunde gut und daher perfektibel ist. Anknüpfungspunkte für die christliche Soteriologie und Anthropologie gab es lediglich in Minderheitsmeinungen in der konfuzianischen Tradition, im Mohismus sowie im Buddhismus des Reinen

7 Zum Figurismus siehe z. B. VON COLLANI, Claudia, P. Joachim Bouvet S.J. Sein Leben und sein Werk, Sankt Augustin 1985; LUNDBÆK, Knud, Joseph de Prémare, 1666–1736, S. J. Chinese Philology and Figurism, Aarhus 1991; STANDAERT, Nicolas (Hg.), Handbook of Christianity in China, Volume I: 635–1800, Leiden 2001, 668–679.

Christentum und Islam

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Landes, wo die Menschen in der Endzeit des Dharma von der Gnade Buddha Amita¯bhas abhängig sind.8 Unmittelbare Konfliktherde waren allerdings weniger die grundsätzlichen weltanschaulichen Differenzen, sondern ihre Auswirkungen im Ritus. Mit dem Verbot der Ahnenriten, der Verehrung des Konfuzius und anderer Elemente der chinesischen Zivilreligion wurde die Taufe eine Entscheidung zwischen christlicher und chinesischer Identität und damit für die Mehrheit der Chinesen (und insbesondere für die Oberschicht) inakzeptabel; auch ohne die staatliche Verfolgung wäre daher im 18. Jh. der Missionserfolg wohl sehr begrenzt geblieben. Der nächste Missionsschub im 19.Jh. fand unter ganz anderen, nämlich imperialistischen Vorzeichen statt. Die neuen Missionare kamen unter dem Schutz westlicher Kanonenboote und der Befreiung von der chinesischen Gerichtsbarkeit. Kulturelles Überlegenheitsgefühl ließ viele Missionare Bekehrung und Zivilisierung als zwei untrennbare Aspekte ihrer Arbeit wahrnehmen. Anpassung an die weithin verachtete chinesische Kultur war daher kein wichtiges Thema der zeitgenössischen theologischen Debatten. An ihre Stelle trat die Forderung nach chinesischer Führung für die chinesischen Christen. Die meisten Missionsgesellschaften unterhielten Programme zur Heranbildung eines chinesischen Klerus, der allmählich die Leitungsfunktionen von den ausländischen Missionaren übernehmen sollte. Als nach 1949 die Regierung der VR China die chinesischen Christen zur Abnabelung von der westlichen Mission zwang, stellte dies keinen völlig unvorbereiteten Bruch dar. Das „Drei-Selbst“-Prinzip z. B. war chinesischen Protestanten bereits aus ihrer internen Reformbewegung vor dem 2. Weltkrieg bekannt.9

8 Vergleichende Erörterungen von Christentum und chinesischer Religion finden sich z. B. bei KÜNG, Hans und CHING, Julia, Christentum und chinesische Religion, München 1988; YAO, Xinzhong, Confucianism and Christianity. A Comparative Study of Jen and Agape, Brighton 1996; MALEK, Roman, Verschmelzung der Horizonte, Mozi und Jesus. zur Hermeneutik der chinesisch-christlichen Begegnung nach Wu Leichuan, 1869–1944, Leiden 2004. 9 WICKERI, Philip L., Seeking the Common Ground. Protestant Christianity, the Three-Self Movement, and China’s United Front, Maryknoll, NY, 1988.

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Früh hatten sich auch christliche Hybridformen entwickelt. Das dramatischste Beispiel hierfür war die im historischen Teil angesprochene Taiping-Bewegung in der zweiten Hälfte des 19.Jh., aber es gab auch weniger spektakuläre, dafür aber länger wirkende Spielformen eines chinesischen Christentums. So hielten auch nach dem offiziellen Verbot ihrer Kirche im 18. Jh. viele chinesische Katholiken an ihrem Glauben fest. Priester reisten inkognito von Gemeinde zu Gemeinde, um heimlich die Messe zu zelebrieren. Hier wirkte die traditionelle Ehrung der Ahnen und Älteren zugunsten der neuen Religion, da es der Respekt gebot, die religiösen Entscheidungen früherer Generationen fortzuführen. Vor allem in ländlichen Gebieten bestimmte die römische Lehre das Leben von Sippen und Dörfern über Generationen hinweg und übernahm mancherorts die Funktionen der traditionellen Volksreligion, wobei synkretistische Begleiterscheinungen nicht ausblieben.10 Im protestantischen Bereich kam es in der Republikzeit zur Herausbildung indigener Kirchen, die nicht nur organisatorisch, sondern teilweise auch theologisch auf Distanz zur westlichen Mission gingen.11 Obwohl ein genuin chinesisches Christentum also grundsätzlich möglich ist, waren die kulturellen Hindernisse bisher doch so bedeutsam, dass der christliche Anteil der Gesamtbevölkerung weder auf dem Festland noch auf Taiwan den einstelligen Prozentbereich je verlassen hat. Besonders im Fall Taiwans ist dies signifikant, da sich nach der Gründung der VR China und der Vertreibung der ausländischen Missionare vom Festland hier und in Hongkong die Bemühungen aller Kirchen konzentrierten. Dennoch lag der Anteil der Christen an der Bevölkerung zuletzt bei etwa 4%. Ein wichtiger Grund hierfür ist sicherlich die relativ gefestigte Struktur der taiwanischen Volksreligion und ihrer Wertvorstellungen, welche die Bekehrung zum Christentum als Abkehr 10 MADSEN, Richard P., Beyond Orthodoxy. Catholicism as Chinese Folk Religion, in Stephen UHALLEY, JR. und Xiaoxin WU (Hg.), China and Christianity. Burdened Past, Hopeful Future, Armonk, NY 2001, 233–249; LAAMANN, Lars Peter, Christian Heretics in Late Imperial China. Christian Inculturation and State Control, 1720–1850, London 2006. 11 BAYS, Daniel H., Indigenous Protestant Churches in China, 1900–1937. A Pentecostal Case Study, in KAPLAN, Steven (Hg.), Indigenous Responses to Western Christianity, New York 1995, 124–143; XI, Lian, The Search for Chinese Christianity in the Republican Period (1912–1949), Modern Asian Studies 38.4 (2004): 851–898.

Christentum und Islam

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von den Ahnen und damit als zutiefst unmoralisch verdammt. Christen, die sich nicht um die Seelen ihrer Eltern und Großeltern kümmern und sich weigern, die Feste des Dorftempels mitzufinanzieren, schließen sich de facto von den Strukturen von Sippe und Ortsgemeinschaft aus, ein Verlust, den sekundäre christliche Sozialstrukturen wie Kirchengemeinden in der Regel nicht völlig wettmachen können. Die stark urbanisierte Gesellschaft Taiwans schafft zwar neue Freiräume für das Individuum und neue Formen sozialer Organisation für seine Einbettung, aber bislang profitierten davon eher der Buddhismus und neue religiöse Bewegungen wie der Weg der Einheit (Yiguandao) als die christlichen Kirchen. Anders sieht die Lage in der VR China seit den achtziger Jahren aus. Hier haben die soziokulturellen Verwerfungen der Kulturrevolution und der daran anschließenden Reformperiode die Stabilität traditioneller Wertvorstellungen deutlich untergraben. Dieses Vakuum füllt sich mit vielerlei religiösen Inhalten, darunter auch christlichen. Insbesondere evangelikale Hauskirchen außerhalb der offiziellen protestantischen Kirche agieren höchst erfolgreich, so dass aktuelle Schätzungen die Zahl der Protestanten auf mindestens 30 Millionen ansetzen, mit rasch steigender Tendenz. Dies wären zwar nur etwas mehr als 2% der Gesamtbevölkerung (ca. 3%, wenn man die Katholiken dazuzählt), aber die zugrunde liegende Änderung in den Rahmenbedingungen der Mission gaben in der jüngsten Zeit Anlass zu optimistischen Prognosen für das chinesische Christentum in südkoreanischen Größenordnungen (wo Christen ca. ein Viertel der Bevölkerung ausmachen). Die wichtige Rolle des soziokulturellen Umfelds ist auch ersichtlich in den wesentlich höheren Bekehrungsraten unter chinesischen und taiwanischen Auswanderern z.B. in den USA, wo 20–25% der taiwanischen Immigranten zum Christentum übertreten.12 Auch unter chinesischen Einwanderern aus der VR China verzeichnen Kirchen deutliche Missionserfolge. Bei beiden Gruppen dominieren chinesischsprachige Gemeinden, die nicht nur den neuen Glauben vermitteln und stützen, sondern auch soziale Netzwerke und kulturelle Identitätspflege anbie12 CHEN, Carolyn, Getting Saved in America. Taiwanese Immigration and Religious Experience, Princeton 2008, 2.

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ten.13 Die 1400-jährige Geschichte des Christentums in China ist also noch lange nicht zu Ende erzählt; es scheint vielmehr gerade ein völlig neues Kapitel zu beginnen.

2.2 Islam Wie das Christentum hatte auch der Islam die Spannung zwischen kultureller Integration und Bewahrung der eigenen Identität auszuhalten. Wie wir gesehen hatten, kam der Islam mit vorder- und zentralasiatischen Händlern bereits in der Tang-Zeit in China an; für das Jahr 651 ist eine Gesandtschaft des 3. Kalifen an den Kaiserhof in Chang’an verzeichnet. Die Religion verbreitete sich weniger durch aktive Mission unter den Chinesen als durch die Niederlassung persischer, arabischer und zentralasiatischer Kaufleute in China, die sich allmählich akkulturierten, den Glauben ihrer Vorfahren jedoch beibehielten. Während der Yuan-Zeit erhielten Muslime gesellschaftliche Privilegien und eine große Zahl von muslimischen Söldnern und Experten stand in mongolischen Diensten. Auch in den folgenden Ming- und Qing-Dynastien hatte der sunnitische Islam eine sichtbare Präsenz mit seinen (im chinesischen Stil gestalteten) Moscheen und bedeutenden muslimischen Staatsmännern, Künstlern, Wissenschaftlern und Heerführern. So war z.B. der Admiral Zheng He (1371–1433), der in den Jahren 1405–1433 die berühmten See-Expeditionen der Ming-Dynastie nach Südostasien, Arabien und Afrika leitete, Muslim. Wenn auch die weitaus meisten Muslime in China Sunniten der hanafitischen Rechtstradition waren (und sind), so war die muslimische Gemeinschaft doch weder ethnisch noch religiös homogen und umfasste verschiedene Schulrichtungen und Sufi-Orden. Wie die Jesuiten stellte auch die muslimische Elite Überlegungen zur Harmonisierung ihrer monotheistischen Offenbarungsreligion mit den Lehren des Konfuzius an, was Voraussetzung für den Erfolg muslimischer Kandidaten in den Beamtenprüfungen war.14 13 GUEST, Kenneth J., God in Chinatown. Religion and Survival in New York’s Evolving Immigrant Community, New York 2003. 14 BENITE, Zvi Ben-Dor, The Dao of Muhammad. A Cultural History of Muslims in Late Imperial China, Cambridge, MA 2005.

Christentum und Islam

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Dennoch gelang es der Lehre Mohammeds so wenig wie dem Christentum, ein organischer Bestandteil der chinesischen Religionsgeschichte zu werden. Grundlegende theologische Unverträglichkeiten und die spezifisch muslimischen Anforderungen an den Lebensstil seiner Anhänger schufen kulturelle Barrieren, welche selbst die akkulturiertesten Anhänger des Islams als „anders“ kennzeichnete. Muslim (Hui oder Huihui) und Han-Chinese waren zwei separate Identitäten; diese Trennung besteht heute im Rechtswesen der VR China weiter, wo die Hui eine der 55 anerkannten nationalen Minderheiten sind. Dies ist nicht nur eine Außenwahrnehmung seitens der Han. „Hui“ ist ein Ethnonym, mit dem sich chinesische Muslime identifizieren und das auch zu ihrer politischen Mobilisierung eingesetzt werden kann. Ein Beispiel sind die diversen Rebellionen in muslimischen Gebieten gegen Ende der Qing- und während der Republikzeit, welche versuchten, autonome, islamisch verfasste Gemeinwesen zu bilden.15 In der VR China leben heute nach offiziellen Angaben mindestens 20 Millionen Muslime, von denen knapp die Hälfte den chinesischsprachigen Hui zugerechnet werden und der Rest neun anderen muslimischen Minderheiten, von denen die größte Gruppe die turksprachigen Uighuren in der Autonomen Region Xinjiang sind. Anders als das Christentum wächst der chinesische Islam mehr durch die Bevölkerungsvermehrung seiner Anhänger als durch aktive Mission, was wohl mit dem engen Zusammenhang zwischen religiöser und ethnischer Identität zu tun hat, welcher die Bekehrung von Han-Chinesen behindert und den Missionseifer unter den Hui dämpft.16

15 ATWILL, David G., The Chinese Sultanate. Islam, Ethnicity, and the Panthay Rebellion in Southwest China, 1856–1873, Stanford 2005. 16 ISRAELI, Raphael, Muslims in China, London 1978; GLADNEY, Dru C., Muslim Chinese. Ethnic Nationalism in the People’s Republic, Cambridge, MA 1991; ALLÈS, Elisabeth, Musulmans de Chine. Une anthropologie des Hui du Henan, Paris 2000; LESLIE, Donald Daniel, YANG Daye und YOUSSEF, Ahmed, Islam in Traditional China. A Bibliographical Guide, Sankt Augustin 2006.

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3. Religion und Sozialstruktur Dieser Abschnitt befasst sich mit der Volksreligion als dem religiösen Leben jenseits der mehr oder weniger klar definierten und benannten Religionstraditionen. Häufig wird der Oberbegriff „Volksreligion“ als eine Art Restsumme nach Abzug der Drei Lehren von Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus behandelt. Dies ist nicht der Ansatz, der hier verfolgt werden soll. Volksreligion meint hier die gelebte Religion von in verschiedener Weise definierten Kollektiven (z. B. Sippen, Dörfern, Gilden und Berufsgemeinschaften); diese Religion ist weder identisch mit den Drei Lehren noch radikal von ihnen geschieden. Sie ist vielmehr die soziokulturelle Arena, in welcher Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus in mannigfaltiger Weise mit weniger (institutionell und kanonisch) ausdifferenzierten, deswegen aber nicht minder gewichtigen Elementen der chinesischen Religionsgeschichte interagieren.17 Hier sind z. B. die Ahnenverehrung, Seelenvorstellungen und schamanistische Praktiken der Kommunikation mit der Welt der Götter und Geister zu nennen. Die folgenden fünf Abschnitte befassen sich zunächst mit (1.) Grundelementen der religiösen Weltsicht, sowie daraufhin mit (2.) Familie, (3.) örtlicher Gemeinschaft und (4.) dem Staat als Foren religiösen Lebens. Sofern nicht anders vermerkt, liefert die Darstellung ein idealtypisches Bild der traditionellen Religion, das allgemeine Gültigkeit für viele Regionen Chinas beansprucht, jedoch deutlichen regionalen Variationen unterworfen ist. Der zeitliche Rahmen (wiederum, falls nicht anders vermerkt) ist der der späten Kaiserzeit (Ming- und Qing-Dynastien) und ihres religiösen Echos im 20. Jh., wie es aus Feldforschungen auf dem chinesischen Festland vor 1949 und überwiegend außerhalb davon nach 1949 dokumentiert ist. Wie wir im historischen Überblick sahen, nahm diese Volksreligion ungefähr ab der Song-Zeit Formen an, die klare Kontinuitäten mit heute noch bestehenden Phänomenen besitzen. Damit soll betont werden,

17 Zu Verwendung und Bedeutung des Volksreligionsbegriffs in der chinesischen Religionsforschung siehe CLART, Philip, The Concept of “Popular Religion” in the Study of Chinese Religions. Retrospect and Prospects, in WESOLOWSKI, Zbigniew (Hg.), The Fourth Fu Jen University Sinological Symposium. Research on Religions in China. Status quo and Perspectives, Xinzhuang 2007, 166–203.

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dass die Volksreligion keine zeitlose und wandlungsfreie Sphäre der Traditionalität, sondern vielmehr Produkt historischer Prozesse ist und sich weiterhin wandelt und entwickelt.

3.1 Götter, Geister, Ahnen und Kosmos Während der Zeit der Streitenden Reiche bildete sich eine Kosmologie heraus, deren Grundelemente bis ins 21.Jh. einflussreich blieben. Yin und yang, die Fünf Wandlungsphasen, die zehn Himmelsstämme und zwölf Erdzweige, die acht Trigramme und 64 Hexagramme des Buches der Wandlungen seien nur als die wichtigsten Symbolkategorien genannt, welche Grundlagen der in dieser Periode und der nachfolgenden Han-Zeit sich herausbildenden korrelativen Kosmologie waren. Sie begründeten die Naturgesetzlichkeit eines rational erfassbaren Kosmos und ermöglichten die Entwicklung von „Wissenschaften“, welche die kosmischen Kräfte zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft einzusetzen suchten. Korrelative Kosmologie diente als Paradigma für Medizin, Astronomie/Astrologie, Landwirtschaft, Alchemie und diverse mantische Künste. Unter letzteren soll exemplarisch die Geomantik dargestellt werden, da sie die Rolle und Wirkung der Vorstellung eines von unpersönlichen und regelhaften Kräften und Abläufen charakterisierten Kosmos im religiösen Leben gut veranschaulicht. Die Geomantik analysiert die in Raum und Landschaft verlaufenden Kraftlinien, um menschliche Behausungen so zu situieren, dass sie aus diesen Kräften Nutzen ziehen und nicht geschädigt werden. Die früheste erhaltene Abhandlung über diese Kunst, die im Chinesischen fengshui („Wind und Wasser“) genannt wird, stammt aus dem frühen 4.Jh., also der Zeit der zwischen der Han- und Tang-Dynastie. Sie entwickelte im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Schulen und Ansätze zur Berechnung der Kräftekonstellationen an gegebenen Örtlichkeiten, mal unter Benutzung eines geomantischen Kompasses, mal durch Untersuchung der gegebenen topographischen Formationen. Geomantische Analysen waren notwendig bei der Errichtung aller Bauwerke, einschließlich und besonders bei der Anlage von Gräbern. Eine geomantisch günstige Grabstelle war nach Süden (yang) orientiert und gegen Norden (yin) durch eine Erhöhung (Berghang, Hügel) geschützt, dessen Ausläufer

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sie östlich und westlich schützend umfassen. Ein Wasserlauf sollte sich in einiger Entfernung südlich des Grabes befinden.18 Eine solche Lokalität konzentriert positive Energien im Grab, welche sowohl dem hier begrabenen Ahnen wie auch seinen Nachkommen nutzen. Unzählige Legenden erzählen von dem Segen in Form von Reichtum, Kindern und Prüfungserfolg, der den guten geomantischen Qualitäten der Ahnengräber geschuldet ist. Umgekehrt können Misserfolge und Unglück auch nachteiliger Gräbergeomantik zugeschrieben und durch eine Umbettung der Vorfahren korrigiert werden.19 Die Geomantik war nie unumstritten; manche Neokonfuzianer der Song-Zeit kritisierten diese Kunst wegen der durch sie verursachten, den Bestimmungen der Ritenklassiker widersprechenden Verzögerungen bei der Bestattung der Verstorbenen. Insbesondere verdammten sie das zugrunde liegende Profitmotiv, das hier Vorrang vor den Anforderungen der Kindespietät erhielt.20 Selten wurde jedoch die zugrunde liegende Kosmologie in Frage gestellt und professionelle Geomantiker waren häufig Männer, die bei den Beamtenprüfungen gescheitert waren und ihre klassische Bildung anderweitig zu Markte tragen mussten. Die Geomantik und viele andere Methoden der Divination und kosmologischen Analyse boten Ersatzkarrieren für die große Mehrzahl konfuzianisch gebildeter Männer, die vom Beamtenapparat der kaiserlichen Staatsverwaltung nicht absorbiert werden konnten.21 Bis zum heutigen Tag haftet dem Geomantiker wie auch den Ausübenden anderer Divinationstechniken die Aura traditioneller Gelehrsamkeit an, aus welcher sich ihre Autorität nährt.22 Die Geomantik basiert auf einer abstrakten Kosmologie, 18 FEUCHTWANG, Stephan, An Anthropological Analysis of Chinese Geomancy, Vientiane 1974; BRUUN, Ole, Fengshui in China. Geomantic Divination Between State Orthodoxy and Popular Religion, Honolulu 2003; FIELD, Stephen L., Ancient Chinese Divination, Honolulu 2008. 19 AHERN, Emily M., The Cult of the Dead in a Chinese Village, Stanford 1973. 20 EBREY, Patricia, Sung Neo-Confucian Views on Geomancy, in BLOOM, Irene und FOGEL, Joshua A. (Hg.), Meeting of Minds. Intellectual and Religious Interaction in East Asian Traditions of Thought, New York 1997, 75–107; LIAO Hsien-hui, Exploring Weal and Woe. The Song Elite’s Mantic Beliefs and Practices, T’oung Pao 91.4–5 (2005): 347–395. 21 SMITH, Richard J., Fortune-Tellers and Philosophers. Divination in Traditional Chinese Society, Boulder, CO, 1991. 22 SEAMAN, Gary, Only Half-Way to Godhead. The Chinese Geomancer as Alchemist and Cosmic Pivot, Asian Folklore Studies 45 (1986): 1–18.

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welche das Schicksal von Individuen und Kollektiven in komplexe, aber kalkulierbare Kraftfelder und zeitliche Abläufe einordnet. Dies macht das Schicksal zu einer berechenbaren Größe, zumindest für den Experten in den mantischen Wissenschaften (Wahrsager, Astrologe, Physiognomist usw.), der seine Dienste gegen Honorar dem Laien zur Verfügung stellt. Wenn auch ein genaueres kosmologisches Verständnis dem Laien nicht direkt zugänglich ist, so sind doch die Grundbegriffe des Systems allgemein bekannt und als real und effektiv akzeptiert. Ein zentraler Ausdruck dieses Aspektes der traditionellen Weltanschauung ist der Almanach, ein Kalender des traditionellen Mondjahres, welcher für jeden Tag des Jahres die Kräftekonstellationen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Alltag angibt. So könnte er z. B. für einen bestimmten Tag anzeigen, dass es glücksverheißend sei, ein Studium zu beginnen, zu verreisen oder zu heiraten, dass man es aber vermeiden sollte, einen Herd aufzustellen oder Opfer darzubringen. Darüber hinaus enthält der Almanach Informationen über religiöse Feste, Grundregeln von Astrologie und Physiognomie und praktisches Referenzwissen für den Alltag.23 Almanach und Geomantik zusammen zeigen, dass dieser Kosmos sowohl räumliche wie zeitliche Strukturen besitzt und die Einbettung von Individuum und Kollektiv in beiden Dimensionen großen Einfluss auf ihr Geschick hat. Eine weitverbreitete Methode der Wahrsagung beruht auf den sogenannten „Acht zyklischen Zeichen“ (bazi ), welche Stunde, Tag, Monat und Jahr der Geburt beschreiben. Als genauer Zeitpunkt der ersten Lokalisierung des Individuums im kosmischen Netzwerk sind die Acht Zeichen Grundlage aller professionellen Schicksalskalkulation.24 Die kosmologische Perspektive wird ergänzt durch eine Blickweise, die den Kosmos als nicht nur von unpersönlichen Kräften strukturiert, sondern auch von einer Vielzahl von unsichtbaren, jedoch personalen Kräften bevölkert sieht. Diese werden üblicherweise in die drei großen Kategorien von Göttern, Geistern und Ahnen geschieden.25 Allen 23 PALMER, Martin, T’ung Shu. The Ancient Chinese Almanac, Boston 1986. 24 CHAO, Wei-pang, The Chinese Science of Fate-Calculation, Folklore Studies 5 (1946): 279–315; BAPTANDIER, Brigitte, Le Rituel d’Ouverture des Passes. Un concept de l’enfance, L’Homme, no.137 (1996): 119–142. 25 JORDAN, David K., Gods, Ghosts, and Ancestors. The Folk Religion of a Taiwanese Village, Berkeley 1972; WOLF, Arthur P., Gods, Ghosts, and Ancestors, in

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Wahrsager, Qingdao, ca. 1908. Photo: Paul Prasser.

dreien ist gemeinsam, dass sie menschlichen Ursprungs sind, worin sie sich klar von den höchsten Göttern des Daoismus unterscheiden, welche Hypostasen astraler Energien und kosmischer Pneumata sind. Die Geistwesen der Volksreligion sind der Menschenwelt enger verbunden, waren sie doch in der Regel selbst einst menschlich. Am einfachsten ist diese Vorstellung am Beispiel der Ahnen zu verstehen, welche nach dem Tod als Geistwesen weiterexistieren und am Familienleben teilnehmen. Geister sind wie die Ahnen Totenseelen, die jedoch anders als diese keine Nachkommen haben, welche sie mit regelmäßigen Opfern versorgen könnten. Heimatlos und hungrig schweifen sie umher und verursachen mancherlei Missgeschick und Unglück. Ahnen können leicht zu Geistern werden, wenn ihre Nachkommenschaft ausstirbt oder sich weigert, die Ahnenopfer fortzusetzen. Die Vernachlässigung der Ahnenopfer ist beispielsweise ein Standardelement der anti-christlichen Rhetorik und manche Geschichte wird erzählt von den Heimsuchungen neuer Christen durch ihre nun zur Geisterexistenz verdammten Ahnen. Wenn Ahnen in die Ränge der Geister abgleiten können, können Geister umgekehrt aber auch in den Status von Ahnen aufsteigen; Familien haben die Möglichkeit, ein ohne Nachkommenschaft verstorbenes männliches Mitglied nachträglich zum Ahnen zu machen, indem ihm ein Mitglied der jüngeren Generation pro forma als AdopWOLF, Arthur P. (Hg.), Religion and Ritual in Chinese Society. Stanford 1974, 131–182.

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tivsohn zugewiesen wird. Der posthume „Sohn“ wird im Ausgleich für die ihm nun zugewiesenen Opferpflichten zum Haupterben des Verstorbenen, womit das wichtige Thema der Reziprozität zwischen Ahnen und Nachkommen zum Ausdruck kommt. Während die konfuzianischen Klassiker die kindliche Pflicht zum Ahnenopfer aus der niemals zu erschöpfenden Dankbarkeit des Sohnes für das elterliche Geschenk seines Lebens herleiten, kennt die volksreligiöse Praxis komplexere Reziprozitätsabwägungen, in denen religiöse Pflichten eng mit den erbrechtlichen Beziehungen zwischen den Generationen korrelieren.26 Im Falle unverheirateter Frauen kann eine posthume Ehe geschlossen werden, um der Seele der Verstorbenen Nachkommen zu verschaffen, die ihr als Ahnin opfern.27 Die häufigere Methode, mit problematischen Geistern umzugehen, ist, sie durch Opfer zu besänftigen. Dies geschieht alltäglich durch Darbringung von Weihrauchopfern außerhalb des Hauses und periodisch durch von Buddhisten oder Daoisten abgehaltene aufwändige Rituale zur Speisung der hungrigen Geister. Diese finden vor allem im siebten Mondmonat statt (dem „Geistermonat“) und werden von Ortsgemeinden unter finanzieller Beteiligung aller Anwohner organisiert. Vielerorts findet man auch permanente Schreine für Geister, die von der Gemeinde unterhalten werden und der Besänftigung dieser potentiell gefährlichen Elemente der Parallelwelt dienen. Manchmal erwerben sich solche Schreine den Ruf wundersamer Wirksamkeit, wenn dort vorgebrachte Wünsche und Gebete sich erfüllen. Erweist sich ein Geist solchermaßen als wirkmächtig und geneigt, seine Kräfte zugunsten der Lebenden einzusetzen, kann er sich mit der Zeit in eine Gottheit verwandeln und sein Schrein zum Tempel werden.28 Untersucht man die 26 WOLF, Arthur P., Chinese Kinship and Mourning Dress, in FREEDMAN, Maurice (Hg.), Family and Kinship in Chinese Society, Stanford 1970, 189–207. 27 JORDAN, D., Two Forms of Spirit Marriage in Rural Taiwan, Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 127 (1971): 181–189; MARTIN, Diana, Chinese Ghost Marriage, in BAKER, Hugh D. R. und FEUCHTWANG, Stephan (Hg.), An Old State in New Settings. Studies in the Social Anthropology of China in Memory of Maurice Freedman, Oxford 1991, 25–43. 28 HARRELL, C. Stevan, When a Ghost Becomes a God, in WOLF, Arthur P. (Hg.), Religion and Ritual in Chinese Society, Stanford 1974, 193–206; WELLER, Robert P., Resistance, Chaos, and Control in China. Taiping Rebels, Taiwanese Ghosts, and Tiananmen, Seattle 1994.

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Legenden der volksreligiösen Götter, so findet man in vielen Fällen, dass eine Gottheit als nachkommenlose Totenseele begann, die sich als wunderkräftig erwies und so die Aufmerksamkeit der Gläubigen auf sich zog. Eine der wichtigsten Gottheiten Taiwans (wie auch anderer Regionen vor allem im Süden und Südosten Chinas) ist Mazu, auch bekannt unter dem ihr im 17. Jh. von einem Qing-Kaiser verliehenen Titel „Himmelskaiserin“ (Tianhou). Sie war die Tochter eines Fischers in der südöstlichen Provinz Fujian, die jung (jungfräulich) starb und nach ihrem Tode zur Schutzpatronin der Fischer aufstieg. Siedler aus Fujian brachten ihren Kult nach Taiwan mit, wo ihr heutzutage mehr als 1300 Tempel geweiht sind und die alljährlichen Feiern zu ihrem Geburtstag im dritten Mondmonat Anlass zu aufwändigen Pilgerfahrten und mehrtägigen Straßenfesten sind.29 Der entscheidende Faktor bei der Entstehung ist die Reputation der Wirkkräftigkeit (ling ); solange eine Gottheit ling ist, erhält sie reichhaltige Opfer und es werden ihr prächtige Tempel gebaut.30 Schwindet diese Reputation aber, bleiben die Gläubigen aus und die Tempel verfallen. Auch hier herrscht also ein reziprokes Verhältnis von Göttern und Menschen, indem jede Seite auf die andere angewiesen ist. Die drei Kategorien von Göttern, Geistern und Ahnen werden rituell klar unterschieden: Ihnen werden verschiedene Typen von Speiseopfern und „Papiergeld“ dargebracht und ihr Kult findet an verschiedenen Lokalitäten mit unterschiedlichen Ausgangserwartungen statt.31 29 WIETHOFF, Bodo, Der staatliche Ma-tsu Kult, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 116.2 (1966): 311–357; WATSON, James L., Standardizing the Gods. The Promotion of T’ien Hou (‘Empress of Heaven’) Along the South China Coast, 960–1960, in JOHNSON, David, NATHAN, Andrew J. und RAWSKI, Evelyn S. (Hg.), Popular Culture in Late Imperial China. Diversity and Integration, Berkeley 1985, 292–324; SANGREN, P. Steven, History and the Rhetoric of Legitimacy. The Mazu Cult of Taiwan, Comparative Studies in Society and History 30 (1988): 647–97; WÄDOW, Gerd, T’ien-fei hsien-sheng lu. Die Aufzeichnungen von der manifestierten Heiligkeit der Himmelsprinzessin, Sankt Augustin 1992; PENNARZ, Johanna, Mazu, Macht und Marktwirtschaft, München 1992. 30 SANGREN, P. Steven, History and Magical Power in a Chinese Community, Stanford 1987. 31 Zum Papiergeld als charakteristischem Opfergut der chinesischen Volksreligion siehe HOU, Ching-Lang, Monnaies d’offrande et la notion de trésorerie dans la religion chinoise, Paris 1975; SEAMAN, Gary, Spirit Money. An Interpretation,

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Rituelle Handlungen können somit vom Feldforscher als Ausdruck einer „impliziten Theologie“ interpretiert werden, selbst wenn diese von den Ausführenden nicht explizit konzeptualisiert wird. Die ethnologische Forschung korreliert die drei Typen von Geistwesen mit drei Sphären sozialer Erfahrung von Macht in der traditionellen Gesellschaft, wobei die Ahnen für Sippe und Familie stehen, die Götter für die öffentliche Ordnung von Staat und Territorialgemeinschaft und die Geister für die Kräfte der Strukturlosigkeit oder Gegenstruktur, mal mitleidserregend wie Ausgestoßene und Bettler, mal bedrohlich wie Banditen und Marodeure. Diese relativ klare Dreierstruktur gestaltet sich jedoch in Wirklichkeit wesentlich komplexer und wandelt sich zusammen mit sozialen Strukturen und Erfahrungen. So hat eine Studie z.B. gezeigt, dass sich in Nordtaiwan die Wahrnehmung der Geister vom 19. Jh. bis zum späten 20. Jh. deutlich gewandelt hat. Die Kategorie hatte stets Bestand, aber ihr Inhalt verschob sich. Reflektierten unter den politisch und sozial unsicheren Bedingungen in der zweiten Hälfte des 19.Jh. die Geister die gefährlichen Außenseiter in Form von Banditen und rivalisierenden Milizen, so nahmen sie unter friedlicheren Bedingungen die Züge von Bettlern und anderen machtlosen Modernisierungsverlierern an.32 Die Parallelisierung der Götter mit den politischen Hierarchien des Staates scheint auf den ersten Blick sehr plausibel, hat das Pantheon doch deutlich bürokratische Züge. Götter werden als himmlische Beamte angesehen und behandelt und sind in einer Hierarchie organisiert, die vom lokalen Erdgott über die Stadtgötter durch diverse himmlische Ministerien bis hinauf zum Jadekaiser reicht. Dennoch ist diese „bürokratische“ oder „kaiserliche Metapher“33 nur ein Teil des Gesamtbildes.34 Die wichtige Rolle weiblicher Gottheiten passt z. B. nicht zu dieser Metapher, da Frauen von den staatlichen Machtstrukturen ausgeschlossen waren. Dies heißt aber nicht, dass sie unbedingt machtlos waren, sondern lediglich, dass sie Journal of Chinese Religions 10 (1982): 80–91; SCOTT, Janet Lee, For Gods, Ghosts, and Ancestors. The Chinese Tradition of Paper Offerings, Seattle 2007. 32 WELLER, Robert P., Unities and Diversities in Chinese Religion, Seattle 1987. 33 FEUCHTWANG, Stephan, Popular Religion in China. The Imperial Metaphor, Richmond, Surrey, 2001. 34 HYMES, Robert, Way and Byway. Taoism, Local Religion, and Models of Divinity in Sung and Modern China, Berkeley 2002.

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ihre Macht in informellen und parallelen Strukturen ausüben mussten. Nicht selten besaßen Kaiserinnen oder Kaiserinwitwen durchaus reale, wenn auch nicht offizielle Macht am Hofe. Im Rahmen der Familie war der Einfluss der älteren weiblichen Generation oft größer als die des Paterfamilias. Die Realität weiblicher Macht und ihre qualitativen Unterschiede zur öffentlich anerkannten männlichen Autorität spiegeln sich in Eigenheiten der weitverbreiteten Kulte für Göttinnen wider.35 Neben weiblichen Gottheiten kompliziert auch die große Zahl unorthodoxer, eindeutig nicht-bürokratischer Götter das Bild. Sie repräsentieren subversive Kräfte und die Hoffnung des Individuums auf Quellen von Sinn und Macht jenseits der engen Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung. Dementsprechend wurden und werden solche Gottheiten häufig von sozial marginalen Gruppen verehrt oder stehen im Mittelpunkt von Kulten, die auf die religiösen wie materiellen Bedürfnisse von Individuen und besonderen Interessengruppen abstellen.36 Die beiden Aspekte der volksreligiösen Weltsicht, abstrakter Kosmos und personalisierte Sphäre der Götter, Geister und Ahnen ergänzen sich, indem der Kosmos sozusagen die Bühne stellt, auf der die Akteure ihre Rollen spielen. Die Bühne und die Regeln des Theaters legen dem Drama ihre Beschränkungen auf, aber die Schauspieler, seien es Götter oder Menschen, Geister oder Ahnen, haben immer noch viel Spielraum, ihre Rollen zu entwickeln und neue Wendungen zu improvisieren. Mit diesem Bild möchte ich meine Skizze der volksreligiösen Vorstellungswelt abschließen und überleiten zu ihren konkreten Manifestationen in Familie und Ortsgemeinde.

3.2 Familie Die konfuzianische Tradition betrachtet die Familie als Grundeinheit der Gesellschaft und als den primären Kontext der Sozialisation ihrer 35 SANGREN, P. Steven, Female Gender in Chinese Religious Symbols. Kuan Yin, Ma Tsu, and the “Eternal Mother”, Signs 9 (1983): 4–25. 36 DEBERNARDI, Jean, The God of War and the Vagabond Buddha, Modern China 13.3 (1987): 310–332; SHAHAR, Meir und WELLER, Robert P. (Hg.), Unruly Gods. Divinity and Society in China, Honolulu 1996.

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Mitglieder. Drei der fünf Grundbeziehungen sind familiärer Natur (Vater/Sohn, Ehemann/Ehefrau, älterer/jüngerer Bruder) und die Kindespietät ist die Zentraltugend, aus der andere erwachsen. So ist der respektvolle Gehorsam gegenüber den Eltern der Quell, aus dem Loyalität gegenüber dem Herrscher entspringt. Letzterer wiederum hat die elterliche Fürsorgepflicht für seine Untertanen, so dass das ideale Staatswesen quasi-familiären Charakter besitzt. Eine konventionelle Preisung des fähigen Lokalmagistraten war, dass er „dem Volk Vater und Mutter“ sei. Wie die klassischen Ritentexte zeigen, bestand die Familie nie lediglich aus ihren lebenden Mitgliedern, sondern bezog stets auch eine nach dem sozialen Rang abgestufte Zahl von Ahnengenerationen mit ein, denen die lebenden Nachkommen Opfer schuldeten. Trotz mancher Kontinuität in den familiären Wertvorstellungen durchlief die Sozialstruktur der Familie vielerlei Wandlungen. Was als traditionelle Familienstruktur im 20 Jh. angesehen wurde, hatte ungefähr ab der SongZeit Gestalt angenommen.37 In ihrer komplexesten Form trat sie als „Lineage“ auf, ein Verbund mehrerer Abstammungslinien, die sich auf einen Gründerpatriarchen vor mehreren Generationen zurückführten. Die größte Autorität kam der Hauptlinie zu, die in direkter Deszendenz vom Patriarchen (also durch seinen ältesten Sohn, dessen ältesten Sohn usw.) abstammte. Nebenlinien leiteten sich von den jüngeren Söhnen, Enkeln, Urenkeln usw. her. Die traditionelle Lineage hatte korporativen Charakter, besaß also kollektives Eigentum (meist Land), dessen Erträge der Lineage als ganzer zugute kommen sollten. Aus den daraus gespeisten Lineagefonds wurde u. a. die Ausbildung vielversprechender Sprösslinge finanziert – eine lohnende Investition, falls es diesen gelingen sollte, die Beamtenprüfungen zu bestehen und ein lukratives Amt zu ergattern. Ein weiterer wichtiger Kostenfaktor war die Unterhaltung des Ahnentempels der Lineage, in welchem die Seelentafeln hierarchisch arrangiert und auf die zentrale Tafel des Gründerpatriarchen hin ausgerichtet waren. Der Tempel stellte also eine Art genealogische Präsentation dar, die nicht unbedingt die biologischen Abstammungsverhältnisse getreu widerspiegelte, sondern die internen 37 EBREY, Patricia und WATSON, James L. (Hg.), Kinship Organization in Late Imperial China, 1000–1940 Berkeley 1986; SZONYI, Michael, Practicing Kinship. Lineage and Descent in Late Imperial China, Stanford 2002.

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Machtverhältnisse in der Lineage. Feierliche Opfer wurden im Ahnentempel mehrmals im Jahr abgehalten, wobei der rituelle Kalender regional stark variierte. Die Opferzeremonien folgten den in Ritualhandbüchern normierten konfuzianischen Mustern und wurden von Sippenmitgliedern ohne Einbeziehung buddhistischer oder daoistischer Priester zelebriert. Der berühmte Neokonfuzianer Zhu Xi hatte selbst solch ein Handbuch für Familienrituale verfasst, welches Vorbildfunktion für zahlreiche weitere in den folgenden Dynastien haben Ahnentafel, 19.Jh. sollte.38 Die Ahnenriten stifteten IdentiMuseum of Anthropology, Unität und Zusammenhalt im Inneren der versity of Missouri-Columbia Lineage und demonstrierten Einheit und Macht nach außen. Große und wohlhabende Lineages dominierten in vielen Regionen als Grundbesitzer und Gentryfamilien die örtliche Gesellschaft.39 Allerdings war das Lineagemodell nicht überall vorherrschend; im spät besiedelten und erst allmählich landwirtschaftlich erschlossenen Taiwan z. B. konnten sich komplexe Lineages nur an manchen Orten und unter bestimmten Bedingungen entwickeln. Stattdessen etablierten sich vielerorts erweiterte Familienverbände ohne korporiertes Eigentum und damit auch ohne aufwändige Ahnentempel.

38 EBREY, Patricia, Confucianism and Family Rituals in Imperial China. A Social History of Writing about Rites, Princeton 1991; EBREY, Patricia, Chu Hsi’s Family Rituals. A Twelfth-century Chinese Manual for the Performance of Cappings, Weddings, Funerals, and Ancestral Rites, Princeton 1991. 39 Ein gutes Beispiel einer komplexen Lineage in Hongkong gibt BAKER, Hugh D.R., A Chinese Lineage Village. Sheung Shui, London 1968. Die Variabilität der Verwandtschaftsorganisationen in Taiwan wird in den Studien von Pasternak und Ahern thematisiert: PASTERNAK, Burton, Kinship & Community in Two Chinese Villages, Stanford 1972; AHERN, Emily M., The Cult of the Dead in a Chinese Village, Stanford 1973.

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Unabhängig von der Größe und Komplexität der Familienstruktur jedoch bestehen einige grundlegende Kontinuitäten im familiären religiösen Leben. Passageriten wie Großjährigkeitszeremonien, Hochzeiten, Begräbnisse und Ahnenverehrung sowie jahreszeitliche Feste wurden auch von den kleinsten Verwandtschaftsgruppen beachtet und zeigen (bei aller regionalen Variabilität) einige deutliche Kontinuitäten. Betrachten wir daher einige Elemente des religiösen Lebens eines traditionellen Haushaltes. Die täglichen religiösen Verrichtungen konzentrieren sich auf den Hausaltar, der die Bilder oder Statuetten der häuslichen Schutzgötter sowie die Seelentafeln der Ahnen enthält. In der Regel ist es Aufgabe der Ehefrau des ältesten Sohnes, die Ahnentafeln und die Götter allmorgendlich mit frischen Tassen Tee und Weihrauchstäbchen zu versehen; häufig wird Weihrauch auch an der Hintertür zur Besänftigung herumlungernder Geister dargebracht. Besondere Speiseopfer werden an Todestagen einzelner Ahnen, bei jahreszeitlichen Festen (z. B. dem Neujahrsfest) und bei der Feier familiärer Passageriten (z.B. Hochzeiten) dargebracht. Ein wichtiger jährlicher Anlass der Ahnenverehrung ist das Qingming-Fest am 5. April, zu dem Familien die Gräber ihrer Ahnen säubern und dort Opfer darbringen. All diese Rituale werden von den Familienmitgliedern selbst vollzogen, in der Regel ohne Hinzuziehung von Experten. Der einzige Teil des Ahnenkultes, bei dem Priester und andere Ritualexperten hinzugezogen werden, ist der Komplex von Praktiken, der mit Tod, Trauer und Bestattung zusammenhängt. Wahrsager und Geomantiker helfen, Bestattungsort und -zeit zu wählen; buddhistische oder daoistische Priester zelebrieren Rituale, welche den Weg der Seele des Verstorbenen durch die Unterwelt begleiten und erleichtern; konfuzianische Ritualisten (lisheng ) fungieren als Zeremonienmeister; speziell engagierte Theatergruppen führen auf Wanderbühnen Stücke auf, welche die Rituale der Priester ergänzen. Ein häufig aufgeführter Teil des großen Repertoires an sogenannten „rituellen Opern“ sind Stücke, welche die Geschichte des buddhistischen Mönches Mulian erzählen, welcher in die Unterwelt hinabstieg, um seine verstorbene Mutter aus den Fängen ihrer Folterer zu befreien.40 40 JOHNSON, David (Hg.), Ritual Opera – Operatic Ritual. ‘Mu-lien Rescues His Mother’ in Chinese Popular Culture, Berkeley 1987.

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Neben den fundamentalen Ahnenriten wird das religiöse Leben auch von der Verehrung diverser Gottheiten bestimmt. Häufig teilen sich die Ahnen den Hausaltar mit diversen Schutzgottheiten, die in der Regel aufgrund persönlicher Vorlieben und Affinitäten von Familienmitgliedern ausgewählt wurden. Daneben besitzt jeder traditionelle Haushalt ein Bild des Herdgottes, welches sich in der Küche, nahe dem Herd, befindet und welchem dort auch Opfer dargebracht werden. Der Herdgott beaufsichtigt das Familienleben und reist kurz vor Neujahr in den Himmel, um der höchsten Gottheit des volksreligiösen Pantheons, dem Jadekaiser, über Verdienste und Verfehlungen der Familienmitglieder Bericht zu erstatten. Die Verabschiedung des Herdgottes ist Teil des Neujahrsfestzyklus ebenso wie seine Begrüßung mit einem neuen Bildnis bei seiner Wiederkehr im neuen Jahr. Neben dem Herdgott gibt es eine regional variierende Zahl von anderen Haushaltsgöttern wie der „Bettmutter“, den „Herren des Fundamentes“, den Türgöttern, welche die Eingänge bewachen usw. Sie alle haben Anspruch auf regelmäßige Opfergaben und besondere Aufmerksamkeiten zu bestimmten jahreszeitlichen Festen. Der jährliche Festkalender ist voll von rituellen Anlässen, die bei weitem nicht von jedem Haushalt gefeiert werden. Die wichtigsten Feste mit der größten Beachtung im chinesischen Kulturraum sind das schon erwähnte Neujahrs- und das Qingming-Fest. Hinzu kommen das Drachenbootfest am 5. Tag des 5. Mondes, die Opfer für die hungrigen Geister im 7. Mond, das Mittherbstfest im 8. Mond sowie ein weiterer Besuch bei den Ahnengräbern im 10. Mond. Wie man sieht, berechnen sich die meisten dieser Feierlichkeiten nach dem Mondkalender und ihre Daten im Sonnenkalender sind daher variabel. Eine Ausnahme ist das Qingming-Fest, das stets 105 Tage nach der Wintersonnenwende gefeiert wird. Die Spannbreite der Verschiebungen zwischen Mond- und Sonnenkalender wird durch die regelmäßige Einfügung von Schaltmonaten beschränkt. Das Neujahrsfest z. B. verschiebt sich im gregorianischen Kalender von Jahr zu Jahr, allerdings nur in einem Fenster zwischen dem 21. Januar und dem 20. Februar. Der Almanach verzeichnet für jedes Jahr die wichtigsten Festdaten und hilft der Familie so bei Orientierung und Planung.41 Viele dieser Feste 41 Zum Zyklus der jahreszeitlichen Feste siehe BREDON, Juliet & MITROPHANOW, Igor, The Moon Year, a Record of Chinese Customs and Festivals, Shanghai 1927.

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gehen über den Rahmen der Familie hinaus und sind gleichzeitig Anlässe für gemeinschaftliche Feiern, welche die Territorialgemeinschaften und ihre Mitgliedshaushalte integrieren. So endet z. B. das familiäre Neujahrsfest am 15. Tag des 1. Mondes mit dem Laternenfest, in dessen Verlauf viele Familien die lokalen Tempel besuchen, Opfer darbringen und die Götter danach befragen, was das neue Jahr wohl bringen mag.

3.3 Ortsgemeinde Mit Ortsgemeinde ist hier die elementarste Territorialeinheit gemeint, die sich als solche durch ein gemeinschaftliches Kultzentrum definiert. Normalerweise wird dies ein Dorf oder ein Stadtviertel sein, das häufig (wenn auch nicht immer) mit einer amtlichen Verwaltungseinheit zusammenfällt. Hier soll das religiöse Leben solcher Gemeinschaften anhand eines idealtypischen Dorfes dargestellt werden; die ethnographischen Daten stammen im wesentlichen aus Taiwan, sind aber in ihren Grundzügen auch auf andere Regionen im chinesischen Kulturraum anwendbar.42 Religiöser Mittelpunkt des Dorfes ist der Tempel, der in unserem hypothetischen Fall der Göttin Mazu gewidmet ist. Der Kult dieser Gottheit kam bald nach der Gründung des Dorfes als „Ableger“ eines bestehenden Mazu-Kultes im nächstliegenden Marktflecken zustande. Zu diesem Zweck wurde etwas Asche aus dem Weihrauchgefäß des „Muttertempels“ in den neuen Dorftempel überführt. Solche „Weihrauchteilungen“ (fenxiang ) schaffen Hierarchien von Tempelkulten, die sich u.a. in den Routen von Wallfahrten widerspiegeln, während derer Delegationen von Töchtertempeln die ihnen übergeordneten Tempel besuchen und damit die Legitimität und Macht ihrer Gottheiten erneuern. Der Tempel ist stets offen und wird von den Dorfbewohnern nach Bedarf frequentiert; wer immer ein Anliegen hat, kann Weihrauchopfer darbringen und Mazu und die zahlreichen sekundären Gottheiten um ihren Rat fragen. Sie geben diesen Rat mittels zweier Orakelmethoden. Für einfache ja/nein-Antworten kann man 42 Eine vorzügliche allgemeine Einführung in die Religion von Ortsgemeinden bietet GOOSSAERT, Vincent, Dans les temples de la Chine. Histoire des cultes, vie des communautés, Paris 2000.

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zwei halbmondförmige Hölzer zu Boden fallen lassen; je nachdem wie sie fallen, lässt sich daraus die Antwort entnehmen. Bei der anderen Methode zieht man ein nummeriertes Holzstäbchen aus einem zylindrischen Behälter auf Quelle: Justus Doolittle, The Social Life of the Chine- dem Altar. Vom Tempelse, New York 1865. Bd.2, S.108. wächter bekommt man einen gleich nummerierten Zettel mit einem gereimten Orakelspruch, den man für sein Anliegen deuten (lassen) muss.43 Der Publikumsverkehr in einem normalen Dorftempel ist an normalen Tagen eher gering; abends ist der Tempelhof eines der Zentren des sozialen Lebens im Dorf. Hier trifft man sich zum Plausch und zum Schach- oder Kartenspiel. Im Tempel selbst herrscht der lebhafteste Betrieb am 1. und 15. Tag des Mondmonats, also Neumond und Vollmond, die traditionellen Zeiten für einen semi-obligatorischen Tempelbesuch. Die meisten Haushalte im Dorfe schicken an diesen Tagen wenigstens ein Mitglied in den Tempel, um stellvertretend die Götter zu ehren. Dabei beginnt man mit Weihrauchopfern für Mazu, bevor man ihrer Rangordnung gemäß die Nebenaltäre der anderen Gottheiten besucht. Höhepunkt des liturgischen Jahres sind die Feierlichkeiten zu Mazus Geburtstag im dritten Mond, welche sowohl im Ort als auch mit einer Pilgerfahrt zum Muttertempel begangen werden. Verantwortlich für die Organisation dieser Feier ist der sogenannte „Herr des Weihrauchbrenners“ (luzhu ), ein Ehrenamt, das jährlich aufs Neue durch den Wurf der Orakelhölzer vergeben wird. Der luzhu ist verantwortlich für die Planung und Finanzierung des Festes, für das u. a. eine Wandertruppe engagiert wird, die zu Ehren der Gottheit im Tempelhof Opern aufführt. Er muss die Kosten nicht komplett selber tragen, sondern ist ermächtigt, dazu eine Kopfsteuer von jedem Haushalt einzutreiben. 43 BANCK, Werner, Das chinesische Tempelorakel, Taipei 1976; AHERN, Emily Martin, Chinese Ritual and Politics, Cambridge 1981.

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Solche jährlichen Feste erfordern zu ihrer Durchführung daher die Kooperation aller Einwohner und sind somit ein Gradmesser der Solidarität und des Gemeinschaftsgefühls im Dorf. Der Tempel repräsentiert symbolisch die Dorfgemeinschaft und dort abgehaltene kollektive Rituale stärken die Solidarität seiner Gemeinde. Der Tempel wird von einem Komitee von Lokalhonoratioren geleitet, die für das Tagesgeschäft zuständig sind: Sauberhaltung und Reparatur des Tempels, Geldsammeln für bauliche Maßnahmen, Planung von rituellen Aktivitäten usw. Es gibt hier keinen fest angestellten Priester; falls besondere Rituale erforderlich sind, engagiert das Komitee daoistische Priester oder buddhistische Mönche und Nonnen aus der nächsten Kreisstadt.44 In den meisten Jahren zum Beispiel wird eine Gruppe buddhistischer Kleriker bezahlt, um im 7. Mond ein Ritual der universellen Erlösung für die hungrigen Geister abzuhalten.45 Daoistische Priester werden bestellt, wenn Seuchendämonen ausgetrieben werden sollen oder der Tempel einer Erneuerung seiner spirituellen Kräfte bedarf.46 Während der Zweck dieser hochkomplexen Riten dem Tempelvorstand klar ist, verstehen die wenigsten Laien ihre Abläufe im Einzelnen. Buddhistische und daoistische Ritualexperten agieren daher im sozialen Kontext der Volksreligion (und in finanzieller Abhängigkeit von ihren Institutionen), aber mit durchaus divergierenden symbolischen Referenzrahmen.47 Neben dem Mazu-Tempel besitzt ein typisches Dorf noch zwei Erdgottschreine, von denen einer für die Süd-, der andere für die Nordhälfte des Dorfes zuständig ist. Der Erdgott (Tudi Gong) ist der unterste Rang einer göttlichen Bürokratie, welche über den Stadtgott der

44 Anderswo gibt es aber durchaus fest angestellte Kleriker, die vom Tempelvorstand bezahlt werden und ihm gegenüber verantwortlich sind. Siehe z. B. GOOSSAERT, Vincent, The Taoists of Peking, 1800–1949. A Social History of Urban Clerics, Cambridge, MA, 2007. 45 WELLER, Robert P., Unities and Diversities in Chinese Religion, Seattle 1987; TEISER, Stephen F., The Ghost Festival in Medieval China, Princeton 1988. 46 SASO, Michael R., Taoism and the Rite of Cosmic Renewal, Pullman, WA 1972. 47 Zum symbiotischen Verhältnis von Volksreligion einerseits und Buddhisten und Daoisten andererseits siehe JORDAN, David K., The Jiaw of Shigaang (Taiwan). An Essay in Folk Interpretation, Asian Folklore Studies 35(1976)2: 81–107; WELLER, Robert P., Unities and Diversities in Chinese Religion, Seattle 1987.

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Kreisstadt bis hinauf zum göttlichen Äquivalent des Kaisers im traditionellen China, dem Jadekaiser (Yuhuang), reicht. In dieser Hierarchie ist der Erdgott eine Art Dorfbüttel, der für Ordnung in seinem Bezirk sorgt. Ihm werden Geburten und Todesfälle gemeldet und er beschützt seinen Bezirk vor übelwollenden Dämonen und Geistern. Repräsentiert Mazu das Dorf als ganzes, so symbolisiert der Erdgott die Identität seiner jeweiligen Dorfhälfte. Erdgottschreine sind meist klein, mitunter nicht größer als eine Hundehütte, und befinden sich am Wegesrand oder an Kreuzungen unter einem großen Baum. Vielerorts sieht man den Erdgott nicht als eine bestimmte Gottheit, sondern als ein Amt, das von verschiedenen verdienten Seelen eingenommen werden kann. Durch die Séance eines Mediums wird mitunter enthüllt, dass ein zu Lebzeiten verdienter Dorfältester nach seinem Tod zum Erdgott seiner Gemeinde ernannt worden ist. Die Verehrung von chthonischen Gottheiten ist einer der ältesten Aspekte der chinesischen Volksreligion und lässt sich bis ins klassische Altertum zurückverfolgen.48 Diese Skizze zeigt einige wesentliche Züge der typischen Strukturen und Aktivitäten des religiösen Lebens auf lokaler Ebene auf. Hervorzuheben ist seine autonome Organisation: Tempel und kollektive rituelle Ereignisse werden vom Dorf selbst verwaltet und gestaltet. Behörden können durch Gesetze und Verordnungen regulierend in die religiösen Aktivitäten der Ortsgemeinden eingreifen, die religiösen Sozialstrukturen selbst sind jedoch nicht Teil des Verwaltungsapparates. Ebenso gibt es keine Einordnung der lokalen Strukturen in übergeordnete religiöse Organisationen nach dem Muster der christlichen Kirchengemeinden in Europa; selbst die Einordnung des örtlichen Tempels in eine fenxiang -Hierarchie ist wesentlich symbolischer Natur und begründet keine finanziellen oder administrativen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Mutter- und Töchtertempeln. Diese autonome Verfasstheit des lokalen Religionslebens ließ einige Forscher hier Ansätze zu einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit in der traditionellen chinesischen So-

48 MÜLLER, Claudius C., Untersuchungen zum “Erdaltar” she im China der Chouund Han-Zeit, München 1980; DELL’ORTO, Alessandro, Place and Spirit in Taiwan. Tudi Gong in the Stories, Strategies and Memories of Everyday Life, London 2002.

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zialordnung sehen, einen Bereich, welcher der exklusiven Kontrolle von Staat und Familie entzogen ist und in dem die res publicae verhandelt werden können.49 Solche Überlegungen leiten über zum nächsten Abschnitt, in welchem wir uns mit der Rolle von Religion in Staat und Politik befassen werden.

3.4 Der Staat und die Religionen Wie in der historischen Übersicht bereits deutlich geworden ist, entsprach der chinesische Staat nie dem Idealbild, welches sich manche europäische Philosophen im Zeitalter der Aufklärung von ihm machten.50 Zwar zwang er seinen Untertanen keine Staatsreligion im europäischen Sinne auf, andererseits aber war das chinesische Reich auch nie religiös neutral. Im kaiserlichen China war die Legitimität des Herrschers letztlich religiös begründet und in einem komplexen Staatskult ausgedrückt. Die frühesten Formen politischer Herrschaft in China waren mit rituellen Handlungen verbunden, zu welchen allein der Herrscher befugt war und welche ihm privilegierten Zugang zur Welt der Ahnen und Götter gaben. Mit dem Aufkommen der Idee vom Mandat des Himmels (tianming ) und dem Herrscher als Himmelssohn (tianzi ) entwickelte dieses Verständnis von Herrschaft die konzeptuellen Grundzüge, welche China bis zum Ende letzten Dynastie 1911 kennzeichnen sollten. Der Kaiser war ein sakraler Herrscher, welcher nicht nur für die Geschicke der menschlichen Gesellschaft verantwortlich war, sondern auch das kosmische Gefüge insgesamt regulierte.51 In einer Welt, in der die Sphären der Drei Kräfte (sancai ) von Himmel, Erde und Menschenwelt einander gegenseitig beeinflussten, konnte jeder 49 KATZ, Paul R., Demon Hordes and Burning Boats. The Cult of Marshal Wen in Late Imperial Chekiang, Albany, NY, 1995, 180–189; DEAN, Kenneth, Ritual and Space. Civil Society or Popular Religion?, in BROOK, Timothy & FROLIC, B. Michael (Hg.), Civil Society in China, Armonk, NY, 1997, 172–192; WELLER, Robert P., Alternate Civilities. Democracy and Culture in China and Taiwan, Boulder, CO, 1999. 50 CHING, Julia & OXTOBY, Willard G. (Hg.), Discovering China. European Interpretations in the Enlightenment, Rochester, NY, 1992. 51 CHING, Julia, Mysticism and Kingship in China. The Heart of Chinese Wisdom, Cambridge 1997.

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Komet, jedes Erdbeben und andere Naturerscheinungen als politische Kommentare gedeutet werden. Der ideale Herrscher erhielt diese Ordnung durch rituelles Handeln aufrecht. Dies meint zum einen Rituale im üblichen Sinne, wie die komplexe Abfolge der Opferhandlungen des Staatskultes, z.B. für Himmel, Erde, personalisierte Naturgewalten, Konfuzius und die kaiserlichen Ahnen. Zum anderen aber wird die soziale Ordnung an sich als rituell strukturiert verstanden. Der konfuzianische Begriff der „Ritualität“ (li) betont die Ordnung aller sozialen Beziehungen, die zwischenmenschlichen wie auch das Verhältnis von Menschen und Göttern. Dementsprechend ist es Aufgabe des Staates, das religiöse Verhalten seiner Untertanen so zu regulieren, dass es einem harmonischen Gemeinwesen förderlich ist. Die Ritenklassiker enthalten Entwürfe, in denen die religiösen Pflichten aller Gesellschaftsklassen geregelt werden. Je nach sozialem Rang sollte man eine verschiedene Zahl von Ahnengenerationen ehren, während nicht-verwandtschaftlich basierte Ortsgemeinden sich auf Opfer für die Götter des Bodens und des Getreides beschränken sollten. Wie der bisherige Überblick über die chinesische Religionsgeschichte gezeigt hat, beschränkte sich das religiöse Leben zu keiner Zeit auf diesen minimalistischen Rahmen – welcher nie mehr als ein Idealentwurf war. Die Entwicklung des Staatskultes selbst wurde nie ernsthaft durch solche kanonischen Vorgaben eingeschränkt und hörte nie auf, sich zu wandeln und neuen Gegebenheiten anzupassen. Ebensowenig konnten die offiziellen Kulte jemals mehr als einen Teil des religiösen Lebens in der Gesellschaft bestimmen und hatten stets mit anderen Formen religiöser Organisation und Praxis zu tun. Vormoderne Staatssysteme zentralistischer und autokratischer Prägung besaßen noch nicht die Möglichkeiten totalitärer Herrschaft, welche die Technologien des 20. Jh. mit sich brachten. Der traditionelle chinesische Staat hat daher niemals die völlige Beseitigung und Austilgung aller religiösen Alternativen auch nur versucht. Die Haltung des Staates alternativen oder supplementären Formen von Religion gegenüber war eine Kombination von Kooptierung, Kontrolle und Unterdrückung. Im Falle von Buddhismus und Daoismus war Kontrolle der vorherrschende Ansatz, indem der Klerus dieser Religionen zahlenmäßig beschränkt und behördlicher Aufsicht unterstellt wurde. Für beide Religionen konnte das Pendel aber auch zu den Extremen hin ausschlagen. Ein Extrembeispiel der Kooptierung

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des Buddhismus war der Versuch des Gründers der Sui-Dynastie, die Lehre des Buddha zur Staatsreligion zu erheben und sich als buddhistischer Idealherrscher nach dem Vorbild des indischen Kaisers As´okas zu legitimieren. Häufiger waren für den Buddhismus negative Ausschläge in die andere Richtung in Form von behördlichen Verfolgungen, wie z.B. die Tang-zeitliche antibuddhistische Kampagne von 845. Wie wir im historischen Überblick sahen, durchliefen verschiedene daoistische Bewegungen ähnliche Wechselbäder in ihrem Verhältnis zur kaiserlichen Macht. Der behördliche Einfluss auf das religiöse Leben der Lokalgemeinschaften schwankte stark von Region zu Region, und von Dynastie zu Dynastie. Die Geschichtsschreibung ist voll von Klagen der Beamtenschaft über die zahlreichen „unzulässigen Kulte“ (yinsi ) des gemeinen Volkes und von Berichten über die Versuche eifriger Magistrate, die Tempel und Schreine solcher Kulte zu zerstören. Der Gründer der Ming-Dynastie strebte gegen Ende des 14. Jh. die Unterdrückung aller nicht-kanonischen volksreligiösen Praktiken und ihre Ersetzung durch offizielle Opfer für Stadtgötter (chenghuang ) sowie die klassischen Götter der Erde und des Getreides an.52 In der Regel waren solche drastischen Eingriffe in die Autonomie der lokalen Volksreligion jedoch kurzlebig und hatten mitunter sogar ganz und gar unerwünschte Nebeneffekte. So konnten die offiziellen Erdaltäre sich zu Tempeln für volkstümliche Gottheiten entwickeln, oder solche Tempel wurden für den offiziellen Sprachgebrauch einfach als orthodoxe Erdaltäre bezeichnet.53 In der Praxis war die staatliche Kontrolle von örtlichen Tempeln ein sensibler Balanceakt zwischen den Interessen der Zentrale und der Region, der Bürokratie und den lokalen Eliten. Da volksreligiöse Tempel in der Regel symbolische Zentren des örtlichen Lebens waren und (vor allem nach der Song-Zeit) die Patronage der lokalen Eliten genossen, war es 52 TAYLOR, Romeyn, Official and Popular Religion and the Political Organization of Chinese Society in the Ming, in LIU, Kwang-ching (Hg.), Orthodoxy in Late Imperial China. Berkeley 1990, 126–157; TAYLOR, Romeyn, Official Altars, Temples, and Shrines for All Counties in Ming and Qing, T’oung Pao 83.1–3 (1997): 93– 125. 53 DEAN, Kenneth, Transformation of the she (Altars of the Soil) in Fujian, Cahiers d’Extrême-Asie 10 (1998): 19–75.

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eine übliche Praxis, solche Kulte zu vereinnahmen, indem man ihren Göttern offizielle Titel verlieh und sie in die Liste der Gottheiten aufnahm, denen öffentliche Opfer zustanden. Im Verlaufe dieser Anerkennung wurden Identität und Funktion der Gottheit zwischen Behörden und lokalen Eliten ausgehandelt und dadurch lokale Interessen und Identitäten mit staatlichen Orthodoxiebestrebungen in Einklang gebracht, ein Prozess, der für den Fall der Göttin Mazu besonders gut erforscht worden ist.54 Am konsequentesten gingen die späten Dynastien gegen volksreligiöse Sekten vor, die als Bedrohung der staatlichen Autorität angesehen wurden und die selten von der lokalen Gentry protegiert wurden. Manchmal war es ihr aktivistischer Messianismus, der bestimmte religiöse Bewegungen als bedrohlich erscheinen ließ, manchmal reichte schon allein die Tatsache, dass sie soziale Parallelstrukturen jenseits der behördlichen Kontrolle besaßen und dadurch Massen mobilisieren konnten, um harsche Verfolgungsmaßnahmen auszulösen. Nichts relativiert das Trugbild eines religiös neutralen Staatswesens deutlicher als die häufigen Kampagnen gegen religiöse Sekten unter der Ming- und der Qing-Dynastie. Aber selbst hier zeigen sich die Grenzen der Reichweite des vormodernen Staates. Trotz des gesteigerten behördlichen Argwohns gegenüber solchen Gruppen existierten sie fast überall im chinesischen Reich und dominierten mancherorts sogar das religiöse Leben. Die fast vollständige Ausmerzung religiöser Sekten gelang erst der VR China in den fünfziger und sechziger Jahren des 20.Jh. Mit der Politik der Öffnung und Liberalisierung seit den achtziger Jahren belebt sich aber auch dieser Sektor der religiösen Szene wieder. In manchen Gegenden leben alte Sektentraditionen wieder auf,55 während anderswo neue Bewegungen entstehen, welche von den Behörden der VR China mit ähnlicher Härte verfolgt werden wie von ihren kaiserzeitlichen Vorgängern. Überhaupt bedeutete das Ende der letzten Dynastie keinen radikalen Bruch in der Religionspolitik. Der Staatskult wurde zwar bis auf wenige Überbleibsel (wie die offiziellen Opfer für Konfu54 Siehe oben Fußnote 29 sowie die Auszüge aus den Aufzeichnungen von der manifestierten Heiligkeit der Himmelsprinzessin im Reader. 55 DUBOIS, Thomas David, The Sacred Village. Social Change and Religious Life in Rural North China, Honolulu 2005.

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zius in Taiwan, mit ähnlichen Ansätzen neuerdings auch in der VR China) abgeschafft, aber der Staat behielt sich weiterhin vor, seine jeweiligen Ideologien zu privilegieren. Religionsfreiheit bedeutete daher in erster Linie die Freiheit, eine Religion in dem rechtlichen und institutionellen Rahmen auszuüben, den der Staat im Interesse seiner ideologischen Orthodoxie absteckte. Nach 1949 war sowohl in Taiwan wie in der VR China dieser Rahmen durch die Politik der Einheitsfront bestimmt, im einen Fall zur Bekämpfung des Kommunismus, im anderen zu seiner Beförderung. In der Volksrepublik schrumpfte dieser Rahmen immer weiter und machte schließlich während der Kulturrevolution jegliche öffentliche Religionsausübung unmöglich. Seit den späten siebziger Jahren erweitert sich der Rahmen allmählich wieder, trotz gegenläufiger Bewegungen wie der Unterdrückung der Gruppe Falungong seit 1999. Eine für China wirklich neue politische Entwicklung setzte in Taiwan mit der Aufhebung des Kriegsrechtes 1987 ein. In den folgenden zwanzig Jahren entwickelte sich Taiwan zu einer funktionierenden Mehrparteien-Demokratie, was im Religionsbereich u. a. das Ende des korporatistischen Einheitsfrontansatzes bedeutete sowie die Legalisierung von abweichenden religiösen Gruppen wie dem Weg der Einheit (Yiguandao). Daher fungiert Taiwan für die Religionsforschung nun als eine Art Labor, in dem man die Entwicklungstendenzen der chinesischen Religionen unter den Bedingungen eines genuin demokratischen Gemeinwesens studieren kann.

4. Elementare Formen religiöser Kommunikation: Opfer, Schamanismus und Divination Die Orakelknocheninschriften der Shang-Zeit zeigen uns eine religiöse Welt, in welcher diesseitige und jenseitige Sphären eng verbunden sind. Die Könige befragten ihre Ahnen mittels des Knochenorakels und opferten ihnen regelmäßig. Während die Orakelknochen Zeugnisse der Divination sind, so veranschaulichen die frühesten Bronzegefäße den komplexen Opferkult der Shang- und Zhou-Zeit. Nimmt man zu Opferriten und Divination noch den Schamanismus hinzu, der für die Shang-Zeit sehr wahrscheinlich und für die Zhou-Zeit nachgewiesen ist, so ergeben sich drei Grundmuster der Kommunikation mit Geist-

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wesen in der chinesischen Zivilisation, die mutatis mutandis bis heute von zentraler Bedeutung geblieben sind.

4.1 Opfer Die Orakelknochen verzeichnen zahlreiche Opfer für die königlichen Ahnen und andere Geistwesen, wobei die Divination häufig der Abklärung von Zahl und Art von Opfergaben diente. Das Darbringen von Opfern blieb ein zentrales Element im Kultus der folgenden Zhou-Zeit und des Staatskultes des Kaiserreichs bis zu seinem Ende 1911. Eine wichtige Funktion des Opferritus war die Harmonisierung von Göttern und Menschen, indem er einen reziproken Gabenaustausch etablierte. Das klassische Prinzip von do ut des („Ich gebe, auf dass du geben mögest“) hat also auch im chinesischen Fall Geltung. Das Opfer nährte die Ahnen und Götter und versetzte sie in den Stand, die Opfernden zu segnen; dieser Segen wurde u.a. durch den Verzehr des Opferfleisches vermittelt, was dem Ritus einen Kommunionsaspekt hinzufügte. Reziprozität, Kommunion und Harmonie zwischen Menschen, Göttern und Ahnen hatten darüber hinaus eine ordnende Funktion in beiden Welten. Durch abgestufte Opfer wurde die namenlose Menge der Naturgeister und Totenseelen in artikulierte Hierarchien von Göttern und Ahnen überführt, welche wiederum mit den Hierarchien der menschlichen Gesellschaft korrelierten, indem sozialer Rang mit Berechtigung zur Durchführung von Opfern an festgelegte Ränge von Göttern und Ahnen verbunden war.56 Wie wir sahen, bezogen die Shang-Könige ihre Autorität u. a. aus ihrem exklusiven Privileg des Opfers und der Befragung der Götter und Ahnen. Auch die Zhou-Herrscher regulierten den Zugang zu numinoser Macht mittels der Opferriten auf das genaueste und behielten die höchsten Opfer („Großopfer“ für den Himmel und die königlichen Ahnen) sich selbst vor, während der Lehnsadel abgestufte Pflichten und Rechte zur Vollführung der „sekundären Opfer“ und „kleinen Opfer“ für andere Gottheiten sowie für eine sich mit ab56 PUETT, Michael, The Offering of Food and the Creation of Order. The Practice of Sacrifice in Early China, in STERCKX, Roel (Hg.), Of Tripod and Palate. Food, Politics, and Religion in Traditional China, New York 2005, 75–95.

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steigendem Rang verringernde Zahl von Ahnengenerationen besaß. Die Hierarchie der Opfer drückte sich nicht nur im Rang der beteiligten Parteien aus, sondern auch in Quantität und Qualität der Opfergüter (Tiere, Jade, Seide). Dabei symbolisierte das Opfer nicht nur Rang und Stellung des Opfernden (sowie des Opferempfängers), sondern regulierte auch unmittelbar seinen Zugang zu der numinosen Macht, welche das Opfer gewährte. Vollführten Individuen Opfer, die ihnen nicht zustanden, konnte dies als Versuch der Amtsanmaßung und Usurpation angesehen werden, sowohl auf symbolischer Ebene wie auch politisch-praktisch durch den illegitimen Machtzuwachs, den solche Opfer erzeugen konnten. Die in der Han-Zeit kompilierten Ritenklassiker kodifizierten das Opferwesen und arbeiteten seine ethische Dimension heraus. Diese beruhte in der Hauptsache nicht auf der Rolle des Opfers als Sühne, wie wir es in der biblischen Tradition finden. Das Sühneopfer existiert als eine Variation im frühen China, ist aber nicht zentral für die konfuzianische Ritualtheorie. Diese stellt vielmehr auf die moralische Verfasstheit des Opfernden ab, der sich durch Fasten und Reinigung auf das Opfer vorbereitet, um den Ahnen oder Göttern mit reiner Kindespietät und Ehrerbietung gegenüberzutreten.57 Die Essenz dieser Sichtweise ist in einer berühmten Passage des Buches der Riten zusammengefasst: Um Menschen zu regieren ist nichts dringlicher als die Riten; unter den fünf Arten von Riten ist keine wichtiger als das Opfer. Das Opfer wiederum kommt nicht von äußeren Dingen, sondern entsteht im Herzen. Ist das Herz ehrerbietig, so bietet es die Gaben entsprechend den Riten dar. Daher kann nur der Würdige die Bedeutung des Opfers gänzlich erfüllen. Das vom Würdigen dargebrachte Opfer wird stets gesegnet werden.58

Wie alles Ritual, ist daher auch das Opfer Ausdruck und Maßstab der moralischen Gesinnung sowie ein Mittel zu ihrer Ausbildung. Diese Sicht liegt auch dem Ausspruch des Konfuzius zugrunde, dass er ein Opfer nur vollziehen könne, wenn er es mit voller Konzentration und 57 WILSON, Thomas, Sacrifice and the Imperial Cult of Confucius, History of Religions 41.3 (2002): 251–287. 58 Liji, Kapitel 25 („Jitong“). Vgl. d. Übers. v. LEGGE, James, The Lî Kî, The Sacred Books of the East, Bd.28, Delhi 1968, 236.

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Ehrerbietung täte; sonst sei es, als hätte das Opfer nie stattgefunden.59 So ist das Opfer also konstitutiv für die soziale, die spirituelle und die moralische Ordnung, woraus sich erklärt, warum es grundlegend für den Staatskult war und warum der Staat stets bemüht war, das Opferwesen auf allen sozialen Ebenen zu regulieren und zu vereinheitlichen. Versuche des Buddhismus und Daoismus, grundlegende Änderungen in Theorie und Praxis des Opferritus herbeizuführen, beispielsweise durch Ablehnung des Tieropfers, waren nie von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Ihr Resultat war vielmehr die Abgrenzung buddhistischer und daoistischer Liturgien von den „Blutopfern“ der Volksreligion und des Staatskultes, welche auch heute noch relevant ist und sich in deutlich differenzierten liturgischen Stilen und Strukturen ausdrückt.60 In der modernen Volksreligion spielt das Opfer weiterhin eine fundamentale Rolle in der Gestaltung der Beziehungen zwischen Ahnen und Nachkommen sowie zwischen Göttern und Menschen. Eine rituelle Symbolgrammatik von Opfergaben bestehend aus Unterscheidungen in Menge und Qualität von Papiergeld und Weihrauch, Fleisch- oder vegetarischen Speisen, gekochten oder rohen Fleischopfern ordnet die jenseitige Welt in Götter, Geister und Ahnen, schafft Hierarchien von den niedrigsten Gottheiten bis hinauf zum Jadekaiser und erlaubt es Kollektiven und Individuen, in Kommunion mit den Kräften der anderen Welt zu treten, welche mit der ihren in vielfältiger Weise verflochten ist.61

4.2 Schamanismus Die Forschung ist sich uneinig darüber, welche Rolle der Schamanismus in der Frühzeit gespielt hat. Unstrittig ist die Präsenz im frühen China von religiösen Spezialisten, die in Trance mit Göttern und Geistern kommunizierten und entweder als Schamanen oder als Medien 59 Gespräche 3.12. Vgl. d. Übers. v. WILHELM, Richard, Gespräche – Lun Yü, Düsseldorf 1976, 53. 60 KLEEMAN, Terry F., Licentious Cults and Bloody Victuals. Sacrifice, Reciprocity, and Violence in Traditional China, Asia Major 7.1 (1994): 185–211. 61 FEUCHTWANG, Stephan, Domestic and Communal Worship in Taiwan, in WOLF, Arthur P. (Hg.), Religion and Ritual in Chinese Society, Stanford 1974, 105–129.

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beschrieben werden können. Die Meinungen gehen darüber auseinander, ob „Schamane“ oder „Medium“ der bessere technische Begriff ist und wie einflussreich solche Praktiken im politischen Gefüge der chinesischen Gesellschaft tatsächlich waren. Die erste Frage ist eine typologische und hängt davon ab, wie eng man die Begriffe nimmt. Unternimmt der Schamane ausschließlich Seelenreisen in Trance, während das Medium ausschließlich von Geistwesen besessen wird, die durch es sprechen, ohne dass das Medium die Gefilde der Götter und Geister selbst besuchte? Solche terminologischen Unterscheidungen helfen wenig in der Erforschung der modernen Volksreligion, wo Schamanen/ Medien häufig beide Funktionen erfüllen. Auch die historischen Quellen erlauben selten eine klare Abgrenzung. Für den Rahmen dieser Darstellung werden daher beide Begriffe austauschbar verwendet, falls nicht anders gekennzeichnet.62 Die zweite Streitfrage, die des Einflusses der Schamanen im politischen System, ist bedeutsamer, geht es hier doch um die Natur der politischen Herrschaft im frühen China. Der Sichtweise, dass der Shang-König selbst als Schamane fungierte, der in Trance mit seinen Ahnen verkehrte, steht das Argument entgegen, dass die Orakelknochen-Divination der Shang ein von Priesterbeamten kontrolliertes Ritual war, welches keine oder nur marginale schamanische Züge aufwies.63 Wie auch immer diese Debatte ausgehen wird, klar ist, 1. dass Schamanen bereits im frühen China aktiv waren, 2. dass sie eine (wie auch immer geartete) Rolle im politischen System innehatten und 3. dass diese Rolle im Laufe der Zeit abnahm und der Schamane mehr und mehr vom Priester und später Gelehrtenbeamten verdrängt wurde. Eine in die Zeit der Streitenden Reiche datierende idealisierende Rekonstruktion des Staatswesens der Zhou verzeichnet männliche und weibliche Schamanen in offiziellen Funktionen, aller62 Für eine striktere kategorische Unterscheidung plädiert jedoch PAPER, Jordan, The Spirits are Drunk. Comparative Approaches to Chinese Religion, Albany, NY, 1995. 63 CHANG, K. C., Art, Myth, and Ritual. The Path to Political Authority in Ancient China, Cambridge, MA, 1983; CHING, Julia, Mysticism and Kingship in China. The Heart of Chinese Wisdom, Cambridge 1997; KEIGHTLEY, David N., Shamanism, Death, and the Ancestors. Religious Mediation in Neolithic and Shang China (ca. 5000–1000 B. C.)., Asiatische Studien/Études Asiatiques 52.3 (1998): 763–828.

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dings in relativ untergeordneten Rollen.64 Auch spätere Dynastien beschäftigten die sogenannten wu am Hofe, wo sie u. a. für Regenrituale zuständig waren. Erst während der Song-Zeit endete die rituelle Rolle der Schamanen im Staatskult. Die späte Kaiserzeit war gekennzeichnet von einer ausgesprochen kritischen Haltung des Staates und vieler konfuzianischer Gelehrter gegenüber den Schamanen, welche ihr Gewerbe in großer Zahl im Rahmen der örtlichen Volksreligion weiterbetrieben.65 Die gelegentlichen Verfolgungen von Schamanen hatten vielerlei Gründe, wie z. B. Vorwürfe der Scharlatanerie oder der Volksaufwiegelung, sind aber im ganzen gesehen am besten als Teil des Bestrebens von Staat und Eliten zu verstehen, die Volksreligion zu kontrollieren und zu standardisieren.66 Auch Buddhisten und Daoisten teilten eine grundsätzlich feindliche Haltung gegenüber den Medien, die als ihre Konkurrenten auf lokaler Ebene auftraten, wenn es z. B. um die Abhaltung von Wetter- und Heilungsritualen sowie Exorzismen ging. Dennoch sind Medien bzw. Schamanen bis heute ein fester Bestandteil volksreligiöser Praxis in allen Regionen Chinas, wenn ihre Bezeichnungen und rituellen Stile auch regional variieren. Sie identifizieren die Ursachen spiritueller Störungen, heilen durch die Macht der durch sie sprechenden und agierenden Götter, besuchen im Auftrag der Nachkommen deren Ahnen in der Unterwelt, dienen als Sprecher von Gottheiten und spielen wichtige Rollen in Tempelfesten und -ritualen. Im Gegensatz zum daoistischen und buddhistischen Klerus erfordert die Tätigkeit als Medium keine formelle Ausbildung. Sie ist kein Beruf, den man erlernt, sondern ein Schicksal, zu dem man von den Göttern erwählt wird, häufig auch gegen den Willen des prospektiven Mediums. Zeichen der Erwählung sind in der Regel plötzliche und anfangs unkontrollierbare Trancezustände, in denen eine Gottheit vom Körper 64 VON FALKENHAUSEN, Lothar, Reflections on the Political Role of Spirit Mediums in Early China. The Wu Officials in the Zhou li, Early China 20 (1995): 279– 300. 65 Die Qing-Dynastie beschäftigte zwar als Teil ihrer ethnischen Traditionspflege mandschurische Schamanen am Hofe, setzte aber ansonsten die Unterdrückungsmaßnahmen der vorangegangenen Ming-Dynastie gegen chinesische wu fort. 66 SUTTON, Donald S., From Credulity to Scorn. Confucians Confront the Spirit Mediums in Late Imperial China, Late Imperial China 21.2 (2000): 1–39.

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desjenigen Besitz ergreift, den sie zu ihrem Medium machen will. Mancher wehrt sich gegen solche Ansinnen und versucht, der Gottheit zu entkommen; falls die Tranceattacken anhalten und von den Nachbarn für authentisch erachtet werden, fügt sich mancher in sein Schicksal und wird zum Sprecher seiner Gottheit.67 Anders als der Klerus von Buddhismus und Daoismus besitzt das Medium außerhalb der Trance kein besonderes Prestige, ist es doch lediglich ein Werkzeug der Götter. In Trance jedoch spricht es mit der Autorität der ihm in diesem Moment innewohnenden Gottheit und wird in vielerlei Angelegenheiten konsultiert: finanzielle und gesundheitliche Probleme, Fragen zum Schicksal der Ahnen, Hilfe bei Karriereentscheidungen usw.68 Es wurde erwähnt, dass Medien keiner formellen Ausbildung bedürfen, jedoch werden mancherorts neue Medien von erfahrenen, älteren Standesgenossen unterwiesen. In Taiwan trainiert eine neues Medium häufig unter der Anleitung eines sogenannten „Meisters der rituellen Methoden“ (fashi ), nach seiner Kopfbedeckung auch „Rotkopf“ genannt, mit dem er später in kombinierten Ritualen kooperiert. Diese fashi sind Experten in lokalen Ritualtraditionen, welche von den förmlich ordinierten daoistischen Priestern der Zhengyi-Schule (den „Schwarzköpfen“) als niedere, vernakuläre Liturgieformen betrachtet werden, welche aber ein wichtiges Bindeglied zwischen der liturgischen Hochtradition des Daoismus und der Volksreligion und ihren Medien darstellen.69 Sowohl Männer wie auch Frauen können als Medien agieren, wobei es häufig geschlechtsspezifische Unterschiede in ihrer Trancepraxis gibt.

67 Zu den sozialen Prozessen der Anerkennung von Medien siehe WOLF, Margery, The Woman Who Didn’t Become a Shaman, American Ethnologist 17.3 (1990): 419–430. Zur Konzeptualisierung der Natur des Mediums siehe BERTHIER, Brigitte, Enfant de divination, voyageur du destin, L’Homme 101 (1987): 86–100. 68 KAGAN, Richard C. & WASESCHA, Anna, The Taiwanese Tang-ki. The Shaman as Community Healer and Protector, in GREENBLATT, Sidney L., WILSON, Richard W., WILSON, Amy Auerbach (Hg.), Social Interaction in Chinese Society, New York 1982, 112–141; SUTTON, Donald S., Ritual Trance and Social Order. The Persistence of Taiwanese Shamanism, in BARNES, Andrew E. & STEARNS, Peter N. (Hg.), Social History and Issues in Human Consciousness, New York 1989. 69 COHEN, Alvin P., Biographical Notes on a Taiwanese Red-Head Taoist, Journal of Chinese Religions 20 (1992): 187–201; SCHIPPER, Kristofer, The Taoist Body, Berkeley 1993, 44–55.

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Die regionale Variationsbreite der diesbezüglichen Gepflogenheiten ist beträchtlich.70 Rhetorische Abgrenzungen religiöser Eliten von den Schamanen der Volksreligion dürfen uns jedoch nicht übersehen lassen, dass schamanische Formen auch außerhalb der Volksreligion im engeren Sinne wichtige Funktionen hatten und das religiöse Leben von Daoisten, Konfuzianern und auch Buddhisten bestimmten. Viele Texte des daoistischen Kanons sind ursprünglich im Rahmen von Séancen entstanden, bei denen ein Medium den Text mündlich wiedergab oder niederschrieb. Wie wir im historischen Teil sahen, standen solche Offenbarungen des Mediums Yang Xi am Anfang des Daoismus der Höchsten Reinheit im 4. Jh. Göttliche Kommunikation in Trance ist also fester Bestandteil der daoistischen Tradition. Ab der Song-Zeit verbreitete sich eine bestimmte Form der schriftlichen Kommunikation mit Göttern und Ahnen, das sogenannte fuji , welches wohl im Westen am ehesten dem automatischen Schreiben mit der Planchette vergleichbar ist. Fuji -Medien übermittelten Offenbarungen daoistischer Unsterblicher und ermöglichten es Literaten, Gedichte mit den großen Poeten der Vergangenheit auszutauschen. Manche der auf diese Weise offenbarten heiligen Schriften wurden zu Keimzellen daoistischer Kulte und neuer religiöser Bewegungen.71 Bis heute ist das fuji eine wichtige Quelle religiöser Innovation und Akkommodation im religiösen Leben außerhalb der VR China, wo diese Praxis gesetzlich verboten bleibt. Die Existenz solcher Formen der schamanischen Trance deutet auf die große Bedeutung der direkten, visionären Kommunikation mit der

70 ELLIOTT, Alan J. A., Chinese Spirit-Medium Cults in Singapore, London 1955; POTTER, Jack, Cantonese Shamanism, in WOLF, Arthur P. (Hg.), Religion and Ritual in Chinese Society, Stanford 1974, 207–231; DEBERNARDI, Jean, The Way that Lives in the Heart. Chinese Popular Religion and Spirit Mediums in Penang, Malaysia, Stanford 2006. 71 RUSSELL, Terrence G., Chen Tuan at Mount Huangbo. A Spirit-Writing Cult in Late Ming China, Asiatische Studien 44 (1990): 107–140; MORI Yuria, Identity and Lineage. The Taiyi jinhua zongzhi and the Spirit-Writing Cult of Patriarch Lü in Qing China, in KOHN, Livia & und ROTH, Harold D. (Hg.), Daoist Identity. History, Lineage, and Ritual, Honolulu 2002, 165–184.

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Welt der Götter für die chinesische Religionsgeschichte insgesamt hin.72

4.3 Divination Während Opfer und Schamanismus mit einer Welt personaler Geistwesen kommunizieren, operieren Divinationstechniken mit der Annahme eines erkennbaren und von mehr oder weniger abstrakten Kräften regulierten Kosmos. Für unsere Darstellung dient „Divination“ als Oberbegriff für solche Techniken, die okkultes Wissen aus der Analyse der Kräftekonstellationen dieses Kosmos gewinnen. Entscheidend ist hier, dass der Divinationsexperte sein Wissen nicht aus Offenbarungen der Götter und Ahnen gewinnt, sondern direkt aus seinem Verständnis der Regeln und Gesetze des Kosmos. Damit fasse ich den Begriff der Divination enger als sonst üblich; er wird sowohl für den chinesischen wie auch im vergleichenden Kontext sonst meist allgemein für alle Methoden verwendet, Wissen aus und über die andere Welt zu gewinnen. Dies schließt dann z.B. schamanistische Séancen mit ein, bei denen dieses Wissen durch eine Gottheit offenbart wird. Hier möchte ich den Begriff jedoch auf Techniken beschränken, die ohne die Interventionen personaler Wesenheiten auskommen. Die früheste komplexe Form von Divination in diesem engeren Sinne war das Buch der Wandlungen , dessen Methode im historischen Teil bereits ausführlich behandelt wurde. Mit dem Aufkommen der korrelativen Kosmologie in der Zeit der Streitenden Reiche und der HanZeit entwickelte sich ein organistisches Weltbild, das alle Phänomene in einige grundlegende Beziehungs- und Prozessmuster einzuordnen und dadurch erklärbar zu machen suchte. Auf dieser Grundlage entstanden vielerlei Wahrsagekünste und eine Klasse von Spezialisten zu ihrer Ausübung, den Mantikern (fangshi ).73 Traumdeutung, Numero72 JORDAN, David K. Jordan & OVERMYER, Daniel L., The Flying Phoenix. Aspects of Chinese Sectarianism in Taiwan, Princeton 1986; CLART, Philip, Moral Mediums. Spirit-Writing and the Cultural Construction of Chinese Spirit-Mediumship, Ethnologies 25.1 (2003): 153–190. 73 CHEMLA, Karine, HARPER, Donald und KALINOWSKI, Marc (Hg.), Divination et rationalité en Chine ancienne, Extrême-Orient/Extrême-Occident, Bd.21, 1999.

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logie, Geomantik, Physiognomie, Schriftanalyse, Astrologie, Kalenderberechnung und die Interpretation von meteorologischen Phänomenen sind nur Teil des großen Spektrums an Techniken, die dem stummen Kosmos seine Geheimnisse entlocken und Vorhersagen ermöglichen sollten. Diese korrelativen „Wissenschaften“ entwickelten sich stetig weiter und sind bis heute einflussreich und werden weithin rezipiert, wie ein Blick auf die obligatorischen Regale voller mantischer Literatur in den meisten Buchhandlungen in Taiwan und Hongkong beweist.74 Sie sind Zeugen der Komplexität eines traditionellen Weltbildes, in welchem Götter, Geister und Ahnen die Macht mit dem kosmischen Dao teilen, welches Raum, Zeit und dem menschlichen Leben seine Strukturen verleiht.

5. Religion in Kunst und Literatur So wenig wie China vor dem 19.Jh. einen dem modernen westlichen Gebrauch ähnlichen Religionsbegriff besaß, so wenig war Religion ein separater Sektor in Kultur und Gesellschaft. Die obige Darstellung hat betont, wie sehr religiöse Ideen und Praktiken Teil des soziokulturellen Gewebes waren, und so nimmt es auch nicht Wunder, dass Religion nicht auf religiöse Institutionen im engeren Sinne beschränkt blieb, sondern zahlreiche auf den ersten Blick nicht-religiöse Lebensbereiche durchdrang. So verschiedene Bereiche wie Medizin und Landwirtschaft, Ernährung und Erziehung beinhalteten Elemente, die der moderne westliche Beobachter als „religiös“ einstufen würde, die im traditionellen Kontext jedoch einfach Teil der allgemein akzeptierten und nicht als spezifisch religiös empfundenen Lebenswelt waren. Als Beispiele sind hier die korrelativ-kosmologischen Grundlagen der Medizin, die zahlreichen rituellen Praktiken und kalendarischen Berechnungen im Landbau, die jahreszeitliche Gestaltung des Speiseplans nach den yin- und yang-Eigenschaften der Nahrungsmittel oder die obligatorischen Opfer für Konfuzius und andere Weise und Gottheiten in Akademien und Schulen zu nennen. Da die ganze Spannbreite der reli74 Einen historischen Gesamtüberblick bietet SMITH, Richard J., Fortune-tellers and Philosophers. Divination in Traditional Chinese Society, Boulder, CO, 1991.

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giösen Durchdringung der chinesischen Kultur hier nicht bewältigt werden kann, soll dieser letzte Abschnitt exemplarisch und skizzenhaft lediglich die Rolle von Religion in den Bereichen von Kunst und Literatur behandeln, mit Schwerpunkten auf Skulptur, Malerei, Lyrik, erzählender Literatur und Theater. Wie in den meisten Hochkulturen sind auch in China die ältesten erhaltenen Kunstobjekte religiöser Natur. Das liegt natürlich u. a. an den Bedingungen archäologischer Forschung, welche für ihre Rekonstruktionen früher Kulturen im wesentlichen auf Grabfunde zurückgreifen muss, so dass die große Mehrzahl der erhaltenen Objekte aus der Shang-Zeit sowie ihren neolithischen Vorgängerkulturen dem religiösen Kontext der Totenpflege entstammen. Verzierte Keramiken und Jadeobjekte sind die frühesten Zeugnisse ästhetischer Bemühungen und einer symbolischen Formensprache. Die Shang-Zeit bringt uns eine enorme Entwicklung dieser Formensprache im neuen Medium der Bronze, welche uns meist in Gestalt von Ritualgeräten begegnet.75 Die Tradition der Shang-Bronzen wurde in der folgenden Zhou-Zeit weitergeführt und im sich wandelnden religiösen und kulturellen Kontext variiert.76 Weltweite Beachtung fand die Entdeckung des Grabes des Ersten Kaisers der Qin-Dynastie mit ihren zahlreichen Bronzeskulpturen sowie ihrer „Terrakotta-Armee“, welche Einblicke in die professionelle, „modulare“ Arbeitstechnik der vom Kaiserhof beschäftigten Kunsthandwerker bietet.77 Neben Bronze, Jade und Ton bediente man sich bei der Ausstattung von Grab- und Tempelanlagen auch Steinskulpturen und bildlicher Darstellungen. Gräber der späten Zhou-Dynastie sowie der Han-Zeit waren mit aufwändigen Darstellungen in Form von Wandmalereien oder Steinreliefs verziert; berühmtestes Beispiel für letztere ist der Schrein des Wu Liang, der 151 n. Chr. angelegt 75 RAWSON, Jessica, Ancient China. Art and Archaeology, London 1980; CHANG, K. C., Art, Myth, and Ritual. The Path to Political Authority in Ancient China, Cambridge, MA 1983; ALLAN, Sarah, The Shape of the Turtle. Myth, Art, and Cosmos in Early China, Albany, NY, 1991. 76 SHAUGHNESSY, Edward L., Sources of Western Zhou History. Inscribed Bronze Vessels, Berkeley 1991. 77 LEDDEROSE, Lothar, Ten Thousand Things. Module and Mass Production in Chinese Art, Princeton 2000.

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wurde und zahlreiche Szenen aus Geschichte und Mythologie wiedergibt.78 Ab dem 1. Jh. n. Chr. erscheinen auch die großformatigen Steinskulpturen der sogenannten „Geiststraßen“, Zugangswege zu Grabanlagen, die von Menschen- und Tierskulpturen gesäumt sind.79 Diese Han-zeitliche Form der Plastik setzte sich bis ins 20. Jh. hinein fort. Gleichzeitig hielt aber mit dem Buddhismus eine neue Ikonographie Einzug in China wie auch eine neue Funktionalität religiöser Kunst. Die buddhistische Plastik baute auf indischen Vorbildern auf, die allmählich den Bedürfnissen einer chinesischen Ästhetik angepasst wurden und diese im Gegenzug wiederum beeinflussten. Die früheste erhaltene und eindeutig datierbare Buddhaskulptur ist eine vergoldete Bronzeplastik aus dem Jahr 338. Die Stiftung von Bildnissen von Buddhas und Bodhisattvas wurde Teil der moralischen Ökonomie des chinesischen Buddhismus, indem der Stifter Verdienst für sein eigenes Heil oder das seiner Ahnen erwarb. Buddhistische Skulpturen der Periode der Nördlichen und Südlichen Dynastien sind häufig mit Stifternamen und Verdienstwidmungen versehen und geben so der Forschung Einblicke in den sozioökonomischen Kontext des frühen chinesischen Buddhismus. Besonders ergiebig sind hier die berühmten buddhistischen Höhlenkomplexe des Mittelalters z. B. in Yungang, Longmen und Dunhuang mit ihren Monumentalskulpturen und Fresken.80 Sowohl Formen als auch Funktionen buddhistischer Kunst hatten direkten Einfluss auf die daoistische Skulptur des Mittelalters, welche zahlreiche Elemente der buddhistischen Ikonographie für ihre eigenen Bedürfnisse anpasste.81 Bisher haben wir Beispiele religiöser Kunst betrachtet in dem Sinne, dass diese Werke in einem primär religiösen Kontext entstanden und

78 WU, Hung, The Wu Liang Shrine. The Ideology of Early Chinese Pictorial Art, Stanford 1989; JAMES, Jean M., A Guide to the Tomb and Shrine Art of the Han Dynasty 206 B. C.–A.D. 220., Lewiston, NY, 1996. 79 PALUDAN, Ann, The Chinese Spirit Road. The Classical Tradition of Stone Tomb Statuary, New Haven, CT, 1991. 80 Siehe NING, Qiang, Art, Religion, and Politics in Medieval China. The Dunhuang Cave of the Zhai Family, Honolulu 2004; WANG, Eugene Y., Shaping the Lotus Sutra. Buddhist Visual Culture in Medieval China, Seattle 2005. 81 ABE, Stanley K., Ordinary Images, Chicago 2002; MOLLIER, Christine, Buddhism and Taoism Face to Face. Scripture, Ritual, and Iconographic Exchange in Medieval China, Honolulu 2008.

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Funktionen erfüllten. Im Folgenden wollen wir einige künstlerische und literarische Genres betrachten, in denen religiöse Inhalte eine große Rolle spielten, auch wenn die Form nicht an einen religiösen Kontext gebunden war. Die Landschaftsmalerei nimmt ab der Song-Zeit eine privilegierte Stellung in der chinesischen Ästhetik ein und wird zu einem wichtigen Gegenstand theoretischer Spekulationen über Natur und Sinn des künstlerischen Schaffens. Sowohl in die Kompositionselemente wie in die Maltechniken flossen dabei deutlich spirituelle Elemente ein. Der Landschaftsmaler sollte nicht die exakte Wiedergabe der Oberfläche anstreben, sondern in seinem Bild die essentiellen Eigenschaften der Landschaft erfassen. Daraus ergeben sich zum einen formelle Strukturkriterien wie die Balance von yin- und yang-Elementen (z. B. Wasser und Felsen, unten und oben, horizontalen und vertikalen Linien), zum anderen die Betonung der Spontaneität des Schaffensaktes. So wie das Dao den Dingen spontan ihre Form verleiht, so soll der Künstler die Natur der Dinge spontan erfassen und möglichst fließend zu Papier bringen. Insbesondere die Tuschmalerei diente diesem Zweck, da sie keine Korrekturen zuließ und so den spontanen Ausdruck privilegierte. Zhuangzis Lob der spontanen Harmonie mit dem Dao, die neokonfuzianische Betonung des Prinzips über der äußeren Form sowie die Chan-buddhistische Suche nach nicht-verbalen Ausdrucksformen des erleuchteten Geistes trugen jeweils ihren Teil zur Formulierung der traditionellen Standards und Ideale der chinesischen Landschaftsmalerei bei.82 Ebenso wie die Malerei als Ausdruck spiritueller und religiöser Einsichten und Empfindungen dienen konnte, so machen religiöse Themen einen wichtigen Teil der literarischen Tradition Chinas aus. Im historischen Überblick sahen wir dies bereits in der Besprechung früher poetischer Sammlungen wie dem Buch der Lieder und den Gesängen von Chu. Auch in der weiteren Entwicklung der chinesischen Lyrik spielten 82 MUNSTERBERG, Hugo, Zen and Oriental Art, Rutland, VT, 1965; LEDDEROSE, Lothar, The Earthly Paradise. Religious Elements in Chinese Landscape Art, in BUSH, Susan & MURCK, Christian (Hg.), Theories of the Arts in China, Princeton 1983, 165–183; FONG, Wen C., Beyond Representation. Chinese Painting and Calligraphy, 8th-14th Century, New York 1992.

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religiöse Aspekte eine wichtige Rolle, sei es in der daoistischen Inspiration des Tang-zeitlichen Dichterfürsten (und Unsterblichen) Li Bai (701–762) oder in der Lyrik der zahlreichen „Dichtermönche“ Chinas. Ein bekanntes Beispiel ist der historisch schwer zu fassende, aber äußerst einflussreiche Chan-Poet Hanshan („Kalter Berg“).83 Die frühesten Formen erzählender Prosa waren Geschichten über Geister, Götter und Unsterbliche.84 Nach vereinzelten früheren Vorläufern nahm dieses Genre in der Zeit der Sechs Dynastien unter der Bezeichnung zhiguai („übernatürliche Berichte“) Gestalt an. Bis ins 20. Jh. hinein brachte dieses Genre bedeutende Werke hervor. Repräsentative Werke sind das Soushenji („Die Suche nach den Göttern“) des 4.Jh.,85 Hong Mais (1123–1202) Yijianzhi (Berichte des Yijian),86 Yuan Meis (1716–1797) Zibuyu („Wovon der Meister nicht sprach“),87 Ji Yuns (1724–1805) Yuewei caotang biji („Pinselnotizen aus der Strohhütte der Betrachtung des Großen im Kleinen“),88 sowie die allgemein als Höhepunkt des Genres angesehene Sammlung Liaozhai zhiyi („Wundersame Geschichten aus dem Studio eines Müßiggängers“) des 83 DEBON, Günther, Li Tai-bo. Rausch und Unsterblichkeit, München 1958; SCHUHMACHER, Stephan, Han Shan. 150 Gedichte vom Kalten Berg, Düsseldorf 1974; KROLL, Paul, Li Po’s Transcendent Diction, Journal of the American Oriental Society 106.1–2 (1986): 99–118; GIRAUD, Daniel, Ivre de Tao. Li Po, voyageur, poète et philosophe en Chine en VIIIe siècle, Paris 1989; RED PINE & O’CONNOR, Mike (Hg.), The Clouds Should Know Me by Now. Buddhist Poet Monks of China, Boston 1998. Siehe die Auswahl von Gedichten Hanshans im Reader. 84 Monika MOTSCH bietet einen überfassenden historischen Überblick im von ihr verfassten dritten Band („Die chinesische Erzählung. Vom Altertum bis zur Neuzeit“) der Geschichte der chinesischen Literatur (hg. v. Wolfgang KUBIN), München 2003. 85 Übers. v. DEWOSKIN, Kenneth & CRUMP, J. I., Jr., In Search of the Supernatural. The Written Record, Stanford 1996. 86 INGLIS, Alister David, Hong Mai’s Record of the Listener and Its Song Dynasty Context, Albany, NY, 2006. 87 Auswahlübers. v. LOUIE, Kam & EDWARDS, Louise, Censored by Confucius. Ghost Stories by Yuan Mei, Armonk, NY, 1996; SCHWARZ, Ernst, Chinesische Geistergeschichten, Frankfurt/M. 1997. Siehe Auszüge aus Schwarz’ Übersetzung im Reader. 88 CHAN, Leo Tak-hung, The Discourse on Foxes and Ghosts. Ji Yun and Eighteenth-Century Literati Storytelling. Hongkong 1998. Auswahlübers. v. HERRMANN, Konrad, Pinselnotizen aus der Strohhütte der Betrachtung des Großen im Kleinen, Leipzig/Bremen 1983.

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Pu Songling (1640–1715).89 Neben ihrem literarischen Wert geben diese Geschichtensammlungen wertvolle Einblicke in die sozialen Verhältnisse und religiöse Vorstellungswelt ihrer Periode und werden daher in neuerer Zeit verstärkt als religionsgeschichtliche Quellen genutzt.90 Abschließend ist das traditionelle Musiktheater anzusprechen, das in Entstehung, Inhalt und performativem Kontext eine starke religiöse Prägung aufweist. Zu den Quellen der chinesischen Theatertradition gehören performative Elemente in rituellen Kontexten seit dem Altertum (z.B. bei Exorzismen) sowie durch den Buddhismus vermittelte indische Einflüsse ab der Tang-Zeit. Erst ab dem 13. Jh. (Yuan-Dynastie) nimmt die traditionelle Oper bzw. das Singspiel die Grundgestalt an, die bis heute Kunstformen wie die sogenannte Peking-Oper bestimmt. Die schnelle Entwicklung des Theaters seit dem 13. Jh. führte zur Herausbildung einer Vielzahl von verschiedenen Stilen und regionalen Traditionen. Die Themen waren mannigfaltig und beinhalteten (um nur einige zu nennen) Liebesgeschichten, historische Dramen, Kriminalstücke und (für unsere Zwecke besonders interessant) religiöse Erlösungsgeschichten, welche von den Bemühungen der Unsterblichen handelten, Menschen von der Vergänglichkeit der Welt und der Notwendigkeit der Kultivierung des Dao zu überzeugen. Solche Aufführungen waren ein wichtiger Kommunikationskanal für daoistisches und auch buddhistisches Gedankengut. Bis in die Gegenwart bildeten Ritual, religiöses Fest und Tempel den primären sozialen Kontext des traditionellen Singspiels. Viele Tempel waren mit eigenen Bühnen aus89 ZEITLIN, Judith, Historian of the Strange. Pu Songling and the Chinese Classical Tale, Stanford 1993; übers. von RÖSEL, Gottfried, Umgang mit Chrysanthemen (Bd. 1), Zwei Leben im Traum (Bd.2), Besuch bei den Seligen (Bd.3), Schmetterlinge fliegen lassen (Bd.4), Kontakte mit Lebenden (Bd.5), Zürich 1987– 1992. 90 CAMPANY, Robert Ford, Strange Writing. Anomaly Accounts in Early Medieval China, Albany, NY, 1996; MONSCHEIN, Ylva, Der Zauber der Fuchsfee. Entstehung und Wandel eines „Femme-fatale“-Motivs in der chinesischen Literatur, Frankfurt a. M. 1988; HUNTINGTON, Rania, Alien Kind. Foxes and Late Imperial Chinese Narrative, Cambridge, MA, 2003; KANG, Xiaofei, The Cult of the Fox. Power, Gender, and Popular Religion in Late Imperial and Modern China, New York 2006; ZEITLIN, Judith, The Phantom Heroine. Ghosts and Gender in Seventeenth-Century Chinese Literature, Honolulu 2007.

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gestattet, welche unmittelbar gegenüber dem Tempeleingang situiert waren. Bei Tempelfesten wurden (und werden) Theatertruppen zur Unterhaltung der Götter und ihrer Gläubigen engagiert. Theateraufführungen waren fester Bestandteil aller größeren religiösen Feiern und somit der Religionskultur in praktisch allen Regionen Chinas.91 Die hier nur knapp skizzierten religiösen Aspekte chinesischer Kunst und Literatur machen deutlich, dass Religion im traditionellen China nie auf spezifisch religiöse Institutionen beschränkt war, sondern zahlreiche Bereiche von Kultur und Gesellschaft durchdrang und auf diesem Wege breite Bevölkerungsschichten erreichte und beeinflusste.

91 IDEMA, Wilt & WEST, Stephen H., Chinese Theater 1100–1450. A Source Book, Wiesbaden 1982; CH’IU, K’un-liang, Les aspects rituels du théâtre chinois, Paris 1991.

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Index Ein ‚n‘ hinter einer Zahl bezeichnet die Erwähnung in einer Fußnote. Aberglaube (mixin ) 141, 146, 149, 152 Ahnen 20–21, 23–24, 31, 47–50, 58, 60, 86–88, 90, 136, 148, 163, 168–169, 173–174, 176– 181, 183–184, 189–190, 193–202, 204; Ahnenkult 19, 22, 87, 146, 163, 183; Ahnenopfer 22, 176–177; Ahnenriten 167, 182, 184 Ahnentempel 43, 182–183; Ahnenverehrung 85, 172, 183 Akademie (shuyuan ) 54–55, 106, 111, 117–118, 142–143, 159, 202 Alchemie 70, 71n, 75, 114, 161, 173; Innere Alchemie (neidan ) 114–115, 120, 124, 128, 131 Almanach 175, 185 Amita¯bha (Amituofo) 82, 97–99, 113, 121, 167 An Shigao 79–80 arhat (Würdiger) 78 Baopuzi (Meister, der die Einfachheit umfasst ) 70 Bestattung/Begräbnis 18, 36, 44, 115, 174, 183 Bodhidharma 95 Bodhisattva (erleuchtetes Wesen) 75, 78–79, 86–87, 98–99, 204 Buddha 11, 75–80, 82, 84, 93–95, 98–99, 102–103, 121–123, 130–131, 143–144, 163, 167, 191, 204 Buddha-Natur 95, 97, 127, 129 Buddhismus 7, 69, 74n, 75, 77n, 78–90, 92–94, 97, 99–103, 107, 111–114, 121–123, 127, 142–143, 148, 153, 155, 162–164, 166, 169, 172, 190–191, 196, 199, 204, 207; ChanBuddhismus 92, 95–98, 100, 110, 112–113, 124, 127, 129, 163, 205–206; Huayan-Buddhismus 94, 163; Lehre des Reinen Landes (Jingtuzong) 83, 95, 97–98, 100, 112, 121, 163, 166–167; Tiantai-Buddhismus 92–94, 112, 163; tibetischer Buddhismus 119, 121, 134; Verfolgung 83, 104 Cheng Hao (1032–1085) 108 Cheng Yen (Zhengyan; 1937-?) 154 Cheng Yi (1033–1107) 108 Christentum 7, 89, 102–104, 117, 132–133, 136, 143, 146–147, 164–166, 167n, 168–171; Dominikaner 136; Franziskaner 117, 136, 138, 165; Jesuiten 27, 132–133, 136, 138, 156, 165–166, 170; Jesus 143; Katholizismus/Katholiken 117, 132–133, 136, 138, 145– 146, 148, 152, 165, 168–169; Katholische Patriotische Vereinigung 146; Nestorianismus 103–104, 138, 165; Protestanten 138, 145–148, 152, 165, 167–169 Chuci (Gesänge von Chu ) 50, 73, 205 Dao (Weg) 38–41, 43–44, 54, 64, 66–67, 69, 71, 90–91, 97, 101–102, 109, 159–161, 202, 205, 207 Daode jing 38–44, 92, 159–161 Daoismus 7, 65, 73, 83–84, 86–87, 90–92, 99–102, 107, 111, 114–115, 120–124, 142n, 143, 148, 155, 159, 161–162, 166, 172, 176, 190, 196, 199; Daomen (Schule des Dao) 91; Daozang (Daoistischer Kanon ) 64, 123, 200; Lingbao (Schule des Göttlichen Juwels) 74–75, 86, 90–91, 164; Quanzhen (Schule der Vollkommenen Verwirklichung) 120– 121, 123, 128, 162; religiöser Daoismus 66, 69, 73–75, 88–89; Shangqing (Schule der Höchsten Reinheit) 72–75, 90–92, 200; Shenxiao (Schule des Göttlichen Himmels) 115; Zhengyi (Schule der Orthodoxen Einheit) 123, 162, 199

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Index

Daxue (Das Große Lernen ) 32, 109–110 Dharma (Lehre) 78, 96, 98, 113, 124, 142, 162 Diamantsutra 86 Dı¯pamkara 130 ˙ Divination 19–20, 22, 44, 46–48, 50, 58, 174, 193–194, 197, 201 Dizang (Ksitigarbha) 86, 99 ˙ Dong Zhongshu (ca. 179–ca. 104 v. Chr.) 56–58 Drei Dynastien (Sandai) 18 Drei Erhabene (San Huang) 17, 91 Drei Höhlen (sandong ) 91 Drei Juwelen 78, 83 Drei Kräfte (sancai ) 189 Drei Lehren (sanjiao ) 7, 102, 124, 128–129, 143, 155–156, 163–164, 172 Drei Reiche 39, 64, 68 Drei Selbst-Prinzip 146, 167 Drei Zeitalter 130, 139 Dualismus 45, 59–60 Dunhuang 86, 204 Edler (junzi ) 30, 32, 34, 47, 158 einigende Liebe (jian’ai ) 36 Erdgott (Tudi Gong) 179, 187–188 Erdzweige 21–22, 46, 62, 173 Erlitou 19 Erlösungsschrift (Duren jing) 75 Essenz (jing ) 114 Exorzismus 50, 67, 115, 198, 207 Falun Gong (Übung des Dharma-Rades; auch Falun Dafa/Große Methode des DharmaRades) 149, 193; Li Hongzhi 149 Familie 8, 35–36, 41, 70, 72, 74, 82, 85, 107, 111, 124, 126, 128, 130, 135, 139, 162–163, 172, 176–177, 179–185, 189 Fazang 94 Feste 67, 152, 169, 175, 178, 183–185, 187, 207; Drachenbootfest 184; Laternenfest 185; Mittherbstfest 184; Neujahrsfest 183–185, Qingming-Fest 183–184; Tempelfest 22, 198, 208 Figuristen 166 Frühlings- und Herbstannalen 55 Frühlings- und Herbstperiode 26, 28 Fu Xi 17, 37, 48 fuji 200 Fünf Dynastien 12, 105 Fünf Lehren 143–148, 152 Fünf Wandlungsphasen (wuxing ) 46, 53, 57, 62, 160, 173 Ge Hong (283–343) 69–72, 75, 161 Geist (shen ) 114 Geist/Herz (xin ) 111 Geister/Geistwesen 20, 31, 37, 40, 50–51, 58–59, 65, 67, 72, 86–88, 161, 172, 176–180, 183–184, 187–188, 193–194, 196–197, 201–204, 206 Gelbe Turbane 64 Gelbkaiser/Huang Di 17, 37, 54, 150 Geomantik (fengshui ) 173–175, 183, 202

Index

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Gesellschaft der Weißen Wolke (Baiyunshe) 121 Gesellschaft des Weißen Lotos (Bailianshe) 83, 98, 121 Gesetz (fa ) 28, 34, 37–38, 51 Gongsun Yang 37–38 Gott/Götter 20–21, 31, 37, 47–48, 50–53, 58–59, 61–62, 65–67, 71–73, 75, 79, 86–88, 115–116, 123, 126, 132, 160–161, 164–166, 172, 176–180, 183–192, 194–202, 208; Erdgottheit 115, 179, 188; Haushaltsgötter 184; Herdgott 184; Naturgottheit 19–21, 51, 88, 115; Stadtgott 179, 188, 191; Schutzgötter 123, 152, 183–184; Türgötter 184 Große Einheit (Taiyi ) 53, 55, 59 Großer Friede (Taiping) 64, 139 Großes Lernen (Daxue ) 32, 109–110 Großjährigkeitszeremonie 183 Guanyin/Avalokites´vara 98–99, 121 Guo Xiang (252–312) 88 Han Feizi (ca. 280–233) 28n, 38 Han Yu (768–824) 101–102, 107 Hanafi-Rechtstradition 170 Han-Dynastie 39, 44, 51–53, 55–61, 63–64, 66–69, 80–81, 88, 90, 100–101, 135, 158, 173, 195, 201, 203–204; Frühere Han 11, 53–54, 61; Spätere Han 11 Han-Schule (Hanxue) 135, 159 Hanshan 206 Häresie/Heterodoxie 103, 121, 68, 136, 146, 150 Hausaltar 183–184 Herzog von Zhou 29, 48, 56 Hexagramm 47–48, 58, 173 Himmel/Tian 23–24, 31–34, 37, 40, 46–47, 49–51, 55, 57–59, 62, 67, 72–73, 161, 166, 184, 189, 190, 194; Himmelskult 23; himmlisches Mandat (tianming ) 23, 33, 118, 150, 189; Änderung des Mandats (geming ) 23–24; Himmelssohn (tianzi ) 189; Himmelskaiserin (tianhou ; siehe Mazu) Himmelskönig des Uranfangs (Yuanshi tianwang) 73 Himmelsmeister 65–69, 73, 75, 83, 91, 123, 161–162; Bewegung der Himmelsmeister 66, 68–69, 75, 90, 161; Tianshi Dao (Weg der Himmelsmeister) 65 Himmelsstämme 21–22, 46, 173 Himmlisches Reich des Großen Friedens (Taiping Tianguo ) 137 Hı¯naya¯na (Kleines Gefährt) 78, 80–81 Hölle (diyu) 86 Hongkong 151, 162, 168, 182, 202 Hong Mai (1123–1202) 206 Hong Xiuquan (1814–1864) 137 Houtu 53, 55, 59 Huahujing (Schrift von der Bekehrung der Barbaren ) 84 Huang-Lao 54, 65 Huineng (gest. 713) 96 Huiyuan (334–417) 82–83, 98 Indien 11–12, 78–81, 84–85, 92–93, 104, 114, 132, 142 Islam 7, 89, 102, 143, 148, 164, 170–171; Muslim/Hui/Huihui 117, 145, 170–171 Japan 9, 89–93, 97–98, 132, 140–142, 144 Jenseits/Jenseitsvorstellung (siehe auch Tod) 44, 49, 59, 72, 87, 98, 163; Unterwelt 60–61, 86, 163–164, 183, 198 Ji Yun (1724–1805) 206

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Jiang Ziwen 87–88 Jin-Dynastie 68, 117, 120, 134; Östliche Jin 68, 72–73 Judentum 7, 89, 102, 117, 118n, 164 Kang Youwei (1858–1927) 139, 143–144 Karma 75, 77, 86–87, 163 Kindespietät (xiao ) 29–30, 41, 89, 124, 158, 163, 174, 181, 195 Klassiker (jing) 55 Kloster 78, 81–82, 84–85, 92–94, 98–100, 104, 111, 120–125, 141–142, 147–148 Kommunismus 193 Konfuzianismus 7, 24, 53, 56, 81, 83–84, 88–89, 100–101, 107, 111, 119, 127–128, 135, 139, 143, 155–159, 166, 172; Konfuzianer 33, 36, 40, 48–49, 53, 83, 88, 102, 109–110, 118, 126, 159, 200; Neokonfuzianismus 32, 100, 102, 106–107, 109, 112, 135, 158, 174, 182; Neuer Konfuzianismus 143; konfuzianische Ritualisten (lisheng ) 183 Konfuzius (551–479 v. Chr.) 26–34, 36–37, 39, 44, 48, 56, 87, 109, 111–112, 123, 133, 136, 139, 143, 150, 156–158, 166–167, 170, 190, 195, 202; Konfuzius-Kult 101; Konfuziustempel 111 Königinmutter des Westens (Xiwangmu) 59, 62–63 Korea 9, 89, 93, 97–98 Kosmologie 22, 44–45, 48, 56, 58, 70, 160, 173–174, 201 Kou Qianzhi (365?-448) 83 Ku¯kai (774–835) 93 Kulturrevolution 147–148, 169, 193 Kuma¯rajı¯va (343–413) 81–82 Lamaismus (siehe Buddhismus) Landschaftsmalerei 205 Laozi bianhua jing (Schrift von der Wandlung des Laozi) 66 Laozi 26, 39, 54, 65–67, 84, 90, 121, 143, 161 Lebensverlängerung 68, 70, 160 Leere (s´u¯nyata¯ ) 79, 82, 94, 108, 129 Legalismus 37–38, 53; Legalisten/Legisten 26, 28, 34, 37–38, 44 Lehre des Großen Gefährts (Dachengjiao ) 131 Lehre vom Dao (Daojiao ) 90 Lehre vom Geiste (Xinxue) 127–128, 159 Lehre vom Rechten Weg (Daoxue ) 108 Lehre von den Drei im Einen (Sanyijiao ) 128 Leuchtende Lehre (Jingjiao ) 104 li (Prinzip) 109 Li Ao (772–836) 102 Li Bai (701–762) 206 Li Hong 66, 122 Liang-Dynastie 82 Liaozhai zhiyi (Wundersame Geschichte aus dem Studio eines Müßiggängers ) 206 Liji (Buch der Riten) 55, 109, 139, 195 Lin Zhao’en (1517–1598) 128–129 Lineage 181–182 Longshan-Kultur 19 Lotos-Sutra 81, 94, 99n Lu Xiangshan (1139–1193) 111, 126 Lu Xiujing (406–477) 91 Lunheng 58

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Lunyu (Analekten/Gespräche) 27–33, 109, 112 Luo Qing (Luo Menghong, Patriarch Luo, 1443–1527) 129–130 Ma¯dhyamaka-Philosophie 82, 163 Magie/Magier 44, 54, 70 Maha¯ya¯na (Großes Gefährt) 78–81, 83, 95 Maitreya 122, 130 Mandschu 134; Mandschurei 140; Mandschukuo 141 Manichäismus 7, 89, 102–104 Mantiker (fangshi) 52, 65, 69, 201; mantische Wissenschaft 175 Maß und Mitte (Zhongyong ) 32, 109 Matteo Ricci (1552–1610) 132, 133n, 165–166 Mawangdui 39n, 40 Mazu 178, 185–186, 188, 192 Meditation 70, 73, 75–76, 80, 85, 92, 94–96, 113–115, 126–127, 161 Medium (siehe Schamanismus) Menschlichkeit (ren ) 29–30, 33, 36, 41, 110, 140, 158–159 Menzius/Mengzi (4.Jh. v. Chr.) 26, 33–35, 102, 109–110, 112, 127, 158; Buch Menzius 33, 109 Metaphysik 44n, 56, 79, 108, 110, 158 Ming-Dynastie 122–128, 130–132, 134–135, 144–145, 158–159, 170, 172, 191, 192, 198n Mohismus 35, 166; Mozi/Mo Di (5. Jh. v. Chr.) 26, 35–37, 44, 49, 54 Mongolen 105, 117–122, 134, 165 Moral 23, 33, 67, 110, 121, 123, 125–130, 157, 195–196 Moralliteratur (shanshu ) 126 Mulian 183 Na¯ga¯rjuna (3. Jh.?) 82 Nicht-Eingreifen (wuwei ) 41, 160 nirva¯na 77–79, 94–95, 98; parinirva¯na 77–78 Opfer 20–22, 31, 50–52, 65, 88, 111, 149–150, 175–178, 181–182, 184–185, 190–192, 194–196, 201–202; feng und shan 52, 54; Speiseopfer 183 Orakel 20, 58, 186; Orakelhölzer 186; Orakelknochen 22, 47, 193–194, 197 Pu Songling (1640–1715) 207 qi (Odem, Pneuma, Energie-Materie) 46, 67, 108–110, 114 Qin Shi Huangdi 51 Qin-Dynastie 25, 38, 44, 51–54, 56, 68–69, 81, 203 Qing-Dynastie 55, 131, 134–137, 140–142, 144–145, 150, 159, 170–172, 178, 192, 198n Qiu Chuji (Qiu Changchun, 1148–1227) 120 Reinkarnation 75–76, 86 Religionsbegriff 141, 156, 202; zongjiao 141 Republik China 141, 151–152, 153n, 154 Riten (li )/Ritus/Ritual/Ritualität 24, 26–31, 34, 36–38, 41, 65, 67, 70, 74–75, 86–87, 90– 91, 109, 115–116, 128, 136, 137n, 150, 156, 161–163, 166–167, 177, 183, 187, 190, 194–195, 197, 199, 207; Ritenkontroverse 166; Ritenklassiker/Ritenbücher 55, 101, 174, 190, 195; Ritenministerium (libu ) 100–101, 122, 135 ru 156, 159; Lehre der ru (rujiao) 156–157; Schule der ru (rujia ) 156; ru -Studium (ruxue ) 156 Saicho¯ (767–822) 93 ´Sa¯kyamuni (Shijiamouni) 130, 163 samsa¯ra 78–79, 94–95 ˙

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Sangha (samgha, buddhistische Gemeinschaft) 78, 81–83, 99, 112, 121, 129–130, 142, 153–154,˙ 163 Schamanismus/Schamane (Medium) 19, 22, 44, 50, 53–54, 59, 72, 161, 188, 193, 196– 201, 203 Schatzbücher (baojuan ) 130–131 Sechs Dynastien 68, 75, 87–89, 91, 206 Sechs Künste 27, 156 Seele 59, 61–62, 86, 149, 169, 177, 183, 188; po -Seele 59; hun -Seele 59; Seelentafel 182– 183; Seelenvorstellung 59, 172 Seidenstraße 79, 81, 89, 92, 102, 117 Sekte 119, 121, 128–131, 135, 144, 146, 149, 152, 192 Shandao (613–681) 98 Shangdi 21, 23, 166 Shang-Dynastie 18–24, 27, 46–47, 49, 193–194, 197, 203 Sheng Yen (Shengyan, 1930–2009) 154 Shennong 17, 37 Shenxian zhuan (Biographie der göttlichen Unsterblichen) 71 Shenxiu (ca. 605–706) 96 Shiji (Aufzeichnungen des Historikers ) 17 Shijing (Buch der Lieder) 55, 205 Shujing (Buch der Urkunden ) 23–24, 33, 55 Shun (mythischer Kaiser) 17–18, 28–29, 37, 158 Sima Chengzhen (647–753) 92 Sima Qian (ca. 145–90 v. Chr.) 17–18, 21 Song-Dynastie 89, 102, 105–109, 112–115, 116n, 118, 121, 123–124, 135, 155, 158–159, 172, 174, 181, 191, 198, 200, 205; Nördliche Song 105, 108; Südliche Song 105–106, 111, 117, 159 Soushenji (Die Suche nach den Göttern ) 206 Sprüchesammlung (yulu , Aufzeichnung der Gespräche) 96 Staatskult 52–55, 88, 100–101, 134, 150, 189–190, 192, 194, 196, 198 Staatsopfer 101 Staatsreligion 53, 55, 89, 103, 139, 143, 189, 191 Streitende Reiche 26, 38, 59, 62, 158, 160, 173, 197, 201 stu¯pa (Reliquienschrein) 83 Sufi-Orden 170 Sui-Dynastie 68, 83, 90, 100, 191 Sun Yat-sen (1866–1925) 140 Taiji-Symbol 45 Taiping Jing (Schrift vom Großen Frieden ) 64 Taiping-Bewegung/Rebellion 64, 137, 150, 168 Taishan 52, 54 Taishang yanying pian (Traktat des Höchsten über Taten und ihre Folgen ) 126 Taiwan 59, 101, 141, 143–145, 148, 151–154, 162, 168–169, 178–179, 182, 185, 193, 199, 202 Taixu (1890–1947) 142 Taixuan jing (Klassiker des Großen Mysteriums ) 58 Taizhou-Schule 128 Tan Sitong (1865–1898) 139 Tang-Dynastie 66, 69, 75, 81, 89–93, 96–107, 113–115, 132, 163–164, 170, 173, 191, 206– 207

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Tanluan (476–542) 98 Tao Hongjing (456–536) 74 Tempel 19, 22, 25, 51, 91–92, 98, 100–101, 103, 115–116, 128, 141–142, 147–148, 150, 178, 182, 185–188, 191, 198, 203, 207 Tod (siehe auch Seele; Bestattung) 25, 27, 31, 38, 43, 71–72, 76–77, 87, 108, 112, 120, 125, 147, 154, 176, 178, 183, 188; Totenpflege 203; Totenreich 49 Trance 50, 161, 196–200 tripitaka (chin. sanzang , Drei Körbe) 91 ˙ (de ) 24, 30, 33–34, 157 Tugend Uighuren 103–104, 171 Ungeborene Ehrwürdige Mutter (Wusheng Laomu) 131 Unsterblichkeit 50, 52, 54, 62–63, 70–72, 114, 120, 160–161; Unsterbliche (xian ) 52, 58– 59, 61–63, 120, 160–161, 200, 206–207 Untergrundkirche 146, 148 unzulässige Kulte (yinsi ) 191 Verdienstregister (gongguoge ) 125 Vier Bücher (Sishu ) 33, 109 Vier Edle Wahrheiten 76 Vinaya 81 Volksreligion 59, 65, 86, 116, 122, 135, 141, 146, 151–153, 161, 168, 172–173, 176, 179n, 187–188, 191, 196–199, 200 Wahrer Krieger (Zhenwu) 123, 132 Wang Bi (226–249 n. Chr.) 39 Wang Chong (27–ca. 100) 58–59 Wang Chongyang (Wang Zhe, 1112–1170) 120 Wang Gen (1483–1541) 128 Wang Mang (45 v. Chr.–23 n.Chr.) 63 Wang Yangming (1472–1529) 112, 126–128, 135–136, 159 Weg der Einheit (Yiguandao) 144, 152, 169, 193 Weg der Reinen Erleuchtung (Jingmingdao) 124 Wei Huacun (251–334) 73 Weihrauchopfer 177, 186 Weihrauchteilungen (fenxiang ) 185 Westliches Paradies 98 Wirkkräftigkeit (ling ) 178 Wu Liang, Schrein des 203 Wubu Liuce (Fünf Bücher in Sechs Bänden ) 129 Wuji (das Unbegrenzte) 108, 129 Xia-Dynastie 18–19, 24, 36 Xiaojing (Klassiker der Kindespietät ) 89n Xinjiang 148, 171 Xiyouji (Die Reise nach dem Westen ) 132 Xu Huangmin (361–429) 74 Xu Mai (301-?) 72 Xu Mi (303–376) 72, 74 Xuanzang (ca. 602(?)-664) 93–94, 132 Xunzi (3.Jh. v. Chr.) 26, 34–35, 49, 54, 158 Yan Hui 110 Yang Wenhui (1837–1911) 142 Yang Xi (330–386) 72–74, 200

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Yang Xiong (53 v. Chr.–18 n. Chr.) 58–59 Yao (mythischer Urkaiser) 17, 37 Yijianzhi (Berichte des Yijian) 206 Yijing (Buch der Wandlungen ) 47–48, 55, 58, 173, 201 yin /yang 45–48, 57–59, 63, 70, 114, 160, 173, 202, 205 Yinshun (1906–2005) 154 Yoga¯ca¯ra-Schule 93–94, 163 Yongming Yanshou (904–975) 112 Yongzheng 136 Yuan Huang (Yuan Liaofan, 1533–1606) 125–126 Yuan Mei (1716–1797) 206 Yuan-Dynastie 105, 117, 119–121, 130, 131, 170, 207 Yuewei caotang biji (Pinselnotizen aus der Strohhütte der Betrachtung des Großen im Kleinen ) 206 Yungang-Höhlen 81, 204 Zen (siehe Buddhismus: Chan-Buddhismus) Zentralasien 81, 89, 92, 104 Zhang Boduan (gest. 1082) 114 Zhang Daoling (2. Jh.) 65–66, 68, 123 Zhang Lu (?–215/216) 66–68 Zhang Tianran (Zhang Guangbi, 1889–1947) 144 Zhang Zai (1020–1077) 108–109 Zheng He (1371–1433) 170 zhiguai (übernatürliche Berichte) 206 Zhiyi (538–597) 94 Zhou Dunyi (1017–1073) 108 Zhou 18, 22–25, 28–30, 44–46, 48–49, 51, 55–56, 156–157, 193–194, 197, 203; Westliche Zhou 25, 47; Östliche Zhou 25–26, 32, 35, 37, 45, 50 Zhouli (Riten der Zhou ) 55 Zhu Rong (mythischer Urkaiser) 17 Zhu Xi (1130–1200) 32, 108–112, 119, 123, 126–127, 135, 182 Zhu Yuanzhang (1328–1398) 122 Zhuangzi/Zhuang Zhou/Meister Zhuang (4. Jh. v. Chr.) 9, 26, 42–43, 70–71, 97, 161, 205; Buch Zhuangzi 38–39, 42, 44, 88, 159–160 Zhuhong (1535–1615) 124–126 Zibuyu (Wovon der Meister nicht sprach) 206 Zizhilu (Aufzeichnung zur Selbsterkenntnis ) 125

Studium Religionen herausgegeben von Hubert Seiwert