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German Pages [312]
V&R
JÜRGEN WEHNERT
Die Reinheit des »christlichen Gottesvolkes« aus Juden und Heiden Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 173. Heft der ganzen Reihe
Die Theologische Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen hat die vorliegende Arbeit 1995 als Habilitationsschrift angenommen. Die Anregungen der Gutachter Proff. Gerd Lüdemann, Hartmut Stegemann und Berndt Schaller wurden in der Druckfassung dankbar berücksichtigt.
Die Deutsche Bibliothek-
CIP-Einheitsaufnahme
Wehnert, Jürgen: Die Reinheit des »christlichen Gottesvolkes« aus Juden und Heiden: Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets / Jürgen Wehnert. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1997 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; H. 173) Zugl.: Göttingen, Univ., Habil.-Schr., 1995 ISBN 3-525-53856-1
© 1997 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung der Reprovorlagen: Alf Özen, Göttingen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.
Inhalt
Abkürzungen
9 A
Einleitung
1.
Aufgabenstellung
11
2.
Zur Forschungsgeschichte
14
Β Die
Quellen
1.
Apostelgeschichte
21
1.1.
Apg 15,1-35
21
1.1.1. Übersetzung mit textkritischen Anmerkungen 21 1.1.2. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analyse 33 1.1.3. Auswertung der Detailanalyse 55 1.1.3.1. Die redaktionelle Komposition als „dramatische Episode" 55 1.1.3.2. Die Apg 15,1-35 verarbeiteten Traditionen 58 1.1.3.2.1. Die Tradition hinter Apg 15,1-5 59 1.1.3.2.2. Die Tradition hinter Apg 15,20-23 63 1.1.3.2.3. Vergleich der Traditionen hinter Apg 15,1-5 und 15,20-23 70 1.1.3.3. Der luk. Skopus der Episode Apg 15,1 -35 72 1.1.3.3.1. Apg 15,1 -35 als luk. Geschichtskompendium 74 Exkurs :
1.2.
Die Korneliusepisode Apg 10,1-11,18 als Hintergrund der Petrusrede Apg 15,7-11
74
1.1.3.3.2. Die Einschärfung der Enthaltungsvorschriften Apg 15,20.29; 21,25 als aktuelle Gemeindeparänese des Lukas
81
Apg 21,15-26
82
1.2.1. Übersetzung mit textkritischen Anmerkungen 1.2.2. Traditions-und redaktionsgeschichtliche Analyse 1.2.3. Auswertung der Detailanalyse 1.2.3.1. Die Apg 21,15-26 verarbeiteten Traditionen 1.2.3.2. Zur Tradition eines pln. Nasiräats 1.2.3.3. Die historische Einordnung der Traditionen
82 85 94 94 96 99
6
Inhalt
2.
Paulus
107
2.1.
Gal 2,1-14
107
2.1.1. Übersetzung und Textkritik 107 2.1.2. Textanalyse und historische Auswertung . 112 2.1.2.1. Gal 2,1-10 112 2.1.2.1.1. Einleitung 112 2.1.2.1.2. Gal 2,4 als historischer Hintergrund des Jerusalemer Missionsgesprächs 114 2.1.2.1.3. Der Verlauf des Missionsgesprächs nach Gal 2,1-10 ....117 2.1.2.2. Gal 2,11-14 120 2.1.2.2.1. Das chronologische Verhältnis zu Gal 2,1 -10 120 2.1.2.2.2. Hintergründe und Verlauf des antiochenischen Zwischenfalls 123 2.1.3. Zusammenfassung und Vergleich mit den Traditionen aus Apg 15 ... 128
2.2.
Die übrigen Paulusbriefe
130
2.2.1. l.Kor
131
2.2.2. Rom
136
3.
Pseudoklementinen
145
3.1. 3.2.
Zur Literarkritik der Pseudoklementinen Einzelanalyse der ReinheitsVorschriften in den Pseudoklementinen
145
3.2.1. Homilie 7.4,2 3.2.1.1. Übersetzung und Analyse von H 7.4,1-5 3.2.1.2. Redaktion und Tradition in H 7.4,2 3.2.2. Homilie 7.8,lb-2a 3.2.2.1. Übersetzung und Analyse von H 7.8,1-2 3.2.2.2. Redaktion und Tradition in H 7.8,lb-2a 3.2.3. Homilie 8.19,1c 3.2.3.1. Übersetzung und Analyse von H 8.19,1-4 3.2.3.2. Redaktion und Tradition in H 8.19,1c 3.2.4. Rekognitionen IV 36,4 3.2.4.1. Übersetzung und Analyse von R I V 36,1-5 3.2.4.2. Redaktion und Tradition in R I V 36,4
3.3. 3.4.
Rekonstruktion der den Reinheits Vorschriften zugrunde liegenden Tradition Die literarkritische Einordnung der pskl. Reinheitsvorschriften
148 148 149 150 153 153 154 157 158 159 161 162 164
165 167
Inhalt
7
Exkurs: Zur Tauflehre in den Pseudoklementinen
168
3.5.
Die vorpskl. Reinheitsvorschriften und ihr Verhältnis zur Tradition hinter Apg 15 3.5.1. Der Kontext der Reinheitsgebote in der vorpskl. Novelle 3.5.2. Vergleich der pskl. Tradition mit der der Apostelgeschichte
174 174 175
3.6.
Das Judenchristentum in der Didaskalia als Tradent der Reinheitsvorschriften des Aposteldekrets 179 3.6.1. Die judenchristlichen Gegner des Didaskalisten 179 3.6.2. Der Ursprung der pskl. Reinheitsvorschriften in der mündlichen Tradition des Aposteldekrets 183 4.
Übrige antike Zeugnisse
187
4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8. 4.9. 4.10. 4.11. 4.12.
Apk Plinius Didache Aristides Justin Lukian Die Märtyrer von Lyon Irenäus Theophilus Tertullian Minucius Felix Das Ende der mündlichen AD-Tradition
188 189 190 192 194 195 195 196 199 200 203 204
C Ursprung und Bedeutung der Vorschriften des
Aposteldekrets
1.
Der religionsgeschichtliche Hintergrund
209
2.
Lev 17f als Ursprung der Enthaltungsbestimmungen des AD
213
2.1. 2.2.
Die Hypothese von Hans Waitz Der Wortlaut des AD und die Targum-Tradition zu Lev 17f 2.2.1. Zum Datierungsproblem der Targumim 2.2.2. Die Bestimmungen des AD als Reflexe der Targum-Tradition zu Lev 17f 2.2.2.1. Das Götzendienstverbot 2.2.2.2. Das Blutverbot
213 216 216 219 219 221
8
Inhalt
2.2.2.3.
Das Verbot des Erstickten
Exkurs:
Philo und Klemens von Alexandrien
2.2.2.4.
Das Verbot der Unzucht 2.2.3. Die Einleitungsformel des Aposteldekrets: άπέχεσθαι τών άλισγημάτων 2.2.4. Ergebnisse
221 228
232 234
235
D Der theologische Hintergrund des Aposteldekrets 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Auswahl und Anordnung der vier Enthaltungsbestimmungen
239
Das Aposteldekret als Ausdruck judenchristlicher Theologie
245
Die rituelle Reinheit der Jerusalemer Gemeinde Die Reinheit des »christlichen Gottesvolkes« aus Juden und Heiden Die Konsequenzen des AD für die Praxis von Juden- und Heidenchristen Paulinischer und judenchristlicher Reinheitsbegriff Zum judenchristlichen Taufverständnis
245 246 252 255 257
E Synthese der historischen Einzelergebnisse und ihre Einordnung in die Geschichte des frühen Christentums 1.
Historische Rekonstruktion
263
2.
Schlußfolgerungen für eine historische Lektüre der Apg. 273 F Literaturverzeichnis
1.
Quellen
277
2.
Hilfsmittel und Lexika
283
3.
Sekundärliteratur
285
Stellenregister (in Auswahl)
303
Abkürzungen
Die für Zeitschriften, Reihen, Nachschlagewerke usw. verwendeten Abbreviaturen folgen Siegfried M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Berlin, New York 2 1992. Die übrigen Abkürzungen verstehen sich bis auf die nachfolgend genannten von selbst: A AD Clem.Alex. ConstApost CanApost Didask syrDidask FS pskl. PsKl Diam EpCl EpP H E e R L S
Anmerkung Aposteldekret Klemens von Alexandrien Apostolische Konstitutionen Apostolische Cánones (ConstApost 8.47) Didaskalia syrische Didaskalia Festschrift pseudoklementinisch Pseudoklementinen bzw. deren Verfasser Diamartyria Epistula Clementis Epistula Petri pskl. Homilien bzw. deren Verfasser ältere Epitome von H jüngere Epitome von H pskl. Rekognitionen bzw. deren Verfasser lateinische Übersetzung von R syrische Übersetzung von R
A Einleitung 1. Aufgabenstellung Die vorliegende Arbeit ist die erste monographische Behandlung des sog. Aposteldekrets seit 1912. Ihre Notwendigkeit ergibt sich daraus, daß die in mehreren umfangreichen Untersuchungen des späten 19. und frühen 20. Jh.s vorgelegten Resultate1 schon aufgrund ihrer unzulänglichen methodischen Voraussetzungen als weithin überholt gelten müssen und eine umfassende Darstellung des hist, und theol. Hintergrundes dieser bedeutsamen Urkunde aus der Frühzeit des Christentums angesichts der Flut neuerer, oft widersprüchlicher Spezialliteratur geboten erscheint. Zur besseren Orientierung seien Gang und Ziele dieser Untersuchung vorab kurz skizziert: Den Ausgangspunkt bilden jene frühchristl. Quellen, die unmittelbare Rückschlüsse auf die Entstehungsgeschichte des Dekrets zulassen. Dies sind die Apostelgeschichte, in deren Kapiteln 15 und 21 sich die ältesten Zitate des Aposteldekrets finden, sowie Teile der pln. Korrespondenz, insbesondere der 'biographische' Abschnitt Gal 1,11-2,14, der sich, trotz unübersehbarer Widersprüche zu Apg 15, auf dieselben Vorgänge im Umkreis des Jerusalemer Missionskonvents zu beziehen scheint.2 Anders als in älteren Darstellungen üblich, sollen diese Texte wegen ihres unterschiedlichen Status (Paulus ist Primär-, Lukas Sekundärquelle3) nicht direkt miteinander in Beziehung gesetzt 4 , sondern zunächst einzeln analysiert (in Anbetracht der Forschungsgeschichte unter gebührender Berücksichtigung der Textkritik) und nach redaktioneller Tendenz und geschichtlichem Wert befragt werden. Anschließend können auf der Grundlage von wirklich Vergleichbarem, nämlich der vorluk. Tradition und dem in den 1
S. vor allem Sommer 1887/89, Böckenhoff 1903, Resch 1905 und Six 1912. Diese auch in der vorliegenden Arbeit begründete Auffassung entspricht dem Konsens einer großen Mehrzahl der Forscher; vgl. für viele Weiser 1984, S.149: „Trotz der Unterschiede zwischen Apg 15 und Gal 2 sind die Berührungspunkte derart gravierend, daß man das in Apg 15 Berichtete nicht unabhängig von den Gal 2 bezeugten Ereignissen betrachten und es auf eine nur vermutete, aber sonst nicht weiter bekannte jerusalemer (sie!) Beratung beziehen sollte." Zu anderen Positionen s. den Forschungsüberblick bei Dupont 1967, S.56-72. 3 Vgl. hierzu Lüdemann 1987, S. 12-24. 4 S. als bes. eindrucksvolles Beispiel die „Synopse" von Gal If und Apg sowie deren harmonisierende Interpretation bei Schlier 1951, S.66-77 (mit Selbstkorrekturen auch noch in Schlier 1962, S.l 12-116). - Zur methodischen Kritik an diesem Verfahren vgl. Haenchen 1977, S.452. 2
12
A Einleitung
Paulusbriefen reflektierten Verlauf der Ereignisse, Rückschlüsse auf den hist. Ort des Aposteldekrets gezogen werden (Teile Β 1. und 2.). Die auf diesem Wege gewonnene Hypothese, daß das Aposteldekret vor allem als Reaktion der Jerusalemer Gemeinde auf eine Hinwendung des Petrus zur Heidenmission nach dem Konvent zu verstehen ist und zugleich für den Ausbruch des sog. antiochenischen Streits verantwortlich gewesen sein dürfte, bewährt sich bei der anschließenden Sichtung der übrigen antiken Zeugnisse: Die in der ältesten Schicht der Pseudoklementinen greifbaren Traditionen bestätigen sowohl den ntl. Befund, daß Petrus an der Verbreitung des Dekrets beteiligt war (s. l.Kor), als auch die Annahme, daß es sich dabei um eine mündlich weitergegebene Überlieferung handelte, deren Sitz im Leben in der Katechese heidnischer Konvertiten zu suchen ist (Teil Β 3.). Die weiteren Quellen des 2. und 3. Jh.s (Apk, Did, Kirchenväter u.a.) enthalten zwar keine Hinweise auf den Ursprung des von ihnen rezipierten Dekrets mehr, bestätigen aber seine mündliche Tradierung und lassen angesichts ihrer geographischen Streuung Rückschlüsse auf den Beitrag der antiochenischen Mission bei der Durchsetzung des Dekrets zu (Teil Β 4.). Die religionsgeschichtliche Analyse des Aposteldekrets knüpft eng an die Erträge der hist. Untersuchung an. Sie entwickelt aus der Entstehung des Dekrets in der aramäischsprachigen Christengemeinde Jerusalems die Hypothese, daß seine Einzelvorschriften aus der Targum-Tradition zu Lev 17f abgeleitet sind. Damit wird zugleich der neuerdings bestrittene Forschungskonsens hinsichtlich des atl. Ursprungs des Dekrets auf eine festere Grundlage gestellt (Teil C). Die Rekonstruktion der äußeren und inneren Geschichte des Aposteldekrets ist um die Frage nach seinen theol. Implikationen zu ergänzen. Daß es sich bei den vier im Dekret zusammengefaßten Reinheitsvorschriften um die einzigen der Thora handelt, die explizit auch für die mit den Israeliten zusammenlebenden „Fremdlinge" (ΟΉ3) gelten, läßt die Schlußfolgerungen zu, daß das Dekret eine thoragemäße Begegnung zwischen Heiden- und Judenchristen ermöglichen sollte und daß die ihm zugrunde liegende Vorstellung eines »christl. Gottesvolkes« 5 5
Dieser hier hilfsweise (und sehr sparsam) eingeführte Begriff hat naturgemäß in der spätantiken jiid. Literatur keine Entsprechung („Volk Gottes" ist dort stets Bezeichnung für das Bundes volk, die auch in eschatologischen Zusammenhängen nicht auf die Heiden Völker ausgedehnt wird) und findet sich so auch im frühchristl. Schrifttum - trotz Stellen wie Rom 9,24f; 2.Kor 6,16; Eph 2,11-22 - nicht. Er steht allerdings der luk. Gottesvolk-Vorstellung nahe, wonach es „nur einen (λαός) gibt: aus christusgläubigen Juden und Heiden (Apg 3,22f; 15,13-18; 18,10 [...])" (H. Frankemölle, Art. λαός. In: EWNT II [1981], Sp.837-848, 844f; vgl. Perrot 1981, S.202, zur Bedeutung des fehlenden Artikels vor λαός in Apg 15,14; 18,10). Dieser Gedanke findet in der programmatischen Aussage Apg 15,14 - Gott hat sich ein Volk aus den Heiden erwählt (εξ έθν